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ALLGEMEINEN GRUNDLAGEN
DER KULTUR DER GEGENWART
VON
W. LEXIS" FR.PAULSEN- G.SCHÖPPA
G.KERSCHEN5TE1NER-A.MATTKIAS-H.GAUDIG
W.v.I^YCK-L.PALLAT'K.KRAEPELlN-J.LESSlNG
O.W.WITT' P.SCHLEKTHER- G.GÖHLER
K.BÜCHER" R.PIETSCHMANN-F.MILKAU-H.DIELS
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GEGENWART 1. 1
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DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL HINNEBERG
DIE KULTUR DER GEGENWART
TEIL I ABTEILUNG I
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Teil T Ablei/un^ T
DIE ALLGEMEINEN
GRUNDLAGEN DER KULTUR
DER GEGENWART
VON
WXEXIS ■ FR.PAULSEN ■ G.SCHÖPPA • A. MATTHIAS • H.GAUDIG
G. KERSCHENSTEINER ■ W.v.DYCK ■ L.PALLAT • K.KRAEPELIN
J. LESSING • O.N.WITT • G.GÖHLER • P.SCHLENTHER • K.BÜCHER
R. PIETSCKMANN ■ F. mLKAU • H. DIELS
1906
BERLIN UND LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
PUBLISHED JTJNE lo, 1906 „t-t^..,
PRIVILEGE OF COPYRIGHT IN THE UNTTED STATES
SLmVED UNDER THE ACT APPRO VED MARCH 3, .905,
BY B.G.TEUBNER LEU>ZIG.
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN
SEINER MAJESTÄT DEM KAISER
WILHELM IL
DEM ERHABENEN SCHIRMHERRN DEUTSCHER KULTURARBEIT
EHRFURCHTSVOLL ZUGEEIGNET
Wie die Naturwissenscliafteii im letzten Ziel
den Urgrund alles Seins und Werdens zu er-
forschen trachten, so bleibt, wie es Goethe selbst
ausgesprochen hat, „das eigentliche, einzige und
tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte,
dem alle übrigen untergeordnet sind, der Konflikt
des Unglaubens und Glaubens", und wie in seinem
Sinne hinzuzufügen ist, die Betätigung Gottes am
Menschengeschlecht.
Kaiser Wilhelm II.
bei der Zweihundertjahrfeier der
Akademie der Wissenschaftenigoi.
VORWORT.
Wer die Kultur der Gegenwart und ihre Leistungen mit kritischem
Auge überschaut, der muß erkennen, daß die moderne Geistesarbeit in
ihrer stetig wachsenden Spezialisierung und Komplizierung wahrhaft nutz-
bringende Früchte nur dann zeitigen kann, wenn sie zugleich in sich die
Kraft zur verknüpfenden Zusammenfassung des auf den einzelnen Kultur-
gebieten Erreichten findet. Gerade die führenden Geister unserer Zeit
erheben mit besonderem Nachdruck in dieser Richtung ihre Stimme. „Wir
sind es müde", heißt es so in der Festschrift zum Zweihundertjahrsjubi-
läum der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, „bloß
Stoffe zu sammeln, wir wollen geistig des Materiales Herr werden; wir
wollen hindurchdringen durch die Einzelheiten zu dem, was doch der
Zweck der Wissenschaft ist: zu einer allgemeinen großen Weltanschau-
ung." Und was hier im Namen der Wissenschaft von einem ihrer
berufensten Vertreter gefordert wird, die Verknüpfung der eigenen Arbeit
mit der gesamten Betätigung des menschlichen Geistes in Vergangenheit
imd Gegenwart, dasselbe Verlangen nach Einheit und Vertiefung ihrer
Wirksamkeit durchzieht mehr und mehr auch alle Gebiete praktischen
Schaffens.
So dringend jedoch in der Theorie wie in der Praxis dieses Bedürf-
nis empfunden wird, so sehr fehlt es bisher an einem Werke, wodurch es
gebührend befriedigt würde. Zwar über lexikalische Zusammenfassungen
der wesentlichen Tatsachen und Probleme des Kulturlebens verfügen heut
alle zivilisierten Nationen. Aber gerade das, wonach der in die Tiefe
dringende Geist am meisten verlangt, die Erkenntnis der letzten und
feinsten Verbindungsfäden, welche die Betätigungen auf den verschiedenen
Gebieten menschlichen Denkens und Schaffens, in Religion und Wissen-
schaft, in Kunst und Technik, in Staat und Gesellschaft, in Recht und
Wirtschaft zur Einheit der modernen Kultur verknüpfen, gerade das ist
mit den Mitteln lexikalischer Arbeitsweise der Natur der Sache nach
nicht zu gewinnen. Dazu bedarf es der Zusammenfassung in einem syste-
ym Vorwort.
matischeu Aufbau, innerhalb dessen die einzelnen Kulturgebiete ihren
sachlich bestimmten Ort einnehmen, und in dem, unter steter Rücksicht-
nahme auf den Zusammenhang mit der Gesamtkultur, sowohl ihr ge-
schichtlicher Werdegang wie ihre gegenwärtigen Aufgaben und
Leistungen zur Behandlung kommen, wobei die einzelne Darstellung ihre
Spitze jedesmal in der Bestimmung der Ziele erhalten muß, denen die
Weiterentwicklung in dem von ihr behandelten Gebiete zustrebt.
Wenn ein solches den Namen einer Enzyklopädie erst wieder mit Recht
verdienendes Werk in dem letzten Jahrhundert kaum ernstlich versucht
worden ist, so läßt sich der Grund dafür unschwer auffinden. Die Tage,
da der Kopf eines Denkers noch das gesamte Wissen seiner Zeit um-
spannte, sind seit langem dahin; keine Enzyklopädie deshalb mehr ohne
Arbeitsteilung. Aber auch geteilte Arbeit bleibt unfruchtbar, wenn sie
nicht zugleich organisierte Arbeit ist, wenn nicht neben den Arbeitern
ein Führer steht, der die Sonderinteressen des Einzelnen mit der Idee
des Ganzen in Einklang hält.
Freilich hat für ein Werk wie das vorliegende niemand bisher den
Mut besessen die Führerrolle zu übernehmen. Denn eine Enzyklopädie
der modernen Kultur stellt an ihren Leiter drei gleich schwierige Aufgaben.
Um die Menge von Einzeldarstellungen zur Harmonie eines Systems zu
erheben, muß die Gliederung des Stoffes in ständigem Zusammenwirken
des Herausgebers mit den führenden Geistern der einzelnen Kulturgebiete
geschehen; um eine inhaltlich auf der Höhe der Zeit stehende Gesamt-
leistung zu bieten, muß die Verteilung der Aufgaben möglichst an die
anerkannt hervorragendsten Vertreter jedes Faches stattfinden; endlich um
die für den praktischen Erfolg des Werkes wesentlichste Voraussetzung,
Übersichtlichkeit und Gemeinverständlichkeit der Darstellung, zu erreichen,
muß die Behandlung des Gegenstandes durchgehends peinlichste Raum-
ökonomie mit volkstümlicher, aber künstlerisch gewählter Sprache verbinden.
Die „Kultur der Gegenwart" bildet den ersten, aber, wie ich hoffe,
gelungenen Versuch, diese drei Forderungen in gleicher Weise zu erfüllen.
Nach langjährigen Vorbereitungen auf Grund zahlloser Konferenzen und
Korrespondenzen mit den ersten Gelehrten und Praktikern unserer Zeit
ist ein Bau zustande gekommen, der an Durchsichtigkeit und Folge-
richtigkeit seiner Gliederung hinter keinem anderen Literaturwerke all-
gemeinen Charakters zurücksteht. Und eine so große Zahl führender
Männer aus allen Zweigen der Wissenschaft und Praxis, wie sie diesem
Werk, ein jeder für die Bearbeitung seines eigensten Fachgebietes,
die schaffende Hand geliehen haben, wird schwerlich wieder in einem
literarischen Unternehmen irgend eines Landes oder Zeitalters vereint zu
Vorwort. IX
finden sein. Daß aber auch die dritte Aufgabe, gemeinverständliche
künstlerische Darstellung auf knappstem Räume, ihre Lösung finden wird,
dafür bürgt wiederum der Umstand, daß es in jedem Falle erste, den Stoff
souverän beherrschende Vertreter ihres Faches sind, die das Wort nehmen.
Durch die Vereinigung dieser Momente glaubt die „Kultur der Gegenwart"
einer bedeutsamen Aufgabe im geistigen Leben unserer Zeit zu dienen
und sich einen bleibenden Platz in der Kulturentwicklung zu sichern.
Aber so eifrig mein Bemühen darauf gerichtet war, dem Werke
die Form eines fest, in sich geschlossenen, einheitlichen Ganzen
zu geben: Einstimmigkeit des Inhalts, zugunsten einer bestimmten
Parteiauffassung, habe ich nicht erstrebt. Ein Werk, das von dem
Kulturleben der Gegenwart ein getreues Abbild geben will, darf nicht
einseitig konservativ oder liberal, orthodox oder freigeistig, klassi-
zistisch oder sezessionistisch sein. Unsere Zeit ist eine Zeit des Über-
ganges, eine Epoche des Suchens und Tastens nach neuen, zeitgemäßen
Lebensformen und Bildungsidealen. Dieser Zug geht, seit länger als einem
Jahrzehnt, durch alle Gebiete unserer Kultur. In der Wissenschaft hat
das die vorhergehenden Generationen charakterisierende Gefühl der Zu-
versicht, mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung die letzten Rätsel
des Daseins lösen zu können, vielfach einer der Grenzen des Erkennens
sich wieder bewußter werdenden kritischen Stimmung Platz gemacht.
In der Religion ist, zugleich mit dem Streben nach tieferem Erfassen
des Wesens und der Lehre Christi, ein Verlangen nach Harmonie zwischen
den überlieferten religiösen Geboten und den sozialen Bedürfnissen der
Gegenwart erwacht, in dessen Befriedigung die beiden christlichen
Kirchen miteinander wetteifern. In der Kunst tritt neben dem wachsen-
den Verständnis für die klassischen Schöpfungen der Vergangenheit
und ihre Schönheitsgesetze ein Streben hervor, für das Suchen und
Sehnen unserer Zeit einen eigenen künstlerischen Ausdruck zu finden.
Und wie in der Technik jeder Tag fast von bedeutendsten Fortschritten
zu melden weiß, wobei freilich manche heut gepriesene Errungenschaft
morgen schon wieder wertlos und vergessen ist, das liegt vor aller
Augen. Ganz das gleiche Bild des Fließenden aber auch in allen Zweigen
des öffentlichen Lebens, in Staat und Gesellschaft, in Recht und Wirt-
schaft! Mit der Erweiterung der auswärtigen Politik zu einer interkonti-
nentalen Weltpolitik, die sich im Laufe des letzten Jahrzehntes vollzogen
hat, hebt eine neue Phase der Universalgeschichte an, die neue, unabseh-
bare Kulturprobleme in ihrem Schöße birgt. In der inneren Politik aber,
im Rechts- wie im Wirtschaftsleben der zivilisierten Völker, überwindet
das Streben nach ausgleichender Gerechtigkeit, das Bemühen, jedem das
Seine, das was ihm nach dem Maß seiner Leistungen für das Volksganze
X Vorwort.
gebührt, zu geben, mehr und mehr die einseitige Interessenvertretung
der einzelnen Berufsstände.
Ein Zeitalter, das in solchem Umfang auf allen Gebieten der Kultur
die verschiedenartigsten Tendenzen miteinander im Wettstreit sieht, muß
diesen Charakterzug auch in dem literarischen Spiegel, den es sich vor-
hält, zum Ausdruck gebracht finden. So konnte meine wohlverstandene
Aufgabe gegenüber dem vorliegenden Werke nur sein, alle herrschenden
Anschauung'en und Richtungen des heutigen Kulturlebens zu Worte
kommen zu lassen und für jede den berufensten Sprecher zu finden. Er-
füllt das Werk diese Aufgabe — und ich hoffe, es wird sie erfüllen — , dann
darf es behaupten, ein getreues Abbild unserer Zeit zu sein, dann trägt
es seinen Namen mit Recht: Die Kultur der Gegenwart.
Nicht schließen kann ich diese Zeilen ohne Worte herzlichen Dankes
an alle, die mir bei meiner Herausgeberarbeit hilfreiche Hand geleistet
haben. Es sind ihrer zu viele, um hier namentlich aufgeführt zu werden.
Aber es ist kaum zuviel gesagt, wenn ich bekenne: was das Werk ist,
das ist es ihnen schuldig.
Paul Hinneberg.
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
I. DAS WESEN DER KULTUR .-53
Von WILHELM LEXIS.
1. Die Grundlagen und Beding^ungen der Kultur i — 19
II. Entwicklung der Kultur 19—39
III. Die Kultur des 19. Jahrhunderts 39—49
Schlußbetrachtung 5° — 5'
Literatur 5^ — 53
II. DAS MODERNE BILDUNGSWESEN . . . 54-86
Von FRIEDRICH PAULSEN.
I. Der Begriff der Bildung 54 — 57
II. Das Bildungswesen und seine Faktoren 57 — ^
III. Die Bildungsmittel und ihr Bildungswert 60—64
IV. Schematischer Aufbau eines öffentlichen Bildungswesens für gegenwärtige
Kulturverhältnisse 64 — 75
V. Überblick über die öffentliche Verfassung des Bildungswesens in seiner
geschichüichen Entwicklung 75— 80
VI. Ausblick auf die Zukunft 80—85
Literatur 86
III. DIE WICHTIGSTEN BILDUNGS MITTEL.
A. SCHULEN UND HOCHSCHULEN.
l. DAS VOLKSSCHULWESEN 87-119
VON GOTTLOB SCHÖPPA.
I. Wesen und Begriff der \'olksschule 87 — 88
II. Geschichte der Volksschule 88—98
III. Die Volksschule der Gegenwart 98 — "4
IV. Ausblick auf die weitere Entwicklung der Volksschule 114 — 118
Literatur "9
XII Inhaltsverzeichnis.
Seite
II. DAS HÖHERE KNABENSCHULWESEN 120-174
Von ADOLF MATTHIAS.
I. Bis zum Ausgang des Mittelalters 121 — 127
IL Hum:inismus, Reformation und Gegenreformation (1450—1600) . . . 127—135
III. Die französisch -höfische Bildung, die Aufklärung (1600— 1790) .... 135 — 145
IV. Der Neuhumanismus (1790— 1840) I45— '5i
V. Der Kampf humanistischer und realer Bildung um Gleichberechtigung
(1840— 1890) 151-162
VI. Die Schulreform Kaiser Wilhelms 11. (i8go bis zur Gegenwart). . . . 162—169
VII. Rückbhck und Ausblick 169—172
Literatur. i73— '74
III. DAS HÖHERE MÄDCHENSCHULWESEN 175-242
Von HUGO GAUDIG.
I. Der Begriff der höheren Mädchenschule I75
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule I75— '9°
III. Das Mädchenschulwesen der Gegenwart 19° — 241
1. Prinzipielles zur Begründung des Erziehungsideals S. ige. —
2. Die intellektuelle Eigenart der Frau S. 202. — 3. Das Bildungs-
ideal S. 207. — 4. Die Bildungsstoffe S. 210. — 5. Die Methode des
Unterrichts S. 219. — 6. Der Lehrplan S. 223. — 7. Der wissenschaft-
liche Oberbau S. 229. — 8. Vorbildung für das häusliche Leben S. 234.
— 9. Das Lehrerinnenseminar S. 237. — 10. Die Vorbildung der Ober-
lehrerinnen S. 239. — II. Das Lehrerkollegium der höheren Mädchen-
schule S. 240. — 12. Der Staat und die höhere Mädchenschule S. 240.
Literatur 242
IV. DAS FACH- UND FORTBILDUNGSSCHULWESEN ........ 243-283
Von GEORG KERSCHENSTEINER.
1. Die erste Periode beruflicher Erziehung ( — 1851) 244 — 248
II. Die zweite Periode (— 1880) 249—252
III. Die Entwicklung der gewerblichen Fortbildungsschvile 252—254
IV. Die Entwicklung der kaufmännischen und landwirtschafthchen Fort-
bildungsschule 254 257
V. Die Entwicklung der Mädchenfortbildungs- und -fachschulen 257—259
VI. Die dritte Periode der Entwicklung des Fachschulwesens (von 1880 ab) 259—263
VII. Die Entwicklung des gewerbhchen Erziehungswesens in außerdeutschen
Staaten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts 263—271
VIII. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerblichen Erziehungswesens
in Deutschland 271-279
Schlußbetrachtungen 279—281
Literatur 282—283
V. DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE HOCHSCHULAUSBILDUNG 284-311
Von FRIEDRICH PAULSEN.
I. Die Geisteswissenschaften, ihr Gegenstand und Charakter, ihre .Aufgabe
und Gliederung. 284—290
Inhaltsverzeichnis. XHI
Seit«
II. Das Studium der Geisteswissenschaften in seiner gegenwärtigen Gestalt
auf den deutschen Schulen und Universitäten 290—297
III. Der geisteswissenschaftliche Unterricht in seiner geschichüichen Ent-
wicklung und die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Lage 297—310
Literatur 3"
VT. DIE NATURWISSENSCHAFTLICHE HOCHSCHULAUSBILDUNG 312-346
Von WALTHER VON DYCK.
I. Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhunden 312—314
II. Die Entwicklung während des 18. Jahrhunderts 314 — 3i8
III. Der naturwissenschaftliche Universitätsunterricht im 19. Jahrhundert . 318—330
IV. Der technische Hochschulunterricht im 19. Jahrhundert 330—336
V. Fragen der Gegenwart und Fordenmgen für die Zukunft 336 — 345
Literatur 346
B. MUSEEN.
I. KUNST- UND KUNSTGEWERBE -MUSEEN 347-371
Von LUDWIG PALLAT.
I. Die Entstehung der Sammlungen 347 — 35°
II. Die Entwicklung der Sammlungen zu Museen 35°— 353
III. Die Museen im 19. Jahrhundert 353— 360
IV. Die Museen in der Gegenwart. Ausblicke 360—367
Literatur 368—371
t
II. NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE MUSEEN 372-389
Von KARL KRAEPELIN.
I. Die Ent\vicklung der naturwissenschaftlichen Museen 372—374
II. Di^ naturwissenschaftlichen Museen als Bildungsmittel 374 — 383
III. Die Haupttypen der naturwissenschaftlichen Museen und deren Aufgaben 383 — 387
Literatur 388—389
C. AUSSTELLUNGEN.
KUNST- UND KUNSTGEWERBE-AUSSTELLUNGEN 390-411
Von JULIUS LESSING.
I. Wesen und Aufgabe der Ausstellungen 390 — 391
II. Gewerbeausstellungen 392—393
III. Weltausstellungen 393—406
IV. Landesausstellungen seit 1875 407
V. Kunstausstellungen 407 — 409
Schluß 409—410
Literatur 411
2JJY Inhaltsverzeichnis.
Seite
11. NATURWISSENSCHAFTLICH -TECHNISCHE AUSSTELLUNGEN 412-429
Von OTTO N. WITT.
I. Die Entstehung und Entwicklung der Ausstellungen 412—414
11. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen 414—426
III. Wirkungen und Erfolge der Ausstellungen 426—428
LiteraUir 429
D. DIE MUSIK 430-450
Von GEORG GÖHLER.
I. Die Grundlagen der musikalischen Kultur 430—432
II. Die Entwicklung der musikalischen Kultur 432—445
III. Die Zukunft der musikalischen Kultur 445—449
Literatur 45°
E. DAS THEATER 451-480
Von PAUL SCHLENTHER.
I. Religiöse Ursprünge des Theaters 45'- 454
II. Spiele im Mittelalter 454—457
III. Renaissance 457—402
IV. Shakespeare 462-465
V. Frankreichs klassische Zeit 466—468
VI. Das neuere deutsche Theater 468—473
VII. Das Theater der Gegenwart 473—479
Literatur 48o
F. DAS ZEITUNGSWESEN 481-517
Von KARL BÜCHER.
I. Ursprung und Begriff der Zeitung 481—482
II. Geschichte des Zeitungswesens 482—493
III. Das moderne Zeitungswesen 493 5H
Literatur 5i5— 517
Ct. das buch 518-538
Von RICHARD PIETSCHMANN.
I. Wesen und erste Aufgaben des Buches 518—520
IL Das Buch im Altertum 520—523
III. Das Buch im Mittelalter 523— 53o
IV. Das Buch in der Neuzeit 53o— 536
Literatur 537—538
Inhaltsverzeichnis. ^"
Seite
H. DIE BIBLIOTHEKEN 539- 59o
Von FRITZ MlLK-JlU.
1. Was die Bibliotheken sind 539—546
II. Wie die Bibliotheken geworden sind 546—568
III. Was erreicht ist 568—572
IV. Was zu erreichen bleibt 572—588
Literatur 589-590
IV. DIE ORGANISATION DER WISSENSCHAFT. 591-650
Von HERMANN DIELS.
Einleitung • ■ ■ 591—595
I. Stufen der wissenschafüichen Bildung. Elementar- und Volksbildung 595—607
11. Mittelschulbildung 607—609
III. Hochschulbildung 609—622
IV. Wissenschaftliche Akadcmieen 622—630
V. Internationale wissenschaftliche Institutionen 630—632
VI. Wissenschaftliche Vereine und Kongresse 632—635
VII. Wissenschafüiche Sammlungen (Gärten, Museen) 635—637
Vlll. Wissenschaftliche .■\usstellungen 638
IX. Bibliotheken und Kataloge 638-644
X. Zeitschriften, Buch und Buchhandel 644—648
Schlußbetrachtung 648—649
Literatur ^5°
Register 651-671
DAS WESEN DER KULTUR.
Von
Wilhelm Lexis.
I. Die Grundlacfcn und Bedine-ung-en der Kultur. Kultur ist Begriff d«
** ö »5 ^ _ Kultur.
die Krhebunsf des Menschen über den Naturzustand durch die Ausbildung Kulturarbeit und
... Kulturbesitz.
und Betätigfung seiner geistigen und sittlichen Kräfte. Sie entsteht durch
da.s Zusammenwirken vieler innerhalb einer menschlichen Gesellschaft,
die sich auch selbst wieder in Wechselwirkung mit der Kultur zu festeren
und höheren Formen entwickelt. Die I-eistungen der einzelnen aber ver-
einigen sich nicht einfach zu einer Summe, sondern ihre Wirkung steigert
sich durch ihren gesell.schaftlichen Zusammenhang und es kommt ein neu-
artiges, wertvolleres Gesamtergebnis zustande. In den Individuen er-
scheint die Kultur nicht nur als ein ruhender Besitz, sondern auch als ein
Zustand dauernder Tätigkeit, denn ohne stetige Kulturarbeit wird auch
der erworbene Kulturbesitz allmählich wieder untergehen. Die Anteile
der einzelnen an Kulturbesitz und Kulturarbeit sind nach Art und Größe
sehr mannigfaltig abgestuft. Nur eine Minderheit befindet sich im Genuß
der höch.sten Errungenschaften, während die große Menge in weitem Ab-
stände von dieser bleibt. Ursprünglich war diese starke Differenzierung
der gesellschaftlichen Schichten eine notwendige Bedingung der Kultur-
entwicklung, aber es ist das Ziel des sozialen Fortschritts, die Unterschiede
des Kulturbesitzes — die nicht mit denen des materiellen Besitzes zu-
sammenfallen — mehr und mehr auszugleichen. Die Teilung der Kultur-
arbeit und der Kulturfunktionen dagegen wird sich stets nach dem un-
gleichen Maße der Talente und Kräfte der einzelnen vollziehen. Als
Weg^veiser und treibende Führer auf der Bahn des Fortschrittes werden
immer nur wenige auftreten, die Masse aber bildet das große Behältnis,
in dem die Früchte der Kultur sich ansammeln.
Auch zeitlich zeigt sich eine gewisse Teilung der Arbeit in den Kultur-
leistungen desselben Volkes, indem die.se sich häufig in längeren oder
kürzeren Perioden vorzugsweise nach einer bestimmten Seite richten, z. B.
nach der wirtschaftlichen, der politischen, der wissenschaftlichen oder lite-
rarischen. Wenn die Nation imstande ist, alles Erreichte auch festzuhalten,
Die Kultur der Geoe.nwakt. I. i. I
2 Wll.HKI.M Lkxis: Das Wesen der KiiUiir.
SO führt diese zeitweilige Einseitigkeit der licstrebungen im ganzen zu
einem höheren Gesamtgewinn. Und da die verschiedenen Völker sich die
bevorzugten Ziele ihres Fortschritts selbständig wählen, so entsteht auch
eine internationale Teilung der Kulturarbeit mit ihrer fruchtbaren Wir-
kung für die Gesamtheit der gesitteten Menschheit. So ist insbesondere
die Geschichte der Wissenschaften, wie Goethe sagt, „eine große Fuge,
in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen".
Geistige Grnn.i- Da die Kultur aus der Entfaltung der menschlichen Geistesfähigkeiten
lagen und Seiteu . , , ,-(-,. .., i-\«- •ri»i.
der Kultur, entspringt, so zeigt sie so viele Seiten, wie sich aus der Mannigfaltigkeit
dieser Fähigkeiten ergeben. Sie beruht auf dem praktischen Verstände,
dem wissenschaftlichen Denken, dem künstlerischen Empfinden, dem sitt-
lichen Wollen. Jedoch lassen sich die Wirkungen dieser Faktoren nicht
scharf auseinander halten; sie verbinden und verstärken sich auf vielfache
Art, und man kann nur im allgemeinen unterscheiden, auf welchem Ge-
biete der eine oder der andere das Übergewicht hat.
Der praktische Verstand ist vor allem der Schöpfer der wirtschaft-
lichen Kultur, ohne die eine höhere Gesittung überhaupt nicht auf-
kommen kann. Auch die Rechts- und Gesellschaftsordnung ist ver-
standesmäßig begründet, soweit sie durch das Wirtschaftsleben bestimmt
ist, unterliegt aber auch, je weiter die Entwicklung gediehen ist, um so
mehr dem Einfluß sittlicher Ideen. Die technische Kultur ist nichts
anderes, als ein Ausfluß der wirtschaftlichen Kultur. Einen besonderen
Charakter hat sie erst in der neueren Zeit durch ihre Verbindung mit der
Wissenschaft erhalten, der die heutigen mächtigen Hilfsmittel der Produk-
tion und des Verkehrs zu verdanken sind. Ihr Zweck aber bleibt ein
praktischer und auf die Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse gerichtet.
Die wissenschaftliche Kultur dagegen ist unabhängig von der prak-
tischen Verwertung der Wissenschaft. Ihr Wesen liegt in der um ihrer
selbst willen erworbenen, auf sicherer Methode begründeten Erkenntnis
der Natur, des Menschen und der Menschheit und der auf dieser Grund-
lage gewonnenen Weltanschauung. Als Hüter der Schätze der Wissen-
schaft, zu ihrer Pflege und Förderung durch eigene Forschung sind nur
wenige berufen, aber die wissenschaftliche Kultur soll bildend und ver-
edelnd das Geistesleben des ganzen Volkes durchdringen. Die künst-
lerische Kultur geht der wissenschaftlichen zeitlich voraus und mündet
unmittelbar in diese ein. Denn die Dichtung ist die erste Form, in der
die Weisheit, die Lebens- und Weltanschauung führender Geister ihren
Ausdruck gefunden haben. Andererseits leitet die Technik durch Hand-
geschicklichkeit und Kunstfertigkeit hinüber zur bildenden Kunst. Ihrem
Wesen nach aber ist die Kunst das Erzeugnis einer besonderen Anlage
des Menschen, die ihn befähigt, die Idee der Schönheit zu erfassen und
selbstschöpferisch zur Erscheinung zu bringen. Wenn auch die Gabe des
.Schaffens wieder nur einzelnen Bevorzugten verliehen ist, so ist doch der
künstlerischen Empfindung auch der Sinn der großen Mehrheit erschlossen
I. Grundlagen und Bedingungen der Kultur. ^
und sie tritt bei allen überhaupt entwicklungsfähigen Völkerstämmen als
eine der ersten Regungen höherer Kulturbcstrebungen zutage.
Die sittliche Kultur ist die Bedingung für den dauernden Bestand
der Kultur überhaupt. Sie fordert die freie Unterwerfung des Willens
unter ein höheres Gesetz in den Beziehungen der einzelnen sowohl unter-
einander, als auch zu Staat und Gesellschaft. Auch die Staats- und
Rechtsordnung bedarf der sittlichen Grundlagen, wenn auch historisch
gegebene Herrschaftsverhältnisse und ökonomische Bedingungen großen
Einfluß auf sie ausüben; je höher die sittliche Kultur sich erhebt, um so
mehr wird sie auf die öffentliche Ordnung zurückwirken, um diese den
Forderungen einer vernünftigen sozialen Gerechtigkeit anzupassen.
Die religiöse Kultur hat auf ihren unteren Stufen noch kaum einen
Zusammenhang mit der individuellen Sittlichkeit. Sie erscheint hier vor
allem als eine Bedingimg und Stütze der gesellschaftlichen Ordnung; die
Götter sind die Schirmer des Stammes oder des Staates, und wenn der
einzelne sie anruft, so geschieht es, um Schutz und Hilfe oder irgend
einen Vorteil zu erlangen. In der höhern Entwicklung aber findet die
sittliche Kultur in der Religion ihren festen Halt, und in der abend-
ländischen Welt hat sie an der Hand des Christentums ihre höchsten Ideale,
wenn nicht erreicht, so doch erstrebt.
Die Kultur stellt sich in der Geistesverfassung der Individuen, in Kulturgüter und
Kulturprodukte.
ihrem Können und Wissen, ihrem Fühlen und Wollen und in der Ord-
nung ihrer Beziehungen untereinander dar. Der auf dieser Grundlage
erwachsene immaterielle, ideale Besitz bildet die Summe dessen, was wir
als Kulturgüter der Menschheit bezeichnen. Da aber die Kultur nicht
unmittelbar in einer kosmopolitischen Menschheit, sondern in staatlichen
\'olksgemeinschaften mit nationalen Besonderheiten und eigenem geschicht-
lichen Leben entstanden ist, so zeigen auch die Kulturgüter im allgemeinen
ein nationales Gepräge und zum Teil auch einen spezifisch nationalen
Charakter. Das durch erlebte und überlieferte Geschichte auferzogene
Nationalgefiihl, die durch eine nationale Literatur ausgebildete Sprache,
die dem Volksgeist entsprechenden öffentlichen Institutionen, die das Leben
frei ordnende Sitte — das sind Besitztümer, die der Kultur jedes Volkes
ihre Eigenart und zugleich der gesamten Kulturwelt ihre lebendige Viel-
seitigkeit verleihen.
Die Kultur bekundet sich äußerlich in materiellen Erzeugnissen , die
wir im Unterschiede von den immateriellen Kulturgütern Kulturprodukte
nennen wollen. Es sind dies zunächst wirtschaftliche Güter, in deren
allmählicher Vermannigfaltigung und \'erfeinerung wir die Entwicklung
der Bedürfinisse der gesitteten Menschheit verfolgen können, während
andererseits die Werkzeuge, Maschinen und sonstigen Hilfsmittel der Pro-
duktion den Fortschritt der technischen Kultur erkennen lassen. Das
wichtigste Kulturprodukt aber ist der Boden, auf dem das Volk seine
feste Heimat gefunden, der nicht nur durch \ ielhundertjährige Arbeit aus
A WiiilFtM I.KXIS: Das Wesen ilei Kultur.
dem wildpii Naturzustände in ein Kapital^ut von enormem Wert imi-
ge wandelt, sondern auch mit der Geschichte und dem Gefühlsleben des
Volkes aufs engste verknüpft ist und dadurch einen idealen, nicht bloß
wirtschaftlichen Wert erhalten hat. Auch die Werke der bildenden Kunst
sind äußerlich materielle Ivulturprodukte, sie besitzen aber ebenfalls einen
idealen Gehalt, der ihnen einen überwirtschaftlichen Wert und sogar eine
über ihre materielle Existenz hinaus sich erhaltende Bedeutung verleiht.
Individuelle Die Kultur ist das Erzeugnis des Zusammenwirkens der einzelnen,
Triebkräfte der . f
Kultur. wenn diese auch meistens bei ihrem Handeln nicht allgemeine Kultur-
ziele im Auge haben, sondern durch persönliche, vielfach rein egoistische
Motive bestimmt werden. Die Triebkraft der wirtschaftlichen Kultur ist
das Bedürfnis. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, muß der Mensch
entweder selbst arbeiten oder auf irgend eine Art andere für sich arbeiten
lassen. Im er.steren Falle ersinnt er Hilfsmittel, um sich die Arbeit zu
erleichtem, und begxündet dadurch die Technik. Die Bedürfnisse selbst
aber entwickeln und vermehren sich mit der steigenden Kultur. Der
Naturmensch setzt ihrem Drange seine natürliche Trägheit entgegen und
beschränkt seinen Bedarf lieber auf das geringste Maß, als daß er sich
vermehrter Arbeit unterzieht. Wohl aber sagt es ihm zu — und diese
Neigung besteht auch noch auf höheren Stufen der Halbkultur — sich
durch Gewalt und Raub die Arbeitserzeugnisse anderer anzueignen. „Sie
halten es für Faulheit, ja Feigheit", sagt Tacitus von den Germanen, „mit
Schweiß zu erwerben, was sich mit Blut gewinnen läßt."
Einen Fortschritt gegen dieses einfache Raubsystem bildet der gegen
Sklaven oder andere Unfreie ausgeübte Arbeitszwang. Es entsteht da-
durch eine wenn auch sehr unvollkommene ständige Produktionsordnung,
durch die wenigstens in den oberen Regionen der Gesellschaft die Au.s-
bildung einer höheren Kultur ermöglicht wird. Je mehr sich die auf
Eigentum und Tauschverkehr begründete Rechtsordnung befestigt, um so
mehr geht der natürliche, meist kriegerische Tätigkeitsdrang der Men-
schen in wirtschaftliche Arbeitsenergie über, mit der zugleich der
Erwerbsgeist erwacht. Dieser wirkt noch fort, selbst wenn alle per-
sönlichen Bedürfnisse des Erwerbenden die vollste Befriedigung gefunden
haben. Es wird dann eben die Tätigkeit selbst oder das Erwerben als
solches als Bedürfnis empfunden. Wenn dabei nur Bereicherung des
einen auf Kosten des anderen stattfindet, so hat eine solche Tätigkeit
weder die Eigenschaft einer wirtschaftlichen Arbeit, noch überhaupt einen
Kulturwert. Überwiegend aber ist sie auch mit einem positiven Schaffen
verbunden, und insoweit ist der Erwerbsgeist die Kraft, die das ganze
ungeheure Getriebe der modernen Volkswirtschaft in Bewegung setzt und
durch große Unternehmungen und Anlagen von dauerndem Bestände die
Grundlagen der wirtschaftlichen Kultur immer mehr erweitert. Auch der
Erfinder neuer Schöpfungen der Technik wird in der Regel nur durch
sein wirtschaftliches Selbstinteresse geleitet, aber der gehoffte Gewinn
I. firundlagen und Bedingungen der Kultur. e
wird ihm nur zuteil, wenn seine Erfindung sich auch objektiv als eine
nützliche Verbesserung; bewährt und demnach auch der ganzen Volks-
wirtschaft zugute kommt.
Die wissenschaftliche und die künstlerische Kultur gehen aus dem
sich selbst befriedigenden Forschungstrieb und Schaffensdrange ])roduk-
tiver Geister hervor, aber die Mitwirkung minder hoher Motive, z. B. der
persönlichen Eitelkeit, ist dabei nicht ausgeschlossen und auch nicht un-
vereinbar mit einem für das Gesamtwohl erwünschten Erfolge. So mögen
auch Herrscher und Staatsmänner ihrem Ruhmbedürfnis oder ihrem Ehr-
geiz gefolgt sein, ohne daß dadurch der Kulturwert ihrer Taten und
Schöpfungen geschmälert worden wäre. Ideal angelegte N^ituren werden
auch vielfach durch religiöse Motive bestimmt, für allgemeine Kultur-
zwecke, insbesondere für die Verbesserung der Lage und die sittliche
Hebung der großen Masse der Bevölkerung zu wirken.
Die individuellen Kräfte reichen jedoch für sich allein zur vollen Gesellschaftliche
T "1 • 1 ^• T 1 Triebkräfte.
Bewältigung der notwendigen Kulturarbeit nicht aus, und zwar um so
weniger, je höher die bereits erreichte Stufe ist. Es ist daher eine Er-
gänzung der Einzelwirkung durch organisierte Vereinigung nötig, vor
allem durch die organisierte Kraft der Gesamtheit, die der Staat vertritt.
Ohne Staat gibt es überhaupt keine Kultur; aber er schafft nicht nur die
Ordnung, in der die Tätigkeit und Wechselwirkung der Individuen statt-
findet, sondern er hat auch aktiv einzutreten, um solche Kulturleistungen
zu übernehmen, die über die Kräfte der einzelnen und ihrer freiwilligen
Vereinigungen hinausgehen. Die Art und Ausdehnung dieser Staatstätig-
keit ist freilich nach der Geschichte, der politischen Entwicklung und dem
nationalen Charakter der Völker verschieden; ihre Notwendigkeit aber
muß prinzipiell immer mehr anerkannt werden, je zahlreicher und mannig-
faltiger neue Kulturaufgaben hervortreten, allerdings unter der Voraus-
setzung, daß nicht polizeiliche Bevormundung, sondern die in geeigneter
Weise zum Ausdruck kommende aufgeklärte öffentliche Meinung über die
zu verfolgenden Ziele entscheide.
Neben dem Staat hat sich auch die christliche Kirche als eine ge-
sellschaftliche Macht bewährt, die für die Ausbreitung und den Fortschritt
der Kultur mit großartigem Erfolge gewirkt hat.
Der mittelalterliche Feudalstaat hatte nicht die nötige zentralisierte
Kraft, um seiner Aufgabe als Kulturfaktor voll genügen zu können. Die
Kirche trat mit ihrer mächtigen, über die Einzelstaaten hinausgreifenden
Organisation ergänzend ein und hat sich namentlich auch in der Pflege
von Kunst und Wissenschaft hohe — natürlich im Lichte der Zeit zu
beurteilende — Verdienste erworben.
Die Gesellschaft erzeugt aber auch ohne besondere Organisation
kollektive Triebkräfte im Dien.ste der Kultur. Alag der einzelne auch
seinem Egoismus folgen, wenn es sich um seine eigenen Interessen han-
delt: wo diese nicht im Spiele sind, hat er meist ein zutreffendes Urteil
5 WuHKiM l.p.xih: Das Wesen der Kultur.
Über das, wtis vernünftig, recht und billig und für die Ciesanitheit nützlich
und erstrebenswert ist. So liefert jeder gewissermaßen eine Komponente
zu einer auf das Gemeinwohl und den Kulturfortschritt gerichteten Massen-
wirkung, deren Erfolg immer um so größer sein wird, je mehr Mittel
diesem Kollektiv willen zur Verfügung stehen, um sich als öffentliche
Meinung durchzusetzen und einen Druck auf die Individuen auszuüben.
Art und Kasse. Dlc Kultur setzt Staat und Gesellschaft voraus, ihren eigentlichen Sitz
aber hat sie in den Individuen, deren geistiger Zustand von ihr abhängt
und andererseits auch wieder auf sie zurückwirkt. Sie wird daher auch
Verschiedenheiten aufweisen, die durch die physischen und geistigen Be-
sonderheiten der Völker und insbesondere durch die Rassenunterschiede
bedingt sind. Daß die jetzt lebenden Menschenrassen derselben Art im
zoologischen Sinne angehören, wird von den meisten Sachkundigen zu-
gestanden. Der Begriff der Art ist zwar heute schwankender als zur Zeit
Cuviers, aber die normale Fruchtbarkeit nicht nur von Paaren aus ver-
schiedenen Varietäten, sondern auch der weiteren Verbindungen von
Mischlingen untereinander ist ein allgemein anerkanntes Kriterium der
Arteinheit, und dieses trifft bei den Menschenrassen zu, wie schon das
Gedeihen der Mestizen- und Mulattenbevölkerung in Amerika beweist.
Die Gleichartigkeit der Geistesanlagen aber ergibt sich am deutlichsten
aus der gleichen Sprachfähigkeit aller Rassen. Auch die Pescherähs
und die Australier haben nicht nur selbst eine Sprache, sondern sie sind
auch imstande, andere Sprachen zu lernen. Die drei Feuerländer, die auf
dem „Beagle" in ihre Heimat zurückgebracht wurden, hatten ziemlich gut
Englisch gelernt, und von dem jungen Mädchen unter ihnen sagt Darwin
ausdrücklich, daß sie sehr schnell alles lernte, besonders Sprachen, wie
sie dadurch bewiesen habe, daß sie in kurzer Zeit in Rio de Janeiro und
Montevideo auch etwas Portugiesisch und Spanisch aufgeschnappt habe.
Menschenrasse ist ein anthropologischer, also ein naturwissenschaft-
licher Begriff. Die derselben Rasse angehörenden Individuen sind durch
gewisse gemeinschaftliche körperliche Merkmale gekennzeichnet, die
sich durch Vererbung übertragen und unter denen die Farbe wohl das
wichtigste ist. Ob drei, fünf oder mehr Rassen zu unterscheiden sind, ist
hier nicht zu untersuchen. Im allgemeinen aber ist hervorzuheben, daß
der Rassentypus sich in den einzelnen Individuen keineswegs völlig gleich-
mäßig, sondern mit einem gewissen Spielraum ausprägt. Man kann für
jedes Merkmal einen Mittelwert aufstellen, in dessen Nähe sich die Einzel-
fälle am meisten zusammendrängen, während die Abweichungen nach der
einen und der anderen Seite um so seltener werden, je weiter sie sich
von dem Mittel entfernen. Lassen sich die Merkmale in bestimmten
Zahlen ausdrücken, wie die Körpergröße oder der Schädelindex, so stellt
sich bei vielen in einer großen Zahl von Beobachtungen die Verteilung
so dar, wie es nach dem Gesetz der zufälligen Abweichungen zu er-
warten ist. Die Farbennuancen lassen sich nicht im bestimmter Weise
I. GrumUaKcn und Rcdinj;ungen der Kultur. y
abschätzen, aber es ist augenscheinlich , daß sie bei derselben Rasse eine
ziemlich weite Skala durchlaufen. So findet man bei der weißen — oder
sogenannten kaukasischen — Rasse alle Abtönungen der Haut vom rein-
sten Weiß bis zum Braun, während auch die Haarfarbe von der hellsten
l'lachsfarbe bis zum tiefsten Schwarz variiert. Überhaupt kann eine Rasse
mit ihren äußersten Ausläufern sogar den mittleren Formen einer anderen
nahekommen, wenn auch die typischen Mittel beider weit voneinander
abstehen. Auch unter Europäern findet man zuweilen Neger- und Mon-
golenphysiognomien, ohne daß diese auf irgend eine nachweisbare Rassen-
mischung zurückgeführt werden können.
Die Rassen zeigen auch Unterschiede in physiologischen Eigen-
schaften, wie Muskelstärke, Schärfe der Sinne, Widerstandsfähigkeit
gegen gewisse Krankheiten, jedoch steht keineswegs fest, daß solche
Merkmale spezifisch im Rassentypus begründet sind und daß sie sich
nicht durch Übung, Anpassung und Auslese bei gleichen Lebensumständen
auch bei Angehörigen anderer Rassen ausbilden können.
Hauptsächlich aber erhebt sich hier die Frage, ob mit den körperlichen oeUtigcRassen-
unttTschiedc.
Rassenunterschieden auch intellektuelle und moralische zusammengehen,
woraus sich dann die weitere ergibt, ob alle Rassen durch ihre geistigen
Fähigkeiten in gleichem Grade zur Kultur veranlagt sind. Diese letztere
Frage scheint ohne weiteres im verneinenden Sinne durch die Tatsache
entschieden zu sein, daß auch heute noch die Völkerstämme in ihrer
Kulturhöhe eine vielfach abgestufte Reihe bilden und die niedrigsten
noch nicht über den Zustand primitiver Unkultur hinausgekommen sind.
Indes dürfen Schlüsse auf die Kulturfähigkeit verschiedener Stämme aus
den zu einer gegebenen Zeit bestehenden Kulturverschiedenheitcn nur
mit Vorsicht gezogen werden. Andernfalls hätte man ja zur Zeit des
Tacitus ein sehr ungünstiges Urteil über die Kulturfähigkeit der Ger-
manen fällen müssen, denn trotz der an ihnen gerühmten Eigenschaften
fehlte ihnen die auf Kunst, Literatur und Wissenschaft beruhende geistige
Kultur noch gänzlich, und sie standen darin um viele Jahrhunderte gegen
die Griechen und um Jahrtausende gegen die orientalisch-ägyptische Welt
zurück. Die Geschichte lehrt überhaupt, daß die als Kulturträger er-
scheinenden Völker zu verschiedenen Zeiten nacheinander in ihre Rolle
eingetreten sind und daß sie einer Auslösung der in ihnen schlummern-
den Entwicklungskräfte durch die Berührung mit bereits weiter fort-
geschrittenen Nationen bedurften. Es kommt also an auf die Kultur-
fähigkeit einer Rasse unter dem Einfluß einer höheren Kultur, und
von diesem Gesichtspunkt kann nicht bestritten werden, daß einige Rassen
in ihrer natürlichen geistigen Ausstattung hinter anderen zurückstehen.
Die afrikanischen Zwerg\-ölker, die Weddas in Ceylon, die Negritos auf
den Philippinen befinden sich noch in einem wilden Naturzustande, trotz-
dem sie seit unvordenklicher Zeit in der Nachbarschaft höher gesitteter
Stämme wohnen. Wir sehen auch, daß viele Naturvölker für die Ein-
g W'ii.llKi.M Lkxis: Das \\'cscn dor Kultur.
Wirkungen der europäischen Kultur nicht nur unempfänglich bleiben,
sondern daran zugrunde gehen. Zum Teil wird dies durch Krankheiten
und durch gewalttätige Vernichtung verursacht, zu einem großen Teil
aber auch durch die Unfähigkeit dieser Stämme, sich in die wirtschaft-
lichen Bedingungen des modernen Kulturlebens zu finden. Der Natur-
mensch steht auf seiner niederen Stufe doch in Harmonie mit seinen
äußeren Lebensumständen; unter der Herrschaft einer ihm fremdartigen
Kultur aber wird er zu einem zerlumpten Proletarier degradiert, der den
Kampf ums Dasein mit der höheren Rasse nicht bestehen kann. Die
Australier werden den Tasmaniem folgen, von den Polynesiern und den
nordamerikanischen Indianern wird sich wahrscheinlich nur ein kleiner
Rest in zahmer Mittelmäßigkeit erhalten, in Mexiko und Südamerika wird
sich neben den indianisch -kreolischen Mischlingen wohl ein größerer
Stock der Urbevölkerung behaupten, aber schwerlich jemals zu einem
aktiven Element in der Kulturentwicklung werden. Eine widerstands-
und lebenskräftige Rasse sind die Neger. In den Vereinigten Staaten
aber werden sie nur in einem erheblichen Abstände mit der weißen Rasse
parallel gehen können, und wo sie, wie in Haiti, mit einem Anflug von
Zivilisation sich selbst überlassen sind, zeigt sich ihr selbständiger Kultur-
wert in einem sehr ungünstigen Lichte.
weiBe und Die gelbe Rasse hat in China aus eigener Kraft eine vielseitige
gelbe Kasse. n r^ * •
Kultur erzeugt, die aber der der weißen Rasse nicht gleichgestellt werden
kann. Daß ihre Entwicklung seit mehreren Jahrhunderten gestockt hat,
ist kein entscheidendes Argument zu ihren Ungunsten, denn auch die
europäische Kultur weist lange Perioden des Stillstands auf. Und die
Japaner haben gezeigt, mit welcher Schnelligkeit sie diese Stagnation zu
überwinden und sich die Errungenschaften der europäischen Zivilisation
anzueignen vermochten. China wird über kurz oder lang ebenfalls in
diese neuen Bahnen gedrängt werden, und die Entscheidung über die
Gleichwertigkeit der Kulturfähigkeit der gelben Rasse wird davon ab-
hängen, wie sie auf gemeinsamem Boden den Wettlauf mit der europäisch-
amerikanischen besteht.
Die Verschiedenheit der Befähigung der Rassen kann sich in allen
Eigenschaften äußern, die für die Erzeugung der Kultur von Bedeutung
sind. Sehr viel kommt auf die Arbeitsenergie an, die sich aus Arbeits-
kraft und Arbeitswillen zusammensetzt. Nur sehr unvollkommen kann
der Wille durch äußeren Zwang, wie ihn die Sklaverei darbietet, ersetzt
werden, und mit den höheren Formen der wirtschaftlich-technischen Kultur
ist die Sklavenarbeit überhaupt unvereinbar. In der Arbeitsenergie aber
stehen Chinesen und Japaner der weißen Rasse mindestens gleich, und
auch ihr Erwerbsgei.st ist nicht weniger lebhaft. Die Erfindungsgabe, die
Quelle der höheren technischen Kultur, hat sich wenigstens in älterer Zeit
bei den Chinesen in immerhin beachtenswertem Grade bekundet, und in
der künstlerischen Technik haben es die Japaner ohne Zweifel sehr weit
I. Grundlagen und Bcdinguagcn ilcr Kultur. g
g'ebracht. Diese haben auch mit lirfolg angefangen, in naturwissenschaft-
lichen und medizinischen Forschungen den Kuropäern nachzueifern. Die
Umgestaltung der Staatsordnung nach den Anschauungen der europäischen
Kultur scheint sich in Japan zu bewähren und zu befestigen, in China
aber wird der nach unseren Begriffen noch halbbarbarische Staat schwer-
lich in absehbarer Zeit auf das Niveau der abendländischen Gesittung
gebracht werden, und es wird daher diesem Lande noch lange ein wich-
tiger Hebel des Kulturfortschritts fehlen.
Im ganzen ist es also wohl möglich, daß die Ostasiaten in der utili-
t arischen Richtung der Kultur den \'orsprung der weißen Rasse nach
und nach einholen und in Zukunft vielleicht mit ihr Schritt halten werden.
Daß sie aber auch den idealen Gehalt des von dem griechischen Genius
befruchteten und seit fast zwei Jahrtausenden in der Schule des Christen-
tums erzogenen abendländischen Geistes in Treibhauskultur hervorbringen
werden, ist kaum zu erwarten, ja man darf sagen, sie werden nicht daran
denken, es zu versuchen. Überhaupt wird es sich fragen, in welchem
Maße die gelbe oder irgend eine andere Rasse die Originalität der
künstlerischen, wissenschaftlichen und jeder anderen Begabung aufweisen
kann, der die weiße Rasse ihre führende Stellung verdankt. In ihrer
ganzen Macht tritt diese Originalität in den wenigen großen Geistern auf,
mit denen neue Epochen in der Kultur der Menschheit beginnen. Wir
wissen nicht, woher sie kommen, aber sie sind bisher nur aus der weißen
Rasse hervorgegangen. Es gibt aber auch einen mittleren Typus der
Befähigung zum selbständigen geistigen Schaffen, und nach der bisherigen
geschichtlichen Erfahrung darf angenommen werden, daß auch dieser bei
der weißen Rasse am höchsten steht, was aber nicht ausschließt, daß er
in dieser Höhe auch von bevorzugten Angehörigen anderer Rassen er-
reicht werden könne.
Die weiße Rasse setzt sich, wie auch die übrieren, aus mehreren vöikcrfimiiien
Völkertamilien zusammen, die auch einige Unterschiede in körperlichen voiksstämme.
Merkmalen erkennen lassen, jedoch nicht in solchem Grade, daß daraus
eine Rassenverschiedenheit abgeleitet werden könnte, zumal auch ohne
nachweisbare Mischung Übergänge in allen Schattierungen vorkommen.
Ein wichtiges ethnographisches Kriterium liefert der Sprachstamm, je-
doch keineswegs ein völlig sicheres, denn in vielen Fällen hat ein Volks-
stamm die Sprache eines anderen angenommen, und zwar nicht nur der
Besiegte die des Siegers, sondern auch umgekehrt der Sieger die des
Besiegten, wenn diesem eine höhere Kultur zu statten kam.
Die beiden wichtigsten Völkerfamilien innerhalb der weißen Rasse
sind die arische und die semitische, von denen jede wieder in mehrere
Zweige zerlegt ist. Ihre Bedeutung für die allgemeine Kulturentwicklung
gegeneinander abzuwägen ist hier nicht die Aufgabe, und in wirklich
wissenschaftlichem Sinne läßt sich diese Frage wohl überhaupt nicht be-
antworten. .Semiten und Arier haben seit Jahrtausenden zur Ausbildung
10 Wilhelm Lexis: Das Wesen der Kultur.
der eils oiiio s;-(>schichtliche Einheit erscheinenden orientalisch-europäischen
Kultur zusammengewirkt, und zwar haben die semitis(-hen Völker, denen
sich auch die Ägypter zunächst anschließen, zeitlich den Vortritt gehabt.
Aus beiden Völkergruppen sind große Geister hervorgegangen, die auf
allen Gebieten des Kulturlebens dauernde oder sogar epochemachende
Wirkungen ausgeübt haben. Nach welchem objektiven Maßstabe will
man solche Leistungen abschätzen und gegeneinander in Rechnung stellen?
Schätzungen nach subjektiven Eindrücken und Empfindungen sind selbst-
verständlich wertlos. Ebensowenig lassen sich die typischen Eigenschaften
der Völkergruppen wie auch der einzelnen Volksstämme, der Germanen,
Romanen, Slawen, Juden, aus sporadischen und subjektiv aufgefaßten Er-
fahrungen feststellen. Körperliche Stammesmerkmale lassen sich aller-
dings durch Massenbeobachtungen exakt ermitteln; aber in bezug auf
Geistesanlagen und Charaktereigenschaften ist ein solches Verfahren
praktisch nicht durchführbar. Ohne Zweifel haben sich durch geogra-
phische oder gesellschaftliche Trennung und durch die Verschiedenheit der
wirtschaftlichen Lage, der Erziehung und der Lebensgewohnheiten gewisse
kulturelle Stammesunterschiede entwickelt, aber sie sind durch die mannig-
faltigsten Übergänge verbunden und verwischen sich rasch bei veränderten
Umständen. Die Betrachtung des ganzen Verlaufs unserer Kulturgeschichte
und insbesondere die Tatsache, daß die verschiedenen Völker abwechselnd
mit besonderen Leistung^en hervorgetreten und dann auch wieder zeit-
weise mehr im Hintergrunde geblieben sind, rechtfertigt die Annahme, daß
die aktive Kulturfähigkeit der Volksstämme der weißen Rasse sich im
wesentlichen gleichstehe.
Äußere Einfliisse. Wenn der menschliche Geist den Boden darstellt, in dem die Kultur
emporwächst, so übt doch auch die äußere Natur auf ihren Charakter,
die Richtung ihrer Entwicklung und die Größe ihres Wachstums einen
Einfluß aus, der nicht unterschätzt werden darf. Die Versuche freilich,
bestimmte Naturgesetze über die Einwirkungen des Klimas, des Bodens,
der geographischen Lage usw. zu formulieren, sind nicht gelungen; man
muß sich begnügen, tatsächliche Gleichmäßigkeiten in dem nachweisbaren
Zusammenhang zwischen der Naturgrundlage und der geschichtlichen und
kulturellen Entwicklung der Menschheit zu suchen. Den stärksten Ein-
fluß auf die Lage der Menschen übt das Klima aus. Denn nicht die
Bodenbeschaffenheit ist es, was die Polarländer, die Steppen Asiens, die
Wüsten Afrikas und Australiens wirtschaftlich wertlos oder völlig unbe-
wohnbar macht, sondern der Mangel an Wärme oder an Regen. Schlechter
Boden kann bei günstigen Temperaturverhältnissen und genügender Menge
der Niederschläge durch künstliche Mittel verbessert und für den Menschen
nutzbar gemacht werden, aber von einer Verbesserung des klimatischen Zu-
standes des nördlichen Sibiriens oder der Sahara wird nie die Rede sein
können. Das Klima ist aber auch für die persönliche Leistungsfähigkeit,
ja für die Existenzfähigkeit des Menschen wesentlich mit entscheidend.
I. Grundlagen und Bedingungen der Kultur. II
In der eisigen Polarnacht wird seine Arbeitskraft brachgelegt, in der
Tropenzone wird sie durch die erschöpfende Treibhaushitze gelähmt, der
ganze Organismus des Nordländers erschlafft und verliert alle Widerstands-
fähigkeit gegen die üppig wuchernden giftigen Mikroorganismen. Es ist
nicht wahrscheinlich, daß die weiße Rasse Mittel- und Xordeuropas sich
in der heißen Zone jemals unvermischt so weit akklimatisieren können
werde, daß sie kompakte Bevölkerungsmassen mit gesicherter Fortpflanzung
und Vermehrungsfähigkeit zu bilden imstande wäre.
Von großem Einfluß auf das Klima und zugleich auf die Gestaltung
des Wirtschaftslebens ist der Wechsel der Jahreszeiten. Je weiter man
von der Tropenregion nach Norden vorgeht, um so mehr findet man die
Landwirtschaft und auch manche andere Zweige der Produktion an einen
streng periodischen Gang gebunden und zeitweise sogar zur Untätigkeit
gezwungen. Das mitteleuropäische Klima mit Frühling und Herbst als
Übergangsjahreszeiten gestattet immerhin acht Monate im Jahre die Arbeit
im Freien. In dem nördlichen Drittel der gemäßigten Zone gehen im
Gebiet des Kontinentalklimas, wie in Rußland, Herbst und Frühling fast
ganz in den harten Winter auf, die Feldarbeit muß in einen Zeitraum von
kaum vier Monaten zusammengedrängt werden, und während des größten
Teiles des Jahres hat die ländliche Bevölkerung, zumal auch die Länge
der Nächte störend wirkt, große Schwierigkeit, ihre Arbeitskraft zu ver-
werten, und sieht sich vielfach zum zeitweiligen Betrieb einer minder-
wertigen Hausindustrie genötigt.
Sehr mannigfach und entscheidend ist auch die Bedeutung der natür- H'"'«»- ,.
liehen Bodenbeschaffenheit für das Wirtschaftsleben und die Kulturent- "«d
Pnanzendecke.
Wicklung. Die Formen der Oberfläche begünstigen oder erschweren An-
siedlung und Verkehr, die chemische und physikalische Zusammensetzung
des Bodens hat die ursprüngliche Pflanzendecke und die größere oder
geringere Schwierigkeit bedingt, diese durch künstlich gezogene Nutz-
gewächse zu ersetzen, und der unterirdische Gehalt an nutzbaren Mineral-
stoffen hat in der neueren Zeit eine immer größere Wichtigkeit erlangt
und i.st nicht selten zum entscheidenden Faktor für den Reichtum eines
Landes geworden. So hat England durch seine reichliche Ausstattung
mit Kohlen und Eisenerzen längere Zeit einen weiten Vorsprung vor allen
anderen Ländern behauptet und diesen auch gegenwärtig noch nicht gänz-
lich verloren. Wo lohnender Bergbau möglich ist, schreckt auch das un-
wirtliche nordische Klima die Unternehmungslust nicht zurück, wie sich
jetzt in der Eisenerzregion des nördlichen Schwedens zeigt.
Nach seinem ursprünglichen Verhältnis zum Pflanzemvuchs erscheint
der Boden als Waldland, als Savanne mit oft parkartigem Charakter, als
Grasland, als Steppe, als Wüste, im arktischen Gebiet auch als Moos- und
Flechtentundra. Diese Naturbedingungen haben auf den Gang der mensch-
lichen Kulturarbeit stets ihre Nachwirkungen ausgeübt W^o kräftiger Ur-
wald gedeihen konnte, war der Boden auch zu einem ergiebigen Acker-
13 Wu.iU'.i.M I.KXis: Diis Wesen der Kultur.
bau geeignet, aber in den ersten Stadien der Kultur wirkten die Schwierig-
keiten der Rodung hemmend auf den Anbau. Fruchtbares Grasland, wie
die russische schwarze Erde, ist nicht allzusehr verbreitet. Die Steppe
leidet an Wassermangel und ist unmittelbar nur für die Viehzucht benutz-
bar, kann aber an Stellen, die der künstlichen Bewässerung zugänglich
sind, häufig in sehr fruchtbares Ackerland umgewandelt werden. Die
Salzsteppen im europäischen und asiatischen Rußland, das Dornbuschland
in Südafrika, das undurchdringliche Scrubland in Australien werden wohl
niemals eine erhebliche Bedeutung im Haushalt der Menschheit erlangen.
In den Kulturländern der alten Welt hat das Vegetationsbild durch
eine mehrtausendjährige Arbeit ein vollständig verändertes Aussehen er-
halten. Der Wald ist zum Teil so weit zurückgedrängt, daß ernstliche
Nachteile, namentlich Gefahren der Überschwemmung, Versumpfung, Ver-
sandung oder Ausdörrung größerer Gebiete befürchtet werden. Das ganze
für den Ackerbau geeignete I.and wird von einer verhältnismäßig kleinen
Zahl von Pflanzenarten eingenommen, die dem Menschen zur Ernährung
oder zu sonstigen wirtschaftlichen Zwecken dienen und die fast sämtlich
durch lange fortgesetzte Züchtung und Veredlung bedeutende Abänderungen
ihrer ursprünglichen Eigenschaften und dadurch erst ihren gegenwärtigen
Grad von Nützlichkeit erhalten haben. Die Weiden sind größtenteils durch
künstlich angelegte Wiesen ersetzt, eine kleine Anzahl von Baumarten ist
veredelt worden imd wird ihrer Früchte wegen gepflegt, der Urwald ist
fast gänzlich verschwunden und ein künstlich gezüchteter Wald in ver-
schiedenen Formen an seine Stelle getreten.
Auch die Tierwelt des alten Kulturgebiets hat große Wandlungen er-
fahren. Die gefährlichen Tiere, mit denen der Mensch ursprünglich einen
ernstlichen Kampf ums Dasein zu führen hatte, sind ausgerottet, die Jagd
hat ihre frühere wirtschaftliche Bedeutung für die Ernährung der Be-
völkerung fast gänzlich verloren und wird nur noch als Sport gegen eine
kleine Zahl von Tierarten ausgeübt, von denen mehrere zu diesem Zweck
besonders geschont oder gehegt werden. Eine ebenfalls nicht große An-
zahl anderer Arten ist durch Züchtung in Haustiere mit beträchtlichen
Abänderungen ihrer ursprünglichen Eigenschaften verwandelt worden.
Übrigens ist die Viehzucht nach den neueren Ansichten wahrscheinlich
im Zusammenhang mit dem Ackerbau, nicht aber zuerst bei hypothetisch
angenommenen nomadisierenden Hirtenvölkern entstanden. Denn ehe die
Steppen Westasiens und Osteuropas sich mit Nomaden bevölkerten, die
durchaus auf die Milch ihrer Herden angewiesen sind, mußten durch lange
Züchtung Tierrassen geschaffen sein, die einen über das Nahrungsbedürf-
nis ihrer Jungen bedeutend hinausgehenden Milchertrag lieferten.
Geographische Über die Bedeutung der allgemeinen geographischen Bedingungen
Bedingungen. r • c "^
sowohl für die Staatenbildung als auch für die Verteilung der Ansied-
lungen und Produktionszweige und die Entwicklung der Städte sind viele
geistreiche und auch mehr oder weniger zutreffende Betrachtungen ange-
I. Grundlagen und Bedingungen der Kultur. 13
Stellt worden, auf die indes hier nicht eingegangen werden kann. Nur in
bezug auf die Städte, die als Ausgangspunkte der höheren Kulturent-
wicklung besondere Beachtung verdienen, sei bemerkt, daß die natürlichen
Bedingungen — unter denen die Verkehrslage wohl die wichtigste ist — ,
die ursprünglich ihr Emporkommen und ihre Blüte besonders begünstigt
hatten, unter den heutigen \'erhältnissen in vielen Fällen ihre frühere Be-
deutung eingebüßt haben, da die Verkehrsbedingungen durch das Eisen-
bahnwesen vollständig umgestaltet worden sind. Auch hat es von je her
nicht an Städten gefehlt, die ihr Wachstum nicht der Gunst ihrer Lage,
sondern ihrer politischen Stellung verdankten. Daß Berlin in der Mitte
zwischen Oder und Elbe liegt, deren Verbindung durch Havel und .Spree
erleichtert wird, mag dazu beigetragen haben, ihm die Existenz einer
kleinen Mittelstadt zu verschaffen, aber erst als Hauptstadt des König-
reichs Preußen wuchs es zu einer Großstadt und erst als Hauptstadt des
Deutschen Reichs zu einer Weltstadt heran. Wie die Kultur überhaupt
dahin strebt, die Xaturwiderstände zu überwinden, so ist es auch ihre
Tendenz, den Menschen wenigstens in seiner individuellen Lebenshaltung
von den klimatischen und geographischen Einflüssen immer unabhängiger
zu machen. In großem Umfange ist dies bereits erreicht worden. Von
Hammerfest bis Kapstadt, von Dawson City bis Punto Arenas herrscht
derselbe Typus des gesitteten Lebens, wenn auch gewisse Anpassungen
an die äußere Umgebung unvermeidlich sind. Ein bemerkenswertes Vor-
bild bieten die Engländer dar, die in allen Zonen mit Zähigkeit die ge-
wöhnliche Ordnung ihres häuslichen Lebens so weit wie irgend möglich
festhalten.
Die Kultur überträgt sich in jedem lebenskräftigen Volk von Geschlecht ^'"j:^^,-;"« d«
zu Geschlecht und man pflegt diese Übertragung als „Vererbung" zu be-
zeichnen. Unter dem Einfluß der darwinistischen Anschauungen ist es
dahin gekommen, daß man bei diesem Wort zuletzt an seine ursprüng-
liche und eigentliche Bedeutung denkt, nämlich an den Übergang von
materiellem Besitz auf die Nachkommen. Streng genommen und ohne
Bild aber kann man in bezug auf die Übertragung der Kultur nur in
diesem letzteren Sinne von einer Vererbung reden, und zwar betrifft diese
nicht die Kultur selbst, sondern nur ihre materiellen Erzeugnisse. Die
Nachkommen erben von ihren Vorfahren den durch vielhundertjährige
Arbeit aus Urwald, Sumpf und Steppe in nutzbares Land umgewandelten
Boden, sie erben das in immer engeren Maschen ausgebaute Netz der
Verkehrswege aller Art, den Gebäudebestand, den ganzen Apparat der
technischen Produktionsmittel, kurz das gesamte stehende Kapital der
Volkswirtschaft, den ganzen Reichtum an dauernden Gebrauchsgütern und
an Kunstschätzen.
In einem mehr bildlichen Sinne wird das Wort Vererbung auch auf
die Übertragimg von staatlichen, kirchlichen und anderen öff'entlichen In-
stitutionen, von Gesetz und Sitte angewandt. Es sind dies Schöpfungen
14 Wilhelm Lexis: Das Wesen der Kultur.
des jiesellsohaftlichcn Kulturlebens von dauerndem, wenn auch nicht un-
veränderlichem Bestände; jeder neu in die Gesellschaft eintretende ein-
zelne findet diese Mächte der Gesamtheit als ein Gegebenes vor, dem er
sich zu fügen hat, und man kann vielleicht mit größerem Recht sagen,
daß sie ihn erben, nicht er sie.
Noch weniger zutreffend ist das Bild der Vererbung, wenn es auf die
Vermittlung der Kultur durch Erziehung und Unterricht angewandt wird.
Allerdings hat die Jugend den Kulturgehalt, den sie sich aneignen soll,
nicht selbst zu schaffen, sondern er wird ihr durch andere überliefert.
Aber im Gegensatz zur Vererbung ist diese Übertragung kein automa-
* tischer Prozeß, sondern sie ist nur möglich durch mühevolle Mitwirkung
der Zöglinge. Jeder muß schließlich alles selbst erwerben, um es zu be-
sitzen, er muß sich von dem Nullpunkt des Wissens emporarbeiten und
den sittlichen Kampf mit Selbstsucht und ungebändigten Trieben und
Leidenschaften selbst aufnehmen und durchfechten.
Durchaus bildlich endlich ist die Anwendung des Wortes Vererbung
auf die physiologische Übertragung der Eigenschaften der Eltern auf ihre
Nachkommen, wenn auch dieser Sprachgebrauch jetzt allgemein verbreitet
ist. In diesem Sinne kann jedoch nur von einer Vererbung, nicht der
Kultur, sondern der Kulturfähigkeit die Rede sein, der Fähigkeit des
Nachwuchses, die gegebene Kultur der älteren Generation nicht nur
passiv aufzunehmen, sondern sie auch selbsttätig zu behaupten und wo-
möglich weiter zu fördern. Bei den einzelnen wird diese Fähigkeit, wie
die übrigen Rasseneigenschaften, in zahlreichen Abstufungen um eine
mittlere Größe erscheinen; wird aber der Durchschnitt annähernd kon-
stant oder etwa im positiven Sinne langsam veränderlich sein?
Kiiiturforischritt Die Kultur wird im allgemeinen nicht einfach auf die folgenden Ge-
schlechter übertragen, sondern sie weist in der Geschichte Perioden des
Aufsteigens, der Stockung und des Niederganges, im ganzen aber einen
Fortschritt auf. Man pflegt ihn mit dem durch den Darwinismus beliebt
gewordenen Schlagwort „Entwicklung" zu bezeichnen, was selbstverständ-
lich nur eine bildliche Redewendung ist.
Als Grundbedeutung des Wortes „Entwicklung" ist, umgekehrt wie
bei der „Vererbung", die physiologische anzusehen. Es bedeutet die Aus-
bildung von Formen und Eigenschaften eines zusammengesetzten Ganzen,
die in dessen ursprünglicher Gestalt schon im Keime oder in der An-
lage vorhanden sind. In diesem Sinne kennen wir erfahrungsmäßig
streng genommen nur eine Art der Entwicklung, das embryonale Wachsen
der Organismen, die Entwicklung des Hühnchens im Ei, um ein populäres
Beispiel anzuführen. Auch das weitere Wachstum der organischen Indi-
viduen bis zu ihrem Höhepunkt kann noch unter diesen Begriff gebracht
werden, obwohl äußere Einflüsse hier schon stärker mitwirken. Die Rück-
bildung und der Verfall in höherem Alter ist ohne Zweifel ebenfalls durch
die ursprüngliche Naturanlage des Individuums bestimmt, aber man denkt
I. Grundlagen und Bedingungen der Kultur. 15
sich die Entwicklung nur als Fortschritt und schließt die rückläufige
Lebensphase aus. Der typische körperliche und geistige Normalzustand
einer menschlichen Gesamtheit wird also durch die durchschnittliche
Maximalhöhe der individuellen Entwicklung dargestellt. Stellt nun aber
dieser Normalzustand selbst unter einem im Wesen und der Naturanlage
der Spezies Mensch begründeten Entwicklungsgesetz, das sich allmählich
im Laufe vieler Generationen geltend macht? Soweit unsere sicheren
historischen Erfahrungen reichen, darf diese Frage verneint werden. Die
durchschnittliche Körpergröße und Körperkraft hat seit den Tagen der
alten Ägypter und der alten Germanen eher abgenommen als zugenom-
men, und es liegt auch keinerlei Grund zu der Annahme vor, daß die
durchschnittlichen Geistesanlagen der heutigen Europäer höher ständen,
als die der Griechen und Römer.
Eine phylogenetische Entwicklung der Kulturfähigkeit einer Rasse Theoretische
^ ,., . „ T,Tj--, Mcglichkeit der
konnte man sich auf verschiedene Art vorstellen. Jedes Individuum ent- Entwicklung der
steht durch die Kombination der Anlagen zweier Keime, die sich auf
eine uns gänzlich unbekannte Art steigern, neutralisieren und schwächen
können. Die Anlagen jedes einzelnen Keimes können um ein individuelles
Mittel schwanken, das mit dem typischen Rassenmittel nicht zusammen-
fällt; aber durch die Verbindung mit einem andern Keim findet eine Aus-
gleichung in der Art statt, daß der durchschnittliche Rassentypus in den
verschiedenen Eigenschaften der Individuen, also auch in ihrer Kultur-
fähigkeit im ganzen erhalten bleibt. Eine fortschreitende Entwicklung wäre
nun denkbar dadurch, daß die die Kulturfähigkeit bedingenden Anlagen
mehr oder weniger in allen Keimen gesteigert oder daß die Fälle über-
durchschnittlicher Anlagen allmählich zahlreicher würden, wodurch ja auch
eine lirhöhung des Durchschnittswertes selbst entstände. Dies könnte
man entweder auf ein unbekanntes inneres Entwicklungsgesetz zurück-
führen oder durch die Annahme erklären, daß die überdurchschnittlichen
Eigenschaften, wenn sie einmal bei einem Individuum aufgetreten sind,
sich leichter vererben, als die geringeren Anlagen. Die darwinistische
Auslese könnte hier höchstens hinsichtlich der wirtschaftlichen Anlagen
mit einiger Analogie als Erklärungsgrund herangezogen werden, denn die
höheren Seiten der Kulturfähigkeit, die wissenschaftliche, die künstlerische,
die sittliche, stehen mit der physischen Lebenskraft und Fortpflanzungs-
fähigkeit in keinem Zusammenhang, und Männer von genialster Begabung
haben sich für den wirtschaftlichen Kampf ums Dasein oft als sehr schlecht
ausgerüstet erwiesen.
Wenn also eine überwiegende Vererblichkeit höherer Begabungen
bestände, so müßte man einfach annehmen, daß die entsprechenden Keim-
anlagen eine höhere Kraft der Selbsterhaltung besäßen, was aber keine
Erklärung, sondern nur eine andere Wortfassung für den vorausgesetzten
Tatbestand wäre. .ch'^ernieKnt^
In Wirklichkeit aber liegt ein solcher Tatbestand überhaupt nicht "'vere^bait'!'^
if) Wii.HF.l.M Li'.xiS: Das Wesen der Ivultui.
vor. Daß sicli die durchschnittliche Kulturfähigfkoit der weißen Rasse seit
der Zeit des klassischen Altertums gesteigert habe, wird schwerlich jemand
behaupten wollen. Daß sich ungewöhnliche Talente und Fähigkeiten
leichter vererben, als Mängel der Geistes- und Willenskraft, ist nicht im
entferntesten bewiesen, vielmehr könnte man aus den täglichen Erfah-
rungen eher schließen, daß „erbliche Belastung" häufiger vorkomme, als
erbliche Bevorzugung. Die von Galton und anderen gesammelten Tatsachen
beweisen keineswegs eine entschiedene und nachhaltige Vererblichkeit
besonderer Begabungen, zumal wenn ihnen die entgegengesetzten Erfah-
rungen, namentlich auch die Fälle völliger Degeneration, gegenübergestellt
würden. Daß die Söhne talentvoller Väter sich ebenfalls, und vielleicht
in demselben Berufe, als tüchtig erweisen, kommt gewiß nicht selten vor,
aber daraus folgt noch nicht, daß die Erblichkeit einer besonderen Anlage
dabei entscheidend mitwirke. Die Ursache kann auch in einer allgemeinen
galten Veranlag'ung liegen, wie sie überhaupt ziemlich verbreitet ist, die
bei dem Sohne eines berühmten Mannes durch Erziehung, Beispiel und
sonstige Gunst der Umstände in der durch den Vater gegebenen Richtung
ausgebildet worden ist. Die häufig beobachtete Vererbung der musika-
lischen Begabung beruht jedenfalls wesentlich mit auf der physischen
Vererbung einer besonderen Nervenorganisation. Im übrigen geht aus
Galtons Zahlen selbst hervor, daß die Vererblichkeit des Talents, die man
zwischen Vater und Sohn vermuten könnte, in den folgenden Generationen
bald gänzlich verschwindet.
Wenn aber auch das Talent bei seiner größeren Verbreitung nicht
selten in einem wirklichen oder scheinbaren Erblichkeitszusammenhang auf-
tritt, so erscheinen dagegen die großen schöpferischen Genies, die der
Menschheit neue Wege gewiesen und neue Epochen der Geschichte er-
öffnet haben, in großartiger Isoliertheit. Auch sie sind Kinder ihrer Zeit,
aber sie stehen außerhalb jeder erkennbaren Entwicklung. Ihre durch
Geist und Wille bestimmte Originalität liegt jenseits der Grenze des nor-
malen Spielraums der überdurchschnittlichen Begabungen. Diese alles
gewöhnliche Maß überschreitenden Geister waren stets unvermittelt da,
ohne daß der physiologische Boden, aus dem sie erwachsen waren, uns
ihre Existenz erklären kann. Weder die Statur von Goethes Vater noch
die Frohnatur seiner Mutter geben uns irgend einen Anhalt, um die Ent-
stehung dieser außerordentlichen Persönlichkeit zu begreifen. Und wie
das Genie plötzlich erscheint, so verschwindet auch alsbald wieder seine
Spur, Keiner jener großen Geister hat einen Sohn von gleichem Range
hinterlassen. In Goethes Familie trat sogar ein auffallend starker Verfall
ein. Wenn dieser auch auf das weibliche Element zurückzuführen ist, so
bleibt doch eben die Tatsache bestehen, daß dieses in so hohem Grade
das Übergewicht erhielt.
Ein Kulturfortschritt durch Vererbung erworbener geistiger Eigen-
schaften wäre denkbar in der Art, daß die Ergebnisse der moralischen
I. Grundlagen und Bedingungen der Kultur. f "J
Zucht der älteren Generation sich physiologisch auf ihre Nachkommen
übertrügen. Aber nichts beweist die Richtigkeit dieser Annahme. Wenn
die wilden Instinkte des Naturmenschen im zivilisierten Menschen zurück-
gedrängt sind, so ist man keineswegs genötigt, dies als eine ererbte Zäh-
mung anzusehen, sondern es können die auf jeden einzelnen von Kind-
heit an wirkenden Einflüsse der Erziehung, der Sitte, der staatlichen und
der gesellschaftlichen Beschränkungen zur Erklärung der Tatsache voll-
kommen genügen. Wo diese Einwirkungen versagen, bricht die urzeitliche
Barbarei, Roheit und Grausamkeit auch aus dem Schöße der höchsten
Kultur in einzelnen Individuen und sogar in ganzen Volksmassen mit ele-
mentarer Macht wieder hervor.
Übrigens würde auf einen durch solche Vererbung entstehenden Fort-
schritt der Ausdruck „Entwicklung« nicht passen, da die Änderungen zum
Besseren ja nicht durch selbständige Ausbildung einer inneren Anlage,
sondern durch äußere Einwirkungen entständen.
Überhaupt ist das Wort I^ntwicklung auch bildlich nur in einem be- Entwicklung im
i bilalicnen Sinne.
schränkten Sinne auf den Kulturfortschritt anwendbar, nämlich nur inso-
fern, als er durch die großen und kleinen Anstöße verursacht wird, die
innerhalb der Gesamtheit der gesitteten Menschheit von den kulturbilden-
den Fähigkeiten der einzelnen ausgehen und sich in ihren Wirkungen
summieren. Gewaltige Anstöße mit unabsehbarer Nachwirkung treten
hervor als das Werk der großen Männer, die als geistige Führer der
Menschheit ihren Platz in der Weltgeschichte haben. Ein solches Werk
ist selbst nicht Erzeugnis einer Entwicklung, aber mit ihm beginnt im Kultur-
leben eine neue Entwicklungsreihe. Das Christentum hat sich nicht aus
dem Judentume „entwickelt", wenn es auch ohne das Judentum nicht hätte
entstehen können.
Neben diesen nur selten erscheinenden einzigartigen Wirkungen außer-
ordentlicher Kräfte sind fortwährend auch größere und geringere Talente
im Dienste des Kulturfortschritts tätig. Ihre Leistungen haben aber keine
langdauernden individuellen Nachwirkungen, sie kombinieren sich rasch
mit anderen, und so entstehen Kollektivwirkungen, die sich unter günstigen
Umständen von Geschlecht zu Geschlecht ansammeln und dadurch den
Kulturstand erhöhen.
Es gibt aber auch Kulturanstöße, die von vornherein nicht als indi-
viduelle, sondern als Massenwirkungen auftreten und ein spontanes Erzeug-
nis des Volksgeistes zu sein scheinen. Sie gehen von Ideen aus, die ge-
wissermaßen „in der Luft lagen", bei vielen zu gleicher Zeit auftauchten
und überall günstigen Roden für ihre Verbreitung fanden. Die deutsche
Einheit, deren Verwirklichung auch objektiv als ein Kulturfortschritt zu
betrachten ist, wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht ihre Idee
seit mehr als einem halben Jahrhundert im Volke lebendig gewesen wäre.
Überhaupt aber können auch die fruchtbarsten individuellen KulUir-
ideen keinen Erfolg haben, wenn es ihnen nicht gelingt, sich auszubreiten
Die KiLTfR der Gegenwart. I. i. -
l8 WIUIF.OI T.EXis: Das Wesen der Kultur.
und eine sich fortpti^inzendc Bewegung hervorzurufen. Treten sie ver-
früht auf, so bleiben sie unbeachtet und verfallen oft der Vergessen-
heit, bis die Menschheit zu ihrer Aufnahme vorbereitet ist.
Kniturfortschritt Ncbcu den inneren, aus dem Schoß der Kulturwelt selbst entspringen-
(lurch äußere , ••
f'bertraKunK deu Antricbcn gibt es auch eme äußere Übertragung der Kultur von
undAusbreitinnJ. - , ^ .. ^
weiter fortgeschrittenen Völkern auf noch zurückstehende. Sie kann auf
friedlichem Wege stattfinden, wie der Übergang Japans zur europäischen
Kultur, oder als Folge von Krieg und Eroberung, wie einst die Ausbrei-
tung der römischen Kultur über Spanien und Gallien. Nicht immer aber
ist der Sieger mit den Waffen auch der Träger der siegenden Kultur.
Das besiegte Griechenland hat geistig den römischen Sieger unterworfen
und die siegreichen Germanen fügten sich in Italien, Gallien, vSpanien der
Macht der römischen Kultur, der auch ihre Sprache nicht widerstehen
konnte. Freilich fehlt es auch nicht an Fällen dauernder Kulturvernich-
tung durch barbarische Sieger, wie das Los der einst am höchsten ste-
henden Kulturgebiete unter der Türkenherrschaft zeigt.
Im ganzen ist die fortschreitende Entwicklung der Kultur immer sehr
langsam von statten gegangen und erst in den beiden letzten Jahrhun-
derten in ein rascheres Tempo getreten. Die inneren Triebkräfte sind
eben nicht allein entscheidend für den Erfolg, es kommt auch auf die
äußeren Bedingungen an. Nicht nur wirken zerstörende Kriege und an-
dere Kalamitäten hemmend ein, es müssen die zur Kulturförderung" be-
fähigten Kräfte auch die Gelegenheit und die geeigneten Bedingungen
vorfinden, sich fruchtbar zu betätigen. Man könnte glauben, daß in der
heutigen Kulturmenschheit das technische Talent mehr verbreitet wäre,
als in den früheren Generationen. In Wirklichkeit aber bietet das Ma-
schinenzeitalter diesem Talent nur in außerordentlich vergrößertem Um-
fange Gelegenheit, sich geltend zu machen: als Anlage aber ist es ver-
mutlich in der alten Zeit verhältnismäßig nicht seltener gewesen, nur
waren die Umstände seiner Entfaltung nicht günstig.
Auch die äußere Ausbreitung der Kultur ist als ein Fortschritt zu
betrachten. Sie verschafft nicht nur einer größeren Zahl von Menschen
den Genuß der Kulturgüter, sondern sie vermehrt auch die absolute Zahl
der selbständigen kulturfördemden Kräfte. Dasselbe läßt sich auch von
der natürlichen Vermehrung der Bevölkerung sagen. Die Leistung jedes
einzelnen aber erstreckt ihre Wirkung um so rascher und vollständiger
auf die ganze Kulturwelt, je ausgedehnter und intensiver in dieser der
Verkehr in allen seinen Arten entwickelt ist. Es unterliegt daher auch
keinem Zweifel, daß die außerordentlich gesteigerte Schnelligkeit des
Kulturfortschritts in der neuesten Zeit zu einem großen Teil der Wirkung
der modernen Verkehrsmittel zu verdanken ist. Dazu kommt femer, daß
die Kulturarbeit um so produktiver wird, je wirksamer ihre Hilfsmittel
werden und je mehr die Ansammlung ihrer Errungenschaften vorschreitet.
Der gleiche relati\e Fortschritt im Vergleich zu einem Anfangszustande
II. Entwicklung der Kulliir. tO
ist absolut um so größer, je höher die Ausgangsstufe ist. Allerdings ent-
steht dadurch auch die Gefahr des übermäßigen Auswachsens einer ein-
zelnen Seite der Kultur, das die Harmonie ihres Gesamtcharakters stören
muß, wenn nicht rechtzeitig eine Reaktion und Ausgleichung eintritt.
Überhaupt erhebt sich die Frage, ob ein unbegrenzter Fortschritt der
Kultur in allen Richtungen möglich ist und ob nicht schließlich ein Zu-
stand der Überkultur entstehen müßte, in dem der Mensch ein der Natur
völlig entfremdetes Dasein unter durchaus künstlichen Lebensbedingungen
führen würde. Wir werden auf diese Frage zurückkommen, zunächst aber
hier einen allgemeinen Überblick über den geschichtlichen Verlauf der
Kulturentwicklung anschließen.
II. Entwicklung der Kultur. Wir gehen nicht zurück zu der vorkuUur.
^ . ^ Kriterium der
Vorstufe der Kultur, in der der Mensch sich in einem ähnlichen Zu- Kultur.
Stande befand, wie wir ihn jetzt noch bei den Resten der am niedrig-
.sten stehenden Naturvölker finden. Diese Vorkultur gehört gewisser-
maßen zum Naturzustände des Menschen; denn im Unterschiede vom
Tiere kann der Mensch überhaupt nicht existieren, wenn er sich nicht
durch Anwendung seiner Geisteskräfte gewisse Hilfsmittel verschafft, um
die Unzulänglichkeit seiner natürlichen Ausstattung zu ergänzen. Die
paläolithische Zeit mit ihren rohen Werkzeugen, Waffen und Geräten aus
.Stein und Knochen entspricht der primitivsten .Stufe der Vorkultur. Die
ihr folgende neolithische Periode, deren Kulturstand etwa mit dem der
Neuseeländer zu Cooks Zeit verglichen werden kann, reichte in Mittel-
europa noch weit in die Zeit hinein, in der wir in Vorderasien und den
Mittelmeerländem bereits die Kultur finden, die die Ausgangsphase der
ganzen späteren Entwicklung bildet und mit der heutigen in unmittelbarer
Stammesverwandtschaft steht. Es gibt ein charakteristisches äußeres
Merkmal, das diese Stufe leicht erkennbar macht: sie ist überall da vor-
au.szusetzen, wo sich Reste von Tempeln oder Palästen mit künstlerischer
Anlage und Ausschmückung und irgend welchen hieroglyphischen oder
sonstigen Inschriften finden. Solche Werke konnten nur entstehen in
einer dauernd, zum Teil in Städten, ansässigen, sozial gegliederten Bevöl-
kerung mit fester, wenn auch despotischer Staatsordnung, mit einer mit
dem Staate eng verbundenen Kultusorganisation, mit einer gewissen wirt-
.schaftlichen Arbeitsteilung, mit einer schon bedeutend entwickelten Tech-
nik, die sich auch in den kunstgewerblichen Leistungen zeigt. Auch läßt
sie, ebenso wie die bereits benutzte, wenn auch noch unvollkommene
Schrift, darauf schließen, daß auch schon die ersten Anfänge einer
wissenschaftlichen Tätigkeit vorhanden waren.
Der älteste .Sitz der so charakterisierten Kultur ist, wie es scheint,
zwischen Euphrat und Tigris zu suchen, da man es jetzt für wahrschein-
lich hält, daß auch die altägyptische Kultur ursprünglich \on der bab)'-
lonischen abhängig gewesen sei. Wie aber diese letztere entstanden ist,
20 Wil.HFXM I.F.xis: Das Wesen der Kullur.
bleibt ein Rätsel. Geschichtlich kennen wir nur Übertragfungen der
Kultur von Volk zu Volk, nicht aber ihr Entstehen, und wir werden an
Goethes Wort erinnert: „Was nicht mehr entsteht, können wir uns als ent-
stehend nicht denken." Wenn die vorderasiatische Kultur aus einem
neolithischen Stadium hervorgegangen ist, weshalb haben Kelten und
Germanen sich trotz ihrer hohen Anlagen nicht selbständig auf diese
Stufe emporgebracht? Zum Teil mag die Ursache in den ungünstigeren
Naturbedingungen des nördlichen Teiles der gemäßigten Zone liegen.
Die Winterkälte bringt dem Menschen eine bedeutende Verschärfung des
Kampfes ums Dasein; sie vermehrt die notwendig zu befriedigenden Be-
dürfhisse und vermindert daher die Zeit und Kraft, die für die Betätigung
künstlerischer und wissenschaftlicher Fähigkeiten verwendbar ist. Auch
kommt wohl in Betracht, daß das Temperament der mitteleuropäischen
Völker der despotischen Ordnung widerstrebte, ohne welche die Schöp-
fungen der vorderasiatisch-ägyptischen Kultur nicht denkbar wären.
Die alt- Neben dieser gibt es noch zwei andere Kulturkreise, bei denen das
amerikanische
Kuitar oben angeführte Merkmal zutrifft und die, soviel wir wissen, einen selb-
ständigen Ursprung haben, nämlich der altamerikanische und der ost-
asiatische. Da wir hier nur die Entwicklung der europäischen Kultur im
Auge haben, können wir uns auf einige kurze Bemerkungen über diese
isolierten Bildungen beschränken.
Die altamerikanische Kultur, wie Cortez und Pizarro sie vorfanden,
bildete keine Einheit, denn ein Zusammenhang zwischen dem mexikanisch-
zentralamerikanischen Zweige und dem südamerikanischen ist nicht nach-
weisbar. Beide Gebiete lagen in der heißen Zone, in beiden herrschte
ein despotisches .System, das im Inkareich zu einem eigenartigen Staats-
sozialismus ausgebildet war. Dazu ein mit dem Staatswesen durchaus
verwachsener, in Mexiko durch große Grausamkeit entstellter Kultus.
Auch mit ihren Tempeln und Palästen, ihrer Kunst und Technik kann
diese amerikanische Kultur mit der vorderasiatischen wenigstens in die
gleiche Gattung gestellt werden, wenn sie auch im ganzen auf einem
niedrigeren Niveau bleibt. Die Peruaner besaßen noch keinerlei Art von
Schrift und begnügten sich mit ihren Quipus (Bündeln von bunten Schnüren)
als Gedächtnishilfsmitteln. Bei den Mexikanern jedoch war eine Art
von Hieroglyphen im Gebrauch und die noch unentzifferte Schrift der
Maya-Völker scheint schon zu einer höheren Ausbildung gelangt zu sein.
Alle hier in Frage kommenden Völker waren „bekleidet", und das war das
Merkmal, nach dem die spanischen Eroberer die zivilisierten Indianer von
den wilden unterschieden.
Die altamerikanische Kultur erscheint als ein abgestorbener Zweig
in der Entwicklung der Menschheit. Zu der europäischen Welt hat sie
keine andere Beziehung gehabt, als daß sie durch die Berührung mit
dieser vernichtet worden ist, ohne daß sie irgend eine merkliche Nach-
wirkung hinterlassen hat.
II. Kntwicklun;; der Kullur. 2 I
Die ostasiatische Kultur hat ihren Stammsitz in China und hat von CMna und Japan.
dort aus ihre \'erz\veigungen nach Korea, Japan und Indochina erstreckt.
Ihre Wurzehi hatte die chinesische Kultur wahrscheinlich in dem nord-
westlichen Gebiet, ihre eigentümliche Entwicklung aber hat sie in ihren
heutigen Sitzen erlangt, jedoch keineswegs gänzlich unabhängig von äußerem
Einfluß. Namentlich haben sich durch die Verbreitung des Buddhismus
über das ganze Reich nähere Beziehungen zu Indien ausgebildet. Man ist
nicht berechtigt, von einem seit Jahrtausenden dauernden Stillstände der
chinesischen Kultur zu sprechen. Wichtige Erfindungen, wie die des
Papiers, des Porzellans, des Drucks mit Holzplatten und sogar mit einzelnen
Schriftzeichen, sind in China in der Zeit vom ersten Jahrhundert bis zum
Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung'gemacht worden. Aber
auch in der Eolgezeit bekundete die chinesische Kultur noch ihre Kraft
durch ihre Ausbreitung über andere Völker und durch die geistige Be-
wältigung der zur Herrschaft gelangten Mongolen und Mandschu. Stabil
jedoch ist die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung geblieben, die
durch den festen Zusammenhang der Familie und des Geschlechts und
durch die Autorität der väterlichen Gewalt gegeben ist. Diese gesell-
schaftliche Organisation ersetzt die Mängel der Staatsverfassung und Ver-
waltung und hat es möglich gemacht, daß das große Reich sich nicht nur
vier Jahrtausende gegen furchtbare Stürme behauptet hat, sondern auch
einer enormen Bevölkerung, die in einigen Provinzen die größte in Europa
vorkommende Dichtigkeit erreicht oder gar übertrifft, Erwerb und Unterhalt
darbieten kann. In der technischen Kultur steht China auf einer ähnlichen
Stufe, wie das europäische Mittelalter. Es ist das Land der geschickten
Handtechnik und des Kleinbetriebs, der in dem Fleiß und der Sparsamkeit
des X'olkes eine wertvolle Stütze hat; Die Kunst steht dem Kunstgewerbe
noch nahe und ist noch kaum über das Dekorative hinausgekommen. Die
Wissenschaft ist bisher nur durch eine literarische Buchgelehrsamkeit ver-
treten gewesen, die aber in hohem Ansehen steht und den Zugang zu den
höchsten Stellungen eröffnet. In der Volksreligion sind die ursprünglichen
Lehren des Taoismus, des Buddhismus und des Confucianismus durch aber-
gläubische Auswüchse vollständig überwuchert. Sehr charakteristisch ist
für China das Fehlen einer einflußreichen priesterlichen Hierarchie, während
in dem Schutzlande Tibet eine solche auch die weltliche Herrschaft fuhrt.
Die japanische Kultur ist eine Abzweigung der chinesischen; ihr be-
sonderes Gepräge hat sie namentlich durch die feudale Staatsorganisation
erhalten, durch die auch ein entschieden kriegerischer Geist im Volke ge-
nährt worden ist.
Die europäische Kultur hat der ostasiatischen unmittelbar nichts zu
verdanken; denn daß durch einen dürftigen Handel aus zweiter Hand
Seide, Porzellan und Tee und vielleicht einige Erfindungen durch ara-
bische Vermittlung nach Europa geführt worden sind, war kein Verdienst
der Chinesen. Dagegen ist der Andrang des europäischen Einflusses gegen
22 WiiHKi.M l.l'.xis: Uns Wesen der KuUur.
die so lange abge.sperrten Reiche des Ostens im letzten Jahrhundert
immer mächtiger geworden und hat schließlich in Japan den merkwürdigen
Umschwung herbeigeführt, t'hina sträubt sich noch gegen die Befolgung
dieses Beispiels, weil es den dünkelhaften Glauben an die Überlegenheit
seiner eigenen Kultur noch nicht aufgeben will.
Indien. Die indische Kultur hat einen gewissen Zusammenhang mit der vorder-
asiatischen, im ganzen jedoch einen selbständigen Entwicklungsgang. Die
in das Pandschab eindringenden Arier fanden drawidische Völkerschaften
vor, die den noch im Nomadenleben stehenden Ankömmlingen in der
Kultur anfangs überlegen waren, da sie Burgen und feste Wohnsitze be-
saßen, Handwerke und Handel betrieben, Eisen und Kupfer und, wie es
scheint, auch schon eine Art von Schrift kannten. Die weitere Entwick-
lung der indischen Kultur hat sich jedoch unter der Herrschaft des arischen
Geistes vollzogen, der in den höheren Kasten seine Träger und Hüter
fand. Daß die Priesterkaste, die Brahmanen, die Oberhand über die Krieger-
kaste gewann, ist eine für die indische Gesellschaftsordnung besonders
charakteristische Tatsache. Der Brahmanismus und die sich daran an-
schließende Volksreligion hat sich auch stark genug erwiesen, den ethisch
höher stehenden Buddhismus aus Vorderindien wieder zu verdrängen und
selbst gegenüber dem gewalttätigen Einbruch des Mohammedanertums bei
der großen Mehrheit des Volks seine Stellung zu behaupten. Andrerseits
aber hat die brahmanische Philosophie, wie sie im Wedanta und anderen
Systemen ausgebildet ist, wie auch die esoterische Lehre des Buddhismus
in Europa nicht nur als tiefsinnige Geistesarbeit Anerkennung gefunden,
sondern seit Schopenhauer auch einen entschiedenen Einfluß auf gewisse
Richtungen des abendländischen Denkens ausgeübt. Im übrigen jedoch
hat Indien nur wenig zu dem europäischen Kulturbesitz beigesteuert.
Durch Vermittlung der Araber sind einige mathematische Kenntnisse und
namentlich das dekadische Ziffernsystem herübergekommen. Die litera-
rische Bedeutung der Verbreitung der indischen Tierfabeln nach dem
Westen ist nicht allzu hoch anzuschlagen. Die bildende Kunst hat in In-
dien nur in der Architektur bemerkenswerte Leistungen aufzuweisen, für
Europa aber ebenso wenig Anregungen gebracht, wie die indische Hand-
technik, die in der neueren Zeit durch die europäische Maschinenindustrie
immer mehr zurückgedrängt worden ist.
Die Beziehungen zwischen der indischen und der abendländischen
Kultur, die seit dem Zuge Alexanders angebahnt waren, würden sich ohne
Zweifel enger und fruchtbarer gestaltet haben, wenn nicht durch das par-
thische und das ihm folgende Sassanidenreich ein die beiden Gebiete
trennender Keil eingeschoben worden wäre. Dann aber kam die Flut der
turkotartarischen Stämme, die die alte Kultur Westasiens wegschwemmte,
ohne daß bis zur Gegenwart auch nur annähernd ein Ersatz geschaffen
worden wäre. Man ist nicht berechtigt, dem Mohammedanismus als solchem
die Schuld an dieser traurigen Rückbildung zuzuschreiben; denn daß dieser
II. Kniwicklung der Kultur. 2^
keineswegs an sich kulturwidrig ist, haben die Leistungen der Araber in
ihrer Blütezeit bewiesen. Auch fehlt es den Türken nicht an achtbaren
individuellen Eigenschaften; aber ihre Rasse ist offenbar nicht imstande,
die Herrschaft in einem Staat /u führen, der den Anforderungen der
europäischen Kultur genügen soll.
Die vorderasiatische Kultur reicht mit ihren ältesten Spuren in Baby- nie vordrr-
lonien mehr als 4000 Jahre v. Chr. zurück. Als ihre ersten 'J'räger er- tische Kaiiur.
scheinen die rätselhaften Sumerer, von denen man nur sagen kann, daß
sie weder arischen noch semitischen Stammes waren. Aber schon um
das Jahr 3000 gab es in Nordbabylonien semitische Stadtkönige und in
dem dann entstehenden größeren Königreiche Babylon erlangte das semi-
tische Element infolge lange dauernder Einwanderung entschieden das
Übergewicht. Über den vermuteten Einfluß der altbabylonischen auf die
Entstehung der ägyptischen Kultur wissen wir nichts Bestimmtes; daß aber
später ein solcher Einfluß vorhanden war, beweisen die aus dem 15. Jahr-
hundert v. Chr. stammenden Keilschrifttafeln von El Amarna. Nahe Be-
ziehungen der assyrischen, phönizischen , israelitischen Kultur zu der ba-
bylonischen sind zweifellos.
Man kann füglich diese orientalisch -ägyptische Periode mit der Zeit
abschließen, in der der griechische Geist seine volle Kraft zu entfalten
beginnt, also etwa mit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. Der Eort-
schritt der Kultur bestand in den beiden vorhergegangenen Jahrtausenden
hauptsächlich in ihrer weiteren Ausbreitung: sie griff hinüber nach den
griechischen Inseln und dem griechischen Festlande und die Phönizier
schoben ihre Vorposten hinaus bis zu den Säulen des Herkules. Von einer
inneren Kulturentwicklung aber ist in diesem langen Zeitraum sowohl in
den vorderasiatischen Keichen wie auch in Ägypten nur wenig zu be-
merken. Die in den Gesetzen Hammurabis aufgestellte Rechtsordnung
blieb auch jenseits der Grenzen Babvloniens vorbildlich für die folgenden
Jahrhunderte, und die aus ihnen zu erkennenden wirtschaftlichen Zustände
haben sich bis zum Ende der Periode nicht wesentlich geändert. Es gab
vmter Hammurabi Freie, Sklaven und eine Zwischenklasse, die sogenannten
Freigelassenen. Es wurden aber auch freie Arbeiter gegen Lohn be-
schäftigt, dessen Sätze teils in Geld (Silber), teils in Getreide vorgeschrieben
sind. Auch bei den Handwerkern, die eine zünftige Organisation hatten,
scheint das „Lohnwerk" vorherrschend gewesen zu sein. Es bestand be-
reits privates Grundeigentum, daneben aber auch Lehensbesitz und Pacht.
Ehe- und Erbrecht waren genau geregelt. In den Städten wenigstens
hatte sich, wie dies das Bedürfnis des täglichen Verkehrs erfordert, bereits
in einem gewissen Umfange die Geld Wirtschaft entwickelt, die durch zu-
gewogenes Silber in kleinen Barren oder Ringen vermittelt wurde. Die
Münzprägung (zuerst in Gold) kam erst im 7. Jahrhundert in Kleinasien auf.
Das Kreditwesen und das Bankgeschäft war schon in bemerkenswertem
Grade ausgebildet. Die Technik stand bereits im Anfang der Periode auf
2^ Wii.iu IM Lkxi.s: Das Wesen der Kultur.
einer hohen Stufe und machte innerhalb derselben keine großen Fort-
schritte, wenn auch den Phöniziern einige Erfindungen zugeschrieben
werden. Am wichtigsten i.st wohl die allmähliche Einführung des Eisens
an die Stelle des Kupfers und der Bronze. Die Bewältigung der riesigen
Massen, die zu den ältesten Pyramiden aufgetürmt wurden, setzt bereits
eine Ingenieurkunst voraus, die später nicht übertroffen wurde, wenn sie
auch mit anderen Mitteln arbeiten mußte, als die heutige. Die Kultur des
Alltagslebens, wie sie in den gewöhnlichen Geräten, Werkzeugen und
sonstigen Gebrauchsgegenständen zutage tritt, zeigt in Wandmalereien
ägyptischer Grabkammern aus sehr alter Zeit schon beinahe denselben
Stand, auf dem wir sie in der griechisch-römischen Periode und selbst im
Mittelalter finden.
Orientalische Die Kunst hatte noch einen überwiegend dekorativen Charakter, zu
Kunst und , . ^ n
\\ issenschafi. einer freien W iedergabe des Schönen war sie auch am Schluß der
Periode noch nicht vorgedrungen. Einen Fortschritt innerhalb dieses
Zeitraums bildete die allmähliche Umgestaltung der Schriftzeichen zur
Buchstabenschrift. Eine nur um ihrer selbst willen, ohne jeden Neben-
zweck betriebene Wissenschaft scheint es weder in Babylonien noch
in Ägypten gegeben zu haben. Das sexagesimale Maßsystem der Baby-
lonier, das vielleicht von den Sumerern übernommen war und mit
mancherlei Abänderungen auf die ganze westliche Kulturwelt übergegangen
ist, war mehr eine praktische, als eine wissenschaftliche Erfindung. Aller-
dings stand es in engem Zusammenhang mit der vielgerühmten babyloni-
schen Astronomie, aber auch diese war nichts weniger, als eine reine
Wissenschaft, sondern sie stand ganz und gar im Dienst der Astrologie
und einer phantastischen, an die Sternbilder anknüpfenden Mythologie.
Die babylonischen Sterndeuter haben sich den Himmel für ihre Zwecke
zurechtgelegt und die Ägypter haben von ihnen, wie es scheint, die Tier-
kreisbilder erhalten — dann aber jedenfalls schon im 4. Jahrtausend v. Chr.
Die Babylonier waren imstande, Finsternisse vorauszusagen, aber nur mit
Hilfe empirischer Zyklen. Die Bewegungen der Planeten durch eine ma-
thematische Theorie zu erklären, haben sie überhaupt nicht versucht.
Wenn sie zweitausend Jahre lang ihre astrologischen Beobachtungen fort-
setzten, so konnte ihnen die Präzession der Nachtgleichen nicht entgehen,
wie diese auch für die Ägypter einfach durch den Unterschied der Tier-
kreise von Esneh und von Denderah augenfällig werden mußte. Aber die
Priesterschaft hat diese Verschiebung als ein astrologisches Geheimnis be-
handelt und erst Hipparch hat sie wissenschaftlich entdeckt und vom geo-
zentrischen Standpunkt auch richtig erklärt.
Die religiöse Mythologie der Babylonier bewegt sich in der bunten,
zügellosen Phantastik, die allen polytheistischen Religionen eigen ist. Ein
Vergleich des Schöpfungsmythus von Marduk und dem Drachen Tiamat
mit der erhabenen Einfachheit des ersten Kapitels der Genesis ist gänzlich
ausgeschlossen. Von der babylonischen und ägyptischen Literatur ist nicht
II. l'-utwicklung der Kultur. 25
viel bekannt; die einzige größere Schriftensammlung, die aus dem vorder-
asiati.schen Kulturkrei.se stammt, ist das Alte Testament. Daß auch in
diesem vielfach babylonischer Einfluß merkbar ist, kann nicht bestritten
werden. Gleichwohl sind diese Schriften von einem durchaus eigenartigen
Geiste durchweht und es ist ihnen auch bei lediglich kritischer Betrach-
tung einer der ersten Plätze in der Weltliteratur zuzuerkennen. Marduk
und Istar sind in der Nachwelt spurlos verschwunden: von der Jahve-
religion des Alten Testaments aber ist die größte geistige Umwälzung
ausgegangen, die die Menschheit erlebt hat.
Als zweite große Kulturperiode fassen wir die allerdings innerlich oriechisch-
^ römische
schon mehr differenzierte Zeit des griechisch-römischen Altertums zu- Periode,
sammen. Sic erstreckt sich auf ungefähr ein Jahrtausend und reicht bis
zu dem vollendeten Siege des Christentums, der mit der letzten Phase des
Verfalls des weströmischen Reichs zusammenfällt. Es ist die Entwick-
lungsperiode der europäischen Kultur, die aus der Verbindung des grie-
chischen Genius mit der Errungenschaft des Orients erzeugt wird. Die
Homerischen Gesänge erklangen als Vorspiel dieser neuen Zeit; auch hatte
die griechische Kolonisation sich schon kulturverbreitend nach Sizilien,
Italien und Gallien ausgedehnt, als das Griechentum durch seinen ersten
Sieg über die Perser seine politische Macht zu entfalten begann.
Was ist nun der endgültige Kulturgewinn, den diese Periode der
Menschheit hinterlassen hat? Daß die bei ihrem Anfang nur mit vorge-
schobenen Posten besetzten Küstenländer des Mittelmeeres schließlich zu
vollwertigen Gliedern der Kulturwelt wurden, war ein großer Fortschritt,
aber unsere Frage bezieht sich auf den inneren Gehalt der liultur, und
dieser zeigt nicht nach allen, sondern nur nach bestimmten Seiten hin
eine Vermehrung und Steigerung. An die Stelle des Despotismus in
orientalischen Großstaaten trat zunächst republikanische Freiheit in kleinen
Gemeinwesen, gestützt auf einen ebenfalls eng lokalisierten Patriotismus.
Aber diese Freiheit stand doch nur einer Minderheit zu, die Mehrheit be-
stand aus Sklaven und aus Personen minderen Rechtes. In der zweiten
Hälfte der Periode aber sind alle diese selbständigen Staatsbildungen von
dem der Cäsarenherrschaft unterworfenen römischen Weltreich aufgesogen.
Die feste Ausgestaltung des römischen Rechts war mehr eine wissenschaft-
liche, als eine neue kulturelle Leistung. Die Organisation der Verwaltung
des römischen Kaiserreichs war vom technischen Standpunkt bewunderns-
wert, konnte aber doch die Zunahme der inneren Schwäche und Zersetzung
des Reichs nicht verhindern.
Die wirtschaftlichen und sozialen Zustände waren am Ende der Periode
infolge eines Jahrhunderte dauernden Verfalls schlimmer als am Anfang.
Schon in Griechenland erlangte die Sklavenarbeit als Faktor der Pro-
duktion eine weit größere Bedeutung als im alten Orient. Aristoteles be-
trachtet die Sklaverei als eine in gleicher Weise naturgemäße Einrichtung
wie die Familie, und es kann auch nicht in Abrede gestellt werden, daß
2 6 WiLiiKXM l.KXis: Das Wesen der Kultur.
sie der hölieron Kulturentwickhiiisi- in der von der schweren wirtschaft-
lichen Arbeit befreiten Bevölkorungsklasse förderUch gewesen ist. Auch
ist die Sklaverei tatsächlich erst endgültig verschwunden, als die von Ari-
stoteles gestellte Bedingung erfüllt war, „daß die Weberschiffchen von
selbst fliegen müßten". Dennoch war sie bestenfalls nur ein notwendiges
Übel und bei der lüitwicklung, die sie im römischen Reich gewonnen hat,
erlangten ihre verderblichen Wirkungen mehr und mehr das Übergewicht.
Die Verdrängung- des römischen Bauernstandes, die Latifundienbildung und
der gegen Ende des Zeitraums immer sichtbarer werdende Menschenmangel
sind hauptsächlich ihr zu Last zu schreiben.
Die wirtschaftliche Technik und insbesondere der Handwerksbetrieb
blieb in den hergebrachten Bahnen und auch das folgende Jahrtausend
des Mittelalters brachte darin kerne wesentlichen Änderungen. Über den
Stand der technischen Mechanik um das Jahr loo v. Chr. geben die Schriften
Hcrons von Alexandrien genügende Auskunft. Von ihm selbst rühren
wahrscheinlich nur einzelne Verbesserungen und Abänderungen her, die
meisten der von ihm beschriebenen Apparate und Vorrichtungen aber
stammen aus älterer Zeit und sind wohl größtenteils auf ägj^ptische oder
babylonische Ei-findungen zurückzuführen. Und andererseits ist nicht nur
das Mittelalter, sondern auch die neuere Zeit über diese Leistungen der
Alten bis zur Erfindung der Dampfmaschine kaum hinausgekommen. Heron
zeigt, wie durch komplizierte Räderwerke, durch Wasser-, Luft- und Dampf-
druck die mannigfaltigsten Bewegungen hervorgebracht werden können;
er beschreibt eine der unserigen fast gleiche Feuerspritze, einen Auto-
maten, der nach Einwerfen eines Geldstückes Weihwasser verabreicht,
und einen Apparat, der nichts anderes ist, als das Urbild der Dampf-
Reaktionsturbine. Die meisten seiner Automaten und Apparate sind nur
.Spielereien; manche hatten offenbar den Zweck, in den Tempeln durch
priesterliche Kunststücke die Menge zu verblüffen. Aber es wäre leicht
gewesen, die Elemente dieser Konstruktionen auch zu praktisch brauch-
baren Maschinen zusammenzusetzen, wenn in der Zeit der Sklavenarbeit
nur Bedürfnis nach solchen bestanden hätte.
Die griechische Die technische Mechanik ist als empirische Kunst durch die Intuition
Wissenschaft
und Kunst, talentvoller Köj^fe im Orient entstanden. Die ersten erfolgreichen Ver-
suche aber, ihr eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, haben die
Griechen gemacht. Und hier stoßen wir denn auf eine der großen Kultur-
leistungen, die die betrachtete Periode kennzeichnen: die Griechen haben
zuerst die reine, sich selbst genügende Wissenschaft in die Welt ein-
geführt. So haben sie die Geometrie geschaffen, nicht um die Felder zu
messen, sondern als Muster eines abstrakten, mit strengster Logik aus
wenigen Axiomen abgeleiteten Lehrgebäudes. Und demselben Geist ist
die von Aristoteles begründete formale Logik entsprossen. Aber auch
der exakten Naturwissenschaft, d. h. der auf genauen Messungen und ma-
thematischen Grundlagen beruhenden Darstellung der Naturerscheinungen,
II. Kniwicklung ilcr Kultur. 2 7
haben dio Griechen die Bahn eröffnet. Allerding.s kamen .sie nicht zu der
vollen, vorau.ssotzunpf.slo.son Objekti\ität der Erforschung der Xaturvorgängc,
wie sie die induktive Methode \-erlangt, sondern sie waren geneigt, \on
gewissen vorgefaßten Moiiningen auszugehen, die nach der manierierten
Baconischen Ausdrucksweise als Idola tribus zu bezeichnen wären. So
hielten sie z. B. a priori die gleichförmige Bewegung in einem Kreise für
die natürliche und vollkommenste. Auch die moderne Wissenschaft geht
häufig von Hypothesen aus, aber sie prüft deren Richtigkeit durch das
Experiment und gibt sie auf, wenn sie durch dieses nicht bestätigt werden.
Die Griechen aber begnügten sich oft nur zu leicht mit ihren subjektiven,
meistens aus unklaren metaphysischen Vorstellungen abgeleiteten An-
nahmen und glaubten dann die exakte und namentlich die experimentelle
Untersuchung der Tatsachen ganz unterlassen zu können. So meint nicht
nur Aristoteles — dem überhaupt die richtige Methode der Behandlung
mechanischer und physikalischer Probleme fremd war — , sondern auch
Heren, daß große Gewichte rascher fallen als kleine, ein Irrglaube, der
sich bis in das i6. Jahrhundert erhalten hat. Heron behauptet auch, daß
ein Körper mit breiter Grundfläche langsamer falle als ein gleich schwerer
in Kugelform, und er gibt für diesen falschen Satz einen falschen theo-
retischen Grund an, und zwar mit Zurückweisung der Meinung, daß der
verschiedene Widerstand der Luft den Unterschied verursachen könne.
Der zu wissenschaftlichem Streben erwachte menschliche Geist trat
der Natur mit einem souveränen Selbstgefühl gegenüber, und dieses Ver-
trauen auf den Menschen als Maß aller Dinge erschwerte den Griechen
die Anwendung der experimentellen Methode. Dennoch aber haben sie
— und zwar als die ersten — auch in der exakten Naturwissenschaft
Großes geleistet. Archimedes hat die Eundamentalsätze der Statik und der
Hydrostatik gefunden; vor allem aber ist die wissenschaftliche, von astro-
logischen Phantasien freie Astronomie griechischen Ursprungs, und
Hipparch gehört zu ihren größten Vertretern in allen Zeiten. Er war im-
stande, durch die Annahme der Exzentrizität der — kreisförmig gedachten
— Sonnen- und Mondbahn und die Entdeckung der Bewegung des Apo-
gäums des Mondes für beide Gestirne Tafeln zu berechnen, die mit ihren
wirklichen Bewegungen innerhalb der Genauigkeit.sgrenzen der damaligen
Beobachtungen übereinstimmten. Er entdeckte selbständig die Präzession
der Nachtgleichen und führte sie richtig auf eine (scheinbare) Bewegung
des Pols des Himmelsäquators um den Pol der Ekliptik zurück. Zur
exakten Erklärung der auffallenden Unregelmäßigkeilen in den scheinbaren
Bahnen der fünf damals bekannten Planeten besaß Hipparch noch kein
genügendes Beobachtungsmaterial, er trug aber selbst zur Ausfüllung
dieser Lücke wesentlich bei. Schon Aristoteles und andere vor ihm hatten
im allgemeinen die Vorstellung, daß die Planeten sich in Kreisen (Epi-
zyklen) bewegen, deren Mittelpunkte wieder eine kreisförmige Bahn um
die Erde beschreiben. Eine genaue mathematische Bestimmung der so
28 \\u.Hl',l..M J.txis: Das W'cscM der Ivultiir.
entstehenden Bahnen wurde aber erst dreihundert Jahre nach Hipparch
von Ptolemäus gegeben. Dieses ptolemäische System mit seinen Epizyklen
und exzentrischen Kreisen leistete in der Darstellung der Erscheinungen
ebensoviel wie das Kopemikanische in seiner ursprünglichen Gestalt, denn
die Epizyklen auf den deferiercnden Kreisen waren nichts anderes, als
gleichsam Spiegelbilder der Bewegung der Erde um die Sonne. Die Idee
dieser letzteren Bewegung war den Griechen keineswegs fremd, sie sagte
aber ihren subjektiven Ansichten über den Menschen und die Erde
nicht zu.
In den beschreibenden Naturwissenschaften und in der Medizin machten
die Griechen einen verdienstlichen Anfang mit der Sammlung von Be-
obachtungen und Tatsachen, die während vieler folgender Jahrhunderte
nur wenig vermehrt worden sind. Um daran zu erinnern, was sie in der
Ethik, der Staatslehre und der allgemeinen Philosophie geleistet haben,
genügt es, die Namen vSokrates, Piaton, Aristoteles zu nennen.
Wenn die Griechen in der Wissenschaft den Grund gelegt haben, auf
dem erst zwei Jahrtausende später weiter gebaut wurde, so haben sie sich
in der Kunst in raschem Anlauf zur höchsten Stufe der Vollendung er-
hoben und unerreichte Vorbilder für alle Zeit geschaffen. Die massige,
schwerfällige Erhabenheit der ägyptischen Bauten haben sie durch die
heitere Harmonie ihrer Tempel ersetzt; sie haben nicht nur das Schön-
heitsideal der menschlichen Gestalt gefunden, sondern diese Gestalt auch
vergeistigt und ihr den lebendigen Ausdruck des höchsten Seelenlebens
eingeprägt. Die griechische Literatur aber ist nach dem Ausspruch eines
hervorragenden Kenners „die einzige im strengen Sinne originelle auf der
Welt; denn die Griechen haben die literarischen Gattungen geschaffen".
Rom und das Die Römer haben die praktische .Seite der Kultur, namentlich In-
Christentura.
genieurbaukunst und Rechtswissenschaft gefördert, in der reinen Kunst
und den Wissenschaften aber dem von den Griechen übernommenen Erbe
kaum etwas hinzugefügt. Ihre weltgeschichtliche Aufgabe war die Ver-
einigung der ganzen orientalisch-europäischen Kulturwelt zu einem Riesen-
reich, in dem die Unterschiede der Kultur sich verwischten, die Kultur
sich allseitig auf einer immer mehr gleichmäßigen Höhe verbreitete, der
innere Verkehr, begünstigt durch die Vorherrschaft von nur zwei Sprachen
und durch großartige Straßenanlagen, eine früher nie dagewesene Aus-
dehnung gewann, zu einem Reich, das den Krieg nur noch an seinen
äußersten Grenzen kannte. Die Existenz dieses Weltreichs aber war die
Bedingung des großen Ereignisses dieser Periode: der Ausbreitung des
Christentums. Die Lehre Jesu war ihrem Wesen nach international; sie
sollte allen Völkern verkündigt werden und sie kannte nicht Griechen
und nicht Römer, sondern nur Menschen als Söhne Eines Vaters. Auch
in Israel hatten einzelne Propheten sich schon zu einem universalistischen
Ideal erhoben, und die Bemühungen der im ganzen Römerreich ver-
breiteten Juden, Proselyten zu gewinnen, waren nicht ohne Erfolg. Aber
n. Entwicklung der Kultur. 2g
sie dienten vor allem dazu, dem Christentum den Boden vorzubereiten,
denn erst nachdem dieses den Rann der jüdischen Gesetzlichkeit g-ebrochen
hatte, konnte die monotheistische Lehre ungehindert ihre Anziehungskraft
auf die vielen Tausende ausüben, in deren Herzen die Empfindung eines
tieferen religiösen Bedürfnisses schlummerte. Dir; antike Volksreligion
konnte dieses Bedürfnis schon hmge nicht mehr befriedigen und man suchte
Krsatz für sie in Mysterien und mystischen orientalischen Kulten. Wenn
auch diese im Wettbewerb mit dem Christentum unterlagen, so ist das
nicht zum mindesten der Persönlichkeit der Männer zu verdanken, die die
neue Lehre verkündeten und für sie auch den Tod nicht scheuten. Das
Christentum fand seine Anhänger vor allem unter den Mühseligen und
Beladenen, denen es seine „frohe Botschaft" brachte, aber seine Absicht
war nicht etwa auf eine soziale Reform gerichtet. Es sah mit Gleich-
gültigkeit und Verachtung auf die Welt, den „Kosmos", der, wie man
glaubte, einem baldigen Untergang geweiht war. Man dachte nicht daran,
eine neue weltliche Ordnung zu schaffen, Reiche und Arme, Herren und
Sklaven sollten bleiben, was sie waren; aber wer die (jüter dieser Welt
besaß, der durfte seinen Bruder nicht darben sehen und sein Herz nicht
vor ihm verschließen. Die auf brüderliche Liebe gegründete Wohltätig-
keit erhielt eine gewisse Organisation, aber von einem kommunistischen
oder sozialistischen System kann auch in der Anfangsperiode des Christen-
tums nicht die Rede sein. Auch philosophische Zeitströmungen kamen
der neuen Religion entgegen und wirkten andererseits auf sie zurück,
indem sie ihren Dogmen vielfach eine spekulative Wendung gaben. Die
stoische Philosophie mit ihrem überwiegend ethischen Charakter trat mehr
und mehr zurück gegenüber der neuplatonischen Theosophie, und eine
dieser gleichartige Geistesrichtung herrschte in dem von der Orthodoxie
als Ketzerei sich abspaltenden Gnostizismus. Unter den Kirchenlehrern
aber war der tiefsinnigste philosophische Geist Augustinus, der vierzehn-
hundert Jahre vor Kant die Relativität unserer Zeitanschauung richtig
erkannte.
Die letzten Jahrhunderte des weströmischen Kaiserreichs erscheinen
als eine Zeit des Verfalls, wenn man nur das betrachtet, was in ihr zur
antiken Welt gehörte. Diese Welt war alterschwach geworden, ihre Pro-
duktivkraft erlahmte immer mehr auf allen Gebieten, ihre ganze Lebens-
anschauung brach zusammen. Aber gleichzeitig wuchs langsam aber
stetig eine neue Macht heran, die katholische Kirche, die zwar nicht den
Augustinischen Staat Gottes gründete, aber doch eine neue vom welt-
lichen Staat unabhängige Ordnung schuf, der sich auch die halbbarbari-
schen Volker unterwarfen, die die staatliche Existenz des westlichen
Reiches vernichteten.
So beginnt eine neue Weltperiode, die wiederum ungefähr ein Jahr- Mittelalter,
tausend umfaßt und sich charakterisiert durch die f lerrschaft der katho- Kirch» und
lischen Kirche im Abendlande und die Aufnahme und Umbildung der
30
Wll.liF.l.M I.F.XIS: Das Wesen cicr Kultur.
römischen Kultur durch die geniianischeii Völker, von denen sich ein
großer Teil mit der römischen Provinzialbevölkerung zu neuen Nationali-
täten verschmolz. Die Periode beginnt mit einer tiefen Depression der
Kultur, wie sie durch die ausgedehnte Zerstörung des materiellen Kultur-
kapitals und das Eindringen der neuen naturwüchsigen, aber rohen Volks-
elemente verursacht werden mußte. Im byzantinischen Reich, wenigstens
in seinem Hauptgebiet, wurde der Zusammenhang mit der alten Kultur
weniger stark durchbrochen, aber obwohl es kurze Zeit seine Herrschaft
wieder über den größten Teil des einstigen Gebietes des weströmischen
Reiches auszubreiten vermochte, so blieb es doch ohne nachhaltigen Ein-
fluß auf die Entwicklung des Abendlandes, zumal seine Kräfte mehr und
mehr durch fortwährende Kämpfe mit Persem, Arabern und Türken ver-
zehrt wurden.
Für die von den germanischen Eroberem neugegründeten Staaten bot
das Feudalwesen längere Zeit eine den Verhältnissen im ganzen ent-
sprechende Ordnung dar. Daß auch die Bischöfe und Äbte als Vasallen
reichlich belehnt wurden, war ursprünglich eine Folge des mächtigen
moralischen Einflusses, den die Kirche gewonnen hatte; ihre äußere Macht-
stellung wurde dadurch in hohem Grade verstärkt, aber die Verweltlichung
der kirchlichen Würdenträger, die Ablenkung ihrer Interessen von ihren
eigentlichen geistlichen Aufgaben wirkte nachteilig auf das religiös-kirch-
liche Leben. Andererseits lag darin auch ein Hindernis für die Politik
des Papsttums, das nach Überwindung einer Periode des tiefsten Verfalls
seit dem 1 1. Jahrhundert mit energischer Konsequenz das Ziel verfolgte,
eine streng einheitliche Kirchengewalt mit Unterordnung der Bischöfe zu
begründen. Nur soweit der weltliche Besitz ein Recht der Kirche war,
hatte er Wert für das Papsttum und so weit konnte er auch als Handhabe
dienen zur Erreichung der erstrebten päpstlichen Oberhoheit über die
weltlichen Gewalten. Auch diese Herrschaftsansprüche ergaben sich als
natürliche Folgerungen aus der von allen abendländischen Völkern an-
erkannten geistlichen Machtstellung des Papstes als des „Statthalters Christi".
Als solcher erschien er als der gegebene Schiedsrichter in Streitigkeiten der
katholischen Fürsten. Zugleich war ihm die höchste Entscheidung nicht nur
in Glaubenssachen, sondern auch in Fragen der Moral und damit auch ein
weitgehender Einfluß auf Angelegenheiten des bürgerlichen Rechts, wie z. B.
auf das Verhältnis von .Schuldner und Gläubiger, von Käufer und Verkäufer
zugestanden. Wenn die Päpste ihre geistliche Macht für weltlich-politische
Herrschaftszwecke ausgenutzt haben, so ist das auf Kosten der ersteren
geschehen, und daher war ihr moralischer Einfluß selbst in den Tagen
eines Bonifacius VIII. nicht so groß wie in der Gegenwart. Immerhin
wurde die katholische Völkerfamilie Europas — der Osten sonderte sich
„schismatisch" ab — durch das mittelalterliche Papsttum zu einer gewissen
geistigen Einheit verbunden, die auch der gleichmäßigen Entwicklung der
Kultur zugute kam. Das Latein als Kirchensprache wurde überhaupt zur
n. Entwicklung der Kultur. j I
internationalen gelehrten Sprache und zum wichtigsten Vermittler höherer
Bildung; die Gleichheit der Ivultusformen und der Lehre in allen 1 -ändern
erforderte auch eine gleichmäßige Ausbildung des. Klerus, der seinerseits
wieder die Vorbildung der anderen gelehrten Berufsstände in Händen
hatte. Nach Rom kamen Priester, Meinche und Pilger aus allen Ländern,
und so entstand ein auf geistigen Interessen beruhender internationaler
Verkehr, der auch durch die Wanderungen von Kloster zu Kloster, von
Universität zu Universität befördert wurde.
Daß die Wissenschaften im katholischen Abendlande nur bei der Mittelalterlich»
Wissenschaft
Kirche eine Zutluchtstätte fanden, daß insbesondere die Kloster sich um und Kunst.
ihre Überlieferung und um die Erhaltung der Schriften des Altertums
große Verdienste erworben haben, ist unbestritten. Aber man begnügte
sich, das überkommene Wissen den gegebenen Bedürfnissen anzupassen,
ohne daß man imstande war, es durch selbständige Forschung zu ver-
mehren. Die scholastische Philosophie, auf deren Ausbau großer Scharf-
sinn verwendet wurde, blieb doch immer nur eine Dienerin der Theologie.
Tiefere Denker, die sich in mystische Spekulationen versenkten, verirrten
sich leicht über die Grenzen der korrekten Orthodoxie. Die Naturwissen-
schaften waren dem mittelalterlichen Geiste nicht sympathisch; man be-
trachtete sie mehr als AusHuß einer bedenklichen Neugier, die den Men-
schen von seinen wahren, im Jenseits liegenden Zielen ablenke. Roger
Bacon, der für die richtige Methode der naturwissenschaftlichen Forschung
eintrat und einige ihrer künftigen großen Ergebnisse ahnte, wurde ver-
ketzert und eingekerkert und blieb gänzlich isoliert und ohne Nach-
wirkung auf seine Zeit. Der geringe Zuwachs an naturwissenschaftlichen
Kenntnissen, den das Mittelalter aufzuweisen hat, stammt hauptsächlich
von den Arabern, deren Leistungen aber auch nicht überschätzt werden
dürfen. Wenn sie einige chemische Entdeckungen gemacht haben, so
waren das nur glückliche Funde auf einem falschen Wege, denn ihre
Chemie war eigentlich Alchimie, wie die Astronomie als Astrologie be-
gonnen hat. Sie wandten ihre chemischen Kenntnisse auch auf die Me-
dizin an, ohne indes diese über ihre ersten empirischen Anfänge hinaus-
zubringen. Größere Verdienste haben sie sich durch die Erweiterung der
Erdkunde erworben.
Erst die Wiederbelebung des Studiums der klassischen, namentlich
der griechischen Literatur brachte im Geistesleben des ausgehenden Mittel-
alters mehr weltlichen Sinn zur Herrschaft. Es entstand allmählich eine
neue Wissenschaft, die Wissenschaft vom klassischen Altertum, mit deren
Verbreitung sich eine freiere Bewegung des Denkens, Erweiterung des
Gesichtskreises, Verfeinerung des Geschmackes verband. Vor allem auf
dem Gebiete der Kunst trat diese neue Geistesströmung in lebhaften
Wettbewerb mit dem kirchlichen Einfluß. Am selbständigsten gegenüber
der Kirche hatte sich die nationale Dichtung sowohl in der deutschen und
englischen, wie in den nunmehr fest ausgebildeten romanischen Sprachen
32
WiI.Hia.Jl I.K.xis: Das Wesen der Kultur.
entwickelt, und auch die Einwirkinig- der klassischen Vorbilder, obwohl
tiefgehend und fruchtbar, hat die Eigenart der neu erwachsenen Literatur
nicht beeinträchtigt.
Durchaus unter der Herrschaft des kirchlichen Geistes stand die bil-
dende Kunst des Mittelalters, und eben deshalb war sie original im Ver-
hältnis zur Antike. Die gotische Architektur entsprach aber nicht nur
Stimmungen, Gefühlen und Ahnungen, die dem Altertum fremd waren,
sie hatte auch künstlerisch und technisch ein selbständiges Verdienst
durch die Art, wie sie das dekorative und das mechanisch - konstruktive
Element in harmonischer Weise vereinigte und die naturgemäßen Verhält-
nisse von Druck und Gegendruck, Gewicht und Stütze bis in die Einzel-
heiten hinein in künstlerischer Form erkennbar machte.
Die Malerei hob sich am Ausgang des Mittelalters auf eine neue
Stufe mit neuer Technik; auch sie wuchs, wie die mittelalterliche Skulp-
tur, im Dienst der Kirche auf. Die Gestalten, die beide Künste schufen,
sollten nicht das Ideal der natürlichen vSchönheit verwirklichen, sondern
sie brachten in durchgeistigten Zügen die der Zeit eigne asketische und
weltflüchtige Stimmung zum Ausdruck. In eine ganz neue Phase vollends
trat, ebenfalls unter Leitung' der Kirche, durch Anwendung des Kontra-
punkts und der Vielstimmigkeit die Musik,
wirischafdicbc Die wirtschaftliche Kultur, die beim Beginn der Periode nach einer
und soziale * r i • ■ o r
Kntwirkiiing. großcn Zerstöruug und vielfach von einer noch rückständigen Stufe aus
ihre Entwicklung neu beginnen mußte, war am Ende des Zeitraums über
den im Altertum erreichten Stand in manchen Richtungen hinausgewachsen.
Die Sklaverei war durch mildere Formen der Unfreiheit ersetzt worden,
wozu auch die Kirche mitgewirkt hat, indem sie auch dem vSklaven vor
Gott gleichen Wert mit dem Freien zuerkannte. Indes wurde die Skla-
verei auch unter der Herrschaft des Christentums nie vollständig abge-
schafft; noch im 17. Jahrhundert gab es in Livomo einen Markt für tür-
kische Sklaven, und in Amerika wurde bekanntlich von katholischen und
protestantischen Nationen die Sklaverei in ihrer schlimmsten Gestalt für
die Neger wiederhergestellt. Die in Europa entstandene Hörigkeit hing
eng mit den Verhältnissen des Grundbesitzes zusammen. Während bei
den germanischen Stämmen in ihrer Heimat, wie bei allen Völkern auf
der gleichen Kulturstufe, der gemeinschaftliche Grundbesitz der Ge-
schlechtsgenossen oder ähnlicher Verbände bestand, bildete sich nach der
Eroberung der römischen Provinzen für die freien Volksgenossen das
private Grundeigentum aus, wenn auch noch nicht in der vollen Strenge
des römischen Rechts. Auf den Besitzungen der großen Grundherrschaften
erhielten Unfreie und Halbfreie Bauemstellen oder Hufen zur selbstän-
digen Bewirtschaftung gegen Leistung von Abgaben und Diensten. Aber
auch Vollfreie übertrugen, um sich dem Druck des Kriegsdienstes zu ent-
ziehen, namentlich seit der Karolingerzeit, häufig ihren Hof einem Grund-
herrn, um ihn als bäuerliches Lehen mit geringer Belastung zurückzu-
II. I'-ntwicklung ilcr Kullur. 33
erhalten. Durch die von den (irundherrschaften, zu denen auch die Klöster
gehörten, veranlaßten großen Rodungen wurde das Land mehr und mehr
in den Kulturzustand übergeführt.
Während die bäuerliche Bevölkerung größtenteils in mannigfaltig
abgestuften Hörigkeitsverhältnissen blieb, bildete sich in den allmählich
anwachsenden Städten aus ursprünglich meistens ebenfalls hörigen Hand-
werkern ein freier bürgerlicher Mittelstand. Das Zunftwesen gab ihm
einen festen Halt und neben patrizischen Grundbesitzern und größeren
Kaufleuten auch mehr oder weniger Anteil am städtischen Regiment.
Die mittelalterliche Stadt bildete mit der sie umgebenden Landschaft einen
eigentümlichen wirtschaftlichen Organismus, der, wie auf einer früheren
Stufe die naturale Hauswirtschaft, sich im wesentlichen für die Befrie-
digung der Bedürfnisse seiner Mitglieder selbst genügte. Nur einzelne
Waren, namentlich solche von größerem Wert, bei günstiger Verkehrslage
am Meere oder an schiffbaren Flüssen auch Massenartikel, wurden durch
den Handel aus der Fremde eingeführt oder auf ferne Märkte ausgeführt.
Die durch die Kreuzzüge begünstigte Entwicklung des Verkehrs mit dem
Orient, die wirtschaftliche Plrschließung der Ostseeländer durch die Hansa
und der lebhafte Verkehr mit England brachte eine Anzahl Städte als
spezifische Handelsstädte zur Blüte. In ihnen kam auch die Geldwirt-
schaft, die am Anfang der Periode fast gänzlich zurückgedrängt war,
wieder mehr und mehr zur Ausbildung und mit ihr zugleich trotz des ka-
nonischen Zinsverbotes eine wirksame Kreditorganisation, die namentlich
in den großen Wechselmessen zutage trat. Und nun begann auch die
Ansammlung des mobilen Unternehmungskapitals, das sich zunächst in
Bank- und Handelsgeschäften betätigte, nicht etwa Arbeiter in großer
Zahl selbst beschäftigte, sondern den Verlag der Erzeugnisse hausindu-
strieller Handwerker, wie z. B. der flandrischen Weber, übernahm. Auch
das Verhältnis des Staates zur Volkswirtschaft erfuhr in den letzten Jahr-
hunderten des Mittelalters eine allmähliche Umgestaltung. In Frankreich,
England, Spanien trat an die Stelle des losen Gefüges des Feudalstaates
eine straffere, einheitliche Verwaltung, die auch anfing, sich in wirtschaft-
licher Wohlfahrtspolizei zu versuchen. In Deutschland gingen wenigstens
die größeren Territorialfürstentümer in gleichem Sinne vor, wie es auch
die italienischen Stadtrepubliken schon früher getan hatten.
Sehr stark war andererseits die Rückwirkung, die auf die Staaten
durch die Ausbreitung der Geldwirtschaft ausgeübt wurde. Sie mußten
ihr ganzes, bis dahin noch überwiegend naturalwirtschaftliches Haushalts-
system umgestalten und sich neuen finanziellen Bedingungen der Krieg-
führung anpassen. Kein Wunder, wenn nunmehr die Heranziehung von
möglichst vielem Gold und Silber als die Hauptaufgabe der Volks- und
Staatswirtschaftspolitik galt.
Trotz der befriedigenden Fortschritte der wirtschaftlichen Produktion Xc-cUnik.
war die Zahl der wirklich neuen technischen Erfindungen im Mittelalter
Dir Kt'l.Tl'R ukk Gegenwart. I. i. 3
■1 j Wil.HKl.M Lexis: Das Wesen der Kultur.
nicht groß und die Technik kam nach ihrem allgemeinen Charakter nicht
wesentlich über den im Altertum erreichten Stand hinaus. Der Kompaß
ist keine europäische Erfindung; die merkwürdige Eigenschaft der Magnet-
nadel war schon den Chinesen bekannt. Für die Schiff£ihrt des Mittel-
alters hatte übrigens der Kompaß noch nicht seine volle Bedeutung;
diese erhielt er erst, als im Zeitalter der Entdeckungen die große ozea-
nische Schiffahrt sich entwickelte. Die zufällige Entdeckung eines explo-
siven Gemisches, wie das Pulver, war an sich noch keine erhebliche
Erfindung; die Chinesen hatten ein solches Gemenge nur zu Feuerwerks-
spielereien benutzt. Was dem Pulver seine kulturgeschichtliche Bedeutung
gab, war die — nur sehr langsam fortschreitende — Ausbildung der
Feuerwaffen, insbesondere auch der Handfeuerwaffen. Aber auch diese
ist nicht einfach als die Ursache der völligen Umgestaltung des Kriegs-
wesens anzusehen, vielmehr wirkten dabei auch wirtschaftliche Ursachen
mit, namentlich die mit der Geldwirtschaft zusammenhängende Entstehung
der Söldnerheere, die auch auf die Art der Bewaffnung zurückwirkte.
Überhaupt war es die wirtschaftliche Entwicklung, die am Ende des
Mittelalters der praktischen Verwendung technischer Vorrichtungen weitere
Bahnen eröffnete. Diese beruhten alle auf mechanischen Kombinationen,
die auch den Alten schon bekannt waren, aber erst jetzt die Bedingungen
einer wirtschaftlichen Verwertung vorfanden. Dies darf auch von der
kulturgeschichtlich wichtigsten Erfindung dieser Periode gesagt werden,
die am wirksamsten den Übergang zu der folgenden angebahnt hat: der
Buchdruckerei. Technisch ist die Anwendung beweglicher Lettern statt
größerer Druckplatten keine außerordentliche Leistung, zumal die Chinesen
schon ähnliches aufzuweisen hatten. Aber diese Erfindung kam zur
rechten Zeit, um ein weitverbreitetes dringendes Bedürfnis zu befriedigen,
das durch das Wiedererwachen des wissenschaftlichen Geistes und des
Strebens nach höherer Bildung erzeugt war. Fünfhundert Jahre früher
wäre dieselbe Erfindung wahrscheinlich spurlos vorübergegangen und in
Vergessenheit geraten. Gutenberg erscheint auch insofern als ein mo-
derner Erfinder, als er, wenn auch nicht mit dem verdienten Erfolge, be-
strebt war, aus seiner Erfindung Gewinn zu ziehen.
Kultur der Ein bestimmtes Jahr als Anfang der nunmehr beginnenden neuzeit-
Neuzeit. jjj,]^gjj Kulturpcriode zu bezeichnen, hat etwas WillkürUches. Sie wird
eingeleitet durch eine Zeitstrecke, in der zwei Ereignisse von unermeß-
licher Bedeutung ungeahnte neue Entwicklungsreihen in Gang setzten;
die Entdeckung Amerikas und die Reformation. Andrerseits aber reicht
diese Periode noch nicht bis zur Gegenwart, sondern sie ist abzuschließen
mit den letzten Jahrzehnten des i8. Jahrhunderts, in denen die Wattsche
Dampfmaschine, die Gründung der amerikanischen Union und die franzö-
sische Revolution wiederum den Anbruch eines neuen Abschnitts der
Kulturgeschichte bezeichneten.
Die großen überseeischen Entdeckungen, zu denen Columbus' glück-
n. Entwicklung der Kultur. ^5
liehe Fahrt den Anstoß gab, wirkten vor allem mächtig auf das ganze
Wirtschaftsleben der Kultunvelt ein. Jetzt erst entstand ein wirklicher,
die Erde umspannender Welthandel, eine große Schiffahrt, ein stetiges
Anwachsen der von dieser bewegten Warenmassen und der Summe des
aus dem Handel fließenden Geldgewinns. Das aber führte zur vollen Aus-
bildung der Geldwirtschaft, zumal die Einfuhr aus Amerika länger als ein
Jahrhundert fast ausschließlich aus Silber und Gold bestand. Große Unter-
nehmungen aber auf Grundlage der Geldwirtschaft und der dadurch be-
dingten strengen Rechnungsnormen bilden den Kapitalismus. Die An-
fange desselben in Bank- und Handelsgeschäften zeigen sich zwar schon
in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters, aber erst in der neuen Pe-
riode steigt er allmählich zu seiner Herrschaftsstellung in der Volkswirt-
schaft empor.
Große Begünstigung erhielt der Kapitalismus auch durch die fort-
schreitende geldwirtschaftliche Umgestaltung der Finanzwirtschaft der
Staaten und die damit verbundene Steigerung des staatlichen Kredit-
bedürfnisses. Die Staaten selbst aber wurden durch ihr Geldbedürfnis zur
merkantilistischen Handelspolitik geführt, der sich bei den Seemächten
eine prohibitive Kolonialpolitik anschloß. Immer mehr griff die Staats-
tätigkeit nun auch in das innere Wirtschaftsleben ein. Die mittelalter-
liche Stadtwirtschaft wurde durch eine Volkswirtschaftspolitik verdrängt,
die den Staat als eine geschlossene, im Wettbewerb mit anderen stehende
Individualität auffaßte und das wirtschaftUche Wohl des Ganzen, so gut
sie es verstand, und daher auch oft mit ungeeigneten Mitteln zu fördern
suchte. In den meisten Staaten kam der aufgeklärte Absolutismus zur Herr-
schaft; in England dagegen entwickelte sich unter besonderen Umständen
als ein neues bedeutsames Erzeugnis der politischen Kultur, wenn auch
zunächst noch in aristokratischer Beschränkung, der Parlamentarismus.
Das zweite srroße Ereignis am Eingange der betrachteten Periode war Die
=■ * ö O iir -1 1 i • Reformation.
die Reformation. Nächst der Verchristlichung der alten Welt hat kern
geschichtlicher Vorgang eine gleich große Bedeutung für die geistige
Kultur der Menschheit gehabt, wie sie, ganz abgesehen von ihren weit-
tragenden Folgen für die politische Geschichte, die anderthalb Jahrhun-
hunderte lang unter dem Einfluß der Religionspolitik stand. Die theolo-
gischen Streitfragen über Wirkung der Erbsünde, Rechtfertigung, Gnade,
Willensfreiheit dürften heute nur noch in einem sehr beschränkten Kreise
Interesse finden und für die Lehre, daß der Mensch in Sachen seines
Seelenheils instar statuae salis sei, oder daß durch ein aetemum dei de-
cretum die einen zur ewigen Seligkeit, die andern zur ewigen Verdamm-
nis prädestiniert seien, werden sich wohl nicht allzu viele Lutheraner und
Reformierte noch erwärmen. Die religiöse Bedeutung der Reformation
lag nicht in der neuen Formulierung von Dogmen, ihrem Wesen nach
war sie eine Reaktion des individuellen religiösen Bewußtseins gegen den
in der katholischen Kirche zur Herrschaft gelangten Geist der Venvelt-
3»
Xb AVil MKi.M I.KXis: Das Wesen der Kultui.
lichungf und Veräußerlichimg' und gegen die gedankenlose Werkheiligkeit,
die zwar nicht der theoretischen Lehre entsprach, aber tatsächlich in einer
das tiefere sittliche Gefühl verletzenden Weise in Übung war. Daher
sollte eine unsichtbare Kirche geschaffen werden, eine Gemeinschaft der
nur Gott bekannten Heiligen, jede priesterliche Vermittlung zurückgewiesen
und der Mensch Gott allein gegenübergestellt werden, freilich als ein aus
sich selbst zu nichts Gutem fähiges Geschöpf.
Von dem Gedanken der „freien Forschung" im heutigen Sinne waren
die Refonnatoren selbst noch sehr weit entfernt. Sie verstanden darunter
nur die Freiheit, die Schrift unabhängig von der kirchlichen Autorität
aufzufassen und auszulegen, indem sie annahmen, daß der Gläubige dabei
nicht irre gehen könne, weil er, wie Futher sagt, innerlich von Gott selbst
belehrt werde. Auch die katholische Kirche sah sich zu durchgreifenden
Reformen gedrängt: sie gab vielen ihrer Dogmen festere Formen, faßte
ihre Kräfte energisch zusammen und erlangte bald eine mehr und mehr
zunehmende Widerstandskraft. Immerhin aber war eine breite Bresche
in die mächtigste Feste der traditionellen Autorität gelegt und das bereits
erwachte Streben nach Befreiung des menschlichen Denkens und For-
schens von allen Schranken kirchlicher oder gelehrter Dogmen erhielt
dadurch die kräftigste Unterstützung. Neben den humanistischen Wissen-
schaften erhoben sich nun auch die Naturwissenschaften nach mehr als
tausendjähriger Stockung zu einem kühnen Vordringen, das sie seitdem
unausgesetzt zu immer glänzenderen Errungenschaften geführt hat.
Die Den Anfang machte die Astronomie mit der Aufstellung des helio-
zentrischen Sonnensystems. Das war weit mehr, als eine neue Erklärung
der beobachteten Bewegungen der Planeten, es war die Verkündigung
einer neuen Weltanschauung, nach der die alten Vorstellungen von
Himmel und Erde fallen müssen und die Erde zu einem verschwindenden
Atom in dem unermeßlichen All herabgedrückt wird. Kopemikus selbst
freilich zog nicht solche Folgerungen aus seiner Lehre; er begnügte sich
damit, zu zeigen, daß seine „Hypothese" die Erscheinungen ebensogut
erkläre, wie die Ptolemäische und daß sie vor dieser den Vorzug weit
größerer Einfachheit und Anschaulichkeit habe. Giordano Bruno war der
Erste, der die Kopemikanische Theorie unter einen allgemeinen kosmo-
logischen Gesichtspunkt brachte und der Sonne selbst mit ihrem Planeten-
system ihren Platz in der endlosen Fixstemwelt anwies. Galileis Femrohr
lieferte wertvolle Beweisgründe für das Kopemikanische System, Kepler
entdeckte die wahre Form der Bahnen der Planeten und die Gesetze
ihrer Bewegungen, und Newton endlich führte die Keplerschen Gesetze
auf das eine weltbeherrschende Gesetz der Gravitation zurück. Die Er-
findung der Infinitesimalrechnung durch Newton und Leibniz eröffnete
nicht nur eine neue Epoche für die reine Mathematik, sondern sie gab
auch der mathematischen Naturwissenschaft ein Hilfsmittel von bewun-
dernswerter Leistungsfähigkeit. — In der theoretischen Mechanik waren
II. Kntwicklun" der Kultur.
37
die Alten nicht über die Anfang.'^gründe der .Statik hinau.';gekommen, von
den wahren Gesetzen der Bewegung und der Dynamik aber hatten .sie
noch keine Ahnung. Erst in der zweiten Hälfte, des i6. Jahrhunderts
setzt auch in dieser Wissenschaft der Fortschritt ein und Galilei endlich
entdeckte die Fallgesetze und überhaupt die allgomoinen Grundlagen der
Dynamik. Newton begründete die Mechanik des Himmels und die großen
Mathematiker des 18. Jahrhunderts brachten die anah'tische Mechanik
nach allen Seiten hin auf eine hohe Stufe der Vollendung. Von dm ver-
schiedenen Zweigen der Physik machte seit der Erfindung der Fernrohre
im Anfang des 17. Jahrhunderts die Optik die bemerkenswertesten Fort-
schritte. Die Elektrizitätslehre trat erst irn 18. Jahrhundert mehr hervor.
Der Vorrat der chemischen Kenntnisse vergrößerte sich mehr und mehr,
jedoch führt Kant noch immer die Chemie als Beispiel einer Kunst im
Gegensatz zur Wissenschaft an und sie erhielt in der Tat ihre sicheren
wissenschaftlichen Grundlagen erst am Ende der Periode durch die Ar-
beiten Lavoisiers. Die beschreibenden Naturwissenschaften erhielten ihre
moderne Richtung und Gestaltung durch Linn6.
Wie die Naturwissenschaft, so machte sich auch die Philosophie un-
abhängig von Aristoteles und zugleich von der theologischen Führung.
Von den beiden Strömungen, die miteinander parallel liefen, ging die erste
von Baco von Verulam aus, der die richtigen Grundsätze der induktiven
Methode aufstellte, wenn auch seine eigenen Versuche, sie anzuwenden,
sehr unglücklich ausfielen. Der Geist der Baconischen Philosophie ist die
Quelle sowohl des englischen Empirismus und Sensualismus, wie der fran-
zösischen Aufklänmgsphilosophie und des Humeschen Skeptizismus. Dieser
aber führte hinüber zu Kant, der andrerseits den von Descartes ausge-
gangenen und von Spinoza und Leibniz weiter entwickelten metaphy-
sischen Dogmatismus überwand.
In engem Zusammenhang mit den neuen Weltanschauungen entstand
auch eine neue Wissenschaft von Staat und Gesellschaft und im Anschluß
an diese seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine rationalistische, auf
naturrechtlichen Voraussetzungen gegründete Volkswirtschaftslehre.
Mit der selbständigen wissenschaftlichen Forschung entwickelte sich Unterrichis-
auch der wissenschaftliche Unterricht. Die Universitäten, ursprünglich
ganz unter kirchlicher Herrschaft stehend, wurden nach der Reformation
in den protestantischen Gebieten Deutschlands zu Staatsanstalten. Bis in
das 18. Jahrhundert hinein erscheinen sie jedoch wesentlich als Schulen
zur Vorbereitung für die gelehrten Berufe und nicht frei von pedantischen
und scholastischen Auswüchsen. Unter ihren Professoren fehlte es nicht
an tüchtigen Gelehrten, aber die großen Führer der Wissenschaft gingen
nicht aus ihnen hervor und ein Leibniz z. B. trug kein Verlangen nach
einem Lehrstuhl. Als Träger der wissenschaftlichen Forschung galten
mehr die seit dem Fnde des 17. Jahrhunderts in größerer Zahl gegrün-
deten Akademieen und gelehrten Gesellschaften. Erst seit der zweiten
38
WlTIiKIM I.F.XIS: Das Wesen der KuUiir.
Hälfte des i8. Jahrhunderts betrachteten wenigstens die deutschen Uni-
versitäten mehr und mehr neben dem Unterricht auch die Forschung als
ihre Aufgabe, und dadurch erst sind sie zu der hohen wissenschaftlichen
Stellung emporgestiegen, die sie heute einnehmen.
Die für die Universität vorbereitenden Mittelschulen hatten als Vor-
läufer die mittelalterlichen Kloster-, Dom- und Stadtschulen. In den pro-
testantischen .Staaten wurden sie verweltlicht und allmählich in ihre mo-
derne Gestalt gebracht. In den katholischen Ländern aber kamen sie
größtenteils unter die Leitung des Jesuitenordens, der in seiner Art be-
deutende Lehrerfolge erzielte. Ursprünglich beruhte der Unterricht in
den höheren Schulen durchaus auf humanistischer Grundlage; seit dem Ende
des 17. Jahrhunderts aber nahmen manche Anstalten, wie die Ritteraka-
demieen, auch die neueren Sprachen und die sogenannten „galanten"
Wissenschaften in ihren Lehrplan auf, und in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts treten bereits Realschulen auf mit dem Zweck, den
bürgerlichen Ständen eine höhere Bildung zu verschaffen.
Das eigentliche Volksschulwesen datiert erst seit dem Zeitalter der
Reformation. Im 18. Jahrhundert begann man in den größeren protestan-
tischen Staaten mit der Durchführung des Schulzwanges, in den katho-
lischen Ländern aber blieb die Schulbildung der Masse des Volkes noch
lange unbefriedigend.
Literatur und Die zunehmeude Verbreitung eines höheren Unterrichts bewirkte in
den Kulturländern vor allem eine Steigerung des Einflusses ihrer natio-
nalen Literatur, in der das moderne Denken nicht weniger zum Ausdruck
kam, als in der Wissenschaft. Dem erstaunlichen Genie Shakespeares
merkt man nur in Nebendingen an, daß es noch dem 16. Jahrhundert an-
gehört. Die eigentliche moderne literarische Periode beginnt indes in Eng-
land wie in Frankreich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts,
in Deutschland aber ein Jahrhundert später. Freilich beschränkte die
Literatur sich nicht darauf, im Gewände der Dichtung die tiefsten Empfin-
dungen des Menschenherzens offenzulegen und die höchsten Ideale des
Schönen und Guten zu versinnbildlichen; es kamen auch Zeiten, von denen
gesagt werden konnte, daß „man ästhetische Werke bloß schreibt, um zu
gefallen, und bloß liest, um sich ein Vergnügen zu machen". Der Buch-
druck befriedigte auch mit Leichtigkeit die zunehmende Nachfrage nach
bloßer Unterhaltungsliteratur, die auf Kunstwert keinen Anspruch hat,
immerhin aber zur Erhöhung der geistigen Regsamkeit in weiteren Kreisen
beiträgt. Noch stärker entwickelte sich mit Hilfe der Druckerpresse das
Bedürfnis nach raschem Nachrichtenverkehr und öffentlicher Erörterung
aller Tagesfragen. An die Stelle der vereinzelten Flugblätter des 16. Jahr-
hunderts traten Wochenschriften und andere regelmäßig erscheinende
Blätter, und im 18. Jahrhundert große Tageszeitungen, die zu leitenden
Organen der öffentlichen Meinung wurden. Es war zunächst England, wo
die Presse, begünstigt durch die ihr gewährte Freiheit, zu einer bedeu-
III. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. ig
tenden Machtstollung omporsticg; auf dem Kontinont aber war sie, wenn
PS auch manchen ihrer Organe, wie /.. B. dem Schlozerschen Briefwechsel,
nicht an Einfluß fehlte, durch das herrschende polizeiliche System zu vor-
sichtiger Beschränkung genötigt. Um so mehr galt auch hier die Preß-
freiheit als das vor allem zu erstrebende Ziel, wie denn auch Kant in der
„Freiheit der Federn" eine notwendige Bedingung für den Bestand eines
wirklichen Rechtstaates sah.
Während die Naturwissenschaften und die Philosophie in der betrach-
teten Periode auf neu eröffneten Wegen fortschrittcn, führten die huma-
nistischen Studien zu einer wissenschaftlichen W^iederbelebung des klas-
sischen Altertums, dessen Geist in der Zeit der sogenannten Renaissance
auch in den bildenden Künsten die Herrschaft führte. Allmählich aber
behaupteten auch hier ein modemer Geschmack und subjektiveres Emp-
finden ihre Rechte, so wenig auch Barock und Rokoko dem klassischen
Schönheitsideale entsprechen mochten. Als neue Kunst, die die Leistungen
der Alten, soweit uns diese aus den erhaltenen \Verken bekannt sind,
zu übertreffen vermochte, erhob sich die Malerei. Die Mu.sik eroberte
sich, unterstützt durch die Vermehrung und Verbesserung der Instrumente,
ein neues weites Gebiet als weltliche Kunst, wobei sie freilich ebenso
wenig, wie die Literatur, es vermeiden konnte, daß ein großer Teil ihrer
Leistungen lediglich dem Vergnügen und der Unterhaltung dienstbar wurde
und jede höhere künstlerische Bedeutung verlor.
IIT. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. Die im obigen betrachtete Kuiturperiod«
Periode mundet aus m eme machtige Bewegung, die mit einer früher nie
gekannten Schnelligkeit die Kultur in eine neue Phase führte und ihr das
für die Gegenwart charakteristische Gepräge gab. Man erhält den Ein-
druck, als hätten sich in dem Streben der Wissenschaft und der Technik
Kräfte angesammelt, die in der neuen Periode gleichsam zu einer explo-
siven Wirkung kamen. In engem Zusammenhang mit der neuen Technik
stand die nunmehr rasch fortschreitende Entwicklung der kapitalistischen
Produktionsweise in ihrer modernen Gestalt mit ihren sozialen Folge-
erscheinungen. Dazu kam das auch in den Massen erwachte politische
Leben und das nachhaltige Vordringen einer neuen Weltanschauung im
Kampf mit der alten.
Die Wattsche Dampfmaschine ist oben als die charakteristische Ver-
treterin der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in England entstehen-
den Maschinenindustrie genannt worden. Wie schon bemerkt, bleiben
Erfindungen unfruchtbar, wenn die Bedingungen für ihre wirtschaftliche
Ausnützung noch nicht gegeben sind. Zu jener Zeit aber war der Boden
für sie genügend vorbereitet, da das Bedürfnis nach arbeitsparenden Ma-
schinen in der kapitalistischen Unternehmung mehr und mehr empfunden
wurde. In der Technik machte die Wattsche Dampfmaschine Epoche,
weil sie, abgesehen von unvollkommenen Vorgängerinnen, seit Jahrtau-
.-, Wii.iiKi.M I.KMS: Das Wesen ilei Kultur.
senden die erste lirtindung in der technischen Mechanik war, die auf einem
neuen Prinzip beruhte.
Die auf immer weitere Gebiete übergreifende Maschinentechnik führte
zu einer tiefgehenden Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen
Grundlagen der ganzen Kulturvvelt Die Anwendung von Maschinen setzt
ein großes Kapital voraus und bewirkt andrerseits auch wieder eine zu-
nehmende Kapitalansammlung aus dem Gewinn. Viele Arbeiter werden
durch die Konkurrenz der Maschine zunächst „frei gesetzt", und um so
leichter wird die dauernde Abhängigkeit der industriellen Arbeiter vom
Kapital hergestellt. Es entsteht das moderne Proletariat, die moderne
Arbeiterbewegung und die moderne soziale Frage. Von nicht geringerer
Bedeutung, als die Maschinenarbeit in der Fabrikation, war die Verwen-
dung der Dampfkraft im Dienst des Transports der Güter und der Per-
sonen. Die Intensität des Weltverkehrs wurde dadurch in ihrer Art noch
weit stärker gesteigert, als einst seine Extensität im 16. Jahrhundert. Die
fortwährende Erleichterung und Verbilligung der Produktion und des
Transports durch wirksamere technische Hilfsmittel führte zu einer groß-
artigen Vermehrung der Gütererzeugung, mit der in den meisten Ländern
auch eine beträchtliche Zunahme der Bevölkerung zusammenging. Die
letztere Tatsache hat sich allerdings der Arbeiterklasse in ungünstigen
Zeiten durch einen größeren Druck des Arbeitsangebots fühlbar gemacht,
dennoch aber ist im ganzen eine wachsende Bevölkerung unter den heu-
tigen Kulturbedingungen als ein Symptom nationaler Gesundheit und so-
zialen Fortschritts anzuerkennen.
Kohlen und Eisen waren die Grundlagen der neuen technischen Ent-
wicklung. So wurden die Steinkohlen, die noch im 18. Jahrhundert auf
dem europäischen Kontinent als Brennmaterial verachtet und für gesund-
heitsgefährlich gehalten wurden, zu einem der wichtigsten Bestandteile
des Naturreichtums der verschiedenen Länder, zumal sie nun auch im
Eisenhüttenbetrieb an die Stelle der Holzkohlen traten, nachdem im Laufe
des 18. Jahrhunderts in England zuerst ihre Verwendbarkeit bei der Dar-
stellung des Roheisens und später der Puddelprozeß erfunden worden war,
Natur- Die weitere Entwicklung der Technik im 19. Jahrhundert geht aufs
,issenschaften. ^^^^^^ Haud in Hand mit der der Physik und der Chemie. Für diese
Wissenschaften aber war nunmehr ein wahres Zeitalter der Entdeckungen
angebrochen, in dem sie ungleich weiter vorwärts kamen, als in der ge-
samten vorhergegangenen Zeit. Wie dürftig war es um die Lehre von
der Elektrizität und dem Magnetismus bestellt, als Galvani zuerst die elek-
trischen Zuckungen eines Paares Froschschenkel zufällig bemerkte, und
welch ein Abstand zwischen diesem ersten Versuch, der nur ein physio-
logisches Interesse zu haben schien, und dem elektrischen Strom der
Akkumulatorenbatterieen, dem Elektromagnetismus, den Hertzschen Wellen,
den Kathoden- und Röntgenstrahlen. Und diesen wissenschaftlichen Ent-
deckungen schlössen sich unmittelbar technische Erfindungen an, die schon
III. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. ^I
der nächstvorhergegangenen Generation völlig unbegreiflich hätten .schei-
nen mü.sscn — die Dvnamoma.schine, die elektrische Eisenbahn, die elek-
trische Beleiichtmig, das Telephon, die drahtlose Telegraphie! Das waren
alles absolut neue Erfindungen auf Grund neuer Prinzipien, die selbst erst
aus neuen wissenschaftlichen Quellen abgeleitet waren.
Auch die Chemie stand am Anfang des Jahrhunderts noch in den
Kinderschuhen und sie erhielt damals erst ihre theoretische Grundlage
durch das Gesetz der Verbindungen nach Atomgewichten. Gegenwärtig
ist sie eine exakte Wissenschaft, die imstande war, die Existenzfähigkeit
von tausenden von Verbindungen vorherzusagen, die dann auch wirklich
dargestellt wurden. Nicht minder großartig entwickelte sich die chemische
Industrie, und zwar nicht durch empirisches Probieren, sondern unter der
sicheren Leitung der Wissenschaft. Als besonders fruchtbar erwies sich
das Zusammenarbeiten von Physik und Chemie auf ihren Grenzgebieten.
Es sei nur an die Spektralanalyse, die Elektrochemie und die Entdeckung
der rätselhaften radioaktiven Körper erinnert. Auch hier wurde die
Wissenschaft für die Technik nutzbar gemacht, z. B. in der Photographie
und in der metallurgischen Verwendung des elektrischen Ofens.
In der Lehre vom Licht ist die ganze Theorie des Äthers ein Werk
des 19. Jahrhunderts. In der neuesten Zeit aber sind Erscheinungen ent-
deckt worden, die auf einen ungeahnten Zusammenhang zwischen Äther
und Elektrizität schließen lassen und zu einer elektrischen Lichttheorie
geführt haben. Zugleich gaben diese Beobachtungen in Verbindung mit
den Tatsachen der Radioaktivität Veranlassung zu veränderten Vorstel-
lungen von der Konstitution der Materie. An den wichtigsten Fortschritt
in der Wärmelehre, die Entdeckung des mechanischen Wärmeäquivalents,
schloß sich die Aufstellung des allgemeinen Satzes von der Erhaltung der
Energie im Weltall, ein Gesetz, auf dessen Erkenntnis der menschliche
Geist nicht minder stolz sein darf, wie auf die des Newtonschen Gravi-
tationsgesetzes.
Die Astronomie feierte einen Triumph in der Entdeckung des Neptun,
und in der Astrophysik wurde ihr ein ganz neuer Forschungszweig an-
gegliedert. Mit Hilfe der Spektralanalyse und der Photographie erhielt
sie Aufschluß über die physische und chemische Beschaffenheit der fern-
sten Fixsterne und entdeckte Weltkörper, die mit dem Fernrohr allein nie
gefunden worden wären. Auch die Vorstellungen über die geologische
Entwicklung der Erde erhielten festere Grundlagen; noch wichtiger aber
war die mit der geographischen Erschließung aller Weltteile zusammen-
gehende Erforschung des gegebenen geologischen Baues der Erdrinde
und ihrer fossilen Einschlüsse. In der Botanik und Zoologie wurde die
äußere Kenntnis der organischen Welt außerordentlich erweitert und mit
Hilfe des Mikroskops genaue Einsicht in die innerste Struktur und die
Entwicklung der Organismen überhaupt erst gewonnen. In der neueren
Zeit wurden die Forschungen der letzteren Art und die allgemein bio-
<2 W'ii-iiKl.M I.KXis: Das Wesen ilrr Iviiltiii.
logischen, dir in drr Doszendenzlehre ein(Mi thcorrlischcn Loittadon erhalten
hatten, im ganzen v(ir den systematischen bevorzugt. Die Medizin erhielt
in Anatomie und Physiologie exakt naturwissenschaftliche Grundlagen und
lernte auch in Diagnostik und Pathologie die naturwissenschaftliche Me-
thode mit großem Erfolge anwenden. Die Entdeckung der mikrobischen
Krankheitserreger und die daraus abgeleiteten Methoden der inneren
Therapie wie auch die aseptische Wundbehandlung sind die größten
Fortschritte, die die Geschichte der Medizin überhaupt bisher zu ver-
zeichnen hat.
Geistes- Auch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften herrschte überall
""reges Leben und erfolgreiches Streben. In der reinen Mathematik hatten
alle Kulturvölker Männer ersten Ranges aufzuweisen, unter deren Führung
diese Wissenschaft nach verschiedenen Richtungen zu den abstraktesten
Höhen vordrang. In der Philosophie bildeten Fichte, Schelling und Hegel
einen über Kant hinausstrebenden Idealismus aus, der unter der Annahme
der Identität von Sein und Denken, von Objektivem und Subjektivem zu
einer neuen Art von Metaphysik führte, die in anderer Auffassung auch
wieder bei Schopenhauer und Herbart erscheint. Von naturwissenschaft-
licher Seite trat dagegen eine materialistische Reaktion auf, nachdem vorher
der Einfluß der Schellingschen Naturphilosophie auf die Entwicklung der
Naturwissenschaften in Deutschland eine Zeitlang einen unzweifelhaft
schädlichen Einfluß ausgeübt hatte. In der neueren Zeit sind an die Stelle
der Metaphysik Versuche getreten, unsere Weltanschauung durch wahr-
scheinliche, den Ergebnissen der Naturwissenschaft möglichst angepaßte
Hypothesen über die Grenzen der unmittelbaren Erfahrung hinauszu-
führen. In England und Frankreich bleibt ein empirischer Realismus vor-
herrschend. Als wertvollste Errungenschaft der neuesten Zeit auf diesem
Gebiete ist die experimentelle Psychologie zu bezeichnen, die allerdings
eher einen Zweig der Naturwissenschaft, als der Philosophie im herkömm-
lichen Sinne darstellt.
Die Geschichtschreibung, die früher mehr einen literarischen als
eigentlich wissenschaftlichen Charakter hatte, wurde durch exakte kritische
Methode und Zurückgehen auf das Urmaterial der Quellen in die Reihe
der strengen Wissenschaften gestellt. Durch Ausgrabungen und anti-
quarische Forschungen wurde der Anfang der historischen Zeit weit zu-
rückgeschoben und auch die prähistorische Existenz des Menschenge-
schlechts bis in die Quartärperiode hinein verfolgt. Zugleich wurden
Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, überhaupt die Wissenschaften von
der menschlichen Gesellschaft unter den historischen Gesichtspunkt ge-
bracht, indem man die Gegenwart aus der geschichtlichen Entwicklung zu
begreifen suchte und die Vergangenheit nach den für sie geltenden ge-
schichtlichen Bedingungen beurteilen lernte; die vergleichende Beobach-
tung der in der Gegenwart unter verschiedenen Bedingungen und Formen
auftretenden Erscheinungen des Gesellschaftslebens bildete die notwendige
III. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. 43
Ergänzung der historischen Methode, mit der sich auch so weit wie mög-
lich zahlenmäßige Feststellungen durch die Statistik verbanden. Eine
neue Schöpfung des iq. Jahrhunderts war die vergleichende Sprachwissen-
schaft, die besonders durch das ebenfalls in diesem Zeitraum emporkom-
mende Studium des Sanskrit ins Leben gerufen wurde. Eine ebenfalls
neue Errungenschaft ist die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen
und der babylonischen Keilschrift. Die klassische Philologie wurde in der
Erfüllung ihrer Aufgabe der wissenschaftlichen Reproduktion des klas-
sischen Altertums durch wertvolle literarische Entdeckungen und archäo-
logische Funde in unerwarteter Weise gefördert. Auch die neueren
Sprachen wurden Gegenstände einer wissenschaftUch- philologischen Be-
handlung, die sich sowohl nach der sprachgeschichtlich-grammatischen, wie
nach der literaturgeschichtlichen Seite betätigte.
In der schönen Literatur ist eine klassische Periode, wie sie in Deutsch- Litentur und
. , . Kunst.
land mit dem Tode Goethes zum Abschluß kam, m der bolgezeit bei
keinem Volke zu finden; die allgemeine kulturelle Bedeutung der Literatur
ist darum nicht geringer geworden. Sie hat sich in die Breite entwickelt
und die Zahl der Talente, die in ihrem Dienste stehen, ist wohl bei allen
Nationen größer, als je zuvor. Aber weit verbreitet zeigt sich eine ge-
wisse Überspannung des literarischen Strebens, und im Drama wie im
Roman stellt man sich mit Vorliebe Probleme, die auf einen bereits über-
reizten Geschmack berechnet sind. Andrerseits aber ist die leichte, jedes
höheren Interesses ermangelnde Unterhaltungsliteratur ins Maßlose ange-
schwollen, wozu die Einbürgerung des sogenannten Feuilletons in der
Tagespresse — das aus Frankreich und dem Anfang der vierziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts stammt — und die Unzahl der in der neueren
Zeit entstandenen illustrierten Wochenschriften sehr wesentlich beigetragen
hat. Immerhin ist auch diese Art des Unterhaltungsbcdürfnisses ein
Symptom eines hohen Kulturstandes, wenn auch an sich kein Kultur-
fortschritt.
Auch in der Kunst der Neuzeit fehlt klassische Ruhe und einheitliche
Richtung. Zeitweilig vorherrschende Strömungen werden bald von anderen
abgelöst, und Naturalismus, Symbolismus und Mystizismus machen sich
das Feld streitig. Überall jedoch zeigt sich auch hier geistige Regsam-
keit und ernstes Streben, und Sinn und Verständnis für Kunst breitet
sich in immer weiteren Kreisen aus.
Die politische und soziale Entwicklung Europas erhielt durch die Politisch« und
^ Ol ^ soziale Entwick-
französische Revolution einen Anstoß, dessen Folgen über die unmittel- lung.
bare Wirkung der Ereignisse in Frankreich selbst weit hinausgingen.
Welchen Eindruck sie auf die größten Denker unter ihren Zeitgenossen
machte, zeigen die Worte Goethes, der am Tage von Valmy sagte, mit
diesem Zeitpunkt beginne eine neue Periode in der Weltgeschichte; und
Kant, der in der Revolution nicht eine solche, sondern die Evolution einer
naturrechtlichen Verfassung sah, sagte von ihr; „Ein solches Phänomen
44
Wilhelm Lkxis: Das Wesen der Kultur.
in der Mcnschcngeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage
und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt
hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge her-
ausgoklügelt hätte." Frankreichs Vorgehen löste dieses Vermögen auch
bei den übrigen Völkern aus, ohne daß sie in die blutigen Greuel der
Revolution hineing"ezogen wurden. Die Gründung und das Gedeihen
der Vereinigten Staaten auf der Basis einer nach den modernen An-
schauungen konstruierten Verfassung" trug zur Förderung dieser Entwick-
lung auch im alten Europa bei. Sie vollzog sich nicht rasch, aber sie
ließ sich nicht zurückdrängen; die sie antreibenden Ideen blieben eben
unvergessen. Die Bauernbefreiung, die in Preußen von 1807 datierte,
drang in wenig mehr als fünfzig Jahren sogar bis Rußland vor. Nach
längerer Verzögerung traten auch Preußen und Osterreich in die Reihe
der konstitutionellen Staaten ein. Die letzten Reste des alten Zunftwesens
wurden in Deutschland durch die Gewerbeordnung von 1869 beseitigt.
Die Reichsgesetzgebung führte allerdings in dem neuen Innungswesen
wieder gewisse Rückbildungen herbei, die man in Frankreich, England
und vollends Amerika nicht kennt. Auf die Dauer werden sie jedoch
nicht verhindern können, daß minderwertige Formen des Gewerbe- und
Handelsbetriebs durch solche, die der modernen Produktions- und Ver-
kehrstechnik entsprechen, verdrängt werden. Immer mehr erweitert sich
das Gebiet, auf dem nur durch den Großbetrieb die höchstmögliche Stei-
gerung der Produktivität der Arbeit erreicht werden kann; diese aber ist
volkswirtschaftlich das an erster Stelle zu erstrebende Ziel. Denn wenn
der Anteil der einzelnen an dem Erzeugnis der nationalen Produktion
erhöht w^erden soll, muß vor allem mit derselben Summe menschlicher
Arbeit eine größere Gütermenge geschaffen werden. Man kann nicht
mehr verteilen, wenn nicht mehr vorhanden ist; erst nach Erfüllung dieser
Bedingung erhebt sich die Frage, wie die gesellschaftliche Ordnung der
Verteilung verbessert werden könne.
Soziale Frage. Diese Frage ist der Kern des großen Problems des gegenwärtigen
Zeitalters, der sozialen Frage. Sie ist in dieser Form etwas durchaus
Neues, denn sie geht nicht hervor aus dem Gegensatz von arm und reich
oder von Sklaven und Herren, sondern aus dem durch die kapitalistische
Produktionsweise erzeugten Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Die
erste Bedingung des sozialen Fortschritts, die Ermöglichung einer unbe-
rechenbar gesteigerten Produktivität der Arbeit ist durch Großbetrieb und
moderne Technik prinzipiell erfüllt; aber diese Produktionsweise ist nur
möglich geworden unter der Herrschaft des konzentrierten Kapitals, dem
die Arbeit als eine nach dem Marktpreise zu bezahlende Ware gegen-
übersteht. Die von dem Kapital beschäftigten Arbeiter aber sind zu einer
neuen Gesellschaftsklasse geworden, deren Zahl immer mehr anwächst,
während die der selbständigen Kleingewerbetreibenden relativ immer mehr
abnimmt. Die Verteilung des Produktionsertrags unter diesen Bedingungen
in. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. ac.
ist nun zum Gegen.stand eines Klassenkampfes geworden, der vielleicht
niemals zu einem endgültigen Abschluß kommen wird, im ganzen aber
einen für den Arbeiter günstigen Verlauf genommen hat, der sich, wenn
auch nicht ohne Hemmungen, auch in der Zukunft noch fortsetzen wird.
Daß die Bestrebungen der Arbeiterklasse teilweise unter dem Einfluß ut<i-
pistischer Phantasieen stehen, die sich einen von Grund aus neuen Aufbau
der Gesellschaft ausmalen, ist eine nebensächliche Erscheinung, die, wie
so viele andere Illusionen, anregend und ermutigend auf die Gemüter
wirken mag, aber durchaus nicht als Ursache und noch weniger als die
eigentliche Triebkraft der sozialen Bewegung zu betrachten ist. Auch
sind diese Utopieen ursprünglich nicht von Arbeitern oder politischen
Arbeiterführern, sondern von „bürgerlichen" Gesellschaftskritikern und
grübelnden Theoretikern ersonnen und sie fanden ihre Verbreitung in den
Arbeiterkreisen zu einer Zeit, als der moderne Kapitalismus im Vergleich
mit der Gegenwart noch in seinen Anfängen stand. Die deutsche Sozial-
demokratie behält ihre dogmatischen Zukunftsideale nur noch dem Namen
nach bei, für ihr praktisches Parteiprogramm aber sind sie bedeutungslos.
In Frankreich hat der Sozialismus seine politische Bedeutung nur durch
die Verbindung mit dem bürgerlichen Radikalismus erhalten. In England
haben die sozialistischen Theorieen immer nur wenig Boden gefunden; die
Arbeiterbewegfung steht unter der Führung der Gewerkvereine und diese
betreiben ihre Sache geschäftsmäßig, im Grunde in demselben Gei.ste, wie
die bürgerlichen »/r// of hisiness. Dasselbe gilt von Amerika, wo die
Entwicklung in gewisser Beziehung' der europäischen schon vorau.sgeeilt
ist. Die Kapitalkonzentrierung hat sich dort in (inem riesenhaften Maß-
stabe vollzogen, sowohl in den Händen einzelner Übermillionäre, als auch
in der Form von Trusts und Riesenuntemehmungen, die die Monopolisie-
rung ganzer Produktionszweige erstreben. Ebenso aber schließen sich die
Arbeiter immer fester zu mächtigen Organisationen zusammen, und beide
Parteien stehen sich in strengster Interessenpolitik gegenüber. Wohlfahrts-
einrichtungen der Arbeitgeber kommen so gut wie gar nicht vor, werden
aber von den auf ihre eigene Kraft vertrauenden Arbeitern auch gar nicht
verlangt. Wohl aber werden oft von reich gewordenen Untemehmeni —
zuweilen allerdings um dunkle Seiten ihrer Vergangenheit in Vergessen-
heit zu bringen — enorme Summen der Förderung allgemeiner Bildungs-
und Kulturzwecke zugewandt. Es hat sich sogar eine besondere soziale
Theorie in dem Sinne gebildet, daß die für den wirtschaftlichen Wett-
bewerb besonders Befähigten ihre Überlegenheit mit aller Energie und
Rücksichtslosigkeit ausnützen, den erworbenen Reichtum aber im Interesse
des Gemeinwohls verwenden sollen. Auch von diesem Gesichtspunkt aus
wird aber nicht sowohl an den Schutz der „wirtschaftlich Schwachen",
als vielmehr daran gedacht, daß allen begabteren Elementen der Arbeiter-
bevölkerung die Mittel geboten werden sollen, sich durch Erwerbung von
Kenntnissen und Bildung emporzuarbeiten. In Amerika wird also die
^6 WiLllKLM Lkxis: Das Wesen der Kultur.
Hcrstolluiigf des sozialen Gleichgewichts von dem freien Spiel der Kräfte
erwartet, und wenn es auch an schweren Zusammenstößen und Erschütte-
rungen nicht fehlen wird, so mag der Erfolg doch im ganzen günstig sein.
Aber ein Schluß auf Europa wäre daraus nicht zu ziehen; denn die Ver-
einigten Staaten besitzen im Vergleich mit ihrer noch dünnen Bevölkerung
einen großartigen Naturreichtum, und wenn ihre Volksdichte auch rasch
zunehmen wird, so wachsen alle Gesellschaftsklassen unter steter gegen-
seitiger Anpassung in die sich bildenden Verhältnisse hinein. In den
europäischen Staaten dagegen fehlt die amerikanische Voraussetzungs-
losigkeit; die Bevölkerung ist bereits äußerst eng zusammengedrängt, ihre
sehr verwickelten Zustände sind historisch bedingt, und diese historisch
gegebene Ordnung ist unvergleichlich viel fester und mächtiger, als es die
sozialistische Schulweisheit sich träumen läßt. Jeder Versuch einer ge-
waltsamen Umwälzung würde scheitern; er könnte wohl zeitweilig das
ganze Getriebe der Volkswirtschaft und damit zugleich die ganze Güter-
versorgung zum Stillstand bringen, aber die eiserne Notwendigkeit würde
bald die alte Wirtschaftsordnung wieder in Gang setzen. Auch in Europa
ist die Organisation der Arbeiter die Bedingung des Fortschritts, aber
dieser muß durch den Staat als Vermittler zwischen den Klassengegen-
sätzen in geregelten Bahnen erreicht werden. Aus dieser Vermittlung ist
die Arbeiterschutzgesetzgebung und die gesetzliche Arbeiterfürsorge durch
Wohlfahrtseinrichtungen hervorg'egangen, unter denen die deutsche Arbeiter-
versicherung den ersten Platz einnimmt. Die Verstaatlichung und daneben
auch die Verstadtlichung gewisser Produktions- und Verkehrsbetriebe, die
schon in beträchtlichem Umfange stattgefunden hat, wird sich auf den da-
für geeigneten Gebieten noch weiter ausbreiten und die öffentlichen Unter-
nehmungen werden in der Regelung des Verhältnisses zu ihren Arbeitern
vorbildlich wirken können.
Hebung der Die politischc Entwicklung ist im letzten Jahrhundert ganz über-
Unterrkht'und wiegend der Arbeiterklasse zugute gekommen. Die französische Revo-
lution ging vom dritten Stande aus, der nach dem Si6yes'schen Programm
„alles" werden wollte. Die Masse leistete ihm Gefolgschaft, verlangte
dann aber auch ihren Anteil, der ihr nur mit langer Verzögerung gewährt
wurde. Der bürgerliche Liberalismus und das Proletariat forderten ver-
mehrte politische Rechte in ihrem Klasseninteresse, und so mußte ein
sich allmählich verschärfender Gegensatz entstehen, der sogar einen großen
Teil des Bürgertums, wie namentlich in Frankreich unter dem zweiten
Kaisertum, zu einer Wendung nach rückwärts bewog. Trotz solcher Wider-
stände erlangte die Arbeiterklasse in fast allen Ländern ein erweitertes
Wahlrecht und in Frankreich und im Deutschen Reich das — in den Ver-
einigten Staaten von Anfang an geltende — allgemeine direkte Stimm-
recht, dem auch England ziemlich nahe gerückt ist. Freilich muß als Vor-
aussetzung für dieses Wahlrecht eine genügende Reife und Bildung des
Volkes gefordert werden, und daher bildet der allgemeine Volksunterricht
in. Die Kultur des 19. Jahrhunderts. ^.y
sein unabwei.sbares Korrelat. In Preußen und den übrigen deutschen Staaten
ist diese Bedingung schon in früheren Zeiten durch Einführung des .Schul-
zwanges erfüllt worden. In Frankreich hat erst das Gesetz von 1882 den
Volksschulunterricht für obligatorisch erklärt, nachdem im Jahre vorher
seine Unentgeltlichkeit in allen öffentlichen Schulen festgesetzt worden
war. In England erhielten die Lokalbehürden 1870 das Recht, den Schul-
zwang einzuführen; verallgemeinert wurde er durch Gesetze von 1876
und 1880, jedoch wird seine Wirkung noch immer durch die zu niedrige
Altersgrenze für die gewerbliche Kinderarbeit beeinträchtigt. In der ameri-
kanischen Union besteht er in den meisten, jedoch nicht in allen .Staaten.
Mit den politischen Rechten und der besseren Bildung der Massen
steigerte sich auch immer mehr die Ausbreitung und die Macht der Presse
als des wichtigsten Organs des öffentlichen Lebens. Die Zensur wurde
durch die Bewegung von 1848 in den Staaten, in denen sie noch bestand,
mit Ausnahme Rußlands, weggeräumt und auch die an ihre Stelle treten-
den Preßpolizeigesetze mußten mehr und mehr gemildert werden. Aller-
dings fördert die Preßfreiheit in dem Maße, wie sie jetzt in Frankreich,
England, Amerika und anderen Ländern besteht, viele Lügen und andere
verächtliche und abstoßende Erscheinungen zutage, dennoch aber ent-
wickelt sich der politische Volkscharakter in dieser scharfen Luft selb-
ständiger und fester, als unter polizeilicher Bevormundung.
Die politische Emanzipation erst des Bürgertums, dann der Massen .\iigomeint
hat auch auf die allgemeine und die auswärtige Politik der Kulturstaaten
einen starken Einfluß ausgeübt. .Statt der Haus- und Kabinettspolitik ist
für Fürsten imd Regierungen die nationale Politik die leitende Norm ge-
worden. Das von Napoleon III. proklamierte Nationalitätsprinzip hat
Früchte gebracht, die sein Verkündiger nicht gewünscht und nicht er-
wartet hatte. Nach der Einheit Italiens erstand das Deutsche Reich, und
dadurch ist nicht nur die politische Macht, sondern auch die Bedeutung
des deutschen Volkes als Kulturträger nach allen .Seiten hin in ungeahntem
Maße gesteigert worden. Es konnte nicht fehlen, daß der neue Mitbewerb
vielfach nationale Eifersucht hervorrief, die denn auch ihren Einfluß auf
die Beziehungen der Staaten untereinander ausübte. Nach dem durch den
französisch-englischen Vertrag von 1860 bezeichneten Wendepunkt in der
europäischen Handelspolitik schien dem Freihandel der Weg gebahnt, auf
dem er, wie man annehmen zu können glaubte, in wenigen Jahrzehnten
in der ganzen Kulturwelt seinen Einzug halten würde. Mußte man ihn
ja als die naturgemäße Folge der stets fortschreitenden technischen Ver-
kehrserleichterung betrachten, durch die die Staaten sich jetzt wirtschaft-
lich näher gerückt sind, als früher die einzelnen Provinzen desselben
Landes. Aber es kam anders. Eine langdauemde industrielle Depression
traf in den siebziger Jahren mit der sich rasch entwickelnden Konkurrenz
des überseeischen Getreides zusammen, durch die — allerdings nur als
historische Episode — eine Herabdrückung der Rente und des Markt-
^8 Wn.llKIM I.KXIS: Das Wesen der Kullur.
wertes des landwirtschaftlichen Bodens in Europa bewirkt wurde. So ent-
stand ein Umschwung, der schließlich selbst in England sogar die ersten
Axiome der Freihandelspolitik wieder in Frage stellte. Mit dem Programm
des Freihandels trat das des Imperialismus in Wettbewerb, das auf Welt-
reiche mit freiem innerem Verkehr und Zollschranken nach außen hinaus-
läuft. Das russische Reich verwirklicht schon bis zu einem gewissen
Grade die Idee einer solchen Rieseneinheit; mehr noch gilt dies von den
Vereinigten Staaten, die auf ihrer besseren Naturgrundlage ein höheres
Maß von „Autarkie" erreichen können. Noch günstiger würde in dieser
Hinsicht das britische Weltreich bei einer zollpolitischen Einigung stehen,
gegen die sich allerdings die vorherrschenden Interessen in den einzelnen
Gliedern des Reiches kaum weniger sträuben, als wenn es sich um selb-
ständige Staaten handelte. Sollten aber die Chamberlainschen Pläne
vollen Erfolg haben, so würde das außerrussische kontinentale Europa sehr
wahrscheinlich durch den Drang der Umstände über kurz oder lang ge-
zwungen werden, sich ebenfalls zu einer größeren wirtschaftlichen Einheit
durch Wegräumung der Verkehrsschranken zusammenzuschließen.
Der moderne Imperialismus hat jedoch nicht nur eine wirtschaftspoli-
tische Bedeutung, sondern schließt auch eine Tendenz zur Macht- und Er-
oberungspolitik ein, die insbesondere in den Vereinigten Staaten seit ihrem
Kriege mit Spanien die frühere Tradition zurückgedrängt zu haben scheint.
Zugleich hat sich gezeigt, daß nationale Selbstsucht und Leidenschaft auch
bei den modernsten Völkern noch stark genug sind, um die Aussichten auf
ewigen Frieden in unabsehbare Feme hinauszuschieben.
Kirchliche Neben dem weltlichen Imperialismus hat sich der geistliche der ka-
tholischen Kirche ausgebreitet und befestigt. Ihre Macht ist intensiver
geworden, als jemals, weil sie nur in ihrer geistigen Herrschaft begründet
ist und ihre weltlichen Stützen verloren hat. Wer sich auf den Stand-
punkt des modernen strengen Katholizismus stellt, wird urteilen müssen,
daß in den Jahrzehnten unmittelbar vor und nach der französischen Revo-
lution die katholische Lehre stark von dem Geiste der Aufklärung beein-
flußt und das kirchliche Leben nach den heute herrschenden Anschauungen
in hohem Grade erschlafft war. Der Papst hatte den Jesuitenorden auf-
gehoben, in Frankreich herrschte der Gallikanismus, in Deutschland lehrte
der Weihbischof eines geistlichen Kurfürsten den Febronianismus, dem ein
anderer geistlicher Kurfürst in der neuen Universität Bonn eine Pflege-
stätte eröffnete. Die Revolution schien dem Katholizismus in Frankreich
den Todesstoß zu geben; unter dem Staatskirchentum Napoleons konnte
er nur vegetieren, und in Deutschland erscheint er noch zur Zeit eines
Wessenberg und Erzbischofs von Spiegel nach ultramontanem Maßstab als
schwächlich und mattherzig. Was brachte nun der katholischen Kirche
ihre neue Erstarkung? Vor allem der Kampf um die Behauptung und Er-
weiterung ihrer Rechte, den sie jetzt auf dem Boden des modernen Ver-
fassungslebens und unabhängig von den Rücksichten und Beschränkungen
Verhältnisse.
III. Die Rullur (los ig. Jahrhunderts. 4g
führen konnte, die ihr früher durch einen engeren Zusammenhang mit
staatlichen Einrichtungen und materiellen Interessen auferlegt waren. In
Frankreich begann dieser Kampf bald nach der Julirevolution. In Preußen
wurde das katholische Gefühl zuerst durch die sogenannten Kölner Wirren
und die N'erhaftung des Erzbischofs stark erregt, und diese Erinnerung
blieb auch unter Friedrich Wilhelm IV. trotz vieler Zugeständnisse an die
katholische Kirche lebendig. Die katholische Fraktion der preußischen
zweiten Kammer war die Vorläuferin des Zentrums im Abgeordnetenhause
und im Reichstag, das durch den „Kulturkampf" der siebziger Jahre zur
zeitweilig stärksten und noch immer ausschlaggebenden Partei geworden
ist. Die Partei ist eine politische, sofern es ihr Ziel ist, die Verfügung
über den weltlichen Ann zu erlangen, um Staat und Gesellschaft nach
dem kirchlichen Ideal zu modeln, wie es einst in bezug auf Unterrichts-
wesen, Presse, Eherecht usw. durch das österreichische Konkordat an-
nähernd gelungen zu sein schien. Aber von einem solchen kirchlich-
polizeilichen Programm will der moderne Geist nichts wissen, und so
stoßen auch auf diesem Gebiet die Weltanschauungen nicht weniger heftig
zusammen als auf dem religiös -wissenschaftlichen. Wenn der Protestan-
tismus die katholische Kirche mit der Dogmatik des Reformationszeitalters
bekämpfen wollte, so würde er seine Kräfte vergebens aufreiben. Ebenso
wenig Erfolg werden die katholischen Reformfreunde haben, die der An-
sicht sind, „der römische Papst könne und solle sich mit dem Fortschritt,
mit dem Liberalismus und mit der modernen Bildung versöhnen und ver-
ständigen". Der Sj-llabus von 1864 hat diesen Satz verdammt, denn die
Kirche ist überzeugt, daß die absolute Starrheit ihres Lehrsystems die
beste Bürgschaft für seine Festigkeit sei. Nur gegen den „Amerikanismus"
in Amerika — nicht gegen den nach Europa übertragenen — hat sie eine
gewisse Nachgiebigkeit gezeigt und wird sich dazu auch noch ferner ent-
schließen müssen. Denn der amerikanische Katholizismus hat sich unter
geschichtlichen, politischen und sozialen Bedingimgen entwickelt, die von
den in der alten Welt herkömmlichen durchaus verschieden sind; er hat
sich zu einem besonderen Typus ausgebildet und auch Typen von Kar-
dinälen und Erzbischöfen erzeugt, die in Europa sehr fremdartig anmuten.
Dem Protestantismus aber bleibt die schwere Aufgabe vorbehalten,
die Sache der im Syllabus verworfenen modernen Bildung, der geistigen
und sittlichen Freiheit und der wissenschaftlichen Objektivität zu vertreten
und zugleich das Wesen des historischen Christentums und den christ-
lichen Charakter unserer Kultur aufrecht zu erhalten, also seinen Platz zu
behaupten zwischen dem katholischen Dogmatismus und dem wissenschaft-
lichen Naturalismus. Da es sich um Geistesrichtungen handelt, die im
Wesen des Menschen begründet sind, so ist ein entschiedener Sieg der
einen oder der anderen wohl nie zu erwarten, und Macaulays Neusee-
länder auf den Trümmern der Paulskirche würde wohl noch dieselben
Gegensätze vorfinden, die gegenwärtig bestehen.
Dlt KlLTUR DKK GeOESWART. I. 1. 4
«0 W'n iii'i-M I.EXis: Das Wesen der Kultur.
zukunfts- IV. Schlußbetrachtung. Überhaupt führt die Kulturentwicklung nicht
zu einem Zeitalter des Friedens und des allgemeinen Glücks. Der zunehmen-
den Leistungsfähigkeit der Technik stehen die zunehmenden Schwierig-
keiten g-egenüber, die bei einer fortwährend wachsenden Bevölkerung durch
den fortwährenden Verbrauch imersetzlicher Naturstoffe und überhaupt durch
die Beschränktheit der Naturgrundlage des Wirtschaftslebens entstehen.
Die Steinkohlen, die der heutigen Industrie als wichtigster Nährstoff dienen,
werden bei Fortdauer des gegenwärtigen Zunahmeverhältnisses ihres Ver-
brauchs in einigen Jahrhunderten so weit aufgezehrt sein, daß der Rest
wirtschaftlich nicht mehr in Betracht kommt. Man wird ohne Zweifel die
Wasserfälle, die Flutwelle und die Sonnenwärme ausgiebiger als Kraft-
quellen verwerten, aber die elektrische Zuleitung der gewonnenen Energie
in der nötigen Ausbreitung würde sehr schwierig sein vmd große Kosten
verursachen. Dazu kommt, daß die Lager der Kupfer-, Blei- und Zinkerze
bei dem jetzigen Fortschreiten ihres Abbaues wohl noch weniger lange
vorhalten werden als die Steinkohlenflöze. Selbst die Eisenerze, die als
wirtschaftlich verwendbar in Betracht kommen, sind nicht in unerschöpf-
licher Menge verfügbar. Es geht allerdings auf der Erde kein Atom
verloren, aber die Metalle werden durch Oxydierung, Abreibung und Zer-
stäubung in Zustände übergeführt, aus denen sie nicht mehr zurück-
gewonnen werden können. Was die Schwierigkeit der Beschaffung der
Nahrungsmittel betrifft, so sind Befürchtimgen im Sinne Malthus' noch auf
Jahrhunderte unbegründet. Aber bei einer unausgesetzt in der jetzigen
Progression wachsenden Bevölkerung der Kulturwelt muß doch schließlich
mit Notwendigkeit ein Mißverhältnis zwischen der Menschenzahl und der
überhaupt verfügbaren Bodenfläche entstehen, zumal diese Fläche nicht
nur für die Erzeugung von Nahrungsmitteln, sondern auch für andere un-
abweisbare Zwecke in Anspruch genommen wird. Allerdings wäre es
möglich, daß mit der Zeit eine automatische Hemmung der Volksvermeh-
rung einträte, indem durch die überfeinerte Kultur selbst eine Degenera-
tion bewirkt würde, von der man in der großstädtischen Bevölkerung
schon Anzeichen zu bemerken glaubt. Allein ein solcher Hemmungsprozeß
wäre nicht weniger ein Übel als irgend einer der repressive chccks, von
denen Malthus redet. Aber auch wenn es nach gewissen optimistischen
Rechnungen gelänge, durch eine über die ganze Erde verbreitete Treib-
hauskultur für das Hundert- oder Zweihundertfache der jetzigen Menschen-
zahl die Unterhaltungsmittel zu schaffen, so wäre ein solcher Zustand
wieder an sich ein großes Übel, weil der Mensch in ihm selbst zu einem
Treibhausprodukt würde und durch die völlige Entfremdung von der
Natur ein Teil seines Wesens verkümmern müßte. Denn wenn die Kultur
die Überwindung des Naturzustandes des Menschen bedeutet, so soll er
doch weder geistig noch körperlich aus dem Zusammenhang mit der
Natur losgelöst werden, und wenn dies schon jetzt bei einem großen Teil
der Bevölkerung in unerwünschtem Grade der Fall ist, so ist das eine
IV. Schlußbetrachlung. 5 I
bedauerliche I'olge unserer gesellschaftlichen Zustände. Die UnvoU-
kommenheit aller menschlichen Dinge hat ihre eigene Dialektik. Fort-
schritt und Verbesserung erzeugen aus sich selbst wieder Gegensätze und
Widerstände, und die Menschheit ist zu steter Erneuerung ihrer An-
strengungen genötigt, wenn sie nicht rückwärts gedrängt werden soll.
Wie weit aber ein Kulturfortschritt erreicht sei, kann nur durch das
Werturteil der objektiven, die materiellen und geistigen Gesamtinteressen
der Menschheit abwägenden Vernunft entschieden werden. Denn nicht
alle Begleiterscheinungen der Kulturentwicklung haben selbst Kulturwert,
und manche, wie übertriebener Luxus der Reichen und Verbreitung von
unnützem Tand bei den Massen, sind schädliche Ausartungen. Gewiß
aber ist es ein Fortschritt, wenn die wirklichen Kulturgüter immer mehr
auch unter denen verbreitet werden, die bisher nur einen ungenügenden
Anteil daran haben. Dies auf dem wirtschaftlichen Gebiete zu erreichen,
ist die Hauptaufgabe der sozialen Reformen und der mit der Wissenschaft
verbundenen Technik. Auch die Kunst soll der Masse zugute kommen,
nicht nur zur Verschönerung ihres Lebens, sondern auch zur Veredlung
ihrer Empfindungen. Vor allem aber wird die Zukunft der Kultur von
dem Maße abhängen, in dem die sittliche Idee der Gerechtigkeit in
der menschlichen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt, jener Gerechtigkeit,
die nicht durch schematische Rechtssatzungen bedingt ist, auch selbst-
gefälliges Wohltun verschmäht, aber fordert, daß jeder bei seinem Han-
deln in jedem anderen die gleichberechtigte Persönlichkeit anerkenne und
achte. Menschliche Leidenschaft, Selbstsucht und Bösartigkeit werden
freilich der Erfüllung dieser Forderung stets im Wege stehen; aber sie
stellt ein ideales Ziel auf und eröffnet der sittlichen Kultur die Möglich-
keit eines unendlichen Fortschrittes, während für die materielle Kultur-
entwicklung eine Grenze denkbar ist, jenseits der sie die Lebenszustände
der Menschheit zwar noch ändern, aber nach dem Maßstabe der objek-
tiven Vernunft nicht mehr verbessern kann, wobei dann auch die Übel,
die den Menschen drücken, vielleicht ihre Form, nicht aber ihre Schwere
ändern.
Literatur.
Wegen der speziellen Literaturangaben über die geschichtliche Entwicklung der staat-
lichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, der Religionen, der Wirtschaft und Technik,
der Wissenschaften und Künste muß auf die entsprechenden besonderen Abhandlungen ver-
wiesen werden. Hier fuhren wir nur einige allgemeine kulturgeschichtliche, geschichts- und
gesellschaftsphilosophische Werke an, die übrigens für den Standpunkt der vorstehenden
Skizze nicht bestimmend gewesen sind.
1. Anfänge der Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie im
i8. Jahrhundert.
G. B. ViCO, Principj di una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle na-
zioni. Zuerst 1725.
Montesquieu, L'esprit des Lois. Zuerst 1748.
Ferguson, Essay on the history of civil society. Zuerst 1767, deutsch von \". Dorn,
Jena 1904.
Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit. Zuerst 1784 ff.
CONDORCET, Esquisse dun tableau historique des progr^s de l'esprit humain. Tosthum
erschienen 1795.
II. Betrachtung der Geschichte unter dem Einfluß der geographischen \er-
hältnisse und der äußeren Natur.
K. Ritter, Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen.
Zuerst 1817 — 18; 2. Aufl. 1822— 1859.
F. Ratzel, Anthropogeographie, 1891; 2. Aufl. 1899.
Th. Buckle, History of civilisation in England, zuerst 1857 ff., deutsch von Rüge,
6. Aufl. 1881. (Nimmt eine gewissermaßen mechanische Naturgesetzlichkeit in der Kultur-
entwicklung an.)
III. Allgemeine Werke zur Theorie und Geschichte der Kulturentwicklung.
H. Spencer, Principles of sociology 1870 ff. Deutsch von Vetter, 1877 ff. (Begründer
der biologisch -evolutionistischen Gesellschaftslehre.)
G. SiMMEL, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. 1892.
B. KiDD, Soziale Evolution. Deutsch von E. Pfleiderer, 1895. ; Betont besonders die
soziologische Bedeutung der Religion.)
G. Tarde, Les lois de l'imitation, 2. 6d. 1898. (Selbständige Theorie.)
J. Kohler, Grundbegrift'e einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit. (Einleitung
zu der ,, Weltgeschichte" von H. Helmolt, I. Bd. 1899.)
W. WUNDT, Völkerpsychologie. Bd. 1 und 2. 1900.
H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl. 1901. (Ent-
schiedener \'ertreter der Rassentheorie.)
Literatur. 53
IV. Kritische Schriften.
\V. Dll.TllF.v, Einleitung in die Ceisteswissenschaften. Versuch einer C.rundlegung für
das Studium der ( '.espllschaft und der (beschichte. 1883.
r. R.XRTli. Die Philosophie der C.eschichte als Sociologie. 1897.
V. Primitive Kultur.
H. Morgan, Systems of consanguinity and affinity of the human family. 1870.
H. ScHURTZ, Urgeschichte der Kultur. 1900.
Ed. Hahn, Die Haustiere und ihre Beziehung zur Wirtschaft der Menschen. 1896.
Behandelt die Priorität des Ackerbaus — in der Form des Hackbaus — vor der Vieh
2ucht.>
Derselbe, Das .Mter der wirtschaftlichen Kultur der .Menschheit. Ein Rückblick und
ein .■\usblick. 1905.
VI. Kulturhistorische Übersichten.
Wheweli., History of the inductive sciences from the earliest to the present times.
3 vol. 3 cd. 1857.
|. 1-iPPERT, Kulturgeschichte der Menschheit. 1886—87.
DAS MODERNE BILDUNGSWESEN.
Von
Friedrich Paulsen.
Bf griff I. Der Begriff der Bildung. Wenn man die Leistung und Be-
deutung der Erziehung und Bildung vom allgemein geschichtlichen oder
anthropologischen Standpunkt betrachtet, so kann man sie mit der Formel
bestimmen: durch Erziehung und Unterricht vollzieht sich die Übertragung
des gesamten Kulturbesitzes der elterlichen Generation auf ihre Nach-
folgerin; oder genauer: die Hineinbildung aller Kultur erzeugenden und
erhaltenden Kräfte und Fähigkeiten in die nachwachsende Jugend. Alle
technisch-wirtschaftlichen Künste und Fertigkeiten, wodurch die mate-
riellen Kulturgüter hervorgebracht werden, alle geistig-sittlichen Kräfte,
auf denen die ideelle Kultur beruht, werden durch die gemeinsame Tätig-
keit der beiden sich die Hände reichenden Geschlechter im Wechsel der
Generationen erhalten und fortgepflanzt.
Den Erfolg können wir auch so aussprechen: durch Erziehung und
Unterricht findet die Erhaltung des geschichtlichen Arttypus statt. Was
im animalischen Leben durch den bloßen Naturprozeß der organischen
Vererbung sich vollzieht, die Erhaltung und Fortpflanzung der Art, das
erfordert im menschlich-geschichtlichen Leben bewußte Zwecktätigkeit.
Zwar findet auch beim Menschen die Vererbung des psycho-physischen
Arttypus auf organischem Wege statt, aber das eigentlich geschichtliche
Leben, der menschliche Kulturbesitz, wird nicht durch einen Naturvorgang,
sondern durch bewußte und gewollte Zwecktätigkeit fortgepflanzt; so daß
auch hierin der spezifische Charakter des Menschen als aniiiial rationale
sich offenbart. Geschichtliches Leben ist nirgend ein bloßer Naturprozeß,
sondern freie Tat der sich selbst verwirklichenden Vernunft
So stellt sich die Bedeutung der Erziehung vom Standpunkt der Gat-
tung gesehen dar.
Betrachten wir sie nun vom Standpunkt des Individuums, so werden
wir sie mit der Formel bestimmen können: sie bedeutet seine Hinein-
stellung in das geschichtliche Leben, seine Erhebung aus dem bloß natür-
lichen Leben in die Sphäre der menschlichen Kultur. Der einzelne
empfängt in der Erziehung die Ausstattung' mit all den Kräften, Ein-
I. Der Bugiiir der Hilclunf;. ce
sichten und Tüchtigkeiten, worauf seine Teihiahme an dem geistig-geschicht-
lichen Leben des sozialen Ganzen beruht, aus dem er als Xaturwesen ge-
boren ist. Damit ist zugleich gegeben, daß er der Erziehung die Ent-
wicklung der allgemeinen natürlichen Anlagen, die er durch Vererbung
überkommen hat, zu jenen bestimmt ausgeprägten lebendigen Kräften
verdankt, in deren Betätigung er seine indi\iduelle Persönlichkeit aus-
wirkt.
Eühren wir nun tür das, was dem einzelnen durch die Erziehung ver-
mittelt wird, den Ausdruck Bildung ein, so wäre damit also ein Doppeltes
bezeichnet: i) die besondere Ausgestaltung des inneren Menschen; 2) die
I'ähigkeit, im geschichtlichen Leben des sozialen Ganzen als ein mit-
wirkendes Glied sich zu betätigen.
Was das Erste anlangt, so können wir es als persönliche Bildung Pcrs<miici.e
bezeichnen. Bildung in diesem Sinne bedeutet die volle Entfaltung und ' ' ""^'
Ausgestaltung der ererbten unbestimmten Naturanlage zu einer individuell
ausgeprägten Persönlichkeit. Sie geht auf alle Seiten des menschlichen
Wesens, des leiblichen wie des geistigen, und hier wieder gleicherweise
auf Intelligenz, Wille und Gemüt. Und zwar wird das Wort im präg-
nanten Sinn gebraucht für die vollkommene, die der Idee oder der In-
tention der Natur entsprechende Gestalt: Bildung die Wohlgestalt des
ganzen Wesens (formositas).
Auf eine derartige Bedeutung des Wortes Bildung weisen auch die
Etymologie und die Geschichte hin. Als die ursprüngliche Bedeutung
der Wurzel bil (erhalten auch in Beil) wird angegeben: durch behauen
formen. Von Bild oder Bildwerk kommt dann die Bildung als organische
Gestaltung, die Auswirkung gleichsam des inneren Bildes; endlich ist es
auf den inneren Menschen und s.eine Eormung übertragen. In diesem
Sinne ist es in der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts in den allgemeinen
Sprachgebrauch übergegangen. Es ist ein Lieblingswort Herders und der
neuhumanistischen Pädagogik: Bildung zur Humanität das Ziel aller Er-
ziehung; dann auch Pestalozzis und seiner Jünger: sie setzen die formale
Bildung oder die harmonische Ausbildung aller Anlagen und Kräfte als
das Stichwort der neuen Erziehung der alten Abrichtung und Gedächtnis-
dressur entgegen.
Gebildet wäre hiernach, wer alle natürlichen Anlagen zu menschlicher
\ollkommenheit entwickelt hat, den Leib zum lebenden Werkzeug und
Symbol des Geistes, die .Sinne und den Verstand zu sicherer und freier Er-
fassung des Wirklichen und Wahren, den Willen zum festen, sich selbst
treuen, auf das Gute gerichteten Charakter, das Gemüt zur verständnis-
vollen I-reude an allem, was schön und groß ist. Die ruhige Geschlossen-
heit des Daseins, der sichere Selbstbesitz, die Unabhängigkeit von fremdem
Meinen und Reden wäre nicht der kleinste Gewinn, den wahre Bildung
dem Wesen bringt.
Was das Zweite anlangt, die Ausbildung zur Eähigkeit tätiger ncrufsbiidung
56
l'Kn'liKU u l'Ml.SKN; U;>s nnvclrriK- Hikhinf;s« t-son.
Teilnahnu- an cU-ni Kulturleben der Gesamtheit, so winl sie, wenigstens
in unseren Verhältnissen, ihren Mittelpunkt im Beruf haben. Der
]ieruf ist die Form, wodurch der einzelne der Gesellschaft eingeglie-
dert ist. Durch den Beruf, gleichsam die durch die Gesellschaft erteilte
Vokation, wird ihm seine Aufgabe innerhalb des Ganzen der sozialen
Lebensbetätigung gestellt, die Arbeitsleistung bezeichnet, die sie von ihm
erwartet. Durch den Beruf empfängt aber weit über das Gebiet der
eigentlichen Berufsarbeit hinaus das Leben seine Bestimmung; Familien-
leben und geselliger Verkehr, die Teilnahme am öffentlichen und geistigen
Leben, der ganze geistige und soziale Horizont stehen unter dem Einfluß
des Berufs. Nennen wir daher die Bildung des einzelnen als sozialen
Wesens a potior! Berufsbildung, so würde diese also die Gesamtheit
der Fertigkeiten und Einsichten umfassen, wodurch ihr Inhaber zur voll-
kommenen Lösung aller Lebensaufgaben befähigt wird, die aus seiner
beruflich-sozialen Lebensstellung fließen.
Das wäre der Begriff der Bildung in seiner ursprünglichen und eigent-
lichen Bedeutung. Wozu denn noch zu bemerken ist, daß seine Bedeu-
tung sich mehr und mehr nach der Seite hin verschoben hat, daß der
Schwerpunkt in die intellektuelle Ausbildung fällt: der Ausbau einer
reich entwickelten geistigen Innenwelt das Hauptstück der Bildung. Vor
allem ist in Deutschland der Begriff nach dieser Seite gewendet, oft so,
daß die Entwicklung der Willens- und Gemütsseite daneben ganz zurücktritt.
Folgerungen. Mit unscrcm Begriff der Bildung sind einige Folgerungen gegeben,
die ich andeute.
i) Bildung kann nicht von außen gemacht werden, sie wächst von
innen heraus. So wenig als der Leib durch mechanische Einwirkung- von
außen Gestalt erhalten kann, so wenig der innere Mensch. Nur durch
Betätigung des inneren Formprinzips erwächst, wie organische Form,
so geistige Bildung. Alles was von außen kommt, dient bloß als An-
regung und Material für die spontane Tätigkeit.
2) Bildung besteht nicht in dem Besitz von Kenntnissen, sondern in
dem Besitz lebendiger Kräfte des Erkennens und Wirkens, worin sich die
innere Lebensform betätigt. Unser Sprachgebrauch neigt zu jenem Miß-
verständnis, als ob ein bestimmter Besitz von Kenntnissen die Bildung
ausmache und der Nichtbesitz von ihr ausschließe. Wird doch überall
in Prüfungen, die der Natur der Sache nach wesentlich auf gedächtnis-
mäßig besessene Kenntnisse gehen, der Besitz dieser oder jener all-
gemeinen oder besonderen Bildung festgestellt und in Zeugnissen beschei-
nigt, z. B. daß jemand die „allgemeine Bildung" in der Philosophie oder
der Religion, der Geschichte oder der Literatur nachgewiesen habe. Da-
gegen wird zu sagen sein: Kenntnisse haben für die Bildung nur als
Material Bedeutung; sie dienen der lUldung des inneren Menschen nur
insoweit, als sie in lebendige Form und Kraft umgesetzt sind. Nicht auf
das Viel oder Wenig kommt es an, sondern auf die innere Verarbeitung
II. Das BiUlungswescn und seine Faktoren. 57
und die Kraft der Verwertung. Es kann jemand selbst ohne die Wissen-
schaft der Orthographie ein gebildeter Mensch sein.
3) Es gibt keine allgemeine Bildung, sondern nur eine besondere und
l)(Ts('>iiliche. Und darum geht die Meinung in die Irre, welche die Bil-
dung als eine .\rt geistiger Montur ansieht, die man in h()heren Schulen
oder anderen Bildungsfabriken nach festem Zuschnitt für jeden herstellen
lassen kann. Machte das bloße Wissen die Bildung aus, so möchte es so
sein; denn ein bestimmtes Maß von Wissen läßt sich durch Nachdruck
und Beharrlichkeit zuletzt jedem beibringen und aufnötigen. Aber solches
aufgenötigtes Wissen hat an sich keinen Bildungswert; den gewinnt es
erst durch die lebendige Teilnahme für die Sache, die zu liebevoller
Beschäftigung und Vertiefung führt. Und diese können nicht erzwungen
werden; sie hangen in der Hauptsache von der ursprünglichen Xatur-
ausstattung und der besonderen Richtung der Begabung ab. Wird ohne
Rücksicht hierauf ein kanonisches Maß kanonischer Kenntnisse eingetrieben,
so ist die Gefahr, daß der innere Mensch dabei formlos oder verbildet
wird.
4) Was man „Halbbildung" nennt, das ist im Grunde nichts anderes,
als jene „allgemeine Bildung" selbst, die aus lauter Bruchstücken auf-
genötigter Kenntnisse besteht. Widerwilligen immer wieder vorgesagt
und abgefragt, liegen sie ihnen als eine schwere und unverdaute Last im
Gedächtnis. Halbbildung ist Aufnahme von „Bildungsstoffen" ohne die
Kraft und den Willen zu innerer Aneignung und Assimilation. Ihre Wirkung
ist: Schwächung der Auffassungskraft und des Urteils. Es ist ein wahres
Wort : Dummheit //, non nascitur. Und mit der Schwächung der Urteils-
kraft geht Hand in Hand eine Steigerung der Einbildung; jener spezifische
„Bildungshochmut", wie er durch die Formel: nichts können, nichts lernen
wollen und sich breit machen, beschrieben wird, das ist die der Halb-
bildung anhangende Charakterverbildung. Natürlich, Dinge die keinen
wirklichen Gebrauchswert haben, dienen zur Aufzeigung und zum Prunk;
sie erhalten für ihren Inhaber einen Wert eigentlich nur dadurch, daß
andere sie nicht haben.
11. Das Bildungswesen und seine Faktoren. Träger des Bi^" ,;;fj'„'°^^^,t^J,.
dungswesens im allgemeinen Sinne des Wortes ist die Gesellschaft. Die
Gesellschaft als Kulturgemeinschaft ist die Inhaberin des Kulturbesitzes,
um dessen Erhaltung und Steigerung durch Einbildung in die folgende
Generation es sich bei aller Bildung handelt. In letzter Absicht ist es
die Menschheit selbst, die alli- ihr neu zuwachsenden Glieder in die große
Gemeinschaft ihres geistig-geschichtlichen Lebens hinein erzieht: ist doch
kein \'olk, was es ist, allein aus sich selbst geworden, sondern hat in
tausendfältiger Berührung mit seiner geschichtlichen Umgebung seinen
Lebensinhalt geschaffen. Die beiden großen sozialen F^ormationen, worin
die Gesellschaft die Aufgabe der Erziehung und Bildung des Nachwuchses
= g FkikukK'H Paui.skn: Das moilcrno r>ililunf;s\vcsen.
löst, sind die Familie und die wScliulc. Es sind nicht die einzigen: außer
durch die häusliche Erziehung und den schulmäßigen Unterricht wirkt die
Gesellschaft durch tausend Mittel und Wege formend und bildend auf das
sich entwickelnde Leben der Jugend ein. .Straße und .Spielplatz, Werk-
statt und ^Virtshaus, Zeitungen und Bücher, Theater und .Schaustellungen,
(jeselLschaften und Vereine, Kirche und Predigt, alles was auf die öffent-
liche Meinung und durch sie wirkt, formt von frühester Jugend an die
Empfindung und das Urteil, die Anschauungen und den Willen. Und zu-
letzt übt noch die Erziehung der männlichen Jugend für das Heer und
durch das Heer einen höchst bedeutsamen Einfluß. Indessen finden alle
diese Einwirkungen, abgesehen von der militärischen Erziehung, die aber
wieder, wenigstens in unseren Verhältnissen, außerhalb des Rahmens der
eigentlichen Jugendbildung liegt, mehr zufällig und gelegentlich statt.
Und so bleiben die eigentlichen Träger der Erziehung das Haus und die
Schule.
Die Familie, die erste, auf stärkste Naturtriebe und Naturbande ge-
gründete menschliche Lebensgemeinschaft, der natürliche Ort für die
physische Fortpflanzung der Gattung, ist zugleich der von der Natur selbst
bestimmte Ort für die erste Pflege und Erziehung des Nachwuchses. Es
ist das erste Recht und die erste Pflicht der Eltern, für das leibliche und
geistige Gedeihen der ihnen geschenkten Kinder Sorge zu tragen. Vom
Gesichtspunkt des Gesamtlebens aus kann man die Familie geradezu als
die ursprünglich mit der Erhaltung des geschichtlichen Lebens der Nation
beauftragte Organisation bezeichnen. Und es wird für ein Volk, das Leben
und Zukunft haben will, keine wichtigere Aufgabe geben, als die: die
Familie in ökonomischer, physischer und sittlicher Hinsicht für diese ihr
anvertraute Funktion leistungsfähig zu erhalten.
Gehen wir den Leistungen der Familie näher nach, so finden wir,
daß ihr, außer der leiblichen Pflege und Aufzucht, vor allem auch die
erste Entwicklung des geistigen und sittlichen Lebens zufällt. Von der
Mutter lernt das Kind die Sprache des Volks; die tiefsten, jenseits alles
Bewußtseins liegenden Wurzeln des Zusammenhangs mit dem nationalen
Leben und Empfinden werden hierdurch in seine Seele gesenkt. Zugleich
findet die Einfügung in die Sitte und die sittliche Denkart des Volkes
durch tausend tägliche Winke und Mahnungen, Äußerungen und Forde-
rungen statt. Endlich ist auch heute noch, trotz der Schwächung des
religiösen Bewußtseins, der erste Aufblick zum Göttlichen im Kinde regel-
mäßig an das Wort der Mutter geknüpft. Zu diesen für das geistige
Leben des Kindes grundlegenden Bildungselementen kommt sodann auch
die erste Entwicklung- der wirtschaftlichen Kräfte. Zuerst im Spiel,
das, vielfach die elterliche Tätigkeit nachahmend, so wirksam den künf-
tigen Gebrauch der Kräfte vorbereitet; sodann in der hilfreichen Hand-
reichung, die den Eltern bei der Arbeit geleistet wird. In einfachen Ver-
hältnissen, vor allem im bäuerlichen Leben, bildet dieses Hineinwachsen
11. Das Bil<lun;;swcscn und seine Faktoren.
59
der Kinder in die Arbeitsgemeinschaft mit den Kitern ein überaus be-
deutsames Stück der erziehenden Kraft des Elternhauses, ein Stück jenes
Haussegens, von dem Pestalozzi spricht. Daß es in den großstädtischen
und großindustriellen Verhältnissen mehr und mehr verloren geht, ist nicht
der kleinste unter den Verlusten, mit denen diese Wandlung unser Leben
bedroht.
Zu der häuslichen Erziehung tritt mit steigender Kultur und wachsen- schuie.
der Komplikation aller Verhältnisse als eine notwendige Ergänzung die
Schule. Eine direkte Veranstaltung der Gesellschaft, ist sie überall aus
einem gefühlten Bedürfnis der Gesellschaft her^•orgegangen, vor allem
also dem Bedürfnis, für das, was wir oben die berufliche Bildung nannten,
Fürsorge zu treffen. Es handelt sich dabei in erster Linie stets um die
Ausstattung mit den Kräften, Fertigkeiten und Einsichten, auf denen die
sichere Lösung der durch Beruf und gesellschaftliche Lebensstellung ge-
gebenen Aufgaben beruht. Daher die ersten Schulen meist als Berufs-
und Standesschulen entstanden sind. Was der einzelne oder für ihn die
Eltern von der Schule erwarten, das ist vor allem auch eine Steigerung
seiner gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit, damit auch eine Hebung seiner
sozialen Stellung. In dem Maße, als sich das Schulwesen zu einem natio-
nalen Bildungswesen auswächst, gewinnen allgemeinere Gesichtspunkte
Raum, die Weitung und Vertiefung des geistigen Lebens wird als Selbst-
zweck anerkannt. Doch bleibt jenes Moment wirksam, sichtbar z. B. in
dem Zudrang zu den „höheren" Schulen. Und allgemein bleibt der Grund-
zug, daß die Schule in erster Linie auf die Ausstattung mit Kenntnissen
und Fertigkeiten aller Art gerichtet ist; die sittliche Bildung steht an zweiter
Stelle, sie bleibt der Familie als die ihr besonders befohlene Aufgabe.
Was denn übrigens auch mit der begrenzten Leistungsfähigkeit der Schule
in dieser Absicht, mit der größeren Kraft und Innigkeit der häuslichen
Gemeinschaft zusammenhängt.
Gegeben ist, das will ich noch anmerken, mit dem allen, daß alle Er- Sozialer und
Ziehung und Bildung sozialen und nationalen Charakter hat. Es ist in cha^ra'kt*r"er
jüngster Zeit viel von Sozialpädagogik die Rede. Eine andere Erziehung ' ""^'
und Bildung als eine soziale, Bildung durch die Gesellschaft und für die
Gesellschaft, hat es zu keiner Zeit gegeben, und .so scheint die Freude
an der Entdeckung der „Sozialpädagogik" ein wenig der Freude jenes
Trefflichen zu gleichen, der eines Tages entdeckte, daß er Prosa, wirk-
liche Prosa rede. Höch.stens mag man sagen, daß der Akzent, mit dem
das: für die Gesellschaft, betont wird, nicht immer die gleiche Stärke hat.
Aber tatsächlich war es immer und überall die Gesellschaft, die erzog,
durch die Eltern, soweit sie am Kulturbe.sitz der Gesamtheit Anteil
hatten, durch die Lehrer, die für diesen Beruf eine besondere Ausstattung
mit der Geisteskultur der Zeit empfangen. Und ebenso wurde für die Ge-
sellschaft erzogen: auf irgend eine Wei.se war das ausdrückliche oder
stillschweigends vorausgesetzte Ziel immer, daß der Zögling durch die
6o
Kkikiikuh l'Ari.sKN: Das niodi-iiir Hil(hinf;s\vcsen.
Kr/.i(>huiig- auch an l'ähi.efkcit und Geschick jrewinne, in der J^-bens-
stellung, für die er beslimnit war, zu wirken und sich durchzusetzen.
Nicht ebenso selbstverständlich als das soziale Moment ist das natio-
nale. Ja man kann sagen, daß es erst in der jüngsten Vergangenheit,
erst im lo. Jahrhundert mit stärkerem Nachdrucke betont wird. Den Je-
suitcnscluilen ])tlegt ihr un- oder anti-nationaler Charakter zum Vorwurf
genuicht zu werden. Im tirunde haben sie nur mit Bewußtsein festgehalten,
was bis ins i8. Jahrhundert hinein allgemeine Übung war. Die älteren
Schulen, vor allem die höheren Schulen, gingen nicht auf die Begründung
einer nationalen, sondern einer kirchlich-konfessionellen und einer allge-
mein-humanistischen Bildung aus. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, die
Schüler aus der beschränkten Sphäre der Nationalität, in der die Familien-
erziehung bleibt, in die erweiterte Lebensgemeinschaft des größeren Kultur-
kreises zu erheben, der die gegenwärtige Kulturwelt mit der der alten
Welt zur Einheit zusammenschließt. Und ich möchte sie nicht in jeder
Absicht darum tadeln. War dort die Gefahr einer Unterschätzung des
nationalen Lebens nicht ausgeschlossen, so ist die Überspannung des
Nationalismus eine Gefahr, die uns jetzt bedroht. Fehlt es doch bei
keinem europäischen Volk an Kreisen, die, auf eine niedere und mit dem
Christentum definitiv überwundene Stufe zurücksinkend, das Fremde dem
p>indlichen gleich zu setzen und die heidnische Vergottung des eigenen
Volkes und Staates wieder aufzunehmen sich nicht scheuen.
Die einzelnen IIL D 1 c B 11 d utt gsmitt cl Und ihr Bildungswert. Ein paar An-
Biidnngsn,iitei. ^j^^^^^^^j^ ^^gj. ^jg Mittel der Geistesbildung, wie sie dem Schulunterricht
zur Verfügung stehen, und ihren Bildungswert mögen sich an das übliche
Schema der Einteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissen-
schaften anschließen: es entspricht einigermaßen dem üblichen Unterschied
realistischer und humanistischer Disziplinen. Dazu kommen die formalen
Disziplinen, die mathematischen als das Organon vor allem der Natur-
wissenschaften, die philologischen als das der Geisteswissenschaften.
Daß für die allgemeine Geistesbildung die humanistischen Fächer mit
Einschluß des Sprachunterrichts die erste Stelle einnehmen, kann bei un-
serer Auffassung des Wesens der Bildung als der Erhebung des Indivi-
duums in die geschichtliche Welt oder der Hineinbildung des geistigen
Lebens der Gesamtheit in das Individuum nicht zweifelhaft sein. Freilich
bildet die Eroberung der Natur durch den Menschen, die praktische und
die theoretische Eroberung, ein Hauptstück der Geschichte seiner Kultur,
und so lassen sich denn die beiden Gebiete auf keine Weise auseinander
reißen.
Mu.ie.sprachc. Im Mittelpunkt des Unterrichts wird überall die Muttersprache
stehen; durch sie ist jeder zuerst mit dem Leben des allgemeinen Geistes
verknüpft. Mit Recht gilt daher Sicherheit und Reinheit in ihrem Ge-
brauch, in der Rede und in der Schrift, für das erste Stück der Schul-
in. Die Bildungsmittcl und ihr Bildungswert.
6i
bildung. Die grammatische Anlayse dient zugleich als elementarer Unter-
richt in der Logik; und Proben poetischer und prosaischer Darstellung
führen zuerst in die literarische Welt, in das Verständnis der literarischen
Formen und der sprachlichen Wirkungen ein. Auf höherer Stufe wird
ein Einblick in das geschichtliche Leben der Sprache und das Werden
der geistigen Schätze eines Volkes in dem Wachstum seiner Literatur ein
wichtiges Mittel für die \'ertiefung des \'erhältnisses zum geistigen Leben
des eigenen Volkes. Und andererseits wird fortgesetzte Übung in klei-
neren und größeren Ausarbeitungen darstellender und untersuchender Art
die produktiven Kräfte hervorlocken und nach der logischen wie der
stilistisch-rhetorischen Seite schulen und formen.
Mit dem Unterricht in der Muttersprache zusammen bilden der Reli-
gions- und Geschichtsunterricht eine engere Gruppe. Dem Unterricht in
der Geschichte wird als Ziel gesetzt sein eine übersichtliche Orientierung
über den bisherigen Verlauf der Geschichte des eigenen Volks in seinen
Beziehungen zu der umfassenden Völker- und Kulturgemeinschaft, deren
Glied es ist. Die großen und bedeutenden Momente und die starken
Persönlichkeiten hervorzuheben, die Zeiten geringerer Kraft und Produk-
tivität zurücktreten zu lassen, sie nur, mit Oskar Jägers Ausdruck, zu
punktieren, wird das Recht pädagogischer Didaktik sein; selbstverständlich
ohne das erste Gebot aller Geschichte, das Gebot der Wahrhaftigkeit zu
vergessen.
Die Aufgabe des Religionsunterrichts ist: in der Jugend das
Verständnis für die tiefsten Erlebnisse der Menschenseele, der ein-
zelnen Seele und des Gesamtgeistes vorzubereiten; lebendige Religion
ist die eigentliche geistig-sittliche Substanz des Volkslebens. Zugleich
führt der Religionsunterricht mit Notwendigkeit über die Beschränktheit
des nationalen Daseins hinaus; die großen menschheitlichen Bezieh-
ungen des Volkslebens treten zugleich mit den höchsten Beziehungen des
einzelnen, den Beziehungen zum Göttlichen, in den Gesichtskreis. Kann
so der Religionsunterricht als der erste und wichtigste Unterricht über-
haupt erscheinen, wie er denn auch zeitlich der Ausgangspunkt des all-
gemeinen Schulunterrichts gewesen ist, so wird man darüber einschränkende
Momente nicht vergessen. Zunächst: hier am wenigsten ist es möglich
alles zu sagen; es ist mit der Fassungskraft der Jugend zu rechnen, dem
Mangel an den ernstesten und tiefsten Erfahnmgen des Lebens. Außer-
dem wird der Unterricht bedrängt durch die mit so viel greifbareren und
wuchtigeren Forderungen und Versprechungen auftretenden anderen Fächer.
Kommt dazu, daß der Lehrer kein persönliches Verhältnis zu der Sache
hat oder daß durch die Forderung äußerer Korrektheit die Persönlichkeit
des Lehrers bei diesem allerzartesten und allerpersönlichsten Unterricht
ausgeschaltet wird, so kann, was das Lebendigste und Wirksamste für die
geistige Bildung sein sollte, zum Ödesten und Totesten werden.
In den höheren Schulen nimmt der Unterricht in fremden Sprachen,
clu»'h*.<
Religions-
untenicbt.
Fremde
Sprachen.
62 FRiFDRrcH Pait.rf.n: Das moilcine iiililungswesen.
was die für sie gfcforderte Zeit und Kraft anlangt, überall den ersten
Platz ein. Seine Bedeutung für die geistige Bildung wird vor allem in
die Weitung des Blicks für menschliche Dinge zu setzen sein. Wer die
Sprache eines fremden Volks beherrscht, hat damit die Möglichkeit ge-
wonnen, die eigene Sprache und die eigene geistige Welt objektiv zu
sehen, sie mit jenem „Blick der Entfremdung" zu betrachten, von dem
Schopenhauer spricht. In besonderem Maß gilt das von den alten Sprachen :
wer lateinisch und griechisch liest, ist wie in eine andere Kulturzone ver-
setzt, wo jedes Wort und jeder Begriff fremdartige Bildung zeigt. Ist das
Sicheinarbeiten in diese fremde Welt an sich eine treffliche Gymnastik
aller Geisteskräfte, so belohnt es zug'leich mit dem vertieften geschicht-
lichen Verständnis des Lebens der Gegenwart, dessen tiefere Wurzeln
überall bis in den Boden des Altertums hinabgehen.
Mathcmaiik Das wären die humanistischen Disziplinen. Neben ihnen wird in
und Natur-
wissensriiaft. jedcui Bildungsgang die Gruppe der realistischen Disziplinen, Mathe-
matik und Naturwissenschaft, unentbehrlich sein. Schon darum, weil
sie der Form nach die vollendetsten Wissenschaften sind; es kann keine
Bildungsanstalt auf die Schulung der Anschauung und der Verstandes-
kräfte durch einen elementaren mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterricht verzichten wollen. Und ebenso sind beide durch ihre praktische
Bedeutung eines Platzes in jeder Schule gewiß. Das gilt vor allem vom
Rechnen und der Raumlehre, für die jeder Tag in jedem Beruf Verwen-
dung gibt. Aber auch einige naturwissenschaftliche Erkenntnis wird mit
jedem Jahr, mit jedem Fortschritt unseres wirtschaftlichen Lebens zu einer
unentbehrlicheren Ausstattung für jedermann; an keinem Pimkt will alte
wissenschaftslose Praktik mehr ausreichen.
Zu diesen Notwendigkeiten kommt aber die andere: die Natur ist der
Boden, auf dem sich das geschichtliche Leben entwickelt, sie bildet die
Lebensumgebung und das Arbeitsfeld des Menschen; und darum setzt das
Leben des Geistes auf Erden für sein Verständnis die Orientienmg in der
Natur voraus. Dies gilt für alle Zweige der Naturwissenschaft. Astro-
nomie und Geographie zeigen die tellurisch-kosmischen Beziehungen
des Menschen in anschaulicher Gestalt. Die Geographie ist unmittelbar
wichtig als das verbindende Zwischenglied zwischen Natur und Geschichte.
Die Astronomie, welche die Erde in ihren kosmischen Zusammenhang
einordnet, führt zugleich den Blick über die Erde hinaus in die sichtbare
Unendlichkeit, sie gibt damit dem Empfinden und Denken stärkste An-
triebe zur Erkenntnis der eigenen Beschränktheit und Nichtigkeit, zur
Anerkennung eines Jenseits alles menschlichen Wissens und Denkens. Die
biologischen Wissenschaften stehen wieder in beziehungsreicher Mitte
zwischen Natur und Geist; ihr Gegenstand ist das Leben in seinen un-
zähligen Formen, als deren eine sich auch das natürliche Leben darstellt,
das zum Unterbau des Geisteslebens auf Erden geworden ist. Durch
tausend Fäden innigster Wechselwirkung mit dem physischen Lebens-
III. Die Bildungsmittel und ilii Rildungswert. 63
prozeß verknüpft, wird dieses Leben zum Ausjrangspunkt für jede meta-
physische Deutung der Natur überhaupt. So bilden die biologischen
Wissenschaften zusammen mit den kosmologischen die wesentlichste Unter-
lage jeder Weltanschauung.
Ist der unmittelbare Ertrag der Physik und Chemie in dieser Ab-
sicht geringer, so sind sie dadurch, daß sie die Konstruktions- und Er-
klärungsprinzipien an die Hand geben, wodurch jene beschreibenden
Wissenschaften allein möglich sind, für die Entwicklung der Naturerkenntnis
von absoluter und grundlegender Bedeutung. Und dasselbe gilt von den
mathematischen Wissenschaften; vermehren sie nicht unmittelbar unsere
Erkenntnis der Wirklichkeit, so haben sie indirekt die größte Wichtigkeit;
ohne ihre Hilfe vermögen die physischen Wissenschaften nicht einen
Schritt zu tun.
Seinen Abschluß aber und seine Einheit wird ein auf allgemeine puiiüäopiiie.
Geistesbildung abzielender Unterricht in der Philosophie finden. Auf
das Letzte und Allgemeine gerichtet, zieht sie Verbindungsfäden zwischen
all den zerstreuten Erkenntnissen, die durch die Arbeit der einzelnen
Wissenschaften gewonnen werden, vor allem zwischen dem Universum
in uns und dem Universum draußen, und erneuert so beständig den Ver-
such, in einem einheitlichen Gedankensystem die ganze Wirklichkeit zur
Einheit zu führen.
Genug, um wenigstens andeutungsweise die Stellung der einzelnen
Disziplinen im Ganzer der Bildungsmittel ersichtlich zu machen; genug
auch, um den eifersüchtigen Hader zwischen den Vertretern der großen
Gruppen als Ausfluß jener Beschränktheit erkennen zu lassen, die nur
das Eigene sieht und darum es für das absolut oder einzig Wichtige hält
und gehalten wissen will. Wie Geistes- und Naturwissenschaften überall
aufeinander angewiesen sind, so wird jede echte und umfassende Geistes-
bildung auf beide gegründet sein müssen. Hat der Humanismus recht,
daß die geistig-geschichtliche Welt die eigentliche Heimat des Geistes
und in ihr heimisch werden demnach für die allgemeine Geistesbildung
von elementarster Wichtigkeit ist, so ist andererseits jede Erkenntnis dieser
Welt an die anschauliche Erfaissung dessen, was in Raum und Zeit als
Erscheinung gegeben ist, also an Naturerkenntnis geknüpft. Umgekehrt,
hat der Realismus recht, daß Naturwissenschaft die Unterlage für jede
wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit ist, so beruht andererseits
alle Bedeutung der Wirklichkeit für uns auf dem, was der Geist in der
Geschichte an Lebensinhalt und Lebensgütern schafft.
Für den einzelnen aber, ich wiederhole es, hat den größten Bildungs-
wert die Beschäftigung mit dem, wozu ihn T,ust und Liebe ziehen. Das
kleinste Stück in spontaner Arbeit erworbener Einsicht, es mag sein auf
welchem Gebiet es will, bedeutet für die Bildung des inneren Menschen,
für die Entwicklung der geistigen Kräfte mehr, als eine ganze Last posi-
tiven Wissens, das einem widerwillig durch alle Wissenschaften Gehetzten
64
FRii'.DRirH Paui.skn: Das modcrm- r.ililimf;s\vcscn.
Ästhetische
ItildiinK.
aufgeladen ist. Kin Universalisnius in diesem Sinne, der die freie Betäti-
gung nach individueller Neigung erdrückt, ist der Tod wahrer Bildung.
Noch berühre ich zum »Schluß mit einem Wort die ästhetische Bil-
dung oder, mit jüngstem Schlagwort, die Erziehung zur Kunst. Sie ist
zu aller Zeit als ein nicht unwichtiges Stück der Jugendbildung betrachtet
worden, vor allem Gesang und Musik; sie machten, wie in der griechischen,
so in der auf kirchlichem Grunde ruhenden Bildung ein Hauptstück aus.
Mit ihnen steht die x-Vusbildung der Empfänglichkeit für die Dichtung in
ursprünglichem Zusammenhang. Eür die Erziehung des Auges und der
Hand zur Auffassung und Nachbildung der Form, die dei Unterricht
später aufgenommen hat, ist in jüngster Zeit ein lebhafter Eifer erwacht.
Daß man hier an die natürlichen Kunsttriebe des Kindes Anknüpfung zu
suchen begonnen hat, wird Lust und Liebe und also auch den Erfolg
steigern. Jeder Erfolg aber in dieser Richtung darf als ein bedeutsamer
Gewinn für die persönliche Bildimg des einzelnen und für die Entwicklung
der Künste selbst angesehen werden. Freude am Schönen ist nach alter
Einsicht ein starkes Gegenmittel gegen die Lust am Gemeinen, sie be-
reitet der Freude am Guten den Boden. Und allgemeine Empfänglichkeit
für die Werke der Kunst ist der Boden, in dem alle Künste gedeihen.
Vielleicht ist die Hoffnung nicht ungegründet, daß auf eine überwiegend
intellektualistische Epoche ein kunst- und formfreudigeres Zeitalter zu
folgen im Begriff steht.
Aufbau des
Scliuhvesf'ii?
IV. Schematischer Aufbau eines öffentlichen Bildungswesens
für gegenwärtige Kulturverhältnisse. Indem wir uns nun zur ge-
naueren Betrachtung der wichtigsten unter den Veranstaltungen wenden,
durch die gegenwärtig die Gesellschaft die Erhaltung- ihres Kulturbesitzes
im Wechsel der Generationen sichert, des öffentlichen Bildungswesens,
bezeichne ich zunächst die Aufgabe: es ist ein System von Anstalten zu
schaffen, worin einerseits für die verschieden gearteten persönlichen An-
lagen, andererseits auch für die mannigfaltig gestalteten Berufsarten und
Lebensstellungen die für jede geeigneten Bildungswege und Bildungsmittel
bereit stehen. Die Idealverfassung hätte das Bildungswesen eines Volks
dann erreicht, wenn jedem einzelnen der Weg zu der seinen persönlichen
und beruflichen Bedürfnissen entsprechenden Ausbildung seiner Kräfte
offen stände und erreichbar wäre. Ein Volk, das sein Erziehungswesen
bis zu dieser Vollkommenheit entwickelt hätte, wäre der höchsten ihm
überhaupt erreichbaren Kultur sicher.
Die tatsächliche Gestalt des Bildungswesens wird in der Hauptsache
überall durch die Gestalt der Gesellschaft und ihre Gliederung bestimmt.
Das gesellschaftliche Bedürfnis, für alle Aufgaben des Gesamtlebens aus-
gebildete Kräfte zur Verfügung zu haben, ist der Antrieb zur Errichtung
von Unterrichtsanstalten, der Besitzstand an Kulturmitteln aller Art be-
zeichnet Maß und Grenze des möglichen x\ufwands für die Lösung dieser
IV. Schemalischcr Aufbau eines Öffcntl. Bildungswesens Tür gegcnwarligc Kullurvoihältnissc. 65
gesellschaftlichen Aufgaben. In der Gestalt des öffentlichen Bildungs-
wesens spiegelt sich allemal der Zustand der Gesellschaft, die es hervor-
gebracht hat.
Die Gesellschaft zeigt überall eine doppelte Gliederung: die Gliede-
rung nach der Form der gesellschaftlichen Arbeitsleistung;- und nach den
Besitzverhältnissen. Die erste Gliederung gibt die Teilung in die Be-
rufsstände; aus der Verschiedenheit des Besitzes entspringt die Teilung in
Gesellschaftsklassen. Beide üben auf das Bildungswesen Einfluß; durch
die großen Formen gesellschaftlicher Arbeitsleistung und beruflicher Lebens-
stellung werden im großen die Arten der Unterrichtskurse bestimmt; durch
die Klassenzugehörigkeit oder den Besitzstand der Familien wird in er-
heblichem Maß die Zuteilung der Jugend an die verschiedenen Schulkurse
beeinflußt.
In drei große Berufsgruppen kann man, mit ungefährem Anschlag, Dm n«ufs-
die moderne Gesellschaft aus dem ersten Gesichtspunkt, der Rück-
sicht auf die Form der gesellschaftlichen Arbeitsleistung, einteilen: sie
bedarf und besitzt motorische, disponierende und geistig schaffende und
leitende Funktionen und Organe. Die erste Gruppe umfaßt alle diejenigen,
deren Arbeitsleistung im wesentlichen Körperkräfte und Handgeschick
fordert: hierher wären die industriellen Arbeiter und Handwerker aller
Art, die ländlichen Arbeiter und Kleinbauern, endlich die im Handel und
Verkehr als letzte ausfuhrende Organe Beschäftigten zu stellen. Die zweite
Gruppe umfaßt diejenigen, deren berufliche Arbeit wesentlich in der Lei-
tung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses und der Anweisung und Lei-
tung von Handarbeitern besteht; hier wären die Fabrikanten und Techniker,
die Leiter größerer landwirtschaftlicher Betriebe, die Kaufleute und Ban-
kiers, die höheren Angestellten im Handel und Verkehr, ebenso auch die
Subalternbeamten im Staats- und Gemeindedienst einzuordnen. Die dritte
Gruppe endlich umfaßt die Berufe, die man mit dem Namen der „ge-
lehrten" zusammenzufassen pflegt, Berufe, deren Ausübung die selb-
ständige Erfassung und Weiterbildung wissenschaftlicher Erkenntnis fordert;
es werden dahin gehören die Forscher und Erfinder, dann aber auch die
Inhaber der höheren Stellen im Zivil- und Militärdienst, in Kirche und
Schule, ferner die Ärzte, die Techniker in den leitenden Stellen usw.
Wobei denn auch hier der Vorbehalt gilt, daß die Xatur keine Sprünge
macht, daß auch hier Übergänge und Mittelglieder die begrifflichen Tei-
lungen überall verwischen. Und der fernere, daß die Einteilung niclit zu-
gleich eine Abstufung der Wichtigkeit bedeutet: ein großer Kaufmann
oder Industrieller übt eine soziale Funktion, die an Wichtigkeit der eines
Amtsrichters oder Offiziers unermeßlich überlegen sein mag.
Diesen drei großen, durch die Form der gesellschaftlichen Arbeits-
leistung unterschiedenen Berufsgruppen entsprechen drei große l-ormen
von Schulkursen; sie können heißen: der Kursus der allgemeinen Volks-
bildung, der bürgerlichen und der gelehrten Bildung. Sie sind unter-
1)IB KlLTl'R UKR GbOBSWART. I. I. 5
66
l'iunmicii I'aui.sen: Das moileinc BiUunjjswescii.
Drei Stufen de;
Uuterrichts.
schieden durch die Unterrichtsg-egenständc, durch die Form des Unter-
richts und die dadurch bedingte Dauer des Kursus.
Mit dieser DreiteiUmg kreuzt sich eine andere Dreiteilung, die aus
der Natur des Unterrichts selbst entspringt, die Teilung des Kursus in
Unter-, Mittel- und Oberstufe. Wir können die drei Stufen benennen:
Primärschule, Sekundärschule, Hochschule. Sie kehren in jeder
der drei Kursusformen wieder. Die Aufgabe der ersten wird vor allem
die Einübung der elementaren Fertigkeiten sein, die der zweiten der Auf-
bau der allg"emeinen und grundlegenden Kenntnisse, etwa das, was man
„allgemeine Bildung" zu nennen pflegt, die der dritten die eigentliche Be-
rufsvorbildung, die Fachbildung im Unterschied von der allgemeinen Bildung.
Wir kommen so auf ein neungliedriges Einteilungsschema, das sich
in folgender Weise übersichtlich darstellen läßt; ich setze gleich die bei
uns üblichen Benennungen der Schulformen ein:
1. Berufs gruppc.
[Handarbeit.)
2. Berufsgruppe.
[Disponierende Berufe.)
3. Berufsgruppe.
{Gelehrte Berufe.)
I. Stufe
Primärschule :
Elementarunterricht.
Primärschule :
Elementarunterricht.
Primärschule :
Elementarunterricht.
2. Stufe
Sekundärschule :
Überstufe der Volksschule.
Sekundärschule: Sekundärschule:
Höhere Bürgerschule. Gymnasium.
3. Stufe
Hochschule:
Gewerbliche Fortbildungs-
schule.
Hochschule :
Mittlere Fachschule, Tech-
nikum, Handelsschule etc.
Hochschule :
Universität u. Technische
Hochschule.
Ich füge über die einzelnen Schularten, ihre Aufgaben und ihre Dar-
stellung in dem tatsächlichen Bildungswesen der Gegenwart das Folgende
hinzu:
t) Unterstufe. Der Untcrricht der Primärschule, der Unterstufe aller drei Kurse,
hat zur Hauptaufgabe die Einübung der elementaren Fertigkeiten, die
Voraussetzung für jeden nachfolgenden Unterricht sind, des Lesens, Schrei-
bens und Rechnens. Daneben wird im Anschauungsunterricht erste Er-
weiterung der Sachkunde und Entwicklung der Fähigkeit des Sehens,
Aufmerkens, Beobachtens und Sprechens stattfinden. Das Ziel wird er-
fahrungsmäßig in einem etwa 3- bis 4jährigen Kursus erreicht, so daß
also, den Beginn mit dem Anfang des 7. Lebensjahrs vorausgesetzt, der
Abschluß der Primärschule etwa in das 10. Lebensjahr fiele. Da Gegen-
stände und Methode des Unterrichts auf dieser Stufe für alle Schüler
dieselben sind, so kann der Natur der Sache nach die Primärschule für
die gesamte Jugend des Volkes gemeinsam sein. Die Trennung, wie sie
in Norddeutschland in den sogenannten „Vorschulen" an den Gymnasien
sich durchgesetzt hat, ist nicht aus einer sachlichen Notwendigkeit, son-
dern wesentlich aus der Separationsneigung der oberen Schichten der Ge-
sellschaft entsprungen. Sie wirkt im Sinne der Herabdrückung der allge-
IV. Schematischer Aufbau eines offentl. Bildungswesens Cär gegenwärtige KuUurverhältnisse. 67
meinen Volkschule, indem sie ihr die Kinder und damit zugleich ein großes
Stück der persönlichen Teilnahme der besser gestellten und gebildeten
Familien entzieht. .Sie trägt zugleich zur Überfüllung der höheren Schulen
bei. Die Unterrichtsverwaltung wird daher, wenn sie auch der Errichtung
von Privatschulen für den Klementarunterrirht keine Hindemisse in den
Weg legen wird, keine Ursache haben, die Entstehung besonderer Vor-
schulen zu fordern. Dagegen wird e.s eine Aufgabe der Zukunft sein, für
abnorm angelegte und sittlich verwahrloste Kinder in weiterem Umfang
besondere Erziehungsanstalten zu errichten.
Auf den Elcmentarkursus folgt die Mittelstufe, die Sekundär- 2) -Mittelstufe.
.schule. Hier tritt nun die Notwendigkeit einer Differenzierung hervor;
Unterrichtskurse mit verschiedenem Ziel und verschiedener Dauer fordern
eine verschiedene Anlage schon auf der Mittelstufe. Wir nennen die drei den
großen Berufsgruppen entsprechenden Formen der Sekundärschule mit den
uns geläufigen Xamen: Volksschule, höhere Bürgerschule, Gymnasium. Ihre
Aufgabe wird sein: die grundlegende „allgemeine" Bildung so weit zu
fördern, als es die nachfolgende I-'achbildung verlangt und der mit dem
künftigen Beruf gegebenen Lebensstellung entspricht.
Die Aufgabe der Volksschule wird diesem Prinzip gemäß mit der Volksschule.
l'Ormel umschrieben werden können: ihre .Schüler in der geistigen und
natürlichen Umgebung heimisch zu machen, der sie im Leben angehören
werden, und sie mit den allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten auszu-
statten, welche die nachfolgende Stufe der „Hochschule" voraussetzt und
für die in der künftigen Berufs- und Lebensstellung die Möglichkeit der
Verwendung sich bietet Das Ziel wird zu erreichen sein in einem 4- bis
5 jährigen Kursus, so daß der Abschluß in das 15. Lebensjahr fiele, eine
Zeit, wo der Abschluß auch aus anderer Rücksicht notwendig wird: die
unbemittelte Familie kann den Aufwand für die Erziehung der Kinder
über diese Zeit hinaus nicht tragen. Als Unterrichtsfächer ergeben sich
von hier aus: die Muttersprache und ihre Literatur, soweit sie in diesem
Lebensalter überhaupt behandelt werden kann; das Ziel wäre: die Fähig-
keit verständnisvollen Le.sens und einige Fertigkeit im schriftlichen Ge-
brauch der .Sprache. Der Orientierung in der geistigen Lebensumgebung
dient der Religions- und der Geschichtsunterricht; in das Verständnis der
natürlichen Lebensumgebung führt die Erd- und Himmelskunde, verbunden
mit der Naturkunde, ein; und notwendige Voraussetzungen hierfür, nicht
minder aber auch für die künftige Berufstätigkeit, gibt der Rechenunter-
richt und ein elementarer Unterricht in der Mathematik. Endlich hätten
Gesang- und Zeichenunterricht nebst dem Schönschreiben die Aufgabe,
die vorhandenen Kunsttriebe zu wecken und zu entwickeln.
Der Kursus der höheren Bürgerschule wird um ein paar Jahre Bürgerschule,
ausgedehnter sein mü.ssen und können, also etwa bis zum Abschluß des
16. Leben.sjahrs reichen. Zu den Unterrichtsgegenständen, die er mit der
Oberstufe der Volksschule gemein hat, nur daß das Ziel bei längerer
5*
AO FRlKDiurii I'ai'I.skn: Das nuHlrino RililunRS\v<-sen.
Dauer etwas höher g-esteckt werden kann, treten hier vor allem die neueren
Si>rachen. Der immer mehr sich ausdehnende und steigernde Verkehr mit
den Nachbarvölkern macht für die Inhaber der „bürgerlichen" Berufe einige
Bekanntschaft mit ihrer Sprache unentbehrlich. Zugleich dient die Er-
lernung einer fremden Sprache der Erweiterung des geistigen Horizonts,
der Schmeidigung des Denkens und Sprechens überhaupt. Auch der
mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht wird eine Erweite-
rung erfahren können, wie sie denn auch durch die beruflichen Erforder-
nisse als notwendig bezeichnet wird.
Gymnasium. Die Sekundärschulc für die „gelehrten« Berufe, das Gymnasium,
wird dadurch seinen allgemeinen Charakter erhalten, daß es für ein nach-
folgendes eigentlich wissenschaftliches Studium die Vorschule ist. Der
Unterricht wird also hier, namentlich auf der Oberstufe, sich als eine Vor-
übung für eigentlich wissenschaftliches Arbeiten gestalten müssen, wie es
auch das Eebcnsalter der Schüler zuläßt und fordert. Da die wissen-
schaftlichen Studien in zwei große Zweige sich spalten, in philologisch-
historische und mathematisch-naturwissenschaftliche, so wird diese Spaltung
schon auf die Vorstufe zurückwirken; ein „humanistisches" Gymnasium
wird für alle Studien überwiegend historischen Charakters, d. h. für alle
Zweige der Geisteswissenschaften, ein „realistisches" für die auf Mathe-
matik und Naturwissenschaft gegründeten Studien die angemessene Vor-
bereitung bieten. Neben einem breiten Gemeinbesitz, der ihnen übrigens
auch mit der Volks- und Bürgerschule gemeinsam ist, wird auf dem huma-
nistischen Gymnasium die Erlernung der alten Sprachen als das besondere
Hauptstück hervortreten; sie wird gefordert durch den innigen geschicht-
lichen Zusammenhang, in dem die moderne Geisteskultur, unsere Religion
und unser Recht, unsere Literatur und unsere Wissenschaft, mit dem
griechisch-römischen Altertum steht. Im „Realgymnasium" werden die
Grundlagen der exakten Wissenschaften breiteren Raum einnehmen; da-
neben wird das Studium der modernen Sprachen und Literaturen den er-
weiterten historischen Horizont geben. Die moderne Kultur als eine von
den führenden Völkern Europas im Verlauf der letzten Jahrhunderte er-
worbenes Gemeingut zu verstehen, das wäre das Ziel. Sodann wird einige
Kenntnis der lateinischen Sprache als ein zur Zeit unentbehrlicher Schlüssel
zum Verständnis der älteren, lateinisch redenden Geschichte und Wissen-
schaft den Schülern mitgegeben werden müssen; wie sie denn auch
durch die Rücksicht auf die Abstammung der modernen Fremdsprachen
und die Herkunft eines großen Teils der unentbehrlichen Fremdwörter
unserer Sprache aus der lateinischen empfohlen wird. Zugleich wird die
Erwerbung dadurch so erleichtert, daß ein mit bescheidenen Zielen rech-
nender Unterricht keine über das Maß des Möglichen herausgehenden
Anstrengungen fordert.
Ich schalte hier die Bemerkung ein; für die tatsächliche Gestaltung
des deutschen Gymnasialwesens ist es bezeichnend, daß das Gymnasium
IV. Srhematischer Anflniii eines öflTenll. Bildungswesens für gcgenwürli^jc Knlturvcrhältnisse. 6q
in weitem Umfang zugleich als höhere Bürgersrhulc dient. Wie schon
die alte Lateinschule vom i6. bis i8. Jahrhundert nicht bloß (ielehrten-,
sondern zugleich Bürgerschule war, so ist es das Gymnasium im uj. Jahr-
hundert geblieben; seine unteren und mittleren Klassen werden über-
wiegend von Knaben besucht, die nicht für wissenschaftliche Studien
bestimmt sind und deren Schulkursus etwa mit dem i6. Lebensjahr ab-
schließt. Die Lntwicklung des Berechtigungswesens, besonders zum ein-
jährigen Militärdienst, hat die alte Gewohnheit neu befestigt. Und schwerlich
wird es den neuen „Realschulen" gelingen, sie zu beseitigen; die äußere
Unmöglichkeit, in kleineren Städten mehrere Formen höherer Schulen zu
erhalten, noch mehr das Verlangen, an der sozialen Distinktion teil zu
haben, die das Gymnasium verleiht, wird die alte Vermischung erhalten,
sowenig sie an sich wünschenswert ist: die Schüler haben einen in der
Mitte abbrechenden Kursus, die Gymnasien gedoppelte und mit ungeeig-
neten Elementen überfüllte Unter- und Mittelklassen, wodurch zugleich
der Zuschnitt und die Leistungsfähigkeit der Anstalten und die Stellung
der Gelchrtenschullehrer eine Herabsetzung erleidet.
Auf den Abschluß der Mittelstufe folgt die Oberstufe, die Hoch- j) Oberstufe,
schule, und zwar für alle drei Kurse. Ihre Aufgabe ist: ihre Schüler
auf Grund der auf den beiden ersten Stufen gewonnenen elementaren
und allgemeinen Bildung mit den besonderen Einsichten und Fertigkeiten
auszustatten, die der Beruf und die durch ihn bestimmte Lebensstellung
fordert. Hier wird daher die Differenzierung noch entschiedener als auf
der zweiten Stufe hervortreten.
Am frühesten und bestimmtesten ist die Oberstufe für die „gelehrten" Universitäten
Berufe ausgebildet worden; sie hat daher den Namen der „Hochschule" "HochscbS."
für sich allein in Beschlag genommen. Hier treten nun so viel Hoch-
schulen hervor als Formen des Berufs. Die ältesten sind die vier Fakultäten
unserer Universitäten. Es sind in Wahrheit so viel wissenschaftliche Fach-
schulen für die Berufe des Geistlichen, des Juristen, des Arztes, des
Lehrers; sie sind in der Universität zu einem korporativen Verband zu-
sammengeschlossen, dessen innere Einheit jetzt freilich mehr auf geschicht-
licher als auf sachlicher Notwendigkeit beruht, so große Ursache im
übrigen das deutsche Volk hat, sich zu beglückwünschen, daß seine Uni-
versitäten den alten Zusammenhang festgehalten haben und nicht in iso-
lierte Fachschulen, wie die französischen, zersplittert worden sind. Zu
diesen ersten wissenschaftlichen Fachschulen hat das ig. Jahrhundert eine
Fülle neuer hervorgebracht, vor allem die „Technischen Hochschulen",
deren „Abteilungen" den Fakultäten entsprechen. Ferner die „Akademien"
aller Art: für I'orst- und Bergwissenschaften, für Kriegs- und Handels-
wissenschaften. Daneben stehen auch die Akademien für die verschiedenen
Künste.
Die Oberstufe für die beiden andern Berufsgruppen ist später ent- Die miuicren
wickelt, oder vielmehr ist überall erst in der Entwicklung begriffen. Schulen.'
scbule
.,Q Krikukich Paulsen: Das iiiudemc Uildungswcsen.
Das allgomrino Cicsotz, daß die Bildung von oben nach unten sich aus-
breitet, gilt auch hier. Die Notwendigkeit einer schulmäßigen Vorbildung
für den Beruf ist hier erst im k). Jahrhundert fühlbarer geworden, früher
wurden die nötigen Berufskenntnisse im Beruf selbst, in den man als
Lehrling eintrat, gelernt. Die jüngste Entwicklung des technisch -wirt-
schaftlichen Lebens hat überall zu einem tieferen Eindringen der Wissen-
schaft in die Praxis geführt; der Besitz nur schulmcäßig zu erlernender
Kenntnisse hat damit an Wichtigkeit für die Arbeitsleistung beständig
gewonnen. Aus diesem Bedürfnis sind die zahlreichen Eormen der „Each-
schulen" hervorgegangen, die dem Unterrichtswesen der zweiten Hälfte
des verflossenen Jahrhunderts das Gepräge geben, die Gewerbe-, Industrie-,
Handels-, Landwirtschaftsschulen aller Art, die für die höheren bürger-
lichen Berufe die fachmäßige Ausstattung geben. Die deutschen Länder
haben diese Notwendigkeit am ersten begriffen; sie verdanken es nicht am
wenigsten dieser Erkenntnis, daß sie den gewaltigen Vorsprung auf fast
allen Gebieten der wirtschaftlichen Produktion, den die westlichen Völker
am Anfang des Jahrhunderts vor ihnen voraus hatten, in so kurzer Zeit
wettzumachen imstande gewesen sind.
Fortbiidungs- Am Weitesten ist die Oberstufe für die dritte Berufsgruppe , für die
Berufe der Handarbeit, davon entfernt, gesicherten Bestand, oder auch nur
sichere prinzipielle Stellung gewonnen zu haben. Ja man kann sagen, sie
hat erst eben begonnen, als eine eigentümliche und notwendige Aufgabe
der Gesellschaft erfaßt zu werden. Die alte „Fortbildungsschule", die auf
den Abschluß der Volksschule hie und da folgte, war vielfach nicht mehr
als ein dürftiger Anhang dieser, ohne festen Bestand und ohne festes Ziel,
ihre Absicht oft auf nichts anderes gerichtet, als die in der Volksschule
erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten in der nachfolgenden schullosen
Zeit ein w-enig aufzufrischen und vor völligem Vergessen zu bewahren.
Erst in jüngster Zeit ist, im Zusammenhang mit dem Durchdringen des
sozialen Gedankens, die hier \orliegende Aufgabe bestimmter in den Ge-
sichtskreis getreten. Es handelt sich darum, auch an die Volksschule eine
Oberstufe, den „Hochschulkursus", anzugliedern mit der Bestimmung, die
dort erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten zu entwickeln und fruchtbar
zu machen für die Lösung der mannigfachen besonderen Aufgaben, die
Beruf und Lebensstellung einem jeden bringen. Auch für den einfachen
Handwerker und Industriearbeiter, für den Bauer und selbst den ländlichen
Arbeiter werden die Aufgaben, die das wirtschaftliche und gesellschaft-
liche Leben stellt, immer mannigfaltiger und verwickelter; er bedarf, um
seine Arbeitsfähigkeit voll zu entwickeln, andererseits um sich als ein
selbständiges Glied der Gesellschaft durchsetzen zu können, einer Fülle
von Kenntnissen und Fertigkeiten, die ihm die Volksschule nicht zu
geben vermag. Man denke nur an die neuen technischen Arbeitsformen
und Arbeitsmittel, die überall zur Verwendung kommen, oder an das so
erstaunlich rasch entwickelte Genossenschaftswesen und die neuen Auf-
IV. Schematischcr Aufbau eines öffentl. Bildungswesens für gegenwärtige Kulturverhältnissc. 7 i
gaben, die hier in der Organisation und Verwaltung gemeinsamer Ange-
Icgonhoiton gestellt sind; endlich auch an die neue Stellung im politischen
Leben, die von den Massen im letzten Menschenalter erobert worden ist.
Und auch die volle militärische Brauchbarkeit setzt in immer steigendem
Maße eine erweiterte Schulbildung voraus.
Es wird keinem Zweifel unterliegen, daß der mit dem 14. Lebensjahr ihre Aufgübfn
abschließende Unterricht der Volksschule diesen unermeßlich gesteigerten
Anforderungen nicht mehr genügen kann. Ein nach den Berufen differen-
zierter gewerblicher Unterricht, der natürlich nicht auf bloßes Buchwissen
sich beschränkt, sondern vor allem nui Fertigkeiten und praktisches
Können sich richtet, an Auge und Hand sich wendet, der andererseits
auch die notwendigsten Elemente kaufmännischen Wissens in sich auf-
nimmt, femer ein staatsbürgerlicher Unterricht, der über Rechte und
Pflichten des Staatsbürgers, über Aufgaben und Mittel des Staats und
seiner Tätigkeit nach innen und nach außen, über die ersten Grundzüge
des bürgerlichen und des .Strafrechts sowie des Rechtsverfahrens die heran-
wachsende Generation belehrt, sind zu einer Notwendigkeit geworden.
Vielfach wird auch schon einige Kenntnis einer Nachbar.sprache zu den
envünschten oder nicht entbehrlichen Dingen gezählt werden müssen. Alle
diese Dinge sind aber erst in einem fortgeschritteneren Lebensalter mög-
lich, als es in der Volksschule erreicht wird; vielleicht kann ein solcher
Unterricht überhaupt erst dann recht fruchtbar werden, wenn das Leben
in wirkliche Berührung mit den Aufgaben bringt, für die der Unterricht
Voraussetzungen und Hilfen zu bieten hat; das Interesse wird erst dann
recht lebendig, wenn die Anwendung in den Gesichtskreis tritt. Die Er-
füllung aber dieses Bedürfnisses wird in mannigfaltiger Gestalt, ent-
sprechend den Verhältnissen der einzelnen Berufe und den örtlichen Mög-
lichkeiten, geschehen können: in eigentlichen „Fortbildungsschulen", aber
auch in besonderen Kursen oder in „Volkshochschulen" nach dem Vor-
bild der Anstalten, die bei den nördlichen Nachbarvölkern sich so glück-
lich entwickelt haben.
Übrigens ergabt sich die Notwendigkeit eines solchen auf die Volks- ihre NotwcndiK-
schule folgenden „Hochschulunterrichts" auch aus einem andern Gesichts-
punkt. Die erziehende Kraft des Hauses und der engeren gesellschaftlichen
Kreise, der Lehr- und Dienstherrschaft, ist unter dem Einfluß der neuen
großindustriellen und großstädtischen Lebensformen im Abnehmen, wie
denn die alten, dauernden Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnisso überall
in der Auflockerung begriffen sind. Vielfach tritt die Jugend mit der
Entlassung aus der Volksschule in eine Zeit absoluter Ungebundenheit
ein, die bei der Unberatenheit und Hilflosigkeit des einzelnen leicht zur
Zucht- und Zügellosigkeit wird. Die kritischen Jahre, die zwischen der
Schulzeit und der militärischen Dienstzeit liegen, sind, namentlich in der
Großstadt, von allem, was bindet und hält und aufrichtet, am mei.sten ent-
blößt, Jahre leerer Freiheit, in denen, was in den vorangegangenen Schul-
», Fkikdruh 1'aii.skn: Das nioilpinc HiUlTiiifjswoscn.
jähren mit Mühe ;iufgebaut wurde, verwüstenden Einflüssen von allen
Seiten her ausgesetzt ist. Auf der andern Seite sind aber diese Jahre
eine Zeit größter Empfänglichkeit; die intellektuellen Triebe, die bisher
mit dem bloßen Lernen befriedigt waren, gehen jetzt auf freiere und
selbsl;indiger(> Betätigung; die praktischen Aufgaben, vor die das Leben
stellt, lassen den Wert der Kenntnisse in neuem Lichte erscheinen; auch
die Neigung zum Nachdenken über Welt und Leben beginnt sich zu
regen: es gibt keine dankbarere Aufgabe, als diesen Trieben Nahrung
zuzuführen und die schwankenden Versuche eigener Gedankenbildung mit
leise leitender Hand zum rechten Ziel zu führen.
Freilich sind die Schwierigkeiten, die es hier zu überwinden gilt,
nicht gering. Nicht nur, daß guter Wille nicht überall vorausgesetzt
werden kann, auch die Einengung durch die Berufsarbeit maclit sich
geltend; denn der Beginn der beruflichen Lehrzeit wird allerdings, aus
äußeren, aber auch aus inneren Gründen nicht weiter hinausgeschoben
werden können. Die „Fortbildungsschule" wird also mit starken Hem-
mungen, die aus Ermüdung und Freiheitsbedürfnis ihrer Schüler, aus Be-
quemlichkeit und auch wohl aus Unverstand und Rücksichtslosigkeit der
Arbeitgeber fließen, zu rechnen haben; ohne gesetzliche Verpflichtung
werden diese Widerstände nicht zu überwinden sein. Und die notwendigen
Mittel und Kräfte zu beschaffen, wird auch nicht überall eine leichte Auf-
gabe sein. Dennoch zweifle ich nicht daran, daß die Sache kommen
wird. Die Vernunft, die in den Dingen ist, wird das Notwendige auch
hier herbeiführen. Haben die beiden vorigen Jahrhunderte mit großer
und rühmlicher Anstrengung die zweite Stufe, die allgemeine Volksschule
ausgebaut, so werden die folgenden die Aufgabe nicht ablehnen können,
die abschließende Stufe hinzuzufügen.
Zeugnis der Man könnte die ganze bisherige Entwicklung zum Zeugnis für diese
Voraussicht anrufen. Die Geschichte des Bildungswesens zeigt überall
denselben Verlauf: Durchdringen der Bildung und der Bildungseinrich-
tungen von den oberen Gesellschaftsschichten zu den unteren. War im
Mittelalter bloß für die Berufsbildung eines Standes, des geistlichen, durch
öffentliche Anstalten gesorgt und hatte dementsprechend das Bildungs-
wesen und das Bildungsideal einen klerikalen Charakter, so hat die Neu-
zeit auch für den zweiten und dritten Stand, für den weltlichen Herren-
stand und für die bürgerlichen Berufe, Fachbildungsanstalten mit modern-
weltlichem Zuschnitt geschaffen: ich denke an die „Ritterakademien" und
Kadettenhäuser, an die moderne juristische Fakultät, die seit dem 17. Jahr-
hundert zur Berufsbildungsanstalt für den Herrenstand wurde und dem-
gemäß ein höfisches und kavaliermäßiges Wesen annahm. Daran schließt
sich dann die Entwicklung im 19. Jahrhundert; sie zeigt eine ausgeprägt
,bürgerliche" Tendenz, wie im öffentlichen Leben überhaupt, so auch im
Bildungswesen: die Neugestaltung der Universität und der Gelehrtenschule,
die Entwicklung der Realschule und des „technischen" Bildungswesens,
IV. Schcmatischer Aufbau eines öffend. Bildungswesens für gegenwärtij;'' Kulinrvi-ihäUnissc. yj
alles weist in dieselbe Richtung: zunehmende Bedeutung des dritten
Standes, wachsende Ausbreitung der Hochschulkurse für die Gesamtheit
der bürgerlichen Berufe, fortschreitendes Durchdringen eines „bürger-
lichen" Bildungsideals. Ist eine Konsequenz in den Dingen, so würde
darnach zu erwarten sein, daß die Entwicklung in derselben Richtung
weiter verlaufend in der Zukunft den „vierten Stand" erreichen wird. Daß
dieser im Aufsteigen ist, daß er an Bedeutung für unser gesellschaftliches
Leben gewinnt, ist ja eine zweifellose Tatsache. Die Folge wird sein,
daß er auch an der geistigen Bildung in steigendem Maße Anteil gewinnt.
Es wird eine fortschreitende Annäherung der Bildungsstufen, eine Aus-
gleichung der Bildungsunterschiede stattfinden, nicht durch Herabdrückung
der höheren, sondern durch Emporbildung der niederen Stufen zu immer
vollerer Teilnahme an dem gesamten geistigen Leben. Der Verbreiterung
und Vertiefung der allgemeinen Volksbildung wird allerdings von oben
entgegenkommen die fortschreitende Nationalisierung und Modernisierung
der „höheren" Bildung, wie sie die Entwicklung des G3mnasialwesens
im letzten Menschcnalter beherrscht. Auch auf die steigende Bedeutung
des Realistischen und Technischen im höheren Unterricht wäre hinzu-
weisen; und die Zunahme von Sport und Spiel und Leibesübungen weisen
in dieselbe Richtung; die in sich versunkene Buchgelehrsamkeit der alten
Gelehrtenschule weicht überall einem neuen Tj^pus. Als Ziel der Be-
wegung stellt sich von hier gesehen dar: eine einheitliche Volksbildung
auf modern-nationaler Grundlage, an der alle Glieder des Volkes, wenn
auch mit verschiedener Kraft und in verschiedenem Maß, Anteil haben.
Die jüngste Ausgestaltung der Seminare für Volksschullehrer, die fort-
schreitende Vertiefung der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrer, die
Annäherung an die Universitätsbildung ist ein höchst bemerkenswertes
Moment in dieser Bewegung. Auch in den überall hervortretenden Be-
strebungen zur Ausbreitung der Universitätsbildung durch das Angebot
„volkstümlicher Hochschulkurse" und in der Aufnahme, die das Ange-
bot findet, sehen wir von beiden Seiten ausgestreckte Hände sich be-
gegnen.
Was hier in unserer Betrachtung unter einer „Volkshochschule« ver-
standen wird, ist allerdings etwas anderes als solche gelegentlichen Be-
lehrungen durch Vorträge. Es wird sich vor allem und zunächst um
einen wirklichen, systematischen und schulmäßigen Unterricht handeln.
Und der Charakter dieses Unterrichts müßte ein praktisch -realistischer
sein. Nicht um bloße Erweiterung der allgemeinen Bildung, oder um
eine halb spielende Unterhaltung wird es sich handeln, obwohl auch
diesen Dingen ihr Recht nicht bestritten werden soll, sondern um „reelles"
Wissen, ein Wissen, das dem Können dient. An „papiernem" Wissen
haben wir vielleicht ohnehin schon da und dort ein Übermaß: an Wissen,
das im Können sich bewährt und zugleich vertieft, kann niemand zu viel
haben. Und von hier aus wird nun auch die Form des Unterrichts auf
•JA l'RlKi^KKH I'aulskn: Das niodeinc RildunKswescn.
dieser Stufe bestimmt .sein: die selbsttätig'e Lösung von Aufgaben wird
die Form des Lernens, das Finden und Stellen solcher Aufgaben, das
Ermutigen und Anleiten bei ihrer Lösung die Form des Lehrens sein.
Ein Wort Goethes, dessen Gedanken über Erziehung ganz im Sinne
eines solchen praktischen Realismus sich bewegen, ist der „Volkshoch-
schule" besonders gesagt: das Geheimnis des Unterrichts sei: Probleme
in Postulate zu verwandeln.
Das wäre das Schema eines Bildungswesens, wie es durch die gegen-
wärtigen Kulturverhältnisse zugleich gefordert und ermöglicht zu werden
scheint.
Notwcidigkeit Ich füge noch eine Anmerkung hinzu. In der vorstehenden Betrach-
sozialer Diffe-
renzierung des tung- ist vorausgesetzt, daß sich die Ausbildung des einzelnen auch seiner
Schulunterrichts. ,
künftigen Berufstätigkeit und gesellschaftlichen Lebensstellung anpassen
müsse. Es gibt eine Ansicht, die diese Rücksichtnahme im Prinzip ver-
wirft; man begegnet ihr wohl in den Kreisen eines verstiegenen Ideali.s-
mus oder auch eines demokratischen Radikalismus. Sie fordert gleiche
Bildung für alle, ohne Rücksicht auf soziale und berufliche Unterschiede;
die Erziehung habe es mit dem Menschen, nicht mit künftigen Professio-
nisten oder mit Angehörigen sozialer Klassen zu tun; die Natur wisse
nichts von solchen Unterschieden, sie statte die Menschenkinder mit
gleichen Gaben aus und habe sie zu gleicher Vollkommenheit geistig-
sittlicher Bildung bestimmt.
Demgegenüber wäre zu erwidern: die Gleichheit der Bestimmung
in Ehren, aber sie kann nicht Gleichförmigkeit der geistigen Bildung be-
deuten. Und die Lehre von der natürlichen Gleichheit ist eine willkür-
liche und falsche Annahme; daß höchst bedeutsame Unterschiede in der
Begabung und den Neigungen stattfinden, darüber kann sich nur täuschen,
wer die Augen einem Dogma zulieb vor der Wirklichkeit verschließt.
Sind aber derartige Unterschiede vorhanden und werden sie, soviel uns
vorauszusehen gestattet ist, durch keine weitere Entwicklung-, etwa der
gesellschaftlichen Verfassung, ausgelöscht werden (die natürliche Ent-
wicklung weist vielmehr überall auf zunehmende Differenzierung hin), so
werden auch Bildungsmittel und Bildungsgang diesen Unterschieden der
Naturausstattung soviel als möglich anzupassen sein: gleiche Ausbildung
von Natur Ungleicher muß auf der einen oder der andern vSeite zur Verbil-
dung, zur Überbildung, zur Halbbildung führen.
Kann hierüber nicht füglich Meinungsverschiedenheit stattfinden, so
kann es dagegen als fraglich erscheinen, ob auch die sozialen Unterschiede
ein Recht haben, Verschiedenheit der Bildungswege zu begründen. Daß
sie es tun, daß sie in Wirklichkeit vielfach die ausschlaggebende Stimme
bei der Wahl des Bildungskursus haben, ist gewiß; aber sollte es nicht
anders sein? sollten nicht allein die natürlichen und individuellen Unter-
schiede hier entscheiden? — Ich würde doch sagen: solange die sozialen
Unterschiede vorhanden sind, werden sie nicht nur, sondern müssen sie
V. Überblick üb. d. öffcnll. Verfassung des Bildungswesens in seiner geschichtl. Kntwicklung. 75
auch einen Einfluß auf die Erziehung und Bildung der einzehien aus-
üben. Für jemand, der in der Folge durch die sozialen Verhältnisse in
Beruf und Lebensstellung eines Handarbeiters festgehalten wird, wäre es
auf ki'inc Weise ein Gewinn, wenn er die Schulbildung eines Gelehrten
empfangen hätte: sie würde sein Leben nicht heben, sondern erschweren;
nur wenn es mciglich wäre, ihn einem Beruf zuzuführen, der für die er-
worbenen Kenntnisse und Fertigkeiten Gelegenheit zur Verwendung böte,
bedeuteten sie für ihn einen wertvollen Besitz. Also, nur in dem Maße,
als die Berufswahl von der sozialen Herkunft unabhängig wird, wird auch
die Ausbildung des einzelnen, unabhängig von der Lage der Familie, aus
der er stammt, allein nach seinen persönlichen Anlagen bestimmt werden
können. Daß die Gesellschaft im ganzen, trotz zeitlicher Schwankungen,
in der Richtung sich bewegt, daß die Abhängigkeit der Berufs- und
Lebensstellung von der Herkunft abnimmt und dagegen die Bedeutung
persönlicher Begabung und Willensenergie zunimmt, erscheint mir als
eine glaubliche Ansicht. Auf jeden F'all wird es zu wünschen sein. Denn
das ist nicht zu verkennen: die Alleinherrschaft des sozialen Prinzips in
der Bestimmung des Bildungsweges, die Vernachlässigung des persönlichen
Moments führt vielfach zu Verkümmerung und Vorbildung. Auf der
einen Seite gehen Talente aus Mangel an Ausbildung sich selber und
dem Ganzen verloren, auf der andern werden Individuen, die von der
Natur für einfache Handarbeit bestimmt waren und darin vollkommene
Befriedigung gefunden hätten, zu ihrer eigenen und aller Welt Plage
durch die höhere Schule getrieben, um dann ihr Leben lang in falscher
Stellung zu sein und sich zu fühlen. Freilich wird man nicht erwarten
dürfen, daß jemals du- Aufgabe der rechten Wahl des Bildungsganges
für den einzelnen ohne Rest aufgehen wird; sie würde es auch dann
nicht, wenn einmal soziale Hemmungen und Vorurteile gar nicht mehr
sich geltend machen sollten, schon um der Unmöglichkeit willen, die An-
lagen auch nur mit einiger Zuverlässigkeit gleich am Anfang zu be-
stimmen, oder gegen nachfolgende Wandlungen in den Neigungen und
Befähigungen Sicherheit zu geben.
V. Überblick über die öffentliche Verfassung des Bildungs- Familie und
° bchulc.
Wesens in seiner geschichtlichen Entwicklung. Ich gehe aus von
dem Entwurf eines Schemas des Möglichen. Eine .Schule kann man er-
klären als eine Anstalt, worin eine Vielheit von Lernenden durch einen
Lehrer oder ein Kollegium von Lehrern in systematischem Stufengang zu
einem bestimmten Bildungsziel geführt wird. Der Unterricht hat nicht not-
wendig diese F'orm; er kann auch in der F'orm des Einzelunterrichts stattfin-
den, wie es in der F'amilie durch die Eltern oder einen „Hauslehrer" ge-
schieht. Die Schule wird hervorgebracht durch die Gleichartigkeit des Be-
dürfinisses und die Vorteile gemeinsamer Befriedigung: einerseits Arbeits- und
Kostenerspcirnis, andererseits Belebung des Interesses in der Gemeinschaft.
r() l'Kii' DKK II Tailskn: Das moilevnc Hilcluti),'swcscn.
Dif Scluilo kann nun mit Hinsicht aut ihre \\ irlschaftHch-gpspllsc-haft-
Hche \'crfassung zwei Grundformen haben: sie k£inn entweder als Privat-
unternehmung" von einzahlen ins Leben gerufen oder als öffentliche Ver-
anstaltung von einer öffentlichen Körperschaft gegründet werden. Im
ersten hall kann sie wieder entweder als wirtschaftliche Unternehmung
eines Lehrers, der auf eigenes Risiko eine Schule auftut, oder als Unter-
nehmung einer Vereinigung oder einer Körperschaft, die Lehrer annimmt,
vielleicht unterstützt durch Stiftungen, entstehen. In diesem Fall kommen
in unserer geschichtlichen ^Vclt im wesentlichen drei öffentliche Körper-
schaften in Betracht: Gemeinde, Staat und Kirche.
So das Schema. Seine Erfüllung mag nun die geschichtliche Über-
sicht zeigen.
Die Aufziehung des Nachwuchses liegt ursprünglich in der Hand der
Lamilie; die Kinder wachsen durch die Familie in das Leben der Gesamt-
heit hinein. Demgemäß setzten wir oben die Bedeutung der Familie für
das Volksleben eben darein, daß die Erhaltung des nationalen Art-
t3'pus nicht bloß in physischer, sondern vor allem in geistiger Hinsicht
ihr anvertraut ist; die physische Fortpflanzung wäre auch ohne sie mög-
lich, die Fortpflanzung von Sitte, Sprache und geistiger Art wird erst
durch das dauernde Gemeinschaftsleben der Familie gesichert.
Der Staat. Bei aufsteigender Kulturentwicklung wird eine Ergänzung- der Kräfte
der Familie für diesen Zweck mehr und mehr zur Notwendigkeit. In
erster Linie ist es die kriegerische Ausbildung der männlichen Jugend,
die eine solche fordert. So ist auf dem Boden der griechischen Welt in
den vom Staat geschaffenen und unterhaltenen Gymnasien in großem
Stil für die Heranbildung der Jugend zu männlicher Kraft und Tüchtigkeit
öffentliche Fürsorge getrolTen. Bei höherer Entwicklung des geistigen
und wirtschaftlichen Lebens wird auch ein systematischer Unterricht un-
entbehrlich, den die Familie mit den eigenen Kräften zu bestreiten in
der Regel nicht in der Lage ist: so entsteht die Schule. In der alten
Welt blieb sie im wesentlichen der Privatuntemehmung überlassen,
wenigstens der Elementarunterricht; für den höheren Unterricht, in der
Beredsamkeit und Philosophie, wurden in späterer Zeit öffentliche Lehrer
von der Stadt oder dem Staat bestellt.
Die Kirche. Seit der Überwindung der alten Welt durch das Christentum tritt
eine neue Form organisierten Gemeinschaftslebens auf den Plan: die
Kirche. Sie hat seitdem in Konkurrenz und oft im Kampf mit dem
Staat das geschichtliche Leben bestimmt. Besonders nahe berühren sich
die beiden Gewalten im Gebiet des Erziehungswesens. Zunächst nahm die
Kirche, die Inhaberin der geistlichen Gewalt und der Lehre, die Erziehung
als ein Stück der ihr befohlenen cura ajiünaruiu in Anspruch, und der
mittelalterliche Staat, der sich in der Hauptsache auf das Gebiet der
kriegerischen Selbsterhaltung nach außen und der F'riedensbewahrung
nach innen beschränkte, hatte weder die Fähigkeit noch den Willen,
V. Überblick üb. d. öfTfntl. Verfassung des Bildungswesens in seiner geschichtl. F.nlwicUhing. n-j
diesen Anspruch, oder vielmehr dieses Angebot abzulehnen. Als aber in
der Neuzeit der Staat sich zu der alle Kulturaufg-aben umfassenden Form
des Gemeinschaftslebens ausbildete, wurde es ihm mehr und mehr unmög-
lich, das Erziehungs- und Bildungswesen der Kirche zu überlassen; er
konnte die Ertullung so bedeutender, für alle T.ebensgebiete, auch das
wirtschaftliche und militärische Gebiet, wichtiger Aufgaben nicht mehr
von der Einsicht und dem freien guten Willen einer fremden Macht ab-
hangen lassen. Kann gar das Verhältnis zu dieser fremden Macht ein
gespanntes oder feindliches werden, so wäre es für den Staat selbst-
mörderischer Leichtsinn, ihr die Erziehung zu überlassen; eine in der
Jugend begründete Entfremdung der Seelen gegen sein Wesen und seinen
Zweck würde seine Existenz untergraben.
Der Gang der Entwicklung ist nun näher der folgende gewesen. Kirchliches
Ein kirchliches Unterrichtswesen setzte an zwei Punkten ein: dem Kate- imTihiciXer!"
chumenenunterricht und der Klerikerbildung. Jener führte, als die Welt
christlich geworden war und durch die Kindertaufe schon die Jugend in
die Kirche aufgenommen wurde, zu der Anerkennung, daß eine nachträg-
liche Unterweisung der heranwachsenden Jugend in der christlichen Lehre
eine Pflicht der Kirche und ihrer Diener sei. Damit war in der Idee die
allgemeine Volksschule gegeben, oder gefordert, denn die Verwirklichung
der Idee ließ freilich auf sich warten, ja die Kirche verlernte wohl mehr
und mehr, die Angelegenheit als eine dringliche anzusehen: Beichtunterricht
und Predigt schienen für die Belehrung des Laientums auszureichen. Ein
wirkliches Schulwesen ist von dem andern Punkt ausgegangen: die Not-
wendigkeit, dem Klerus eine für seinen hohen und umfassenden Beruf
befähigende Vorbildung zu geben, führte zur Begründung eigentlicher
kirchlicher Unterrichtsanstalten: es sind die Kloster- und Dom schulen
des Mittelalters. In ihnen erhielt der geistliche Stand die Ausstattung
mit allen den Kenntnissen und Fertigkeiten, die für die Verwaltung des
Kirchendienstes und der Predigt, des Kirchenrechts und der Kirchenzucht
für erforderlich geachtet wurden, worunter denn die Erlernung der Kirchen-
sprache natürlich das Erste war. Die weltliche Gewalt ließ der Kirche
völlig freie Hand, oder wenn sie sich einmischte, wie es Karl d. Gr. durch
eine Reihe von Verordnungen tat, so geschah es nicht im Gegensatz zur
Kirche, sondern kraft der Vollmacht, die dem Kaiser als Schirmvogt der
Kirche zuzustehen schien, und durch die kirchlichen Organe, Synoden und
Bischöfe. Das ganze Mittelalter hindurch gilt die Anschauung unbestritten,
daß alle Lehre und aller Unterricht von der geistlichen Gewalt ausgeht
und ihrer Herrschaft untersteht. Daran ist auch durch die Universitäten,
die seit dem \2. Jahrhundert zunächst in der Form privilegierter privater
Korporationen, dann auch als Gründungen der geistlichen und weltlichen
Gewalt entstanden, nichts Wesentliches geändert worden; als Lehranstalt
(Studium generale) wurden sie von der Kirche errichtet und beaufsichtigt,
wenn sie auch im übrigen nicht dem Gebiet der kirchlichen X'erwaltung
y8 I'Kii'riRicii I'.M'iskn: I);is modorne BiUlungswcscn.
aiig-ohörten. Und dasselbe gilt von den Stadtschulen, die mit dem
Wachstum des Städtewesens seit dem 13. Jahrhundert in großer Zahl ent-
standen. Wenn auch ein allmähliches Erstarken des weltlichen Wesens an
beiden Punkten sich ankündigte, so behielten doch Unterricht und T.ebens-
ordnungen kirchlichen Zuschnitt. Freilich gab es neben diesem klerikalen
Bildungswesen des Mittelalters auch eine rein weltliche Erziehung, die
ritterliche, für den Herren- und Kriegerstand. Doch hat sie es nicht zu
öffentlichen Anstalten gebracht. Und ebenso ist, was von deutschen Lese-
und Schreibschulen in den Städten vorhanden ist, meist bloße Privat-
untemehmung.
Neuzeit. Einen entscheidenden Wendepunkt auch in der Entwicklung des
ßildungswesens brachte das 16. Jahrhundert, das große Revolutions-
jahrhundert, in dem sich mit der Renaissance und der Reformation die
Neuzeit vom Mittelalter loslöste. Der moderne Staat befestigte sich
als selbständige Lebensform unabhängig von der Gesellschaft und der
Kirche; in den protestantischen Gebieten übernahm er auch das Kirchen-
regiment und damit fiel ihm von selber das Schulregiment in die Hände.
In dem Maße, als er sich zur umfassenden Form alles Gemeinschaftslebens
ausbildete, wurde die Fürsorge für die Erziehung und Bildung der Jugend
zu einer immer wichtigeren Aufgabe. Die fortschreitende Verstaatlichung
der Verwaltung und die zunehmende Verweltlichung der Bildungsziele
und Bildungsmittel, das sind die herrschenden Züge in der Geschichte des
Bildungswesens der Neuzeit.
Staatliche Volks- Das tritt in allen Formen und Stufen des Unterrichtswesens zutage.
schule, _., . *-• .
So im Gebiet der allgemeinen Volksschule, deren Geschichte eigentlich
doch erst mit dem 16. Jahrhundert beginnt. Der erste Anstoß zur Ver-
wirklichung der Idee eines allgemeinen Unterrichts ist freilich auch jetzt
von religiös -kirchlichen Antrieben ausgegangen. Die Reformation mit
ihrer Betonung der Lehre statt des Kults und ihrer Idee des allgemeinen
Priestertums nötigte, mit der immer anerkannten Pflicht einer allgemeinen
Christenlehre der Jugend Ernst zu machen; und ihr Vorangang führte hier
wie an anderen Punkten zur Nachfolge der katholischen Welt. Aber
schon im 16. Jahrhundert sind die allgemeinen Schulordnungen von der
weltlichen Gewalt erlassen. Und im 17. Jahrhundert haben zuerst einige
kleine mitteldeutsche Territorien das Prinzip der allgemeinen staatsbürger-
lichen Schulpflicht durchgeführt: Schulerhaltungspflicht für die Gemeinden,
Schulbesuchspflicht für die Familien. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts
sind die größeren protestantischen Staaten mit der Durchführung des
Prinzips des Schulzwangs gefolgt und im Zeitalter der Aufklärung
schlössen sich auch die katholischen .Staaten Deutschlands an. Im 19. Jahr-
hundert endlich hat das Prinzip seinen Siegeslauf durch alle Länder der
europäischen Zivilisation vollendet; es wird jetzt überall als eine Pflicht
der staatsbürgerlichen Gesellschaft anerkannt, einerseits für das Angebot
eines elementaren Unterrichts aus staatlichen und Gemeindemitteln Sorge
V. Überblick üb. d. öflcnll. Verfassung des Bildungswesens in seiner geschieht!. Kniwicklung. -jq
ZU tragen, andererseits seine Benutzung seitens der gesamten männlichen
und weiblichen Jugend zu überwachen und zu erzwingen. Selbst das
gegen den staatlichen Zwang so spröde England hat sich dem Zug der
Zeit nicht verschließen können.
Gleichzeitig hat eine innere Entwicklung in dem Sinne stattgefunden,
daß an die Stelle des kirchlich-konfessionellen Bildungsideals: Bindung des
Individuums durch Kirchenlehrc und Kirchenzucht, mehr und mehr das
Ideal freier Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und aller ihrer
geistig-sittlichen Kräfte, das Ideal der „Humanitätsbildung" durchgedrungen
ist. Die Pädagogik der Aufklärung hat in diesen Dingen, trotz mancher
Schwankungen und Rückfälle, den Sieg davongetragen. Auch die Durch-
führung g^-mnastischer Übungen als eines Teils der öffentlichen Erziehung
liegt in dieser Richtung. Mit der inneren Wandlung geht Hand in Hand
die fortschreitende Verweltlichung des Lehrerstandes und der Schulauf-
sicht Seit der allmählichen Durchführung einer besonderen Berufsbildung
der Volksschullehrer auf den Seminaren, deren Begründung von der Mitte
des i8. Jahrhunderts ab ebenfalls eine Frucht der Aufklärung ist, hat der
Lehrenstand mehr und mehr aufgehört, zu den „niederen Kirchendienern"
zu zählen. Andererseits hat der Geistliche aufgehört, die Schulaufsicht
als einen Teil des Kirchenamts zu besitzen, er übt sie, soweit es der Fall
ist, im Staatsauftrag; und auf den oberen Stufen ist sie durchweg in die
Hand von weltlichen, in der Regel aus dem Schuldienst hervorgehenden
Berufsbeamten gelegt worden.
Ich will auf die Entwicklung des gelehrten Schulwesens nicht Gekhrtenscimir.
näher eingehen, sie ist im großen denselben Weg gegangen: weltliche
Lehrer, weltliche Wissenschaften und weltliche Verwaltung haben den
theologisch-kirchlichen Zuschnitt der alten Lateinschulen beinahe vollstän-
dig verwischt. Und von den Universitäten gilt dasselbe. Oder viel-
mehr, sie haben zuerst den Charakter von reinen Staatsanstalten ange-
nommen und zuerst und am vollständigsten die kirchliche Gebundenheit
der Lehre abgestreift, ohne jedoch dafür eine staatliche Bindung einzu-
tauschen: sie sind seit dem i8. Jahrhundert im ganzen auf das Prinzip der
Freiheit oder der Selbstregulierung der Wissenschaft und des wissen-
schaftlichen Unterrichts gestellt. Auch hierin ist Deutschland voran-
gegangen.
Das wäre in großen Zügen der Entwicklungsgang des deutschen
Bildungswesens. Im ganzen zeigen die Nachbarländer ein ähnliches Bild,
wenn auch nicht ohne beträchtliche Besonderheiten. In England, wo die
Suatsverwaltung so viel später und so viel unvollkommener sich entwickelt
hat, ist der Einfluß der Religionsgemeinschaften auf das Erziehungswesen
größer, besonders im Gebiet der Volksschule; und das Mittelschul wesen
ist, außer einigen alten Stiftungsschulen, auch heute noch in weitem Um-
fang der Privatunternehmung überlassen. In Frankreich aber besteht,
oder kann man jetzt sagen be.stand? .seit der großen Revolution neben
8o FkiI'DRK M I'ai'i.skn: V>:is modniir BiUlimsswpsPii.
einem rein staatlichen, büreaukratisch verwalteten Unterrichtswesen ein
„freies", d. h. von der Kirche und den kirchlichen Orden geleitetes Schul-
wesen, bis hinauf zur „freien" Universität.
VI. Ausblick auf die Zukunft. Wenn es zum Schluß gestattet
ist, einer auf die Beachtung des zurückgelegten Weges gestützten Ver-
mutung über die künftige Entwicklung des Bildungswesens Raum zu
geben, so sehe ich zweierlei voraus. Das erste ist: fortschreitende Aus-
dehnung der gesellschaftlichen Fürsorge, das andere: zunehmende Verselb-
ständigung des Bildungswesens innerhalb des Rahmens der allgemeinen
Staats\erwaltung.
Weiu-reZunahme Zum crsten bemerke ich: Die öffentliche Fürsorge, die im letzten
'sorge für die Er Jahrhundert so erstaunliche Fortschritte gemacht hat, Zeugnis dessen der
Staats- und Gemeindehaushalt in allen Kulturländern, wird an Ausdehnung
weiter gewinnen, vor allem im Gebiet der allgemeinen Volkserziehung,
und zw'ar nach unten und nach oben. Nach unten durch die Fürsorge für
die ersten Jugendjahre: das großstädtische und großindustrielle Leben mit
seiner Beeinträchtigung des häuslichen Lebens, man denke an die Woh-
nungsverhältnisse der Massen und die Verwendung" der Frau zur Arbeit
außer dem Hause, macht den Ersatz durch gesellschaftliche Fürsorge
mehr und mehr zur Notwendigkeit; die „Kindergärten", die in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts sich über die ganze Erde ausgebreitet
haben, zeigen den Weg. Nach oben durch die früher besprochene Weiter-
bildung der Anfänge der Fortbildungsschule zu einer allgemeinen „Volks-
hochschule". Und auch nach der Richtung mag die öffentliche Fürsorge
sich erweitern, daß für die Ausbildung hervorragend begabter Kinder
unbemittelter Familien notwendige Mittel in weiterem Umfang zur Ver-
fügung gestellt werden: Talente sind der kostbarste Schatz, den ein Volk
besitzt. Endlich noch in der Richtung, daß bei vollständigem Versagen
der Familienerziehung rechtzeitig öffentliche Ei-ziehung eintritt; das
preußische Fürsorgeerziehungsgesetz vom Jahre 1901 eröffnet hier der
Entwicklung weiten Spielraum. An eine allgemeine Ersetzung und Ver-
drängung der Familienerziehung durch gesellschaftliche Einrichtungen,
wovon utopische Gesellschaftsreformer träumen, wird allerdings nicht zu
denken sein. Das hieße der Familie ihr erstes Recht und ihre erste
Pflicht nehmen und sie in der Wurzel zerstören; das Eintreten öffentlicher
Erziehung muß als eine Minderung des Elternrechts und der Familienehre
empfunden werden.
Autonome Zum Zweiten bemerke ich: ich halte es für nicht unwahrscheinlich,
2ieh"uo|sn°e''sei!s daß die Loslösung der Schule von der Kirche, die Sonderung des Lehrer-
standes vom geistlichen als selbständiger Berufsstand, ihre Fortsetzung
finden wird in einer entsprechenden Herauslösung des Lehrerstandes aus
dem Staatsbeamtentum, und einer, nicht Lösung, aber doch Lockerung des
Verhältnisses der Schule zum politischen Gemeinwesen. Oder mit anderen
VI. Ausblick auf die Zukunft. 8l
Worten: als das Ziel der Bewegung erscheint mir eine relative Autonomie
des Bildungswesens im Rahmen der allgemeinen Staatsverwaltung.
Am weitesten vorgeschritten ist in dieser Richtung die Universität;
sie hat im 1 9. Jahrhundert, was ihre eigentliche Wirksamkeit, die Forschung
und Lehre, anlangt, dies Ziel so gut als erreicht. Aber auch das niedere
Schulwesen bewegt sich in dieser Richtung; vor allem ist eins sichtbar:
die Leitung und Aufsicht im Gebiet des Schulwesens ist immer mehr aus
der Hand von Theologen und Juristen in die Hände von Pädagogen, von
Fachleuten der Erziehung und des Unterrichts, übergegangen. Das gilt
im Gebiet der höheren Schulen wie der \'olksschule: eine Art Selbst-
bestimmung und Selbstregulierung des Bildungswesens in Absicht auf die
inneren Angelegenheiten scheint sich darin als das Ziel der Bewegung
anzukündigen.
Zunächst wird angenommen werden dürfen, daß das neue Jahrhundert
nicht zu Ende gehen wird, ohne die Schulaufsicht, trotz widerstrebender
Tendenzen, auch trotz bestehender innerer Bedenken, ganz in die Hände
von pädagogischen Fachmännern gebracht zu haben. Die Ausübung der
Schulaufsicht durch Kirchenbeamte, soweit sie im Gebiet der Volksschule
noch vorhanden ist, wird sich immer mehr als sachlich unzulänglich er-
weisen, und von dem Lehrerstande wird sie als herabdrückende Fremd-
herrschaft empfunden. Die Entwicklung des höheren Schulwesens zeigt
hier den Weg.
Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur Verselbständigung
des Bildungswesens wäre die Errichtung eines besonderen Unterrichts-
ministeriums. Die Loslösung vom Kultusministerium, einem im streng.sten
Sinne politischen Ministerium, würde der Verwaltung des Erziehungswesens
einen bedeutsamen Zuwachs an .Selbständigkeit und Stabilität geben; die
Erschütterungen, denen es ausgesetzt ist, .stammen immer aus der Sphäre
der Kirchenpolitik. Und ein fernerer Schritt wäre die Errichtung eines
ständigen Landesschulrats an .Stelle der von Fall zu Fall berufenen Schul-
konferenzen. Aus dem Lehrkörper aller Stufen und aus berufenen Ver-
trauensmännern hervorgehend, würde er, als beratende Instanz der aus-
führenden Verwaltung beigegeben, die politischen Körperschaften in
einigem Maße von den nicht immer sachlichen und fruchtbaren .Schul-
debatten entlasten kimnen; wären auch in diesem Erziehungsrat politische
und kirchliche Motive nicht überhaupt ausgeschaltet, so würden sie doch
nicht in dem Maße über die pädagogischen das Übergewicht haben, als
in den politischen Versammlungen.
Hätte endlich die Erfüllung dieser beiden schon oft ausgesprochenen Lo»i»siing von
Erwartungen die weitere Folge, daß der Abstand des Lehrerstandes vom
eigentlich politischen Beamtentum etwas größer würde, daß der Einfluß
politischer und kirchenpolitischer Parteitendenzen mehr und mehr aus
diesem Gebiet zurückwiche, daß auch die bureaukratischen Formen des
Gebietens und Reglementierens, der Inspektion und Kontrolle in immer
DlV. Kl'LTI'R DER GBOE:fWART. I. I. <"
82 Frikdrich I'aiu.skn: Das moderne BiUlungswesen.
weiterem Maße durch sachkundige Leitung und pädagogische Beratung
gemildert würden, so würde der Lehrerstand die große und wichtige Aut-
gabe, die im Leben des Volks ihm obliegt, mit mehr Freiheit und Freude,
mit mehr Ruhe und Frieden erfüllen. Erziehung und Bildung der Jugend
ist kein Schablonenwerk; alle tiefere Wirksamkeit beruht hier auf der
freien Betätigung höchst persönlicher Kraft. Und auch das ist mit Recht
gesagt worden: die Erziehung ist nicht eine Sache der Politiker; die Auf-
gabe des Politikers und des politischen Beamten liegt in der Gegenwart,
er muß tun, was der Augenblick fordert; die Aufgabe des Erziehers liegt
in der Zukunft, er blickt auf das, was kommen will, auf die Idee des
Vollkommenen. Wenn es wahr wäre, jenes Wort, daß, wer die Schule hat,
die Zukunft hat, dann dürfte die Schule am wenigsten den Politikern aus-
geantwortet werden.
Notwendige Neu- Noch eine notwendige Wandlung würde durch die Verselbständigung-
ReiigioDsunter- des Erziehungsweseus erleichtert: die Neugestaltung des Religionsunter-
richts. Der schulmäßige Religionsunterricht ist ein Werk der Reformation,
dessen sie sich rühmt: die alte Kirche habe gar keinen Unterricht der
Jugend im Christentum. Die neue Kirche legte auf die „reine Lehre" das
entscheidende Gewicht und sah darum schon die Unterweisung und Be-
festigung der Jugend in Katechismus und Schrift für eine notwendige
Aufgabe an.
Dieser altprotestantische Religionsunterricht, und ebenso der nach
seinem Vorbild eingerichtete katholische, hat drei Dinge zur Voraus-
setzung: daß die Schulen in erster Linie semiiiaria ccclesiac sind; daß die
Lehrer ihrem Wesen nach zu den Kirchendienern gehören, wenn sie auch
nicht im eigentlichen, höheren Kirchendienst stehen; endlich daß das Be-
kenntnis der Kirche Ausdruck des wirklichen, persönlichen Glaubens der
Lehrer und der Eltern ist.
Keine dieser drei Voraussetzungen trifft für die Gegenwart noch zu.
Die Schulen sind heute Anstalten des Staats und der weltlichen Gemeinde,
die Schulordnungen sind nicht mehr, wie im i6. Jahrhundert, ein Stück
der Kirchenordnung. Ferner, die Lehrer haben aufgehört, Kirchendiener
zu sein, sie bilden einen Berufsstand mit eigener, in Staatsanstalten er-
worbener Berufsbildung. Endlich, das Bekenntnis ist nicht mehr der
spontane Ausdruck der persönlichen Überzeugung aller oder auch nur der
Mehrzahl derer, die als Angehörige der katholischen oder evangelischen
Kirche in die Listen eingetragen werden. Das gilt eingestandenermaßen
von sehr zahlreichen Gliedern der evangelischen, uneingestandenermaßen
auch der katholischen Kirche. Lehrer und Eltern stehen nicht mehr auf
dem Boden der Welt- und Lebensanschauung, auf dem die Bekenntnis-
formeln des i6. Jahrhunderts erwachsen sind. Im besonderen die Lehrer,
auch die Lehrer der Volksschule; sie wissen zu viel von all den Dingen,
die sich seit dreihundert Jahren im Gebiet der Naturwissenschaften und
der geschichtlichen Kritik zugetragen haben, um zur Schrift und zum Be-
VI. Ausblick auf die Zukunft. 83
kenntnis noch dieselbe Stellung einnehmen zu können, wie ihre Vorgänger
vor zweihundert oder dreihundert Jahren. Und dasselbe gilt von den
Eltern, wobei man noch gar nicht einmal an die durch die sozialdemo-
kratische Massenliteratur beeinflußten zu denken braucht.
Nur der Religionsunterricht ist von allen diesen Wandlungen in der
Hauptsache unberührt geblieben. Er fährt fort das Bekenntnis in allen
seinen Bestandteilen als die gewisseste Wahrheit, die Schrift als das
untrüglichste Beweismittel, die Befestigung in der reinen Lehre als das
Ziel zu behandeln. Die Folge ist, daß zwischen dem, was im Religions-
unterricht gelehrt und gelernt, gesagft und bekannt wird, und den wirk-
lichen Anschauungen und Überzeugungen der Lehrer und auch schon der
Schüler ein klaffender Zwiespalt ist. Die weitere Folge ist bei einigen
eine wirkliche Gewissensnot, bei vielen eine Abstumpfung des Wahrheits-
sinnes, bis zur vollkommenen Gleichgültigkeit, vielleicht bei noch mehreren
eine wirkliche Feindschaft gegen die Kirche und gegen die Religion.
Haeckels Welträtsel, die in kurzem ihren Weg durch die Hände der Lehrer,
der Eltern und vielfach auch schon der Schüler unserer Schulen gemacht
haben werden, sie sind die Antwort darauf, daß unser Religionsunterricht
fortfährt die Tatsache zu ignorieren, daß wir nicht im 16., sondern im
20. Jahrhundert leben.
Der längst notwendigen, viel zu lange hinausgeschobenen Neugestal-
tung des Religionsunterrichts würde durch die angedeutete Verselbständi-
gung des Bildungswesens, durch die Lockerung des Verhältnisses der
Schule zur Politik, vor allem zur Kirchenpolitik der Weg geebnet werden.
Unter rein pädagogischen Beratern der Schule dürfte sich bald Überein-
stimmung darüber ergeben, daß die vorhandene Ordnung des Religions-
unterrichts den Bedürfnissen der Gegenwart nicht mehr angemessen, daß
seine Fortdauer gefährlicli für die Religion und für den Wahrheitssinn
sei. Eben.so aber auch darüber, daß es nicht möglich sei, den Religions-
unterricht überhaupt aus der Schule zu beseitigen, wie es in den west-
lichen Ländern meist geschehen ist und wie es von radikalen Politikern
auch uns empfohlen wird. Das Christentum ist ein zu großes Stück un-
seres geschichtlichen Lebens, als daß ein Unterricht, der die Bestimmung
hat, in das Verständnis des geistigen Lebens der Gegenwart einzuführen, an
ihm vorübergehen dürfte; es gibt in der Geschichte der Literatur, der
Malerei und Bildnerei, der Architektur, der Musik, der Philosophie, der
Wissenschaft, der Sitten keinen Punkt, groß genug, den Finger darauf zu
setzen, ohne daß man die Spuren jener großen geschichtlichen Lebens-
macht berührt, die wir das Christentum nennen. Es kann sich also nur
um eine Wandlung in der F'orm des Religionsunterrichts handeln, oder
vielmehr um die Vollendung der Wandlung, die sich doch schon anzu-
bahnen begonnen hat: die Aufgebung des eigentlich konfessionell-dogma-
tischen Unterrichts und .seine Ersetzung durch einen historisch-exegetischen,
durch „Christentumslehre", wie im Norden sinnreich der Religionsunterricht
8d Frikdrich Paui-skn: Das moderne Hildungswesen.
genannt wird. Wir müssen das Christentum in der Schule behandehi als
das, was es unzweifelhaft ist: ein unermeßlich wichtiges Stück unseres
geschichtlichen Lebens, und aufhören es zu behandeln als das, was es nicht
ist, wenigstens ursprünglich nicht ist, und was es auch für uns nicht mehr
sein kann: ein dogmatisches Lehrgebäude. Die Aufgabe des Unterrichts
wird also keine andere sein als die: mit den großen Denkmälern dieses
religiösen Lebens, wie sie vor allem im Neuen und auch im Alten Testa-
ment gesammelt sind, die Jugend bekannt zu machen und in lebendige
Berührung zu bringen. Je unbefangener wir die Dinge hier, wie in jedem
andern literarischen Unterricht, durch sich selbst wirken lassen, je mehr
wir vor zudringlichem Auf- und Einreden, ebenso aber auch vor Ver-
frühung und dadurch herbeigeführter Abstumpfung uns in acht nehmen,
desto eher wird auch eine Einwirkung auf das religiöse Empfinden der
Jugend erwartet werden dürfen. Was hier wirkt und immer gewirkt hat,
ist doch nicht die Formel, sondern die Anschauung wahrhaft religiösen
Lebens in konkreter, persönlicher Gestalt. Die Formel bindet, der Buch-
stabe tötet, der Geist macht lebendig. Oder ist es nicht so, daß gegen-
wärtig die Inspirationstheorie die heiligen Schriften, die Theorie von der
„Gottheit" Christi und was daran hängt die Person Jesu in weitesten
Kreisen um ihre Wirkung bringt? Nicht der Person und nicht der Schrift
gilt eigentlich jene Abneigung, sondern der Formel,
Goethe hat auch hier alles gesagt: Mir ist klar, heißt es in den
Sprüchen in Prosa: schaden wird die Bibel, wie bisher, dogmatisch und
phantastisch gebraucht; nützen, wie bisher, didaktisch und gefühlvoll auf-
genommen.
Konfession und Durch eine solche Wandlung würde aber ferner vorbereitet, was auch
einmal kommen muß: ein unbefangenes Verhältnis der Schule zum Unter-
schied der Konfessionen. Gewiß ist mit Dörpfeld zu sagen: das Natür-
liche und an sich Erwünschte ist die Einheit der Konfession. Die Mischung
der Konfessionen in der Schule bringt notwendig Hemmungen und Rei-
bungen mit sich, Hemmungen, die sich doch auch in andern Fächern, in
der Geschichte z. B. und im sprachlich-literarischen Unterricht geltend
machen. Und gewiß ist es nicht weise, einer widerwilligen Bevölkerung
ohne Not die Simultanschule aufzuzwingen. Auf der andern Seite darf
man aber die Schonung konfessioneller Empfindlickeit oder die Duldung-
kirchlicher Unduldsamkeit, denn der Widerstand wird fast immer nicht
von den Laien, sondern von Geistlichen ausgehen, nicht zu einem uner-
träglichen Hemmnis gesunder Entwicklung des Bildungswesens werden
lassen. Und gewisse Hemmungen, die aus der Anwesenheit „Anders-
gläubiger" dem Unterricht erwachsen, wird man weder in pädagogischer
noch in nationaler Absicht als ein Unglück ansehen dürfen: wird es da-
durch unmöglich, im Geschichtsunterricht Luther als den Auswurf der
Menschheit, wie er jüngst noch wieder von Denifle geschildert worden
ist, oder umgekehrt den Papst als den Antichrist darzustellen, so ist das
VI. Ausblick auf die Zukunft. gc
kein \'crlust. Ein Staat mit durchgängig gemischter Bevölkerung kann
die reinliche .Scheidung der Konfessionen in der Staatsschule doch nicht
wohl als das an sich zu erstrebende Ziel ansehen; er wird vielmehr im
Interesse des inneren Friedens, wie die Mischung der Bevölkerung, so
auch die Berührung der Jugend in der Schule als wünschenswert zu be-
trachten nicht umhin können.
Aber, wird man sagen, die Kirchen würden dabei den letzten Einfluß
auf die Erziehung verlieren. — Ich meine: nicht notwendig; das Beispiel
Amerikas zeigt es. Sie könnten, was sie an äußerer Macht einbüßten, an
innerem Einfluß wieder einbringen. Ist die Kirche im geistig-sittlichen
Leben des Volkes eine Macht, so wird sie auch auf die Erziehung indirekt
einen sehr starken Einfluß haben, während das Festhalten einer bloß äußer-
lichen Machtstellung jenes innere Widerstreben hervorruft. Das gilt
wenigstens für die protestantische Kirche: jeder politische Druck zu ihren
Gunsten entfremdet ihr die Seelen. Für die katholische Kirche liegen
die Verhältnisse etwas anders; sie hat den Vorteil, daß sie in die Lage
kommen kann, verfolgt zu werden und „Märtyrer" zu haben.
Literatur.
I. Nachschlagewerke.
K. A. ScHMll), Enzyklopädie des gesamten Erziehungs und Unterrichtswesens, lo Bde.,
2. Aufl. (1876 fr.), fortgeführt von W. Schrader.
\V. Rein, Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 7 Bde. (1895 {(.). 2. Aufl. im
Erscheinen.
(Das erste Werk behält seinen Wert vor allem durch die historischen Artikel, das
zweite steht der Gegenwart näher und orientiert über alle jüngsten Bestrebungen in der
Theorie und Praxis.)
II. Geschichtliche Darstellungen.
K. A. SCHMID und G. SCHMID, Geschichte der Erziehung vom Anfang bis auf unsere
Zeit. 5 Bde. in zahlreichen Abteilungen (1884 — 1902). (Eine reichhaltige Sammlung von
Monographien , doch ungleichen Werts und ohne durchgreifende Organisation des Ganzen.)
K. V. R.\UMKR, (jeschichte der Pädagogik seit dem Wiederaufblühen klassischer Studien
bis auf unsere Zeit. 4 Bde., 3. (letzte vom Verf. besorgte) Auflage (1857). (Die beiden ersten
Bände enthalten eine frische, aus den Quellen geschöpfte Darstellung der führenden Männer
in der Geschichte des Bildungswesens der Neuzeit bis auf Pestalozzi.)
Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen
und Universitäten , mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2 Bde.,
2. Aufl. (1896).
III. Darstellungen der Verfassung und Verwaltung des Unterrichtswesens.
Lorenz V. Stein, Die Verwaltungslehre. V.Teil: Das Bildungswesen. 1. Aufl. 1868,
2. Aufl. 3 Bde. 1883/4. (Die Übersicht der i. Auflage über die verwaltungsrechtliche Ge-
staltung des Bildungswesens in den verschiedenen Ländern hat durch die breite und un-
fundierte historische Darstellung der 2. Aufl. nicht gewonnen.)
A. Baumeister, Die Einrichtung und Verwaltung des höheren Schulwesens in den
Kulturländern von Europa und Nordamerika (1897). (Das vortrefTliche, von zahlreichen Mit-
arbeitern aus allen Ländern geschaffene Werk bildet die 2. Abt. des I. Bandes von A. Bau-
meisters Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schulen.)
R. Sendler und O. Kobel, Übersichtliche Darstellung des Volkserziehungswesens der
europäischen und außereuropäischen Kulturvölker. 2 Bde. (1900/1). (Gibt die jüngste orien-
tierende Übersicht über das geltende Recht für das Gebiet der Volksschule in den Haupt-
ländern.)
IV. Pädagogische Werke.
Theodor Waitz, Allgemeine Pädagogik, i. Aufl. 1852, 4. Ajfl. 1899. Herausgegeben
von O. Willmann. (Ein Werk, das seine Stellung noch gegenwärtig behauptet.)
Otto Willmann, Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung
und zur Geschichte der Bildung. 3. Aufl. (1903). (Grundanschauung katholisch-kirchlich.)
W. Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. I. Bd. (1902): Die Lehre vom
Bildungswesen.
A. Baumeister, Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schulen,
in vier Bänden; das Standard Work der Gymnasialpädagogik. Unter den zahlreichen Ab-
teilungen, die von verschiedenen Autoren durchweg vortretTlich bearbeitet sind, hebe ich
hier hervor: A. MATTHIAS, Praktische Pädagogik, 2. Aufl. (1905).
DAS VOLKSSCHULWESEN.
Von
Gottlob Schöppa.
I. Wesen und Begriff der Volksschule. Schulen, in welchen den
Kindern auch seiner unteren Schichten Elemente des Wissens gelehrt
werden, besitzt heute jedes zivilisierte Volk der Erde. In Korea wie in
den westlichen Staaten Nordamerikas, in den entlegenen Gegenden Kamt-
schatkas wie bei den Beduinen Xordafrikas sind sie zu finden. So ver-
schieden die Völker und so mannigfaltig die Verhältnisse, unter denen
sie leben, so verschieden und mannigfaltig die Einrichtung dieser Schulen.
Es gehört Einbildungskraft dazu, in der „springenden Schule" der Nord-
länder Europas, in denen ein Wanderlehrer nur einige Monate des Jahres
Kinder einer Familie unterrichtet, in der Zeltschule Nordafrikas, die mit
dem nomadisierenden Stamm sich niederläßt, um nach kurzer Zeit wieder
aufzubrechen, Schwestern der großstädtischen, vielgliedrigen, in gewtiltigen
Bauten untergebrachten Volksschulen unserer Kulturvölker zu sehen.
Zwar das Gemeinsame haben sie, soweit es nachweisbar ist, alle, daß lünfluß von
Religion und
sie auf religiöse Grundlage zurückzuführen sind. Indes schon daraus er- Nationalität auf
geben sich die verschiedenartigsten treibenden Kräfte für ihre Entwick- schiedenartii?-
° ° . keil der Volks-
lung, die durch nationale Eigentümlichkeiten noch erheblich vermehrt schule.
werden. Weit voraus den Schulen der übrigen Länder der Erde stehen ent-
sprechend ihrer Kultur im allgemeinen die Schulen christlicher Völker.
Einzelne in der Bibel überlieferte Worte Jesu, wie das: „Lasset die Kind-
lein zu mir kommen!", führten mit Notwendigkeit bald zur Errichtung von
Schulen für alle Bevölkerungskreise, wenn auch vornehmlich zu solchen
mit religiösem Unterrichte. Von Amerika ist gesagt worden: es war die
Religion, die dort zur Aufklärung, und es war der Gehorsam gegen die
göttlichen Gesetze, der die Menschen zur Freiheit führte; doch hat dies Wort
seine Geltung von den christlichen Völkern überhaupt. Gerade bei den angel-
sächsischen Völkern tritt auch die nationale Beeinflussung der Volksschule
sehr deutlich hervor. Ihr eigentümlicher Freiheitsdrang ließ es bei Ein-
richtung der Schule bis jetzt zu keiner Einheitlichkeit kommen. Ungestörte
gg Gottlob Schöi'I-a : Das Volksschuhvcspn.
ßctätigung der l'.igcnart brachte es vielmehr zu außerordentlich vielartigen
Gestaltungen der Volksschule; demgemäß aber auch zu stärksten Unter-
schieden ihres Erfolges. England lenkt erst jüngst in richtiger Erkenntnis
von der Überlegenheit des Verfahrens bei den kontinentalen Stammes-
vettern mehr auf deren Bahn der Verstaatlichung und damit auf die Ver-
einheitlichung des Schulunterrichts ein. Den Schulen der Angelsachsen
hat auch der stärker auf Erwerb gerichtete Sinn seinen Charakter ebenso
unverkennbar aufgedrückt, wie den Schulen Frankreichs dessen sehr aus-
gebildetes Nationalbewußtsein, oder den Schulen Italiens das durch die
Tradition seiner Bevölkerung anerzogene ästhetische Gefühl. Gleichartig
sind die Volksschulen der genannten Völker darin, daß sie sich von ihrer
Religion losgelöst haben. Was bei den Angelsachsen indes mehr durch
den Drang nach voller Freiheit der Bewegung bewirkt ist, das hat bei
den Romanen vornehmlich die scharf gegensätzliche Stellung zur Kirche
herbeigeführt, die sie in Gegensatz zur Religion überhaupt führte.
Vorbildlichkeit Auch die Schulen der Deutschen und Nordgermanen können die
Schulen, volkstümliche Eigenart nicht verleugnen. Nirgend sind die Schulfragen
so eingehend praktisch und theoretisch erörtert worden, wie bei ihnen
entsprechend ihrer nachdenklichen, auf die Gründe gehenden Volksart.
Daraus erklärt es sich, daß die Volksschule als eine Einrichtung zur Ver-
mittlung eines Mindestmaßes von Kenntnissen, zu deren Benutzung jeder
verpflichtet ist und erforderlichenfalls auch gezwungen wird, wenn er nicht
einen gleichwertigen Ersatz nachweist, bei den germanischen Völkern ent-
standen ist und bei ihnen sich auch am einheitlichsten entwickelt hat.
Bei ihnen ist darum ein Mindestmaß von Kenntnissen tatsächlich ganz
allgemein vorhanden, wie dies die fast völlig verschwundene Zahl der
Analphabeten unter den Rekruten beweist. Wohl haben andere Völker
einzelne Seiten der Volksschule kräftiger entwickelt, aber so allgemein
umfassend, so einheitlich in ihrem Ziel hat sich diese sonst nirgend ge-
staltet. In Deutschland ist der Gedanke der Volksschule als einer Er-
ziehungsanstalt am energischsten erfaßt und seine Realisierung am kon-
sequentesten versucht und teilweis auch verwirklicht worden. Bis heute
suchen daher Lehrer aus allen Ländern der Erde Deutschland auf, um an
seinen Schulen sich ein Vorbild für die Einrichtungen der eigenen Heimat
zu nehmen.
Wenn es infolge der unvereinbaren nationalen und sozialen Verschie-
denheiten unmöglich ist, die Volksschule aller Völker als ein gemeinsames
Ganzes zu betrachten, so wird doch ihr Wesen, ihre Struktur am ehesten
deutlich werden durch Betrachtung des historischen Entwicklungsganges
der deutschen Volksschule.
Rein kirchliche II. Gcschichtc der Volksschule. Auch in Deutschland ist die
Reformation. Volksschule Verhältnismäßig jung. Man hat lange ihre Entstehung mit
der deutschen Kirchenreformation in Zusammenhang gebracht und sie als
II. Geschichte der Volksschule. 8q
deren unmittelbare Folge hingestellt. Schon vor diesem Zeitpunkt indes
haben vielfach Einrichtungen existiert, in denen Kinder der verschieden-
sten Bevölkerungsschichten Unterricht empfingen; solche sind bis in das
frühe Mittelalter nachzuweisen, aber es waren freilich nicht Volksschulen
in unserem heutigen Sinne.
Die nach der Völkerwandenmg einsetzende Kultivierung der mittel-
und westeuropäischen Völker stand unter dem überwiegenden EinHusse
der mit christlichen Elementen durchsetzten hellenistisch-römischen Bil-
dung. Die wandernden Stämme der Germanen fanden sie in den weiten
Gebieten vor, in denen sie seßhaft wurden. Ihre eigene niedrigere Kultur
veränderte sich, falls sie nicht ganz unterging, wenigstens stark durch sie.
Vermittler der neuen Kultur wurden in erster Linie die Glieder der Kirche,
die das Bestreben hatte und mit Erfolg durchführte, die heidnischen Ger-
manen zu Christen und zu Gliedern der Kirche zu machen. Vornehmlich
der von Rom abhängigen Kirche gebührt das Verdienst, Schulen in
Deutschland eingerichtet zu haben. Die Bildung, die sie vermittelten,
war demgemäß eine ausgesprochen kirchliche. Sie zielte auch weniger
auf eine allgemeine geistige Hebung des Volkes ab, als auf die Aneig-
nung der einfachsten christlichen Grundlehren und, falls ihre Ziele weiter
gingen, auf die Gewinnung geeigneter Kleriker.
In der Richtung der Volksschule bewegten sich, analog seiner
Pflege fränkischer Volksart, die Erlasse Karls des Großen über den Unter-
richt der Kinder des A'olkes durch Geistliche, aber infolge des schnellen
Abbruchs dieser Bestrebungen unter Karls Nachfolgern kam es zu eigent-
lichen Volksschulen auch dadurch nicht. Es ist bei diesen Einrichtungen
des Mittelalters zu beachten, daß den Geistlichen als Lehrern bei dem
Unterrichte der Kinder aus den Volkskreisen, die das altgermanische
Heidentum ganz und gar noch nicht völlig abgestreift hatten, nicht so an
einer volkstümlichen als an einer nach Rom zielenden Bildung gelegen
sein konnte. Je mehr die Bevölkerung sich verdichtete, je mehr Klöster
gegründet wurden, je mehr Kirchspiele entstanden, desto mehr Unter-
richtsgelegenheiten bildeten sich. Die Kirche des Mittelalters als die
weitaus mächtigste Trägerin der Gesamtkultur ihrer Zeit hat durch ihre
Arbeit den Gedanken einer allgemeinen Schule, wenigstens für die Knabem
in ausgedehntem Maße realisiert und ihn so gewissermaßen volkstümlich
gemacht. Der Begriff der Schule als einer für das ganze Volk erwünschten
Einrichtung war nach seinem Umfange da, wenn ihm auch die Bestim-
mung seines Inhalts als Volksschule fehlte.
In dem Maße, als neben der Kirche andre Kreise als Kulturträger weuiiciie
auftraten, als volkstümliches Wesen auch in der Kultur sich stärker geltend Strömungen.
machte, hatte sich in diesem Zustande auch schon während des Mittel-
alters eine Unterströmung gebildet. Ganz allmählich trat sie in die Er-
scheinung, als die Spannung zwischen einer neuen nichtkirchlichen und
der alten kirchlichen Kultur nach den Kreuzzügen stärker wurde, als es
go Gottlob Schöppa: Das Volksschulwcscn.
den solbstbowußten städtischen Geschlechtern nicht mehr /.usagte, für den
Unterricht ihrer Kinder lediglich auf die kirchlichen Schuleinrichtungen
angewiesen zu sein. Handel und Gewerbe, im Inlande betrieben, forderten
Fertigkeit im Lesen und Schreiben der Muttersprache sowie im Rechnen.
Da gründeten Rat und Bürgerschaft vieler vStädte, oft in hartem Kampfe
mit der Kirche, die für sich das Privilegium der Schule beanspruchte,
selbst Schulen. Indes auch in ihnen unterrichtete man meist nach Art
der kirchlichen Lateinschulen. Nur in einzelnen Fällen ist es geschicht-
lich verbürgt, daß ihr Unterricht auf das Lesen und Schreiben deutscher
Schriften beschränkt war, weil der Rat der Stadt von der Geistlichkeit
genötigt wurde, streng auf diese Beschränkung zu halten. Die Volks-
schule als eine allgemeine Einrichtung hatte man auch mit diesen Schulen
noch nicht. Willmann sagt mit Recht, daß es dem Mittelalter fremd war,
Religion, Schreiben, Lesen usw. als ein besonderes Lehrgebiet anzusehen,
dem eine besondere Schulgattung entspräche. Wo der Unterricht über
die christlich-religiöse Kinderlehre hinausgegangen sei, habe er dem La-
teinischen zugestrebt, ohne das man eine eigentliche rechte Schule nicht
gedacht habe.
Einfluß der Dleseu Zustaud fand die deutsche Kirchenreformation vor, und sie
die Volksschule, hat an ihm unmittelbar nichts geändert, soweit die Volksschule in Betracht
kommt. Man hat den Brief Luthers: „An die Ratsherren aller Städte
deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen"
als den Stiftungsbrief der Volksschule bezeichnet. Doch trifft das nur
mit Einschränkung zu. Luther lehnte sich durchaus an die Schuleinrich-
tungen an, die vor ihm da waren. Die Erlernung der Sprachen betonte
er, und ebenso drängte er auf Grund der traurigen Erfahrungen bei den
großen Visitationen in Sachsen darauf, daß die Küster die Kinder besser
in den religiösen Elementen unterrichteten. Aber Luther machte durch
seinen genannten Brief an Stelle der Geistlichen die Bürgermeister und
Ratsherren für die Gründung von Schulen verantwortlich. Er setzte neben
die kirchlichen Zwecke der Schule mit vollster Entschiedenheit auch die
weltlichen als gleichberechtigt. Er führte den Unterricht der Jugend, der
Knaben und Mädchen, auf Gottes Gebot zurück. Er schuf in dem kleinen
Katechismus ein geeignetes Lernmittel für die Unterweisung in der christ-
lichen Lehre. Er nötigte durch seine Bibelübersetzung dazu, aus ihr
selbst zu schöpfen und dazu sich Lesefertigkeit anzueignen. So gab er,
abgesehen von der durch ihn hervorgerufenen geistigen Aufrüttelung
überhaupt, den kräftigen Anstoß zu einer unaufhaltsamen Bewegung, welche
in der Errichtung von Schulen, die wir als Volksschulen bezeichnen, aus-
mündete.
Die weitliche Dic Schule war durch Luther dem starken Arm der Obrigkeit zuge-
Obrigkeit und . , . . ,,..
die Volksschule. Wiesen; bald sahen sich die evangelischen Inirsten als ihre legitimen tor-
derer an. Die von ihnen als obersten Bischöfen ihrer Länder gegebenen
Kirchenordnungen erhielten Abschnitte, die von dem Schulwesen handelten.
n. Geschichte der Volksschule. gl
und zwar eine Anzahl ausdrücklich auch von Schuleinrichtungen, die als
Volksschulen anzusehen sind. Diese kräftigen Bemühungen konnten auch
in den altgläubigen Landschaften nicht ohne Wirkung bleiben. Die Obrig-
keiten aller Gebiete Deutschlands sahen sich zuletzt genötigt, wollten sie
nicht ganz zurückgedrängt werden, eifriger für allgemeine Schulen, für
Volksschulen zu sorgen. Waren so der Staat und seine Herrscher einge-
treten in den Kreis der Förderer der Schulen, so geschah die Arbeit
doch auch jetzt noch an ihnen zum größten Teil durch Glieder des geist-
lichen Standes, weil andere geeignete Kräfte dafür nicht da waren.
Manche grünende Saat schoß empor, um leider bald in den Schrecknissen
des dreißisriährigfen Krieges zertreten zu werden. Aber doch erwuchs der Günstige Folgen
P>J Q o des Drcißlg-
Volksschule aus diesem Kriege und aus den Zeiten des Niederganges, jährigen Krieges
*-* für uu" V olks-
dessen Tiefpunkt er bildete, ein Segen. Das Elend, das er herbeiführte, schul.-.
die unsägliche Armut, die er zurückließ, die Roheit der Bevölkerung, die
er erzeugt hatte, zwangen die Regierenden unwiderstehlich, Mittel zur
BeseitigTjng dieser unhaltbaren Zustände, zur Hebung der allgemeinen
Wohlfahrt au.sfindig zu machen. Der augenfällige Parallelismus, in dem
die Not und die Unwissenheit des Volkes sich zeigten, führte von selbst
auf den Zusammenhang beider und auf Beseitigung der Unwissenheit als
das Mittel zur Hebung der Not und so zur Errichtung von Schulen auch
für die untersten Volkskreise. Das Vorgehen in erster Linie evangelischer
Fürsten auf diesem Gebiete wurde durch die geistige Bewegung unter-
stützt, die, von französischen and englischen Philosophen stammend, be-
sonders durch zwei Männer Eingang fand, durch Ratke und Comenius
(s. über sie auch S. 136 f.). Sie übertrugen die neuen Gedanken dieses
Realismus auf die Pädagogik. Sowohl die Weimarsche Schulordnung von
161 9 wie der Gothaische Schulmethodus Herzog Ernst des Frommen von
1642 stehen auf dem Boden der Ideen der genannten beiden Schulmänner.
Freilich kann der Schulmethodus in seinen Anordnungen für die Volks-
schule es nicht verleugnen, daß er aus Bestimmungen über den Unter-
richt in den unteren Klassen des Gymnasiums hervorgegangen ist. Von
ihm als dem Urahnen vieler späteren staatlichen Schulordnungen für
Volksschulen ist ein Zug der Ähnlichkeit mit den Ordnungen für höhere
Schulen auf seine Nachkommen bis in die neueste Zeit vererbt.
Den weltlichen Dingen wird in den neuen .Schulordnungen eine selb-
ständigere Stellung eingeräumt. Es handelt sich für die Landesfürsten
um die Erziehung nicht mehr ausschließlich zu guten GHedern der Kirche,
sondern auch zu verständigen Untertanen, die durch Vorwertung ihrer
geistigen Kräfte beitragen könnten, die vorhandene Dürftigkeit zu be-
seitieen und die Macht des Staates zu heben. Die notwendige Voraus- Aiigonieinc
o ^ ^ _ Schulpflicht.
Setzung des Gelingens war „die allgemeine Schulpflicht", deren Einführung
einen außerordentlichen Fortschritt für die Volksschule bedeutete. Wohl
fehlte viel, daß sie sofort voll durchgeführt wurde, aber im Prinzip war
sie vorhanden, und soweit die Staatsgewalt reichte, wurde „der Schul-
9^
Gorxr.OB Schöppa: Das Volksschulwespii.
zwang" gegon das heftige Widerstroben der beloiliglen Bevölkerungs-
kreise durchgeführt. Bemerkenswert ist es, daß auch in den Staaten
Nordamerikas das 17, Jahrhundert Volksschulen aus denselben Motiven
hervorbrachte. Die Kinder lernten hauptsächlich lesen zum Verständnis
der Heiligen Schrift. Wie in den Staaten Deutschlands kam man unter
den ersten Ansiedlern zu einer Art Schulpflicht. Gleichzeitig etwa mit
dem .Schulmethodus Ernst des Frommen sagt das Gesetz von Massachusets:
„Keiner der Brüder darf dulden, daß es in einer Familie so viel Barbarei
gebe, daß die Kinder nicht mindestens fließend lesen lernen." Und ähn-
lich lautet es in dem Gesetz von Connecticut aus der gleichen Zeit: „Ge-
denket, daß der Satan, der Feind des Menschengeschlechts, in der Un-
wissenheit der Menschen die gewaltigsten Waffen findet . . . W^isset, daß
die Erziehung der Kinder eine der ersten Interessen des Staates ist."
Religiöse und staatliche Beweggründe erwiesen sich hier ebenfalls als die
treibenden Kräfte für die Errichtung" von Volksschulen. Unverkennbar
wirkten in Nordamerika wie in Deutschland die Triebkräfte der Kirchen-
reformation nach,
Pietismus und Die ncucn pädagogischen Gedanken nahm der Pietismus auf und ent-
Volksschule.
wickelte sie weiter. Da er der Gunst vieler mächtigen Persönlichkeiten
sich erfreute, so kamen seine Ideen auch in die Volksschulen der betref-
fenden Staaten. Besonders in die Länder des der Volksschule wohlge-
neigten Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen fanden sie Eingang.
Neben der Heranziehung zahlreicher Einwanderer war ihm die Errichtung
von über 1000 Volksschulen das Mittel zur Hebung der durch Kriege
und Seuchen ruinierten Provinz Ostpreußen. Mit der Ausdehnung des
Pietismus auf außerdeutsche Länder begann die deutsche Pädagogik, wie
sie in den Franckeschen Stiftungen zu Halle in vielgestaltiger, auch auf
die Volksschule sich erstreckender und bei allen Schwächen doch groß-
artiger Weise sich entfaltete, vorbildlich auch für fremde Völker zu
werden. Die große Zahl derer, die als Studenten die Stiftungen kennen
gelernt, als Informatoren wohl gar an ihnen mitgearbeitet hatten, wurden
ihre Apostel in allen evangelischen Ländern der alten und der neuen
Welt. Bewußte Ausbildung der Methoden für die Unterrichtserteilung,
Herstellung g'eeigneter Lehr- und Lembücher, starke, daher oft ungesunde
und entgegengesetzte Erfolge erzielende Betonung der religiösen Unter-
weisung, daneben Pflege der Realien, soweit das vorhandene Lehrer-
material sie auszuüben vermochte, waren die Wirkungen dieser Epoche
auch für die Volksschule.
Zeit der Die den Pietismus ablösende Aufklärung gewann in der Pädagogik
Aufklärung. \g ^ ._
Deutschlands namentlich durch die Wirkung Jean Jacques Rousseaus als
Philanthropismus Einfluß. Auf die Volksschule hat er sich unmittelbar
weniger erstreckt. Seine Vertreter hatten sich der Erziehung von Söhnen
aus Familien besserer Kreise gewidmet. Ihre Ansichten stimmten daher
zu wenig zu den Erfordernissen fester Zucht in den Volksschulen. Schon
n. Geschichte der Volksschule. g3
der Gedanke, daß der Mensch zur Glückseligkeit in diesem Leben ge-
boren sei, konnte sich nicht in die damaligen Grundanschauungen der
Kreise, welche auf die Volksschule angewiesen waren, eingliedern. Die
in ihr maßgebende Geistlichkeit stand zum großen Teile der religiösen
Richtung der Philanthropen ablehnend gegenüber. So blieb zunächst der
Pietismus am Ruder; das berühmte General - Landschulreglement, das
Friedrich der Große gleich im Anschluß an die Beendigung des Sieben-
jährigen Krieges erließ, damit „der so höchst schädlichen und dem Christen-
tum unanständigen Unwissenheit vorgebeugt und abgeholfen werde, um
auf die folgende Zeit in den Schulen geschicktere und bessere Untertanen
bilden und erziehen zu können", zeigt noch voll das Erziehungsziel des
Pietismus: wahre Gottseligkeit und christliche Klugheit. Es ist nicht
etwa durch die Glückseligkeit des Philanthropismus ergänzt, wohl aber
geht etwas hindurch von der Untertanenpflicht im Sinne der absoluten
Monarchie.
Was der Philanthropismus an brauchbaren Elementen für die Volks- Bestrebungen
' . des treiherrn
schule enthielt, hat der Freiherr von Rochow auf Rekahn ihr vermittelt, v. Roehow
, (1734 — 1805).
insonderheit der Dorfschule. Der fragend - entwickelnde Unterricht war
ihm das Mittel, in dem Kinde Kenntnisse zu erzeugen, alles Denken
und Urteilen schloß sich an sinnliche Wahrnehmungen. Neben die Reli-
gion als Mittelpunkt trat der Unterricht in allem, was „im gemeinen Leben
vorfällt und den Kindern einst in jedem Lebensberufe nützlich sein kann".
Anschauungsübungen, gemeinnützige Kenntnisse, weibliche Handarbeiten
bildeten Erweiterungen des Lehrplans der Volksschule. Das Lesebuch
hielt seinen Einzug in sie, um sie nicht mehr zu verlassen. Roher Bar-
barismus der Zucht wurde entfernt, ohne daß Schlaffheit der Ordnung an
ihre .Stelle trat. Rochow verlangte auch energisch, daß mit Handwerkern
und unwissenden Bedienten keine Schule mehr besetzt werde, sondern
womöglich mit Kandidaten der Theologie, oder doch mit geschickten,
fleißigen jungen Leuten, die mit der Lehrart vertraut gemacht seien. Für
die Schulstellen forderte er ein auskömmliches Gehalt, der Unterricht
aber sollte unentgeltlich sein. Selbst für die Schulgebäude hatte er weit-
gehende Wünsche: Vorzüge vor den übrigen Gebäuden, Helligkeit der
Zimmer, Schmuck an zweckmäßigen Bildern, Sachen und Modellen. Es
ist das Ideal der Volksschule, das hier auf lange Zeit im voraus festgelegt
wird. Stand und hohe Verbindungen Rochows sicherten ihm die Reali-
sierung, wenn auch sehr langsam, teilweis durch die damals vorhandenen
zahlreichen Garnisonschulen.
Die Volksschule um die Wende des 18. und ly. Jahrhunderts, in der
die Gedanken Rochows lebendig geworden und in Taten umgesetzt waren,
hat trotz der geringen Ausdehnung ihrer Wissensstoffe ihre Wirkung
nicht verfehlt. Das durch sie hindurch gegangene Geschlecht war der
Einführung der Städteordnung, der Befreiung von der Erbuntertänigkeit
und kurz darauf der Erhebung von 181 3 fähig. Es braucht den Vergleich
g^ Gottlob Schöppa: Das Volksschulwescn.
mit der Generation nicht zu scheuen, die um die Wende des iq. und
20. Jahrhunderts zum Wettstreit der Industrien kühn in die Schranken
getreten ist.
Im 18. Jahrhundert besonders dehnte sich mit dem starken Eindringen
der Aufklärung in die katholischen Länder und an die Höfe gerade der
geistlichen Landesfürsten die Volksschule auch auf die katholischen Ge-
biete Deutschlands aus; Österreich, Bayern und geistliche Länder gingen
bedeutend vorwärts in ihrem Volksschulwescn, wenn es auch in einem Teil
der letzteren infolge der geringeren Kraft des Staatsgedankens gegenüber
der Kirche nicht so emporzublühen vermochte, wie in den evangelischen
Gebieten.
Anrange der Einen Sehr wichtigen Fortschritt hatte das 1 8. Jahrhundert noch ge-
Lehrerbildung,
bracht. Mit der Errichtung der Volksschulen hatte sich sofort der Mangel
an geeigneten Lehrern eingestellt. Handwerker meist sitzender Lebensart,
Hirten, Höker u. dgl., die zunächst aushalfen, erwiesen sich, zumal sie
meist ihrem eigentlichen Berufe zu ihrem Unterhalte obliegen mußten, bald
als nicht brauchbar. Invaliden, zu denen man in der Verlegenheit griff,
konnten dauernd nicht genügen; sie hatten zu wenig gelernt und waren
dabei nicht selten roh, wohl gar unsittlich. Man mußte eigene Lehrer
der Volksschule heranbilden. Hatte grundsätzlich auch schon Ernst der
Fromme von Gotha diese Notwendigkeit erkannt, so lehnten sich die
ersten erfolgreichen praktischen Versuche der gesonderten Vorbildung von
Volksschullehrem doch an Franckes seminarium praeceptorum an. Es ent-
standen auch einzelne Seminare für Volksschullehrer; daneben gab es
Einzelbildung durch geschickte Geistliche oder durch die Schulmeister,
die junge Leute wie Lehrlinge unterwiesen. Im ganzen kam es dabei
über Aneignung methodischer Kunstgriffe namentlich beim Lesenlehren
nicht viel hinaus; das Allgemeinwissen wurde auf andere Weise angeeignet,
etwa durch Besuch einiger Klassen höherer Schulen. Wie natürlich fand
viel Tasten im Dunkeln statt.
Die Volksschule Gewaltig war der Aufschwung der Volksschule im 19. Jahrhundert.
hundert. Zunüchst ihre ungeahnte Ausdehnung bei allen zivilisierten Völkern. Dies
nicht zuletzt durch das Beispiel Preußens. Im Anfang des Jahrhunderts
scheinbar vernichtet, hatte es sich schon nach wenigen Jahren wieder
machtvoll erhoben. Die lange Ruhe nach den Befreiungskriegen wurde
auch für die Volksschule eine Zeit innerer Erstarkung durch Wiederher-
stellung des Zerstörten und Ausbau der vorhandenen Einrichtungen. Die
glänzenden Erfolge Preußens im Jahre 1866 lenkten die Aufmerksamkeit
auf die tieferen Gründe solch überraschenden Gelingens. Es entstand das
Wort von dem preußischen Schulmeister als Sieger von Königgrätz, dem
die richtige Erkenntnis zugrunde lag, daß Pre\ißen seine großen Erfolge
nicht seinen verhältnismäßig geringen äußeren Machtmitteln, sondern der
inneren Kräftigung durch Mehrung der geistigen Güter bis in die unter-
sten Volkskreise verdankte. Das Jahr 1870 verstärkte den Eindruck, und
n. Geschichte der Volksschule.
95
nur zu erklärlich war es, daß die Unterlegenen den Vorteil besserer all-
gemeiner Volksbildung zu erlangen suchten.
Österreich, das bereits 1774 den Abt Ignaz v. Felbiger, den Verfasser
des Preußischen General-Landschulreglements für die Römisch-Katholischen
in Schlesien, zur Abfassung einer allgemeinen Schulordnung berufen hatte,
erließ drei Jahre nach seinem unglücklichen Kriege von 1866 das Reichs-
Volksschulgesetz, nachdem im Jahre vorher durch ein Reichsgesetz
die Volksschule unter die Leitung und Aufsicht des Staates gestellt
worden war.
In Frankreich hatten sich allgemeine Schulen als kirchliche Schulen
unter den Königen einer teilweisen Blüte erfreut; die Revolutionszeiten
fegften sie als Kirchschulen hinweg, ohne genügende neue Einrichtungen
an die Stelle setzen zu können. Die Zeiten der Restauration und des
zweiten Kaiserreichs hatten die Volksschule wenig gefördert, bis die dritte
Republik bald nach den Niederlagen des Krieges gegen Deutschland mit
Tatkraft ihre Ausgestaltung in die Hand nahm. Sie erzielte dabei sehr
liedeutsame Ergebnisse, so daß die französische Volksschule mit in erster
Reihe steht.
Auch durch die jüngste Bewegung in England für die staatliche
Volksschule zieht sich die Beobachtung, daß in dem schweren Kampfe
der Industrie und des Verkehrs Deutschlands Aufschwung ohne die Volks-
schule nicht wohl denkbar wäre.
Den Hauptimpuls für die Gründung von Volksschulen gab indes die Poiuiäche und
--, • , . 1 . .,. . \r-ii ", -11 T 1 wirtschaftliche
gesamte l'.ntwicklung der zivilisierten Volker wahrend des ly. Jahr- Kinflüsse.
Imnderts. Nachdem mit den Gedanken der französischen Revolution die
Lehre \'on der Gleichheit aller Menschen wenigstens theoretisch sich überall-
hin verbreitet hatte und allmählich konstitutionelle Staatseinrichtungen
getroffen worden waren, brachten sich die bis dahin mehr zurückgetretenen
Stände der Bauern, der Handwerker, der sonstigen Gewerbetreibenden und der
Arbeiter stärker zur Geltung und verlangten ihren Anteil an dem geistigen
Besitze des Volkes. Die Nachwirkung philanthropischer Gesinnung in
den bis dahin herrschenden Kreisen kam dem Verlangen auf halbem
Wege entgegen. Weiter machte die starke Vennehrung der Bevölkerung
sowie andrerseits das Streben nach mehr Verdienst, um eine bessere, be-
quemere Lebensführung zu erlangen, in schnell zunehmendem Maße die
Benutzung neuer Enverbswege nötig. Das Interesse des Staates ging
ebenfalls auf Vermehrung des Volkswohlstandes hinaus, der ledig^lich durch
die Roherzeugnisse wenigstens der alten Kulturländer nicht wohl zu
erzielen war; ihm mußte daher das Anwachsen der Industrie, welche den
Wert der aus dem eigenen oder aus einem fremden Lande bezogenen
Rollerzeugnisse außerordentlich erhöhte, sehr willkommen sein. Braucht
der Staat die Kraft vornehmlich der Landbevölkerung zur Verjüngung der
Gesamtbevölkerung und zur Verteidigung, so kann er doch der industriellen
Bevölkerung nicht entbehren, welche ihm die Geldmittel verschafft, die
Qh
Gon I.OB SCHÖPPA : Das Volksschulwcsen.
Gesetzliche
Unterlage.
Pestalozzi
(1746— 1827I.
er für seine umta.ssendcn Aufgaben nötig iiat. Zu gleicher Einsicht ge-
langten auch die kommunalen Obrigkeiten, denen industrielle Anlagen bald
höchst erwünscht waren, und die daher auch in steigendem Maße der
Volksschule sich annahmen, während sie früher den ent.sprechenden Unter-
richt vorwiegend der Privattätigkeit überlassen hatten. Die Fortschritte
der Wissenschaft kamen der ganzen Entwicklung zu statten. Mit dem
Eindringen in die Natur wuchs die Herrschaft über sie und die fast unbe-
grenzt gesteigerte Möglichkeit ihrer Benutzung in mannigfaltigster Arbeit.
Je stärker der menschliche Geist den Rohstoff umgestaltet, um ihn da-
durch brauchbarer für die Menschen zu machen, desto höher steigert er
dessen Wert. Die Arbeit solcher Umgestaltung setzt aber erhöhte Bil-
dung nicht nur der Arbeitsleiter, sondern auch der Arbeiter voraus. Dem
vereinten Drängen so verschiedener Gründe für Vermehrung und Hebung
der Volksschulen ist es zuzuschreiben, daß diese in dichtem Netze heute
die Länder aller zivilisierten Völker überziehen.
Die gewaltige Vermehrung führte wieder die Änderung der Gesamt-
stellung der Volksschule herbei. Der Staat des 18. Jahrhunderts hatte sie
zu einer alle verpflichtenden, allen dienenden Einrichtung gemacht. Er
ordnete im ig. Jahrhundert ihre gesetzliche Unterlage. In der Mehrzahl
der Staaten entstanden Schulgesetze. Meist nur da, wo dem Staate eine
nach Macht strebende Kirche seine Rechte bestritt, kamen solche nicht
zustande. Die Kosten des Streites aber trägt das umstrittene Gebiet.
Wie stark die gesetzliche Regelung auch nur der äußern .Schulverhält-
nisse in den gesamten Zustand der Volksschule einzugreifen vermag, zeigt
die Entwicklung des preußischen Volksschulwesens seit dem Erlaß der
Gesetze über die Erleichterung der Volksschullasten. Der Begriff der
Volksschule ist seitdem eingeengt auf die .Schulen für die untersten Bevölke-
rungsklassen. Für die Schulen der mittleren Kreise in .Stadt und Land
ist kein Raum mehr da, sie sind seitdem verkümmert oder haben wenig-
stens nicht den Aufschwung genommen wie die Volksschulen der unter-
sten Schichten.
Schularbeit hat glücklicherweise ein Schulgesetz nicht zur unumgäng-
lich notwendigen Voraussetzung. Sie geht ihren Weg auch ohne .staatliches
Gesetz. Pfadfinder hatte die Volksschule des 19. Jahrhunderts. Pestalozzi
gab ihr die treibende Kraft: die Liebe zum Volke. Er setzte der Bildung
auch der niedrigsten Menschen den höchsten Zweck: allgemeine Empor-
bildung der inneren Kraft der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit.
Er zeigte die Methode der wahren Menschenbildung: die Bahn der Natur.
.Sie enthüllt alle Kräfte der Menschheit durch Übung, und ihr Wachstum
gründet sich auf Gebrauch. .Sie geht überall von der Anschauung aus,
und sie schreitet ungezwungen, allseitig, stetig, lückenlos fort. Was um
das Wohl ihrer Landeskinder besorgte Fürsten aus praktischen Erwägun-
gen ins Werk gesetzt hatten, dem war durch Pestalozzi ein tiefer gegrün-
detes Fundament gegeben. Am lautesten fanden seine Worte im Norden
II. Geschichte der Volksschule. gj
Deutschlands ein Echo. Fichte wollte, daß die neue Nationalerziehung
an Pestalozzis Unterrichtsgang anknüpfte. In der Zeit der tiefsten Er-
niedrigung ihres Volkes hätte die Königin Luise so gern den Schweizer
aufgesucht, „um ihm mit Tränen in den Augen und mit einem Hände-
druck zu danken". Selbst Stein erhoffte die Entwicklung der Kräfte des
folgenden Geschlechtes von der Anwendung der Pestalozzischen Methode.
Auf deren Grundgedanken fußend bauten Diesterweg und Harnisch die
Methode der Volkschule weiter aus. Herbart aber vornehmlich verband Herbart
(1776 — 184I).
.sie mit der Wissenschaft, indem er sie hineinstellte zwischen die Ethik,
die das Ziel der Erziehung bestimmt, und die Psychologie, welche die im
Menschen liegenden Mittel zur Erreichung des Zieles aufzeigte. Durch
Aufstellung fester Formen für den erziehenden Unterricht schuf er ge-
wissermaßen eine pädagogische Kunstlehre, an deren Vervollkommnung
namentlich in den Kreisen der Lehrer der Volkschule noch jetzt rüstig
weiter gearbeitet wird.
\'on der Erstarkung der Volksschulpädagogik zogen besonders auch weiterbiMung
^ i. o o r r '^*-'^ Seminare.
die Lehrerbildungsanstalten Gewinn. Dem wachsenden Bedarf an Lehrern
der Volksschule entsprechend wurden neue Seminare, allmählich fast aus-
nahmslos als Staatseinrichtungen, gegründet. In den Kreis der Arbeit
wurde in verstärktem Maße die Aneignung des Wissens gezogen. Neben
die Fächer der Volksschule trat die fremde Sprache, da man einerseits
dem angehenden Lehrer die gei.stige Förderung nicht vorenthalten konnte,
die der Unterricht in ihr gewährt, andrerseits aber auch ihn näher an
die durch höhere Schulen hindurchgegangenen Bevölkerungsschichten her-
anrücken wollte. Dazu wurde die Zahl der Klassen vermehrt, oder es
entstanden besondere Vorbereitungsan.stalten.
Eng an die geistigen Strömungen, an die politische und Wirtschaft- Rückblick.
liehe Entwicklung der Völker hat sich der Weg der Volksschule ange-
schlossen. Aus rein kirchlichen vereinzelten Anfängen erwachsen, ist sie
unter Anregung der Kirchenreformation durch eingreifende Arbeit der
Landesfürsten und ihrer Ratgeber zu der allgemeinen sozialen Staatsein-
richtung geworden, wie sie heute dasteht. F'reilich blieben auch nach
dem Eintritt des Staates in die Stellung des Schulherm die Geistlichen
und ihre Gehilfen zunächst noch in der das einzelne au.sführenden Arbeit
an der Volksschule, allerdings in allmählich abnehmendem Maße, da mehr
und mehr eigens für ihren Beruf vorgebildete Lehrer sie in ihrer Tätig-
keit ablösten, so daß ihre Arbeit zurzeit fast ausschließlich nur noch
beaufsichtigend ist. Auch darin bringen sich aber naturgemäß in schnelle-
rem oder langsamerem Fortschritte Fachleute zur Geltung. Daß dies in
nicht .stärkerem Grade bi.sher ge.schehen ist, erklärt sich aus der Unent-
behrlichkeit des Einflu.sses, den der Gei.stliche in der Schulgemeinde für
die Entwicklung der Volksschule besitzt, und dann aus der weit verbrei-
teten Ansicht, daß nur der Geistliche Vertreter wahrer Religiosität sein
könne.
Da KuLTi'R DUR Gbobnwart. I. I. 7
qg Gottlob Schöppa: Das Volksschulwesen.
Das eine zeigt die Geschichte der Volksschule unwiderleglich: sie
ist in ihrer jetzigen Gestaltung durch die Macht des Staates entstanden.
Je stärker er zum umfassendsten Kulturträger wurde, desto mehr trat der
liintUiß der an der Volksschule beteiligten anderen Faktoren, insonderheit
der Kirche, zurück. So ist er der v^oniehmste Pfleger der Schule ge-
worden, und es ist daher grundsätzlich falsch, seinen bestimmenden Ein-
fluß auf die Volksschule einschränken zu wollen. Fürsten und Obrigkeiten
handelten bei ihren Bestrebungen zur Einrichtung und Hebung von Volks-
schulen ganz und gar nicht aus sentimentaler Liebhaberei für gebildete
Untertanen, sondern dem harten Drucke nachgebend, welchen der Nieder-
gang ihrer Länder durch die Depravation ihrer Bevölkerung auf sie aus-
übte. Rechte Christen, doch auch geschicktere, bessere Untertanen wollten
sie sich erziehen. Darum traten sie in den Kampf mit dem oft gewaltig
sich sträubenden Volke. Es frei zu machen von den Ketten geistiger
Gebundenheit war das Ziel, zu dessen Erreichung sie auch den Zwang
nicht scheuten.
Herrschaft über IIL Die Volksschule der Gegenwart. Die moderne Volksschule
' ist als allgemeine Unterrichts- und Erziehungsanstalt nicht denkbar ohne
vSchulzwang, da immer kulturell besonders tief stehende Kreise des Volkes
vorhanden sein werden, die geistige Bildung als etwas Überflüssiges an-
sehen. In Landschaften mit fest ansässiger Bevölkerung fehlen allerdings
solche Elemente gänzlich. Schulzwang aber vermag- nur der Staat einzu-
führen und auszuüben, weil nur er die nötigenfalls erforderliche Macht und
Gewalt dafür besitzt. In der geschichtlichen Entwicklung der Volksschule
ist es begründet, daß an ihr neben dem Staate, dem meist schon in seiner
Verfassung die Schulherrschaft zugesprochen ist, noch verschiedene, ein-
ander teilweise widerstrebende Kräfte sich zu betätigen suchen.
Familie. Das Stärkste Interesse an der Volksschule hat oder sollte wenigstens
der engste Kreis haben, in den das Kind hineingeboren wird, die Familie.
Sie ist die natürliche Erzieherin und Lehrerin ihrer Kinder; aber sie ver-
mag in unterrichtlicher Hinsicht nicht mehr alle Ansprüche zu befriedigen,
welche die neue Zeit an jeden stellt. Darum tritt der Lehrer für Vater
und Mutter ein. Die Familie kann meist durch die geordnete Vertretung
der Gemeinde ihren Einfluß auf die Schule geltend machen, leider aber
erweist sie sich durch ihre Teilnahmlosigkeit und durch ihr Widerstreben
gegen die Schularbeit öfter hinderlich als förderlich. Noch sind die Fälle
sehr vereinzelt, in denen Vater oder Mutter sich als Herren der Schule
fühlend in ihren Betrieb einzugreifen versuchen. Viel schwerwiegender
sind die Versuche, die in dieser Richtung von anderer Seite her unter-
nommen werden.
Kirche. Kirchliche Kreise wollen der Kirche möglichsten Einfluß sichern,
wenn auch in verschiedener Ausdehnung. Die einen beanspruchen, daß
sie nicht im Auftrage des Staates, sondern aus eigener Machtvollkommen-
IJl. Die Volksschule der Gegenwart. QQ
heit die Leitung und Beaufsichtigung der Schularbeit überhaupt habe,
wobei des Staates starker dienender Arm verlangt wird, während andere
die Beauftragung dazu durch den Staat voll anerkennen und noch andere
sich mit der Stellung des Geistlichen als Pflegers der Volksschule be-
gnügen. Die Kirche hat sich ganz von selbst mehr und mehr zur Pflegerin
eines Spezialgebietes, eines für die Erziehung allerdings besonders bedeut-
samen, in alle anderen eindringenden, des religiösen, entwickelt. Die
Volksschule bedarf aber außer der Religion einer Reihe von weiteren
Bildungselementen, zu deren Vermittlung die Kirche durchaus nicht am
besten geeignet ist. Auch hier hat die geschichtliche Erfahrung das letzte
Wort. Sie bezeugt aber, daß die unter dem besonderen Einfluß der Kirche
befindlichen Volksschulen stark hinter denen rein staatlicher Territorien
zurückstanden, und zwar nicht nur im Wissen.
Stark streben auch die Gemeinden als Schulunterhaltungspflichtige, Gemeinde.
ihre Interessen in der Volksschule zur Geltung zu bringen. Verhängnis-
voll dabei ist der Umstand, daß die, welche am meisten für sie zu leisten
verpflichtet sind, ihre Kinder fast ausnahmslos nicht der Volksschule an-
zuvertrauen pflegen. Daher finden sich bei ihnen auch leicht fremdartige
Gesichtspunkte für die Beurteilung ihrer Aufgaben. Nicht lediglich die
Gesittung der die Volksschule besuchenden Kinder an sich, nicht deren
bessere Befähigung zu späterer praktisch-beruflicher Tätigkeit sind ihnen
der auschlaggebende Faktor für ihre Einrichtungen, sondern nicht selten
rein wirtschaftliche oder gar politische Gesichtspunkte.
Dazu hat sich neuerdings als weitere Interessentengruppe der orga- Lihrersiand.
nisierte Stand der in der Volksschule Arbeitenden, der Volksschullehrer,
gesellt. Man muß den großen Idealismus vieler, man darf sagen, der
meisten seiner Glieder anerkennen, vermag sich aber doch nicht der Ein-
sicht zu verschließen, daß hier die Standesinteressen, die materiellen wie
ideellen, einen mächtigen Einfluß auf die Beurteilung der Schulfragen aus-
üben. Das ist zwar erklärlich, dient aber nicht zur gesunden Entwicklung
der Volksschule, die einmal nicht identisch ist mit dem Stande ihrer Lehrer.
Hart werden so von den verschiedensten Seiten die verfassungs- Staat.
mäßigen Rechte des Staates angefochten; die geordnete Teilnahme des
\'olkes an der Gesetzgebung gibt dafür die Möglichkeit. Daß wer die
Jugend hat, die Zukunft habe, wissen alle und handeln demgemäß. Die
Volksschule aber leidet darunter, daß sie der Spielball der scharf gegen-
einander angehenden Parteien ist, daß die einen ihre Rückschraubung auf
den Zustand vergangener Zeiten, die andern ihre N'orwärtsbewegung bis
zum Bruch mit der seitherigen Entwicklung als nötig ansehen, während
ihr Gedeihen doch nur dadurch gewährleistet wird, daß der Staat mit tat-
kräftiger Hand eng anknüpfend an das bisher Erreichte sie stetig zeitgemäß
weiter ausbaut zu einem Hauptmittel der Hebung des sittlich -religiösen
Charakters, der Kenntnisse und Fertigkeiten der unteren Bevölkerungs-
klassen. Dabei ist es selbstverständlich, daß den Ansprüchen der in Be-
lOO GoTTLon Schöppa: Das Volksschulwcsen.
tracht kommenden Interessenten an der Volksschule möglichst gesetzlich
zu ordnende Rechnung getragen wird. Selbstverständlich muß es aber auch
sein, daß der Staat als Herr der Volksschule sich seiner Pflichten gegen
sie bewußt bleibt. Die Volksschule ist nicht lediglich um des Staates
willen vorhanden, sondern um den einzelnen wie das ganze Volk seiner
Eigenart gemäß zur sittlichen Freiheit emporzubilden. Im Staate existierend
und durch ihn Gestalt und Bestand erhaltend, kann sie niemals Gegnerin
des Staates sein, doch darf der Staat sie nicht um äußerer Erfolge willen
halten, sondern um die Jugend für den letzten und höchsten Zweck des
Menschentums vorzubereiten. Der Staat darf daher die Volksschule nicht
nur unter dem Gesichtspunkt des äußeren Rechtsverhältnisses auffassen,
er muß Verständnis betätigen für die feinen und doch unwiderstehlichen
Triebe, durch die das Volks- und Menschentum zur Verwirklichung seiner
Idee gelangen will. Sie vertragen nicht Behinderung ihres Wachstums
durch eine nach Augenblicksbedürfnissen geformte gesetzliche Behandlung.
Wo aber Staat und Volksschule nur gesunde Ziele verfolgen, da dient der
Staat in Verfolgung seiner eigenen Interessen durch die Schule nicht allein
sich selbst, sondern auch dem einzelnen.
Notwendigkeit Die Mehrzahl der Staaten lebt infolge Verdichtung und dadurch er-
für den Staat, schwerter Erhaltung ihrer Bevölkerung in der Bewegung vom Ackerbau
hin zur Industrie. Der Ackerbau ist allein nicht imstande, einer dauernd
sich stark mehrenden Bevölkerung ausreichende Arbeit und damit aus-
reichenden Verdienst zu geben. Länder, in denen er überwiegt, sind ge-
zwungen, hohe Prozentsätze ihrer Bevölkerung an weniger dicht besiedelte
oder höher industrielle Gegenden abzugeben. Irland, auch Deutschland bis
vor wenigen Jahren, die östlichen Länder unseres Erdteils sind, wenn man
von minder kräftigen Auswanderungsgründen absieht, der Beweis dafür.
Insonderheit Deutschland hat als vorwiegend Ackerbau treibendes Land
im vergangenen Jahrhundert Millionen seiner Bewohner ans Ausland ver-
loren, wo ihre geistige Kraft sich so vermehrt hat, daß sie dem alten
Vaterlande eine starke Konkurrenz bereitet. Dem Staate muß daran
liegen, seine Bevölkerungsvermehrung- zu behalten und dadurch an Macht
zu wachsen. Das ist aber nur möglich, wenn er für ihre Bildung so sorgt,
daß sie durch verfeinerte, verbesserte Arbeit die Mittel für ihren Lebens-
unterhalt zu gewinnen vermag. Ein Blick auf manchen der kleinen deutschen
Staaten, wie namentlich Sachsen, und auf die rheinisch-westfälischen In-
dustriegebiete zeigt deutlich jedem diese Entwicklung. Friedrich Wilhelm III.
hat nach dem großen Zusammenbruch des Staates 1807 gesagt, daß Preußen
durch größte Aufmerksamkeit auf den Volksunterricht an innerer Macht
und innerem Glanz gewinnen muß, was es an äußerer Macht und äußerem
Glanz verloren hat, und sein Sohn, der große Kaiser, hat es 1858 als
Regent ausgesprochen, daß Preußen durch seine Schulen die verschiedenen
Klassen über ihre Sphären heben müsse. Beide Worte geben sichere
Direktiven für die Stellung' dieses Staates zur \'olksschule, der seinen Platz
III. Die V^olksschulc der Gegenwart. jqI
nur behaupten kann, wenn er sorgt das zu bleiben, als was Viktor Cousin
ihn 1835 bezeichnet haben soll: „das klassische Land der Schulen und der
Kasernen" Die Stellung- und Bedeutung der Volksschule Preußens ist aber
typisch für die Stellung und Bedeutung der Volksschule überhaupt.
Die Wirklichkeit scheint allerdings vielfach der dargelegten Auffassung
von der Bedeutung der Volksschule für den Staat ganz direkt zu wider-
sprechen. Zwar ohne die Verallgemeinerung und Steigerung der Volks-
bildung wäre der fast einzigartig dastehende wirtschaftliche Aufschwung
des Deutschen Reiches nicht möglich gewesen und ohne sie auch nicht die
Aufstellung eines so kampfeslüchtigen Heeres. Aber ohne sie, läßt sich
dem entgegenhalten, gäbe es auch nicht die Feindschaft gegen Staat und
Kirche in der Ausdehnung und Schärfe, wie sie heute besteht. Nicht als ob
die Volk.sschule diesen Einrichtungen feindselige Lehren verbreitete. Was
in ihr gelehrt wird, ist davon weit entfernt. Aber wer in seiner Jugend mit
dem Lesen auch denken gelernt hat, der hört auf, ein leicht gefügiges
Werkzeug der Herren zu sein, die nach Luthers Erklärung des vierten
Gebotes neben den Eltern zu achten sind; die alten patriarchalischen Zu-
stände schwinden, wenn der Bildungsstand steigt, das gilt in sozialer und
in religiöser Hinsicht. Wo neue Ideen in der Menschheit sich durchsetzen,
da fallt ganz von selbst viel Altes. Ihre Kraft haben diese großen Be-
wegungen aber nicht in dem Wissen, sondern in dem Gefühl, welches das
Wissen oft zu den schwersten Irrtümern verleitet. Die Volksschule kann
dagegen in erster Linie zur Erfüllung der eigenen Pflicht als dem sicher-
sten Fundament des Glückes erziehen und im Unterrichte die überzeugte
Erkenntnis anstreben von dem, was wahr, was wirklich und was in der
Welt möglich ist, damit sie allmählich Herr werde über falsche Gefühle
und den Willen vernünftig beeintlusse. Doch vergesse man dabei nicht,
daß ein vierzehnjähriges Kind nicht ohne Schädigung über die Gedanken
belehrt werden kann, die den Zwanzig- und Mehrjährigen bewegen.
Die Erörterung und Darstellung der Mittel zur Hebung und Förderung
der Volksschule bildet ein im allgemeinen zwar viel, aber doch nicht ent-
sprechend ertragreich bebautes Gebiet, auf dem hauptsächlich die sich be-
tätigen, welche in der Volksschule und an ihr arbeiten, während die Vertreter
aller an der Volks.schule Beteiligten, insonderheit des Staates, als des
Schulherm, darlegen und beurteilen sollten, was die Volksschule leisten
soll und leisten kann, auf welche Ziele sie hinzuarbeiten hat, welche
Mittel für sie aufzubringen sind, damit sie ihre Aufgaben erfülle. Am
kräftigsten und nutzbringendsten ist sie vorwärts gekommen, als l-'ürsten
wie Ernst von Gotha, F'riedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große, die
pädagogischen Gedanken ihrer Zeit in sich aufnehmend, mit weitem, freiem
Blick Bestimmungen über sie erließen.
Höchst mannigfaltig ist die Volksschule in ihrer äußern Gestaltung, vcrs.hieden.
!-.■ T^ • 1 • -rv c ' r artißo äußere
Die Kmder emes Dorfes mit fest ansässiger, bäuerlicher Bevölkerung, (Jesuituuncn
, , , , . , -, . 1 T-^.. . ... ... -r^ - der \'olksschuIe
welche dereinst wieder als Bauer und Bauerin zur Aristokratie ihres Dorfes und ii.r wert.
JQ2 Gottlob Schöpi'a: Das Volksscluihvfseii.
gehöron w ertk'u, sind schon stark vorschicdcn von denen eines Dorfes mit
schnell wechselnder proletarischer Arbeiterbevölkerung. Von beiden aber
weicht erheblich das Bild ab, das die Volksschule einer städtischen oder
ländlichen Indiistriegegend gewährt. Die kleine, niedrige Hütte in der
entlegenen Ansiedlung, abgeschlossen durch Wasser oder durch unweg-
same Gebirge, wo ein Lehrer die wenigen Kinder, Knaben und Mädchen
jeden Alters vereint, täglich während ihrer Schulzeit imi sich versammelt,
und das fast palastartige Gebäude einer dicht bevölkerten Gegend, voll
heller, weiter Räume, in das tausend und mehr Kinder, Knaben und
Mädchen getrennt, zusammenströmen, um gemäß der Anordnung eines
Rektors nach ihren Jahrgängen in Klassen verteilt, von mehreren Lehrern
unterrichtet zu werden: beides sind Volksschulen. Unendlich viel reicher
sind letztere eingerichtet, und wer danach urteilt, müßte ihnen den weiten
Vorzug als Kulturvermittlerinnen einräumen. Aber welche Volksschul-
systeme noch so großer Ausdehnung haben die Erfolge aufzuweisen, wie
die kleinen Volksschulen nicht dicht bevölkerter Gegenden, aus denen Ge-
lehrte, Künstler und Dichter erster Ordnung hervorgegangen sind? Diese
werden besucht von Kindern aller Volkskreise, die noch fest wurzeln in
dem heimatlichen Boden; es ist ein besseres Kindermaterial, als das der
Große Schulen. Volksschulc in der Gegend mit stark wechselnder Bevölkenmg. Wohl ist
die Errichtung großer Schulkomplexe billiger, bequemer und eindrucks-
voller, aber wertvoller ist die Arbeit in den Schulen, wo die Voraus-
setzung jedes Gedeihens derselben: Stille und Wärme, möglich ist, wo
wenigstens der Schulleiter, besser jeder Lehrer, noch sämtliche Schüler
kennen kann und den Boden, auf dem die Kinderpflanze sich bis dahin
entwickelt hat, w^o er sie in ihrer Eigenart zu verstehen, ihre Vorzüge zu
pflegen, ihre Mängel auszugleichen vermag, wo noch etwas zu spüren ist
von Vaterernst und Vatertreue gegen jedes der Kinder. Nicht pädago-
gische Gesichtspunkte haben zu Massenschulen geführt, sondern haupt-
sächlich pekuniäre, und nicht zuletzt das Streben nach äußerem Glanz.
Zahl der Der Wert der Volksschule beruht nicht in ihrer Größe, auch nicht in der
.-lufsteijjendeu
Klassen, aufsteigenden Zahl ihrer Klassen an sich. Für jedes Schuljahr eine Schul-
klasse zu haben, danach den Lehrplan einzurichten, ist nur richtig bei an-
nähernd gleichwertig gut beanlagten Schülern. Es entspricht aber nicht
der Entwicklung der Kinder in ihrer großen Mannigfaltigkeit. Nur wenige
gehen so schnell und gleichmäßig weiter, daß sie jährlich größeren neuen
Stoff sich assimilieren können. Die Ziele der Schulen aber nach der
Leistungsfähigkeit ihrer schwachen Schüler festzusetzen, ist ein Vergehen
an den tüchtigen Schülern und an dem Staate, der Weckung und Stärkung
aller Kräfte seiner Bewohner zu seiner Existenz bedarf. Darum ist auch
Mannigfaltigkeit, nicht Uniformität das Richtige für die Gestaltung der
Volksschulen. Daß die Volksschule überall da, wo der Lehrer übergroße
Klassen zu unterrichten hat, ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, sondern an
einer handwerksmäßigen Abrichtung sich genügen lassen muß, wird ver-
III. Die Volksschule der Gegenwart. jqi
Ständlich, wenn man mit den 80 und mehr höchst ungleichartigen Schülern
einer \'olksschulklasse die geringen Zahlen der weit homogeneren Schüler
von Klassen höherer Schulen oder gar die kleine Zahl von Soldaten ver-
gleicht, für deren Ausbildung in viel sinnenfälligeren Dingen ein Offizier
und mehrere Unteroffiziere vorhanden sind.
Cianz aus den Vorhältnissen der \'olksschule heraus hat sich in ihr Gemeinsamer
auch die Frage der gemeinsamen Erziehung (coeducation) der Knaben und Knaben und
Mädchen beantwortet. In den kleinen Volksschulen mit einem Lehrer ist
die gemeinsame Erziehung selbstverständlich, aber auch bei Schulen mit
vier und fünf Klassen zieht man mit Recht eine größere Zahl aufsteigen-
der Klassen weniger aufsteigenden Klassen mit getrennten Geschlechtern
vor. Und selbst in den großen Städten, wo man die Knaben und Mäd-
chen getrennt unterrichtet, ist der Unterricht doch in den wesentlichsten
Stücken nach Umfang und Ziel gleich, keinesfalls so verschieden wie der
Unterricht der höheren Knaben- und der höheren Mädchenschulen. Wer
je vor gemischten Klassen gestanden hat, weiß es, wie günstig die gegen-
seitige Ergänzung der Geschlechter wirkt: des Knaben Kraft, des Mäd-
chens Anmut; seine Unbeholfenheit, ihre Geschicklichkeit; seine Ausdauer,
ihre .Schnelligkeit; sein nüchterner Verstand, ihr sinniges Gefühl. Aber
die Grenze der Gemeinsamkeit ist sicher gesteckt von der Natur. Ge-
meinsame Erziehung ist förderlich nur so lange, als in dem Kinde die
zwei Blumen noch vereinigt sind, so lange die Knospe noch beide, die
Jungfrau und den Jüngling, in ihm zudeckt. Solange dies der Fall ist, sind
die Geschlechter zu gegenseitigem Vorteil gemeinsam zu unterrichten.
Die Not hat dazu geführt, daß man wenigstens hier und da nament- Hilfsschulen,
lieh in größeren Städten besondere „Hilfsklassen" und „Hilfsschulen" mit
geringen Frequenzen eingerichtet hat. Der köqierliche und geistige
Niedergang weiterer Bevölkerungskreise wird in verstärktem Maße dazu
führen. Sie sind keine pädagogische l.iebhaberei und kein Luxus, haben
vielmehr eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Die immer zahl-
reicheren Elemente der Bevölkerung, die auf dem Wege der Schulbildung
normaler Kinder zurückbleiben und in geringerem oder stärkerem Maße
erwerbsunfähig sind, sollen geistig so weit gefördert werden, daß sie in
einer x\rbeit, die selbständigere Tätigkeit des Geistes nicht voraussetzt,
ihren Unterhalt erwerben.
Groß sind die Verschiedenheiten der Verhältnisse, unter denen die innerer Betrieb.
Volksschule arbeitet. Nicht so, wie es erwünscht wäre, hat sich der innere
Betrieb dem angepaßt. Der formale Zweck der „Bildung geistiger Kraft",
wie ihn Pestalozzi betonte, hat, abgesehen von dem Einfluß der höheren
Schulen auf die Volksschule, bei der großen Bedeutung der Persönlichkeit
Pestalozzis in dieser Hinsicht nicht günstig auf die Gestaltung der Lehrpläne
der Volksschule eingewirkt. Der Unterrichtsstoff löste sich zu sehr los von
der Wirklichkeit, in der das unterrichtete Kind stand, und für die es er-
zogen werden sollte. Für die Wahl des Stoffes war dessen formal bildende
jQ, GoTll.oH Stniiri'A: Das VolksstliulwcsiMi.
Kraft oft iuisschUiggcbender, als der ihm an sich innowohnetide Wert. Mit
dadurch wurde es veranlaßt, daß nicht immer grundlos der Volksschule
und ihren Lehrern der Vorwurf gemacht werden konnte, sie gingen in den
Kleinlichkeiten der Methodik auf, der vermittelte Stoff dagegen sei viel-
fach minderwertig, ja unrichtig. Nicht so sehr nach großen Gesichts-
punkten als nach dem jeweilig hervortretenden Bedürfnis hat sich der
Unterrichtsbetrieb der Volksschule ausgestaltet. Was in einzelnen fort-
geschritteneren Bezirken erreicht war, galt bald als allgemeine Norm. Die
Entwicklungslinie hat aber keineswegs immer gerade aufwärts geführt.
Aktion und Reaktion kommen auch hier in fortwährendem natürlichen
Wechsel zur Geltung.
Leiirfachcr J. r Zu den alten Unterrichtsfächern der Volksschule: Religion, Lesen,
Gesang hat sich bereits im i6. Jahrhundert das Schreiben und Rechnen
gesellt. Das i8. Jahrhundert brachte den Unterricht in den sogenannten
Realien (Geschichte, Erdkunde, Naturkunde) und das neunzehnte Zeichnen,
Turnen für Knaben und Handarbeit für Mädchen. Das sind die zurzeit
in Deutschland und in den meisten andern Ländern üblichen Eächer. Nicht
in der Schaffung neuer Kulturwerte, sondern in deren Vermittlung an die
breitesten Schichten des Volkes besteht die Arbeit der Volksschule. Was
für Kulturelemente aus den genannten Unterrichtsfächern die Volksschule
vermittelt, ist davon abhängig, aus welchen Bevölkerungsschichten sie
sich rekrutiert, und welcher Beschäftigung zum Erwerb ihres Lebensunter-
haltes die Kinder sich später hauptsächlich zuwenden werden. Die Volks-
schule kann nicht Eachschule im eigentlichen .Sinne sein, aber darauf muß
sie hinarbeiten, durch Rücksichtnahme auf die Berufsarten und die ganze
Lebensführung der Kinder zu befähigen, daß sie sich erwachsen in ihrem
Lebenskreis zurechtfinden und Besserungen in ihm vorzunehmen vermögen.
überwiegen Im ganzen ist das Gepräge der Volksschule zu stark städtisch, ja man
Gesichtspunkte. kann behaupten, großstädtisch geworden. Die ursprüngliche Anlehnung
der Volksschule an die städtische höhere Schule, die Herübemahme von
deren Einrichtungen mangels selbständiger Entwicklung infolge des Fehlens
klarer Erkenntnis der verschiedenen Aufgaben beider Schularten haben
dazu von vornherein hingeführt. Die größere geistige Regsamkeit der
städtischen Volksschullehrer und die Möglichkeit, der Schularbeit sich un-
eingeschränkter widmen zu können als der durch allerlei sonstige Be-
schäftigung wie Land- und Gartenbau oder Kirchendienst in Anspruch
genommene Landlehrer, die Herstellung von Lehr- und Lernmitteln über-
wiegend durch städtische Volksschullehrer haben diese Richtung auf das
städtische Leben besonders gekräftigt. Einfluß darauf hat auch die Führung
des Volksschullehrerstandes durch seine großstädtischen Glieder infolge
des festorganisierten Lehrervereinswesens gehabt. Anfange zum Bessern
sind da, aber sie müssen erheblich kräftiger werden, wenn sie nachhaltig
wirken sollen. Die größere Seßhaftigkeit der ländlichen l^ehrer ist dazu
notwendige Voraussetzung, da nur dem Lehrer, der auf der gleichen Stätte
III. Die Volksschule der Gegenwart. I05
seiner Tätigkeit länger verweilt, möglich ist, an den mitgebrachten Vor-
-stellungskreis der Kinder anzuknüpfen und auf ihn abzuzielen. Zurzeit
findet sich aber wie bei unsrer Gesamtbevölkerung so auch bei den
Lehrern der kräftigere Beharrungszustand in den größeren Städten.
Die Kultur, welche die Volksschule den Kindern vermitteln will, ist in sittliche iseoin-
fiü^siinj; durch
erster Linie sittlicher Art. Normalerweise sollte da vornehmlich das Litern- die Volksschule
haus wirken. Indes seine Einwirkung ist nicht immer ausreichend, weil seine
Kraft durch schwierige Lebensverhältnisse gelähmt wird oder weil es infolge
des Mangels eigner Sittlichkeit dazu außerstande ist. Der Staat aber hat
nicht nur zu seiner eignen sicheren Fundamentierung die Sittlichkeit nötig,
sondern ohne sie vermag auch kein einzelner glücklich zu sein. Darum sorgt
der Staat durch die Schule für Erziehung zur Sittlichkeit. Die Volksschule
hat das Elternhaus zu vertreten. Und ihr stehen Mittel dafür zur Verfügimg.
Li diesem täglichen Gleichmaß der Arbeit während acht Jahren bildungs-
fähigsten Alters liegt ein gut Teil erzieheri.scher Kraft. Mehr als zwei-
tausendmal hat das Kind der Volk.s.schule während .seiner Schulzeit häus-
liche Aufgaben gefertigt, hat es sich bemüht, pünktlich zur Schule zu
kommen, hat es gesorgt, daß es rein, heil und glatt an Körper und
Kleidung vor den Lehrer trete. Da wächst es hinein in die Liebe zur
Arbeit, zur Pünktlichkeit, zur Ordnung. Durch Gewöhnung geht der Weg
zur Gewohnheit. Die Hauptsache dabei ist die Persönlichkeit des Lehrers. Lehrer-
pt-rsönlichkeit.
Sein Ernst, seine Treue, sein Fleiß, sein Eifer, sein Frohsinn drücken dem
kindlichen Gemüte unverwischbare Spuren auf, wenn sie ohne Aufdringlich-
keit ihm entgegentreten. Freilich auch nur da, wo inneres Gleichmaß, Ruhe
und Besonnenheit vorhanden sind, wo nicht hastende Neueindrücke die
früheren verwischen. Der Lehrer in reiferen Jahren ist dabei im natür-
lichen Vorteil gegenüber dem jungen, der ja nicht meinen darf, durch
viele Neuerungen etwas zu erreichen, sondern der die Stetigkeit der Arbeit
ganz besonders anzustreben hat. Ruhige Besonnenheit ist dem Lehrer
auch unentbehrlich bei der Anwendung der äußersten ethischen l-'.rziehungs-
mittel, bei Belohnung und Strafe. Wer erstere weise zu verwenden ver-
steht, wird zu letzterer selten genötigt werden.
Auf ethischem Gebiete liegt weiter der Einfluß des Gemeinschafts- Zusammenleben
, der Kinder.
lebens der Kinder untereinander. Die Familie übt viel, oft zu viel Liebe
und Nachsicht, so daß selbstisches Wesen im Kinde entsteht und gepflegt
wird. Die Volksschule kann Rücksichtnahme allein nicht walten lassen.
Die Gerechtigkeit verlangt gleichen Maßstab für alle, deren Kräfte gleich
•sind. Da .streift Eigensucht sich ab. Nächstenliebe, Mitleid und Barm-
herzigkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind Pflanzen, die auf dem
Boden des gemeinsamen Lebens der Volksschule fröhlich gedeihen. Doch
die Münze dieser kräftigen Miterziehung durch Mitschüler hat ihre Kehr-
seite: die Gefahr des schlechten Beispiels und unmittelbarer Verführung.
Der Lehrer vermag sie mindestens abzuschwächen, wenn in allem, was er
tut, der Geist uneingeschränkter Reinheit und Wahrhaftigkeit waltet, Dann
Io6 Gorri.oH Sch'H'I'A: Das Volkssrhulwesen.
wird rill sittlich \ (»rkominrncr Schüler so leicht die anderen nicht an-
stecken, weil sie ihn meiden.
KoiiRiüso Kill- Die sittliche Einwirkung der Volksschule ist ohne die religiöse nicht
Volksschule, denkljar. In der christlichen Religion insonderheit liegen unverwüstliche
Kräfte der Sittlichkeit, die ihre Betätigung im gesamten Volksleben fordern.
Der französische Ministerialerlaß über die Volksschule vom 27. Juli 1882
bringt in den Artikel XV beigegebenen Lehrplänen einen Lehrplan für
den sittlichen Unterricht. So sehr er sich bemüht, vermag er die religiösen
Gefühle nicht zu entbehren und als Hauptpflicht gegen Gott nennt er den
Gehorsam gegen die göttlichen Gesetze. Die Volksschule ist eine Er-
ziehungsanstalt, die der Religion benötigt, sie muß darum ihrem Lehrer
auch den Religionsunterricht belassen. Wird er ihm genommen, sinkt
seine Autorität bei den Schülern, die sehr wohl empfinden, daß der Lehrer
als nicht befähigt dafür angesehen wird.
Reiigions- Es ist aber auch für die Volksschule, ja vielleicht da am meisten eine
Täuschung, wenn man glaubt, durch Unterricht allein den Kindern Reli-
gion aneignen zu können. Sie wird anerlebt, nicht angelernt. Das gilt
besonders für den geistigen Zustand, in dem die Kinder zur Schule kommen,
schließt aber nicht aus, später, nachdem der Keim religiösen Lebens sich
weiter entwickelt hat, ihn durch das Licht religiöser Belehrung zur vollen
Entfaltung zu bringen. Darum kann aller Unterricht der Volkschule eines
religiösen Zuges nicht entraten. Es ist ein großes Ding um die Errungen-
schaften der Naturwissenschaft, aber das von ihnen erhoffte Glück haben
sie nicht gebracht; ja bei ihrem Eindringen in die breiteren Kreise drohen
sie das geistige Leben stark zu vergröbern und seines tieferen Gehaltes
zu entleeren, wenn dagegen nicht der Damm einer idealen Welt- und
Lebensanschauung- aufgeworfen wird, dessen Krone die Gewißheit einer
übenveltlichen Wirklichkeit, der religiöse Glaube, bildet. Auch die Ge-
schichte lehrt es, daß die Glanzzeiten der Völker religiös stark beeinflußt
waren. Darum ist es unmöglich, dem Gedanken ernsthaft näher zu treten,
den Religionsunterricht aus der Volksschule zu entfernen. Für unsere
deutsche Volksschule wenigstens, die nicht nur Wissen vermittelt, die er-
ziehen will und muß, wenn sie sich nicht selbst aufgeben soll, ist der
Religionsunterricht das Herz der gesamten Schularbeit. Aber nicht die
Menge des religiösen Wissens gibt einen richtigen Maßstab für die Kraft
des religiösen Lebens ihrer Besitzer, ja oft stehen beide in umgekehrtem
Verhältnis zueinander, weil der Religionsunterricht nicht innerlich den
Lernenden erfaßt hat und nur erreichte, Gedächtnisstoff anzuhäufen, weil
zu dem Wissen nicht das Gewissen getreten ist. Die schwerste und be-
deutsamste unterrichtliche Aufgabe auch für die Volksschule besteht zur-
zeit wohl darin, einen Weg zu finden, wie in ihr ein gedeihlicher Reli-
gionsunterricht erteilt werden kann, nachdem eine Kluft entstanden ist
zwischen der altkirchlichen und der neutheologischen Anschauung. Eine
allgemeingültige Beantwortung der Frage kann es nicht geben, denn das
III. Die Volksschule der Gegenwart. IO7
Christentuni hat sich ganz naturgemäß nach Konfessionen ausgestaltet und
seine Art ist nicht unbeeinflußt geblieben von dem Charakter der V'olks-
stämme. Nur das darf nie aus dem Auge \erloren werden, daß die Volk.s-
schule nicht Aneignung theologischer Kenntnisse, sondern Wirkung reli-
giösen Lebens anstrebt. Der Pulsschlag eines solchen ist nirgends so fühlbar,
als in der mannigfaltigen Darstellung der Bibel. Theologische Einleitungs-
fragen interessieren das Kind nicht. Daß ab<>r die -Sprache und die .\n-
schauungsweise eines zeitlich und räumlich fernen Volkes manches anders
zur Darstellung bringt, als das Kind gewohnt ist, merkt es selbst bald. In
den verschiedenartigsten Formen den ewig wertvollen religiösen Gehalt zu
finden und verstehen zu lehren, ist Aufgabe auch der Volksschule. Kirche Kirche und
Volksschule.
und Volksschule sind zwei aufeinander angewiesene Einrichtungen, Ihrer
beider Ziel ist die religiös-sittliche Erziehung des Volkes. Die Vertreter
beider haben die ernsteste Pflicht, sich zu helfen und zu dienen. Wer das
gegenseitige Verhältnis nur in dem Gesichtswinkel der Machtfrage ansieht,
wer sie beide als Vertreter verschiedener, ja entgegengesetzter Welt- und
Lebensanschauung hinstellt, bringt dem Volke schweren Schaden. In der
unersetzlichen und überragenden Bedeutung der Religion für die Erziehung
wie für die Gewinnung einer zuverlässigen Lebens- und Weltanschauung
aller derer, die sie auf dem Wege philosophischer Denkarbeit nicht zu er-
langen vermögen, liegt es, daß die Volksschule grundsätzlich konfessionell
einzurichten ist. Am allerwenigsten sind Zeiten konfessioneller Spannungen
geeignet, sie simultan zu gestalten. Feste Geschlossenheit in der eignen
Konfession für die Tätigkeit der Volksschule ist aber nicht identisch mit
Polemik gegen Andersgläubige und hat nichts zu tun mit der Herrschaft
der Kirche über die Volksschule. Wirkliche Toleranz, nicht IndifFeren-
tismus, in religiösen Dingen gedeiht hur auf dem Boden der Sicherheit
des eigenen Glaubensstandpunktes. Tatsächlich ist die Volksschule unter
normalen \'erhältnissen auch stets konfessionell gestaltet gewesen. Die
Auffassung, daß in dem preußischen Landrechte die gesetzliche Unterlage
für die allgemeine .Simultanschule gegeben seii konnte nur zu einer Zeit
entstehen, die zu wenig geschichtlich in die Anschauung der Zeit des
großen Friedrich eingedrungen war, der jeden nach seiner Fasson selig
werden lassen wollte, und die die staatskirchlichen Grundsätze seiner Re-
gierung übersah. Daß aber doch hier und da in Gegenden mit national
gemischter Bevölkerung Simultanschulen entstanden, hatte seinen Grund
in dem Mangel verfugbarer Mittel und geeigneter Lehrer, sowie in natio-
nalen Gesichtspunkten. Die Xot der Zeit führte zu ihnen, nicht grund-
sätzliche Neigung.
Auf dem sittlichen Gebiete liegt auch die Pflege des vaterländischen vateriandssi.m
"^ "^ in Jcr Volks-
Sinnes in der Volksschule nicht nur durch ein bestimmtes Unterrichtsfach schule.
etwa, wie die Geschichte, sondern vielmehr dadurch, daß aller Unterricht,
gerade weil er beschränktere Wissensgebiete umfaßt, durchaus bodenständig
und national sein kann. Hier hat die Volksschule einen Vorzug vor der
Io8 Gottlob ScuiirPA: Das Volksschulwcscn.
h(")horii, die schon durch den Betrieb der fremden Sprachen in ihr ganz
von selbst zu einer gewissen Inteniationalität gedrängt wird. Nicht zu-
fälhg hat seinerzeit die \'olksschule der Franckeschen Stiftungen in Halle
den Namen „Deutsche vSchule" erhalten im Gegensatz zu dem Hauptbe-
standteil der sonstigen Stiftungsschulcn, zu der „Latina". Der Volksschul-
lehrer ist in der Lage, wurzelecht nationale Bildung zu vermitteln. Ganz
besonders gilt dies von dem Landlehrer, in dessen gesamtem Unterrichte
die Heimat die erste Rolle spielt, der dadurch aber auch einen Heimat-
sinn zu erzielen vermag, wie ihn die Volksschule der Großstadt trotz aller
Bemühungen der Lehrer nicht erreichen kann. In diesem grundnationalen
Charakter der Bildung der Volksschule liegt ein großes Stück ihrer Be-
deutung. Die Glieder des Volkes, die durch sie ihre Bildung erlangt
haben, sind ein Ferment für das Volksleben, das ein Gegengewicht bildet
zu der mehr oder weniger nivellierten Masse der Gebildeten.
Intellektuelle Durchaus Vereinbar mit der religiös-sittlichen Beeinflussung des Willens
Beeinflussung ^ ^
durch die Volks- als der ersten Tätigkeit der Volksschule ist es aber, daß sich darin deren
schule.
Arbeit nicht erschöpft. Die Kinder, die sie besuchen, werden fast durch-
weg darauf angewiesen sein, sich später durch ihre Arbeit zu ernähren.
Je stärker das Anwachsen der Bevölkerung, desto mehr Glieder des Volkes
sind gezwungen, den alten ursprünglichen Ernährungsweisen des Acker-
baues und der Viehzucht den Rücken zu kehren und zu industriellem Er-
werbe überzugehen. Aber auch Ackerbau und Viehzucht selbst verlangen
in der ganzen Einrichtung ihres Betriebes, in der Handhabung der immer
verfeinerten und zusammengesetzteren Geräte geistige Zutat zu der körper-
lichen Arbeit, wenn sie in dem schweren Ringen der Konkurrenz noch
ernähren und nicht zur Ab- und Auswanderung zwingen soll. Dem Staate,
der Gemeinde liegt daran, Bürger zu erziehen, die etwas zu leisten im-
stande sind. Darum muß die Volksschule in allerlei nützlichen Dingen
unterrichten.
Unterricht in der Lescn Und Schreiben stehen nach Alter und Bedeutung voran, sie sind
Muttersprache. ^
die Grundlage für alle spätere Weiterbildung. Buchstaben zu Silben, Wörtern
und Sätzen zusammenzufügen, ist nicht das letzte Ziel des Leseunterrichts.
Unsere deutschen Volksschullesebücher wollen dem Kinde des Volkes seinen
Anteil an den reichen Schätzen des Geisteslebens in unsrer Literatur ver-
mitteln. Das Kind lernt aus ihm die besten Dichtungen neben den Ar-
beiten hervorragender, volkstümlich schreibenden Gelehrter der verschieden-
sten Wissen.sgebiete kennen. Man fordert heute mit Recht auch Berück-
sichtigung der Neueren und Neusten, und man wird sie erhalten. Die
starke Benutzung- der Volksbibliotheken, der Ankauf der mancherlei Aus-
gaben der Klassiker gerade durch die Bevölkerungsschichten, welche in
der Volksschule unterrichtet wurden, sind Beweis für ihre anregende
Tätigkeit auf diesem Gebiete. Aber Schriftsteller und Dichter setzen fast
immer gereifte Menschen als Leser ihrer Werke voraus. Daher sind
richtige Auswahl der Stücke für Kinder und eine Behandlung, die das
in. Die Volksschule der Gegenwart. lOQ
Interesse weckt, nicht ertötet, die fem von allem Schematismus ist,
Hauptforderungen an das Lesebuch und seine Behandlung in der Volks-
schule.
Um die Kinder der Volksschule tiefer in unsere Literatur einzuführen, TUeater-
. . aulführungen für
hat man ihnen neuerdings auch den Besuch klassischer Schauspiele er- aio voikssci.uie.
möglicht. Das kann bei nicht langweilender Vorbereitung gewiß auf
manche Kinder gut wirken, aber läng.st nicht alle haben erziehlichen Ge-
winn davon. Rüstungen, Waffen, Gewänder und sonstige Ausstattungs-
gegenstände sind nicht wenigen am wichtigsten. Wolkengekräusel um
den Mond sehen sie, den Mond selbst nicht. Es ist eine Verkennung,
zu glauben, daß man Kindern der Volksschule die psychologischen Pro-
bleme in der Jungfrau von Orleans, in Maria Stuart verständUch machen
kann. Nur Wilhelm Teil mit seiner menschlich einfachen, vielfach volkstüm-
lichen Handlung dürfte auch eine pädagogische Wirkung ausüben können.
Anders liegt es, wenn man diese Theatervorstellungen für Kinder als
ein Mittel der Erziehung zu edlem Genuß ansieht. Da werden sie wichtige
Dienste leisten.
Mit dem Lesen verbindet sich in den Volksschulen das Schreiben, schreiben.
Noch sehr viel fehlt, daß es eine auf die Dauer leicht geübte Fertig-
keit ist. Auch bei den Aufsätzen gilt dies und bei einfachsten Schritt-
sätzen. Es i.st mehr Selbständigkeit und eigne Arbeit anzustreben, weniger
ängstliche Leitung. Lieber einfache eigne, als geistreiche fremde Ge-
danken, lieber schlichte und selbstgemachte, wenn auch nicht immer kor-
rekte Ausdrucksweise als hochfrisierte. Gesunde Natürlichkeit muß in den
deutschen Unterricht einziehen und volle Sicherheit in den Elementen,
wie sie nur viel Übung erzielt.
• Auf richtigere Bahnen hat der Rechenunterricht der Volksschule ein- Rechnen.
gelenkt, seitdem er mehr und mehr die seinem Betriebe anhaftende Er-
innerung an die Zeit seiner Entstehung bei den Geldgeschäften mit den
italienischen Handelsemporien abstreift und Zahlkraft wie Rechenfertigkeit
an Aufgaben aus den Sachgebieten des Lebenskreises der Kinder übt.
Auch die Raumlehre sieht viel richtiger ihr Ziel in Abmessung, Schätzung
und Berechnung der einfachen Flächen- und Körperverhältnisse, als in dem
Beweis des Pythagoras.
Der Unterricht in den sogenannten Realien zeitigt erfahrungsmäßig Geschichte und
oft recht geringe Erfolge. Er lehnt zu stark an den Betrieb in den
höheren Schulen an und behandelt nicht selten Dinge, die dem Kinde
zu fern und zu hoch liegen. Der Anschauungskreis jedes Kindes bietet
Objekte, welche auf ältere Zeiten führen und darauf, daß sie nicht
immer besser waren als die Neuzeit. An sie lehne der kulturgeschicht-
liche Unterricht an, er bringe auch von den wirtschaftlichen Dingen
das, was Kindern verständlich i.st. Etwas Blut und Eisen ist indes der
Kultur in dem Geschichtsunterricht beizumischen. Ein ordentlicher, herz-
hafter Junge und auch ein tüchtiges, gesundes Mädchen begeistern sich
I lO
fiOTixoH Scik'iI'I'A: Das Volksschulweseii.
Erdkunde.
N.itiirkuniU'.
Ästhetische
Bildung,
Gesang.
Zeichnen.
Deutsch.
Schmuck der
Schulräume.
noch immer am meisten an den Helden ihres Volke.s, die ihr Leben mutig
wagten zum Ruhme und zur Freiheit ihres Vaterlandes. Das Beste an
der Geschichte ist einmal die Begeisterung-, die sie erzeugt.
Ebenso wie der geschichtliche muß der erdkundliche und der natur-
kundliche Unterricht die Heimat benutzen. Er lehre die Kinder deren
Eigenart sehen und lieben. Der Sumpf, die Dünenbildung der Ebene, die
Quelle, das Gebirge bieten für beide Unterrichtsfächer eine Fülle von
Stoff. Der Zusammenhang ist aufzuweisen zwischen den natürlichen Zu-
ständen der Heimat und ihrer Kultur. In der Heimatkunde muß alles
Papierwissen schwinden; sie darf kein Unterrichtsfach sein, das in einer
Klasse der Mittelstufe abgetan wird, sondern sie muß ein Unterricht.s-
prinzip werden, das mit der zunehmenden Reife der Kinder zunehmend
sich geltend macht. Wenn irgendwo, so gilt hier: der Unterricht sei
Wirklichkeitsunterricht.
.Neben der ethisch-religiösen und der intellektuellen Bildung vermittelt
die Volksschule auch ästhetische. Alt in ihr ist die Musik in Gestalt des
Gesanges zu kirchlichem Zwecke. Das vorige Jahrhundert setzte ihm den
Gesang weltlicher Volkslieder an die Seite. Eine große Menge, vielleicht
die Mehrzahl der Organisten und Chorleiter verdanken ihre musikalische
Anregung dem tüchtigen Unterrichte ihrer Volksschullehrer. Stammesart
hat dabei große Bedeutung. Hauptsache bleibt die Natürlichkeit des Ge-
sange.s. Das Volkslied ist das Lied der Volksschule. Neben dem Chor-
gesang steht der Einzelgesang; es steckt einmal viel Wahrheit in Hage-
dorns singendem „muntern Seifensieder".
Außer dem Gesänge treibt die Volksschule das Zeichnen. Überall
ist man dabei, es einem geisttötenden Formalismus zu entheben. Sinnlich
scharf sehen, innerlich klar vorstellen, das Vorgestellte mit der Hand mög-
lichst getreu durch den Stift darstellen, ist Aufgabe des Zeichenunter-
richts. Außer acht darf dabei aber nicht bleiben, daß die Kinder der
Volksschule nicht angehende Künstler, sondern angehende Broterwerber
sind, die das Zeichnen für ihre praktische Tätigkeit gut verwenden können.
Neuerdings wird auch der Unterricht im Deutschen vielfach mit Rück-
sicht auf die Ästhetik betrieben. Wer je erlebt hat, wie zarteste, duftigste
Blüten unserer Lyrik von starkknochigen Händen zerpflückt wurden, wird
das wohl begründet finden. Aber man soll nur nicht meinen, daß man
die Ästhetik für unsere Kinder an die Stelle der Ethik setzen kann. Ein
Lesestück ethischen Inhalts, das ästhetisch nicht besteht, gehört nicht in
das Lesebuch, doch soll man aus ihm ästhetisch unanfechtbare Stücke
nicht entfernen wollen deswegen, weil sie ethische Tendenz haben. Der
unübertrefflichen Auffassung, wie sie Schiller von der ästhetischen Er-
ziehung hatte, sind Volksschulkinder nicht gewachsen. IV.vjbev afav.
Für die ästhetische Bildung geschieht zur Zeit auch manches in
Ausstattung der Lehrräume. Die konzentrierte Steuerkraft der Städte
leistet darin noch am meisten. Indes auch der Einzellehrer in verlassener
in. Die Volksschule der Gegenwart. III
Gegend vermag etwas dafür zu tun, und wäre es nur durch Pflege von
Blumen im Zinmier und Garton. Nur darf auch hier das „nichts zuviel« nicht
unbeachtet bleiben. Verständnis für die beschränkte Fähigkeit des Kindes,
namentlich des Knaben, ästhetische Anregungen in sich aufzunehmen, ist
die notwendige Voraussetzung für die zu gewährenden Anregungen, sonst
entsteht ein Zerrbild. Spnmgweises Vorgehen macht bald lahm, und
Reinlichkeit, Ordnung, Sauberkeit sind für die Volksschule auch heute noch
die Vorhalle, die man erst durchschritten haben muß, um in das Heilig-
tum der Ästhetik zu gelangen.
Hiermit hängt die Pflege der Höflichkeit zusammen. Sie ist in Höflichkeit.
Deutschland noch zurück hinter den Ländern im Süden und Westen
Europas; noch sind die Zeiten längst nicht vorüber, wo Biederkeit und
Grobheit notwendig zusammenzuhängen schienen. Schulklassen mit gesell-
schaftlich gut gebildeten Lehrerinnen zeichnen sich aus. Der Tumunter- Turnen,
rieht, der für die körperliche Haltung der Bevölkerung schon manches
geleistet hat, kann das Kind auch zu größerer äußerer Manierlichkeit
erziehen. Seine eigentliche Aufgabe bleibt aber systematische Kräftigung
des Körpers bei Pflege seiner Geschmeidigkeit, Stärkung des Wagemuts
und Aufgehen des einzelnen im ganzen, keinenfalls darf er sich ganz in
Sport und Spiel verlieren.
Neuerdings sind in die Volksschule Gebiete hineingezogen worden. Praktische
die man früher durchaus dem Hause zuwies: Handarbeit lur Madchen, Handarbeit für
7-.. » Mädchen und
ebenso für Knaben, Haushaltungsunterricht nir Madchen. Die erstere hat K„ahen.
sich volles Bürgerrecht erworben, weil die Arbeitsverhältnisse es in sehr
vielen Fällen der Mutter nicht gestatteten, ihr Kind selbst zu unterrichten,
sie auch längst nicht immer dazu befähigt ist.
Für den Handarbeitsunterricht der Knaben ist das Bedürfnis nicht so
allgemein vorhanden. Die Hand, die später den Pflug führen, den Ham-
mer schwingen soll, muß fest und kräftig werden, für sie wäre Buch-
binder- und leichtere Tischlerarbeit nicht ausreichend. Aber wo der
Knabe nicht herangezogen wird zu angemessener Betätigung seiner Kräfte
in Haus und Hof und auf dem Acker, da ist Handarbeit für Knaben ein
wichtiges Stück der Erziehung, das Förderung verdient.
Änlich liegt es mit dem Haushaltungsunterrichte der Mädchen. Das Haushaitungs-
. , , _ Unterricht.
Haus bietet nicht immer Gelegenheit, daß die lochter, der Mutter zur
Hand gehend, hineinwächst in die vielen Fertigkeiten, welche eine Haus-
frau in Stube, Küche und Garten ausführt. Und selbst, wo es noch ge-
schieht, ist es für das Mädchen gut, diese Fertigkeiten mit „warum" und
„weil" auszuüben, wozu die Mutter nur selten Anleitung zu geben vermag.
Air den vielerlei sonstigen Ansprüchen gegenüber, die auf Einführung
neuer Lehrstoffe erhoben werden, muß sich die Volksschule reserviert
stellen. Am besten erfüllt sie ihre Aufgabe überall da, wo sie ohne
äußeren Schein arbeitet, wo sie in Einfachheit den Grund für eine feste
Herzensbildung legt, wo sie das Kind zur Arbeitslust und Arbeitstreue Arbefutreu"J!
112 Gottlob Schöi'I'A: Das Volksschulwesen.
erzieht, wo sie ihm die Elemente des Wissens so fest und sicher aneignet,
daß CS seine Lebenserfahrungen daran ankristallisieren kann, um sich mit
ihrer Hilfe in seinem späteren hebenskreise zurechtzufinden. Nicht Vor-
wegnahme der Wissensgebiete der Erwachsenen, sondern Vorbereitung
auf sie frommt dem Kinde. Wertvoll für eine gesunde Entwicklung sind
nur die Bildungselementc, welche den Durchschnittskräften der Kinder
angemessen mit den ihnen in ihrem gesamten Erfahrungskreis zufließen-
den Bildungsstoffen zu einem geschlossenen Ganzen verarbeitet werden
können.
Anititung zur Bei jeder Aneignung des Wissens darf die Volksschule nicht außer
der Kinder, acht lassen, daß Wissen an sich noch keinen Wert hat, daß der Satz
„\Vissen ist Macht" nur richtig ist, wenn das Wissen einer Persönlichkeit
angehört, die es zu gebrauchen die Kraft und den Willen besitzt. Das
Wissen der Volksschule hat dem höheren Zwecke zu dienen, die Kinder
zu tüchtiger Leistung-sfähigkeit zu erziehen, was nur auf dem Wege ihrer
Selbsttätigkeit geschieht. Darum ist nicht das die beste Methode, die
den Kindern möglichst leicht viele Kenntnisse aneignet, sondern die,
welche sie kräftig zu selbständiger Arbeit nötigt. Durch sie werden die im
Kinde liegenden Keime hervorgelockt und zum Wachstum gebracht. Die
Tätigkeit des Lehrers muß daher in erster Linie darin bestehen, die eigene
Arbeit des Kindes zu lenken und zu leiten.
Allgemeine Die Volksschule vermittelt eine beträchtliche Menge von Kultur-
elementen, auf denen auch der Bau der über sie hinausgehenden Schulen
ruht. Daraus hat man gefolgert, daß jede Beschulung eines Kindes über-
haupt mit ihr beginnen müsse. Gründe für ein solches Verfahren lassen
sich mancherlei anführen : technische und soziale. Ebenso sind aber auch
sehr schwerwiegende, besonders psychologische Gegengründe vorhanden.
Man wird sich in der Annahme nicht täuschen, daß bei dem Streben nach
der allgemeinen Volksschule vielfach, bewußt oder unbewußt, die Absicht
leitet, damit mehr Beziehungen zu den Kreisen zu gewinnen, die jetzt
ausschließlich durch die höhere Schule hindurchgehen. Die naturgemäße
Entwicklung zu höherer Kultur erfolgft in erster Linie auf dem Wege der
Differenzierung, dann erst auf dem der Nivellierung der Bildung. Beides
muß sich ergänzen. Sowohl die allgemeine Volksschule, wie die von
unten an gesonderte höhere Schule fördern die Kultur in eigentümlicher
imd darum berechtigter Weise. Aus der Erage der allgemeinen Volks-
schule darf man daher auch keine Prinzipienfrage konstruieren, sondern
sollte nach kühler Erwägung- aller Verhältnisse des besonderen Ealles
entscheiden, ob sie oder die gesonderte höhere Schule einzurichten ist.
Vorbildung des Die trefi^cude Auswahl der Wissens.stoffe der Volksschule setzt freie,
lehrcrs. beherrschende Stellung des Lehrers dem Wissen gegenüber voraus. Seine
Vorbildung erfolgt gemäß der geschichtlichen Entwicklung gerade in den
fortgeschritteneren Staaten durch eigene Fachschulen: durch die Semi-
nare. Der Volksschullehrerstand rekrutiert sich in seiner Mehrzahl aus
111. Die Volksschule der Gegenwarl.
113
lehrer.
den Kreisen der kleineren Landwirte, Gewerbetreibenden und der untern
Beamten, das macht ihn /u einem besonders wichtigen Zwischengliede in
der Entwicklung einer mehr handarbeitenden Bevölkerung zu solcher mit
überwiegend geistiger Arbeit. Das verlangt aber auch, daß die jungen
Leute zu ihrem Berufe nicht nur unterrichtet, sondern auch erzogen werden.
Dafür hat man, aus Rücksicht auf die Billigkeit, vielfach das Internat.
Es darf nicht Kaserne, nicht Kloster sein. Gut geleitet steht es aber
nicht zurück hinter dem Extemat. Damit der junge Lehrer nicht Sklave
seines Wissens werde, muß ihm die Lehrerbildungsanstalt ein tüchtiges
Wissen mitcreben. Sein Beruf ist indes kein gelehrter, sondern er besteht Studium .kr
o . Volksschul-
in der Ausübung einer Kunst. Bildhauerei, Malerei, Musik, Kriegs-
kunst usw. lehrt man auf besonders eingerichteten Fachschulen, auch die
technischen Hochschulen zeigen eine erheblich andere Struktur als die
Universitäten. Welche Bildung von einem Anzustellenden verlangt werden
muß, darüber entscheidet auch der Anstellende, nicht der Anzustellende.
Die Unterhaltungspflichtigen der Volksschule werden sich zu Lehrern ihrer
Kinder nie einen Mann mit gelehrter Bildung wählen, wohl aber einen
solchen, der offenen Auges für die Erscheinungen des Lebens aus diesem
fortwährend sein Wissen bereichert, und der nicht nur befähigt, sondern
auch mit innerer Anteilnahme und Lust bereit ist, Kindern das relativ
geringe Maß von Wissen mit Rücksicht auf ihr späteres Dasein zu über-
mitteln. Dazu macht nicht die Erwerbung von Gelehrsamkeit an sich
geschickt. Man darf bei Beurteilung der Frage, welche Bildung der Volks-
schullehrerstand haben soll, nicht außerhalb liegende Motive mit der
eigentlichen Aufgabe der Volksschule vermischen, besonders nicht solche
der Stellung und des Ansehens der Lehrer. Ansehen und Stellung werden
durch treue, geschickte und erfolgreiche Anwendung der angeeigneten
Bildung innerhalb der Grenzen des Berufes, nicht durch diese an sich
er\vorben. Daß die heute vielfach geforderte Universitätsvorbildung aller
Volksschullehrer wesentlich höhere Ausbildungskosten und einen erheb-
lichen Mangel an Lehrern für die Elemente des Wissens zur Folge haben,
und daß andrerseits die große Ztihl dieser neu hinzuströmenden Elemente
die Universitäten zu tiefgreifenden Änderungen ihrer äußeren Einrich-
tungen wie ihres inneren Betriebes veranlassen müßte, soll neben den
grundsätzlichen Erwägungen hier wenigstens angedeutet werden.
Zu den X'olksschuUehrem gesellen sich in steigendem Maße die Volks-
schullehrerinncn. Zum Teil stammen sie aus sozial besseren Gesellschafts-
schichten. Das gibt ihnen im ganzen auch eine bessere gesellschaftliche
und soziale Stellung, trotzdem ihre wirtschaftliche geringer ist als die der
Lehrer. Ihr erziehlicher Einfluß ist unverkennbar günstig; darum wird
man ihr stärkeres Eindringen in die Schule gern sehen; doch nur, solange
die Lehrerin noch weiblich sein will und es wirklich ist. Nicht nur für
die kleineren und größeren Mädchen ist das weibliche Element heilsam,
sondern auch für Knaben, namentlich für jüngere. Gewünscht kann aber
ÜIK Kl'LTL-R DKR GkOKSWAKT. I. 1. o
Volksschul-
Ichrerinneii,
II, Gottlob Schöppa: Das Volksschulwpsen.
nie werden, daß die Zahl der Frauen im Unterrichte der der Männer
gleichkomme, ja, wie es in Amerika der Fall ist, sie gar übertreffe.
AuBeranuiicher Für die Bcdeutung der Volksschule als Kulturfaktor sind die mannig-
VoikssrhüT- fachen, nicht unmittelbar amtlichen Bestrebungen ihrer Lehrer nicht zu
ifiueis. übersehen. Im Rahmen der Gesamtkultur tritt dabei der städtische Volks-
schullehrer hinter den ländlichen zurück. Wohl sind beide beteiligt an
den Fortbildungsschulen, den allgemeinen, den landwirtschaftlichen und den
gewerblichen, die ohne die Volksschullehrer tatsächlich nicht existieren
könnten. Beide sind auch vielfach tätig in der Erforschung der Natur.
Beide haben ebenso einen nicht unwesentlichen Anteil an den auf Kenntnis
der Heimat gerichteten Bestrebungen. Aber der städtische Volksschul-
lehrer wird doch vielfach durch andere verfügbare Kräfte ersetzt. Nicht
so der Landlehrer. Fast ausschließlich ist die Förderung kirchlicher
Musik, die Pflege des Gesanges der Erwachsenen seine Domäne. Für die
mancherlei Vereine kultureller Art ist er unentbehrlich. Den Kreisen des
Volkes nahestehend und mit ihnen vertraut, vermag er oft besonders gut
die Töne der Vaterlandsliebe anzuschlagen, versteht er durch sachgemäße
Belehrungen Sinn und Verständnis für die Fortschritte der Landwirtschaft,
der Bienenwirtschaft u. dgl. zu wecken, wie auch sein Garten nicht selten
das Vorbild für die Gärten der übrigen Bewohner abgibt. Neuerdings
kommen als eine wertvolle Kulturarbeit der Lehrer Volksunterhaltungs-
abende, die Gründung und Verwaltung von Volksbibliotheken, die Heraus-
gabe von Volksschriften und Schulbüchern hinzu. Der große Nutzen, den
solche Bestrebungen haben, darf nicht dahin führen, den Volksschullehrer
zum Volkslehrer werden lassen zu wollen. Soweit seine Kraft reicht, darf
er sich Aufgaben widmen, die zwar außerhalb der Schule liegen, aber
doch der Volkserziehung dienen und seine Arbeit als Erzieher und Lehrer
nicht behindern. Seine Pflicht ist nicht, neue Scheite zu dem großen Feuer
der Wissenschaft herbeizutragen, wohl aber Funken von diesem Feuer
durch das Land in die Hütten der Dörfer und Städte zu bringen, damit
sich hie und da ein Feuer daran entzünde.
Nicht Einheit- IV. Ausblick auf die weitere Entwicklung der Volks-
Manni'ilfai°ti'gkJi't schule. Der Begriff des allgemeinen Menschentums, der zur Zeit der Auf-
klärung in die weitesten Kreise ganz von selbst als Reaktion gegen die
herrschenden engbegrenzten Vorstellungen vom Wesen des Menschen ein-
drang, hat mit Notwendigkeit zu einer allgemeinen Volksschule mit all-
gemeinen Aufgaben und allgemeinen Einrichtungen geführt. Unsere Zeit
aber fordert mit Recht um des Fortschrittes der Menschheit willen, daß
das allgemeine Menschentum in der Ausgestaltung der berechtigten und
in der natürlichen Beschaffenheit des Landes begründeten Eigenart des
Volkstums sich darstellt. Sodann hat sich das Leben der zivilisierten
Nationen immer verschiedenartiger gestaltet. Landwirtschaftliche und
gewerbUche Arbeit schaffen getrennt und vereint in fast unbegrenzter
IV. Ausblick auf die weitere Entwicklunt; Jn Volksschule. I i ^
Zahl und Mannigfaltigkeit die Werte, welche die Mittel für den l.eben.s-
unterhalt gewähren, und der Handel mit .seinen immer .stärker sich ver-
zweigenden Verkehrsadern sorgt für ihren gegenseitigen Austausch. Die
immer mehr zunehmende Dichte der Bevölkerung, durch Gesundheits- und
Wohlfahrtspflege, durch Frieden.sliebe gefördert, verlangt eindringendste
Einsetzung aller Kräfte, wenn den sich fortwährend steigernden Ansprüchen
an die Erhaltung des Lebens genügt werden soll. Der weit überwiegende
Teil der Hevölkerung, der gerade auch die schwerstringenden Kreise umfaßt,
erhält in der Volksschule seine Vorbereitung für den Kampf ums Dasein,
da tatsächlich etwa neun Zehntel sämtlicher Kinder durch sie hindurchgehen.
Sie entstammen den Kreisen mit einfachster natürlicher Beschäftigung wie
solchen mit höchstentwickelter industrieller Kultur. Diesen Verhältnissen
hat sich die Volksschule anzupassen. Nach zwei Seiten kann es geschehen:
durch mannigfaltigere Gestaltung ihrer Organisation, wie ihres Unterrichts-
betriebes. Die Einrichtung der Volksschule hat unter dem Gesichtspunkte
zu erfolgen, daß möglichst alle Schüler einen ihrem geistigen Niveau an-
gemessenen Abschluß der .Schulbildung erhalten. Nur die Erfahrung aus
der Statistik, nicht die Theorie kann entscheiden, wieviel aufsteigende
Klassen dazu in jedem einzelnen Falle gehören. Die schwächsten der
Schüler sind gesondert zu behandeln, ebenso müssen, wo ausreichendes
Kindermaterial vorhanden ist, die be.sten Schüler die Möglichkeit erhalten,
eine über den Durchschnitt hinausgehende Bildung zu erlangen. Der Zug
der Zeit geht dem entgegen. Und doch muß hier an dem Prinzip des
Individualisierens fe.stgehalten werden, wenn die Entwicklung gesund
bleiben soll. In den Hilfsschulen und den Mittelschulen sind die Ansätze
dazu da. Durch die weitere Au.sgestaltung der letzteren in Anlehnung
und engem Zusammenhang mit der Volksschule ist diese mannigfacher au.s-
zugestalten und ihr wiederzugeben, was sie früher besaß: die Vorbildung
aller Kinder, die eine höhere Schule nicht besuchen, entweder zum Über-
tritt in das Leben oder in eine höhere Schule behufs Erweiterung des
.Schulwissens für höhere Benifsarten.
Mit dieser Mannigfaltigkeit der Organisation im engsten Zusammen-
hange steht die größere Mannigfaltigkeit des Unterrichts, sei es in stär-
kerer Betonung der intellektuellen oder der ethisch-religiösen Förderung,
sei es in Bevorzugung einzelner Wissensgebiete oder in besonderer An-
passung derselben an die Verhältnisse der in Betracht kommenden Be-
völkerungsschichten. Leben und Volksschule müssen aufs engste ver-
bunden sein, und die Schule muß das Leben widerspiegeln. Das wird von
selbst dazu führen, der Einzelentwicklung der \'olksschule freieren Spiel-
raum zu geben als bisher.
Das Entscheidende für den Erfolg der Volksschularbeit ist nicht allein ncschränkune
'^ (los Wissens-
die Große des angeeigneten Wissens am Ende der Schulzeit, sondern sioffes.
auch die Fähigkeit, die wirklichen Dinge und Geschehnisse .sachgemäß
aufzufa.s.sen und zu beurteilen, soweit ein Kind dazu die Reife besitzt.
8»
]j^ Gottlob SchiIppa: Das Volksschulwcsen.
Darum muß in der Volksschule an Stelle des Gängeins der Kinder ihre
leichte Leitung zu und bei eigener Tätigkeit treten. Das setzt von vorn-
herein voraus, daß nicht Pflege der Intelligenz allein dem Lehrer obliegt,
sondern ebenso Weckung des Gefühls und vor allem eindringlichste An-
regung und Festigung des Willens. Soll diese Aufgabe in der Volks-
schule gelöst werden, ist eine Beschränkung der Lehrpläne unweigerliche
Voraussetzung. Sie dürfen nicht Lehrpläne höherer Schulen in etwas ver-
minderter Ausgabe sein, sondern sie haben sich auf die Stoffe zu be-
schränken, in denen das Kind beim Eintritt in das Leben orientiert sein
muß, und auf die Fertigkeiten, welche es als unverlierbares Eigentum in
die praktische Arbeit mitzunehmen einen Anspruch hat. Wenn eine
Schule, so sollte die Volksschule beherzigen, was Lessing in seinem
Nathan (Aufz. V, Auftr. 6) der Recha imd Sittah über Bücherweisheit und
Lebensschule in den Mund legt.
Notwendigkeit Zweifelhaft kann es auch niemand sein, der die Dinge mit Rücksicht
für die Volles- uuf das Ganze anschaut, daß die Volksschule erheblich größere Mittel in
Anspruch nehmen muß, wenn sie ihre Kulturaufgabe, so wie es zu ver-
langen ist, erfüllen soll. Die Zeiten, wo man glaubte, daß ein Lehrer
hundert und mehr Kinder mit Erfolg in der Schule versorgen könne, sind
vorüber. Überall, wo die Bevölkerung dichter sitzt, wo also die Kinder-
zahl ausreicht, hat man meist so starke Klassen gebildet, daß Individua-
lisierung beim Unterrichte völlig ausgeschlossen bleibt. Darum ist Ver-
minderung der Kinderzahl in den Klassen und demgemäß Vermehrung
der Mittel für die Volksschule eine unabweisliche Notwendigkeit.
Ergänzung durch Zu der größeren Freiheit der Entwicklung und zu der gründlichen
biidungsschuie. Revision dcs ganzen Betriebes, insonderheit der Lehrpläne und der Etats
der Volksschule muß noch ein Weiteres treten, wenn die Erziehung der
Volksschuljugend gelingen soll. Die Volksschule entläßt ihre Zöglinge zu
einem Zeitpunkte, in dem sie sittlich stärker gefährdet sind als je zuvor,
kurz vor oder mitten in der Entwicklung zur Geschlechtsreife. L^ngezählte
gehen in den Gefahren dieser Periode zugrunde, weil der feste Halt, den
bis dahin die Schule durch ihre Ordnungen noch gewährte, zu jäh ab-
gebrochen wird. Der Übergang muß allmählicher geschehen. In dem
Maße, als die Arbeit des praktischen Lebens dem Kinde stärker auferlegt
wird, muß die mehr geistige Arbeit der Schule zurücktreten, indem sie
sich unmittelbar an die praktische Berufsarbeit anlehnt. Ganz gebieterisch
ist darum die Errichtung von Schulen nach Art der Fortbildungsschulen
zu verlangen. Sie sollen nicht bloß Fortsetzungen der Volksschule sein,
aber sie können der Kraft der Gesittung durch ethische Beeinflussung
nicht entraten, durch welche allein der einzelne, durch welche ein ganzes
Volk stark wird.
Volksschule und Wer die Volksschule mit der andern großen Organisation für Volks-
Heer.
erziehung, mit dem Heere, v'ergleicht, vermag- nicht zu übersehen, wie
überlegen die g'eistigen und materiellen Kräfte sind, welche in dem Heere
IV. Ausblick auf die weitere Entwicklung der Volksschule. nj
wirkon, und zwar trotzdem es einen erheblich kleineren Volksausschnitt
darstellt als die Volksschulo. Ohne ungerecht zu sein, darf sich daher
auch niemand wundern, daß die Heereserziehung vielfach kräftiger in
ihren Wirkungen sich erweist als die Erziehung der Volksschule.
Sie gewinnt aber in dem Maße erhöhte Bedeutung für unser ganzes soziaio Auf-
,- , ii-rt . 11 • gaben der Volks-
\ olksloben, als der \ierte Stand, dem sie die abschließende allgemeine schule.
Kihhing vermittelt, sich in die Reihe der andern Stände vorschiebt, als
die zur Zeit in ihm großenteils noch gebundenen Kräfte frei werden und
sich entfalten. Daß er sich vorschiebt, i.st eine nationale, ja auch eine
sittliche Notwendigkeit, die sich mit und ohne Willen der Beteiligton
vollzieht. Jedes Volk stellt in seiner Eigenart ein Stück Menschentum
dar, das bestimmt ist, der Vervollkommnung der Menschheit zu dienen.
Nicht eine kleine Zahl der Volksgenossen vermag die Eigenart des ganzen
Volkes zu erhalten und in dem Streite der mannigfachen Kulturkräfte
durchzusetzen. Die Erfahrung lehrt, in welch starkem Grade der inter-
nationale Verkehr mit seinen stetig gewaltig fortschreitenden Mitteln ab-
schleift und au.sgleicht. Die volkstümliche Eigenart wird nur durch die
geschlossene Bevölkerungsmasse erhalten, welche den vierten Stand mit
umfaßt, mag er sich gegenwärtig auch noch in der Mehrzahl seiner Glieder
international fühlen. Das Volk kann sich ohne ihn nicht zur Höhe seiner
Kultur emporarbeiten. Es muß um seiner selbst willen auch den vierten
Stand zum nationalen Leben mit heranziehen, wenn es seine Vollkraft zur
Darstellung bringen, wenn es seine besonderen Kulturaufgaben in der
Gesamtheit der \'ölker erfüllen soll. Das helle Licht der Geschichte liegt
über den Vorgängen, die zum Eintritt des dritten Standes in das öffentliche
Leben geführt haben. Wie verschieden hat er sich bei den großen Völkern
Europas, den Franzosen, den Deutschen, den Russen vollzogen, soweit bei
letzteren davon schon gesprochen werden kann! Keiner wird verkennen,
daß dabei die Bildung des dritten Standes starke Einflüsse gehabt hat.
Und nun tritt der vierte Stand hervor. Ein echter roi des gueux, ist der
erste Kaiser des neuen deutschen Reiches von dem edlen Ehrgeiz beseelt
gewesen, in seinem hohen Alter noch für die wirtschaftlich schwächste
Klasse der Bevölkerung, für den vierten Stand, einen Zustand zu erstreben,
wie er für den dritten in der Emanzipation herbeigeführt wurde, die an
die Namen Friedrich Wilhelm III., Stein, Hardenberg sich knüpft. Un-
beirrt ist ihm in dem gleichen Streben sein Enkel gefolgt. Die Schwachen
auf ihre eigene Kraft oder auf Privathilfe zu verweisen, vertrug sich da-
mit nicht. Nicht der schwankende Boden freundlicher Nächstenliebe
konnte das Fundament werden für den zu errichtenden Bau, sondern nur
der feste Boden des Rechts. Damit wurde das Vertrauen des vierten
Standes auf den .Staat gelenkt, sein Wohlergehen an die Blüte des Staates
gebunden. Damit war dieser Stand auch genötigt, sich tätig an dem
Leben des Staates zu beteiligen. Noch fehlt viel, ja alles, daß das in
fnichtbringender Weise geschehe. Rs will gelernt werden, seine sozialen
Il8 Gottlob ScnörrA: Das Volksschulwcsen.
Rechte mit N'erstäiKlni.s und liinsicht zu gebrauchen, seine sozialen Pflichten
mit dem Blick auf das Ganze zu erfüllen. Hier liegen schwere, noch
ungelöste Aufgaben für die \'olksschiüe. Auch iliren Schülern muß zimi
Bewußtsein kommen, daß der einzelne die Gewähr der Sicherheit seiner
angemessenen Lebensführimg nur als dienendes Glied des großen Ganzen,
des Staates, hat, dem er angehört, dem er seine Kraft zu widmen ver-
pflichtet ist. Auch das Kind der Volksschule muß lernen, daß die ge-
priesene Gleichheit unmöglich, weil widernatürlich ist, denn die Natur
kennt keine Gleichheit, sondern ihr oberstes Gesetz ist Abhängigkeit und
Gehorsam, und daß der Kommunismus den Tiefstand menschlicher Ge-
sittung darstellt. Erst wenn der enge Zusammenhang begriffen sein wird,
der zwischen den sozialen Problemen und der Volkserziehung besteht,
deren Anfänge die Volksschule vermittelt, wird es gelingen, die schweren
Hindernisse zu überwinden, welche der gesunden Entwicklung der Volks-
schule von den verschiedensten Seiten entgegentreten. Wie die Wehr-
haftigkeit des Volkes, so muß auch seine innere Erstarkung von jeder
staatserhaltenden politischen oder wirtschaftlichen Partei gleichmäßig
gefördert werden.
Treue, geschickte Lehrer, tatkräftige, weitschauende, warmherzige
Herren muß die Volksschule haben, wenn sie für die Gesittung, das
Wissen und Können feste Unterlagen schafl^en, wenn sie bewirken soll,
daß das Leben sichere Fundamente vorfindet, auf denen es die Kultur
jedes einzelnen zu der ihm entsprechenden Höhe weiterzubauen imstande
ist. Der in ihr herrschende Geist aber sei allezeit bestimmt durch das
Doppelgebot „Du sollst lieben Gott, deinen Herren, und deinen Nächsten
als dich selbst": von seiner Erfüllung hängt das Gedeihen auch der Volks-
schule ab.
Literatur.
Die am Schluß der vorhergehenden Abhandlung über das „Moderne Bildungswesen"
von PaULSEN aufgeführten Werke enthalten auch besondere eingehende Artikel über die
\'olksschule, ihre Hinrichtungen und ihren Betrieb, oder sie gelten in einem Teil ihrer Dar-
legungen für die Wilksschule mit.
Außerdem s.in<l noch zu nennen :
I. Nachschlagewerke.
V. RÖNNE, Uas Unterrichtswesen des preußischen Staates. Berlin, 1855. (Auch heute
noch für die Rechtsfragen der älteren Zeit unentbehrlich.
ScHNEllH'.K und V. Bremkn, Das \'oIksschuhvcsen im preußischen Staate. 3 Bände.
Berlin, 1887. (Neben den Rechtsfragen von bleibendem Werte durch geschichtliche Angaben
und Berichte aus amtlichen Quellen.)
V. BrF-.men, Die jireußische Volksschule. Stuttgart und Berlin, 1905. (Enthält in teil-
weiser Fortführung des vorigen Werkes eine allgemeine Darlegung der tiefgreifenden Re-
formen auf dem (iebiete des preußischen Schulrechts während der beiden letzten Jahr-
zehnte.)
ZENTR.M.ni-ATr KÜR DAS OKSAMTK Unterrichtswksen IN PREUSSEN. Monatshefte seit
1859. f^Sammlung der allgemeinen Erfasse. Daneben auch statistische Angaben und ein-
zelne geschichtliche .-Xusführungen.)
Petersilie, Das ötfendiche Volksschulwesen im Deutschen Reiche und den übrigen
europäischen Kulturländern. Leipzig, 1897.
i;. (beschichte der Volksschule.
HeppE, Geschichte des deutschen X'olksschulwesens. Gotha, 1858— 1860.
Keller. Geschichte des preußischen \olksschulwesens. Beriin, 1873.
Außerdem findet sich historisches Material über unseren Gegenstand in den Lehr
buchern der \'olksschulpädagogik , die allerdings nicht einen eigentlich wissenschaftlichen
Charakter tragen. .Ms die bekanntesten sind zu nennen: ScHORN, Geschichte der Päda-
gogik''21. .A.usg. von F. V.Werder . Leipzig, 1903. Hfilmann, Handbuch der Pädagogik,
7. .\\ii\. 1903. — .SCHt;MANN-V0IGT, Lehrbuch der Pädagogik. 3. .\ufl. 11)03. - Ostermann-
Wegner, Lehrbuch der Pädagogik. Oldenburg. — Kahle, Grundzüge der evangelischen
\'olksschulcrziehung. Breslau. — Leutz, Lehrbuch der Erziehung und des Unterrichts.
Tauberbischofsheim. — DllTES, Schule der Pädagogik. Leipzig.
III. Betrieb der \'olksschule.
Kehr, Praxis der \'olksschule. Gotha. '\'on bleibendem Wert durch die Fülle aus
der Praxis geschöpfter Lehrweisheit.
Kehr, Geschichte der Methodik des Volksschulunterrichts, (iotha. (Ein grundlegen-
des Werk großen Sammelfleißes vieler Schulmänner, aber sehr verschieden in der Ausführung
und mehrfach ohne rechte kritische Sichtung.,
Hoh.mann, Methodik der einzelnen L^nterrichtsfächcr. Breslau, 1902.
Das Wissenswerteste über den eigentlichen \'olksschulbetrieb enthalten auch die vor-
hergenannten populären Lehrbücher.
DAS HÖHERE KNABENSCHULWESEN,
SEINE ENTWICKLUNG UND SEIN VERHÄLTNIS ZUR
DEUTSCHEN KULTUR.
Von
Adolf Matthias.
Einleitung. Au;s der Kultur der Gegenwart, soweit sie im Leben
der höheren Knabenschulen zum Ausdruck kommt, führen zahlreiche Be-
ziehungen hinüber in des deutschen Volkes nahe und ferne Vergangenheit
und darüber hinaus in das Leben derjenigen Kultur\'ölker, unter deren
Einfluß deutsches Geistesleben sich entfaltet hat. Diese Beziehungen alle
aufzusuchen und zu verfolgen ist nicht leicht. Denn es ist ein weiter
Weg von dem Schüler unserer Gymnasien und Oberrealschulen bis zu
dem Zögling der merovingischen Palastschule, in der man ein grausames
Latein zu lernen sich quälte, oder zu dem Rhetorenschüler Spätroms, der
unterwiesen wurde in der Weisheit griechischer und lateinischer Bered-
samkeit und nicht gerade ehrfürchtig wie zu einem geliebten und ge-
achteten Mentor aufblickte zu dem Freigelassenen oder Klienten, der als
mißachteter Pädagog das Urbild eines neuzeitlichen Hofmeisters abgab.
Und weiter noch ist der Weg von diesen Schulen, in denen man den
vollkommenen Menschen im vollkommenen Redner sah, bis zu den
Bildungsstätten der Alexandriner mit ihren sieben Disziplinen, die man
später freie Künste nannte, auch wenn sie noch so unfrei geübt wurden
und Geisteszwang statt Geistesfreiheit förderten. In weiteste Ferne aber
wie zu einem unerreichbaren Ideal verläuft der Weg zu den unseren Gym-
nasien namensverwandten, aber wesensungleichen Lehrstätten Athens, wo
im Schatten der Platanen und in herrlichen Säulenhallen die Knaben und
Jünglinge in schönstem Wettstreit bald in geistiger Übung, bald in körper-
lichem Spiel, unterstützt von der Kirnst der Musik, zur Kalokagathie er-
zogen wurden und der Weisheit eines Sokrates, Plato und Aristoteles
lauschen durften. Da der Weg zu diesen ältesten Schulanfängen, die
zum Teil sogar noch jenseits griechischer Kultur und Bildung liegen, so
weit und die Spuren vielfach so dunkel sind, ist Beschränkung auf unseres
eigenen Volkes Werdegang nötig. Dieser berührt sich ohnedies so viel-
I. Bis zum Ausgang des Mittelalters. 1 2 i
t.ii h niii fliT Kiiliur andrer Völker, mit (Irnen die Deutschen in freund-
liche oder feindliche Berührung kamen, daß ein Ausblick in die Weite
der Wellkultur immer damit verbunden ist.
I. Bis zum Ausgang des Mittelalters. Als das Germanen volkRomiMchrKuUur
d Anfang
Gernian«
schulen.
,./— i'i • , ri T»i •■•, -wr 4 1 • """^ Anfange
ui die LTeschicnte emtrat und auf dem IJoden römischer Kultur erschien, von Germanen
brachte es scheinbar nichts mit, was kulturfiirdernd war, scheinbar alles,
was zerstörend wirken mußte. Ein Volk in Waffen, dem Krieg und Raub
die Mittel seines irdischen Daseins gaben, dem es träge und mattherzig
schien, mit Schweiß zu erwerben, was man mit Blut gewinnen kann, das
in sich den wunderbaren Widerspruch vereinigte, daß es die Trägheit
und den Müßiggang liebte, wenn kampflose Zeiten waren, die Ruhe aber
haßte, sobald das Schwert aus der Scheide fuhr — ein solches Volk bot
wenig geeigneten Stoff für den .Schulmeister und die Schulstube. Wohin
denn auch dieses Volk kam, gingen viele Stätten, wo Knaben Gelehrsam-
keit finden konnten, zugrunde, und keine Kunde ist auf uns gekommen,
daß man dem Untergange jener verdorrten Bildungsstätten viele Tränen
nachgeweint habe.
Und doch war diese Kulturfeindlichkeit der Germanen nur ein Schein.
Für die Tiefe und Schwungkraft ihres Geistes sprach ihre Poesie und
die tiefsinnig einfache Auffassung religiöser Dinge; vor allem aber legte
für ihre Kulturempfänglichkeit Zeugnis ab die Sprache, die sich in
der Bibelübersetzung des Ulfilas wunderbar schmiegsam nicht nur den
einfachen Erzählungen, sondern auch den ethischen und dogmatischen
Fragen des Urtextes anzupassen wußte. Dieses wilde Volk in Waffen
trug doch in sich eine Kulturmission und ein hellenischer .Schöpferkraft
vergleichbares Anpassungsvermögen. Und wenn die Rhetorenschulen der
Römer nicht den Gefallen der deutschen .Stämme fanden, so mag di(>
natürliche und ursprüngliche Frische und die Liebe zur eigenen Sprache
und zu eigenem Wesen noch kräftiger gewesen sein als die Hinneigung
zu dem kunstvollen Gefüge der .Sprache und des Wesens römischer .Schul-
mei.ster, denen Natürlichkeit und Frische fehlte.
.So sehen wir denn in den ersten Jahrhunderten nach Christi (ieburt
die zwei .Seelen, die kulturfeindliche und die kulturfreundliche, im Wider-
streit. Wo die Germanen einherzogen, gingen die meisten Rhetoren-
schulen zugrunde. Aber es wird uns auch berichtet, daß sie die Schul-
einrichtungen .Spätroms aufrecht erhielten. .Selbst die Vandalen haben
ihre .Söhne die hohe .Schule in Karthago besuchen lassen; auch Theoderich
liebte römische Wissenschaft und Schule und pflegte beides; aber nach
seinem Tode kam es über Segen und Unheil der Schulstube zu einem
tragischen Konflikt zwischen Amalasvintha und den Führern des Volkes;
denn diese forderten, daß die Herrscherin den jungen König in der freien
Kunst des Schwertes erziehen möge, nicht aber unter der unfreien Fuchtel
des Schulmeisters aufwachsen lasse. Bei den Franken ließ man die
122 AiKii.i' Matthias: Das liölipr'- Knabciischiilweson.
i^allist liPii KlH't')rt'iischul(Mi bestehen, weil die Merovinger die lateinische
Sprache nicht entbehren konnten. So wurde die römische Bildung mehr
und mehr heimisch unter den Vornehmen der germanischen Stämme, und
die langsam hereinwachsende höhere Schule wurde eine Wirkungsstätte
fremder Bildung', fremden Geistes imd fremder Sprache. Wie die fremden
Gartonblumcn und Obstbäume in die Klostergärten deutscher Mönche
wanderten, so drang allmählich auf tausend Pfaden römisches Denken und
römisches Wollen in deutsche Köpfe und deutsche Herzen, und mehr und
mehr hüllte sich deutsches Wiesen in römisches Gewand. Wir haben
kaum ein Seitenstück eines solchen Vorgangs in der Geschichte, daß ein
eigenartiges Volk mit einem solch stolzen Besitz an eigener Sprache und
eigener Poesie ein geistiges Joch fremder Kultur so willig auf sich ge-
nommen mid ohne erheblichen Widerstand und ohne lautes Murren bei
den Fremden in die Schule ging- und auf die Herrschaft eigenen Volks-
tums im eigenen Schulhause vollkommen verzichtete.
nie Kirciic Dicser Verzicht, der dadurch angebahnt wurde, daß der Staat die
Herrin in der
Schule. lateinische Sprache nicht entbehren konnte, wurde vollständig, als die
Kirche die Hand auf die geistige Ausbildung der heranwachsenden Jugend
und auf die Schule legte. Wenn auch strenggesinnte Männer des Glaubens
lebten, daß Christi Reich nicht Aon dieser Welt sei und nicht durch welt-
liche Bildung gestützt werden könne, und wenn diese Bildung von ihnen
auch als Teufelswerk angesehen wurde, die Verteidigung des Glaubens
zwang schließlich doch den Christen dieselben Waffen des Geistes auf,
durch welche die Feinde des Glaubens stark im Geiste waren. So wurden
die christlichen Katechetenschulen des Ostens, wie z. B. in Antiochia und
Alexandria, die ursprünglich nur theologischen Studien zugewandt waren,
Pflegestätten weltlicher Bildung; und im Westen, im Reiche der Westgoten,
dann im fränkischen Gallien, später auch im angelsächsischen Britannien
traten Geistliche und Mönche die Nachfolge in den Rhetorenschulen an.
Was sie lehrten, waren vorzugsweise die lateinische Schrift und die ersten
Elemente des Lateinischen; später erweiterte sich der Lehrplan zu den
sieben freien Künsten, von denen in der Regel das Trivium: Grammatik,
Rhetorik und Dialektik den Lehraufgaben derjenigen Anstalten des Mittel-
alters, die wir als höhere Knabenschulen bezeichnen dürfen, zugrunde
lag. Vor allem ging ein reicher Strom auch weltlicher Weisheit und
tieteingreifender Kultur aus von der altehrwürdigen Erziehungshochveste,
dem Benediktinerkloster auf dem Monte Casino; und wo diese Kultur
deutsche Arbeit für sich gewann, wie in St. Gallen, Reichenau, Weißen-
burg, Fulda, Hersfeld und Corvey, wuchs die Kraft christlichen Geistes
und Wissens, und zugleich wurde hier von antiker Weisheit und Kultur
gerettet, was noch zu retten war. Ursprünglich waren solche Schulen
nur für Ordensmitglieder bestimmt; aber die immer größere Bedeutung,
welche die lateinische Sprache im fränkischen Staatswesen gewann, zwang
auch die Söhne der Edlen und vornehmen Freien und die Königsöhne
I. Bis ^um Ausgang tics Mittelalters. 12 i
in diese Schulen, wo neben der schola claustri oder interior eine schola
canonica oder exterior ihnen Aufnahme bot, damit sie im Lesen, Schreiben,
Rechnen und Latein so fest gemacht würden, wie es eben ging. Daß
durch solche Schulen mancherlei Bildung in weltliche Kreise hinausging,
das ist zu erkennen an den schriftlichen Verordnungen, welche germanische
Könige erließen, und an den Gesetzsammlungen, welche ihre Weisen ver-
faßten. Im 6. Jahrhundert schrieb der Frankenkönig Chilperich ein la-
teinisches Buch über die Dreifaltigkeit und machte lateinische Verse,
und die arge Königin Fredegunde ließ sich in lateinischen Versen an-
singen. Doch dürfen wir uns von dieser Bildung keine zu großen Vor-
stellungen machen; denn zahlreich sind die Zeugnisse, daß in den hohen
Kreisen feinere Bildung nicht ständig zu Hause war. Hören wir doch,
daß Königsöhne nicht lesen konnten und daß, wer in Waffen ging, ver-
ächtlich auf die Buchstabenweisheit sah, die Gedanken aussprach, ohne
lautes Wort zu wagen. Nach 600 wird höhere Bildung immer seltener.
Die altgermanische Trägheitsliebc, \on der schon Tacitus berichtete, bot
immer wieder der geistigen Schulung Widerstand, der sich steigerte, wenn
zuviel Fremdartiges in deutsche Köpfe gepreßt werden sollte und wenn
strenge Schulzucht viele Schläge darbot, die Fehler aufsummierte und
diese auf den Rücken maß an schweren .Streichtagen. Man kann es der
damaligen Jugend nicht zu sehr zum Vorwurf machen, wenn sie, um für
rohe Pädagogik sich zu rächen, dem Magister liberaliuni artiuni einmal
die .Schule über dem Kopfe anzündete oder bei Festlichkeiten ihm die
empfangenen .Schläge heimzahlte und wenn sie da, wo sie zu solchen
Gewaltmitteln nicht griff, sich durch Humor und jugendlichen Mutwillen
ebenso fröhlich und heiter über allzu schwere Belastung hinweghalf, wie
heutzutage auch.
Dieser Niedergang höherer Bildung im 7. und 8. Jahrhundort war so Karls desGroßen
* *= & / J Schulreform.
Stark, daß Karl der Große seine liebe Not hatte, als er sich anschickte,
Jung und .Vit im Frankenreiche an Schulgelehrsamkeit zu gewöhnen.
Die lateinischen Buchstaben mögen das Geschlecht j%ner Tage zunächst
so unheimlich angeschaut haben wie heute den Anfänger die mystischen
Zeichen der Keilinschriften. Denn selbst Geistliche konnten nicht immer
lesen; waren sie Analphabeten, so starrten sie ins Buch und hatten die
Worte auswendig gelernt oder ließen sie sich von einem Kundigen vor-
lesen. Um so tiefer mußte Karl der Große, als er 781 länger in Italien
weilte, den geistigen Adel empfinden, den das Verständnis antiker Bildung
den Römern gab. Fr entschloß sich, seinen Franken dasselbe zu geben;
er rief die schola Palatina aus der Merovingerzeit zu neuem Leben und
begann eine Schulreform an Haupt und Gliedern, der selbst der könig-
liche Hof sich nicht entziehen durfte. Er warb die größten Gelehrten
seiner Zeit, einen Alkuin, einen Peter von Pisa, den Longobarden Paulus
Diakonus für seine Hofschulc, in die er selbst mit seinen Kindern und
den Söhnen des höchsten Adels rieißig ging, sich die Arbeiten selber vor-
124
Adoi.k AfATTHiNs: Das höhere Knabonschuhvcsen.
legen ließ und in eigener l'erson Strafen und Belohnungen austeilte. Vor
allem lag ihm an der Bildung und Hebung des geistlichen Standes; Aachen
wurde ein zweites Rom im christlichen Geiste. Kathedral- und Dom-
schulen erstanden, die Klosterschulen wurden mit neuem Leben erfüllt.
Alkuin übertrug der Kaiser die Klosterschule in Tours, aus der Hrabanus
Maurus hervorging, der Gründer der Klosterschule Fulda, den man mit
dem Titel praeceptor Germaniae zu viel Ehre antut, da er vor allem ein
praeceptor clericorum war. Von Fulda aus strömte nach Reichenau und
St. Gallen neues Leben. Gelehrt wurden in diesen Schulen die Schrift-
zeichen, Gesang, die Berechnung der Kirchenfeste und Grammatik. Man
las Psalmen und mit Eifer römische Dichter und Prosaiker und ahmte sie
in didaktischen, lyrischen und epischen Dichtungen nach. Bildungsbedürf-
tige Laien hatten Zutritt. Die Zahl der Schüler muß nicht gering gewesen
sein. Denn in den nächsten Generationen finden wir überall Männer, die
in jenen Schulen ihre Bildung empfangen hatten. Auch hier waren die
Träger der Bildung, mochten sie lehren oder lernen, fast ausschließlich
Geistliche, so daß man die Gelehrsamkeit, die man trieb, Clergie nannte
und auch die Laien in diese Bezeichnung einbegriff, wie man von den
Söhnen Karls des Großen sagte: sie wurden große Kleriker. Aus römi-
schen Schulen hervorgegangen, bewahren die Schulen des Mittelalters ihre
römische Tradition und ihre kirchliche x\utorität. Die lateinische Sprache
stand im Mittelpunkt und schied die mittelalterliche Welt in zwei Hälften,
in eine, welche teilnahm an der Bildung, und in eine andre, die ihr fern
stand. Germanischem Wesen aber war diese Bildung fremd; es gehörte
zum guten Ton, daß, wer zu den Gebildeten zählen wollte, auf Mutter-
sprache und heimische Überlieferungen mit Verachtung blickte. Und wenn
auch Karl der Große barbarische, d. h. deutsche uralte Lieder, in denen
die Kriege und Taten der alten Könige besungen wurden, aufschreiben
ließ, und wenn er den Plan einer deutschen Grammatik faßte, nach seinem
Tode finden wir nichts mehr von solchen Bestrebungen. Einheimischer
Sprache und Dichtung maß man eben keinen größeren Bildungswert
zu als einheimischem religiösem Empfinden, wie es der „Heliand" aus-
strömte, dieses Buch vom praktischen Christentum germanischer Art, das
Jesus dem Herzen menschlich näher bringen sollte und das lebendige An-
schauung vollen Lebens in wechselnder Fülle brachte und eine Germani-
sierung christlicher Geschichte und christlicher Lehre bot, wie sie uns im
ganzen Mittelalter nicht wieder entgegentritt.
\viederi,eiebuns vSchou Unter dcu iSachfolgcm Karls des Großen kamen schwere Zeiten
von llihlung untl o
''"^'"onön'en"^""^^^ Reich und Schule. Die Einfälle der Normannen und Magyaren zer-
störten, was Karl geschaffen, und verursachten einen starken Rückgang
der Bildung, den auch die Schule mitempfand. Unter Otto L haben wir
eine kurze Renaissance, der aber nicht ein Mann, wie Karl zu seiner Zeit,
das Gepräge gab, sondern kluge Frauen, wie Hroswitha von Gandersheim,
die den klassischen Formen christlichen Gehalt einflößte und die meisten
I. Bis zum Ausgang des Mittelalters. 1 1 5
Männer ihrer Zeit an Bildung überragte, und wie die Herzogin Hedwig,
die in der Einsamkeit des Hohentwiel unter Leitung des Mönches Ekke-
hard lateinische Dichter las und auch des Griechischen sich kundig machte.
Außer diesen EVauen finden wir am Kaiserhofe selbst weibliche Wesen,
die gebildet und gelehrt waren und ihren Einfluß geltend machten in der
kaiserlichen Hofschule, welche unter Bruno und Rotharius von neuem
Leben erfüllt wurde. Aber im ganzen wurde derselbe Faden gesponnen,
wie ehemals. Alle schönen Geistesgaben widmete man fremden Sprachen;
in der eigenen Sprache hatte man den Gebrauch der Schrift nicht. Das
Ziel war nach wie vor die Ausbildung tüchtiger Kleriker; die Laien
mußten sich begnügen mit den Brosamen, die von dieser Herren Tische
fielen. Der grammatische Unterricht wurde sorgsam gepflegt, die Lektüre
fand ihre Wertmessung nach grammatischen Ergebnissen. Der sittliche
und historische Gehalt trat zurück; die Lehrmethode war gedächtnismäßig;
mangelhaftes Interesse glich man aus durch harte Zucht; Stock und Fasten
half der Ungeschicklichkeit der Lehrer und der fehlenden Begabung und
Begeisterung der Schüler nach. Unter Otto IIL trat griechisch-römische
Bildung am Hofe immer mehr in den Vordergrund; Herrscherhaus und
Bildung entfremdeten sich allmählich heimischem Volkstum, die Schule
verfiel wiederum der Erstarrung.
Auch die Kreuzzüge mit ihrer Erweiterung des Gesichtskreises, mit Krstes Ein-
ihrer reichen Anregung und Vertiefung auf dem Gebiete mathematischer, licheriüidimKi..
. . die Schulen;
astronomischer, geographischer und philosophischer Kenntnisse vermochten Universitäten;
nichts an dem erstarrten Zustande zu ändern, da Kloster- und Domschulen miduni; und
Stadtschulen.
Sich nicht aufnahmefähig erwiesen, zumal eine Art von Monopol sich aus-
bildete, dessen Hüter in den Klosterschulen der magister principidis, in
den Domschulen der magister scholarum, der Schulmeister, später auch
der scholasticus oder Scholaster war. Diese sahen ihr Monopol als eine
einträgliche Präbende an, die allmählich zu einem erblichen Lehngut aus-
wuchs, aus dem Rektor und Lehrer ihren kärglichen Lohn ausgezahlt
erhielten. Bresche in diese stolze Monopolschanze wurde erst gelegt, als
aus freien Vereinigungen gelehrter Männer und wißbegieriger Jünglinge
sich die Universitäten bildeten mit ihren drei Fakultäten, zu dem eine
höhere Schule als Unterbau nötig war. Diesen bildete in Paris die Kathe-
dralschule von Xotredame. Allmählich aber begann die Artistenfakultät,
die Wiege der späteren philosophischen Fakultät, die Vorschule für jene
Uni\ ersitäten abzugeben. Die theologische Fakultät war zwar immer
noch die erste; die Kirche beherrschte noch immer die höhere Bildung;
aber weltliches Werk und weltliches Wissen schob sich doch langsam
hinein und nahm den alten Schulen ganz allmählich ihre Alleinherrschaft.
Auch die ritterliche Bildung tat das Ihrige, um der ganz auf theologische
Zwecke gerichteten Erziehung eine andere Richtung zu geben. Die
höhere Schule des Adels war die Ritterburg, in welcher der wißbegierige
Page zu Füßen einer schönen Herrin feine Lebensart, Musik und Minne-
l 2h Anoii" Matthias: Das höhere Knabcnschulweson.
sang' Studiorte und an IJildung alles lernte, was Frauen anmutig' zu lehren
verstehen. Diese Frauen waren nicht nur, wie die FVauen der Ottonen-
zeit, lateinischer Dichtung kundig; sie verstanden auch die deutschen
Dichtungen zu lesen, und bei den engen Beziehiuigen der Minnesänger zu
Frankreich trug auch die französische Sprache manches zu feinerer Bil-
dung bei. Doch diese Art von Bildung bewegte sich nur in engen Kreisen,
in denen gar bald der Sinn sich mehr und mehr vereng'erte und rauhe
Kriegeszeiten das Weitere taten, daß gute Zucht und feine Sitte nicht über
zarte Anfänge hinauskamen.
Das Bild mittelalterlicher Bildung", soweit diese in den Kreis unsrer
höheren Knabenschulen gehört, würde nicht vollständig' sein, wenn wir
nicht auch auf die Bestrebungen der Städte hinwiesen, der höheren
Knabenschule zu vollerer Entfaltung zu verhelfen. Aufblühende Städte,
erfüllt von bürgerlichem Selbstbewußtsein und Freiheitssinn, empfanden
es beengend, daß die Kirche das Gebot des Herrn: „Gehet hin und
lehret alle Völker" mehr und mehr als eine Vollmacht ansah, auch
Grammatik, Fogik und alle sieben freien Künste zu lehren und Sprache
und Denken vielfach unanschaulichcr, künstlicher und weltfremder zu
gestalten. Man versuchte seit dem 12. Jahrhundert eigene Schulen zu
gründen. Doch der Scholaster machte seine Rechte geltend auf Ver-
leihung von Lehrbefähigung' und Lehrberechtigung". Wohl w"urde den
Städten hier und da gestattet, bei den Pfarrschulen den ersten welt-
lichen Lehrer oder weltliche Hilfslehrer zu unterhalten; aber die geist-
liche Bevormundung blieb. Gegen Ende des Mittelalters sehen wir an
diesen »Schulen einen großen Zulauf von armen Schülern aus der Fremde,
die bei Bürgern betteln gingen; darunter auch alte Knaben, die von Stadt
zu Stadt vagierten, die Söhne der Bürger unterrichteten, auch Schreiber-
dienste versahen, Gedichte verfertigten und trotz geistlicher Bevormundung
allerhand Schelmenstreiche und Possenreißereien trieben. Es muß so in
den Städten mancherlei weltliche Bildung übermittelt sein. Denn in den
Kaufmannskreisen der Hansa finden wir weniger Gelehrsamkeit als welt-
gewandte und weltmännische Bildung, die niemandem aus der Luft an-
fliegt. Wer hinauszieht in fremder Herren Länder wie diese Männer, die
den Verkehr mit dem Orient, mit Rußland, England, Schweden und Däne-
mark vermittelten, und wer so gewandt, unbeugsam und tüchtig sich er-
weist und starke Spuren auch theoretischer Tüchtigkeit zeigt, der muß in
keine üble Schule daheim gegangen sein. Vielleicht boten die Bürger-
häuser selber mit privater Unterweisung", was Staat und Kirche nicht dar-
zubieten imstande waren.
So haben wir überall vielversprechende Ansätze; aber dort, wo hätte
eingesetzt werden müssen zur Besserung, überwog" der Stillstand, der dem
Rückgang gleich zu achten ist. Das wissenschaftliche Leben in der Kirche
war in Verfall; was sich als Gelehrsamkeit ausgab, war ebenso anspruchs-
voll wie geistlos und spitzfindig. Die Kunde alter Sprachen war gering;
II. Humanismus, Reformation und Gegenreformation (1450 — 1600). 12"
das Hebräisch»' und Griechische fast unbekannt; ein barbarisches Latein
hatte die Herrschaft; alle Zeugen und Quellen ernster Wissenschaft (die
Kirchenväter, die Historiker, die altsprachlichen Texte) lagen unbenutzt
in bestäubten Handschriften.
II. Humanismus, Reformation und Gegenreformation (1450 — NeubciebmiR
, 1 t' 1 1 \ ^'^^ Schulen
1600). Da brachte Italien neues Leben m Wissenschaft und Schule. Aus durch den
■r-r .* 1 1-ki •< 1 I • Humanismus.
dem Studium einzelner Dichter, Histonker und Philosophen wuchs eine
neue Bildung hervor. Die Freude an der Schönheit der lateinischen
Sprache und Poesie nahm zu, man suchte wie Cicero zu reden, bewunderte
seine Dialektik und dichtete wie Virgil; mit Erstaunen erkannte man die
Kraft des Lebens, das im römischen Volke pulsiert hatte. Die Bewunde-
rung Piatos stieg; Aristoteles trat vor ihm zeitweise sehr zurück. Homer
las man mit Entzücken. Besonders regten Petrarca und Bocaccio Wan-
derlehrer und Apostel an. Und als Konstantinopel gefallen war, trugen
griechische Schulmeister und Gelehrte viel dazu bei, daß die Studien der
Antike festere Stützen gewannen, an denen Poesie, Geschichte und Rechts-
kunde sich emporranken konnten. So blühte neues Leben aus den Ruinen
der Vergangenheit und eine Auferstehung begann, die eine rein mensch-
liche Bildung wiederbrachte mit ihren Schönheiten, aber auch mit ihren
(refahren. Selbst Geistliche und Päpste zog der Zauber dieser Bewegung
in ihre Kreise. Es war natürlich, daß auch die Schule teil am neuen
Leben nahm. Unter den italienischen Humanisten war der liebenswürdige
und bedeutende, von allem Pennalismus freie Prinzenerzieher von Mantua
\'ittorino da Eeltre des trocknen und gemütlosen Tones am meisten satt;
er gründete in Mantua eine Musteranstalt zur Erziehung junger Leute,
welcher der Volksmund den Xamen „La Giocasa", das fröhliche Hau.s,
verlieh. Mit feinem Gefühl empfand das Volk Vittorinos Gedanken nach,
daß die Freude die Seele alles menschlichen Tuns und der Quell alles
Guten, auch in der Erziehung sein müsse, daß sie vor allem Bedeutendes
schaffe, daß der Grundsatz „fröhlich auf Erden und anderen helfen fröh-
lich zu werden" auch dem Schulmeister nicht übel anstehe, daß nicht
Muß und Stock, sondern freudiges Spiel des Geistes Kenntni.sse schaffen
und fördern könne, die nicht nur totes Wi.ssen bleiben, .sondern der Au.s-
bildung des Charakters dienen. Auch in den pädagogischen Schriften
jener Tage klingen ähnliche Gedanken durch; das Streben nach Lob, der
Wert des Freude erregenden guten Beispiels, der Grundsatz ne quid nimis
und der Wert der Erholung und des Spiels werden betont; auch zum
Kampf gegen die Lüge wird ermahnt und gewarnt vor körperlichen
Strafen, da Schläge für den Sklaven, nicht für den .Schüler freier Wissen-
schaft bestimmt seien. Leise melden sich auch schon Fordecungen wie
die, daß den Naturwissenschaften und der Mathematik ein Anteil an
Menschenbildung gebühre. So war Italien die Heimat neuen Lebens-
gefühls und neuer Erziehungsgedanken, unter denen der wertvollste, daß
J28 Anoi.K Matthias: Das höhere Knubcnschiilwesen.
der Srhule ein Platz an der Sonne gebühre und nicht hinter dumpfen
Mauern, voller Verwirklirhung' noch immer entgegenstrebt.
Humanistische Studien und humanistische Gedanken drangen bald
auch über die Alpen. Schon Karl IV. war empfänglich für die antikisie-
renden Leistungen der Gelehrten. Allmählich mehrten sich diese und
nahmen den Charakter jener überschwenglichen Verehrung an, die leicht in
eine servile Verehrung alles dessen ausartet, was aus der Fremde stammt,
und in eine unwürdige Herabsetzung eigener Sprache und eigener Kultur.
Das Konstanzer und das Baseler Konzil mit seinem Zusammenfluß Ge-
lehrter aus allen Ländern boten neue Anregung; manchem hohen Geistlichen
lagen mehr die Bücherschätze St. Gallens am Herzen als die Reform der
Kirche an Haupt und Gliedern und die Vernichtung des Ketzertums.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst trug das Ihrige dazu bei, den Strom
humanistischer Bildung zu verstärken. Persönlichkeiten wie Eneo Silvio
Piccolomini, Friedrichs IIL Sekretär, traten mit großem Pathos für klassische
Studien und lateinische Beredsamkeit unter den Deutschen auf. Mancherlei
Dichtungsarten gelangten so allmählich zur Kenntnis in Deutschland, cice-
ronianische Beredsamkeit wurde geübt, lateinische Briefe bekannt; klassische
Vorbilder wurden nachgeahmt; die Wissenschaft und Geistesbildung wurde
ihres theologischen Charakters enthoben, der Betrieb klassischer Studien
vom Staube der Scholastik frei; die wissenschaftliche Behandlung der
alten Autoren schärfte den Blick; die Lehren der Alten trugen dadurch
auch auf anderen Gebieten ihre Früchte. Im Gegensatz zu Italien waren
die humanistischen Studien in Deutschland nüchterner, aber auch ein-
dringlicher, methodischer, fast könnte man sagen zunftmäßiger und schul-
meisterlicher; die logische Seite wurde mehr betont als die des Wohl-
klangs und der Schönheit, die Weisheit des Inhalts mehr als die Eleganz
der Form; die Gymnastik des Geistes war hier angestrengter und deshalb
dauerhafter. Aber auch die Gefahren dieses Betriebes zeigten sich: das
F'ormale gelangte infolge gelehrter Kleinkrämerei mehr und mehr zur
Herrschaft; Fremdes zu kopieren galt rühmlich, rühmlich ebenso, in er-
borgter Maske vor das Publikum zu treten und den ehrlichen deutschen
Namen mit griechischen und lateinischen Namen zu vertauschen. Das
ganze Gebaren erhielt schließlich etwas Steiftheatralisches. Die Ver-
folgung der deutschen Sprache kam hinzu und trug bei zum Verfalle
deutscher Literatur und Kultur, dem auch aus anderen Quellen zerstörende
Wirkungen zuströmten. Die Folgezeiten hielten nicht, was die Begeiste-
rung im Anfange versprochen hatte, als Agricola mehr durch die Macht
seiner Persönlichkeit und seines Beispiels die humanistische Bewegung in
Deutschland anbahnte. Er war ein ganzer Mensch, voll Unabhängigkeit
von bindender Kirche und starrer Schule, der etwas von dem natürlichen
altgermanischen Haß gegen Schulzwang und Lehramt in sich trug, wenn
er schrieb, die Schule sei etwas „Herbes, Mühseliges, Unerquickliches,
traurig und widerwärtig anzusehen und zu betreten, mit ihren ewigen
II. Humanismus, Reformation und Gegcnrerormation (1450 — 1600). I2g
Prügelszenen, ihren Tränen und ihrem Gelieul einem Kerker zum Ver-
wechseln ähnlich". Dieser größte Feind und Verächter der Schule wurde
Stifter neuer Schulformen, weil in seiner Verachtung eine tiefe Sehn-
sucht nach idealen Formen und nach Besserung lag. Ihm folgte Hegius
im Norden mit seiner Schule in Deventer, und in seinem Geiste wurden
die Schulen in Münster und J-üttich geleitet. Über die F'ormen sind wir
wenig unterrichtet; im ganzen wird ein Plan zugrunde gelegen haben,
wie wir ihn durch .Sturm \on ilcr Lütticher Schule kennen: In acht
Klassen mit stufenmäßig aufgebautem Unterricht, von halbjährlichen Prü-
fungen und strenger Versetzungsordnung stieg man auf von den Anfangs-
gründen der lateinischen Grammatik bis zur freien Nachahmung lateinischer
Klassiker; vom vierten Lernjahre an trat das Griechische hinzu, das zu
lernen erst die Humanisten der .Schule Mut gemacht haben. — In .Süd-
deutschland schaffte Reuchlin dem Humanismus freie Bahn. Von tiefer
Wirkung für den Zauber der neuen Bildung war Erasmus von Rotterdam,
der auf tüchtige Lehrer drang, die Lernfreude schafften, die die Humaniora
in humanem .Sinne lehrten, die Lektüre in den Vordergrund stellten,
krassem Ciceronianismus sich abgewandt hielten und auch die Griechen
liebten. Frasmus trug neben der Begeisterung einen feinen ironischen
Zug in die Bewegung, und da er nicht aufhörte ein guter katholischer
Christ zu sein, wenn er auch gelegentlich das Pfaffentum verhöhnte, so
warb diese Richtung für die Schulen Freunde in den Bürgerhäusern der
Reichsstädte, an F'ürstenhöfen und sogar in Domkapiteln und an Bischof-
sitzen.
Hatte der Humanismus kräftig eingesetzt für die innere BefreiungnieReformaUon;
. Luther
des höheren Knabenunterrichts von der Kirche, so schaffte die Refor- (1483-1546);
Melanchthoii
mation weiter, um die äußere .Stellung der .Schule so zu gestalten, daß (moj-'s'«)-
sie Herrin im eigenen Hause werden könne. Luther, der uns vom Über-
gewicht römischer Sprache, Tradition und Autorität befreit hat durch die
geniale Schöpfung unserer Volkssprache und durch diese den Sieg über
fremdes Wesen und fremde .Sprache anbahnte, stellte für die .Schulen den
Grundsatz auf, daß ihre Einrichtung und Erhaltung eine Pflicht weltlicher
Übrigkeit sei, daß der Unterricht nicht nur für zukünftige (ieistliche, son-
dern auch für weltliches Regiment, nicht nur für Gelehrte, sondern auch
für jedermann im Volke, nicht nur für Knaben, sondern auch für Mädchen
einzurichten sei. Moderne Anschauungen, wie wir sie heute für selbst-
verständlich halten, treten hier zum erstenmal in voller Klarheit in ihre
Rechte. Luthers Anforderungen für die höheren Knabenschulen bewegten
sich aber nicht, wie seine Bibelübersetzung und alle seine literarischen
Taten, in nationaler Richtung, sondern blieben zum Teil in alten Band(>n
gefesselt. Beamte in Stadt und .Staat, in weltlichem und geistlichem
Regiment, so folgerte Luther, bedürften gründlicher wissenschaftlicher
Bildung, die nicht möglich sei ohne die alten Sprachen. Diese hätten
die weltlichen Beamten nötig wegen der mannigfachen um! nützlichen
ÜIB KuLTL'K DER GkGKNWAKT. i. I, 9
I ^o AtikI.K ATattiiias; Das höhere Knabenscluilwescn.
Kenntnisse, die das Studium der Alten bringe, die geistlichen wegen des
Evangeliums. Der Wert fremder Sprachen steht bei Luther so hoch, daß er
diejenigen „deutsche Narren und Bestien" nennt, die Künste und Sprachen
nicht kennen, welche gut sind, die Heilige Schrift zu verstehen und welt-
lich Regiment zu führen. „Durchs Mittel der Sprachen ist das Evangelium
kommen und hat auch dadurch zugenommen, muß auch dadurch erhalten
bleiben; sie sind der Schrein, darinnen man dies Kleinod traget; sie sind
das Gefäß, darinnen man das Kleinod fasset; sie sind die Kammer, darinnen
diese Speise lieget." Freilich nicht alle Kinder sollten in fremden Sprachen
tüchtig werden, sondern der „Ausbund", d. h. eine Auswahl; und nicht
mehr „der Pfaffheit halber und wegen der geistlichen Pfründen" sollten
sie studieren, sondern auch des weltlichen Regimentes wegen. Neben die
kirchliche wollte Luther die weltliche Bildung als ebenbürtig rücken.
Ohne es zu empfinden, rückte der Mann des starken und freien Glaubens
gleichwohl die Schule wieder unter den Zwang der Theologie.
Unter der Übergewalt von Luthers Persönlichkeit gab denn auch
Melanchthon mehr von seiner humanistischen Herkunft preis, als er es
ohne Luther würde getan haben. Gleichwohl hat die höhere Knaben-
schule dem praeceptor Germaniae unendlich viel zu danken, da ihm unter
schwierigen Verhältnissen und großen Hindernissen die Verschmelzung
von Humanismus und Reformation gelang. Er legte Gewicht auf eifriges
Studium der römischen und besonders der griechischen Klassiker. Sein
Ziel dabei bildete die Eloquenz. Rasches Einführen in die Lektüre empfahl
er, nicht zur Anwendung von grammatischen Regeln, sondern um Muster
und Stoff zu haben für richtige Imitation. Stilübungen stehen im Vorder-
grund. Anfertigung' von Briefen, Disputationen und Vorträgen werden
gefordert. Aber auch zu Sachkenntnissen soll die Lektüre der Klassiker
verhelfen. Mathematik, Physik, Metaphysik, Ethik — kurz alle Gebiete
des Wissens sollen unter der Pflege der Lektüre mit gedeihen. — Wir sehen
also: Wenn auch geistloser Betrieb aus den Schulen entfernt werden
sollte, ein nationales Gepräge ward ihnen nicht gegeben. Luthers Werke
haben Lebens- und Gestaltungskraft der deutschen Prosa gefördert, sie
haben Gesetz und Regel in unvergänglichen Mustern uns gegeben; die
Kanzel wurde eine reiche Pflegestätte deutschen Wesens und deutscher
Sprache; das Kirchenlied wirkte mit, um heimischen Geist zu stärken.
Die gelehrten Schulen aber trieben Mißachtung und wohl auch Miß-
handlung der deutschen Sprache nach wie vor. Das Latein blieb allein-
herrschend und unduldsam; und wenn es bei Luther das Evangelium der
Liebe war, um dessentwillen er die fremden Sprachen nicht lassen wollte,
seine Epigonen setzten an die Stelle des Evangeliums der Liebe dogma-
tischen Haß, Zänkereien und beschränkten konfessionellen Hader und
hielten sich nicht an das Mahnwort Melanchthons, der den „ungeschickten
Schulmeistern verboten hatte, von Hadersachen zu sagen oder die Kinder
zu gewöhnen, Mönche oder andere zu schmähen". Wenn gesagt ist, der
II. Humanismus, Reformation und Gegenreformation (1450 — 1600). i^i
Humanismus sei am Bündnis mit der Keformation zuvrundi' gfeg-angen, so
liegt darin ein gutes Korn Wahrheit, weil die Zukunft nicht hielt, was die
Tage I-uthers und Mclanchthons versprochen. Sieht man aber auf alle
die trefflichen Schulordnungen, die unter Mitarbeit Melanchthons zustande
kamen, und auf die zahlreichen kleinen und großen von Melanchthons
Geist getr^igonen protestantischen Schulen, besonders die prächtigen Schulen
zu Meißen, Pforta, Grimma, llfeld, Augsburg und in himdert anderen
Städten und Städtchen, dann muß man jenes Bündnis der Reformation und
des Humanismus als einen Segen preisen.
Unter allen Schulen der Reformationszeit bildet das von Johann Sturm sturms
protestantisches
1538 begründete protestantische Gymnasmm eme Welt für sich und eine Gymnasium
in Straßburg
Macht als Muster und Vorbild, von dem wir noch heute Spuren in unseren (1338 begründet).
Gymnasien und an ihren Direktoren und Lehrern finden. In Lüttich hatte
Sturm die tiefsten Eindrücke für die Zukunft empfangen; Reformation und
Humanismus ließen diese zu reifen Gedanken werden, als er in Straßburg
sein Werk begann untl die drei vorhandenen Lateinschulen zu einem zehn-
klassigen Gymnasium umwandelte, dessen Ziele in dem Satze beschlossen
liegen: „Propositum a nobis est sapientem atque eloquentem pietatem
finem esse studiorum." Protestantische Frömmigkeit das Endziel; Sach-
kenntnis und Herrschaft über lateinische Rede die Mittel. Für die Sach-
kenntnis waren die alten Klassiker Fundgrube allen realen Wissens. Da
sie für das Rechnen keinen Anhalt boten, lernten die Sturmschen Schüler
diese Kunst nicht mit. Das Hauptziel wurde nach und nach die Kunst
der lateinischen Rede und der Rhetorik, vor der schließlich die Sach-
kenntnis und Frömmigkeit in zweite Linie treten. Mit Gedächtnis und
Verstand wurde vorzugsweise operiert; das Gemütsleben und Wärme des
persönlichen Empfindens trat ganz zurück hinter dem Intellekt und hinter
Ausbildung starken Willens im Reiche rhetorischer Formen. Denn auf
diese lief alles hinaus, Auswahl sowohl wie Behandlung der Lektüre;
Cicero und Demosthenes standen im Vordergrunde, besonders jener, mit
dessen vollkommenem Latein die Schüler wetteifern sollten. Homer trieb
man nicht wegen seiner naiven Kraft, sondern um seiner rhetorischen
Vorzüge willen. Historiker waren so gut wie ausgeschlossen. Die Auf-
führung lateinischer Dramen diente denselben rhetorischen Zwecken. —
Es waren nicht die Bahnen eines Agricola, Erasmus und Melanchthoii,
die hier gewandelt wurden, auch nicht die Bahnen Luthers; denn die
deutsche Sprache war innerhalb und sogar außerhalb des Unterrichts ver-
pönt. Das ist verständlich, wenn man in Erwägung zieht, daß Latein da-
mals die Sprache der Gebildeten war, nicht verständlich, wenn man be-
denkt, daß soeben die mächtige Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung
durch alle deutschen Lande hallte.
Der Einfluß Sturms war gewaltig. Wir finden ihn überall in den Per-
sonen jener Zeit, wie z. B. in Trotzendorf, dem Begründer der Schüler-
republik in Goldberg, und in 1 humas Platter, dem schweizerischen Schul-
9*
13^
Adolf Matthias; Das höhiTe Knabenschulwcsen.
mann; aber auch in drn Schulordnungen wie der württembergischen,
braunschweigischen und kursächsischen und weiterhin auf Jahrzehnte und
Jahrhunderte in vielen deutschen Gymnasien. Um die Mitte des i6. Jahr-
hunderts dürfen wir aber darin wohl Sturms Geist erkennen, daß bedeu-
tende Pädagügarchen mit charakteristischen Zügen an vielen höheren
Schulen sich zeigen, die ungehemmt durch amtliche Vorschriften in ihren
Kreisen mit großem Nachdruck wirkten.
Her Humanis- In den protestautischen Gebieten also überall reiches Leben und Be-
kathoiisrhen wegung; nicht minder in der katholischen Welt. Stand doch die Wiege
des Humanismus auf katholischem Boden. Das machte sich weithin
bemerkbar; denn in Italien blieben Wissenschaft und Schule humanistisch
gerichtet, und von dem frischen Leben sprang in die romanischen
Schwesterländer viel hinüber: von großer Bedeutung ist der Spanier Vives
(geb. I4Q2). Der alten Kirche treu wirkte er in den Niederlanden für die
neue humanistische Bewegung mit Geist und Überzeugung und zeigte
sich als eine durchaus moderne Natur, da seine Gedanken über Pädagogik
weit seiner Zeit vorauseilten. Mit kräftigen Worten trat er auf gegen
das Gelehrtenmonopol und den Gelehrtenhochmut in den Schulen, gegen
die dialektischen Klopffechtereien, die auch aus humanistisch gerichteten
Schulen nicht schwinden wollten, gegen das rhetorische Phrasentum und
gegen die hohlen Imitatoren Ciceros, die er als Affen verspottete. Er
wandte sich gegen die barbarische Behandlung der Kinder in den Schulen
und betonte die Pflege des Körpers neben der des Geistes. Auch die
Muttersprache will er zu Rechte kommen lassen und der Lektüre vor
der Grammatik ihre Stelle geben. Den Lehrerstand wünscht er selb-
ständiger zu sehen durch staatliche Besoldung und ihm eine geachtetere
und unabhängigere Stellung zu schaffen. Es ist eine überaus feine Natur,
die in ihrer Einsamkeit um so bemerkenswerter ist. Schule hat Vives
nicht gemacht; dazu war er nicht grobkörnig und nicht eitel genug. So
blieb es einer ferneren Zeit vorbehalten, seine lebenswerten Gedanken zu
verwirklichen. Wäre die Kirchenspaltung nicht gewesen, wie vieles hätte
sich aus der Einigkeit solcher Geister wie Vives, Erasmus, Melanchthon
und Luther für die Welt der Wissenschaft und Schule zum Segen der
Jugend schaffen lassen!
Die Jesuiten- Zunächst nahmen andere weniger zarte Gewalten das Heft in die
schulen und der . . t*,, -ti i-t- j
Protestantismus, feste Hand; in der katholischen Schule vor allem die Jesuiten, deren
Herrschaft man richtig würdigen wird, wenn man die Grundlagen ihrer
Macht in der Schule unbefangen würdigt und einen gerechten Vergleich
anstellt mit den protestantischen Schulen des i6. und 17. Jahrhunderts.
Die katholische Kirche, aufgerüttelt durch den Ansturm ketzerischen
Geistes gegen sie, suchte mit erneuter Kraft historische Gelehrsamkeit
und dialektische Schriften in ihren Schulen zu pfleg-en, da sie dieser
Waffen bedurfte im Kampfe mit der protestantischen Theologie und da
sie in einer Welt, die an Bildung und geistiger Selbständigkeit viel ge-
II. Humanismus, Reformation und Gegenreformation (1450- 1600). it-i
Wonnen hatte, in Khren bestehen mußte. Nachdem sie sich in diesen
Wettstreit begeben, hat sie Bedeutendes zuwege gebracht, was prote-
stantischer Stolz zu übersehen und zu unterschätzen leicht geneigt, prote-
stantische Wissenschaftlichkeit anzuerkennen gern bereit ist.
So sind vor allem die Jesuitenschulen, in welchen die katholischen
Völker bis zum i8. Jahrhundert in ihrer Mehrheit erzogen wurden und die
den allgemeinsten Ausdruck und die Pflegestätten katholischer Wissen-
schaftlichkeit bilden, in ihrer .\rt sehr tüchtig und als Zwillingsschwestern
der humanistisch-protestantischen Schulen zu bezeichnen, die an allen den
Stellen, wo der Kirchenglaube außer Betracht kam, vor allem in den
exakten Wissenschaften durch Genauigkeit und Schärfe Vorzügliches
geleistet haben. Als Zwillingsschwestern kann man sie bezeichnen. Denn
hier wie dort ist Imitation ihr Hauptziel, selbst im Griechischen war
Versemachen und Sprechen ihr Streben; rhetorische und dialektische
Gesichtspunkte waren auch bei ihnen ausschlaggebend; Cicero beherrschte
das Lateinische; in der Lektüre wogen Grammatik und Rhetorik vor.
Memorieren, um imitieren zu können, war ihnen Hochgenuß. Auswendig-
gelernt wurden mit zähen Kräften die Phrasen der Schriftsteller, die
Regeln der Grammatik und die w^enig verdauten Lehren des Katechismus.
Wie in den protestantischen Schulen war auch hier die deutsche Sprache
verpönt, die Abneigung dagegen wegen römischer Kirchlichkeit noch
stärker. Verschieden von protestantischem Betriebe, der die Lehre
gründlich vornahm, war der Religionsunterricht. Die eigentliche Beleh-
rung beschränkte sich auf Einprägung des Katechismus, sonst widmete
man sich mehr der Religionsübung, in deren Dienst die Anleitung zu
Gebet stand, die regelmäßige .Gewissenserforschung, die Beichte, die
Messe, der sonntägliche Gottesdienst und die gegenseitige Beaufsichtigung
in religiösen Schülerverbindungen und marianischen Kongregationen.
Wenn solche pädagogische Verirrungen, die harmlosen Verkehr und
harmlose Freundschaften ausschließen, zum Heile der Jugend den prote-
stantischen Schulen auch fern blieben, so litten diese an anderen Miß-
ständen. In bedenklichem Umfang herrschte hier der Gebrauch des
Stockes, den unter Umständen die Lehrer der Reihe nach zur Besserung
des einzelnen handhabten. Das überließen die Jesuiten dem Korrektor
oder Stockmeister, der sparsamer war, weil er allein allen Ansprüchen
genügen mußte, aber auch sparsamer sein konnte, weil der Wett-
eifer und Ehrgeiz von den Jesuiten als Lehr- und Erziehungsmittel reich-
lich gepflegt w-urde: Wetteifer der einzelnen, Wetteifer der Parteien
und Wetteifer ganzer Klassen im Zertieren. Preisskripta, Examina über
Examina, Disputationen, öffentliche Schulakte, dramatische Aufführungen
jagten sich außerdem in buntem Wechsel, um den Ehrgeiz lebendig zu
halten. Daneben pflegten die Jesuitenschulen den äußeren Schliff, ge-
wandtes und sicheres Benehmen und militärisches Auftreten; alles das
fehlte bei den Protestanten an den meisten Stellen. Daß man auch
JI1 Adolf Matthias: Das hblicre Knabcnschuhvcscn.
lehrte, über alli- Dinyc mitzuredon, selbst weim die Sachkennliiis nicht
weit hör war, soll ebenfalls vermerkt werden; das brachte die Konzession
an die Oberflächlichkeit gebildeter Kreise so mit sich. Mit Rücksicht
auf diese lebte man in den jesuitischen Internaten auch gut, während bei
den Protestanten Schmalhans vielfach Küchenmeister war. Jede Über-
Inirdung hielt man in Jesuitenschulen fern; mehr als fünf Stunden täg-
liche Arbeit galt als Übel; der Unterricht war durch verständige Pausen
unterbrochen; auf menschenwürdige Subsellien wurde gehalten und Be-
wegung im Freien in reichem Maße vergönnt. So kam es, daß die
Jesuitenschulen viel besucht wurden und daß selbst protestantische Eltern
ihre Kinder ihnen anvertrauten. Die Jesuiten eroberten sich eine Art von
Bildungsmonopol, das Macht und Geld und sonstige weltliche Dignitäten in
seine Kreise zog. Daß der Unterricht unentgeltlich war, war auch nicht die
schwächste Seite dieser Schulen; denn auch vermögende Kreise lassen es
sich gern gefallen, wenn sie Geist und Bildung gratis haben können.
Auf die Dauer allerdings hielten diese Schulen nicht, was sie versprachen.
Ihre Uniformität, die ja eine wirksame Gleichmäßigkeit und .Sicherheit
der Methode schuf, eine angemessene Auswahl des Stoffes für die ver-
schiedenen Klassenstufen anbahnte und auch die Vorbildung der Lehrer
gewährleistete, nahm doch schließlich etwas Starres, Unempfängliches und
Totes an und vernichtete die Aufnahmefähigkeit für neue Lebensideale
und die historische Entwicklungsfähigkeit, ohne welche kein geistiger
Organismus Dauerwert besitzt.
Die Protestanten hatten nicht den unverrückbaren Glauben der Kirche,
sie hatten nicht alleinherrschende und unfehlbare Autoritäten, nicht die
Einheitlichkeit des LehrjDlans in einer ratio studiorum und die Einheit-
lichkeit der Lehrbücher. Dafür hatten sie den Vorteil, daß bei ihnen Ver-
kalkung und Verkümmerung des Geistes nicht möglich war und daß nicht
des Gesetzes Gespenst einen unverrückbaren Platz auf ihrem Katheder
hatte. Trotzdem kamen sie erst spät zur Geltung, weil es ihnen „am Besten",
am Gelde fehlte, das die Jesuiten in reichlichem Maße besaßen. Und
dieser Geldmangel hat sich bis in unsere Tage gerächt von Luthers Zeiten
an. Schon Luther hatte in verhältnismäßig günstigen Zeiten geklagt: wo
es sich um Stiftung von Schulen handle, seien alle Beutel mit eisernen
Ketten zugeschlossen. Was konnte man nun gar in Zeiten leisten, wo
Krieg und Unruhen zahlkräftige Gönner von Schulen nicht aufkommen
ließen. Und außer dem Gelde fehlte den Protestanten eine große welt-
liche Macht und das allgemeine Interesse für die Schulen. Schon Me-
lanchthon klagte über die Geringschätzung der wissenschaftlichen Arbeit
in den herrschenden Kreisen: „Wir erleiden die hochmütige Verachtung,
nicht bloß von den Unkundigen, den Kaufleuten, den Verächtern aller
Bildung, sondern auch von jenen Halbgöttern, die an den Höfen regieren."
^schuifn"nacr So gingen denn nach kurzem Aufschwung zu frischerem Leben die
■^^tio^sze™*' Schulen ihrem Niedergang entgegen. An die kräftigen Folgerungen,
III. Die französisch-höfische Bildung die Aufklärung (1600 — 1790). i^;
die das i6. und 17. Jahrhundert aus der Reformation und aus huma-
nistischer Bewegung für Geistesfreiheit oder, besser gesagt, für eine un-
befangene, vorurteilsfreie und freimütige Bildung des Geistes und des
Herzens hätte ziehen sollen, wagte sich jene Zeit nicht heran und konnte es
nicht tun, weil sie die Fesseln vergangener Tage nur zum Teil abzu-
streifen vermochte, um andere, neue dafür einzutauschen. Und wie die
Zeit ihre Schuldigkeit nicht tat, so erfüllte sie die Schule noch viel we-
niger. Melanchthons Klage über den Mangel an Interesse für die Schulen
mochte in gewissem Sinne ihre Berechtigung haben. Vollkommen bei-
stimmen kann man ihm nicht. Hätte die Schule jener Tage die Zeichen
der neuen Zeit voll verstanden, hätte sie aufmerksam gelauscht auf alles,
was neu, gesund und lebenswert zugleich an diesen Zeichen war, hätte
sie in Tat und Wirklichkeit umgesetzt, was an großen Ideen die neue
Zeit heraufgeführt, die Mächte des Tages hätten sich vermutlich anders zur
Schule gestellt. Denn es ist noch immer so gewesen, tlaß Schulen, die
Lebenskraft in sich tragen und die den wahren Bildungsbedürfnissen klug
entgegenkommen, gern gesehen und geachtet worden sind bei den
urteilsfähigen Mächten des Lebens. Wenn aber, wie um die Wende des
16. und 17. Jahrhunderts, in der Schule das Gezänk der Theologen, das
mehr auf „Pietät der Augsburgischen Konfession" und sonstige Pietäten
als auf Wissen, Können und feine Bildung sah, wenn die Glaubens- und
Selbstgerechtigkeit, wenn hohle Dialektik und Rhetorik, wenn die Vor-
liebe für das Unnatürliche, Formalistische im Vordergrund stand und die
Armseligkeit des Inhalts hinter formalistische Redeformen, die im fremd-
ländischen Gewände der mali grammatici einherschritten, sich verbarg,
dann soll man sich nicht wundern, wenn Begeisterung nicht erweckt
wurde, man muß vielmehr staunen, daß solche Fesseln der Langeweile
und Geschmacklosigkeit mit Geduld getragen worden sind, Fesseln, welche
schulmeisterlicher Dünkel dem Sohne des verachteten Bürgersmannes
auferlegte, der doch keineswegs viel Achtung haben konnte vor Lehr-
meistern, die für „Eselsarbeit Zeisigfutter" bekamen und dabei submisseste
Devotion prästierten vor allen Persönlichkeiten, die gewaltig in Staat,
Stadt oder Kirche waren. Kurz, der Geist jener Zeit und ihrer Schulen
war unerquicklich wie der Nebelwind, der herbstlich durch die dürren
Blätter säuselt. Die Kriegsfurie, die bald durch die deutschen Lande
zog, fand deshalb auch an Geist nicht viel vor, was sie hätte zerstören
können.
III. Die französisch-höfische Bildung, die Aufklärung (1600 Keime lu neuem
, Leben im 16. und
— 1790). Doch wie unter dem absterbenden Herbstlaub schon Keime >7 Jahrhundert
und die ersten
neuen Lebens sich regen, so hielten mit dem Niedergang der Schulen die ReBunRen realer
^ . . Bildung.
ersten Regungen einer neuen besseren Zeit gleichen Schritt. Philosophen
und Naturforscher wie Kepler, Galilei, Baco und Descartes zeigten dem
Denken neue Wege, indem sie von den Büchern, von der verstaubten
I 75 Adolk Matihias: Das höhere Kn;ibcnschuhvcseii.
Wort- und Schulweisheit hinweg auf die Erfahrung und das Leben in dcr
umgebenden Natur hinwiesen. Den Wert der klaren und doutlichon nia-
Iheniatischen Begriffe erkannte Descartes; Baco, den man zutreffend den
„empiristischen Generalstabschef" genannt hat, betonte die Bedeutung der
ars inveniendi, d. h. der Induktion, Milton das Lernen der Sachen, für
welches die Sprache — die bisher Selbstzweck gewesen — nur als Mittel
diene; wie Descartes betonte er den Wert der Mathematik, der Natur-
wissenschaften und der nützlichen Dinge des Lebens, auch schon den
Wert der körperlichen Übungen; kurz, was man heute als neue Weisheit
preist, liegt schon in seinen Keimen in jenen Tagen des Niedergangs, in
welchen der Stuben-, Buch- und Wortweisheit g-egenüber kluge Geister
auf das große Buch der Welt und des vielg'estaltigen Menschenlebens
hinwiesen. Ihre Ideen hatten aber, um aus Schulweisheit Lebensweisheit
zu werden, noch manchen Kampf um ihre Daseinsberechtigung auszuhalten.
Ratichius Pädagogen, wie Ratichius imd Comenius, gesellten sich den großen
und Comenius Philosophcn Und Naturforschern zu, um der Entwicklung der Schule
(l S02 — 1670)
Bahnbrecher auf neue Wcgc ZU wcisen, nicht so sehr durch ihre Schidgründungen als
pädagogischem . . , .,-,..
Gebiet. durch ihre Ideen, die sie in die Zeit hineinwarfen als ein Ferment, das
eine vollständige Umwälzung des Erziehungs-, Unterrichts- und Schul-
wesens hervorgerufen hätte, wenn jene Zeit aufnahmefähiger gewesen
wäre und wenn die Männer selbst nicht durch unpraktische Sonderbar-
keiten der Verwirklichung ihrer eigenen Ideen den Weg verlegt hätten.
Ratichius suchte vor allem die Muttersprache aus ihrer jahrhundertelangen
Vernachlässigung zu befreien, indem er verlangte, der Knabe müsse
deutsche Sprachkunst recht und wohl gelernt haben, bevor er weiter
gehen könne. Er setzte ferner die Sinne in ihre Rechte, indem er auf
Induktion hindrängte und auf lebendige Übung der Sprache durch Lek-
türe und auf Verwendung anschaulicher Beispiele im grammatischen Be-
triebe; er betonte weiter ein natürliches Nacheinander der verschiedenen
Lehrgegenstände gegenüber dem unnatürlichen zerstreuenden und bunten
Nebeneinander der alten Schule. Daß er schließlich Front machte gegen
die rauhe Zucht der bisherigen Schulmeisterei und die Freude an der
Arbeit als wirksam pries, ist nicht sein geringstes Verdienst. Daß seine
an sich gesunden Ideen nicht zur Geltung kamen, verschuldete er durch
sein unstetes, unverträgliches und reklamesüchtiges Wesen, zu welchem
eine seltsame Geheimnistuerei hinzukam, welche die Pädagogik fast wie
eine schwarze Kunst behandelte.
Wirksamer als dieser pädagogische Adept war Comenius, der steter war
trotz seines Flüchtlingselends im Dreißigjährigen Kriege und trotz seines
Wanderlebens. Auch origineller, feiner und tiefer war er angelegt und bei
aller seiner chiliastischen Schwärmerei frei von religiöser Engherzigkeit und
Zanksucht — dabei als echter Pädagoge ein Optimist von reinstem Wasser.
Ziel seiner Bestrebungen war wissenschaftliche Bildung, tugendhafte Sitten
und wahre Gottesfurcht. Die Mittel zum Ziele gleichen denen, die Ratichius
III. Die französisch-höfische Bildung, ilic AufklKrunf; (1600 — l/Oo). I ?y
empfahl. \'or allem suchte auch er den Sinnen /ii ihrem Rechte zu verhelfen
durch Anschaulichkeit im Unterricht, durch Wertschätzung der Realien, der
Naturgeschichte, der Geographie und der Geschichte und dadurch, daß er
auf den Kern der Dinge, auf die Sache gegenüber dem inhaltsleeren
Wort hinwies; das Beispiel setzte er vor die Regel, die Anschauung vor
die Gedächtnisübung, das Wesentliche loste er aus dem Unwesentlichen;
die Ordnung und den Lauf der Xatur legte er der Ordnung und dem Lauf
der Gedankenwelt zugrunde, um zu klarer und bestimmter Urteilskraft
als dem Ergebnis des Unterrichts zu kommen. Dabei hielt er auf Ein-
heitlichkeit des Unterrichts: ein Lehrstoff zu seiner Zeit, ein Lehrbuch,
ein Lehrer in derselben Lehrzeit waren seine Ideale. Die Muttersprache,
nicht das Latein, betrachtete er als den gesundesten Boden, auf welchem
alle Erziehung und aller Unterricht am gedeihlichsten wachsen könne.
Und die Sonne, welche dieses Bodens Keimkraft hob, war ihm die Freude
an der Arbeit, nicht aber die rauhe Zucht der prügelvollen und straf-
reichen Vergangenheit: sonnige Schulstuben mit Bildern geschmückt und
vom Spielplatz begrenzt, sonnige Lehrer und Pflege des Körpers durch
Wechsel von Ruhe und Arbeit, diese erziehenden Kräfte schätzte er
sehr hoch ein.
Alles in allem — Comenius war der größte Didaktiker und Pädagoge des
17. Jahrhunderts, auch ein hervorragender Sozialpädagoge, weil er die
Bildung ganz allgemein jedem jungen Erdenmenschen, ob arm, ob reich,
ob hoch, ob niedrig, zubilligen wollte, eine lux in tenebris, ein leuchtender
Geist in dunklen Tagen, dem man aber unrecht tut, wenn man ihn als
einen Heiligen verehrt und gar als Schutzheiligen aller Reformschulen
der Gegenwart und Zukunft preist. Denn auch sein Sj\stem, auch seine
Ideale trugen Mängel an sich, die den Grund bildeten, daß der Erfolg
auch hier hinter den Erwartungen zurückblieb. Des Comenius Realismus
ging so weit, das ganze Altertum so zu verachten, daß er es zu den heid-
nischen Büchern warf, die dem Feuer preiszugeben seien. Damit ver-
kannte er den Wert und die Bedeutung der Antike, die deutschem Leben
und Wesen einen großen Teil seiner Kraft und Gesundheit veHeiht. Die
Einheitsschule war sein Ideal, damit tötete er das mannigfache Leben, das
der Vielgestaltigkeit deutschen Geistes ihren Reiz verleiht; die Überbür-
dung mit \Vissensstoff an Sachen und Worten schuf er als neues Übel
zu dem alten erdrückenden Verbalismus, der der Schule des Comenius
nicht fem blieb, weil Sachen und Namen unzertrennlich sind und das „Ge-
brauchslatein" des Comenius eine Unsumme unlateinischer Wörter in den
Betrieb hereinführte. So klafften Theorie und Praxis an vielen Stellen
weit auseinander, und der Erfolg, der denn doch der beste Prüfstein aller
gesunden Pädagogik ist, entsprach nicht den Hoffnungen, die man auf
Comenius gesetzt hatte. Trotz alledem bleibt Comenius der Ruhm, neue
Pfade gewiesen zu haben, welche viele Schulen jener Zeit einschlugen
und die wir heute noch wandern.
138
Aixir.K Mai Till AS ; I')as linln-ir Kiuilx-iisi h\il\voscn.
Neue Gt'sen- Ziinächst rii'litctcn die Ideen des Ratichius und Comeniiis mehr Ver-
sau« «eRen die . i ■/ ^ i i- i d 7-v • i • i i.
aitherKci.rachtc wiming' uud Acrsetziing" an als iinitasscndo isesserung. iJas ist nicht zu
Die^Kiuer- verwundcm und nicht zu beklagen. Alles Sprunghafte, was neu ins lieben
HedeiitmiTder der Gcschichte eingreift, wirkt vorerst beunruhigend und bildet deshalb
' den i,.it<-in- meist den Ausgangspunkt für einen neuen Entwicklungsprozeß ; denn
sition"e)!en''da5 das Absterben des Bestehenden wird gehemmt und neue Lebenskraft
herbeigeführt, deren sich die späteren Zeiten erst voll erfreuen. Nach
dem Dreißigjährig-en Kriege sahen doch die Männer, die aus den höheren
Schulen jener Zeit hervorgegangen waren, recht erbärmlich drein. Mit
ihrer Gelehrsamkeit wußten sie nichts Rechtes anzufangen, ein Verständnis
für ihre schwere aufgabenvolle Zeit hatten sie nicht. Unpraktisch standen
sie da inmitten der reichen Forderungen, die an sie gestellt wurden in
einer Zeit, die offenen Blick für das Nützliche, Zweckmäßige und Lebens-
kräftige verlangte. Mit ihrer lateinischen Beredsamkeit konnten sie keinen
Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Und die dumpfen, stumpfsinnigen
und weltfremden Hörsäle der Universitäten verdarben, was die höheren
Schulen etwa an gesundem Sinn noch übrig gelassen hatten. Daher regte
sich denn Opposition außerhalb und innerhalb der alten Schulen. Vor
allem war der Hof- und Beamtenadel nicht mehr zufrieden mit der scho-
lastischen Bildung, welche die Gymnasien boten. Man verlangte Bildung
eines Hofmanns und gründete deshalb Adelsschulen (Ritterakademien),
auf welchen das Französische in den Vordergrund trat und an manchen
Stellen bis zur Nachäffung getrieben wurde. Solche Schulen erstanden
nach dem Dreißigjährigen Kriege in Kolberg, Lüneburg, Halle, Wien und
Wolfenbüttel. Aber die Fülle des Unterrichtsstoffes (Latein, Französisch,
Italienisch, Spanisch, Religion, Ethik, Staatswissenschaft, Weltgeschichte,
Chronologie, Beredsamkeit, Mathematik, Mechanik, Logik, Metaphysik,
Kriegswissenschaft und wer weiß was noch alles) wurde so erdrückend,
daß aus der Planlosigkeit Unsicherheit der Lernenden hervorwuchs und die
Schulen, die nur mit schwerem Gelde zu erhalten waren, bald ihrem
Niedergange entgegengingen. Dennoch haben sie in der Entwicklungs-
geschichte der höheren Schulen die Bedeutung gehabt, am Alten kräftig
zu rütteln und Neues zu heischen. Auch in den alten Schulen selbst ver-
langte das Neue gebieterisch sein Recht und genoß das Alte nicht mehr
unangefochten sein Ansehen. Die Mathematik nahm an Bedeutung und
Umfang zu; Männer wie Professor Weigel in Jena traten für größere Be-
rücksichtigung dieses Unterrichtsgegenstandes wie der Realien überhaupt
ein, und schon konnte man Worte vernehmen wie die, daß wer nicht stu-
dieren wolle, nicht mit Latein geplagt werden solle. Und als ein Mann
wie Leibniz den Gebrauch des Lateinischen als Monopolsprache beklagte
und Thomasius in Halle die Bahn frei machte für das Deutsche, auch in
Gelehrtenkreisen, da gewann allmählich der Gedanke an Kraft, daß die
Kenntnis des Lateinischen nicht unbedingt nötig, daß Latein zwar die
Gelehrtensprache sei, aber nicht mehr die Sprache aller Gebildeten. So
III. Die französisch-höfischu Bildung, <li<" Aufklärung (1600 — 1790). j -in
zoitig'tPii sich allmählich im Leben der Schule Ideen, deren ^>^•ebnisse
erst in der Kultur der (iet;fenwart vollkommen zur Geltung gelangen und
zum Siege sich durchzuringen scheinen.
Seltsam erscheint es, daß auch der Pietismus , daß auch August Her- Aur. iierm.
mann l-'rancke im modernen Sinne für die Kultur der Gegenwart mit (iM^-'i?!?).
seinen Bestrebungen auf dem Gebiete der Schule gearbeitet hat, und doch
nicht seltsam, wenn wir bedenken, daß die Probleme der Frömmigkeit
zusammenhängen mit den Problemen unseres inneren Wesens überhaupt,
also auch mit pädagogischen Problemen, und daß eine Religion voller
Liebesarbeit und Werktätigkeit praktische Probleme befruchten muß auch
auf dem Gebiete der Erziehung, besonders wenn jene Liebesarbeit aus
solchem Starkmut und solcher Willensstärke her\-orgeht wie bei Prancke.
In seinem Pädagogium, das er als Ersatz der zu kostspieligen Ritter-
akademien für die Söhne Adeliger gründete, und in seiner lateinischen
Schule für Bürgersöhne kamen wichtige methodische Grundsätze zur
Geltung, die reich befruchtend auf die Folgezeit bis in unsre Tage wirk-
sam waren, so die Bedeutung anregenden Katechisierens, die Beschrän-
kung in der Zahl gleichzeitig zu betreibender Unterrichtsfächer, der Wert
der Wiederholung, die Wertschätzung der vVnschauung (botanischen Garten,
Modelle im naturkundlichen Unterricht, physikalische und geographische
Apparate finden wir in seiner Schule), die Pflege des Zeichenunterrichts,
der hier zuerst seine berechtigte Stellung fand, die Fühlung mit dem
praktischen I.eben durch Besuch von Werkstätten und die Zugeständnisse
an die modernen Sprachen, besonders das Französische, das an Stelle des
Griechischen gelernt werden konnte. Das Lateinische blieb ja noch der
Schwerpunkt des Unterrichts. Aber bei der Auswahl der Lektüre waren
sittliche Gesichtspunkte maßgebend; und das Deutsche vor allem kam
nicht dabei zu kurz, da Francke im Anschluß an Ratichius und Comcnius
der deutschen Stillehre eine wichtige Stätte gab, indem er sie in Rede-
übungen, Briefen und Gedichten pflegte. Ein hervorragendes Verdienst
aber kommt Francke dadurch zu, daß er an seinem Pädagogium die
Lehrerbildung in die Hand nahm. Wenn er auch noch nicht den letzten
bedeutsamen Schritt tat, die pädagogische Kunst von der Theologie zu
emanzipieren, so bewies er trotzdem eine so bedeutsame Empfänglichkeit
für die Zeitinteressen, daß er mit dem Plane umging, ein Pädagogium für
praktische Benifsarten zu gründen, das unseren Realgymnasien insofern
würde ähnlich gesehen haben, als Latein und Französisch die Fremd-
sprachen sein sollten, auf denen die sprachliche Ausbildung sich gründete,
und als daneben die Realien treten sollten, welche „zu nützlichen Künsten"
gebraucht würden.
Im Bündnis mit der neuheraufziehenden Kultur und dem Wandel im nie phiUnthro-
Wesen der höheren Knabenschulen standen auch die Philanthropinisten und Rousseaus
Basedow, Salzmann und Trapp, die zunächst starke Wirkungen ausübten, Kinfluo.
weil ihr Führer die Reklametronmiel zu rühren verstand, die aber — ab-
]^Q AdoiI' MAllinAs: Pas hiiliprr Knalicnschuhvi-scn.
g-esehen von Sal/m;mn — dauernd k('in<'n unmittelbaren Erfolg hatten,
weil Vorsprachen und Kalten, Theorie und Praxis sich nicht entsprachen;
Basedows Dcssiiuer Philanthropin hat keine 20 Jahre gelebt (1774 — 1793);
Salzmanns Schnepfenthaler Schule hat Bestand gehabt, weil ihr Begründer
ein gebomer Erzieher und eine selbstlose Natur war und weil die Schule
in abgelegener ländlicher Lage den Verkehr mit der Natur wirklich pflegen
konnte, der die Voraussetzung für die Erziehungsanstalten der Philanthropi-
nisten bildete. Was diesen Schulen die Aufmerksamkeit weiter Kreise zuzog
und worin ihr Einfluß auch auf die Kultur der Gegenwart lag, das war ihr
Grundsatz, Wert zu legen auf Anschauung und Erfahrung, dagegen das ver-
haßte Verbalmemorieren und die gehaltlose Verbalkenntnis hinter die Realien
und das „Realmemorieren" zu stellen. Daß diese Realkenntnis im engsten
Anschluß an ein barbarisches Latein und ein nach des Comenius orbis
pictus umgemodeltes Lehr- und Anschauungsbuch vermittelt wurde, war
ein Zopf, den eine dieser Haartracht noch nicht entwöhnte Zeit ohne Murren
trug. Eindrucksvoll war femer an den Bestrebungen der Philanthropi-
nisten, daß die Erziehung ihnen wichtiger war als der Unterricht, die
Berufsbildung hinter allgemeiner Menschenbildung zurücktrat und daß als
diejenigen Schulen, die diese Allgemeinbildung ijAegen sollten, nicht mehr
die alten Gymnasien, sondern Realschulen mit wenig Latein empfohlen
wurden. Es frappierte geradezu, von den Philanthropinisten (Trapp) einen
Gedanken ausgesprochen zu hören, den mancher auf der Zunge trug, ohne
ihn laut werden zu lassen, daß nämlich die wenigsten Schüler so viel Ver-
ständnis für die alten Schriftsteller hätten, um Muster guten Geschmacks
und ein Urbild des Schönen darin zu sehen. Und vollends neue Weisheit
war es, daß Erlernung fremder Sprachen ein notwendiges Übel und Kenntnis
fremder Sprachen nicht gleichbedeutend sei mit allseitiger Verstandes-
bildung. Die Konsequenzen, die man für die Stellung der Sprachen im
Unterricht zog, ergaben sich naturgemäß von selbst. Daß man Latein
beibehielt, betrachtete man als eine Konzession an die Tradition und an
die Bedürfnisse vorurteilsvoller Leute, welche sich von jener nicht frei zu
machen wüßten; daß die modernen Sprachen ihrer Dignität nach vor dem
Lateinischen ständen und daß man vor allem das Deutsche zu pflegen
habe, sah man als selbstverständlich an. Den Wert des Griechischen
schätzte man an sich nicht gering, weil man Griechisch für die vorzüg-
lichste aller Sprachen wegen Beschaffenheit und Reichtum der griechischen
Schriftsteller hielt; aber sehr fraglich schien es, ob der Nutzen der eigent-
lichen Spracherlernung der darauf verwandten Zeit entspreche und ob
nicht ein Ersatz durch gute Übersetzungen förderlicher sei, da es sich
doch vor allem um Gedankeninhalt handle. Noch mehr kam hinzu, was
den Philanthropinisten Ereunde und Einfluß verschaffte. Die Religion, zu
der möglichst früh erzogen werden sollte, sollte tätiger Glaube sein, nicht
aber Anerziehung von Empfindungen, die ein Kind noch nicht haben
könne, vor allem nicht Überbürdung mit gedankenlosem Bibellesen,
in. Die französisch-höfische Bildung, die Aufklärunf; (1600 — 179O). 141
Stumpfer Antlarht untl duinpforn Beten. Auch der I.ehrerbildunt;- nahmen
sich die l'hilanthropinisten an, indem sie die-se der Staatstursorge zuzu-
weisen suchten, die Theologen zu beseitigen und die Abhängigkeit von
der Kirche zu lösen sich bestrebten, damit das ganze Krziehungswesen
freier und natürlicher sich gestalte. Auch die köqjerliche Ausbildung
stand hoch im Werte; \or allem aber die Gerechtigkeit gegen die Kindes-
natur, die feinere Zucht und Förderung des Vertrauens zwischen Lehrern
und Schülern und der Gedanke, daß dieses Vertrauen durch edlen Sinn
gebunden werde, der tiefer wirke als aller erzieherische Verstand.
Doch der Philanthropinismus hatte auch seine Schattenseiten, die
seinen Erfolg beeinträchtigten. Es fehlte ihm das lebendige Verständnis
für die ideale Seite des klassischen Altertums fast gänzlich. Das Gemein-
nützige und Triviale wurde überschätzt, auch im Religionsunterrichte, in
welchem das Nüchterne und l'hantasielose überwog. Vielwisserei drang
vielfach ein und die Übertreibung des „natürlichen", spielenden Eernens
schadete. Es war denn doch ein pädagogischer Aberglaube, daß Bildung
dem Menschen zufliegen könne gleich den gebratenen Tauben des
.Schlaraffenlandes, während echte Weisheit im alten Bauerspruche liegt:
„Bitter für den Mund ist für das Herz gesund." Die Verkennung und
Vernachlässigung des Gedächtnisses rächte sich denn auch durch hohle
Köpfe, die man zu füllen sich bemühte, indem man den Ehrgeiz zum
Lernen anzufachen trachtete durch ein Übermaß von Geschenken und Be-
lohnungen.
Das volle Verständnis für die Wirkungen der philanthropinistischen
Bestrebungen würde fehlen, wenn wir Rousseaus Einfluß auf sie und auf die
Kultur jener Zeit nicht mit in Rechnung zögen. Der Philanthropinismus
kam doch erst recht zur Geltung in jenen Tagen, da Rousseaus Emil seinen
Siegeszug durch die gebildete Welt hielt und zur Abhängigkeit von diesem
Buche oder zu abweichender Stellung zwang. „Xatur und Freiheit" waren
die Losungsworte, die aus Rousseaus Munde in die bisher vielfach gefängnis-
artigen Schulstuben gerufen wurden, um das Verhältnis der Erziehung
zur Kindesnatur und Kinderwelt völlig umzugestalten. Aus pennalistischer
Unnatur sollte die Jugend zur Natur geführt werden, Künste und Wissen-
schaften sollten den ursprünglich guten Menschen nicht weiterhin zur
Unnatur verderben, sondern in Zukunft nur alle Einflüsse fem gehalten
werden, welche von schädlicher Wirkung auf das heranwachsentle Ge-
schlecht sein könnten; der natürlichen Entwicklung habe aller Lehrstoff
sich anzupa.ssen, nicht aber habe er unnatürlichen Zwang auszuüben. Was
kein Verstand der Verständigen sieht, das solle in Einfalt das kindliche
Gemüt zu üben lernen. .Schönklingende Worte, doch voller Widerspruch
und voller Mangel an historischem .Sinn! Aber sie wirkten, denn sie
rüttelten die Geister auf, griffen den .Schlendrian an und führten dazu,
erbarmung.slos die alten Schäden aufzudecken. Vor allem aber stellten
sie den Grundsatz fest, daß Erziehung die allgemeine Menschenbildung,
112 AuüLF Matthias: Das höhere Knabenscliuhvcsen.
nicht (ieli'hr.s;unki'il zum Ziele habe und (.laß man zu tleni Ende die
Kindesseele höher zu respektieren habe als alle tote Buchgelehrsamkeit,
die dieser Seele vSelig-keit gar leicht \'erderben könne. Rousseau und die
Philanlhropinisten haben nun zwar nicht in unmittelbaren Schulgründungen
ihre Erfolg'e gfehabt, aber mittelbar haben sie bedeutsam gewirkt, weil
sie die Erziehungsfragen volkstümlich gemacht haben und weil ihre Spuren
bis in die Schulstube und die Schulfragen der Gegenwart hinein zu ver-
folgen sind.
Friedricii iier Der Gcist der Aufklärung war aber nicht nur volkstümlich; er bestieg
1786) und sein mit Friedrich dem Großen den Königsthron. In besonderem Maße kam
von zediiu das dem Volksschulwesen durch Einführung der allgemeinen ISchulpflicht
(im Amt . ,.,.. ^ l-ii • • /-»•
1770—1788). zugute. Aber auch im höheren Schulwesen zeigte jener Geist seine
Wirkungen. Das bezeugt das Schreiben des großen Königs vom 5. vSep-
tember 1779 an seinen Minister Freiherm von Zedlitz. Die höheren Schu-
len, so hieß es hiet, hätten nicht die Aufgabe für bestimmte Berufsarten
abzurichten, sondern zu erziehen zu einer allen höheren Ständen gleich-
mäßig zukommenden allseitigen Geistes- und Charakterbildung und zu
festen sittlichen Grundsätzen; dabei sei die Individualität zu berücksichtigen
und, wie die französischen Jesuiten das so meisterhaft verständen, ein
jeder an den Platz zu stellen, der seinen Fähigkeiten und Berufsneigungen
entspreche. Besser angebahnt werden müsse das Verständnis für Literatur
und Wissenschaft; die Auswahl der Lektüre und des Lehrstoffes habe zu
geschehen nach dem Werte, die sie für die Gebildeten hätten; nicht Ge-
lehrsamkeit solle den Ausschlag geben, aber auch nicht der geschäftliche
Nutzwert. Latein sei zu betreiben; ebenso das Griechische. Xenophon,
Demosthenes, Tacitus, Livius, vor allem aber Cicero, desgleichen Horaz
und Virgil seien zu pflegen, und zwar auch als stilbildende Kräfte. Die
Muster richtiger Interpretation finde man bei den französischen Jesuiten,
der deutsche Gelehrte könne selten einen Schriftsteller ohne Schwierig-
keiten lesen. Neben den alten Sprachen sei das Französische mehr zur
Geltung zu bringen, auch Deutsch nach guter Grammatik zu treiben; vor
allem aber sei auf Rhetorik und Logik viel Gewicht zu legen. — Außer
solchen theoretischen Belehrungen gingen aber vom großen König auch
praktische Maßregeln aus. Schulreform im heutigen Sinne allerdings
konnte man damals nicht ins Werk setzen. Das ganze vSchulwesen war
nur locker gefügt und nicht in heutigen Formen organisiert. Neben den
Dorfschulen zog sich eine größere Anzahl von Lateinschulen über das
Land hin, etwa 80 fünf- und mehrklassige und ungefähr 300 kleinere drei-
klassige. Die Hälfte aller Stunden beanspruchte das Latein, daneben wurden
Religion und Gesang befriedigend gepflegt, leidlich waren Geschichte
und Geographie, kümmerlich Mathematik bedacht, ganz armselig" stand
es mit den Naturwissenschaften. Deutsch mußte sich begnügen mit den
Abfällen, die vom griechischen und lateinischen Tische fielen. Besser ge-
stellt waren die größeren Anstalten in den größeren Städten, die als Vor-
in. Die französisch-höfische BilJung, ilie Aufklärung (1600 — 1790). 1^^
schulen für Juristen und Theologen im besonderen Ansehen standen und
je nach Leitung und Zusammensetzung des Lehrerkollegiums bedeutsames
leisteten. In diese Verhältnisse griff Zedlitz nach dem Maße seiner amt-
lichen Zuständigkeit ein. Und diese war recht beschränkt. Gingen doch
die Rechte der Ptitronate so weit, daß das Breslauer Stadtkonsistorium
den Reformversucheii des Königs den Wid(;rspruch entgegensetzte, daß
„der Untertan der beste sei, der am meisten glaube, und der der schlech-
teste, welcher am meisten räsonniere", worauf dann der energische Be-
scheid erfolgte, daß diese Einwendung eine „auf Dummheit gegründete
Sicherheit" enthalte. Und ebenso energisch ging der Minister gegen den
unfähigen Abt Hähne in Klosterberge vor, über den der König das Ur-
teil gefällt hatte, er tauge nichts, weil „der Kerl ein übertriebener pieti-
stischcr Narr" sei. Anderswo gingen die Verbesserungen glatter von
statten. In Berlin wurden das Joachimsthalsche Gymnasium unter Meier-
otto, das I-riedrich-Werdersche Gymnasium unter Gedicke Musterschulcn.
Der Geist der Aufklärung zog in sie ein, denn selbständiges Denken trat
an die Stelle geistlosen Imitierens; der wissenschaftliche oder Sachunter-
richt rückte an die Stelle des öden Verbalismus im sprachlichen Betriebe;
die Realien wurden im weiteren Umfange als bisher zugelassen. Sodann
wurden die Lehrer besser gestellt. Der Professorentitel, der tüchtigen
Männern verliehen wurde, kennzeichnete die Absonderung von Kantoren
und Küstern. In Halle kam I-Viedrich August Wolf solchen Bestrebungen
zu Hilfe, indem er die Lehrerbildung von Theologenbildung schied und
kräftig in die Hand nahm. Am Friedrich-Werderschen Gymnasium wurde
ebenfalls im .Seminar die Lehrerbildung als eine eigene Kunst betrieben,
die gelernt sein will und nicht etwa nur als theologisches Beiwerk zu be-
trachten ist. Mit der Begründung des UberschulkoUegiums (1787) wurde das
Schulwesen ganz von der Kirche losgelöst und immediat unter den König
gestellt. Und weiterhin wurde, wenn auch nicht mehr von dem großen
Könige und seinem Minister, so doch im friderizianischen und zedlitzschen
Geiste 1788 mit der Einrichtung des Abiturientenexamens, das der Un-
wissenheit der Studierenden einen Damm entgegensetzen sollte, der erste
.Schritt zur Organisation eines einheitlichen Gymnasialunterrichts, tiber
auch zur Monopolisierung dieser Bildungsanstalten getan. Zweifelhaft war
man gewesen, ob man dieses Examen als Aufnahmeprüfung an die Uni-
versität oder als Abgangsprüfung an das Gymnasium legen sollte; man
entschied sich für das letztere. Doch blieb der Universität noch das
Recht, vom Gymnasium Reifgesprochene zu prüfen und auch solche zum
.Studium zuzulassen, die ohne Reifezeugnisse kamen. Nur das Recht
auf Stipendien und Benefizien war fortan gebunden an das Reifezeugnis
eines Gynmasiums. Unstreitig wurde mit dieser Einrichtung das ganze
Niveau, auf welchem Lehrer und Schüler sich bewegten, merklich ge-
hoben.
Im Zusannncnhang mit den friderizianischen Bestrebungen erscheint Realschulen."
j , ■ AimiK Matihias: Das hülieic Knabenschulwesen.
es angemessen, die Anfänge des Reidsclndwesens zu besjircclicn, weil sie
dem Geiste der Zeit nahestehen und weil sie ein l.ieblingsprojekt des
Ministers Zedlitz bildeten, wenn sie auch Nor den Augen Friedrichs insofern
keine Gnade fanden, als er ihrer umfassenden Ausdehnung im Schulwesen
nicht zustimmte. Den ersten Gedanken vom Werte der realistischen Lehr-
stoffe sind wir bei Ratichius und Comenius begegnet. In Franckes System
nahm die Realschule schon einen ganz bestimmten Platz ein für die-
jenigen Kinder, die sich praktischen Berufen widmen wollten, dazu aber
mehr bedurften als bloße Volksschulbildung. Zur Ausführung seiner Ge-
danken kam aber Francke nicht. Dagegen verwirklichte, den praktischen
Forderungen der Zeit entgegenkommend, sein Zeit- und Berufsgenossc,
der Pastor Semler, 1708 den Gedanken durch Begründung einer „mecha-
nischen und mathematischen Realschule", die aber mehr eine Handwerker-
schule als eine Stätte allgemeiner Bildung war. Ihr Glück hat diese
Schule nicht gemacht; sie ging bald wieder ein. Mehr Lebenskraft bewies
eine andere Schule, die von Hecker, einem Schüler Franckes, im Jahre 1747
zu Berlin als „ökonomisch mathematische Realschule" gegründet und bald
als königliche Realschule anerkannt wurde. Neben der eigentlichen Real-
abteilung in ihr lief eine deutsche und lateinische Abteilung (ohne Griechisch,
mit Französisch) her; zwischen den Abteilungen war ein gewisses Hin-
und Herüber freier Wahl gestattet. Im Grunde war die eigentliche Real-
schule ein Bündel von F'achgruppen, die wahlfähig waren. Es charakteri-
siert die Schule, daß bei Vakanzen von Küstern und Schulmeistern „die
Subjekte von denen Leuten, so bei der Real-Schule in Berlin zu der-
gleichen Bedienung angezogen und zugleich zum Seidenbau und zur
Kultur der Maulbeerbäume angeführt werden, preferablement vor anderen
genommen werden sollten und deshalb im vorkommenden Falle an den
qu. Hecker allhie geschrieben werden solle, um dergleichen vorzuschlagen".
Langdauemdes Leben hatte auch diese Schule nicht. Im Anfang des
ig. Jahrhunderts ging sie den Weg, den fast alle höheren lateinlosen
»Schulen zu den Zeiten des Gymnasialmonopols gingen, — sie nahm Latein
an und wurde ein Gymnasium nebst Realgymnasium. Eine reinere Auf-
fassung vom Wesen der Realschule, als Semler und Hecker, hatte der
Minister Zedlitz; das zeigte sein Verhältnis zu Resewitz, der in Kopen-
hagen eine Realschule mehr im heutigen Sinne begründet hatte mit der
Aufgabe, „die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Ver-
standes und zu gemeinnütziger Geschäftigkeit" zu übernehmen und dem-
gemäß in der Methode vor allem von der Erfahrung und der Anschauung
auszugehen und so vSinne und Verstand gesund und tüchtig zu gestalten.
Zedlitz berief Resewitz nach Preußen und wünschte solche Bürgerschulen
in allen Städten. Doch zwei Schwierigkeiten stellten sich in den Weg.
Resewitz war ein zu arger Theoretiker und Friedrich der Große bestand
, auf seinem Willen, daß „die jungen Leute absolut Lateinisch lernen müßten".
Selbst für eine Realschule mit Latein war er nicht zu haben, wenn er
IV. Der Neuhumanismus (1790 — 1840). I^c
auch seiner Ritterakademie in Berlin einen realen Lehrplan zubilligte,
damit seine jungen Leute für Krieg und Politik tauglich würden, ihre
Vernunft entwickelt und ihr Urteil gebildet würde. Latein, Französisch,
Religion und die praktischen Lehrfächer bis zum Staatsrecht hin sollten
hier gelehrt; die Antike sollte auch durch das Medium des Französischen
gelehrt werden, wo Latein nicht reichte. Dieser Lohrplan ähnelt bereits
dein Lohrplan der späteren Realgymnasien und trägt manchen Keim
modernster Kultur in sich.
Noch reicher an Zukunftskeimen und noch lehrreicher für die Kultur Die hohe
der Gegenwart war die hohe Karlsschule in Stuttgart. Ursprünglich für "^"'^uTtga« '"
Soldatenkinder gegründet, die einen praktischen Beruf vom Gärtner bis zumnäs?um"rwSeTt).
Ballettänzer hin ergreifen sollten, dann mit Französisch ausgestattet einer
modernen Realschule ähnlich, weiterhin als militärische Pflanzschule mit
kräftigerem Latein eine Art von Realgymnasium, erweiterte sich die An-
stalt unter der unruhigen Leitung des Herzogs Karl Fugen zu einem
gj'mnasialen Wesen, das durch den Finfluß der Tübinger Stiftler reich mit
philosophischem Unterricht getränkt wurde und schließlich sogar zu einer
Art von Universität auswuchs, indem für Kameralisten, Juristen und Medi-
ziner hier die genügende Ausbildung möglich wurde. Festen Bestand
hatte diese Schule nicht, weil der originelle Tyrann es nicht begreifen
konnte, daß historische Entwicklungen und gebildete Menschen nicht so
seinem Willen sich fügten wie seine Kammerdiener, und weil er zu hastig,
ähnlich wie Josef IL, den zweiten und dritten Schritt nicht selten vor dem
ersten zu tun versuchte. Wenn nun auch diese Schule keine nachhaltige
Wirkung hatte, — den Beweis hat sie an Jünglingen wie Schiller er-
bracht, daß Philosophie in der Schule zu pflegen wohl möglich ist.
Derselbe Geist der Aufklärung, der den großen König und den
tyrannischen Herzog erfüllte, hielt auch in Österreich und Bayern seinen
Einzug; Württemberg verharrte — abgesehen von der Karlsschule —
auf dem althumanistischen Schulbetrieb des 16. Jahrhunderts.
IV. Der Neuhumanismus (1790 — 1840). Der Geist der Aufklärung Der Neu-
hatte neues Leben und Bewegung in die Schulen gebracht und das Alt- """GesneT''
hergebrachte erschüttert. Aber im ganzen und großen verharrte in den '"^ErleVt?""
Schulen, in denen das Phlegma geblieben, aber der Spiritus schon längst '"'h^IiI''''
dahin war, der alte freudlose Geist; erst der Xeuhumanismus, das klassische "'"«"'*"'•
Zeitalter unserer Dichtung und vor allem Männer wie Herder und Fried-
rich Aug. Wolf mußten tiefer eingreifen in das Wesen und den Unter-
richtsbetrieb, um Wandel zu schaffen.
Der Xeuhumanismus, der schon vor den Philanthropinisten seine ersten
Regtingen zeigte, setzte tiefer und nachhaltiger ein, als der Geist der Auf-
klärung fast seinen Zug durch die Schulen beendet hatte.
Gesner, den Rektor der Leipziger Thomasschule und späteren Professor
in Göttingen (1737), darf man als den Vater des Xeuhumanismus bezeich-
Du Kultur dir Gbcbnwart. I. i. in
146
Adoi.k Matthias: Das höhere Knabenschulwesen.
ncn; er ging vielfach auf Ratkc uiul C'Dinciiius zurück, inai'htf l'roiit j^eq'en
den Gelehrsamkeitsdünkel der Gymnasien, gegen die allgemeine Forderung
des Latein und gegen den ekelerweckcndcn Betrieb des Lateinischen,
dessen Ergebnisse Ungeschicklichkeit, Dunmiheit und Unvernunft seien.
Gegenüber dem schulfuchsigen und pedantischen Betrieb des Lateinischen
ging er zum anderen Extrem über, indem er ohne Grammatik durch Rou-
tine diese Sprache übermitteln wollte. Auch schob er diesen wie den
Unterricht im Französischen, Geschichte und Geographie für das Alter
vom 7. — 13. Jahre dem Privatunterricht zu; Griechisch engte er auf be-
stimmte Berufsarten ein. Vor allem aber sprach er den Grundsatz aus,
daß in allen Lektionen philosophiert werden müsse, daß die Schriftsteller
dazu da seien, Urteil und Geschmack und nicht nur grammatische Regeln
zu bilden, daß der historische Zusammenhang der Kultur sich aus dem
Unterricht ergebe und das Griechische als die Quelle anzusehen sei, aus
welcher der alten Römer Weisheit fließe. Sodann brachte er die Realien
sowie das Deutsche und Französische zu größerer Wertschätzung. Alles das
bewegte sich nicht lediglich in theoretischen Erörterungen: Gesner sorgte
auch für die Ausbildung der Kandidaten im neuhumanistischen Geiste,
stellte eine Schulordnung für Hannover auf und sorgte durch eifrige
Visitationen dafür, daß alles in Wirklichkeit sich umsetze. Nach Gesner
wirkte an der Leipziger Thomasschule der Rektor Ernesti, der ebenfalls
eine Schulordnung im neuhumanistischen Geiste schuf, den Gedanken, die
alten Sprachen mehr als Mittel zu allgemeiner Bildung denn als Selbst-
zweck zu betreiben, zu kräftigerer Geltung brachte und dem Unterricht
im Deutschen, auch in deutscher Literatur, seine Stellung gab. Daß er
aus den antiken Schriftstellern allerlei nötige und nützliche Sachen, die
von Gegenwartsnutzwert seien, zu schöpfen suchte, zeigte seine Wert-
schätzung der Realien, aber auch noch das Hängen an alten Vorurteilen.
Gesners Nachfolger in Göttingen, Chr. Gottlob Heyne, erweckte Freude an
antiken Studien besonders dadurch, daß er Verständnis und Begeisterung
wachrief für die antike Dichtkunst und der jungen Generation, zu der
Wilhelm von Humboldt, die Gebrüder Schlegel und Voß zählten, Ge-
schmack am Griechischen beibrachte.
Das klassische An der reichen Anregung", welche die Blüte klassischer Dichtung der
Zeitalter der -, . . ., 1 t <> 1 t ■ r -i 1 t t» 1 j
Dichtung, ganzen Zeit mitteilte, nahm auch die Schule insotern teil, als die Behand-
lung der Schriftsteller frischeres Leben und besseres Verständnis annahm.
W^enn Hagedorn in gefälligen Gedichten horazische Lebensweisheit und
anakreontischen Lebensgenuß verkündigte, Klopstock die Verschmelzung
des antiken mit dem modernen Geiste in seinem Messias und seinen in
horazischen Metren sich bewegenden Oden versuchte, wenn Winckelmann
mit schönheitstrunkenem Auge das Wesen der antiken Kunst zu erfassen
suchte und Lessing das wahre Wesen der antiken Poesie ergründete,
Homer, Sophokles und Virgil in neue frische Beleuchtung rückte und die
aristotelische Poetik seinen Zeitgenossen naheführte und Herder den Be-
IV. Der Neuhumanismus (1790 — 1840). ij^-j
griff der Humanität in Anlehnung an die Antike vertiefte und verklärte,
so mußte etwas von diesem neuen Geist einer alten herrlichen Zeit auch
in die Behandlung" der antiken Schriftsteller der Schule übergehen. Und
als nun Goethe und Schiller in Wort und Wesen die Antike mit ihren
klassischen Bildungsidealen verjüngten und deutschen und hellenischen
Geist in ihrer Dichtung vermählten, da konnte auch die Schule nicht
mehr im alten Schlendrian dahingehen, wenn sie den Zeitgenossen nicht
ein Stein des Anstoßes werden wollte.
Unter den Großen aus der Zeit unserer klassischen Dichtung steht Herder
(1744 — 1803).
aber als Pfadfinder neuer Ziele und neuer Ideale für die Schule am be-
achtenswertesten Herder da, dem wir viel schulden und der immer mehr
an Bedeutung gewinnen wird, je mehr der Geist, unter dem sich die
preußische Schulreform von 1890 und 1900 vollzogen hat, Gemeingut der
Gebildeten in Deutschland wird.
Herder hatte zu feinhörig den Stimmen vieler Völker in ihren Lie-
dern gelauscht, er war zu tiefgründig den Ideen zur Philosophie der Ge-
schichte der Menschheit gefolgt und er hatte den Begriff der Humanität
zu klar erfaßt, um noch in irgend eme der Fesseln, die der alten Schule
anhingen, sich schlagen zu lassen. Deshalb ist er frei von Vorurteilen und
reich an Empfänglichkeit für die Bedürfnisse seiner Zeit. Keine Schule
ist gut, wo man nichts als Latein lehrt. Realschulen müssen unabhängig
vom Latein die Grundlage bilden, wo man für die Menschheit und das
ganze Leben tüchtig lernt. Mit der Muttersprache ist anzufangen, dann
das Lateinische zu treiben, schließlich das Griechische, das wertvoller ist
als das Lateinische. Bis Tertia soll die Schule eine Realschule sein, um
nützliche Kenntnisse und Wissenschaften in Anlehnung an Anschauung
und Erfahrung zu vermitteln. Dann mag sich das Gymnasium anschließen
in zweckmäßiger Ordnung und Proportion. Das ist in kurzem Herders
praktischer Plan. Seine theoretischen Erörterungen sind noch tiefgründiger
und erweitern den Horizont so großartig, daß das Auge sich erst schärfen
muß, um alles zu schauen, was Herder als Ideal erblickte. In den Huma-
niora — so faßt er den Begriff der Humanität — ist alles eingeschlossen,
„was den Menschen zum Menschen macht, was die Gabe der Sprache,
der Vernunft, der Geselligkeit, der Teilnehmung an anderen, der Wirkung
auf andere zum Nutzen der gesamten Menschheit, kurz alles, was uns
über das Tier erhebt und die sein lehrt, die wir sein sollen, ausbildet und
befördert". Als Prophet des gebildeten Menschenverstandes, den die
.Schule der Zukunft an Stelle des von der Vergangenheit gepflegten
gelehrten Menschenverstandes rückt, spricht er den Girundsatz aus, „daß
man sich selbst in allen seinen Anlagen, l'ähigkeiten, in Seelen- und Leibes-
kräften zu dem Bilde, was Leben heißt, an sich, soweit es die Gelegenheit,
Zeit, Umstände verstatten, nichts roh, nichts ungebildet lasse, sondern dahin
arbeite, daß man ein ganz gesunder Mensch fürs Leben und für eine uns
angemessene Wirksamkeit im Leben werde". Durch diese Forderung be-
I lg Adoi.k Matthias; Das höhere Knabensdnilwesen.
konimt ein jeder seine besondere Lektion zu hören, luvt jeder sich selbst
in rirhtiger Proportion zu bilden und seine besondere Eigenart zu bilden.
Tat das die Schule, die zu Herders Zeiten blühte? Sehen wir, wie der
hervorragendste Schulniaini jener Tage — Fr. Aug. Wolf — , der Herders
Geiste verwandt war, das Ideal zu verwirklichen suchte.
Fr. Aug. Wolf Fr. Aug. Wolf hatte sich, als er sein Studium begann, als Studiosus
Die Emanzip'a- der Philologie eintragen lassen; er war also der erste seines Faches; denn
tion der Lehrer ^ ,^, . , . ^
von theo- vorher pflegte man Theologiestudierender zu seui, wenn man der Schule
AbhänBigkeit. sich wldmeu wollte. Nunmehr sollte — das war Wolfens Meinung —
die Philologie einen Wert für sich haben, indem sie in streng wissen-
schaftlichen Bahnen die Beförderung rein menschlicher Bildung und Er-
höhung aller Geistes- und Gemütskräfte zu schöner Harmonie des inneren
und äußeren Menschen sich zum Ziele setzte. Der Philologe sollte frei
von aller Maßlosigkeit, Engherzigkeit und Verstiegenheit seinem eigent-
lichen Berufe leben imd nicht in einer Summe von Kenntnissen knechtisch
untergehen, sondern mit eigener Einsicht und wissenschaftlichem Geist
Herr seines Wissens bleiben. Um gut unterrichten zu können, müsse er
zunächst selber etwas Rechtes gelernt haben; deshalb müsse zuvörderst
das Hochschulleben für sich wirken und nicht zu früh allzusehr mit der
Praxis des schulmännischen Wirkens verquickt werden. Zu dem Wissen
müsse die Kraft des Denkens sich gesellen und die Kunst auch andere
zum Selbstdenken zu erziehen; ferner solle der Lehrer erfüllt sein von
Liebe zu seinem Studium und zu den Jünglingen, die ihm anvertraut
sind, er müsse dabei nach moralischer Vollkommenheit streben, frei von
Launen und jeder Zeit bereitwillig sein, seinem Amte zu dienen, und
schließlich auf Achtung und Dankbarkeit der Menschen keinen Anspruch
erheben und dem Beifall der Leute nicht nachlaufen.
Um zu solchen Eigenschaften zu erziehen, verlangte Wolf völlig von
der Theologie getrennte Vorbildung für das Lehramt und stellte er den
Lehrerberuf als selbständige Lebensaufgabe hin. Diesen Zielen gemäß
verfuhr er in seinem Hallenser Seminar.
Für das Gymnasium erhob er im Lehrplan maßvollere Forderungen,
als sie bisher üblich waren. Deutsch und Latein (denn jenes ist an diesem
zu erlernen) 4 Wochenstunden, Latein 7 Stunden, Griechisch 5, Französisch 2,
Hebräisch oder Englisch 2, Völkergeschichte 3, Geographie 2, allgemeine
Literaturgeschichte i und Mathematik 3 Stunden — das etwa waren seine
Forderungen. Dazu sollten in jedem Vierteljahr einige Supplementstunden
in Religion, Philosophie und Physik treten. Die beste Art das Sprach-
studium zu beginnen sei mit dem Lateinischen anzufangen, vielleicht auch
mit dem Griechischen, jedenfalls nicht mit dem Französischen. Für Lek-
türe und Sprechfertigkeit stellte der selbst so tüchtige Mann die maß-
vollsten Forderungen; für weitere Ansprüche solle in den Oberklassen
eine Art von Selekta eingerichtet werden. So galt ihm das Gymnasium
noch immer als eine Vorschule der gelehrten Berufe, und weil dem so
IV. Der Neuhumanismus (1790 — 1840).
149
war, wünschte er energisch eine Vermehrung von Volks- und Bürger-
schulen.
Wie entsprachen nun die Einrichtungen der Zeit den Forderungen, die
wir bei Herder und Wolf aufgestellt finden? Das unter dem Einfluß der
großen Steinschen Reformen zum führenden Staate gewordene Preußen
fand in Humboldt einen geeigneten Mann, große Ideen in Wirklichkeit um-
zusetzen. Er sah in der Bildung am Altertum das vorzüglichste Mittel
vollendeter Menschenbildung und in dem antiken Bildungsideal Goethes
und Schillers das Bildungsideal auch für das deutsche Volk, das aber (so
war seine ursprüngliche Anschauung) zu verwirklichen außerhalb der
Wirksamkeit des Staates liege und Sache des Individuums und der Fa-
milie sei. So war er zum Reformer auf dem Gebiete des staatlichen
Schulwesens eigentlich der ungeeignetste Mann. Und doch wurde er, als
im Ministerium des Innern die dritte Sektion für die geistlichen und
Unterrichtsangelegenheiten, die wieder unerquicklich verquickt wurden,
gegründet wurde, zum Leiter dieser Abteilung berufen. Damit hielt der
Neuhumanismus und das antike Bildungsideal seinen Einzug in die höheren
Schulen und zeigte sich in manchen Entwürfen der nächsten Zeit. Zu-
nächst wußte unter Humboldts Anregung der Referent für das Unterrichts-
wesen, Süvem, Wolfsche Ideen in Wirklichkeit umzusetzen, indem durch
Edikt vom 12. Juli 1810 die Lehrerprüfung eingeführt und damit der An-
stellung \"on untauglichen Subjekten entgegengewirkt wurde. Jeder Schul-
amtskandidat hatte nunmehr bei den wissenschaftlichen Deputationen eine
Prüfung abzulegen. Mitglieder dieser Deputationen waren vorzügliche
Männer aus allen Fächern, welche auf den öffentlichen Unterricht Einfluß
hatten, die als wissenschaftlicher Beirat die Verwaltungstätigkeit der
Unterrichtssektion mit dem Geistesleben der Nation in dauernder Ver-
bindung halten, Vorschläge zur Besetzung der Lehrerstellen machen und
die Prüfung der Kandidaten übernehmen sollten. So wurde denn nach
Wolfs Ideale der Lehrerstand eine pädagogische Genossenschaft; der ein-
zelne, der bisher als verunglückter Theologe meist ein unstandesgemäßes
Dasein geführt hatte, wurde nun aus seiner Vereinsamung befreit und unter
den kräftigen Einfluß und Enthusiasmus einer staatlichen Gemeinsamkeit
gestellt. Da auch die Lehrer städtischer Anstalten einbezogen wurden in
diesen Kreis, waren die Patronate genötigt, dafür zu sorgen, daß die staat-
licherseits getroffenen Anordnungen auch zweckmäßigen Eingang hielten in
die lokalen Stadtverhältnisse, um diese auf der Höhe zeitgemäßer Bildung
zu halten. Eine neue tiefwirkende Maßregel brachte das Jahr 181 2 in der
Instruktion für die Entlassungsprüfungen. Diese wurden nunmehr für alle zur
Universität abgehenden Jünglinge allgemein gemacht. Nur die Xichtschüler
konnten auch an Universitätskommissionen ihr Reifezeugnis bekommen.
Die klassischen Sprachen standen unter den Zielforderungen im Vorder-
grund; Deutsch und Mathematik rückten nahe an jene Unterrichtsfächer
heran. Dispensationen vom Griechischen waren fortan ausgeschlossen.
Die höhere
Schule in den
ersten 30 Jahren
des iq. Jahr-
hunderts,
W. V. Humboldt
(1767-18J5).
Süvern
(■775— 1829)-
Johannes
Schulze
(im Amt
1818— 1858).
j CQ Adoi.k Mai"[11IA.s: Das hölinc Knabcnsrliuhvosrii.
Der Instruktion tolgte im Jahre 1816 ein i.chrplan, (h'r nicht hiiuiend
sein und den Unterricht in gleiche Kint'(')rniit;keit wie eine Maschine
bringen, sondern nur ein Muster bilden sollte für die Grundlinien der
Lehrverfassung. Tn diesem Plane (50 Stunden Griechisch, 76 Lateinisch,
44 Deutsch und 60 Mathematik) weht einerseits der Geist des Neuhuma-
nismus — bis zu Äschylos und Pindar stieg er hinauf — und der mann-
hafte Geist der Befreiungskriege; denn Anforderungen, wie sie hier ge-
stellt wurden, konnte nur eine Generation stellen, die im Kampfe eisenfest
geworden war und von der Jugend Kräftiges verlangte, weil sie selbst
in Kraftentwicklung sich groß erwiesen hatte. Andrerseits aber liegt in
diesem klassischen Idealismus eine Art von Weltflucht, die in der Welt
der Ideale das Große zu finden sich sehnte, was eine rückschlägige kleine
Zeit zu bieten nicht vermochte.
Ein Jahr nach diesem Lehrplane wurde das Departement für Kultus
und öffentlichen Unterricht vom Ministerium des Innern losgelöst und ein
selbständiges Kultusministeriimi errichtet. Minister von Altenstein war
der erste Kultusminister, sein Hauptratgeber Johannes Schulze. Anfäng-
lich blieb alles beim Alten; allmählich aber rückte der Geist der Zeit
mehr und mehr an die Stelle des alten Geistes; daß es nicht zu viel ge-
schah, darf man dem zähen Widerstände der beiden Männer danken;
wäre dieser nicht gewesen, es wäre vielleicht noch mehr als das Turnen
unter polizeiliche Aufsicht geraten. Nach zwei Dezennien seines Wirkens
(1834) brachte das neue Ministerium ein neues Abiturientenreglement für
die Gymnasien. Der Zutritt zum akademischen Studium wurde nunmehr
nur mit dem Reifezeugnis der Schule gestattet; Nichtschüler hatten also
hier ihr Zeugnis sich zu holen. Unter den Zielforderungen trat das Grie-
chische mehr zurück; Übersetzung der Tragiker und griechisches Skriptum
fielen fort; auch im Lateinischen wurden geringere Ansprüche erhoben;
im Deutschen erschien neu die vaterländische Literatur, außerdem —
Hegels Einfluß zeigte sich — die philosophische Propädeutik und die
griechische, römische und vaterländische Geschichte, Auch die Prüfungs-
ordnung für Lehrer war einige Jahre zuvor (1831) im Geiste der Zeit
erneuert, indem man in allen Fächern eine Prüfung verlangte, in einer
Gruppe aber besondere Lehrbefähigung forderte und einen Ausgleich
suchte zwischen Klassenlehrer- und Fachlehrersystem. Der Normallehr-
plan vom Jahre 1837 krönte dann gleichsam das Gebäude. Die Klassen-
zahl wurde von 10 auf q herabgesetzt, die Gesamtstundenzahl von 320
auf 270. Griechisch verlor 8 Stunden (Bestand 42) und trat damit wesent-
lich hinter das Lateinische zurück, das 10 Stunden Zuwachs erhielt (Be-
stand 86). Das lag mehr im Geiste des Alt-, als des Neuhumanismus.
Auch das Deutsche ging um 22 Stunden (22 behielt es statt 44) zurück,
ein schmerzlicher Schnitt, der aber das Erstaunliche verliert, wenn man
bedenkt, daß nunmehr im Lateinischen und Griechischen das Deutsche
Unterrichtssprache wurde. Auch die Mathematik hatte 27 Stunden abzu-
V. IJcr Kampf humanislischor und realer Bildung um Glcichberechtigunj; (1840 — 1890). jcj
g-eben (Bestand 33). Diese Verminderung auf fast allen Gebieten war
auch eine Foljre der Überbürdungsklaijen, die der Arzt Lorinser in einer
Broschüre zusammenfaßte, mit gfutem Rechte; denn die Ansprüche einer
zum Teil recht geistlosen Pädagogarchie überschritten das Maß, und
eine so arbeitskräftige Jugend, wie die aus dem Geiste der Befreiungs-
kriege erwachsene, stand nicht mehr zur Verfügung.
Wie in Preußen hatte man auch in Bayern neue Wege eingeschlagen, "i* ^""^f«"
J 000 deutschen
Mit der Berufung Niethammers (1808) zum Zentralschulrat war man mit Staaten.
einer Reform im neuhunianistischen Geiste hier sogar zuvorgekommen.
Latein und Griechisch im Hunde mit einem vierjährigen philosophischen
Kursus wurden herrschend eingesetzt in den vier oberen Klassen; die vier
Unterklassen hatten die Elemente zu lernen. Damit war eine Aufgabe
gesetzt, der die vorhandenen Lehrer nicht zu entsprechen wußten. Auch
das Geld fehlte; so mußte man 1816 zurückschrauben. 1829 stellte dann
Thiersch, der bereits im Jahre 1812 dem Mangel an tüchtigen Lehrern
durch Begründung eines Seminars abzuhelfen suchte, einen neuen Lehr-
plan im neuhumanistischen Geiste auf, mit sechsklassigem Unter- und vier-
klassigem Oberbau, in welchem drei Klassen vom philosophischen Unter-
richt entlastet wurden. An die Realien machte dieser Lehrplan keine
Zugeständnisse; nur die Mathematik fand einige Gnade. In Sachsen und
Württemberg gab man dem Neuhumanismus keinen Raum; dort überwog
nach wie vor die sprachliche .Seite, sowie Verstandeskühle und Nüchtern-
heit, erst 1846 verstand man sich zu Konzessionen im Geiste der Zeit.
In Württemberg hing man noch mehr als in Sachsen am Alten, Latein
mit virtuoser Übersetzungskunst stand im Vordergrund und Versemachen
galt als hoher Ruhm. Mehr als Sachsen und Württemberg beschritten
Hannover und Baden neue Bahnen, ähnlich wie in Preußen und Bayern.
Im ganzen und großen war aber in den dreißiger Jahren der Abstand
zwischen den höheren Schulen, d. h. den herrschenden Gymnasien, und der
Volks- und Bürgerbildung groß. Der Lehrstand und Nährstand waren
sich fremder geworden als im Beginn des Jahrhunderts; das war ein
Gegensatz, der nicht von Dauer bleiben konnte, wenn das Volk, das nach
einer größeren politischen Bedeutung sich sehnte und der Einheitlichkeit
zustrebte, auch wirtschaftlich im Wettkampfe der Nationen bestehen
wollte. Ein solches Volk muß, unbeschadet seiner Ideale, auch reale Bil-
dung bei sich pflegen, um auch auf sie gestützt den Forderungen der
Zeit gerecht zu werden.
V. Der Kampf humanistischer und realer Bildung um,,.^"*?"'""^';'
r o l-iiirj;crtuni in den
Gleichberechtigung (1840—1890). Die reale Bildung, die zur^'^^'f«^; J^^;*"
Zeit der Aufklärung und des Philanthropinismus einen kräftigen Vor- sei'n"e''sSiung'lu
stoß gemacht hatte , war als selbständiger Faktor mehr und mehr ^JX^unduTg
zurückgetreten, als der Neuhumanismus mit gewissen Konzessionen an
die Realien seinen Einzug hielt ins deutsche Gymnasium. Der schlichte
JC2 Adoif Matthias: Das höhere Knabenschuhvescn.
Bürgersmann blickte mit einer gewissen Bewunderung' auf seinen Sohn,
der ins humanistische Gymnasium ging, und freute sich zu sehen,
daß sein Sprößling unter der Beschäftigung mit lateinischen und grie-
chischen Schriftstellern Schärfe und Präzision im Denken und Sprechen
erhielt und daß die naturwüchsige Logik der alten Sprachen das Ver-
ständnis weckte für geistige Strömungen höherer Art und durch die Masse
fremdartigen Stoffes das Gedächtnis sichtbar kräftigte. Auch der Inhalt
belebte, wo geistvolle Lehrer anregend wirkten; man nahm hier freudig
teil an der großen geistigen Habe des klassischen Altertums, war stolz
selbstsuchend und selbstfindend bis zu den Quellen hinabsteigen zu dürfen,
in gewissem Umfange Vertrauter des forschenden Gelehrten zu sein und
aus jenen altehrwürdigen Quellen auch Verständnis für die Gegenwart zu
schöpfen. Dieser Segen der gelehrten Bildung war im gewissen Sinne
ein Vorzug des deutschen Mittelstandes, dessen kaum ein anderes Volk
sich in diesem Maße erfreute. Aber er wurde vielfach auch zum Unsegen.
Im Grunde glich doch der deutsche Bürger jener Tage dem kananäischen
Weibe, das von den Brosamen sich nährte, welche von des reichen Mannes
Tische fielen, Mannes- und Schaffenskraft wurde nicht so gepflegt, wie
es unter dem Einfluß großer praktischer Fragen sich entwickelt. Fast
alle Helden der Dichtung jener Tage leiden unter dem akademischen
Mangel an Tatkraft; dasselbe Geschlecht, das mit bewundernswerter Kühn-
heit und Freiheit den geheimen Gesetzen seines geistigen Lebens nach-
ging, war unsicher, unempfänglich und wenig zielbewußt den Anforderungen
der Wirklichkeit gegenüber. Den großen politischen Erfolgen der Jahre
1813 und 1815 hätte doch eine große Zeit voll reicher politischer Ergeb-
nisse für das innere und für das wirtschaftliche Leben unseres Volkes
folgen sollen. Aber es kam eine Zeit voll idealistischer Schwäche, in
welcher große Gefühle zu haben, herrliche Träume zu träumen und große
Worte zu machen als Heldentaten aufgenommen wurden. Man muß doch
sagen, das gymnasiale Bildungsmonopol jener Tage hat auch seine Ge-
fahren gehabt, und mitschuldig ist es zweifellos, daß das wirtschaftliche
Leben eines Volkes, das sich soeben noch waffengewaltig und kräftig ge-
zeigt hatte, dem Leben anderer Völker gegenüber einen Aschenbrödel-
charakter trug.
Es kam noch etwas anderes hinzu. Die Gymnasialbildung war
durchaus aristokratisch ; ihr fehlte die Berührung mit der Volks-
bildung und das Verständnis für die Zusammengehörigkeit der Schulen
und des Unterrichts von unten nach oben. Scholae, non vitae discimus;
für die Schule, nicht für das Leben haben wir zu schaffen, war hier viel-
fach Grundsatz. Was sie trieben, galt in der Welt draußen nicht mehr;
und was draußen galt, trieben sie kaum noch. So verlor das Gymnasium
an Ansehen bei denen, die den sozialen Fragen der Gegenwart ver-
ständnisvoller gegenüber standen und etw-as von dem starken sozialistischen
Geiste verspürten, der die Pestalozzischen Ideen erfüllte. Hier wurde zum
V. Der Kampf humanistischer und realer Kiltlunt; um fileichbcrechtigung (1840 — 1890). 155
Besten einer von innen heraus und von unten herauf sich j^estaltenden
Volkserziehung angestrebt, die Mittel der Erziehung in psychologisch ge-
ordnete Reihenfolge zu bringen nach dem Grade der jeweilig entwickelten
Kraft. In dieses System paßte der neunjährige Lateinschüler nicht hinein
und auch nicht das vielfach am Gymnasium noch herrschende Buchstaben-
wesen, das Reden ohne Anschauung, das „Maulbrauchen und Zungen-
dreschen". Dagegen stand die Anschauungskraft im \^ordergrund, die
Empfindung, das Selbsterlebte und der Grundsatz: „Wenig, dieses Wenige
aber gründlich." Multum, non multa!
Gleichwohl lagen in den verhältnismäßig ruhigen Jahren vor 1830 die
Gegensätze gymnasialer und realer Bildung noch nebeneinander, ohne daß
erhebliche Zusammenstöße erfolgten. Doch schon deuteten die Zeichen der
Zeit darauf hin, daß ein Wandel auf vielen Gebieten des Lebens nahe
bevorstand, der auch das Leben der Schule berühren mußte.
Vor allem rief die Julirevolution wieder in weiteren Kreisen realere Der realere Zuk
der Zeit in den
Interessen wach; Mitarbeit am Staate und Rechte im Staat wurden zu prakti- «ireißigerjahren.
sehen Bedürfnissen des einzelnen Bürgers. Das Aufblühen der Naturwissen-
schaften und der Technik, die fleißigere .\rbeit in Werkstatt und Kontor,
für die der Zollverein die Schranken beseitigte, die Schienenwege und
Dampfschiffe, die dem Verkehre größere Freiheit schufen, brachten Leben,
Bewegung und Wandel in das Volk der Denker und Dichter. Die freie
reale Intelligenz unabhängiger mitten im wirklichen Leben stehender
Männer trat neben gj'mnasiale Beamtenklugheit und Gelehrtenweisheit als
beachtenswerte geistige Macht, und andere Formen der Bildung eroberten
sich Gleichberechtigung in der öffentlichen Meinung neben den alten Formen
wissenschaftlicher und gelehrter Tradition. Eine umfangreiche Literatur,
auch unserer großen Nachbarn, die Einsicht und Wohlstand des arbeiten-
den Volkes zu heben sich bemühte, drang in weitere Schichten und ver-
breitete dem weltfremden Idealismus gegenüber den Sinn für einen ge-
sunden und edlen Egoismus und für eine praktische Humanität, die dem
alten Geiste ebenbürtig zu werden trachtete. Und auch auf den Uni-
versitäten regte sich neues Leben: der Aufschwung der Staatswissenschaften,
der Nationalökonomie, der Germanistik, der historischen Forschung und der
Naturwissenschaften riefen Geister wach, die gebieterisch Einlaß forderten
im Leben der Schule. Die alte Schule konnte aber diese neuen Geister
nicht alle beherbergen, wenn sie nicht Überbürdung herv'orrufen wollte,
über welche gerade in den dreißiger Jahren aus ärztlichen Kreisen wirkungs-
volle Klagen laut wurden. Hier mußten die Realschulen helfend und
entlastend einspringen. Wie stand es mit diesen?
Um das Ende des i8. Jahrhunderts hatte man die beiden Richtungen Kräftigeres
Vordringen der
des Realismus und des Neuhumanismus für lebensberechtigt anerkannt, "-caien Biidungs-
. anstalten in den
Resewitz und Gedike konnten friedlich nebeneinander wirken. Im Be- tircißinerjahren.
I>as Berech-
ginne des neunzehnten Jahrhunderts dachte man anders. Am schärfsten ti^-ungswesen
. _, hindert freie
fand die damalige Geistesrichtung Ausdruck, wenn Niethammer den icntfaitung.
j e^ Adoi.k Mat'I'IUAs: llas IuiIhtc Knalinischiilwesen.
l'lulanthroiiinisimis, der stark realistisch war, als „Aiiinialisinus" rharaktp-
risierte und dem Realismus Haß gegen alle Ideale zutraute. Trotzdem
konnte man es nicht hindern, daß die Miithematik, Naturwissenschaften,
selbst Singen und Zeichnen in die Gymnasien eindrangen, wenn auch
mehr als notwendige Übel denn als gleichgeachtete ArbeitsstofFe. Wei-
teres {''.indringen realen Stoifes hinderten die Reifeprüfungsreglements.
So nuißten denn für den Bürgerstaiul andere Schulen geschaffen werden,
da das Aufblühen des Handels im Beginne des Jahrhunderts sie verlangte.
Den ersten Versuch machte in Bayern derselbe Niethammer, der das
harte Wort vom Animalismus gesprochen, im Jahre 1808 mit einem Real-
institut, in welchem man die Aufgaben der Gegenwart lehren und die
Geisteskräfte durch naturwissenschaftliche und mathematische Studien
üben wollte. Doch bestand diese Schule im wesentlichen auf dem Pa-
pier; nur in Nürnberg machte man mit ihr einen Versuch. — In Preußen
hatte die Heckersche Realschule keinen langen Bestand gehabt. Süverns
gesunde Ideen blieben Entwurf. Die Unterrichtsverwaltung zeigte nur
wenig tätige Anteilnahme, sie überließ es den einzelnen Städten, Real-
schulen zu errichten, die denn auch reich an Unterschieden hier und da
erstanden. Ein großes Verdienst um diese Schulart erwarb sich Spilleke,
der im Jahre 182 1 die Leitung des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums und
der mit ihm verbundenen (Heckerschen) Realschule übernahm. Ihm kommt
das Verdienst zu, der Idee der Realschule als allgemeiner Bildungsanstalt
für das nächste Menschenalter und darüber hinaus bleibende feste Gestal-
tung gegeben zu haben. Französisch und Englisch bildeten den fremd-
sprachlichen Mittelpunkt; für seine Person hatte Spilleke keinen Grund,
weshalb das Lateinische auch eine Stelle haben müsse. Durch Zugeständ-
nisse an bureaukratische Mächte und an Vorurteile der Zeitgenossen
ließ er sich aber dazu drängen, daß er das Lateinische, das anfangs
nur fakultative Zugabe gewesen war, als pflichtiges Hauptfach aufnahm.
Im Jahre 1832 nahm nun auch die Unterrichtsverwaltung, gedrängt durch
das Berechtigungswesen, Stellung zu den Realschulen; sie erließ eine
„vorläufige Instruktion", die im wesentlichen die Verfassung wiedergab,
welche die Spillekesche Realschule zeigte. Das Lateinische war Pflicht-
fach. Denn wer auf den Eintritt in den Staatsdienst Anspruch mache,
müsse einen gewissen Grad von Kenntnissen im Lateinischen haben.
Auch das Militär verlangte für die Einjährigenberechtigung diesen ge-
wissen Grad. So vollzog sich denn unter dem Drucke der Beamten- und
Militärhierarchie die Umwandlung der reinen lateinischen Realschule zu
der Mischart des Realgymnasiums. Wenn man die verstandesbildende
Kraft des Lateinischen als Grund für diese Umwandlung angab, so be-
dachte man nicht, daß die oberflächliche Art, wie das Lateinische als
Flickfach an vielen Schulen getrieben werden mußte, der Würde des
Lehrgegenstandes nicht entsprach und didaktischen Wert nicht besaß,
vielmehr ein zerstreuendes und zersplitterndes Element bedeutete, das die
V. Di'r Kampf humanistischer und realer MildunK um Gleichberechtigung (1840 1890). lee
lüiihoitlichkeit und Eigenart dicsor Schulen schädicte und dazu heitrußf,
ihr Wesen immer wieder nach der gymnasialen Richtung hinzudrängen,
wobei Standesvorurteile und eingewurzelte Tradition das Ihrige taten, um
den Schaden voll zu machen. Deshalb kam in Preußen die reine Real-
schule nicht recht zur Geltung, während anderswo, z. B. vor allem in
Württemberg, die aufblühende Realschule zur Hebung der Volksbildung
und Stärkung des Bürgerstandes erheblich beitrug.
Beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. hatte sich manche iSjo
t T cc ^ n rt /'-i- •• ttt'i t. Hemmnisse für
Hotinung geregt, daß aut den (jebieten geistiger \\ erte sich neues Leben Reformen.
zeigen werde. Diese Hoffnungen erwiesen sich bald als eitel. Mit dem
Einzug des Ministers Eichhorn und seines Ratgebers Eilers ins Kultus-
ministerium zogen Hemmnisse für die Schulentwicklung ein, die nichts
zur Blüte kommen ließen, was an gesunden Keimen in der Zeit lag. Dem
sogenannten deutsch-christlichen Geist, der zur Herrschaft kam, war der
freie Geist des Griechentums, der sich in den Gymnasien regte, ebenso
zuwider wie die realistischen Naturwissenschaften und die Realschulen,
die man als Pflegestätten materialistischen und atheistischen Geistes fürch-
tete. Auch das „religiös-sittliche" Bewußtsein der Philologen und Schul-
männer schien den Männern, die an maßgebenden Stellen standen, ver-
dächtig, weil man dort der Überzeugung war, das Ministerium Altenstein
habe eine glaubens- und gemütlose Verstandesbildung befördert und in
den Schulen habe man diejenige „Bildung" befördert, welcher Unglaube
Ehrensache sei. Dieses phantastische Urteil und der einseitige Dilettan-
tismus richteten zu jener Zeit viel Übles an.
Glücklicherweise fegte der PVühlingssturm des Jahres 1848 auch im 1848
L'ii ji-'-r 1 • -1 1 1 • 1 " T^- • Heseitigung
Schulwesen den Geist lort, der nicht dorthin gehorte. Die retardieren- hemmender
den Momente verschwanden, andere Kräfte traten an ihre Stelle. P^este
Pläne kamen allerdings nicht zur Ausgestaltung. Die Zeit der großen
Reden, der zahlreichen Versammlungen und großartigen Projekte bot für
reelle Arbeit zu wenig Raum und Ruhe. Gegen die Hörigkeit der Schulen
von der Kirche und die Stellung der Lehrer als Klasse „verschämter
Annen" ergingen kräftige Angriffe, die den Segen brachten, daß reaktio-
näre Gelüste auch in Zukunft nur schüchtern sich hervorwagten.
Dem Zeitgeiste zu entsprechen, wurde vom Minister Ladenberg eine is«
Tr c 1 t^ ^ 1 " i/-T^T- /* Schulkonferenz.
Konferenz von angesehenen Schulmannern berufen. Der Entwurf, der
dieser Versammlung vorlag, .stellte ein dreiklassiges Untergy^mnasium
als alleinigen, einheitlichen Unterbau für alle Schulen hin. Darüber
solle sich eine Oberstufe aufbauen in drei Klassen mit fünf Jahres-
kursen und zwar in Doppelgabelung mit einem Obergymnasium und einem
lateinlosen Realgymnasium. Beide Anstalten sollten die Berechtigungen
erhalten für das Studium an Universitäten und technischen Akademien;
das Realg\'mnasium mit der Einschränkung auf Fächer, für welche die
Kenntnis der alten Sprachen nicht erforderlich sei. Die Vorschläge
wurden von der Mehrheit angenommen, doch mit dem Zusatz, daß
156
Adoi.k Matthias: Das höluMo KimlK-nsclnihveson.
auch am Kcalgvinnasium Latein je nach (h'ii r)rthchon Verhältnissen zu-
lässig sei. Außerdem stellte die Konferenz den wichtigen Grundsatz auf,
daß die aus Staatsfonds erhaltenen Anstalten keinen konfessionellen Cha-
rakter tragen dürften und daß in den Schulen der Selbstverwaltung mehr
Raum gewährt werde. Wie die politischen Pläne jener Tage, blieben
auch die Beschlüsse der Reformkonferenz Entwürfe.
Reformen (xlücklicher War man in Österreich, weil hier zwei kluge Männer,
in Österreich titii- -iti in -i
1849-1.SS4. Bonitz und txner, die alte Wahrheit verwirklichten, daß viele kluge
Köpfe, wenn sie in Versammlungen zu Rede und Beschluß kommen, weit
weniger Erreichbares konstruieren als ein oder zwei Personen, die Klug-
heit mit praktischem Blick für das Erreichbare verbinden. Diese Männer
stellten im Jahre 1849 einen Organisationsentwurf auf, der 1854 zur Aus-
führung kam. Das System des alten Jesuitengymnasiums mit seinen sechs
Lateinklassen und seinem zweiklassigen philosophischen Oberbau wurde da-
mit beseitigt und ein achtjähriger Kursus, der in den oberen Klassen systema-
tisch fortführte, was im Unterbau begonnen war, trat an die Stelle. Maß-
gebend für die Aufgabe des Gesamtgymnasiums war der Begriff der höheren
allgemeinen Bildung; dazu bedurfte es eines vollständigen mathematisch-
aaturwissenschaftlichen Unterrichts im Ebenmaß mit den philologisch-
historischen Disziplinen. Der Schwerpunkt durfte daher nicht mehr in
den klassischen Sprachen liegen, sondern in der wechselseitigen Bezie-
hung jeuer beiden Gruppen. Gegen diese Lehrpläne regten sich man-
cherlei Bedenken, welche in Wünschen nach Reduktion der Realien zum
Ausdruck gelangten. Die Reaktion hemmte dann die gesunde Weiter-
entwicklung dieser Pläne, und ihr kam dabei die Schwierigkeit zu statten,
das Ebenmaß jener wechselseitigen Beziehungen ohne Überbürdung oder
allzustarke Verkürzung der einen oder anderen Gruppe zu verwirklichen.
Die -wieseschen In Preußeu hielt inzwischen nach der Revolution die Reaktion ihren
Lehrpiiine und ^- rt n • t T^r i r j
Prüfungs- Einzug. Die Schule verspürte den Einfluß, indem Piarrkonierenzen und
Ordnungen von /— • r j i " u
1856 und 1S59 Kirchentage über den vermeintlich glaubensbaren Geist aut den höheren
Der Opportunis- ^ . . ... . y -r, o/i
mus gegenüber Lehranstalten eine Art von Oberaufsicht übernahmen. Im Jahre 1850
realistischen , ,,. . t-» f tii"tj*
Bedürfnissen, erschienen unter dem Mmister v. Raumer die neuen Lehrplane Ludwig
Wieses, die nichts Wesentliches an den Lehrplänen von 1837 änderten, den
Geist ihrer Tage aber verrieten, indem die philosophische Propädeutik
zwei Stunden verlor und Religion zwei Stunden gewann. Die Natur-
beschreibung büßte zwei Stunden in Quarta ein; in Sexta, Quinta und
Tertia fand dieser Unterricht bedingungsweise Aufnahme; falls geeignete
Lehrkräfte vorhanden waren, sollte er stattfinden. Um den Mangel an
Einheit in der Mannigfaltigkeit der Unterrichtsfächer zu beseitigen und
größere Konzentration zu bewirken, sollten die innerlich verwandten
Fächer möglichst in die Hand eines Lehrers gelegt werden. Die Lehr-
ziele kamen in der neuen Reifeprüfungsordnung noch charakteristischer
zum Ausdruck. Philosophische Propädeutik, Physik und Naturbeschreibung
fielen fort; der lateinische x\ufsatz wurde festgehalten; im Griechischen trat
V. Der Kampf humanistischor und realer Bildunj; um Gleichberechlißung (1840 — 1890). i s^j
an die Sttlle einer Ubersetzuiiy; aus der Fremdsprache eine Übersetzung
aus dem Deutschen; Deutsch und Französisch fielen in der mündlichen
Prüfung fort. „Der Repräsentant der Aufsichtsbehörde" trat stärker in
den Vordergrund; das Examen gestaltete sich mehr zu einer Art von Re-
vision des ganzen Unterrichtsbetriebes, als daß es in möglichst schlichten
Formen das einfache Reifeergebnis der Prüflinge klar zu stellen suchte.
Den realistischen Bedürfnissen der Zeil genügte das Gymnasium
immer weniger und das entsprach auch wohl dorn Herzenswünsche der
maßgebenden Persönlichkeiten um die? Mitte der fünfziger Jahre. Daß die
Berechtigungen zum Staatsbaufach und zum Referendar und Assessor des
Bergfachs den Realschulen wieder entzogen wurden und bei Auswahl von
Posteleven Gymnasiasten den Vorzug erhielten, lag ganz im Geiste dieser
retrogressiven Tage. — Ein Wandel trat ein, als Prinz Wilhelm für seinen
erkrankten Bruder die Regentschaft übernahm, der feinsinnige Bethmann-
Hollweg Kultusminister wurde und Wiese mehr der Opportunität der
Zeitumstände folgend als dem eigenen Herzen die neue Lehr- und Prü-
fungsordnung für Realschulen vom Jahre 1859 entwarf. Die Realschule
sollte — so verkündeten die sehr ausführlichen Erläuterungen — keine
Fachschule sein, sondern das geistige Vermögen zu freier und selbständiger
Auffassung des späteren Lebens bilden; im Endergebnis sollte kein Gegen-
satz zu der gymnasialen Bildung liegen. Einen „wesentlichen und integrieren-
den Teil des Lehrplans" habe das Lateinische als allgemein verbindliches
Lehrobjekt zu bilden, damit der Zusammenhang der modernen Kultur mit
der Vergangenheit erhalten bleibe, eine gute Vorbereitung für jedes Sprach-
studium vorhanden sei, die Schärfung des logischen Auffassungsvermögens
und „somit" auch des mathematischen Verständnisses nicht Schaden leide. Da
die Schüler wenig Einsicht in den Wert dieser Sprache besäßen, müßten
sie gewöhnt werden, ihn zu erkennen. Jeder weitere Einwurf, daß doch
solche Begründung zu würdigen nicht jedem gesunden Menschenverstände
gelingen könne, wurde damit abgeschnitten, daß die Behörden das Latein
als Voraussetzung von Berechtigungen forderten. Danach, ob die Idee
der Realschule rein gehalten werden müsse und ob nicht die ernstesten
pädagogischen Bedenken gegen die Störung eines einfachen Lehrplans
ohne Latein berechtigt seien, fragte man nicht. Die Verfügungen hatten
entschieden, der beschränkte pädagogische. Untertanenverstand hatte zu
schweigen. — Die Wiesesche Unterrichts- und Prüfungsordnung- schied
Realschulen L und IL Ordnung und höhere Bürgerschule. Die Realschulen
erster Ordnung hatten neunjährigen Kursus und Latein als Pflichtfach;
ihnen wurde die Berechtigung für alle höheren Berufsarten zugebilligt,
für welche das Universitätsstudium nicht Vorbedingung bildet. Damit war
die Dignität und Entwicklungsfähigkeit dieser Schulen von vornherein so
beschränkt, daß über ihre Zukunft entschieden war. Die Realschulen
zweiter Ordnung setzten sich zusammen aus denjenigen Schulen, welche
mildere Zielforderungen aufstellten, und aus den lateinlosen Schulen
158
Al)üI.K Mattiiias: Das hölinc Knabenscluilwcscn.
dieser Art. Die Einjährig'enbL'rechtigung erliicUcn die Schüler nach halb-
jährigem erfolg-reichen Besuch der Untersekunda. Latein wurde für diese
nicht mehr gefordert. Als höhere Bürgerschulen bezeichnete man die-
jenigen Anstalten, welche die Tendenz der vollständigen Realschule ver-
folgten, aber eine geringere Klassenzahl hatten. So hatte denn das Real-
schulwesen in bunter Mannigfaltigkeit Eingang gefunden in Preußen.
Anderswo, so besonders in Württemberg, hielt man an der gesunden
lateinlosen Realschule fest; im Stuttgarter Realgymnasium jedoch, das
sich 1867 vom Gymnasium loslöste, hatte das Lateinische mit gi Wochen-
stunden einen so gesunden Boden, daß man diese Schule als ein Gym-
nasium ohne Griechisch ansehen durfte. In Baden reorganisierte im
Jahre 1867 Wendt das Schulwesen nach preußischem Muster mit manchen
gesunden Besserungen.
Die Oktober- Mit der Begründung des Deutschen Reiches, mit der lebhafteren
Beriirvam" Wechselwirkung, die zwischen den einzelnen Teilen des preußischen
"'"Boniusfien'" Staatcs Stattfand, mit den kräftigeren realeren Zeitbedürfnissen, die durch
LehrpUne ^on ^^^ poUtische Erwacheu des deutschen Volkes gesteigert wurden, kam ein
lebhafterer Geist auch in die Schulfragen; sie wurden von Jahr zu Jahr
kräftiger und klarer gestellt, und klare und deutliche Antwort wurde mehr
und mehr in immer weiteren Kreisen bestimmteres Verlangen. 1872 rückte
Falk an Mühlers Stelle; unsicheres Zögern machte festem Willen Platz.
Im Jahre 1873 trat eine Anzahl von Schulmännern unter seiner Leitung
zusammen, die über allerhand schultechnische Fragen wie Lehrpläne,
Wochenstunden, Stellung der verschiedenen Anstalten zueinander sich
äußern sollten, besonders aber die Frage zu erwägen hatten, ob die
Trennung von gymnasialer und realer Bildung verschwinden und die An-
stalten beider Gattung zu höherer Einheit in der Einheitsschule sich ver-
schmelzen sollten und ob und wie das Bewußtsein deutscher Nationalität
kräftiger zu fördern sei. Praktische Folgen hatte diese Konferenz zunächst
nicht. Der Kulturkampf verschlang alle übrigen Interessen und mit Wiese
war Mühlers animus cunctandi im Ministerium geblieben. Erst unter dem
Ministerium Goßler kam es im Jahre 1882 zu neuen Lehrplänen und
Prüfungsordnungen, die der im Jahre 1875 berufene Bonitz zu entwerfen
hatte. Es war keine leichte Aufgabe zu erfüllen. Den Altphilologen
mußte das Ihrige möglichst erhalten und trotzdem den Forderungen der
Gegenwart Rechnung getragen werden; Mathematik und Naturwissen-
schaften ließen sich nicht mehr stillschweigend abweisen. Der Schwer-
punkt der Bildung konnte nicht mehr in der klassischen Literatur gesucht
werden, sondern in einem richtigen Ausgleich unter den einzelnen Unter-
richtsfächern. Hier Einheit und Ruhe zu finden durch Erlösung von
drängenden vielseitigen Forderungen — das war das Ideal, das gefunden
werden mußte, um dem Schulfrieden nahe zu kommen.
Bonitz tat sein Möglichstes, das Ziel zu erreichen. Die Gesamtzahl
der Stunden (268) für das Gymnasium blieb in seinen Plänen dieselbe.
V. Der Kampf humanistischer und realer BiMunK um Gleichberechtigung (1840 — i8qo). 159
Latein verlor der früheren Zahl sjeg-enüber ^), Griechisch 2 Stunden. Das
Französische gewann 4, Geschichte und Geographie 3, Rechnen und
Mathematik .', die Naturwissenschaften 2 Stunden. Griechisch rückte von
Quarta nach Untertertia. Der Unterricht in Philosophie wurde anheim-
gestellt. Der Überlastung des Gedächtnisses sollte vorgebeugt werden
durch Begrenzung des Lehrstoffs. Im Betriebe der alten Klassiker sollte
die Grammatik nicht vernachlässigt werden, aber auch nicht die Be-
herrscherin spielen. Wissenschaftliches Spezialisieren sei in allen Gebieten
zu vemieiden. Lateinischer Aufsatz und Lateinsprechen wurden beibehalten,
doch im maßvollen Umfang und in Anlehnung an die Lektüre. Ebenso
sollten an die französischen Schriftsteller verständige Sprechübungen sich
anschließen. Der Geschichtsunterricht sollte mehr Rücksicht darauf neh-
men, daß deutsche Schüler ihn genossen; im Geographieunterricht Ge-
dächtnisüberlastung vermieden, im naturwissenschaftlichen Unterricht auf
Anschauung und Beobachtung Nachdruck gelegt werden. Das griechische
und französische Extemporale fiel in der Reifeprüfung, eine schriftliche
Übersetzung aus dem Griechischen und mündliche Prüfung im Französi-
schen traten an die Stelle. Verständige Kompensationen, bei denen die
Gleichwertigkeit der verschiedenen Fächer mehr zur Geltung kam, mil-
derten die Schrecken des Examens.
Im ganzen und großen schob sich der Charakter des Gymnasiums
nach der realen Seite hin. Dagegen näherte sich die Realschule erster
Ordnung, die jetzt F ealgymnasium genannt wurde, dem Gymnasium. Die
Stundenzahl wurde hier von 285 auf 280 herabgesetzt. Das Latein ge-
wann IG Stunden und damit den Rang eines Hauptfaches. Mathematik
mußte 3, die Naturwissenschaften 2, das Zeichnen 2 Stunden abgeben.
Für die unteren drei Klassen war der Lehrplan so ähnlich, daß eine
lateinische Einheitschule für diese Stufen gefunden war.
Neben die beiden Lateinanstalten stellte der Bonitzsche Lehrplan als
dritte neunklassige Vollanstalt die Oberrealschule, die ebenfalls eine all-
gemeine Bildungsanstalt sein und diesen Charakter dadurch wahren sollte,
daß sie sich nicht durch zu starke Betonung der mathematisch-natur-
wissenschaftlichen Fächer und ihres utilitarischen Inhalts zur Fachschule
herabdrücken ließ. In Lehrplan und Lehranweisungen wurde die Ober-
realschule möglichst an das Realgymnasium herangerückt. Zur Oberreal-
schule bildete als unvollständige Anstalt die Realschule mit 7' Klassen
die Vorstufe wie das Progj-mnasium und Realprogymnasium zum Gym-
nasium und Realgymnasium. Die höhere Bürgerschule wurde sechsklassig
mit selbständigem Lehrplan und sollte die Hauptbildungsstätte für diejenigen
sein, welche nur Einjährigenberechtigung erstrebten. — Man sieht, es war
alles klar und vor allem ehrlich geordnet sowie fein und sicher gezeichnet.
Das wertvolle Bestehende war festgelegt, das wichtige Alte erhalten, das
Neue, was zu werden und sich zu entwickeln würdig war, geschickt ein-
gefügt und die prinzipielle Gleichwertigkeit durch Art und Ton, welche
j(,Q AnoiF Matthias: Das höhere Knabenschulwoscn.
das Ganze einführten, deutlich ausgesprochen. Wenn nur die bösen Be-
rechtigungen nicht gewesen wären. Den Realgymnasien blieb die Uni-
versität mit ihren Rechten verschlossen; nur das höhere Lehramt für
die Neufremdsprachen, die Mathematik und Naturwissenschaften konnte
mit realgymnasialer Bildung erreicht werden. Hinter den Realgymnasien
blieben die Oberrealschulen in bezug auf ihre Berechtigungen noch wesent-
lich zurück. Sie hatten nicht einmal ungehinderten Zugang zu den Tech-
nischen Hochschulen und standen in ihrer Dignität bei jener Zeit mit
ihren kurzsichtigen Standesvorurteilen so in Mißkredit, daß ihnen die Be-
rechtigung zum Staats- und Maschinenfach, die sie seit 1878 besaßen,
1886 wieder genommen wurde.
Selbst wenn Bonitz die Gleichberechtigung als praktische Folgerung
aus der Gleichwertigkeit hätte ziehen wollen, er hätte den Vorurteilen
seiner Zeit gegenüber den Versuch nicht gewagt solche Ideale zu ver-
wirklichen. Dazu war er nicht rücksichtslos genug gegenüber den Lebens-
mächten, deren Widerstand zu überwinden war. Daß im Mai 1884 auch
in Österreich ein neuer Gymnasiallehrplan erschien, dem 187g eine Neu-
ordnung des Realschulwesens vorangegangen war, mochte für Bonitz eine
besondere Genugtuung sein; denn auf Schritt und Tritt verspürte man in
jenen Reformen etwas von dem Geiste der Pläne aus dem Jahre 1854,
denen in den Zeiten der Reaktion eine rechte Ausgestaltung nicht ver-
gönnt gewesen war.
Die Einheits- Dic iu den Bonitzschen Plänen zum Ausdruck gelangende Annäherung
bangen In 'den des Gymnasiums an das Realgymnasium einerseits und der Oberrealschule
"jahre'n*!'^ au das Realgymnasium andrerseits ließ den Gedanken an eine Ver-
einigung aller Schularten in möglichst einheitliche Formen im Anfang der
achtziger Jahre wieder kräftiger werden. Schon in den siebziger Jahren
hatte Ostendorf in Düsseldorf die organische Verbindung der höheren
Schulen mit der Volksschule und eine gemeinsame Unterstufe für Real-
schulen und Gymnasien verfochten, auf welcher der fremdsprachliche
Unterricht mit dem Französischen beginnen sollte. Schlee verwirklichte
diesen Gedanken, indem er im Jahre 1878 in Altona die Verbindung von
Realgj^mnasium und Realschule durch einen von Sexta bis Quarta reichen-
den lateinlosen Unterbau herstellte. — Nach anderer Richtung hin suchte
der im Jahre 1886 von Frick und Hornemann begründete Einheitsschul-
verein die Schulfrage zu lösen. Er schaltete die höhere Bürgerschule
ohne Latein aus seinem Plane aus; diese möge für den gewerblichen
Mittelstand die nötige Bildung bis zur Einjährigenberechtigung bieten;
dagegen solle das Gymnasium mit dem Realgymnasium zur Einheits-
schule mit Latein, Griechisch, Französisch und Englisch verschmolzen
werden und die höhere Bildung für alle Arten von Hochschulen, wissen-
schaftliche wie technische, vermitteln. Die Schwierigkeiten, die in dieser
Vereinigung lagen, sollten gelöst werden durch Vervollkommnung der
Methode und Ertüchtigung der Lehrkräfte.
V. Der Kampf humanistischer und realer Bildung um Gleichberechtigung (1840 — 1890). 161
Während die Einheitsschulbeweg^ng, dort wo es sich um einen ein-
heitlichen Unterbau handelte, wenigstens einen praktischen Erfolg erzielte,
verlor sich diese Bewegung, die Gymnasium und Realgymnasium von unten
bis oben verschmelzen wollte, in abstrakte Formen methodischer Überkunst.
Kräftiger setzte der Kampf um die Berechtigungen ein. Die Lehr- Der Kampf am
plane von 1882 hatten das Gymnasium und Realgj'mnasium — abgesehen gungea in den
vom Griechischen — so genähert, daß sie sich immer ähnlicher wurden, "jahr'e^n*/
Trotzdem blieb in den Berechtigungen alles beim Alten. Der Allgemeine
Deutsche Realschulmännerverein — in welchem Bach, Schwalbe, Schauen-
burg und Steinbart unterstützt von namhaften Männern freiester Intelligenz
an der Spitze standen — trat mit voller Kraft in den Kampf ein und setzte
mit seinen Petitionen das Abgeordnetenhaus und die maßgebenden Kreise
in Unruhe. Als vornehmer Herold dieser Bewegung und kluger Aus-
leger der Zeichen der Zeit stand Friedrich Paulsen da und erweckte
durch seine vermittelnde Objektivität auch die Sympathieen der Gegner.
In diesen Kampf trat auch die neubegründete Oberrealschule ein, die
in dem Maße ihre Forderungen steigerte, als die Realschulen durch
ihre Zunahme ihre Lebensberechtigung darlegten. Daneben wirkte in
kräftigerem Ton und mit nachdrücklicheren Forderungen der Verein für
Schulreform in Versammlungen und durch sein Organ, die Zeitschrift für
die Reform des höheren Schulwesens, die von dem frischen, immer kampfes-
mutigen Dr. Friedrich Lange begründet war. Die Ziele, die hier verfolgt
wurden, waren Einheitlichkeit des Unter- und möglichst auch des Mittel-
baues aller höheren Schulen, organische Verbindung der höheren Schule
mit der Volksschule, Erhebung des Deutschen zum Kern und Mittelpunkt
des gesamten Unterrichts, Hervortreten der vaterländischen Geschichte im
Geschichtsunterricht, bessere Pflege der Leibesübungen und vor allem
gerechte Verteilung der Berechtigungen d. h. Gleichberechtigung aller neun-
klassigen höheren Schulen. Man hätte annehmen sollen, die Gymnasien
hätten sich der letzten und auch den übrigen Forderungen gern an-
geschlossen, weil nur die Gleichberechtigung ihre Eigenart ihnen retten
konnte, das Monopol aber immer mehr einen unheilvollen Utraquismus in
sie hineintrug. Männer wie Paul Cauer erkannten das und sprachen ihre
Meinung unumwunden aus. Doch die große Mehrzahl der Gymnasial-
männer stand nicht auf diesem Standpunkt, sie betrachteten die ganze
Bewegung der Realschulmänner als ein revolutionäres Bestreben, das
alles Gesunde über den Haufen werfe. Und das war natürlich. Die Lehr-
pläne von 1882 hatten in den Gymnasialkreisen striktester Observanz Un-
zufriedenheit und Verstimmung hervorgerufen, weil das Lateinische nicht
mehr Zentralfach war; nun kamen die Vorstöße der Reformer, die die
Stellung des Gymnasiums auch als Zentralschule erschütterten und manche
begründete Wahrheit dem Gj-mnasium sagten, die gerecht war. Denn daß
es mit der Methode und dem ganzen Betrieb der klassischen Sprachen
recht übel an vielen Gymnasien aussah, mußte jeder Sachkundige zu-
Du KuLiuK om Gbgenwuit. I i. 11
l52 Adolf Matthias: Das höhere Knabenschulwesen.
gestehen; und auch die Frage war berechtigt, die in diesem Kampfe in
mannigfachen Formen gestellt wurde, ob denn der Geist des klassischen
Altertums von unsern Denkern und Dichtern nicht so weit aufgesogen
und in deutsches Wesen umgesetzt sei, daß dieser von der Antike getränkte
deutsche Geist für die Allgemeinbildung wertvoller sei als der antiquarische
Geist der Gymnasien. Solche Wahrheiten wirken verstimmend, weil eine
Wahrheit, die uns der Fremde sagt, mehr verletzt als hundert Wahrheiten,
die wir uns selber sagen; und diese Urteile mußten um so mehr verletzen,
als sie vielfach ohne Höflichkeit geäußert wurden. Es kam noch mehr
hinzu. In den Reihen der Reformer standen Männer, die eine erschreckende
Verständnislosigkeit für das besaßen, was das Altertum in seiner stillen
Größe geleistet hat und noch leistet und was es an Werten unserer Vater-
landsliebe und unserer staatsbürgerlichen Erziehung zugeführt hat. Da-
bei wurde der Wert der Naturwissenschaften für Jugendbildung von
einigen Seiten in einer Weise überschätzt, die ruhiges Denken sich nicht
, bieten lassen konnte, besonders wenn das Destruktive und das Materia-
listische des Naturstudiums in jener Wertung mehr oder weniger zum
Ausdruck g-elangten. Das alles und mehr noch trug dazu bei, die für die
Zukunft ihrer Schule bangenden Gymnasialmänner auf den Plan zu rufen
und den Kampf zu verschärfen und zu verbittern, in welchem die sich
gegenüberstehenden Mächte ganz gut als Bundesgenossen hätten kämpfen
können, wenn man die einigenden Werte mehr betont hätte. Im Jahre 1888
zählte man gleichsam seine Kräfte: Der Verein für Schulreform ver-
anstaltete eine Masseneingabe an den Kultusminister von Goßler, die von
22000 Unterschriften bedeckt war; die Gymnasialmänner erließen die so-
genannte Heidelberger Erklärung mit etwa 4300 Unterschriften. Wenn
nun auch in diesen Zeiten des Kampfes der Frieden der Schule und ihrer
Meister erheblich gestört wurde und manche üble Begleiterscheinung
bedauerlich war, im ganzen und großen schadete er der Sache nichts,
sondern er förderte sie. Dieser Kampf war doch auch eine Übungs- und
Klärungsstätte geistiger Kräfte und er förderte das Ganze, indem er durch
offenen und ehrlichen Gegensatz der Meinungen Vorurteile beseitigte sowie
vor Einseitigkeiten und Irrwegen bewahrte. Vor allem aber hatte der Kampf
das Gute, daß man in den Kreisen, denen bisher nur das Traditionelle
Behagen bereitete, mehr und mehr die Notwendigkeit einer Änderung
veralteter Formeln, Formen und Rechte erkannte. Diese Erkenntnis
wuchs zusehends, als, bald nach dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms IL,
von allerhöchster Stelle aus die Schulfrage zur Lösung gestellt wurde.
Die Deiember- VI. Die Schulreform Kaiser Wilhelms 11. (1890 bis zur Gegen-
erenz ^ 90- ^^^y Nachdem schon im Jahre i88g der Kultusminister von Goßler im
Abgeordnetenhause sein lebhaftes Interesse für eine Besserung der Miß-
verhältnisse ausgesprochen hatte, wurde auf Veranlassung des Kaisers
Wilhelm IL für den Dezember 1890 eine Konferenz nach Berlin berufen,
VI. Die Schulreform Kaiser Wilhelms II. (1890 bis zur Gegenwart). 163
die aus Schulmännern und Vertretern anderer Berufsarten zusammengesetzt
war. Die Eröffnungsrede des Kaisers betonte, daß die Schule die Fühlung
mit dem Leben verloren habe. Diese Fühlung sei wiederzugewinnen,
indem man das Deutsche als Grundlage nehme und den deutschen
Aufsatz in den Mittelpunkt stelle, die Gemüts- und Herzensbildung und
die Gesundheit der Schüler durch körperliche Kräftigung mehr pflege,
im Geschichtsunterricht das Vaterländische stärker betone. Die Rede
beklagte den ungesunden Zudrang zu den Gymnasien, den Überschuß an
gelehrter Bildung und die große Zahl von Halbgebildeten, die die höheren
Schulen ohne Erfolg verließen. — Die Beschlüsse der Versammlung
waren im wesentlichen folgende: Ein gemeinsamer Unterbau für Gym-
nasien und latcinlose Schulen wurde abgelehnt; dagegen sollten unter Be-
seitigung der Realgymnasien zwei streng voneinander geschiedene Arten von
Vollanstalten, das Gymnasium und die Oberrealschule, in Zukunft bestehen;
den Realschulen wies man als Hauptaufgabe eine höhere bürgerliche
Schulbildung zu, daneben sollten sie als Unterstufe der Oberrealschule
dienen. Die Berechtigung zum Einjährigen-Dienst wünschte man auf allen
Anstalten von dem Bestehen einer förmlichen Prüfung abhängig zu machen,
um dem „Ersitzen" dieser Berechtigung auf den Vollanstalten, besonders
auf den Grj'mnasien, eine Ende zu bereiten. Jedem Inhaber eines Reife-
zeugnisses irgend einer neunklassigen höheren Schule wollte man die
Möglichkeit eröffnen, durch ein Fachexamen in der Studienzeit die Zu-
lassung auch zu solchen Staatsprüfungen zu erlangen, zu denen sein Reife-
zeugnis nicht berechtigte; die Stundenzahl wollte man aus hygienischen
Grründen herabsetzen; den lateinischen Aufsatz sowie das Lateinsprechen als
Forderung der Reifeprüfung fortfallen lassen. Als eine verheißungsvolle
Aussicht in die Zukunft betrachtete man die Erklärung des Geheimrats
Stauder, daß die Gebundenheit der Lehrpläne einer größeren Freiheit
Platz machen solle. Die Anträge, die die Berechtigungsfrage kräftiger
anfaßten und eine möglichst gleiche Wertschätzung der realen und huma-
nistischen Anstalten anbahnen wollten, und der Antrag, daß man bei tüch-
tigen Schülern realer Anstalten von gymnasialen Ergänzungsprüfungen
gänzlich absehen möge, wurden einstimmig angenommen, mehr aus Höf-
lichkeit als aus Wertschätzung der realen Bildung.
Am 6. Januar 1892 folgten der Schulkohferenz die Lehrpläne und d'« Loiirpiäna
Tt •• c T>v*/— y~^ """^ Prüfungs-
Prufimgsordnungen. Die Gesamtzahl der Lehrstunden ging an den Gym- Ordnungen von
nasien von 262 auf 252, an den Realgymnasien, von deren Beseitigung
(es waren ihrer 174 mit 34 — 35000 Schülern) nicht mehr die Rede war,
von 280 auf 259, an den Oberrealschulen von 276 auf 258 zurück. An
den Gymnasien verlor das Latein 15, das Griechische 4, das Französische 2,
an den Realgymnasien das Lateinische 1 1 , das Französische 3, das Eng-
lische 2, das Zeichnen 2, an den Oberrealschulen das Französische 9, das
Englische i, das Zeichnen 8 Stunden. Dtis Deutsche gewann eine geringe
Verstärkung auf allen drei Schularten; die philosophische Propädeutik
j64
Adolf Matthias: Das höhere Knabensohulwesen.
wurde mit Schweigen übergangen; dagegen gewann das Turnen in allen
Klassen eine Stunde. Das Zeichnen wurde an den Gymnasien bis Unter-
sekunda Pflichtfach, während das bisher nur bis Quarta der Fall gewesen
war. Für alle drei Arten der Schulen wurden die Lehrpläne einander
angeglichen, weil immer mehr der Grundsatz hervortrat, daß sie alle
Pflegestätten allgemeiner Bildung seien. In Religion, Deutsch und Ge-
schichte waren die Pläne vollkommen gleich. Zwischen der Unter- und
Oberstufe der Vollanstalten wurde die von der Konferenz empfohlene
Abschlußprüfung eingeschoben. Die Reifeprüfung verlangte an den Gym-
nasien nicht mehr den lateinischen Aufsatz, setzte an Stelle des französi-
schen Extemporales eine Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche
und forderte an den Realanstalten nur eine statt zweier Hinübersetzungen
in die Neusprachen sowie nur eine Aufgabe aus der Naturwissenschaft.
In der mündlichen Prüfung schied Französisch auf dem Gymnasium,
Latein am Realgymnasium, Erdkunde überall aus. In allen Fächern, in
denen das Schlußurteil der Schul- und schriftlichen Prüfungsleistungen be-
friedigend lautete, fiel eine mündliche Prüfung überhaupt fort.
So hatte man denn in Lehrplänen und Prüfungsordnungen dem Zeit-
geiste gemäß entschieden. In den anderen Staaten Deutschlands war
kurz zuvor oder kurz nach dieser Neuordnung in ähnlicher Weise wie in
Preußen den Wünschen der Zeit entsprochen. — Eine wichtige Neuordnung
schloß sich im Sinne der Freiheit der Lehrverfassung noch an die 92 er
Lehrpläne an. Das Altonaer System — die Verbindung von Realgymna-
sium und Realschule durch einheitlichen Unterbau in den drei unteren
Klassen — wurde auch auf das Gymnasium übertragen und der von
Direktor Reinhardt für das Frankfurter Goethegymnasium entworfene Plan
vom Kultusminister Grafen Zedlitz-Trützschler mit weitem Blick für die
Bedürfnisse der Zeit genehmigt.
Neue Berechtigungen erhielt das Realgymnasium nicht. Die Ober-
realschule wurde mit einigen Einschränkungen dem Realgymnasium an Be-
rechtigungen gleichgestellt.
Zufrieden war mit den Ergebnissen der Schulreform wiederum fast
niemand. Die altgymnasiale Partei stimmte ein in den Weheruf Oscar Jaegers:
magna pugna victi sumus, und die Realgymnasialmänner beklagten den
großen Verlust am Lateinischen und den größeren Abstand, in welchen ihre
Schulart gegenüber dem Gymnasium dadurch geraten war; daß auch die
Hoffnungen auf mehr Berechtigungen damit sich verringerten, kam ihnen zu
schmerzlichem Bewußtsein. Diese gymnasialen und realgymnasialen Klagen
erweckten denn auch das Mitleid der Unterrichtsverwaltung; beiden wurde
eine Stunde Latein mehr in den oberen Klassen als Pflaster auf ihre Wunde
gewährt. Verhältnismäßig am glücklichsten war die Oberrealschule; denn
sie hatte wenigstens keinen Schaden gelitten. Eine bessere Position im
Kampfe um die Gleichberechtigung errang sie aber dadurch, daß der
Realschulmännerverein nunmehr nicht nur für die Realgymnasien mehr
VI. Die Schulreform Kaiser Wilhelms ü. (1890 bis zur Gegenwart). 165
BerechtigTingen erstrebte, sondern die Gleichberechtigfung aller höheren
Lehranstalten auf ihr Progframm setzte und damit auch für die Oberreal-
schule mit in den Kampf eintrat.
Wenn nun auch die Zufriedenheit der Vertreter der verschiedenen Des
Anstalten nicht groß war, so durfte der Lehrerstand selbst auf das Vorbildung unH
Jahr 1890 und seine Folgen mit einiger Zufriedenheit blicken. Seine
Stellung und Würdigung unter den führenden Ständen wurde wesentlich
verbessert; die Art der Vorbildung war schon vor der Dezemberkonfe-
renz geändert und wurde — was die Prüfungsordnung anbetrifft — 1898
erfreulich vereinfacht. Was diese Vorbildung anbetrifft, so erhob in Preußen
die älteste Prüfungsordnung vom Jahre 1810 die Forderung, daß jeder
Kandidat in allen Gymnasialfächern Bescheid wissen müsse. Im Erlaß
von 1831 wurden gewisse Fächergruppen gebildet, die im Vordergründe
standen; nach wie vor wurde aber auch in den übrigen Lehrgegenständen
eine Prüfung abgehalten. Die Prüfungsordnung von 1867 beschränkte die
Prüfung in allgemeiner Bildung auf Religion, Philosophie, Geschichte,
Geogfraphie, Deutsch und die drei Fremdsprachen, schied also Mathematik
aus; die Lehrbefähigfimg in Mathematik und Physik war an allgemeine
Bildung in der Chemie und den Naturwissenschaften gebunden. In der Prü-
fungsordnung von 1887 blieb von allgemeiner Bildung nur noch Philosophie
und Pädagogik, deutsche Sprache und Literatur, sow'ie christliche Religions-
lehre übrig. Die Prüfungsordnung vom Jahre 1898 vereinfachte die Sache
noch mehr, indem kurzweg „deutsche Literatur" eingefügt wurde. Eine
Scheidung der Kandidaten in Gymnasial- und Reallehrer hatte man in Preußen
grundsätzlich immer vermieden, nur kurze Zeit haben einige Einschränkungen
bestanden; alle Schulen wurden in bezug auf ihre lehrenden Organe stets
als allgemeine Bildungsanstalten angesehen. Dagegen schied die Prüfungs-
ordnung bis 1887 drei verschiedene Grade, die Ordnung von 1887 Oberlehrer-
und Lehrerzeugnis. Diese Scheidung beseitigte die Prüfungsordnung von
1898, sie kennt nur ein „bestanden" und „nicht bestanden" mit den Prädikaten
„genügend", „gut" und „mit Auszeichnung". Die Wahl der Fächer ist im
Laufe der Zeit immer mehr freiem Ermessen anheim gestellt; zwischen den
verschiedenen Gruppen tritt das Deutsche als gemeinsames Bindeglied her-
vor. Ähnlich wie in Preußen sind in Sachsen imd den meisten Bundes-
staaten die Verhältnisse geordnet Dagegen hat in Bayern und Württem-
berg die streng althumanistische Richtung zur Folge gehabt, daß die
„Humanisten" von den „Realisten" scharf geschieden sind und besondere
Prüfungsbehörden für die beiden Gattungen bestehen. Die Forderungen
an Allgemeinbildung, die früher nicht erhoben wurden, sind nach und
nach auch in diese Prüfungen eingednmgen. Die weitere Vorbildung
zwischen Prüfung und Anstellungsfähigkeit war früher in Preußen dem
Probejahr zugewiesen, das im Jahre 1826 von Johannes Schulze eingeführt
ist. Im Laufe der Zeit reichte diese Art der Einführung ins Lehramt
nicht recht aus. Die Kandidaten wuchsen etwas wild heran; nur die-
l65 Adolf Matthias: Das höhere Knabenschulwesen.
jenigen waren besser dran, welche den am Sitze des Provinzial- Schul-
kollegiums bestehenden Seminarien ang-ehörten oder etwa bei Stoy in
Jena, bei Ziller in Leipzig oder bei Frick im Halleschen Seminarium
praeceptorum theoretische Anweisung im Bunde mit praktischer Aus-
bildung erhielten. Um hier zu bessern, wurde in Preußen im Jahre 1890
dem Probejahr das Seminarjahr vorgeschoben und an zahlreichen An-
stalten der Monarchie Seminarien eingerichtet, denen je 6 — 8 Kandidaten
überwiesen wurden. In diesen Pflanzstätten der Pädagogik lebten die
alten Einrichtungen von Friedrich Gredike wieder auf. — In Sachsen ist
es beim Probejahr geblieben, ebenfalls in Württemberg, wo zwischen der
ersten und zweiten Dienstprüfung das Probejahr liegt. Bayern hat seit
1897 an Gymnasien, seit 1903 an einigen Realanstalten pädagogisch-
didaktische Kurse von einjähriger Dauer. Im ganzen und großen findet
auf diesem Gebiete eine fortschreitende Annäherung unter den verschie-
denen Bundesstaaten statt.
Wie die Vorbildung der Lehrer an höheren Schulen sich von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt gebessert und den Bedürfnissen der Gegenwart an-
geglichen hat, so ist das auch mit Rang und Stellung- und mit den mate-
riellen Angelegenheiten dieses Standes geschehen. Die Verstaatlichung
der Schulen, die Pflichten eines Staatsbeamten, die auch den Lehrern an
kommunalen Anstalten obliegen, das arbeitsreiche Studium und der mühe-
volle Dienst des Lehrers führen zu der ganz selbstverständlichen Folge-
rung, daß Gehalt, Rang und Wertschätzung dieses Standes jenen Vor-
bedingungen entsprechen. Das war lange Zeit nicht der Fall; und weder
die Unterrichtsverwaltung noch der Lehrerstand hatte mit dem nötigen
Nachdruck sich dieser wichtigen Frage angenommen. In den ersten Jahr-
zehnten des neuen Deutschen Reiches vollzog sich auch hier ein Wandel.
Die Unterrichtsverwaltung suchte nachzuholen, was lange versäumt war,
die Lehrer schlössen sich in Vereinen zusammen und unterbreiteten ihre
Petitionen den maßgebenden Stellen. Nicht überall fanden sie die Auf-
nahme, die ihnen gebührte. Mit den Jahren 1890 und 1892 setzen in
Preußen die Wünsche nach Besserung und die Besserung selber kräftiger
ein, besonders von allerhöchster Stelle aus. Das Diensteinkommen wurde er-
höht, Dienstalterszulagen eingeführt, die Amtsbezeichnung Oberlehrer allen
wissenschaftlichen Lehrern höherer Lehranstalten beigelegt, ein Drittel der
Oberlehrer zu Professoren, die Hälfte von diesen zu Räten vierter Klasse
ernannt. In den folgenden Jahren ist an diese Verhältnisse noch vielfach
die bessernde Hand angelegt und die Mißstimmung, die an vielen Stellen
nicht weichen wollte, gemildert oder beseitigt.
Die Schal- Hatten in dieser Richtung die Dezemberkonferenz von 1890 und die
konferenz vom tk • iiTT 'V,*.
Juni 1890 und daran sich anknüpfenden Entschließungen des Kaisers und der Unterricnts-
der Allerhöchste . , -r- , t n T "
Erlaß vom Verwaltung ihre segensreichen r olgen gehabt, so war die volle Losung
1900. der brennenden Schulfragen doch nicht gefunden; an höchster Stelle
herrschte die Empfindung, daß hier hätte mehr geschehen können, und
VI. Die Schulreform Kaiser Wilhelms U. (1890 bis zur Gegenwart). 167
der Wille, daß jene Reform energischer weitergeführt werden müsse. So
wurde denn vom Minister Studt für den Juni 1900 eine neue von ihm als
dem Chef des Ministeriums und dem Direktor der ersten Unterrichts-
abteilung AlthoflF wohl vorbereitete und vorbedachte Konferenz einberufen.
Dieser gingen Kraftproben der streitenden Parteien voran. Die Mai-
versammlung der Reformfreunde zu Berlin, die sich aus Mitgliedern des
Realschulmännervereins, des Vereins zur Förderung des lateinlosen höheren
Schulwesens und des Vereins für Reform der höheren Schulen zusammen-
setzte, verlangte vor allem Gleichberechtigung aller Vollanstalten und
für die drei Arten höherer Schulen einen gemeinsamen lateinlosen Unter-
bau. Der Gymnasialverein trat in Braunschweig zusammen und stimmte
in seiner Mehrheit der Gleichberechtigung zu, wies aber den lateinlosen
Unterbau als SchädigTing des Gymnasiums schroff zurück. Die Konferenz
selber stand von vornherein unter dem Zeichen der großen entscheidenden
Frage der Gleichberechtigung; sie faßte den Stier bei den Hörnern und
nahm die Gleichwertigkeit der Anstalten fast einstimmig an. Nachdem
diese Frage entschieden war, lösten sich die übrigen Fragen der Lehrplan-
arithmetik und der methodischen Lehrplanweisheit, mit denen die Konferenz
von 1890 lange Stunden verbracht hatte, in kurzer Frist fast von selber.
Die Frage des lateinlosen Unterbaus begegnete wohlwollender Erwägiing
und wurde allmählicher Entwicklung anheimgestellt.
Der Konferenz folgte bald der entscheidende Allerhöchste Erlaß vom
26. November, der bezüglich der Berechtigungen alle höheren Schulen in
der Erziehung zur allgemeinen Geistesbildung als gleichwertig hinstellte
und die Ergänzungen für diesen oder jenen Beruf nicht eigentlich als
Aufgabe der Schule ansah. Durch die grundsätzliche Anerkennung der
Gleichwertigkeit der drei höheren Lehranstalten wurde die Möglichkeit
geboten, die Eigenart einer jeden kräftiger zu betonen. Den Schulen mit
lateinlosem Unterbau nach Altonaer oder Frankfurter System wurde die
Freiheit verliehen, sich auf breiterer Grundlage zu erproben. Für die
Ausgestaltung neuer Lehrpläne und Prüfungsordnungen gab der Aller-
höchste Erlaß knappe Anregungen. — Die revidierten Pläne und Prüfungs-
ordnungen erschienen dann im Jahre 1901. Das Gymnasium vermehrte
seine Stundenzahl von 252 auf 259, das Realgymnasium von 259 auf 262,
die Oberrealschule von 258 auf 262. Das Latein am Gymnasium und Real-
gymnasium gewann je 6 Stunden. Am Gymnasium wurde überall, wo Be-
dürfnis vorlag, in den Tertien und Untersekunda das Englische als Ersatz
für das Griechische eingeführt und damit der Übergang von der Unter-
sekunda des Gymnasiums auf die Obersekunda eines Realgymnasiums ermög-
licht. Die philosophische Propädeutik erschien wieder als berücksichtigens-
wert in den Plänen. Im übrigen gestatteten die Lehrpläne an vielen Stellen
größere Freiheit der Bewegnng und kamen allen billigen Zeitforderungen
entgegen. Eine neue Reifepriifungsordnung folgte bald; der Gleichwertig-
keit entsprechend war sie für alle drei Anstaltsarten zusammengefaßt.
l68 Adolf Matthias: Bas höhere Knabcnschulwesen.
Am Grymnasium fiel die schriftliche französische Arbeit; an ihre Stelle
trat mündliche Prüfung. Das Realgymnasium verlor die zweite neusprach-
liche Arbeit. Die Befreiung von der mündlichen Prüfung wurde an allen
Schulen wieder eine Auszeichnung; überhaupt zeigte die Prüfungsordnung
größere Strenge da, wo sie angebracht ist, dagegen größere Freiheit und
Milde überall, wo ein tüchtiger Schüler Anspruch darauf hat.
Die Berechtigungsfragen wurden ebenfalls in raschem Tempo gelöst.
Schon im Februar wurde für das höhere Lehramt völlige Gleichberech-
tigung hergestellt; im Mai wurde für die Mediziner die Berechtigung dem
Gymnasium und Realgymnasium zugewiesen, den Oberrealschulen noch
eine Nachprüfung am Realgymnasium im Lateinischen auferlegt; im Fe-
bruar igo2 folgten die Juristen, für welche die Zeugnisse eines deutschen
Gymnasiums, eines deutschen Realgymnasiums und einer preußischen
Oberrealschule als Vorbedingung gefordert wurden. Der Offizier- und
Seeoffizierberuf wurde ebenfalls eingereiht in die Gleichberechtigung. Das
Studium der Theologie blieb hors de concours. So war im großen und
ganzen die Gleichberechtigung durchgeführt; bleiben hier und da auch
einige Klauseln, so darf man der Zukunft und dem gesunden Geiste der
neuesten Reform vertrauensvoll die weitere Entwicklung überlassen, da es
ein Rückwärts für Preußens geistige Entwicklung nicht gibt, sondern nur
ein Vorwärts. Frankreich hat in dieser Beziehung schon die letzten Fol-
gerungen gezogen. Es folgte Preußen auf dem Wege der Gleichberech-
tigung im Jahre 1902, es ging weiter, indem es jegliche Klausel und
jegliche Einschränkung fallen ließ. Wo ein Student mit voller realer Aus-
bildung in ein sogenanntes humanistisches Studienfach übergeht, il ne
serait pas juste d"y mettre obstacle. L'exception sera rare: eile m^rite
d'etre encouragee. Goldene Worte, die Mut voraussetzen, den man ja
auch in Preußen stets gehabt hat.
Wir sind in der letzten Entwicklung der Schulfragen fast nur dem
Gange der Dinge in Preußen gefolgt: mit gutem Grunde. Denn Preußen
hat in dem Gedanken, daß die Kraft Preußens in der Solidarität des
preußischen Staates mit der geistigen Bildung und in der Kraft der Intelli-
genz beruhe, in den letzten Jahrzehnten am häufigsten mit Schulreformen
eingesetzt und es bietet das größte x\rbeits- und weiteste Beobachtungs-
feld für die Fragen der Schule. Andererseits setzt sich Preußen am
meisten den Gefahren des Mißlingens aus, wenn etwas sich nicht bewähren
sollte, wie es aber auch den größten Gewinn und den größten Vorsprung
im Falle des Gelingens für sich wird in Anspruch nehmen können. Wer
nichts wagt, gewinnt nichts: das ist der Lauf der Dinge in aller politischen
und kulturgeschichtUchen Entwicklung. Daß aber in der Schulreform der
letzten Jahre kein Experiment bedenklicher Art vorliegt, darüber beruhigt
ihre historische Berechtigung und Notwendigkeit und ein Ausblick in die
Zukunft der höheren Schulen, bei welchem die Vergangenheit eine ermun-
ternde, belehrende und warnende Beraterin sein kann und ängstliche Ge-
Vn. Rückblick und Ausblick.
169
müter das schöne Königswort aus der Dezemberkonferenz des Jahres 1890
trösten mag: „Wir befinden uns in einem Zeitpunkt des Durchgangs und
Vorwärtsschreitens in ein neues Jahrhundert, und es ist von jeher das Vor-
recht meines Hauses gewesen, ich meine, von jeher haben meine Vorfahren
bewiesen, daß sie, den Puls der Zeit fühlend, voraus erspähten, was da
kommen würde. Dann sind sie an der Spitze der Bewegung geblieben,
die sie zu leiten und zu neuen Zielen zu führen entschlossen waren. Ich
glaube erkannt zu haben, wohin der neue Geist und wohin das zu Ende
gehende Jahrhundert zielen, und ich bin entschlossen in bezug auf die
Heranbildung unseres jungen Geschlechts die neuen Bahnen zu beschreiten,
die wir unbedingt beschreiten müssen; denn täten wir es nicht, so würden
wir in zwanzig Jahren dazu gezwungen werden." Nur zehn Jahre gingen
durchs Land, und der Kaiser griff igoo von neuem ein und veranlaßte
die Fortführung der Reform vom Jahre 1890.
Mancher von denen, die die neueste Wendung mit vorbereitet und
bei ihr mitgearbeitet und mitgewirkt haben, ist sich nicht voll bewußt
gewesen, was er getan, wie tief diese Reform in der Entwicklung unseres
höheren Schulwesens begründet ist und welche Tragweite sie für die Zu-
kunft hat. Für eine volle geschichtliche Würdigung der Kultur der Gegen-
wart erscheint deshalb eine Rückschau auf die Berechtigung dieser Reform
und ein Ausblick in die Zukunft unserer Schule wünschenswert.
VII. Rückblick und Ausblick. Das Jahr igoo hat vor allem freie Rückblick.
Bahn geschaffen für alle drei höheren Schularten, die wir besitzen, und
damit der Eigenart einer jeden ihre ungehinderte Entwicklung gesichert.
Die volle Einheitsschule, die man immer wieder in den vergangenen
Jahrzehnten erstrebte, ist damit abgewiesen. Sie mag als schöner Traum
der Gelehrtenstube, wo Entwürfe und Ideale sich im Raum nicht stoßen,
ihre Berechtigung haben. Wer mitten im formenreichen Leben steht,
wird der gestaltenreichen Mannigfaltigkeit ihre Freiheit gönnen müssen,
damit die gesamten Geisteskräfte eines großen Volkes, damit alles, was
die Vergangenheit an alterprobten Werten überliefert und die Zukunft an
neuen lebensberechtigten Werten fordert, seine Verwirklichung finden
mag in den Schulen, in denen man auf getrennten Wegen zu bilden hat,
um schließlich gemeinsam zu wirken. Die Entwicklungsgeschichte unserer
Schulen hat uns mehr als einmal den Beweis geführt, daß allemal da, wo
man diese Wahrheit nicht berücksichtigte, Hindernisse und Hemmnisse
der gesunden Entfaltung der Schulen sich entgegenstellten. Unseren
Gymnasien hat nichts mehr geschadet als der Utraquismus, den man in
diese Schule ihres Monopols und der Idee der Einheitsschule wegen
immer wieder hineinzutragen suchte. In den zwanziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts fing dieser Unsegen an, als Johannes Schulze den Realien kräf-
tigeren Eingang in die Gymnasien verschaffte und zuerst den Versuch
machte, in einer Art von Einheitsschule den klassischen Studien und den
j-Q Adolf Matthias: Das höhere Knabenschulwesen.
realistischen Fächern gleiches Recht zu geben. Damals fuhr der kur-
sächsischem Lande entstammende bayerische Professor Thiersch, der ehe-
malige Portenser, in hellem Zorn los gegen die neue Lehrweisheit in
Preußen, d. h. gegen die gleichmäßige Steigerung des klassischen und
realistischen Unterrichts in den Gymnasien, gegen „die falsche Vermitt-
lung humanistischer und realistischer Forderungen" und gegen die Enge
des Zwecks, „wonach die Schule als Teil der Staatsmaschine betrachtet
\md darauf beschränkt wurde, dem Staate die nötige Anzahl Diener des
Altars, sowie die Gesetzes- und Heilkundigen und dergl. zu liefern".
Preußen „mit allen seinen vortrefflichen Vorkehrungen und Aussichten stehe
im Begriff, in diesem dampfmaschinenähnlichen Getriebe unermüdlich
tätiger AUseitigkeitsbeförderer mit der wahren Wissenschaft die wahre
Bildung zu verlieren"; denn die realistischen Fächer erschienen zu sehr
mit den klassischen Sprachen „in gleicher Linie, Stärke und Bedeutsam-
keit"; Preußen jage dem Phantom einer allseitigen Bildung nach, hetze die
Schüler und Lehrer zu Tode und verhindere durch beständige und strenge
Prüfung, daß die Natur sich selber helfe. Auf wenige große und der An-
strengung würdige Gegenstände sei die Tätigkeit zu sammeln, nicht aber
dürfe durch Überladung, Überspannung und Überbietung die Blüte der
Regsamkeit zerdrückt werden. Das waren harte Worte, aber sie waren
berechtigt und begründet. Hätte man sie beherzigt und auf Männer gehört,
wie den Historiker Friedrich v. Raumer, G. Köpke, Spilleke, Maximilian
Schmidt, die in der Lorinserbeweg-ung sich ähnlich, wenn auch maßvoller
aussprachen, — J. Schulze, „der in den Vorhöfen der Philologie wohnende
Staatsbeamte", wie ihn Thiersch bezeichnete, hätte den Weg nicht be-
schritten, dem Gymnasium wäre vielleicht sein langer Leidensweg erspart
geblieben und die Idee der Einheitsschule hätte seinen Frieden nicht
gestört.
Diese Gefahr ist nun glücklich beseitigt. Die Frage jedoch, ob nicht
auf den unteren Stufen die Einheitsschule möglich und nützlich ist, hat
die Reform von 1900 als wertvolles Problem offen gelassen, das die Zu-
kunft lösen mag, indem sie bei der Vergangenheit lernt, daß es sich um
wesentlich Neues nicht handelt. Wenn Pestalozzi beklagt, daß der Zu-
sammenhang zwischen oberer und unterer Bildung nicht genugsam gewahrt
werde und die Mittel der Erziehung und des Unterrichts nicht in psycho-
logisch geordneter Reihenfolge ständen, wenn Herder den Realklassen
unabhängige Stellung wünscht und rät mit der Muttersprache anzufangen,
dann das Französische und schließlich das Lateinische folgen zu lassen;
wenn Schleiermacher es bedauert, daß nicht auch der künftige Gelehrte,
ehe er zur wissenschaftlichen Bildungsstufe übergehe, den Kursus einer
höheren Bürgerschule durchmachen könne, um sich eine gründliche reale
Bildung anzueignen und für das Gymnasium nicht zu früh mit dem Latei-
nischen zu beginnen, so haben wir hier in der Vergangenheit Anknüpfungen
an das Neue, die dieses weniger verwerflich erscheinen lassen.
"Vn. Rückblick und Ausblick. 1 7 1
Wie aber auch die Zukunft diese Frage lösen mag, Hauptsache ist
und bleibt die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der drei Bildungs-
anstalten und der in ihnen geübten Unterrichtsstoffe und Bildungskräfte. Mit
diesem Grundsatz hat der Allerhöchste Erlaß vom 2 6. November an die vor-
nehmsten Geister der Vergangenheit angeknüpft und einen Gedanken auf-
genommen, der sich in der Entwicklung unserer Pädagogik bis zu Comenius
hinauf zieht imd immer kräftiger hervortritt, als unser Geistesleben zu seiner
Blütezeit gelangt. Wenn Kant unser Weltbild und unsere Weltauffassung
umgestaltet, indem er das gesamte Denken in Zucht nimmt und keine
Wissenschaft und keinen wissenschaftlichen Arbeiter ausgeschlossen hat,
wenn er der Mathematik die Stellung einer allgemeinen und notwendigen
Wissenschaft und auch dieser Wissenschaft geiststärkende und zugleich
versittlichende Wirkung zuschreibt, so ist damit der Gleichwertigkeit der
Bildungsstofife das Wort gesprochen. Und in derselben Richtung bewegt
sich Goethes Wort, daß schon seit einem Jahrhundert die Humaniora nicht
mehr auf das Gemüt wirkten und es ein rechtes Glück sei, daß die Natur
dazwischen getreten, das Interesse an sich gezogen und uns von jener
Seite den Weg zur Humanität geöffnet habe. Das heißt doch nichts an-
deres, als daß auch die Realien und ihre Kenntnis zur Humanität führen
können und daß es eine aristokratische Anmaßung ist, als humanistisch
nur eine Schulart zu bezeichnen. Und wie Goethe so urteilt Schleier-
macher; auch er erwartet formale und humane Bildung nicht von ober-
flächlichem Erlernen des Latein, wohl aber von der Muttersprache und
den realen Bildungsfächern. Und ebenso lehnt Herbart die Berufung auf
die durch die alten Sprachen zu gewinnende formale Bildung ab und be-
zeichnet das als eine alte, bekannte Ausrede der Philologen und als leere
Worte, von denen sich niemand überzeugen lasse, der die weit größeren
bildenden Kräfte anderer Beschäftigungen kenne und der die Welt mit
offenen Augen ansehe, worin nicht wenige und nicht unbedeutende Men-
schen leben, die ihre geistige Existenz keiner lateinischen Schule ver-
danken. So finden wir, wohin wir blicken, in unserer Vergangenheit Worte
und Gedanken, welche die Gleichwertigkeit der Bildungsmächte bezeugen.
Es liegt in dem allen eine Erklärung, weshalb von dem Gymnasium das In-
teresse und die Teilnahme so vieler tüchtiger Männer zeitweise sich so weit
entfernt hat Diese hatten eben die feine Empfindung, daß die Sonne Ho-
mers auch da leuchten kann, wo man nicht seine Sprache spricht, aber den
Geist wirken läßt, wie er bei Goethe und Schiller lebendig geworden und
in unsere deutsche Bildung eingezogen ist.
Neben das Alte, nicht an die Stelle des Alten soll also das Neue rücken,
und in edlem Wettstreit mögen alle Kräfte sich entfalten, die Wissen, Geist
und Leben darbieten; nicht auf unlebendige Aneignung von Formen und
Phrasen, auf geistlose Nachahmung und Virtuosität kommt's in der Schule an,
sondern auf Vertiefung, Konzentrierung und auf eine Art künstlerischer Ent-
faltung jeglicher Eigenart. Neben den IdeaUsmus — und damit werfen wir
172
Adolf Matthias: Das höhere Knabenschulwesen.
einen Blick auf die Schule der Zukunft — mag der Realismus treten, nicht
der einseitige, materialistische, geistesarme Realismus, sondern der Realis-
mus, der das Leben und die Welt, die er kennen und anschauen gelernt
hat, zu vergeistigen strebt durch Lösung der Rätsel, die er mit kritischem
Auge findet und mit Bescheidenheit zu lösen sich bemüht und der, gerade
weil er die Welt mit ihrem Gram und Glück kennt, in Sehnsucht stark
wird nach den Idealen, die über seinem sichtbaren Bereiche sich weben.
Nicht einseitig mögen unsere Schulen sich entfalten, vor allem nicht in
jenem ungesunden, von fertigen Wahrheiten und unfehlbaren Meinungen
gesättigten Pseudoidealismus, der vielfach uns zum Unsegen geworden ist
und uns unfähig gemacht hat teilzunehmen auch an den materiellen Gaben,
die in der Welt stets zur Teilung stehen. Die Gegensätze sind es, die
den Menschen und ein Volk erziehen. Als die Kirche und die Scholastik
die Alleinherrschaft in der Schule hatten, fehlten die Gegensätze; als der
Althumanismus und die Jesuiten Herren waren, war es nicht anders; als der
Neuhumanismus dominierte, war es ebenso, und als das Staats- und Berech-
tigungsmonopol des Gymnasiums sich bemächtigt hatte, kamen trübe Tage.
Nur edler Wettstreit kann den Schulen frommen. Der ist nunmehr
eröffnet.
Aber nicht die Gegensätze an sich sind das Segensreiche, sondern
ihre Aufhebung zu höherer Einheit, die man Ideale zu nennen gewohnt
ist. Daß der Mensch denkt, macht ihn zum Menschen; daß er in Gegen-
sätzen zu denken, diese abzuwägen, zu vereinigen, zu würdigen und wert-
zuachten lernt, macht ihn zum gebildeten Menschen. Alle Einseitig-
keit religiöser, konfessioneller, nationaler und politischer Art ist ein Merk-
mal mangelnder Bildung und geistiger Unreife. Pflicht der Schule ist es,
diesen Mangel zu beseitigen und vorzubereiten zu der Fähigkeit, die
großen Gegensätze zwischen Altertum und Gegenwart, zwischen Nation
und Welt, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Glauben und Glauben
und zwischen realen Pflichten und idealen Kräften schon frühe zu be-
greifen, zu erkennen und zu schätzen, damit diejenigen, die die Schule
verlassen, in der Welt mit kräftiger Denk- und Tatkraft und mit geläu-
terter und feingebildeter Empfindung ihren Mann stehen.
Literatur.
MONUMENTA Germaniae Paedagogica. Schulordnungen, Schulbücher und
pädagogische Miscellaneen aus den Landen deutscher Zunge. Unter Mitwirkung
einer Anzahl von Fachgelehrten hrsg. von K. Kehrbach. Seit 1886 32 Bde. (Im Auftrage
der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte herausgegeben zu dem Zweck,
die Geschichte des Erziehungs- und Unterrichtswesens zu erforschen und in weiteren Kreisen
das Interesse dafür zu pflegen.)
K. A. SCHMID, Geschichte der Erziehung von Anfang an bis auf unsere
Zeit, fortgeführt von G. Sch.mid. 5 Bde. in zahlreichen Abteilungen 1884— 1902. (Die ein-
zelnen .Abteilungen rühren von verschiedenen Verfassern her und haben deshalb un-
gleichen Wert.)
Karl Schmidt, Geschichte der Pädagogik, dargestellt in weltgeschichtlicher Ent-
wicklung und im organischen Zusammenhang mit dem Kulturleben 1860 — 62, in 4. Aufl.
1890 begonnen. (Der Inhalt wird dem Titel nicht gerecht, da eine Aufgabe von so großer
philosophischer und kulturgeschichtlicher Bedeutung von Einem Manne gar nicht gelöst
werden kann.)
K. VON Raumer, Geschichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klassischer
Studien bis auf unsere Zeit. I. Teil in 7. Aufl. (1902): Das Mittelalter bis zu Mon-
taigne. — II. Teil in 6. Aufl. (1898): Die Neuerer (Ratich und Comenius) bis zu Pesta-
lozzi. — III. Teil in 6. Aufl. (1897): Hauptsächlich die Methodik einzelner Unterrichts-
fächer (besonders des Deutschen) und einzelner Schularten enthaltend. — IV. Teil in 6. Aufl.
(1898): Die Geschichte der deutschen Universitäten. — V. Teil von Lothholz verfaßt (1897):
Pädagogik der Neuzeit in Lebensbildern. (Hauptsächlich Darlegung der pädagogischen
Theorieen und Charakterbilder großer Pädagogen auf Grund reichen Quellenmaterials. Das
Urteil des Verfassers ist stark theologisch gefärbt, aber trotzdem sympathisch.)
Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit be-
sonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2. Aufl. 2 Bde. 1896/97. (Eine auf
gründlichen Quellenstudien und bewundernswerter Belesenheit in streng wissenschaftlichem
Geiste abgefaßte, frisch und anregend geschriebene und temperamentvolle Darstellung, hinter
der ein Mann von philosophischem Blick und warmem Interesse für die Sorgen der Gegen-
wart steht.)
Theobald Ziegler, Geschichte der Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf
das höhere Unterrichtswesen. 2. Aufl. 1904. [Erster Band, erste Abteilung von
A. Baumeister, Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schulen. 4 Bde.]
(Vor allem Geschichte der Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin und Kunstlehre und
zugleich Geschichte des Erzichungswesens und der dasselbe tragenden geistigen Strömungen.
Z. ist mehr als Paulsen ein Freund vergangener Tage, in denen er weniger Schatten sieht
als jener.)
Alfred Heubaum, Geschichte des Bildungswesens seit der Mitte des sieb-
zehnten Jahrhunderts. I. Bd.: Bis zum Beginn der allgemeinen Unterrichtsreform unter
Friedrich dem Großen. Das Zeitalter der Standes- und Berufserziehung. 1905. (Ein auf
gründlichen archivalischen Forschungen beruhendes Werk, das uns die eigentliche Gestal-
tung des Schulwesens, die in früheren Werken, besonders bei Raimier, vielfach nicht recht
erkennbai- war, nahe führt.)
I ^ ^ Adolf Matthias : Das höhere Knabenschulwesen.
Außerdem sind noch folgende Werke zu nennen, die nicht rein historischen Charakter
tragen, aber das Gebiet der Geschichte der Pädagogik vielfach berühren:
K, A. SCHMID, Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichts-
wesens, lo Bde. 2. Aufl. 1876 ff. , fortgeführt von W. Schrader. (Enthält neben recht
minderwertigen Aufsätzen historischen Charakters eine große Anzahl sehr wertvoller histo-
rischer Monographieen.)
W. Rein, Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 7 Bände. 1895—99.
Die 2. Aufl. ist im Erscheinen begriffen. (Steht der Gegenwart näher; die historischen
Aufsätze sind fast durchweg von dauerndem Werte.)
Otto Willmann, Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozial-
forschung und zur Geschichte der Bildung. 3. Aufl. 1903. (Die Behandlung tiefgehend und
erschöpfend, die Charakterisierung der Bildungstypen überaus feinsinnig; aber die Grund-
stimmung: extra ecclesiam nuUa salus.)
An Handbüchern ist besonders zu nennen: H. Schiller, Lehrbuch der Geschichte
der Pädagogik, 3. Aufl. 1894, und von ganz knappen Grundrissen das freundliche Büchelchen
G. Weimer, Geschichte der Pädagogik, 1902 (Sammlung Göschen).
HÖHERES MÄDCHENSCHULWESEN.
Von
Hugo Gaudig.
I. Der Begriff der höheren Mädchenschule. Die Bildung, die
den Schülerinnen der höheren Mädchenschule vermittelt werden soll, ist
Allgemeinbildung wie die der höheren Knabenschulen; die Vorbildung
für eine künftige Berufsstellung liegt jenseits ihrer Bildungsaufgabe. Ihre
Artbestimmung erhält die Allgemeinbildung durch die Rücksichtnahme
auf die gesamte, physische wie geistige, Eigenart des weiblichen Ge-
schlechtes. Die Zahl der Jahreskurse beträgt 9 — 10; das Mindestmaß
an Stufenklassen ist sieben. Wie bei den Realschulen fehlen unter den
Bildungsstoffen die alten Sprachen. Das am meisten betonte Bildungs-
element ist die deutsche Sprache. Doch tritt meist von der Mittelstufe
(vom vierten Schuljahre) an das Französische und von der Ober-
stufe (vom siebenten Schuljahre) an auch noch das Englische mit gleicher
oder nahezu gleicher Stundenzahl auf, so daß auf der Mittelstufe der
muttersprachliche Unterricht über ebensoviel Stunden verfügt wie der
fremdsprachliche, auf der Oberstufe nur noch über ein Drittel. Gegen-
über den Knabenschulen fällt am meisten die schwache Betonung des
mathematischen Unterrichts auf, der meist „eigentliche" Mathematik ganz
vermissen läßt und als Rechenunterricht und als Unterricht in der elemen-
taren Raumlehre nur etwa ein Zehntel der Gesamtstundenzahl zuerteilt
erhalten hat. Die Entlassung aus der Schule erfolgt ohne eine Berechti-
gungen gewährende Prüfung. Das Lehrerkollegium ist einerseits aus
akademischen und seminarischen, anderseits aus männlichen und weib-
lichen Lehrkräften zusammengesetzt.
IL Zur Geschichte der höheren Mädchenschule. Um die
gegenwärtige Lage der höheren Mädchenschule zu verstehen, bedarf es
vor allem des Verständnisses der Periode von 1872 bis zur Jetztzeit.
I. Die Weimarer Versammlung vom Jahre 1872. In das Die Weimarer
Versamraluog
Jahr 1872 fällt em Ereignis von epochaler Bedeutung, in dem wesent- vom j»hre 1872.
liehe Entwicklungen der früheren Epoche abgipfeln und von dem aus
die Linien der späteren Entwicklung bis zur Gegenwart leicht gezogen
176 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
werden können: die „Versammlung der Dirigenten, Lehrer und Lehrerinnen
deutscher höherer Mädchenschulen zu Weimar". Bedeutsam bei dieser
Versammlung, die vom Direktor Kreyenberg- angeregt war und von den
Direktoren Friedländer und Nöldeke geleitet wurde, war, daß sie im
Zeichen der neugewonnenen deutschen Einheit stand, ferner daß sie
ein Akt der „Selbsthilfe" durch „genossenschaftliche Vereinigung"
(Nöldeke) war, vor allem aber, daß man (auf Grund eines Vortrags von
Dir. Schornstein) ausschließlich über die leitenden Grundsätze beriet, nach
denen in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Entwicklung des höheren
Mädchenschulwesens „eine in den Grundzügen einheitliche Organisation
und eine gesetzlich geordnete Stellung der höheren Mädchenschule im
Verhältnis zu dem übrigen Schulwesen und der staatlichen Unterrichts-
verwaltung" gewonnen werden könnte. Nach einer von der Versammlung
angenommenen These hatte die höhere Mädchenschule, über deren ge-
setzliche Regelung verhandelt wurde, die Bestimmung, „der heranwach-
senden weiblichen Jugend die ihr zukommende Teilnahme an der all-
gemeinen Geistesbildung zu ermöglichen, welche auch die allgemeine
Bildungsaufgabe der höheren Schulen für Knaben und Jünglinge" sei.
Dabei sollte jede „unselbständige Nachahmung" dieser Anstalten aus-
geschlossen sein und eine Organisation angestrebt werden, welche auf „die
Natur und Lebensbestimmung des Weibes" Rücksicht nehme. Als Bil-
dungsziel bezeichnete man „eine harmonische Ausbildung der Intellektua-
lität, des Gemüts und des Willens in religiös-nationalem Sinne auf
realistisch-ästhetischer Grundlage". In den Verhandlungen über diesen
Punkt war „edle Persönlichkeit" als „das Wesen der deutschen Frau" be-
zeichnet. Die „Realien" waren hier „die Grundlage" (der Bildung) ge-
nannt; zugunsten des Wortes „ästhetisch" aber war gesagt, es solle „die
Form der Behandlung aller Unterrichtsgegenstände" ausdrücken. Die
von der höheren Mädchenschule gepflegte Bildung sollte, so beschloß man
ferner, eine auf tüchtiger Elementarbildung aufgebaute „einheitliche Bil-
dung in Wissenschaften und Sprachen (zwei fremde Sprachen)" sein. —
An Zeit wurden gefordert 10 Jahre (vom 6. bis 16. Lebensjahr). Der
Aufbau sollte dreistufig bei 7 — 10 Stufenklassen sein. Für das Lehrer-
kollegium wünschte man die Zusammensetzung „aus einem wissenschaftlich
gebildeten Direktor, wissenschaftlich gebildeten Lehrern (namentlich für
die wissenschaftlichen Fächer), aus erprobten Elementarlehrern und ge-
prüften Lehrerinnen". — In Sachen der staatsrechtlichen Stellung
wurde verlangt die Anerkennung der höheren Mädchenschule „als einer
öffentlichen, von der bürgerlichen Gemeinde und dem Staate unterhaltenen
und unmittelbar beaufsichtigten Anstalt", die Unterordnung unter dieselbe
Schulverwaltung wie die höheren Knabenschulen, endlich die Gleich-
stellung mit den Lehrern dieser Anstalten im Punkte der Anstellung und
der Pensionierung. — Schließlich bezeichnete es die Versammlung als
erwünscht, daß durch die Staatsbehörde nach Anhörung tüchtiger Fach-
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule.
177
männer „ein Xormallehr- und Einrichtungsplan" festgestellt werde; an die
Erfüllung der Bestimmungen dieses Lehrplans sollte das Recht auf den
Namen „höhere Mädchenschule" geknüpft sein.
In einer Denkschrift, deren Hauptinhalt die von der Weimaraner nie Weimarer
Di'nkschrift.
Versammlung angenommenen Thesen mit beigefügten Erläuterungen bil-
deten, wandte sich dann „die erste Hauptversammlung von Vertretern
deutscher höherer Mädchenschulen" an die deutschen Staatsregierungen.
Aus den Erläuterungen sind einige Gedanken von besonderer Bedeutung:
Zu dem Bildungsziel („allgemeine Geistesbildung") wird bemerkt, die
höhere Mädchenschule habe „dieselbe Aufgabe" zu erfüllen, wie die
höheren Knabenschulen, indem sie in gleicher Weise in die deutsche
Sprache und Literatur vertiefe, den fremdsprachlichen Unterricht „gram-
matisch, literarisch und praktisch als Schule des Geistes und für die An-
forderungen des Lebens" verwerte, und Geschichte, Geographie und
Naturwissenschaften als „Bildungsmittel der geistigen Kräfte und Inter-
essen" pflege. Die Unterrichtsstoffe sollen zu „allseitiger Übung und
Schulung der Geisteskräfte" ausgenutzt werden, damit sich an ihnen das
Geistesleben für dieselben allgemeinen geistigen Interessen erschließe,
für deren Verständnis auch die höheren Knabenschulen vorbereiteten. In
diesem Zusammenhange folgt dann der viel angeführte Satz:
„Es galt (sc. in der Versammlung), eine der Geistesbildung des Mannes in der All-
gemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der
deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an
dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt
werde, daß ihm vielmehr das \Veib mit \'erständnis dieser Interessen und der Wärme des
Gefühles für dieselben zur Seite stehe."
Daß mit der Forderung einer der allgemeinen Geistesbildung der
männlichen Jugend ebenbürtigen Allgemeinbildung der weiblichen Jugend
nicht „Gleichheit der männlichen und weiblichen Bildung" beabsichtigt
sei, wird alsbald nachdrücklich betont. Die allgemeine Bildungsaufgabe
für die weibliche Jugend soll „unter Anerkennung der besonderen Be-
gabung ihres Seelenlebens und unter Wahrung und Förderung ihrer
eigentümlichen Bestimmung" verwirklicht werden. Demgemäß soll alle
„geistige Uniformität" vermieden werden, die „den unentbehrlichen Reiz
und Gewinn geistiger Ergänzung der Geschlechter" vernichte; der
„Schwerpunkt der weiblichen Bestimmung" aber liegt im Familienleben. —
Als Bildungsziel bezeichnen die Erläuterungen „die Harmonie einer
edeln Persönlichkeit", in welcher das edle Gefühl zu sittlichem Handeln
drängt und „die Innigkeit und Energie des Gefühles und Willens durch
Klarheit des Urteiles geläutert und geleitet sind". Dem Weibe wird
das Recht auf „Wissenschaft" zuerkannt, weil sie „des Verständnisses
der geistigen Interessen und Leistungen der Nation" bedarf; alle Wissen-
schaft aber soll ihm „zu einer geistigen Zucht für Verstand, Gemüt und
Charakter" werden. — Das Zusammenwirken von Lehrern und Leh-
rerinnen entspricht nach den Erläuterungen der Idee der höheren Mädchen-
DlB Kultur dbr Gbcbswart. I. i. i-»
Ij8 Hugo Gaudk; : Höheres Mädchpiischulwesen.
schule. Die Frage, wieweit die Mitwirkung- der Lehrerinnen zuzu-
lassen sei, wird als eine offene, weiterer Erfahrung anheimzugebende be-
zeichnet. Als „Tatsache" wird anerkannt, daß eine allerdings im Ver-
hältnis zur Gesamtzahl geringe Zahl von Lehrerinnen mit sicherem Er-
folge für Deutsch, Geographie und Geschichte bis in die mittleren, für
die fremden Sprachen bis in die oberen Klassen verwandt werden könne.
Die Ursache der geringen Zahl wird in der völligen Unzulänglichkeit der
Bildungsanstalten für Lehrerinnen gesehen. — In der Erläuterung zu der
Forderung des öffentlichen Charakters der höheren Mädchenschule
werden die Nachteile der Privatschule bezeichnet: Rücksicht auf die
pekuniäre Erträglichkeit, Abhängigkeit von der Willkür des Vorstehers
und den Einflüssen der Schulinteressenten, Schwierigkeit beim Gewinnen
von Lehrkräften, Mangel an Kontinuität der Entwicklung. — Mit kräftigem
Pathos wird endlich zur Beseitigung der bestehenden Unklarheit, Un-
wahrheit und Ungerechtigkeit die scharfe Scheidung zwischen solchen
Schulen, die auf den Namen „Höhere Mädchenschule" ein Anrecht haben,
und denen, die kein Recht darauf besitzen, gefordert.
Würdigung der 2. Würdigung der Weimarer Versammlung und Denkschrift.
Sammlung und Der Gcist, der die leitenden Persönlichkeiten bewegte, war der Geist
idealen Wollens, tatkräftiger Initiative, des Verlangens nach reinlicher
Scheidung, guten Selbstbewußtseins und männlicher Würde. Es war nicht
der Geist von Menschen, die ag-itatorisch Schulgeschichte machen wollten.
Man wollte vor allem einen geschichtlichen Prozeß zu dem Ablauf
bringen, der den in ihm wirkenden Kräften entsprach: man wollte die
Entwicklung der öffentlichen höheren Mädchenschule von Hemmungen
befreien. Auf die Existenz von mehr als hundert aus städtischen Mitteln
erhaltenen höheren Mädchenschulen, die eine weitreichende Gleichartig-
keit in der Organisation aufwiesen, stützte sich die Denkschrift. Sie
bilden den festen Rückhalt der ganzen Bewegung. Nichts anderes wollten
die Weimaraner, als der Schöpfung des deutschen Bürgertums zu ihrem
Recht zu verhelfen. Für die städtische höhere Mädchenschule forderten
sie zunächst vom Staat eine veränderte Stellungnahme; statt des bis-
herigen laisser faire, laisser aller die gleiche Fürsorge, wie sie alle
anderen Schulen bereits erfuhren. Und zwar wird diese Forderung be-
gründet mit dem „tief wirkenden Einfluß des Weibes auf die Erziehung
der Jugend, auf die Erhaltung und Förderung der sittlichen und geistigen
Kräfte der Nation". Auch wird zur Begründung auf das durch die Frauen-
bewegTing aufgedeckte „Notverhältnis" verwiesen, das dem Staate die Ver-
pflichtung, für eine tüchtige Ausbildung der weiblichen Jugend zu sorgen,
auferlege. Forderung und Begründung zeigen, daß die Weimaraner die
neue Zeit, die hereinbrach, verstanden.
Wenn dann die Anerkennung der höheren Mädchenschule als
höherer im Sinne des Gesetzes gefordert wurde, so galt das den leiten-
den Männern als die selbstverständliche Folge der Tatsache, daß sich die
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule. lyg
öffentliche höhere ^lädchenschule bereits durch ihre wi.ssenschaftHche
Arbeitsweise in die Reihe der höheren Lehranstalten eingegliedert hatte.
Die verwaltungsrechtliche Stellung, die man begehrte, erschien als ein-
fache Folge der Leistungen, auf die man .sich stützte.
Wurde die höhere Mädchenschule unter die höheren Anstalten unter-
begriffen, so war damit dann auch die unerträgliche Ungleichmäßigkeit
in der Stellung der Schule zu den städtischen und staatlichen Aufsichts-
behörden beseitigt: bi.sher stand z. B. in Preußen die Verfügung über den
liinrichtungs- und Lehrplan bald dem .Schulinspektor, bald einem aus
Schulinteressenten gebildeten Kuratorium, bald dem Leiter der Schule zu.
Die Denk.schrift berief sich auf eine „weit reichende liinmütigkeit der
Anschauungen und Gleichartigkeit in der Organisation der meisten höheren
Mädchenschulen". Dies galt vor allem von den öffentlichen Schulen, bei
denen die Einheit teils das von selbst eingetretene Ergebnis der geschicht-
lichen Entwicklung, teils das Ergebnis planmäßiger, etwa seit der Mitte
des Jahrhunderts einsetzender Einheitsbestrebungen in Einzelschriften,
Zeitschriften, Schulprogrammen, Versammlungen war. Einheitlich war das
Biklungsideal und das System der Bildungsstoffe (das sich mit dem zur
Zeit bestehenden deckt); dagegen war die Zahl der aufsteigenden Klassen,
das Schwergewicht der Fächer, die Verteilung des Lehrstoffs in den ein-
zelnen Lehrplänen noch recht verschieden. Vergl. Nöldeke: Von Weimar
zu Weimar, S. 6 fg.
Ein Xormallehrplan, der aber individuellen Entwicklungen Raum
Heß, sollte im Notwendigen Einheit schaffen. Vor allem aber sollte dieser
Normalplan die höhere Mädchenschule von all den minderwertigen Gebilden
scheiden, die unter dem Sammelnamen höhere Töchterschule eine an
Solidität hinter der Bürgerschulbildung zurückstehende Bildung darboten
und nur mit etwas Mehrsprachigkeit ihren höheren Titel begründeten.
Daß gegenüber diesem geschichtlich gewordenen Zustand die Vertreter
voll entwickelter Schulen eine scharf scheidende Begriffsbestimmung for-
derten, war nichts als notwendiger Selbstschutz und Pflicht der Selbst-
achtung. So allein konnte von der wirklichen höheren Mädchenschule
der Fluch der Lächerlichkeit genommen werden, der ein besonders pein-
liches Stück in der Martyriologie der höheren Mädchenschule ist.
Nicht minder scharf war die weitere Scheidung, die die Weimaraner
wollten. Bi.sher umfaßte der Name „höhere Töchterschule" unterschieds-
los öffentliche und private Schulen. Von ihrem Standpunkt aus
mußten die leitenden Männer für die höhere Mädchenschule die Stellung
einer öffentlichen Lehranstalt anstreben (s. o. S. 178). Ihr grundsätz-
licher Standpunkt konnte kein anderer sein, als der, den der preußische
Minister von Ladenberg in seinen Erläuterungen zu der Verfassung vom
5. Dezember 1848 ausgesprochen hatte; er bezeichnet es hier als bedenk-
lich, wenn der preußische Staat die geistige Pflege seiner Jugend und
damit seine eigene Zukunft „einer schranken- und rücksichtslosen Privat-
l8o Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
Industrie preisgeben wollte, in deren Gefolge leicht nicht nur ein Sinken
der intellektuellen Bildung, sondern auch eine tiefe Entsittlichung eintreten
könne". Er gibt dem ernsten und gediegenen Unterricht der künftigen
jMutter... in den öffentlichen Schulen ohne weiteres den Vorzug vor
den im tiefen Grunde „verbildenden und verziehenden Pensionsanstalten".
Vgl. G. Bäumer: Der Stand der Frauenbildung (Handbuch der Frauen-
bewegung, III. Teil), S. 105. Diese grundsätzliche Stellungnahme verhin-
derte übrigens nicht die Anerkennung „rühmlicher Ausnahmen" durch die
Weimaraner. Vgl. Nöldeke a.a.O. S. igfg. So gewiß „Schule" und „wer-
bendes Institut" einander ausschließende Begriife sein sollten, so gewiß
ein um seine Zukunft besorgter Staat die Wirkungen des Zufalls bei
der Erziehung der zukünftigen Mütter auf ein Mindestmaß beschränken
muß, so gewiß gehört es zu den Ruhmestiteln der Weimaraner,
daß sie auch hier grundsätzliche Klarheit walten ließen. In demselben
Augenblick, in dem der Staat die eminente Bedeutung erkennt, die der
Ausbildung der Frauen der höheren, die Kultur in erster Linie fördernden
Volksschichten zukommt, muß er den Wahrscheinlichkeitsgrad für den
Erfolg der erziehlichen Arbeit an den Töchtern dieser Stände tunlichst
erhöhen und, wenn es nötig ist, auch den herabdrückenden Einfluß der
Familien (der „Schulinteressenten") aufheben. Das ist sein Kulturrecht.
Diesem Recht entspricht natürlich die Pflicht, daß der Staat (wie es auch
in der Denkschrift ausgesprochen ist) da, wo es nottut, öffentliche Schulen
errichtet oder unterstützt und dem gesamten Mädchenschulwesen die Or-
ganisation gibt, bei der sein Kulturwerk erreicht werden kann. So muß
er z. B. verhüten, daß durch zu hohe Klassenziffer oder durch Anstellung'
ungeeigneter Lehrkräfte die Überlegenheit der öffentlichen über die pri-
vate Schule verloren g-eht.
Als allgemeines Bildungsziel galt der Denkschrift „die Harmonie
einer edlen Persönlichkeit". Damit ist eine Formel von höchstem Wert
gewonnen. Nur freilich eine so hoch liegende Formel, daß sie erst
durch vermittelnde Gedanken hindurch als Leitformel für pädagogische
Arbeit brauchbar wird; diese vermittelnden Gedanken aber fehlen in
der Denkschrift. Die geistige Bildung soll im Gegensatz zur Fach-
bildung „Allgemeinbildung" sein. Dies Ideal einer allgemeinen Bil-
dung war in der zurücklieg'enden etwa halbhundertjährigen Entwicklung
je länger, je mehr besonders in den öffentlichen Schulen herrschend ge-
worden, so daß die Weimaraner auch hier nur den Inhalt der früheren
Entwicklung formulierten. Der Typus der Allgemeinbildung war dem
Typus entgegengesetzt, der in den Anfängen des höheren Mädchenschul-
wesens (während der letzten Jahrzehnte des 18. und im Anfange des
19. Jahrhunderts) herrschend gewesen war; in dieser Zeit war das Ziel
der Schule eine fachmäßige Heranbildung der Mädchen für ihren Haus-
frauenberuf. Vgl. Wychgram: Geschichte des höheren Mädchenschul-
wesens (in Schmid: Geschichte der Erziehung 5, II), S. 245 fg. Als Motiv
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule. l8l
für die angestrebte Allgemeinbildung be<;eichnete die Denkschrift die ver-
ständnisvolle Teilnahme des Weibes für die höheren Interessen, an die
der Mann sich hingebe. Hier macht sich spürbar, daß der Begriff der
Persönlichkeit nicht genügend entwickelt wurde. Sonst hätte der Zweck
der Allgemeinbildung zunächst in der Persönlichkeit des Weibes gesucht
werden müssen, für das sein Berufsleben als Lebensgenossin des Mannes
nur ein Betätigungsgebiet der Persönlichkeit neben anderen ist. Auch
das muß als ein Mangel der Denkschrift bezeichnet werden, daß zwar
der tief wirkende Einfluß des Weibes auf die Erziehung und damit auf
die Erhaltung und Förderung der sittlichen und geistigen Kräfte der
Nation anerkannt wird, daß aber aus dieser eminenten Kulturaufgabe
der Frau keine normgebenden Bestimmungen für die Gestaltung der all-
gemeinen Bildungsaufgabe abgeleitet werden. Mit Recht lehnte man die
Uniformierung der männlichen und weiblichen Allgemeinbildung ab;
aber man gab keine ausreichenden Bestimmungen darüber, worin nun
eben die weibliche Ausprägung dieses Bildungstypus bestehen solle. Es
fehlen auch genauere Erklärungen über die ,,besondere Begabung" des weib-
lichen Seelenlebens, an dem nur der Einfluß des Gefühlslebens auf das
Urteil hervorgehoben wird. Als Hauptkennzeichen der Bildung galt ihr
nationaler Charakter; zu untersuchen wäre gewesen, ob sich mit diesem
Charakterzuge die zwei als Schiboleth geforderten P>emdsprachen ver-
trugen. Stark betont wurde die wissenschaftliche Natur des Unter-
richts; wollte man hier eine der Knabenbildung „ebenbürtige" Bildung
erreichen, so hätte man sich freilich über die Mittel klar werden müssen,
durch die der Ausfall der Mathematik ausgeglichen werden sollte. Die
„Realien" wurden als Grundlage bezeichnet. Konnten sie das neben den
drei Sprachen? Die Form des Unterrichts sollte „ästhetisch" sein.
Gewiß eine wertvolle, aber doch eine nur teilweise durchzuführende, außer-
dem eine zum „Spielen" im Unterricht verleitende Formel.
In der Frage der Verwendung weiblicher Lehrkräfte sprach sich
die Denkschrift grundsätzlich für das Zusammenwirken von Lehrern und
Lehrerinnen aus (s. o.). In der Bewertung der Durchschnittsbildung der
I-ehrerinnen entsprach das Urteil dem Tatbestande. Dankenswert war
es, wenn die Denkschrift die Verpflichtung des Staates, „wohlaus-
gestattete Seminare" zu fördern und die Prüfungsforderungen scharf zu
formulieren und ihre Einhaltung zu überwachen, nachdrücklich betonte;
ebenso, wenn sie forderte, daß die Prüfung in der ausbildenden Anstalt
erfolge; endlich, wenn sie die Verknüpfung von Seminar und höherer
Mädchenschule empfahl. Daß sie den Unterricht in den wissenschaftlichen
Fächern wissenschaftlich gebildeten Lehrern vorbehielt, war bei der
minderwertigen Vorbildung der Lehrerinnen um so natürlicher, als man
für die höhere Mädchenschule eine „wissenschaftliche" Bildung wollte,
die der der Knaben ebenbürtig war. Wenn man dann aber die Aus-
dehnung der Mitwirkung der Lehrerinnen von „weiterer Erfahrung"
jg, Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
abhängig machte, so konnU^ dies Zuwarten nur dann einen Sinn haben,
wenn man den Lehrerinnen eine andere Form der Vorbildung als die
seminarische cröifnete, die zwar nominell die Lehrbofähigung für höhere
Schulen gewährte, ihrer Natur nach aber nicht zu wissenschaftlichem
Unterricht befähigen konnte. Man lehnte aber in Weimar einen Antrag
Stöphasius auf Errichtung von „Akademieen" für Lehrerinnen ab.
Die Berliner 3. Die Berliner Denkschrift. Die Weimarer Denkschrift rief
jlhrc'i'p?!"" eine gleichfalls den deutschen Staatsregierungen überreichte Gegen-
denkschrift des „Berliner Vereins für höhere Töchterschulen" hervor.
In den beiden Denkschriften stoßen zum Teil prinzipielle Gegensätze
aufeinander. Die Weimarer Denkschrift hatte eine „wissenschaftliche"
Allgemeinbildung besonders im Interesse einer erhöhten Lebensgemein-
schaft zwischen Mann und Weib angestrebt: die Berliner Denkschrift
gewinnt die Gesichtspunkte für die Organisation der Bildung vielmehr
aus dem zukünftigen Berufsleben der Mutter und Hausfrau, dem sie
sogar das zehnte Schuljahr in der Weise widmen will, daß die dem Hause
bereits wieder mit einem guten Teil ihrer Zeit und Kraft zugehörenden
Mädchen in der Schule noch „Kunstgeschichte und klassische Literatur
des Auslandes, Physik und Chemie des Hauses und der Küche, x\nthro-
pologie und Gesundheitslehre, Psychologie und Geschichte der Erziehungs-
kunde, Fröbelsche Beschäftigungsspiele, häusliche Buchführung" treiben.
Dort das Ideal der geistig durchgeschulten, den allgemeinen (über das
Leben im Hause überschießenden) Interessen zugewandte „Gattin", hier
das Leitbild der Mutter und Hausfrau. Beides gefährliche Einseitigkeiten,
da der Beruf der verheirateten Frau nur als ein dreieinheitlicher ge-
faßt werden darf. Ihrem Bildungsideale gemäß mußten die Berliner ein
zehntes Schuljahr, das der allgemeinen Bildung galt, zurückweisen.
Ebenso konnten sie ihre Forderungen an die Wissenschaftlichkeit der
Lehrer erheblich niedriger bemessen als die Weimaraner. Doch forderte
die Berliner Schrift (darin der Weimarer voraus) für die „Oberlehrerinnen"
besondere „Lehrerinnenakademieen"; sie zeigte damit einen Weg, auf dem
für die Oberstufe brauchbare wissenschaftliche Lehrerinnen gewonnen
werden konnten. Den Weimaranern lag der Schwerpunkt der Schule in
der intellektuellen Bildung, den Berlinern in der Erziehung. Diese ver-
langten daher, daß der höheren Mädchenschule der Charakter einer er-
weiterten Familie nicht genommen werden solle. Das Mädchen tritt
hier gleichsam nicht aus dem Bannkreis der Familie heraus: die Schule
empfängt das IMädchen aus der engeren Familie, gliedert es einer er-
weiterten Familie ein und führt es dann in die Familie zurück. Ab-
gesehen von der gefährlichen Enge dieses Erziehungsideals, beruht die
Idee der erweiterten Familie auf einer Fiktion. Die Schule, der die
Schülerinnen nur auf wenige Stunden, und zwar in der streng gebundenen
Situation des Unterrichts, gehören, kann ihre Aufgabe nicht in einem
Kopieren des Familienlebens sehen, sondern in einer planmäßigen Aus-
Tl. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule. l8^
bildung des ihr eigenen Grundverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler;
die unmittelbjire erziehHche Einwirkung der Schule wird immer gering
bleiben; um so größer muß die mittelbare erziehliche Wirkung sein, die
die Schule ausübt, indem sie einerseits der Schularbeit als solcher größt-
mögliche Erziehung.skraft sichert, anderseits das Verhältnis zwischen dem
Schüler und der Ideenwelt schafft und dieser Ideenwelt die Einwirkung
auf den ganzen inneren Menschen im Schüler sichert. — Die Lehrerin
will die Berliner Denkschrift in verstärktem Maße verwandt sehen, und
zwar wegen ihres sicheren pädagogischen Takts und der reicheren „Gabe
des divinatorischen Erfassens der weiblichen Natur".
Das Jahr 1873 brachte der Weimarer Richtung drei wesentliche
Eortschritte: i. gewann sie in der neubegründeten Zeitschrift für
weibliche Bildung in Schule und Haus (Teubner) ein Organ für ihre
Bestrebungen, 2. berief der Minister Falk für den August eine Konferenz
von Mädchenlehrern nach Berlin, und diese Konferenz nahm im wesent-
lichen die Grundsätze der Weimarer Versammlung an, 3. wurde auf der
zweiten Hauptversammlung von „Dirigenten, Lehrern und Lehrerinnen
an höheren Töchterschulen in Deutschland" der „Deutsche Verein von
Dirigenten und Lehrern der höheren Mädchenschulen" gegründet.
4. Die Berliner Augustkonferenz vom Jahre 1873. Bei Die ueriiaer
der Konferenz, bei der übrigens die zugezogenen sechs Leiter öffent- renz vom jähre
lieber höherer Mädchenschulen gegenüber den sieben Vertretern der
Privatschulen in der Minderzahl waren, wurde der „wissenschaftliche"
Charakter des Unterrichts an der höheren Mädchenschule festgehalten
und dadurch der artbildende Unterschied zwischen der höheren Mädchen-
schule und der Mittelschule gewonnen. Auch in der stärkeren Hervor-
hebung der ästhetischen Seite des Unterrichts und in der Erstrebung
der formalen Bildung mittels der Sprachen und der Geschichte wurden
unterscheidende Merkmale gefunden. In der Denkschrift war die Stel-
lung der Frauen zu dem „Geistesleben" der Nation als ein aneignendes
Anteilnehmen gedacht, in der Konferenz wurde man dahin einig, daß die
Frau das Geistesleben der Nation „mit den ihr eigentümlichen Gaben"
fördern solle. — Das einzige wichtigere Gebiet, auf dem die Weimaraner
ihre Meinung nicht durchzusetzen vermochten, war das der Zusammen-
setzung des Lehrerkollegiums; hier geriet die Konferenz in einen
Selbstwiderspruch. Nachdem man soeben die höhere Mädchenschule von
der Mittelschule durch den wissenschaftlichen (besonders auf der Oberstufe
hervortretenden) Charakter des Untercichts unterschieden hatte, durfte die
Prüfung für Mittelschulen nicht die Lehrer zum Unterricht in den oberen
Klassen berechtigen. Auch durfte nicht das Rektoratsexamen zur Lei-
tung von höheren Mädchenschulen befähigen. — Die von einer Seite im
Interesse der Erziehung erhobene Forderung einer weiblichen Spitze an
der Mädchenschule wurde von der Mehrheit abgelehnt. Im übrigen sollte
die Prüfung für Vorsteherinnen in ähnlicher Weise geordnet werden wie
i84
Hugo Gaudig: Höheres Madclienscluilwcscn.
die Rektoratsprüfung. Für die Lehrerin forderte man eine verbesserte
seminarische Ausbildung, die lieschränkung- der Stundenzahl auf i8 bis
20 Stunden und damit den Schutz gegen die (infolge des übergroßen An-
gebots an manchen Privatschulen bestehende) Ausbeutung der Lehre-
rinnen, ferner bessere Besoldungs- und Pensionierungsverhältnisse. Eine
höhere als die seminarische Ausbildung wurde nicht ins Auge gefaßt. —
Die Berliner Konferenz gab den Ansichten der Weimaraner einen
hohen Geltungswert; so erklärt sich, daß die nun einsetzende Ent-
wicklung im Zeichen der ersten Versammlung in Weimar und der
Denkschrift steht.
Die Verfassung, die sich der Verein gab, war insofern glücklich,
als der Gründung von Zweigvereinen in den einzelnen Provinzen und
Ländern der größte Wert beigelegt wurde. So gewann man zunächst
eine naturgemäße Gliederung. Indem man dann aus den Wahlen der
Zweigvereine den „Weiteren Ausschuß" hervorgehen ließ, dessen Geneh-
migung entscheidende Beschlüsse der Hauptversammlungen bedurften,
und indem man den leitenden Vorstand, den „Engeren Ausschuß", durch
den Weiteren Ausschuß wählen ließ, machte man den Verein in gewissem
Grade unabhängig von den in ihrer Zusammensetzung stark wechselnden
Hauptversammlungen. Gut nennt Sommer diese Verfassung „aristo-
kratisch-demokratisch" („Die Entwicklung des höheren Mädchenschul-
wesens" in Wychgrams Handbuch). Im übrigen nahm der Verein in sich
hinein die Gegensätze der Staatszugehörigkeit, der akademischen und
seminarischen Lehrerbildung, der Lehrer und Lehrerinnen, vor allem der
öffentlichen und privaten Schulen. Diese Gegensätze hemmten vielfach
die Aktionskraft des Vereins und führten zu inneren Kämpfen. Doch
wird man anderseits anerkennen müssen, daß die Kraft der einigenden
Ideen groß genug war, um dem Vereine den Fortbestand und eine reiche
Wirkung zu sichern.
In den nun folgenden Jahrzehnten ordneten eine große Zahl von
deutschen Bundesstaaten ihr höheres Mädchenschulwesen im Sinne der
Weimarer Beschlüsse. Vergl. Nöldeke : Von Weimar bis Berlin S. 30 fg.
In Preußen dagegen folgte auf die schönen Anfänge des Jahres 1873 ein
peinlicher Stillstand. Die einzige größere Aktion der Regierung, der
„Normtülehrplan für höhere Mädchenschulen", scheiterte an der vernich-
tenden Kritik der Weimaraner. Näheres bei Nöldeke a. a. O. S. ^s %•
und Sommer a. a. O. S. 33 fg.
Eine Frage von größter Trag\veite war die Frage der Stellung der
Lehrerinnen im Kollegium der höheren Mädchenschulen. Der entschei-
dende Streitpunkt trat bei der fünften Hauptversammlung des Vereins in
Köln (1876) mit aller Schärfe heraus. In der These ... „Auch zu dem
Unterrichte in den oberen Klassen ist die Mitwirkung wissenschaftlicher
Lehrerinnen unentbehrlich" wurde das Wort „unentbehrlich" zum Gegen-
stand leidenschaftlicher Kämpfe, deren Ergebnis das Kompromißwort „wün-
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule.
185
sehenswert" war. Bei der Normierung der Ansprüche, die an die auf der
Oberstufe unterrichtende Lehrerin zu stellen seien, drang gegen mancherlei
Herabdrückungsversuche schließlich der Antrag durch, der die Forderungen
auf das von den Realschullehrem erster Ordnung geforderte „Maß von
Kenntnissen" normierte. So wahrte der Verein den wissenschaftlichen
Charakter des Unterrichts an der höheren Mädchenschule; freilich war
der Antrag z. Z. eine Prohibitivbestimmung, da ein Weg für die Erlangung
der geforderten Befähigung nicht vorhanden war.
5. „Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung" von „nie h»iiprc
H. Lange. In der Folgezeit wird für unsere Frage von weittragender Be- von "^h! Lange"
deutung eine Schrift von H. Lange: „Die höhere Mädchenschule und ihre
Bestimmung", die Begleitschrift zu einer Petition an das preußische Unter-
richtsministerium und das preußische Abgeordnetenhaus. Die Petition ent-
hielt die ihrer Natur nach eng miteinander verbundenen Anträge auf eine
größere Beteiligung der Lehrerinnen an dem wissenschaftlichen Unterricht
auf der Mittel- oder Oberstufe der öffentlichen höheren Mädchenschulen
und auf Gründung von staatlichen Ausbildungsanstalten für wissenschaftliche
Lehrerinnen in den Oberklassen. Begründet wurden diese Anträge durch
eine Kritik der Ergebnisse des Weimarer Systems und dieses vSystems
selbst. Die Kritik der Ergebnisse wird in den zwei Sätzen zusammen-
gefaßt: I. Die höheren Mädchenschulen bilden und erziehen nicht, 2. sie
überbürden mit positivem Stoff, ohne das Sclbstdenken ernsthaft in An-
spruch zu nehmen und ein fortleitendes Interesse zu erwecken; ist der
gedächtnismäßig angeeignete Stoff dem Gedächtnis entschwunden, so
bleibt nur das dünkelhafte Gefühl des Gehabthabens und der Kritikfähig-
keit. Die didaktische Unzulänglichkeit erklärt die pädagogische zu
einem Teil; zum anderen wird der erziehliche Mißerfolg aus der Unbe-
kanntschaft der Lehrer mit dem Gedanken- und Pflichtenkreis der Mäd-
chen abgeleitet. Die Überbürdung aber hat ihren Grund „in dem zu um-
fassenden Lehrprogramm der Augustkonferenz, in dem Bestreben des
Abschließens und Fertigmachens"; „die tiefere Ursache" dieser Erschei-
nungen aber erblickt die Verfasserin in der Grundanschauung der Wei-
maraner von der Frau; nach dieser Anschauung solle die Frau nicht um
ihrer selbst willen, sondern um des Mannes willen gebildet werden; dem-
gemäß sei „die geistig unselbständigste Frau" die beste, da sie am ersten
dafür Gewähr biete, den Interessen des Mannes Wärme des Gefühls ent-
gegenzubringen. Unter der falschen Richtung der Schulen leide aber
auch die werdende Generation, deren Erziehung die große Kulturaufgabe
der Frau sei; denn nur eine sittlich und geistig selbständige Persönlich-
keit sei zur Erziehung befähigt. Positiv fordert die Verfasserin statt des
bisherigen Prinzips des Abschließens und Fertigmachens das der „Kraft-
bildung". Im Anschluß an die Schule soll die Möglichkeit der Fort-
bildung gegeben werden; im Vordergrund sollen dabei Literatur und
Geschichte, Pädagogik und Naturwissenschaften, sowie Arbeit im Kinder-
j8(j Hi'c.o Gaudio: Höheres Mädchensihiilwescn.
garten stehen. Die zweite positive Forilcrung' der Schritt q(>ht dahin, in
der höheren Mädchenschule den Frauen den entscheidenden Einfluß
zu g-c\vähren, indem man ihnen die ethischen Fächer, in denen erzogen
werden soll (Religion, Deutsch, Grcschichte), und die Schulleitung- über-
trägt. Die Begründung dieser F'orderung ist folgende: i. „Die Frau bringt
den Mädchen mehr Liebe und mehr Interesse entgegen als der Mann";
2. hat die Frau „ein ganz anderes Verständnis für die Mädchen als der
Mann". („Nichts ist für eine erfahrene Frau leichter zu ckirchschauen als
die Seele eines jungen Mädchens.") 3. Der Lehrerin steht eine ganz
andere Art des Verkehrs mit dem Mädchen frei; der Verkehr zwischen
Lehrern und Schülerinnen kann Gefahr laufen durch die Einwirkungen
der Andersgeschlechtigkeit von Erzieher und Zögling. 4. Nur die Frauen
vermögen zu „echt weiblicher Sitte" zu bilden. 5. Die Frauen vermögen
besser als der Mann die ethischen Werte der Lehrstoffe zur Wirkung zu
bringen und warme Religiosität mit ins Leben zu geben.
Die Motivierung des zweiten Antrags der Petition (Beschaffung von
Bildungsanstalten für Lehrerinnen an Oberklassen) wird wiederum kritisch
eingeleitet: der Lehrerin fehlt zur Zeit die wissenschaftliche Bildung, deren
sie zur Erziehung heranwachsender Mädchen bedarf; die Seminarbildung
hat sie nicht zum Studium befähigt. Sodann widerlegt die Schrift die
Bedenken gegen eine gründlichere Ausbildung der Frau, die aus der
Minderwertigkeit ihrer geistigen Begabung, aus der ihrer Gesundheit
drohenden Gefahr und aus der Schädigung ihrer „Weiblichkeit" hergeleitet
werden. Für die wissenschaftliche Bildung der Lehrerin lehnt die Ver-
fasserin die Universitäten ab, weil ihnen Wissenschaft „Selbstzweck" sei,
und sie „die Befähigung zu der höchsten Stufe wissenschaftlicher Forschung"
geben wollten; statt der Universität empfiehlt sie mit einem Internat ver-
bundene, unter Frauenleitung stehende „Hochschulen", in denen die im Mittel-
punkt der Ausbildung stehenden ethischen Fächer gleichfalls Frauen
übergeben wären. Als Unterrichtsform wird neben die „Vorlesung" die
„Unterrichtsstunde" gestellt. Als Ziel der Ausbildung gilt das Bekannt-
machen mit den Methoden, die den Erwerb selbständigen Wissens ermög-
lichen, die Vermittlung der Quellenkenntnis und die Bildung des eigenen
Urteils. Die Kursusdauer ist dreijährig; den Abschluß bildet ein von
Lehrern der Anstalt abzunehmendes, auf die Ermittlung der inneren Durch-
bildung gerichtetes Examen.
Beurteilung der jn dieser vSchrift sind Gedanken der tüchtigsten Vorkämpferinnen der
Frauenbildung (Betty Glcim, Tinette Homberg, Luise Büchner, Rosette
Niederer) verwertet; zugleich ist sie vielfach der Ausdruck der in den
Kreisen der Frauenbewegung herrschenden Anschauungen; endlich haben
die hier ausgesprochenen Meinungen in der Folgezeit großen Einfluß, teil-
weise eine axiomatische Gültigkeit gewonnen. — Bildung der Frau um
des Mannes willen — Bildung der Frau um ihrer selbst willen, so formu-
liert sich der Gegensatz, der nach H. Lange zwischen den Weimaranern
II. Zur Geschichte der höheren Mädchenschule. igy
und ihr besteht. Sie wäre völlig im Recht gewesen, wenn sie das Bildungs-
motiv der Weimaraiior als einseitig abgelehnt hätte; sie — und ihre zahl-
losen Xachsprccherinnen — sind im Unrecht, wenn sie dies Biklungsmotiv
ganz ausschalten oder herabsetzen: die Bildungsgemeinschaft desWeibes
mit dem Manne muß für jeden Erzieher, dem die Ehe als Lebensgemein-
schaft zweier sittlichen Personen ein Grundpfeiler unseres Gesellschafts-
gebäudes ist, als ein normgebendes Ziel gelten. Daß die Weimaraner es
anerkannten, der Mann bedürfe der Bildungsgemeinschaft mit seinem
Weibe, ist einer ihrer Ehrentitel. In Anerkennung dieses Bedürfnisses suchten
sie die weibliche Bildung aus der Enge der „Töchterschulbildung" in die
Freiheit einer „wissenschaftlichen" Allgemeinbildung zu führen, die ihre
inhaltlichen Bestimmungen in sich selbst und nicht in den Wünschen des
^lanncs hat. Mit Recht betont H. Lange — anders als die Weimaraner —
die Erziehungsarbeit der Frau als große Kulturaufgabe, von der aus die
Erziehungsarbeit an der zukünftigen Frau maßgebend beeinflußt werden
müsse; aber „die" Aufgabe, die Aufgabe schlechthin ist es nicht. Sie ist
auch in der Ehe gar nicht außerhalb der Lebens- und Bildungsgemein-
schaft mit dem Manne zu lösen. — „Um des Mannes willen" — „um ihrer
selbst willen" : dort erzwungene Hingabe, hier egoistische Selbsterziehung.
Die rechte Formel kann nur in der Idee einer Persönlichkeit gefunden
werden, die auch im selbstlosen Handeln sich selbst auswirkt und in der
Selbstgestaltung die Zwecke der anderen (des Mannes, der Kinder) verfolgt.
— Im Prinzip richtig, wenn auch stark übertrieben, ist das, was H. Lange
über die Unterrichtsergebnisse der höheren Mädchenschulen sagt. Irrig
ist aber der konstruierte Zusammenhang zwischen diesen Ergebnissen und
der Grundanschauung der Weimaraner über die Frau, da diese ihr Inter-
esse an der denkenden Frau scharf betont hatten; irrig ist auch die
Meinung, das durch die Augustkonferenz zu reich bemessene Pensum trage
die Schuld; allenfalls die Anforderungen in den Literaturen gingen zu weit
Die Schuld trug — die Arbeitsweise der höheren Bildungsanstalten im
allgemeinen, wie sie sich namentlich unter dem Einfluß der Prüfungen aus-
gebildet hatte. Positives Wissen, nicht positives Können war das Ziel,
Aufspeicherung von Kenntnissen, nicht Bildung geistiger Kraft. Die
Weimaraner hatten die Schulung der Geisteskräfte stark betont. Um aber
jenes fortleitende Interesse und jene in selbsttätiger Fortbildung sich be-
währende „Kraftbildung" zu erzielen, hätten sie nicht mehr und nicht
minder leisten müssen als — eine Umwälzung des Unterrichtsverfahrens
an den höheren Schulen. Würde die Frauenbewegung nach dem grund-
legenden Prinzip „Kraftbildung" den Unterricht in der höheren Mädchen-
schule haben gestalten helfen, so hätte .sie sich ein großes Verdienst
erworben; statt dessen wird die Neigung herrschend, die höhere
Mädchenschule nach dem Muster der Knabenanstalten umzubilden; da-
mit aber ist der eminent fruchtbare Gedanke der Langeschen Schrift auf-
gegeben.
iSS Hur,o GAunio: Ilölirrcs Mädchenscliulwescn.
Die erste Hauptforderung- der Schrift, den Frauen die erste Stelle
bei der Bildung der Mädchen einzuräumen, baut H. Lange vor allem auf
der Behauptung auf, der Frau eigne ein tieferes Verständnis für das
Mädchen als dem Manne. „Frau" — „Mann": dieser abstrakte Geschlechts-
gegensatz ist bezeichnend für die Behandlung der Frage. Man übersieht,
daß dieser Gegensatz, da in Übereinstimmimg' mit der Weimarer Denkschrift
unverheiratete Lehrer gemeinhin auszuschließen sind, sich in den Gegensatz
zwischen unverheirateter Lehrerin und verheiratetem Lehrer auflöst, daß mit-
hin der Lehrerin, die vielfach außer dem Familienzusammenhange leben muß,
der Lehrer gegenübersteht, der in der Familie ein sich immer vertiefendes
Verständnis für die innere Natur der Familie, vor allem auch für das
Weib, das Kinder gebiert und erzieht, gewinnen wird, der als gereifter
Mann die Entwicklung des Seelenlebens eigener Kinder im vorschul-
pflichtigen Alter studieren und das schulpflichtige Kind nach seinem ge-
samten Körper- und Seelenleben beobachten kann. Und noch eins sei
bemerkt: In unserer Zeit, der Zeit scharfsinniger psychologischer Be-
obachtung und Analyse, tut man gut, nicht aus der Mädchenseele ein
Mysterium zu machen, das nur „divinatorisch" und nur par pari erkannt
werden kann. Wohl tut eindringliches psychologisches Studium und tüch-
tige Übung im Beobachten des seelischen Lebens dringend not; aber
Lehrern und Lehrerinnen in gleicher Weise. Beim Gewinnen der charak-
terologischen Urteile wird das eine Geschlecht den Vorzug schneller
Auffassung des Materials, das andere den Vorzug besonnener Deutung
haben.
Was H. Lange zur Verteidigung des Studiums der Lehrerinnen sagt,
ist inzwischen durch die Tatsachen erhärtet. Die Wege zur Vorbildung
der wissenschaftlichen Lehrerin, die H. Lange vorschlägt, ist man in vielen
Stücken in der Folgezeit nicht gegangen: Mit Recht ist die englische
Einrichtung des Internats nicht aufgenommen: Der Lehrerin, die in das
Verständnis von Welt und Leben einführen soll, gebührt die freie Be-
wegung im Gegenwartsleben. Dagegen ist die Nichtbeachtung zweier
anderer organisatorischer Gedanken ein ernster Verlust. Mit vollem
Recht forderte H. Lange in Übereinstimmung mit Cauer einen der weib-
lichen Natur gemäßen, nicht durch die Stoffe, sondern durch die Methode
von dem Bildungsgang der Männer unterschiedenen Bildungsgang, dessen
Ergebnis keine „abgeschwächte Kopie", sondern ein ursprünglicher, eigen-
artiger geistiger Typus, der Typus der wissenschaftlich gebildeten Frau,
sein würde. Ebenso war es ein wertvoller Gedanke, daß als Ziel der
Arbeit der Erwerb der Methoden, zu selbständigem Wissen zu gelangen,
hingestellt und demgemäß die „Vorlesung" als vornehmste Lehrform ab-
gelehnt wurde. Wer für die Schule bereits „Kraftbildung" fordert, kann
naturgemäß für wissenschaftliche Studien nur ein Ziel kennen: Bildung
wissenschaftlicher Kraft durch wissenschaftliches Arbeiten.
Die Gedanken der Petition fanden in der Folgezeit eine starke Ver-
II. Zur Geschichte der höheren Miidchenschulc. igg
tretung ii\ dem 1900 gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-
verein, dessen allgemeine Forderungen auf eine stärkere Beteiligung der
Lehrerinnen an der Volksbildung und die dazu erforderliche bessere Aus-
bildung gehen.
Das Jahr 1894 schien durch die gesetzliche Regelung des höheren
Mädchenschulwesens in Preußen für die Geschichte des höheren Mädchen-
schuhvesens epochemachend werden zu sollen. In Wahrheit bedeuten
die Bestimmungen vom 31. Mai 1894 eine schwere Hemmung in der Ent-
wicklung des höheren Mädchenschulvvesens. Im schroffen Gegensatz zu
der Tatsache, daß eine große Zahl namentlich öffentlicher höherer Mäd-
chenschulen einen zehnjährigen Kursus hatte, im strikten Widerspruch
zu der von Anfang an durch den Allgemeinen Deutschen Verein fest-
gehaltenen Forderung (s. o. S. 176), in völliger Verkennung des hervor-
ragenden Wertes eines 10. Schuljahres, ohne das eine Vertiefung in die
für den Frauengeist besonders wertvollen Bildungsstoffe und Erziehung
der Mädchen zu selbsttätiger Bildungsarbeit ein Unding ist, — im Wider-
spruch endlich mit dem, was die Frauenbewegung fordern mußte, legten
„die Bestimmungen" den neunjährigen Kursus ;ds das Normale fest, in-
dem sie dabei den bereits bestehenden zehnstufigen Anstalten erlaubten,
das Pensum der drei letzten Jahre auf vier zu verteilen. In dieser Nor-
mierung gelangten wiederum Berliner Einflüsse zur Wirkung, wie sie be-
reits in der Berliner Denkschrift (s. o.) und bei dem Normalplan v. J.
1886 wirksam gewesen waren. Die Motivierung der Verkürzung des
Kursus mit der „starken Anforderung an die geistigen und an die körper-
lichen Kräfte" während der neun Schuljahre stand obenein im Wider-
spruch mit der späteren Erklärung, die Bestimmungen hätten die neun-
jährige Kursusdauer vorgeschrieben, damit die Schülerinnen „zeitig genug"
in bestimmte Berufsbildung übergehen könnten.
An die Stelle eines vollen, die gesamte Schulentwicklung krönenden
10. Jahres setzten die Bestimmungen „wahlfreie Kurse"; diese Einrichtung,
in der die ungleich wertvollere Idee des Fortbildungsjahres der Berliner
Denkschrift in verschlechterter Form wiederkehrt, war nie lebensfähig; sie
war nichts als ein stilwidriges Ornament am Bau der höheren Mädchen-
schule. — Daß eine Schule, die nur um ein Jahr mehr Bildungszeit hat,
als die gehobene Bürgerschule, nicht als höhere Lehranstalt anerkannt
wurde, war folgerichtig, bedeutete aber für die höhere Mädchenschule
den Verzicht auf eine sehr wichtige Entwicklungsbedingung. Die Be-
stimmungen waren ohne eine zulängliche Verwertung des fachwissen-
schaftlichen Rats entworfen: das Urteil der Fachvertreter über die Kursus-
dauer und damit über die Bildungshöhenlage in den Bestimmungen war
scharf ablehnend.
Anzuerkennen war im Lehrplan und den methodischen Bemerkungen
(besonders bei den Fremdsprachen, aber auch sonst) die Berücksichtigung
der neueren Didaktik. Die Gesamtanlage des Lehrplans entsprach der
jQQ Hugo Gauuu; : Höheres Mädchenscluilwcsen.
Weimarer Denkschrift; so zeigt er auch die geringe Betonung der Mathe-
matik und der Naturwissenschaften, den „ästhetischen" Charakter.
Den Lehrerinnen brachten die Bestimmungen außer dem verlorenen
Posten der „Gehilfin" des Direktors die Aussicht auf stärkere Verwendung
bis zur Oberstufe und 'die Einführung einer wissenschaftlichen Prü-
fung für Lehrerinnen. Zulassungsbedingung war eine fünfjährige Unter-
richtspraxis und ein zwei- bis dreijähriges Studium an der Universität oder
in besonderen Kursen. Erhöht und den Anforderungen an Oberlehrer
wesentlich angenähert \\jurde die Prüfungsordnung im Jahre igoo, und
zwar unter dem Einfluß Stephan Wätzoldts, des regen Förderers intensiver
Frauenbildung-.
In den letzten Jahrzehnten ist die Diskussion über die höhere Mädchen-
schule stark beeinflußt durch die vom Allgemeinen Deutschen Frauen-
verein, besonders aber (seit 1888) von dem Verein „Frauenbildung-Frauen-
studium" geförderte Bewegung zugunsten des akademischen Studiums der
Frauen. Solange nur dem Gymnasiasten die völlig freie Studienwahl
offenstand, war das Abiturientenexamen des Gymnasiums das Ziel der
unterrichtlichen Veranstaltungen zugunsten der Mädchen, die studieren
wollten; seit der Gleichstellung aller drei höheren Knabenschulen hat
man sich meist für realgymnasiale Vorbildung entschieden; neuerdings
wird auch der Typus der Oberrealschule in Betracht gezogen. Der An-
schluß an die höhere Mädchenschule ist zweifacher Art: bei den „Kursen",
die drei bis vier Jahre umfassen, vollzieht er sich an die volle neunstufige
Schule, bei den Mädchengymnasien an die Mittelstufe (das 6. oder 7. Schul-
jahr). Die Anhänger und Anhängerinnen der Koedukation verzichten
ganz auf die Vorarbeit der höheren Mädchenschule. Für diese ganze
Strömung ist einerseits eine scharfe Kritik der höheren Mädchenschule
und andererseits ein Mangel an schöpferisch -organisatorischen Gedanken
bezeichnend.
in. Das Mädchenschulwesen der Gegenwart.
Schwierigkeit I. Prinzipielles zur Begründung- des Erziehungsideals. Über
"die\B'he"e " den Kulturwert und die Kulturaufgabe der höheren Mädchen-
Mädchenschule. . ,. . ,.. ^-^ tt^m-i
schule m der Gegenwart zu urteuen, ist schwierig. Das Urteil über
ihren Wert ist schwer zu gewinnen, weil einerseits das Maß ihrer Lei-
stungen schwer festzustellen ist, und weil andrerseits über den Maßstab
für die kulturelle Bewertung dieser Leistungen zurzeit keine Überein-
stimmung besteht. Der höheren Mädchenschule fehlt jene Veranstaltung,
die zwar in ihrer gegenwärtigen Form äußerst verbesserungsbedürftig ist,
die aber doch im gewissen Sinne zur Feststellung der Leistungen einer
Schule sich eignet: die Abschlußprüfung. Wichtiger ist noch das fast
gänzliche Fehlen eines "zweiten Prüfsteins der Leistungen, die Bewährung
in Berufen, die sich auf der von der Schule übermittelten Bildung auf-
bauen und so für oder gegen die Tüchtigkeit der Schularbeit Beweis er-
III. Die Gegenwart, i. Prinzipielles zur Begründung des Erzichungsideals. lui
bringen. Sehr erschwerend kommt noch hinzu, daß „höhere JMädclien-
schule" im Grunde kein Individualbegriff, der Begriif eine.s bestimmten
Schulindividuums, sondern ein Sammelbegriff ist, der in sich Schulgestal-
tungen schließt, die nach der Zahl der Schuljahre, der Zahl der selbstän-
digen Klassen, dem Lchrplan, der Zusammensetzung der Unterrichts-
kürper, der staatsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Stellung ein-
schneidende Verschiedenheiten aufweisen.
Der Urteiler und der Urteileriuncn, die ihr Urteil über die höhere
Mädchenschule abgeben, sind der Zahl nach, vor allem aber nach ihrer
Stellung im Kulturleben der Gegenwart sehr viele. Charakteristisch ist in
der Gegenwart für die Beurteilung der Schule die „Öffentlichkeit" der
Urteile. Diese Öffentlichkeit hat die Beurteilung durch die „Frauen-
bewegung" gewonnen, die naturgemäß ein großes Interesse an der Schule
nehmen mußte, die bisher fast ausschließlich den Frauen eine höhere Bil-
dung vermittelte. Die Beurteilung der höheren Mädchenschule in öffent-
lichen und in Vereinsversammlungen, auch in solchen mit agitatorischem
Charakter, ist eine Zeiterscheinung. Die Verhandlungen in den Parlamenten
endlich bringen die Beurteilung vor die breiteste Öffentlichkeit.
Die Maßstäbe des Urteils sind sehr verschieden. Nicht nur über das
Maß, sondern auch über die Art der Forderungen, die an eine höhere
Frauenbildung zu erheben sind, herrschen die größten Meinungsverschieden-
heiten. Der letzte Grund dieser Verschiedenheiten liegt in der Verschie-
denheit des Frauenideals, das als Leitbild für die Urteile der einzelnen
Gruppen bestimmend ist. Nach dem Ideal der Frau formt sich natur-
gemäß das Ideal der Frauenbildung. Von diesem Gesichtspunkt aus sind
die Kämpfe um die Frauenbildung zu verstehen. Die Leidenschaftlichkeit
dieser Kämpfe ist eine signatura temporis; unsere Zeit bekundet sich in
diesen Kämpfen als eine Zeit der Umbildung der Kulturideale.
Noch auf ein Moment sei hingewiesen, das bedacht sein muß, wenn
man zu einem Urteil über die Beurteilungen der höheren Mädchenschule
kommen will: Unsere Zeit sucht nicht nur ein neues Ideal der Frauen-
bildung, sondern ein Ideal der Bildung überhaupt. Die Unzufriedenheit
mit den höheren Schulen, die man als Schulmann nicht wegleugnen kann,
ist Symptom für das Ringen unserer Zeit nach neuen Bildungszielen,
Bildungswegen, Bildungsanstalten. Das Neben- und Ineinander der beiden
Strömungen muß sorgfältig untersucht werden.
Um einen Ausgangspunkt für die Untersuchungen über die Kultur- D" Verlangen
Stellung der höheren Mädchenschule zu gewinnen, weise ich auf eine liehen. Leben ai.
.große Sehnsucht hin, die unsere Zeit beherrscht, und in der sich alle J^'^r^'unre"" '
die einig wissen, auf deren Zusammenwirken man im Interesse idealer
Emporbildung Wert legen muß; ich meine die Sehnsucht nach Persön-
lichkeit, nach Persönlichkeiten. An dem Begriff „Persönlichkeit",
einem WertbegrifF allerhöchster Ordnung, kann ein Richtmaß gewonnen
werden, wie wir es für die Beurteilung der verworrenen Frage der Frauen-
JQ2 Hugo Gaudig: Höheres MSdchcnscliulwcsen.
bildung gebrauchen; er wird zur Wegscheide werden, an der sich die
Meinungen trennen.
Die Sehnsucht nach Persönlichkeit erklärt sich aus dem die nun ab-
laufende Kulturperiode kennzeichnenden Mangel an persönlichem Wesen
und der von der heraufsteigenden Kulturperiode erhobenen Forderung persön-
lichen Seins. Das vorige Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte kennzeichnet
sich durch eine außerordentliche Steigerung der äußeren Kulturgüter und des
intellektuellen Besitzes; jene verdanken wir dem unerhörten Aufschwung der
Technik, diese dem erstaunlichen Aufblühen der Wissenschaften. Aber
sowohl die äußeren wie die geistigen Kulturgüter schädigten das Personen-
leben in gefährlicher Weise: der Erwerb dieser Güter, besonders der
ersteren, nahm den Menschen so in Beschlag, daß ihm für die Entwicklung
und Pflege seiner Persönlichkeit nicht Zeit noch Kraft blieb; er wurde
ein Diener der Kulturgüter, deren Herr er sein sollte. Wie der Erwerb
das persönliche Leben schädigte, so der Genuß; auch hier kein freies
Verfügen im Dienste persönlichen Lebens, sondern ein Abhängigsein von
dem, was höherem Zweck dienen soll. Aber nicht nur die äußeren Güter
wurden nicht angeeignet (assimiliert), auch der geistige Erwerb des Jahr-
hunderts. Die Wissenschaft warf eine Fülle von Stoff in die Köpfe, der
gleichfalls nicht innerlich, nicht persönlich assimiliert wurde. So ist der
Typus des Menschen, der mehr Kulturgüter in sich aufnimmt, als er per-
sönlich verarbeiten kann, charakteristisch für das vergangene Jahrhundert.
Das neue Jahrhundert fordert nun von den die Kultur tragenden
Ständen Persönlichkeit: persönliche Kultur im Gegensatz zu der Massen-
kultur, wie sie der empordrängende vierte Stand erstrebt. Will der dritte
Stand seine innere Überlegenheit über den vierten bewahren, so muß er
diesem das Drängen nach dem Genuß der Kulturgüter überlassen und
selbst zur innerlichen Verarbeitung der Kulturg-üter fortschreiten.
Die Persönlich- Die Karikatur der Sehnsucht nach Persönlichkeit ist das Verlangen,
^Normen.'" „slch auszulebcu". Bei diesem Verlangen wird die Richtung, in der sich
das Individuum auslebt, durch die zufällig gegebenen Strebungen bestimmt.
Da, wo es zu persönlicher Gestaltung gekommen ist, vollzieht sich das
Leben nach einem Ideal des eigenen Wesens. Dieses Ideal ist nicht das
Lebensgesetz des „empirischen" Ichs; es setzt zwar die innerlichste Kenntnis
der eigenen Individualität und ihrer Kräfte voraus, aber es ist aus der
Beziehung dieser Individualität auf überindividuelle Normen entstanden.
Der Mensch, der sich selbst zur Persönlichkeit (zum Selbstsein) gestalten
will, findet sich einer Welt von Normen gegenüber; Normen für sein
Handeln, Normen für sein Urteil, Normen für sein Fühlen. Glaubenslehre,-
Ethik, Ästhetik, Diätetik, Politik und sonstige Normwissenschaften formu-
lieren ihre Normen; für alle Berufsarbeit, freie und unfreie, gibt es kunst-
technische Normen; dazu kommen die nicht formulierten Normen, die in
den Parteianschauungen, der Standessitte, der öffentlichen Meinung, der
Mode usw. verborgen liegen. So verschieden die Normen von vornherein
m. Die Gc-jenwart. i. Prinzipielles zur Begründung des Erziehungsideals. ig^
an Wert und Gültigkeit sind, ohne eine grundsätzliche Auseinandersetzung
mit diesen Normen ist die Formung eines Persönlichkeitsideals nicht denk-
bar, wie denn auch die weitere Gestaltung des persönlichen Lebens immer
wieder zu solcher Auseinandersetzung führt. Besonders bedeutsam ist die
sittliche Seite des Persönlichkeitsideals: die sittlichen Normen haben un-
bedingt verpflichtenden Charakter; nur eine unsittlich sich bestimmende
Persönlichkeit vermag sich ihrer normierenden Kraft zu entziehen. Aber
die Normierung ist abstrakt, und damit ist dem Einzelnen die Möglich-
keit eines sittlichen Personenlebens gegeben. So fordert die Ethik die
Entfaltung der Kräfte in einem zusammenhängenden Lebenswerk; die Be-
stimmung dieses Lebenswerks, des Berufs, ist Sache der Selbstbestimmung
des Einzelnen, nur daß diese Selbstbestimmung so geschehen muß, daß
ein Höchstmaß sittlichen Personenwertes sich ergibt. Den ethischen
Normen entsprechen die kunsttechnischen. So gibt es z. B. für die Berufs-
arbeit des Lehrers kunsttechnische Erziehungs- und Unterrichtsnormen,
denen sich der Lehrer unterwerfen muß, falls er nicht eine minderwertige
Arbeit liefern will; wenn aber diese Normen auf das Einzelne gehen,
so hat er das Recht der Persönlichkeit, sie zu verwerfen. Dies Recht
der Persönlichkeit nimmt zu, je mehr man sich dem Gebiete des Geschmacks,
der Werturteile nähert.
Um ein ausgestaltetes Personenleben ist es etwas Großes. In der Wert der
011 Persönlichkeit.
Persönlichkeit ist der Mensch zu semem wahren Selbst gekommen, zur
Verwirklichung des Wertvollen an ihm. Was er aber ist, das ist er zwar
mit Hilfe anderer, aber nicht durch andere, sondern durch sich selbst
geworden. Er ist nicht ein Produkt von zufälligen Wirkungen, die ihn
trafen; er hat nur den Mächten "die Einwirkung gestattet, die er wirken
lassen wollte. Nun ist er seiner sicher und gewiß. Sein Geistesleben
ruht in sich selbst, fest gefügt und gegen Verschiebungen seines Gefüges
durch Druck von außen wohl gesichert; in seiner Gesinnung ist er unab-
hängig; in seinem Wollen und Handeln frei. Für die Werte des Lebens
hat er einen sicheren Maßstab; in Fragen sittlicher Beurteilung ein zu-
verlässiges Gewissen. Von seinem Können und Wesen besitzt er ein
rechtes Selbstwertgefühl. Sein Tun ist kein unpersönliches Wirken, son-
dern ein Handeln mit ausgeprägtem Persönlichkeitszeichen.
Da aber das Persönlichkeitsideal, das hier gezeichnet ist, sittliche
Natur hat, so ist auch dem vorgebeugt, daß das „Selbstsein" in ein
Für sichsein ausartet und die Selbstdurchsetzung die persönlichen Rechte
der anderen mißachtet. Das Selbstsein erscheint vielmehr als Vorbedingung
für die Selbsthingabe nach Wieses schönem Wort: „Wie kann ich mich
hingeben, wenn ich mich nicht besitze?" Nur die Art von Selbstlosigkeit
ist allerdings durch deis Persönlichkeitsideal ausgeschlossen, bei der das
Selbst zugrunde geht; ein Schicksal, das viele Frauen trifft.
Die Betätigungsgebiete des persönlichen Lebens sind i. das DieiictätiKunK«-
'^ ° ° '^ . gebiete pcrsön-
Leibes- und Seelenleben des Menschen; 2. das Gebiet seiner Kulturarbeit; liehen Leben».
Diu tCuLtUK DER GeGENWAKT. I. Z. 13
jq^ Hugo Räudig: Höheres Mädchenschulwesen.
3. das Zusammenleben der Menschen a) im allgemeinen, b) in den ein-
zelnen Gemeinschaftsformen (Familie, Freundschaft, Gesellschaft, Volk,
Staat); 4. das Verhältnis zur Gottheit. Von besonderer Wichtigkeit ist
die gesellschaftliche Form, in der der Mensch seine Kulturarbeit voll-
bringt, der Beruf; denn da der Beruf in der Gegenwart meist die Haupt-
kraft und die Hauptzeit in Anspruch nimmt, so ist er das Hauptgebiet,
auf dem sich persönliches Leben betätigen kann. Doch läßt unsere Auf-
stellung über die Betätigungsgebiete des persönlichen Lebens bereits er-
kennen, daß wenigstens eine Vollpersönlichkeit sich nicht nur im Beruf
betätigen darf.
So sehr übrigens auch betont werden muß, daß persönliches Leben
in jenen Gebieten sich zu betätigen hat, so muß doch anerkannt werden:
das Maß, in dem sich die einzelnen Persönlichkeiten auf diesen Gebieten
betätigen, hängt einmal von der Berufsstellung und dann von der Assimi-
lationskraft des Einzelnen ab. Es gibt Berufe von solchem Aktionsradius,
daß für persönliches Leben auf den übrigen Tätigkeitsgebieten nicht viel
Zeit und Kraft übrig bleibt; sind diese Berufe unpersönlicher Art, so steht
man oft vor der Notwendigkeit der Resignation, des Verzichts auf reiche
Ausgestaltung der Persönlichkeit; gewähren sie aber, wie die liberalen
Berufe, reiche Gelegenheit zu persönlicher Entfaltung, so hat man die
Erscheinung des zwar nicht extensiv, aber intensiv entwickelten Personen-
lebens. Zu einer Selbstbeschränkung drängt geringe Aneignungskraft.
So, wenn jemand in der Gefahr steht, für seinen Verstand (für die innere
Aneignung) zu viel zu lernen. Doch mögen die Beschränkungen so oder
anders nötig sein, ein völliger Verzicht auf eines jener Lebensgebiete der
Persönlichkeit würde eine peinliche Verkürzung des Ideals der Persön-
lichkeit bedeuten.
Kraft und Recht Auf Grund dieser Ausführungen kann man nun Stellung zu entschei-
der Frau zu per- , . 1'JJT^
söniichem Sein, deuden Fragen der Frauenbildung nehmen. Die entscheidende l<rage
lautet: Hat die Frau die Kraft zu persönlichem Sein und hat sie ein
Recht darauf? An der Antwort auf diese Frage scheiden sich die Mei-
nungen. Aus der Antwort auf diese Frage empfängt das Bildungsideal,
auf das hin die höhere Mädchenschule arbeiten soll, die entscheidenden
Bestimmungen. Behauptet man: „Die Natur der Frau ist angelegt auf
Abhängigkeit vom Manne, wie die Natur des Mannes angewiesen ist auf
Aneignung der Frau", „die Frau wartet, daß der Mann aus ihr macht,
was sie sein soll", die Frau ist „selig" in der Selbstunterwerfung usw., so
ist der Frau die Kraft zur Persönlichkeit abgesprochen. Wer so denkt,
reserviert das Recht auf Persönlichkeit dem Manne. Wir aber scheiden
uns scharf von den Anhäng^ern solcher Meinungen. Es ist für uns Er-
fahrungsgewißheit und zugleich Postulat aus der Gültigkeit der sittlichen
Normen, daß die Frau ihrem Wesen nach nicht zu unterpersönlichem Sein
verurteilt ist, daß sie zwar oft des Mannes bedarf, um Person zu werden,
daß sie sich aber durch eigene Kraft in ihrem Personsein erhalten kann.
m. Die Gegenwart. I. Prinzipielles zur Begründung des Erziehungsideals. ige
Wir scheiden uns hier auch von denen, die mit stärkstem Druck, sei es
in medizinisch deuthchen oder naturmystisch dunklen Formeln das Weib
als Geschlechtswesen kennzeichnen, falls hier versteckt oder ofFen die
Meinung besteht, der Geschlechtscharakter hindere bei der Frau die Ent-
faltung freien persönlichen Lebens. Gewiß: die geschlechtliche Natur der
Frau muß auf die Gestaltung ihres Lebens den größten Einfluß haben,
aber sie kann und muß, falls sie nicht unterpersönlich sein will, auch
ihr Geschlechtsleben in den Herrschaftsbereich ihres persönlichen Lebens
einbeziehen. Wir scheiden uns auch von denen, die aus utilitarischen
Gründen die Entwicklung der Frau zu persönlichem Sein nicht wollen,
die etwa die unpersönliche Frau für das eheliche Leben — bequemer
finden.
Von vornherein ist aber natürlich nicht gesagt, daß das Ideal der Betutigungs-
Persönlichkeit bei der Frau ebenso geartet ist wie beim Manne. So ^^ '"^
gewiß die Frau, wenn sie nicht der ihr von der Natur gegebenen Wesens-
disposition aus äußeren oder inneren Zwangsgründen zuwiderhandeln muß,
ihr Geschlechtsleben ausleben wird, so gewiß wird das Ideal der Persön-
lichkeiten bei den beiden Geschlechtern gattungsverschieden sein.
Eine weitere Scheidung bedeutet die Ansicht über die Betätigungs-
gebiete der Frau. Wir scheiden uns prinzipiell von denen, die der ver-
heirateten Frau nur das Haus als Dominium persönlichen Lebens zuweisen.
So gewiß wir der Frau das Recht auf Vollpersönlichkeit einräumen, ge-
stehen wir ihr auch z. B. das Recht zu auf eine freie Gestaltung ihres
Körperlebens, auf eine befriedigende Allgemeinbildung, auf eine un-
mittelbare Betätigung im Leben der Gesellschaft und des Volkes. Nur
wird man festhalten müssen, daß das wichtigste Gebiet des persönlichen
Lebens das Berufsleben, hier also das Leben in der Ehe, ist, und daß
das Maß und die Art der Selbstbetätigung auf jenen anderen Gebieten
von der Zeit und der Kraft abhängt, die die Forderung der Berufspflicht
übrig läßt (.s. u.).
Der entscheidendste Akt in der Geschichte eines Personenlebens ist Die Berufswahl
die Berufswahl. Mit der Berufswahl trifft der Einzelne weit und tief
wirkende Verfügung über sich selbst. Daß diese Berufswahl in Freiheit
geschehe, ist eine Grundforderung aus unserem Persönlichkeitsideal heraus.
Wo gesellschaftlich die Freiheit der Berufswahl noch nicht verwirklicht
ist, wird immer ein schwerer Mangel in der Organisation der Gesellschaft
beklagt werden müssen. Auch der Frau ziemt die Freiheit der Berufs-
wahl, und sie wird ein Recht haben, von der Gesellschaft diese Freiheit
zu verlangen, es sei denn, daß der Wille der Gesellschaft, d. h. der Staat,
ihr aus höheren ethischen Rücksichten diese Wahlfreiheit einschränken
müßte. Nun ist der Frau durch tiefbegründete Sitte gerade bei dem ihr
durch die Natur zugewiesenen Berufe die Wahlfreiheit nicht zugestanden;
sie muß erwarten, ob sie gewählt wird. Sicher aber ist zweierlei:
I. Die Gesellschaft muß ihr das Recht zuerkennen, statt des Naturberufs
'3*
Iy6
Hugo Gai'DIg: Höheres Mädchcnschuhvcsen.
eineil andern zu wählen, wenn sie von einem anderen Berufe vielleicht eine
sittlich wertvollere Gestaltung ihres Personenlebens erwarten darf; und
2. die Gesellschaft muß ihr die Möglichkeit geben, die Ehe auszu-
schlagen, wenn sie die Ehe mit dem sie Wählenden in ihrem Personsein
schädigen würde; d. h. die Gesellschaft muß die Möglichkeit des Aus-
weichens durch Erschließung anderer Berufsarten schaffen. Kann aber,
wie in der Gegenwart, eine nicht geringe Zahl von Frauen darum nicht
heiraten, weil sie „überschüssig" sind, so muß aus sittlichen Gründen
gefordert w^erden, daß diesen Frauen alle die Berufe erschlossen werden,
in denen die Frauennatur ein wertvolles Lebenswerk findet. Das wich-
tigste Betätigungsgebiet des Personenlebens ist der Beruf, die geschlossene
Lebensarbeit. Für den Beruf vorzubereiten, muß das Ziel aller, auch der
Allgemeinbildung vermittelnden Schulen sein. Sollen die Bestrebungen,
die zur Zeit auf dem Gebiete der höheren Mädchenschulen wirksam sind,
auf ihren Wert geprüft werden, so ist zuvor Klarheit über die Berufe zu
gewinnen, denen die höhere Mädchenschule ihre Schülerinnen entgegen-
bilden soll. Wir prüfen aber die Berufe unter unserem Leitgedanken,
d. h, nach ihrem Wert für persönliches Leben.
Betätigungs- Der „natürliche" Beruf der Frau in der Gestalt, die er unter dem
gebiete des t^« n « r^ * •
persönlichen entscheidenden Einfluß des Christentums m langer und bedeutender Kul-
Lebens der ... , "ii-r^ ,. .. . -r»
Frau. turentwicklung gewonnen hat, gewahrt der l^rau die gunstigsten Be-
dingungen für die Au.sgestaltung und Bewährung persönlichen Lebens,
solange er wenigstens seiner Idee entspricht und nicht wie vielfach in
unserer Zeit zur Karikatur seiner selbst entartet ist, solange die Ehe die
Lebensgemeinschaft zweier Personen und nicht etwa gar, wie es manchen
Frauenrechtlerinnen als das Normale erscheint, der Prozeß Weib contra
Mann ist.
Das Familienleben bietet der Frau Gelegenheit, sich persönlich aus-
zuleben; es gewährt ihr ein Gebiet, auf dem sie nach ihrem Sinn, nach
ihrem Ideal anderes und sich selbst gestalten kann. Die ganze Sphäre,
in der sie schafft, hat eben das auszeichnende Merkmal, daß sie Gestal-
tung durch Persönlichkeit verträgt und fordert. Persönlich gestaltet
werden kann in den Gesellschaftsschichten, für die unsere Schulgattung
arbeitet, die ganze Gruppe der Arbeiten, durch die die „Hausfrau" für das
leibliche Leben der Familie sorgt. Die Wahl der Wohnung, die Be-
schaffung und Anordnung des Hausrats, die Herstellung der Kleidung,
die Zubereitung der Lebensmittel, die Pflege und Ausbildung des eigenen
Körpers und des Körpers der Kinder, die Verfügung über das zum
Verbrauch bestimmte Einkommen und anderes geben der Frau reichliche
Gelegenheit, dem Hausstand die Signatur ihrer Persönlichkeit aufzuprägen.
Daß unsere bürgerlichen Haushaltungen so farblos, so typisch, so un-
persönlich sind, liegt meist nicht an der Dürftigkeit des Materials, das
persönliche Zeichnung empfangen sollte, sondern an dem Mangel
persönlicher Kraft der Hausfrauen, ein Mangel, der sich in einer großen
ITI. Die Gegenwart, r. Prinzipielles zur Regründiing des Erziehungsideals. jgy
Abhängigkeit des Werturteils vom Urteil anderer am deutlichsten be-
kundet. Hoffentlich bringt uns die neue Zeit viele Hausfrauen mit per-
sönlicher Physiognomie. Hochachtbar ist die Pflichttreue der deutschen
Hausfrau. Darüber hinaus liegt aber die Pflichttreue, die sich mit der
Treue gegen das eigene Selbst paart. Hochachtbar ist die Kraft und
der Fleiß, mit der die deutsche Hausfrau wirkt; aber um das deutsche
Familienleben noch wertvoller zu gestalten, bedarf es einer größeren per-
sönlichen Kraft, die ihrem „sachlichen" Tun und den Sachen selbst das
Gepräge der Persönlichkeit verleiht.
Ein ungleich wertvolleres Gebiet für Auswirkung persönlichen Lebens
ist die Pflege und Erziehung der Kinder; ein Gebiet höchster Ver-
antwortlichkeit, das von allgemeingültigen Normen seine Regelung emp-
fängt und das doch persönliches Wirken erlaubt und fordert. Die Pflege
und Entfaltung des geistleiblichen Lebens der Kinder nach einem Ideal,
in dessen Eigenart das Wertvollste der eigenen Person sich ausspricht,
sind schönste Betätigungsweisen persönlichen Lebens. — Glaubt man nun
freilich den Gegnern der christlichen Ehe, so ist das persönliche Leben
der Frau in der Ehe aufs stärkste gerade durch das eigenste Wesen der
Ehe, die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit dem Manne, gefährdet;
Heteronomie, Unterwerfung unter den Willen und das Wesen des Mannes,
erscheint als das unentrinnbare Los der Frau, die damit allerdings zur
Unpersönlichkeit verdammt wäre. Nun sind aber bereits in der Haus-
haltsführung und in der Kindererziehung zwei sehr wertvolle Gebiete, auf
denen die Frau namentlich in unserer Zeit Autonomie besitzt, nach-
gewiesen. Vor allem aber muß jede Ehe, die der Idee der Ehe ent-
spricht (s. o.) und die in Freiheit, und mit sittlichem Ernst geschlossen ist,
vom Geiste nicht nur der Duldsamkeit, sondern der Freude an der Per-
sönlichkeit des anderen und der Bereitwilligkeit, dem anderen zu seinem
eigensten Wesen mitzuhelfen, durchdrungen sein. Ja, auch die Selbsthingabe
in der Liebe führt nicht zur „Entselbstung*', sondern zu dem Streben, ein immer
reicheres Selbst zu gewinnen, um dem anderen dann vom Reichtum persön-
lichen Lebens mitzuteilen. Nicht zu vergessen ist auch, daß schon das
Einschauen in ein persönliches Leben, das sich bis in seine Tiefe er-
schließt, zur Gestaltung des eigenen Personenlebens antreibt. Einer
der höchsten Ruhmestitel der christlichen Ehe ist die durch sie gewährte
Möglichkeit, daß sich zwei Menschen wechselseitig im Geben und Nehmen
zu höherem Personenwert emporläutem.
Vergleicht man ein solches Eheleben mit dem Berufsleben in vielen
anderen den Frauen empfohlenen Berufen, so fällt zunächst der persön-
liche Charakter des Berufslebens der verheirateten Frau auf. Nicht sehr
viele Berufe bieten so viel Stoff zu persönlichem Tun; gerade die Neuzeit
hat namentlich in vielen Beamtenberufen solche Berufe geschaffen, die
wenig Stoff zu persönlicher Prägung darbieten, unpersönliche Berufe
schlechthin.
jgg Hugo G audio : Höheres Mädchenschulwesen.
Ein anderes kommt hinzu: Viele Berufe fordern „eine eigenartige
Spezialisierung der Seele in einer gewissen Richtung". Die verheiratete
Frau hingegen kann in ihrem Berufsleben sich in schöner Vielseitigkeit
entfalten. Ihrem Wollen ist ein Tätigkeitskreis zugewiesen, der dem
Willen mannigfaltige und doch einheitliche Ziele steckt; Ziele praktischer
und Ziele ideeller sowie idealer Art; und die praktische Arbeit ist reich
an idealen Beziehungspunkten, die Verwirklichung der idealen Ziele aber
geschieht in praktischer Arbeit. Das häusliche Leben nach seiner wirt-
schaftlichen und nach seiner geistigen Seite fordert von der Frau eine
einheitliche, aber auch differenzierte Tätigkeit und gewährt ihr so die
Möglichkeit, ihr persönliches Leben vielseitig und doch einheitlich zu ent-
falten. So bleibt dem Seelenleben der Frau die Vielseitigkeit des Seelen-
lebens bewahrt; in ihrem Seelenleben nicht spezialistisch vereinseitigt, ver-
mag sie in der Totalität ihres Wesens sich zu entwickeln. Zu der Mög-
lichkeit, den Willen an hohe und niedrige, ferne und nahe, Ewigkeits-
und Alltagsziele, an äußerlichstes und innerlichstes Bilden zu setzen, kommt
die Möglichkeit, das Gefühlsleben in die Breite und Tiefe zu entfalten,
und (wie gleich gezeigt werden soll) die Möglichkeit eines persönlichen
Intellektuallebens.
In einem glücklichen Verhältnis steht femer im allgemeinen die nach
unserem Urteil erreichbare persönliche Kraft der Frau zu dem Umfang
der von ihr zu durchdringenden Lebensgebiete, d. h. zu dem Familien-
leben. Das deutsche Familienleben des höheren Bürgerstandes ist meist
einfach genug, um der Frau mit dem Durchschnittsmaß persönlicher
Kraft die persönliche Ausgestaltung bis in seine peripherischen Gebiete
zu gestatten. — So kann die Frau in ihrem Pflichtenkreis die Selbst-
sicherheit gewinnen, die zu den Kennzeichen entwickelten Personen-
lebens gehört. Auch insofern ist das Familienleben günstig für die Frau,
als die Intermissionen der persönlichen Kraft, die für das Energie-
leben der Frau charakteristisch sind, nicht sogleich peinlich spürbar
werden, wie in öffentlichen Berufen, die ein gleichmäßiges Einsetzen per-
sönlicher Kraft fordern.
Der Satz, daß alle Berufsarbeit vereinseitigt, gilt indes auch vom
Beruf der verheirateten Frau. Auch sie muß darum ein persönliches
Leben auf den übrigen obengenannten Betätigungsgebieten persön-
lichen Lebens fuhren. Auch sie muß z. B. nach einem Ausbau ihres
allgemeinen Geisteslebens und nach einer persönlichen Teilnahme an dem
Leben der größeren Lebensgemeinschaften , des Volkstums und des
Staates, streben. Und vor allem hat sie die Verpflichtung, zu einer per-
sönlichen Gestaltung ihres religiösen Lebens vorzudringen. Es kann
nun gar nicht scharf genug betont werden, wie glücklich die Lage der
Frau in einer wertvollen Ehe gerade nach der Seite der Ausgestaltung
der Vollpersönlichkeit ist. Zunächst hat die Frau unserer Stände — die
Zeit, deren sie hier bedarf. Der Mann arbeitet sie meist so weit frei,
III. Die Gegenwart. I. Prinzipielles zur Begründung des Erzichungsideals. igy
daß sie nicht, wie oft die Frau des Arbeiters, in ihrer Hausarbeit auf-
und untergehen muß. Sie kann ihren Gei.st in Pflege nehmen; sie hat,
wenn sie will, meist auch die Muße und die Ruhe zur Kontemplation,
die für das Ausreifen persönlichen Denkens und Urteilens so günstig ist.
Sie hat auch die Zeit, um an dem Leben ihres Volkes denkend, fühlend
und handelnd Anteil zu nehmen.
Dazu kommt noch ein anderes: Das Familienleben hat in sich die
stärksten Antriebe zu solcher weiter ausgreifenden Ausgestaltung des
persönlichen Lebens. Die wirtschaftlichen Aufgaben z. B. führen ganz un-
mittelbar zu der Teilnahme für das volkswirtschaftliche Leben, dessen
Teil ja das familienwirtschaftliche Leben ist; die erziehliche Aufgabe,
die auch an den herangewachsenen Kindern noch fortzuführen ist, drängt
zu reicher Ausgestaltung des geistigen Lebens; die Lebensgemeinschaft
mit dem Manne führt zur Teilnahme am staatlichen Leben usw. — Aber
das Familienleben trägt in sich nicht nur intellektualistische Antriebe; das
in Liebe erschlossene Herz weitet sich von selbst für die öffentliche Not.
Und all das, was die Frau außerhalb des Familienlebens für ihr persön-
liches Leben gewinnt, das kommt ihrem persönlichen Wirken im Familien-
leben wieder zugut.
Es ist erwiesen, daß das Familienleben, wenn es seiner Idee ent- ^|;Pj?i^'^'"^^
spricht, die wertvoUste Gelegenheit zur Ausgestaltung des Personenlebens Aus^-osuUung
bietet. Wird der deutschen Frau aber so viel geboten, so wird man lichkeit.
von ihr auch viel fordern. Sie muß die Verpflichtung anerkennen, mit
aller ihrer Kraft das zu werden, was sie in dem Familienleben werden
kann, eine sittliche Persönlichkeit, die eben die soziale Arbeit leistet,
welche die Familienmitglieder, die Gesellschaft, das Vaterland und Gott
von ihr fordern müssen. Dazu rechnet vor allem die Pflege eines starken
persönlichen Lebens in dem Gebiet ihres Wirkungskreises.
Will aber die Gesellschaft und der Staat von der Frau die Entwick-
limg solchen Personenwertes und solchen sozialen Wertes mit Recht
fordern, so muß die Frauenerziehung und Frauenbildung so gestaltet
werden, daß die Frauen schließlich ihre Erziehung und Bildung mit aller Ver-
antwortlichkeit selbst zu übernehmen vermögen.
Auf Grund des bisher Gesagten lehnen wir zunächst alle die Ein- j^J'^«^;";^s
flüsse auf das höhere Mädchenschulwesen grundsätzlich ab, die das .spätere »chauongen.
Familienleben der Schülerinnen bei dem Entwurf des Bildungsideals da-
rum nicht berücksichtigen wollen, weil .sie in der Ehe ihrer Idee nach
eine Hemmung persönlichen Lebens sehen und ein Aufgehen des Fami-
lienlebens im Leben der Gesellschaft erwarten und wünschen. Ebenso
lehnen wir die Einflüsse aller derer ab, die nicht in den verschiedenen
Gebieten des Familienlebens die wichtigsten Betätigungsgebiete der Per-
sönlichkeit anerkennen. Femer lehnen wir alle Einflüsse einer verkürzten
Idee der Ehe ab, z.B. der Idee, bei der man nach der Formel: „Der Beruf
der Frau sind ihre Kinder" nicht nur die wirtschaftliche Seite des Frauen-
,QQ Hugo Gaudig: Höheres MiuVchenschulwcscn.
berufs, sondern auch die Lebensgemeinschaft von Mann und Weib igno-
riert. Nicht minder lehnen wir den Einfluß derer ab, die das Personen-
leben der Frau einengen, indem sie das Leben des Weibes auf das
Haus beschränken. So gewiß wie die Frau ein reich differenziertes Per-
sonenleben führen soll, so gewiß darf sie ihr religiöses, sittliches, ästhe-
tisches, geistiges Leben nicht auf die Familie einengen, sondern muß mit
ihrer persönlichen Teilnahme auf das Gebiet der religiösen Gemeinde,
des Staates, des geistigen Lebens der Nation übergreifen.
Vor allem aber müssen wir an der Schwelle alle diejenigen Mei-
nungen ablehnen, die für die höhere Mädchenschule entweder eine un-
geschlechtige oder gar schlankweg die männliche Erziehungs- und Bil-
dungsweise fordern. Wenn wir mit Recht in dem häuslichen Leben der
Frau das wichtigste Betätigungsgebiet für ihr persönliches Leben nach-
gewiesen haben, so kann die Schule gegen diese Sphäre unmöglich
gleichgültig sein; ja, sie wird auch da, wo sie zu jener über die Familien-
schranken hinaus erweiterten Geistes- und Herzensbildung mithilft, eben
jenen oben nachgewiesenen Bahnen nachgehn, auf denen die Bildung der
Frau naturgemäß aus der Familienenge hinausstrebt.
Die letztere Anschauung stößt auf das Bedenken, daß doch eben nur
ein Teil der Schülerinnen höherer Mädchenschulen sich verheirate und
verheiraten könne, und daß dieser für ein Leben in erwerbenden Berufen
tüchtig zu machen sei. Hierauf ist zu erwidern: i. Von vornherein ist
eine Scheidung solcher Mädchen, die heiraten werden, und solcher, die
nicht heiraten werden, unmöglich; 2. soll die Frauenarbeit sich spezifisch
von der Männerarbeit unterscheiden, soll sie die Männerarbeit ergänzen,
so wird bei der Ausbildung der Mädchen eben auf den „Beruf" hinzu-
schauen sein, in dem doch nach dem Naturgesetz die Eigenart der Frau
zu ihrer reinsten Ausgestaltung kommt; 3. ist erst zu prüfen, ob eine
spezifische Frauenbildung nicht auch die Basis für eine Tätigkeit in er-
werbenden Berufen bilden kann, da ja bei der Ausbildung für den weib-
lichen Beruf die inneren und die technischen Bildungselemente zu scheiden
sind (s. u.).
Berufe der Frau Von den Berufen, die dem weiblichen Geschlecht zurzeit offenstehen
oder ihm doch in zunehmender Breite in der Zukunft geöffnet werden
müssen, stehen die dem Beruf der verheirateten Frau am nächsten, in
denen eine oder mehrere Seiten dieses Berufs verselbständigt und zu
speziellen Berufsarten ausgebildet sind. Dahin gehören die Berufe der
sozialen Hilfsarbeit, der Wohlfahrtspflege; mit Recht hat man hier von
einer königlichen Domäne für die Frauenarbeit gesprochen. So gewiß als
das weltgeschichtliche Charaktermerkmal unserer Zeit ihr soziales Leben
ist, so gewiß haben auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege die Frauen
eine Kulturmission ersten Ranges; ihr Eintreten in diese Arbeit ist eines
der bemerkenswertesten Zeichen einer neuen Zeit. Daß auf diesem Ge-
biet sich geschlossene Berufe für Frauen herausbilden, ist dringende Zeit-
m. Die Gegenwart, i. Prinzipielles zur Begründung des Erziehungsideals. 20I
forderung. Ein Staat, der angesichts des die Nation zerklüftenden Gegen-
satzes der Stände die versöhnende Hand der Frauen, die ihm das An-
gebot ihrer Arbeit so bereitwillig machen, zurückstoßen würde, wäre auf
seine Selbsterhaltung schlecht bedacht. Daß die höhere Mädchenschule
auch solcher sozialen Hilfsarbeit zu dienen hat, bedarf um so weniger
des Beweises, als ja auch die verheiratete Frau für die Notstände der
Gesellschaft Herz und Sinn haben muß.
Dem Erzieherin- und Lehrerinberufe tut man wohl weder nach
seiner geschichtlichen Entwicklung noch nach seiner selbständigen Würde
ein Unrecht, wenn man in ihm den Inbegriff solcher Funktionen sieht,
die zunächst die Mutter ausübt und in denen dann Mutter und Er-
zieherin Hand in Hand gehn. Wenn die höhere Mädchenschule den Er-
zieherin- und Lehrerinberuf der Mutter ins Auge faßt, dient sie damit
zugleich auch einem der schönsten Frauenberufe, in dessen Ausgestaltung
und Ausnutzung für die nationale Kultur so lange eine wesentliche Kul-
turförderung gesehen werden muß, als er — Frauenberuf ist.
Für eine große Zahl anderer Berufe, z. B. die gewerblichen, kauf-
männischen, die niederen Beamtenberufe, ist ein Doppeltes kennzeichnend:
I. Ihr geringer Gehalt an spezifisch frauenhafter Tätigkeit sowie das
geringe Maß, in dem persönliches Wesen sich in ihnen betätigen kann.
Sie werden der Entwicklung persönlichen Lebens um so gefährlicher, als
sie für die der spezialistischen Vereinseitigung entgegenwirkenden Be-
strebungen (s. o.) weder Zeit noch körperliche und seelische Kraft übrig
lassen. Doch muß betont werden, daß diese Berufe wertvoll sind, sofern
sie den Töchtern des höheren Bürgerstandes die Möglichkeit einer wür-
digen äußeren Existenz, einer zusammenhängenden (berufsmäßigen) Be-
tätigung ihrer Kraft, eines freien Handelns, wenn auch in engem Tätig-
keitskreise, so doch unter eigener Verantwortung, gewähren. Die höhere
Mädchenschule hat sich von der Anschauung fernzuhalten, die diesen Be-
rufen ablehnend gegenübersteht, weil man kein Gefühl für die schmach-
volle Selbsterniedrigung hat, der das Mädchen ausgesetzt ist, das die
schönste, kraftvollste Zeit seines Lebens unter dem Druck der Erwartung
zubringt, ob sein Leben durch die ihm zugewandte Gunst eines Mannes
Gehalt gewinnen soll oder nicht. In gut protestantischem Geist hat sie
an dem sittlichen Wert jedes, auch des unscheinbarsten Berufs festzu-
halten. Um ihre Schülerinnen vor dem Scelenmartyrium zu bewahren,
das entstehen muß, wenn sie später darauf warten müssen, als Sache
„genommen" zu werden, hat sie ihre Schülerinnen mit der Erkenntnis zu
erfüllen, daß keine ehrliche Berufsarbeit der menschlichen Würde Ein-
trag tut, daß in jedem Berufe ein Gott wohlgefälliger Dienst getan
werden kann, daß treue Berufserfüllung dem inneren Menschen Halt ver-
leiht, ihm Selbstsicherheit, Selbstachtung gewährt; der „Wille zur Ar-
beit" (nicht der „Wille zur Macht") ist eines der wichtigsten Ergebnisse
der Schulcrziehung. Im einzelnen wird die Schule zu prüfen haben, ob
2Q2 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
und inwieweit sie auch den eben bezeichneten Berufen dienen kann.
Ausgeschlossen ist von der Berücksichtigung das spezifisch Technische
dieser Berufsarten, das zumeist auch in kürzerer Zeit in technischen
Kursen erlernt werden kann. Dagegen wird mancherlei allgemeine För-
derung möglich sein, so durch die Erweckung des Sinns für das Berufs-
leben überhaupt, des Sinns für exakte Erfassung der Lebensverhältnisse usw.
Vor allem aber wird die Schule auch gerade in Rücksicht auf die
Schülerinnen, die einem Beruf mit technisch spezialisierter Tätigkeit sich
widmen, ihren Schülerinnen die Mittel und die Kraft zu persönlicher
Entwicklung außerhalb des Berufslebens zu gewähren haben. — Über die
Stellung der höheren Mädchenschule zu den gelehrten Berufen siehe unten !
Die inuiiek- 2. Die intellektuelle Eigenart der Frau. Nachdem bisher als
'""der FfaT"^ das Endziel der Entwicklung des Frauenlebens das persönliche Leben
bestimmt, und nachdem dann die Bedeutung des Berufslebens der Frau
für das persönliche Leben festgestellt ist, muß nun das Bildungs- und
Erziehungs ideal entworfen werden, nach dem die höhere Mädchen-
schule in unserer Zeit, unter den gegebenen Kulturverhältnissen, für
jenes persönliche Leben erziehen soll. Voraussetzung für eine Verstän-
digung über dies Erziehungsideal ist die Verständigung vor allem über
die intellektuelle Eigenart des weiblichen Geschlechts. Wissen-
schaftliche Untersuchungen dieser Frage im Sinne der exakten Psycho-
logie liegen erst in geringer Zahl und Ausdehnung vor. Daher ist
noch Raum für medizinischen und metaphysischen Dogmatismus; ich er-
innere an das Dogma vom physiologischen Schwachsinn und an die Dog-
menreihen Schopenhauers, E. v. Hartmanns, Nietzsches. Es ist zurzeit die
Pflicht wissenschaftlichen Anstands, Meinungen zu der Frage als pro-
blematisch auszusprechen. Die größte Skeptik ist überall da am Platz,
wo die Meinungen im Zusammenhang mit agitatorischer Wirksamkeit
stehn. Namentlich ist die Frage der Evolutionskraft des weiblichen
Geisteslebens in der Zukunft mit aller Vorsicht zu behandeln; zurzeit sind
alle Meinungen von der ungläubigsten Verneinung bis zu abergläubischer
Phantastik vertreten.
Die Untersuchung der Frage, wie sie die Zukunft bringen wird, hat
folgende Gebiete zu umfassen: i. die einzelnen geistigen Funktionen,
sowohl die auf der Wahrnehmungs- wie die auf der Denkstufe; 2. die
für die Erkenntnis besonders wichtigen Verbindungen von Funktionen
und Hauptrichtungen der geistigen Tätigkeit (Gedächtnis, Phantasie im
weiteren Sinne, Verstand); 3. die das Erkenntnisstreben begleitenden Ge-
fühlsvorgänge; 4. die geistigen „Dispositionen", wie Aufmerksamkeit, Fähig-
keit zur Vertiefung und Besinnung, Beweglichkeit im Denken, Fähigkeit
der Selbstüberwachung, Wahrheitssinn, Selbsttätigkeit, sowie die Motive
der geistigen Arbeit; 5. „die psychische Energetik" (Stern).
Im Gebiet der Empfindungen scheint dem weiblichen Geschlecht
namentlich bei den Gesichtsempfindungen eine größere Sinnesempfindlich-
in. Die Gegenwart. 2. Die intellektuelle Eigenart der Frau, ZO'i
keit (Empfindungsintensität) und eine größere Unterscheidungsschärfe zuzu-
kommen. Dem entspricht die größere Fähigkeit, Gesehenes leichter,
länger und sicherer zu behalten und in der Gestalt deutlich gezeichneter,
lebhafter Erinnerungsbilder zu reproduzieren, sowie das Vorwalten des
optischen Gebietes bei Assimilationen, Komplikationen, Assoziationen (op-
tische Assoziationsrichtung); ebenso die optische Lebhaftigkeit der Phan-
tasie- und Traumbilder; der visionellere Charakter des Denkens der Frauen
(Denken in Bildern), die stärkere Gefühlsbetonung der optischen Ele-
mente des Geisteslebens usw. Das Gedächtnis der Frau dürfte sich
charakterisieren durch die besondere Leistungsfähigkeit im Gebiet des
Optischen, überhaupt aber durch die Intensität und Deutlichkeit der
Erinnerungsbilder; ferner durch die Leichtigkeit, mit der es die Ein-
drücke aufnimmt, sowie durch die Schnelligkeit des Vergessens be-
sonders im Gebiet des Begrifflichen ; im weiteren durch das Vor-
wiegen der mechanischen Arbeit vor der logischen und endlich durch
den stärkeren Einfluß der Phantasietätigkeit. — Auf der Stufe des Den-
kens im Gebiet des konkreten Stoffs entspricht der weiblichen Natur
mehr die synthetische als die analytische Tätigkeit. Das zeigt sich in
zwei Richtungen: in der eigentlichen Phantasietätigkeit und in der Leb-
haftigkeit und Kraft der kombinatorischen Tätigkeit. Die Phantasie erweist
ihre Kraft sowohl als „passive" wie als „aktive" Phantasie; als passive,
wenn sich der Frauengeist dem Spiel der Vorstellungen überläßt, als ak-
tive, wenn er, wie z. B. bei dem genießenden Lesen von Dichtungen, den
Forderungen des Dichters beim Gestalten und Umgestalten der inneren
Bilder folgt. Überlegen zeigt sich der Frauengeist nach meiner Erfah-
rung auch in der kombinatorischen Tätigkeit, d.h. in der sinnvollen
Verbindung von Vorstellungen. Namentlich, wenn die Denkrichtungen
eingeübt sind, fuhrt das Denken der Mädchen in lebhaftem Zeitmaß zu
brauchbaren Gedankenverbindungen. — Geringere Neigung zeigt der
weibliche Geist zu der analytischen Bearbeitung von Gesamtvorstel-
lungen; das Verbinden von Vorstellungen zu sinnvollen Gedanken ent-
spricht ihm mehr als das Zerlegen der Gesamtvorstellungen in Teile und
die Ermittlung der zwischen den Teilen bestehenden Beziehungen. In-
des wird er an konkretem Stoff leicht zu allen Formen analytischer Ar-
beit gewonnen. — Den Vorzügen des weiblichen Geistes im Gebiet des
konkreten Denkens entspricht, als naturgemäße Kehrseite der Lichtseite,
ein Zurückstehn im Gebiet des begrifflichen Denkens; im weiblichen
Denken lösen sich die Begriffe nicht so leicht wie im männlichen von
ihrem konkreten Hintergrunde zu scharfer Bestimmtheit los; daher wird
den Ergebnissen des Operierens mit diesen Begriffen leicht die All-
gemeingültigkeit fehlen, für die Klarheit und Bestimmtheit der Be-
griffe Voraussetzung ist. Ist aber für Klarheit der Begriffe gesorgt, so
geht das Arbeiten mit den Begriffen, das „Phantasieren in Begriffen"
(Wundt), gut vonstatten.
iQA Hugo Gaudig: Höheres Mädchcnscluilwescn.
Von entscheidender Wichtigkeit für die Charakteristik des weiblichen
Geistes sind die das Erkenntnisstreben begleitenden Gefühlsvorgänge.
Hier liegt der wesentliche Differenzpunkt. Charakteristisch für diese Ge-
fühle ist ihre größere Lebhaftigkeit, ihre Affektnatur. Dies gilt zunächst
von (\vm Gefühl der Tätigkeit, das mit der geistigen Arbeit verbunden
ist; ebenso von dem Gefühl der Spannung und der Lösung sowie von
dem Gefühl der Befriedigung. Besonders bezeichnend aber sind die Ge-
fühlsvorgänge bei dem Eintreten solcher Hemmnisse, die nicht in leichter
„Fortbewegung von Punkt zu Punkt" überwunden werden; das Gefühl der
Hemmung wird dann intensiv. Leicht verbindet sich mit diesem Gefühl
das Gefühl des Zweifels an der Möglichkeit der Überwindung des Hinder-
nisses und als Folgeerscheinung Mutlosigkeit und eine starke Senkung
des Kraftgefühls. Wird das Hindernis aber durch kräftige Impulse über-
wunden, so bleibt doch dem Gefühl leicht der Charakter ängstlicher Ge-
spanntheit, und die Arbeit gewinnt so die Natur des hastigen Drängens
auf den Abschluß hin. Tritt in dem Verlauf des Denkprozesses etwas
Unerwartetes ein, das sich nicht in den Prozeß eingHedern läßt, so
entsteht leicht der Affekt des Schrecks, der Bestürzung. Die Lebhaftig-
keit aller dieser Gefühle hat zur Folge eine schwächere oder stärkere
Benommenheit, eine Unbesinnlichkeit und eine Unbesonnenheit, die den
Denkprozeß namentlich durch Einschränkung der Übersicht über die Mög-
lichkeiten der Lösung ungünstig beeinflußt und in einem circulus viti-
osus wieder asthenische Gefühle zur Folge hat. Das Ergebnis dieser Ge-
fühlsvorgänge ist eine momentane Herabsetzung der geistigen Kraft, die
im grellsten Mißverhältnis zu dem allgemeinen Energievorrat steht.
Unter den geistigen Dispositionen, d.h. den für die intellektuelle Ar-
beit wichtigen Zuständlichkeiten des Geistes, sei zunächst die Aufmerk-
samkeit genannt. Der weibUche Typus der Aufmerksamkeit kennzeichnet
sich durch die größere Fähigkeit der Anpassung, aber auch durch ge-
ringere Beständigkeit, ferner durch das Überwiegen des Umfangs über
die Intensität, durch größere Elastizität und geringere Fähigkeit der
Konzentration auf ein enges Gebiet, ferner durch größere Ablenk-
barke it, aber auch durch größere Empfänglichkeit für Eindrücke,
namentlich, wenn sie neu oder gefühlsbetont sind.
Artbildende Unterschiede der weiblichen Geistesart ergibt die Be-
trachtung eines zusammenhängenden Arbeitsvorgangs. Da ist zunächst
der Unterschied in der Setzung des Arbeitsziels: Seiner Natur nach
neigt der weibliche Geist mehr dazu, sich Ziele geistiger Arbeit setzen
zu lassen, als sie sich selbst zu setzen; doch gelingt die Gewöhnung an
autonome Zielsetzung leicht. Bei der Abwägung der Arbeitsschwierig-
keit ist der weibliche Geist zur Überschätzung der Schwierigkeit und
zur Unterschätzung der eigenen Kraft disponiert. Daher die Scheu
vor den fernen Zielen. In dem Entwurf des Arbeitsweges fehlt gern
die Besonnenheit. Die zum Beginn der Arbeit erforderUche Arbeits-
in. Die Gegenwart. 2. Die intellektuelle Eigenart der Frau. 205
energie wird leicht durch lebhaften Willensimpuls gewonnen; die „Über-
windung des Trägheitsmoments" (die „Anregung'') geschieht meist ohne
Schwierigkeit. Doch wirkt der Willensimpuls, der Arbeitsanstoß, nicht
so kräftig fort als beim männlichen Geist, bei dem die Anpassung an die
Arbeit meist in langsamerem Zeitmaß und unter größerem Kraftaufgebot
erfolgt. Selbst wenn die Arbeit gleichmäßig verläuft, ohne bedeutendere
Schwierigkeiten, bedarf es bei der Frauenarbeit zur Erhaltung der En-
ergie besonderer Willensanstöße. Ungünstig gestaltet ist der Frauengeist
in der Bemessung der zu einer Arbeit erforderlichen Arbeitsenergie;
besonders fällt ein Mangel an Sparsamkeit auf, da leicht mit zu großem
Kraftaufgebot gearbeitet wird. Besonders günstig ist der Geist der Frau
für den Wechsel der Arbeitsform, der intellektuellen Funktionsweise,
angelegt; das Umschalten geschieht ohne große Schwierigkeit. Da-
her die Befähigung des weiblichen Geistes für Arbeiten wie die
ästhetische Behandlung einer Dichtung. Die Zielstrebigkeit des weib-
lichen Geistes ist insofern geringer als die des männlichen, als leicht
namentlich unter dem Einfluß des lebhaften assoziativen Gedanken-
zustroms die zwingende Kraft der Zielvorstellung geschwächt wird.
In diesem Sinne kann man von einer größeren Ablenkbarkeit des
weiblichen Geistes sprechen. Die Arbeitszeit erscheint im allgemeinen
kürzer, da der Gedankenablauf und, was für viele Arbeiten wichtig
ist, die mündliche oder schriftliche Darstellung im ganzen schneller
ist. Die Kehrseite der Schnelligkeit ist leicht die Flüchtigkeit und Un-
exaktheit. Gern geschieht die Gedankenbewegung enthymematisch,
d. h. im Sprunge. Erkauft wird diese erfreuliche Lebhaftigkeit durch ge-
ringere Sicherheit der Ergebnisse; die Schnelligkeit hindert den be-
sonnenen Umblick. Eine dem weiblichen Geist seiner Natur nach nicht
genehme Situation ist die Zwangslage, in der es eine wissenschaftliche
Entscheidung gilt; hier ist eine Xeigung zur Unentschiedenheit spür-
bar oder doch zu verklausulierter Entscheidung. — Am meisten an-
gefochten wird der weibliche Geist wegen seiner „Suggestibilität", sei
es, daß die Suggestion von anderen (durch ihre Autorität) oder durch die
Seelenlage der Denkenden selbst (ihre vorgefaßte Meinung, ihre „inhalt-
lichen" oder „formalen" Gefühle und Affekte) ausgeübt wird. Als wert-
voll wird man den persönlichen Charakter des weiblichen Denkens aner-
kennen müssen, andererseits indes auf Erziehung und Selbsterziehung des
weiblichen Geistes zur Objektivität, zur Prüfung der Ergebnisse an ob-
jektiven Maßstäben und sicheren Erkenntnissen, und zur Selbstkontrolle
bedacht sein müssen.
Eine sehr wertvolle Eigentümlichkeit des Frauengeistes liegt in seiner
Spontaneität, in seiner Fähigkeit zu freitätigem Arbeiten. Erfahrungs-
mäßig bedarf es z. B. nur wenig der äußeren Anreg^ing zu häuslichem
Fleiß; hier genügen zumeist die inneren Willensimpulse. Aber auch im
Unterricht ist die Fähigkeit zu spontanem Tun eine Tatsache, die be-
2o6 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschrilwesen.
sonders auf den Gebieten konkreter Geistesarbeit, aber auch auf den ab-
strakten Gebieten zutage tritt, wenn die Schülerinnen über eine sichere
Arbeitstechnik verfügen und so die oben erwähnten Hemmungen
gefühlsmäßiger und intellektueller Art wegfallen. — Unter den psychischen
Erscheinungen auf dem Gebiet der Übung und Ermüdung sei die grö-
ßere Übungsfähigkeit hervorgehoben, der aber eine geringere Übungs-
festigkeit entgegensteht, und die größere Erholungsfähigkeit, der
als Minus eine größere Erholungsbedürftigkeit gegenübersteht. Be-
sonders auffällig sind in der Kraftkurve der Energie des Mädchengeistes
die physisch bedingten starken Senkungen, denen meist starke Hebungen
entsprechen. Im allgemeinen ist bei der Inanspruchnahme der weiblichen
Geistesenergie die größere Zartheit des Organismus in Rechnung zu ziehen,
wenn nicht die Willenskraft dem Körper namentlich des heranwachsenden
Mädchens Erfolge abringen soll, die ihm schaden müssen.
Was die Richtung der geistigen Interessen des Mädchens an-
geht, so ist für die Mädchennatur eine große Anpassungsfähigkeit be-
zeichnend, die den oberflächlichen Beobachter über den natürlichen Inter-
essenzug täuschen kann; das Mädchen ist „für alles" zu interessieren, es
bringt seine Eigennatur den Unterrichtsstoffen gegenüber durch passives
oder gar repulsives Verhalten weit weniger zur Geltung als der Knabe;
oft zeigt das Interesse des Mädchens daher aber auch viel weniger die
Vorzüge der Natürlichkeit. Der natürliche Interessenzug des Mädchens
geht auf das Konkrete und das Persönliche; neben die Neigung zu
konkretem Denken tritt die Neigung zum Darstellen; in letzterer Rich-
tung wirkt die starke Begabung der Frau für sprachliche Formulierung.
Unter den Motiven der Bildungsarbeit ist bei den Mädchen anerkannter-
maßen der Ehrgeiz stark wirksam; auch löst sich beim Mädchen das
Sachinteresse schwerer als beim Knaben vom Interesse für den Vermittler
des Wissens ab.
Zurückweisung Ist im voraufgeheudeu der weibliche Geist nach seinen Vorzügen und
"fürVnaben!^ Mängeln richtig gekennzeichnet, so muß die Größe des Unterschieds
zwischen männlichem und weiblichem Geist anerkannt werden. Diese An-
erkennung aber bedeutet eine vernichtende Kritik der großen Zeitströmung,
deren Ziel die tunlichste Angleichung der höheren Mädchenbildung an
die höhere Knabenbildung ist. Auf dem Standpunkte unserer psycholo-
gischen Anschauung kann weder von Koedukation noch von der Um-
wandlung der Mädchenschule in eine Realschule oder in ein Real-
gymnasium die Rede sein. Wir sehen in diesen Bewegungen nichts an-
deres als — eine Brutalität gegen die psychische Natur der Frau. Will
man der Frauennatur gerecht werden, so muß man die Mädchen grund-
sätzlich und von vornherein (nicht erst etwa vom zwölften Jahre ab) anders
als die Knaben bilden. Man muß in dem Unterrichtsziel, in der Stoffaus-
wahl, im Lehrplan, in der Unterrichtsweise, in der Stundenzahl, in den
Arbeitspausen, im Größten wie im Kleinsten, differenzieren, und zwar mit
ni. Die Gegenwart. 3. Das BiMungsideal. 207
dem Ziel, daß die spezifische Begabung des Frauengeistes, von ihren
Mängehi befreit, sich voll entfaltet. Jede Methode für die höhere Mäd-
chenschule muß auf die Stärke des weiblichen Geistes angelegt sein,
nicht aber darauf, den Mädchengeist seiner Natur zuwider zu formen.
So erhalten wir zwei gcschlcchtsunterschiedene Geistesarten und eine
Ergänzung männlicher und geistiger Denkart, damit zugleich aber eine
wesentliche Kulturbereicherung. Selbstverständlich nur unter der Voraus-
setzung, daß man die Kräfte des weiblichen Geistes, die zur Entfaltung
drängen, in ernster Arbeit für ernste Arbeit ausbildet. In dem Grundsatz:
geistige Zweigeschlechtigkeit, nicht androgj'ne oder gynandrische Zwitter-
bildung und auch nicht Vermännlichung der Frauenbildung sollte sich ein
altes Kulturvolk, dessen Kulturkraft in der Männlichkeit seiner Männer
und der Weiblichkeit seiner Frauen gelegen hat, durch „Erfolge" der
Koedukation bei einem jungen Kulturvolk, das noch keine innere Kultur
zu riskieren hat, nicht einen Augenblick irre machen lassen.
3. Das Bildungsideal. Die wichtigsten Maßstäbe für die Beurteilung üer personliche
Charakter dos zu
der Kulturströmunsfen auf dem Gebiet der höheren Mädchenschule gewährt ven%irkiichen-
. ° den Hildungs-
das Bildungsideal, das für uns, die Beurteilenden, maßgebend ist. Nach ideais.
der von uns durchgeführten Grundanschauung muß alle wahre Bildung per-
sönliche Bildung sein, d. h. wir erkennen nur da ideale Bildung an, wo das
Gebiet des Erkennens ein Betätigungsgebiet persönlichen Lebens ist. Aus
dieser Anschauung ergeben sich eine Reihe wichtiger Forderungen und
Folgerungen. Zunächst bedeutet Bildung nicht, wozu der Name verleiten
könnte, den ruhenden Besitz von einem irgendwie gearteten Wissen,
auch nicht einen irgendwie beschaffenen Zustand des Geistes. Persön-
liche Bildung ist ein geistiges Leben und Streben. Die Kräfte dieses
Lebens und die Motive dieses Strebens müssen im Eigensten der Person
liegen. Eine Bildung, deren Motiv der Wunsch, für gebildet zu gelten,
ist, muß verworfen werden, wie jede Bildung, die irgendwie das Ergebnis-
äußeren Zwangs ist. Ebenso müssen die Richtungen des Bildungsstrebens,
die Bahnen des Bildungslebens durch das Wesen der Persönlichkeit be-
stimmt werden ; zurückgewiesen werden muß eine Bildung, bei der nicht
das Wesen des Menschen, sondern etwa die Mode, der Tagesgeschmack
maßgebend ist. Und wiederum darf der wahrhaft Gebildete nicht von
bloßen Trieben bestimmt werden; er muß sich im Lichte klarer Selbster-
kenntnis selbst bestimmen. Hiermit gegeben ist der innere Zusammen-
hang des zeitlich sich entwickelnden Bildungslebens, die Kontinuität in
der Ausgestaltung dieses Lebens. Zugleich auch der Zusammenhang
zwischen den einzelnen Bildungsbestrebungen. Ferner gehört es zum
Wesen persönlicher Bildung, daß sich das Erkenntnisleben nicht gegen
die übrigen Betätigungsgebiete des persönlichen Lebens absondert, son-
dern in die Totalität des persönlichen Lebens einbegriffen ist. Bei aller
Selbständigkeit des Bildungsstrebens wird es doch von den übrigen Ge-
bieten persönlichen Lebens beeintlußt werden, wie von ihm selbst die
2o8 Hugo Gaudig: Höheres Miidchenschulwescn.
Stärksten Einwirkungen auf die anderen Gebiete ausgehn. Der persön-
liche Charakter der Bildung wird sich auch in dem reichen Gefühlsleben
ausprägen, von dem das Bildungsleben umspielt wird. Das Erkennen ist
ja nichts Indifferentes, sondern wird von den Interessen der Persönlichkeit
getragen. Seine schärfste Ausprägung hat das Ideal einer persönlichen
Bildung auf dem Gebiete der Werturteile und Wertbegriffe; in der Be-
wertung-, sei sie ästhetisch oder politisch oder ethisch oder religiös, kommt
ja die Persönlichkeit mit ihrem Geschmack und den Maßstäben zur Geltung,
in denen doch der Reinertrag des ganzen persönlichen Lebens enthalten ist.
Der innerste Ring der Bildung ist die Lebens-, Welt- und Gottesanschau-
ung. Um diesen innersten Ring liegen die Gebiete des Geschmacks; auf der
Peripherie lagert mancherlei Wissen, an dem das Interesse weniger per-
sönlich, mehr rein erkenntnismäßig ist. — Die Form, in der das Bildungs-
wissen erworben ist, kann nur die der Selbsttätigkeit sein. Ein bloßes
Sichbildenlassen entspricht nicht dem aktiven Charakter persönlicher Bil-
dung. Aktivität muß sich zunächst in der Wahl der Stoffe zeigen, an
denen man sich bilden will. Dann gilt es zunächst, sich auf reine Empfäng-
lichkeit zu stimmen und auf diejenige geistige Tätigkeit, die nichts als
Verständnis will. Diese Tätigkeit aber muß, soviel als möglich, spontan
sein. Dem Verständnis folgt dann das Urteil über den Wahrheitswert,
den ästhetischen, ethischen, religiösen und sonstigen Wert, und nun erst
findet die innere Aneignung zu bleibendem persönlichen Besitz statt, wo-
mit dann der ganze Vorgang eigentätigen Erkennens abgelaufen ist. Wie
groß der Umfang und welches der Inhalt der persönlichen Bildung ist,
das hängt von der geistigen Kraft der Persönlichkeit und ihrer Bildungs-
lag-e ab. Jedoch muß eine engbegrenzte Bildung, die von einer Persön-
lichkeit getragen ist, höher geschätzt werden als Vielwisserei.
Schule und Was hat nun die höhere Mädchenschule zu leisten, damit es zu sol-
ungsi ea. ^^^^ Fraueubüdung kommt? Sie muß ihre Schülerinnen mit sich und
mit dem Ideal persönlicher Bildung bekannt machen, damit sie
sich für ihr Leben nach der Schulzeit ein persönliches (individuelles)
Bildungsziel stecken können. Sie muß ferner ihre Schülerinnen mit den
im Leben fortwirkenden Impulsen eines idealen Bildungsstrebens er-
füllen. Sie muß sie drittens mit der Kraft und den Mitteln selbsttätiger
Bildungsarbeit ausstatten.
Ablehnung un. Dics Bildungsideal scheidet uns von allen denen, die, sich selbst be-
iwdungs'arbi'it. wüßt odcr nicht bewußt, den Zweck der Schule in der Übermittlung einer
gewissen (womöglich durch die Prüfungsordnung bestimmten) Summe von
Kenntnissen sehen. Sie scheidet uns auch von denen, die in der Schule
nur Massenbildung anstreben und zwischen öffentlicher Schule und Pflege
der geistigen Individualitäten einen Widerspruch sehen. Ebenso ferner
von denen, die die Schulbildung nicht auf die freie Persönlichkeitsbildung
abzwecken, sondern die Schule als Selbstzweck betrachten oder umge-
kehrt ihr den Charakter der Fachschule geben möchten. Endlich von
in. Die Gegenwart. 3. Das Bildungsideal. 20g
denen, die nicht mit aller Entschlossenheit die Erziehung zur Selbsttätig-
keit wollen.
Soll die Schule ihre Schülerinnen so weit führen, daß sie zur freien Forderung aus-
reichender
Selbstbildung fähig sind und einer weiteren schulmäßigcn Führung ent- Bildungszeit,
behren können, so muß sie, auch wenn Umfang und Inhalt der Bildung
sehr eng begrenzt sind, die Schülerinnen bis zu dem Alter behalten, in
dem Verständnis für ideale Ziele, die Kraft und die Lust zur Selbst-
bestimmung auf diese Ziele bei der Durchschnittsnatur genügend ent-
wickelt sind. Das ist etwa nach zehn Schuljahren frühestens der Fall.
So muß denn ein neunjähriger Kursus, wie er z. Z. noch in Preußen ge-
setzlich ist, als durchaus unzureichend erscheinen.
Die Auswahl der Bildungsstoffe, die der gegenwärtige Lehrplan ^,"^^"^"''^^^^5^
der höheren Mädchenschule aufweist, ist Gegenstand mannigfacher Kritik
in den letzten Jahrzehnten geworden. Für uns muß die kritische Frage
zunächst lauten: Sind die Bildungsstoffe so gewählt, daß an ihnen sich
die intellektuellen Interessen entwickeln können, denen sich eine vom
Drang nach persönlicher Bildung beseelte Frau naturgemäß zuwendet?
Von diesem natürlichen Interessenzug aus muß die Stoffauswahl wesent- a) unter dem
"^ Einfluß der
lieh bestimmt sein. Die Kluft zwischen den natürlichen Interessen des intellektuellen
Interessen.
gebildeten Menschen und vielen Interessen, die unsere höheren Schulen
pflegen, erscheint als ein schwerer Schade, dessen auffälligste Erscheinung
das mit dem Ende der Schulzeit eintretende Abreißen der Interessenfäden
ist, die die Schule angesponnen hat. Dieser Gegensatz schwächt die
Fort- und Fernwirkung der Schule ungemein. Nun gibt es ja allerdings
Stoffe, die unzweifelhaft schulnotwendig sind, weil an ihnen Schulung
des Geistes gewonnen wird, und an denen das Interesse nach der Schul-
zeit naturgemäß erlischt (ich erinnere an die Mathematik); aber diese
Stoffe sind dann auch zwar nach ihrem vollen Wert, aber eben doch als
Hilfsstoffe zu bewerten. Wir weisen also alle jene Neuerungen zurück,
die nicht von dem Standpunkt ausgehen, daß an den Stoffen der Schule
die Lust und die Kraft zur Befriedigung der natürlichen Interessen per-
sönlicher Bildung gewonnen werden muß. Zurzeit haben wir in den
Schulen vielfach Bildungsinteressen, die sich nicht naturgemäß in das
Leben fortsetzen, und im Leben Bildungsinteressen, die verkümmern, weil
die Schule sie nicht entwickelt hat. „Im Leben" — d. h. nicht in einem
Abstraktum Leben, sondern in dem Leben der Gegenwart, in dem jeder
Mensch, der der Welt nicht abgewandt ist, sein persönliches Leben führt.
Wohl hat es Zeiten gegeben, in denen ^er Mensch, in ruhiger Daseins-
behaglichkeit lebend, mit seinen geistigen Interessen Bürger früherer
Kulturzeiten werden konnte, aber selbst das stumpfste Zeitgefühl muß
sich sagen, daß unsere Zeit voll ist von stärkster, beängstigender Spannung
in die Zukunft hinein. So gewiß jedes wertvolle Personenleben in unserer
Zeit ein Gegenwartsleben sein muß, so gewiß kann ein natürliches
Bildungsinteresse nicht z. B. in die antike Welt zurückführen. (Das Fach-
Ull iCuLTUK DUL GlOBNWAaT. I. I. '4
2IO Hugo Gaudik; Höheres Mädchenschuhvesen.
Interesse des Gelehrten ist natürlich außer Frage.) Es müssen darum
schon hier mit aller Entschiedenheit die Bestrebungen abgelehnt werden,
die mit dem Studium der alten Sprachen das Defizit der Mädchen-
bildung ausgleichen wollen. Hier handelt es sich um einen grundstürzenden
Irrtum, der außerdem einen Bruch mit der Geschichte der höheren Mädchen-
schule bedeuten würde. Ein anderes Urteil wäre möglich, wenn der Be-
weis gelänge, daß etwa das Latein zu irgendwelcher Schulung, logischer
oder sprachlicher, unvermeidlich wäre. Die Frage, ob Latein als Vor-
bereitung zu den wissenschaftlichen Studien der Frauen unumgänglich
nötig ist, wird unten berührt werden.
(Die natürlichen 4. D i e B il du n gs st o ff c. Welchcs sind nun die natürlichen Erkenntnis-
richtungen.) richtungen des gebildeten Menschen (auch der gebildeten Frau) unserer Zeit?
Das Charaktermerkmal unserer Zeit ist die soziale Frage; alle anderen
zeitbewegenden Fragen haben nicht entfernt die Druckkraft dieser Frage;
viele von ihnen sind Unterfragen dieser Hauptfrage. Die soziale Frage ist
die Frage des XX. Jahrhunderts, ja der gesamten Weltepoche, in die wir
eingetreten sind. Ein Personenleben, in das diese Frage nicht eingriffe, Ziel
und Gestalt gebend, ein Personenleben, das sich als persönliches nicht eben
in der Stellungnahme zu dieser Wesensfrage unserer Zeit bewährte, steht
außerhalb der Zeit. So ist denn die soziale Frage auch das Gebiet, auf
das die natürlichen Erkenntnisrichtungen hinführen. Wer kein außerzeit-
liches Personenleben führt, dessen Geist wird die magische Anziehungs-
kraft dieses Lebensgebietes spüren. Die Schule hat die Aufgabe, das
Verständnis für das soziale Leben anzubahnen. Sie muß die moderne Ge-
sellschaft nach ihren natürlichen und ihren freigebildeten Zusammenhängen
und Gegensätzen verstehen lernen. Sie kann das nur, wenn sie das Ver-
ständnis für alle in Betracht kommende Faktoren, die Stammes-, Nationa-
litäts-, Rassenzusammenhänge, die wirtschaftlichen, politischen, sittlich-
religiösen, geistigen Verhältnisse geschichtlich entwickelt. Die soziale
Frage greift in alle Gebiete des Kulturlebens hinüber. Aber diese Ge-
biete sind auch an sich um ihrer selbst willen Gegenstand natürlichen
Erkenntnisstrebens; so das politische Leben der deutschen Nation in seiner
großen Geschichte; so vor allem „das geistige Leben" der Nation im
engeren Sinne, das Leben in Wissenschaft, Technik und Kunst, das
Sprachleben. Die Schule hat auch hier die Aufgabe, den natürUchen
Bildungsinteressen propädeutisch, wegweisend zu dienen, besonders durch
Erweckung geschichtlichen Verständnisses. Wir sind hier mit allen denen
einig, die von der Schule eine, vertiefte geschichtliche Bildung, Berück-
sichtigung der Volkswirtschaft in weiterem Maße, Behandlung der Geschichte
in der Form der Kulturgeschichte fordern. Doch muß darauf hingewiesen
werden, daß solche vertiefte Bildung weder bei der gegenwärtigen Methode
noch bei der gegenwärtigen Stundenzahl erreichbar ist (s. u.). Der Cha-
rakter der höheren Mädchenschule wird sich nicht durch Auslassung eines
der Kulturgebiete, sondern nur durch Betonung der für das Frauenleben
in. Die Gegenwart. 4. Die BildungsstofTe. 2 11
besonders wichtigen Gebiete, z. B. des Frauenlebens, des Familienlebens,
des Lebens der Träger deutscher Größe, des literarischen und künstleri-
schen Lebens, ausprägen. Die hier besprochenen Gebiete intellektuellen
Interesses weisen vielfach über den Rahmen nationalen Lebens hinaus;
doch liegen innerhalb dieses Rahmens die Gebiete der naturgemäß stärk-
sten Anteilnahme. Die starke, selbstbewußte Betonung der nationalen
Bildungsstoffe liegt in der Natur persönlicher Bildung. Die Idee einer
lebendigen Bildung fordert, was die Fülle unvergleichlicher Bildungswerte
empfiehlt. Deutsche Bildung mit ursprünglichem oder doch deutschge-
formtem Bildungsgut ist eine Forderung, die endlich gegenüber dem
fremden Bildungsgut durchgedrückt werden muß. „Deutsche Bildung" in
der Hauptsache mit fremdsprachigem Bildungsgut erreichen zu wollen,
heißt der überreichen deutschen Kultur ein Armutszeugnis ausstellen.
Doch soll nicht verkannt werden, daß einerseits die geschichtliche Be-
trachtung des deutschen Kulturlebens, anderseits der Eigenwert fremden
Kulturlebens und drittens der internationale Zug der neuzeitlichen Kultur
über das nationale Bildungsgut hinausweisen, so in erster Linie auf das
Leben der Griechen und der Franzosen, in zweiter auf das der Römer
und der Engländer. Man halte indes zunächst fest, daß ein Wissens-
interesse an dem Kulturleben der alten Völker sich auch in reichem Maße
ohne Kenntnis der fremden Sprache befriedigen kann. Selbstverständlich
verlangt ein allseitig entfaltetes und ein spezifisch wissenschaftliches In-
teresse auch die Kenntnis der fremden Sprache, die nicht nur eines der
wertvollsten Güter fremder Kultur, sondern auch für viele andere Güter
die Form ist, in der sie uns überliefert sind, zugleich die Form, die in
engster Wechselbeziehung mit dem Inhalt steht. Aber erstens hat der
Genuß dieser feinen Beziehungen gelehrte Kenntnis der Sprache zur
Voraussetzung, zweitens hemmt die Mühsal der Erlernung der Sprache
und des Übersetzens die Freude am Genuß des fremden Geisteslebens,
drittens wird der Mangel an Feinheit der Erkenntnis durch die in sehr
verkürzter Zeit erreichbare Tiefe und Breite der Erkenntnis ersetzt. Unter
den beiden modernen Kulturvölkern zieht das französische das Interesse
ungleich stärker an als das englische, schon durch den Reiz seiner der
deutschen vielfach so entgegengesetzten Eigenart; ebenso durch die kul-
turellen Wechselbeziehungen beider Nationen usw. Die wertvollere Lite-
ratur des Englischen bildet kein so schwer wiegendes Moment, da sie zu
unserer Literatur nicht entfernt in dem Maße wie die des Französischen im
Ergänzungsverhältnis steht, und da die literarischen Werke, die uns Deut-
schen wesentlich anderes als unsere eigene Literatur bieten, in Über-
setzungen zugänglich sind, die den Geist des Originals besser geben als
Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche. Ebenso vermag die
französische Sprache ungleich mehr als die englische das Wissensinter-
esse an firemdem Sprachleben, das ein Merkmal höherer Bildung ist, an-
zuregen und zu befriedigen. Sie stellt sich von vornherein dem Lernenden
"4*
2 12 Hugo Gaudig : Höheres Mädchenschulwesen.
als eine andere Sprachwelt dar. Zudem ist sie ein lebendiger Ausdruck
des französischen Geisteslebens. Können zwei fremde Sprachen in einer
Schulart bewältigt werden, dann müssen es vom Standpunkt der persön-
lichen Bildung die französische und die englische sein, da die Völker dieser
Sprachen zusammen mit dem deutschen die eigentlichen Träger der Welt-
kultur sind, deren Geist jede im Kulturleben stehende Persönlichkeit in
irgendwelchem Umfange verarbeiten muß. Kann nur eine Sprache ge-
lehrt werden (s. u.), dann wird es, wo nicht örtliche Verhältnisse in anderer
Richtung wirken, die französische sein müssen, wenn man auch nicht ver-
gessen wird, daß die schneller erlernbare englische Sprache uns schnell
in einer reichen Kulturwelt heimisch macht.
In dem Wissensinteresse an dem Kulturleben des eigenen Volkes wie
der fremden Völker ist ein Wissensinteresse mitwirksam, das aber auch
sonst als selbständiges Interesse eine zunehmende Anziehungskraft auf
den Sinn des Gebildeten entfaltet — das psychologische. Das Seelen-
leben der fremden Völker und das des eigenen Volkes, seiner Stämme,
Stände usw., das Seelenleben der großen Kulturträger in der Politik und
der Kunst, das Seelenleben der Menschen unserer nächsten Umgebung,
nicht zuletzt unser eigenes Seelenleben muß in unser Bildungsstreben ein-
bezogen werden, wenn wir dem natürlichen Bildungszuge folgen. So
müssen wir denn denen zustimmen, die psychologisch bedeutsame Stoffe,
an denen das Leben der menschlichen Seele verstanden werden kann,
für die höhere Mädchenschule fordern, um so mehr als die Teilnahme, die
die Frau allem Persönlichen entgegenbringt, ein tieferes psychologisches
und charakterologisches Verständnis, eine vertiefte Menschenkunde fordert.
Ja, man wird schwerlich die Meinung abweisen können, die am Abschluß
des Gesamtunterrichts eine Zusammenordnung und einen planmäßigen
Auf- und Ausbau der gewonnenen Einzelerkenntnisse fordert.
Ein der Menschenseele eingeborener Zug des Wissens, ohne den
eine vertiefte Persönlichkeitsbildung nicht wohl denkbar ist, führt über
die Welt der Erscheinungen hinaus in die Welt des Unsichtbaren, Über-
zeitlichen und Überräumlichen. Die Flachheit des persönlichen Lebens
in unserer Zeit erklärt sich nicht zum mindesten aus der intellektuellen
Gleichgültigkeit für das Jenseits der Erscheinungswelt. So drängt schon
das intellektuelle Interesse zur Aufnahme jener Stoffe in den Lehrplan,
in denen sich die geläutertsten Vorstellungen über die Welt des Jenseits
dem Nachdenken darbieten, und zwar nicht in der Gestalt philosophischer
Spekulationen, sondern persönlichster Überzeugungen. Ich meine die
Urkunden der christlichen Gedankenwelt.
Zum Menschenleben führte der erste starke Zug des intellektuellen
Bildungsinteresses, in die Welt des Übersinnlichen der zweite. Das Natur-
leben ist das dritte Gebiet, in dem sich dieses Interesse ausleben oder
doch betätigen muß. An sich ist das Wissen und Erkennen in diesem
Gebiet weniger eng mit dem persönlichen Leben verknüpft; aber zunächst
IIT. Die Gegenwart. 4. Die Bildungsstoffe. 213
ist alles Kulturleben, besonders unser modernes, ohne tüchtige Xaturkenntnis
nicht gründlich zu verstehn: die Psychologie fordert Anthropologie, die Ge-
schichte Geographie, physikalische Technologie usw. Zum andern würde
intellektuelle Gleichgültigkeit gegen das Leben der Natur, das uns, zum
Erkennen reizend und lockend, in so vielgestaltigen P'ormen umgibt, auf
eine bedenkliche geistige Stumpfheit schließen lassen, die mit der Forde-
rung geistiger Aktivität in scharfem Widerspruch stünde. Drittens be-
darf der denkende Geist die Ergebnisse des Naturerkennens zur Gestaltung
seines „Weltbildes". Viertens endlich gewährt die moderne naturwissen-
schaftliche Forschung die hohe Freude des Einblicks in den rastlosen
Fortschritt des exakt forschenden Menschengeistes. Der Frauennatur
besonders günstig liegen die biologische und die praktisch-technologische
Betrachtungsweise. So bestehen Gründe genug, den Naturwissenschaften
einen breiten Raum im Lehrplan der höheren Mädchenschule einzuräumen.
Doch wird man immerhin von unserem Standpunkte aus betonen müssen,
daß bei dem persönlichen Bildungsstreben des Erwachsenen, zu dem die
Schule erziehen will, das Leben selbst ungleich mehr zum Erkennen des
Menschenlebens als des Naturlebens anreizt, und daß die Hilfsmittel
der freien Fortbildung für jenes Erkennen ungleich reichlicher und hand-
licher vorhanden sind als für dieses; man beachte in letzterer Richtung
vor allem den grundverschiedenen Wert der Bücher als der Vermittler
von Erkenntnissen und als der Unterlagen für eigene Erkenntnisarbeit.
Der Gebildete ist zunächst ein Erkennender, in zweiter Linie ein
Wissender; sein Erkennen muß als Niederschlag ein Wissen bringen; und
aus diesem Wissen muß das Erkennen Antriebe, Richtungslinien, Ziel-
punkte usw. gewinnen. Aus dem Erkennen entspringt das Wissen, aus
dem Wissen das Erkennen. Damit das Wissen so wirkt, muß es in seinen
Teilen und als Ganzes klar angeeignet, gedächtnismäßig sicher, frei
beweglich, übersichtlich geordnet, zu kleineren und größeren Ganzen ge-
schlossen sein. (Vergl. Willmann: Didaktik II, S. 46 fg.) Damit der Ge-
bildete sein Wissen in diesen Zustand bringe und in ihm erhalte, muß die
Schule ihm die Freude an solchem Zustand durch die Erkenntnis seines
Wertes für die geistige Arbeit gewährt haben. Für die Stoffauswahl
erwachsen hieraus die Forderungen, daß nicht durch die Art und die
Menge der Stoffe die Entwicklung jenes Wissenszustandes gehemmt, son-
dern gefördert wird. In dieselbe Richtung wie die eben gekennzeichnete
Form des Wissens weist die Form des geistigen Lebens, der geistige
Habitus, den die gebildete Frau anstreben muß. Das Leitbild dieser for-
malen Bildung muß so entworfen sein, daß die natürlichen Tugenden
des Frauengeistes zur vollen Entfaltung gelangen, die Mängel aber tun-
lichst beseitigt werden (s. u.). Wirkt dies Leitbild bestimmend auf die
Stoffwahl ein, so wird z. B. das Maß der Stoffe so bemessen, daß nicht
das Zuviel an Stoff zu hastigem Arbeiten zwingt, bei dem klare Aneignung,
gedächtnismäßige Sicherheit, tiefere Erfassung, freies selbsttätiges Arbeiten
21 A HuüO Gaudig : Höheres Mädchenschulwesen.
am Stoff, gesundes Kraftgefühl, Gefühl des sicheren Könnens und über-
haupt ein günstiger Gefühlsablauf ausgeschlossen sind. Demgemäß wird
man vor allem jeden geistverflachenden enzyklopädischen Einfluß von der
höheren Mädchenschule fernhalten und z. B. den „Mut" haben, einzuge-
stehen, daß die Mädchen in der Geschichte vieles nicht wissen, was etwa
beim Examen der Einjährig-Freiwilligen gefordert wird. Ebenso wird man
auf Stoffe verzichten, in denen man zu sehr in den Anfängen stecken
bleiben müßte, also nicht zu freierer Bewegung der Geister kommen
könnte; so beispielsweise wird man lieber auf das Englisch ganz ver-
zichten, wenn man ihm nur etwa in zwei Jahren je drei Stunden gewähren
kann. Vom Standpunkt der formalen Bildung aus wird man auch die
Frage nach der Aufnahme der Mathematik und nach dem Wert des
Rechnens im Lehrplan der höheren Mädchenschule im wesentlichen ent-
scheiden. Oben wurde als ein Mangel der natürlichen Geistesart der
Frau der Mangel an Exaktheit genannt. Rechnen und Mathematik
dienen aber als ein Hauptmittel der Erziehung zur Exaktheit, wenn sie
zur Gewinnung größenmäßig bestimmter Ansichten über die Natur-
erscheinungen und die Lebensverhältnisse (in den Naturwissenschaften,
der Weltkunde, der Erdkunde, der Geschichte, der Volkswirtschaft, der
Gesellschaftskunde usw.) benutzt werden. Alle die genannten Fächer muß
auf der höheren Mädchenschule der Geist mathematischer Bestimmtheit
durchdringen, damit dem Frauendenken die Genauigkeit der Größen-
bestimmung zum character indelebilis wird. Damit das aber möglich ist,
müssen Rechnen und Mathematik die Sachgebiete in Arbeit nehmen. Auch
in anderen Richtungen kann die Mathematik gerade zur Beseitigung der
Mängel weiblicher Geistesart helfen. In den Aufgaben und Beweisen stellt
sich eine Form des Arbeitsvorgangs dar, die mit dazu helfen kann, den
weiblichen Geist zu einer Reihe wertvoller Tugenden zu erziehen: zur Selbst-
tätigkeit im Stellen der Aufgaben, zur Besonnenheit in der Prüfung der
Aufgabe und im Bestimmen des Lösungswegs, zur Gewöhnung an ruhige
Energie entfaltung, zur „Zielstrebigkeit", zur Gleichmäßigkeit der Aufmerk-
samkeit, zur Kontrolle der Ergebnisse, zum „wissenschaftlichen Gewissen",
zur Entschiedenheit im Urteil. Das Rechnen mit reinen Zahlen, vor allem
aber die Algebra und Geometrie sind außerdem eine Schule in klarer Be-
griffsbildung, in der Loslösung der Begriffe vom sinnlichen Hintergrund.
Endlich kann sich auch an der mathematischen Arbeit das intellektuelle
Gefühlsleben zu ruhigem Ablauf einschulen (s. o.); ein amor intellectualis
kann das Ergebnis solcher Einschulung sein. Sonach muß denn die
Mathematik gerade für die Mädchenschule mitberücksichtigt werden.
Nur sei dabei an folgendes erinnert: Im Gebiet des Sachrechnens handelt
es sich zunächst um S ach denken und nicht um mathematisches Denken.
Klarheit und Scharfsinn im Auffassen des wirklichen Lebens in der
Geschichte, der Volkswirtschaft usw. wird also von der Mathematik als
solcher nicht gewonnen; nicht durch sie, sondern nur in ihr wird das
in. Die Gegenwart. 4. Die Bildungsstoffe.
215
Sachdenken geübt. Die eigentliche Denkschule für diese Fächer liegt in
ihnen selbst. Die rechnerische Durcharbeitung hilft nur zur Exaktheit
der Auffassung und bewahrt, indem sie die Ergebnisse in ziffernmäßiger
Bestimmtheit hinstellt, vielfach vor groben Irrtümern. So kann die Mathe-
matik als solche z. B. das „kausale-' Denken nicht schulen. Ferner ist
daran zu erinnern, daß die Übertragung der mathematischen „Tugenden«
auf andere Sachgebiete kein mechanischer Vorgang ist, ja, daß nach der
Erfahrung selten eine sichere Übertragung stattzufinden scheint. Die im
Gebiet der Mathematik gewonnene geistige Disposition versagt oft, so-
bald in einem anderen Sachgebiet gearbeitet wird. Nur dann erscheint
eine Übertragung in wirksamer Weise möglich, wenn die mathematischen
„Tugenden" auch in den anderen Disziplinen gepflegt werden, und wenn
dann eine formale Konzentration stattfindet.
An der Stoffauswahl ist aber nicht nur das Denken als solches (in b)_unt«r dem
materialer und formaler Beziehung) interessiert, sondern auch das Dar- intercsses^am
stellen; und zwar wiederum sowohl nach der Seite der Menge als der
Art des auszuwählenden Stoffs. Gerade der weibliche Geist besitzt auf
diesem Gebiet eine besonders reiche Begabung, deren Pflege gerade auch
eine persönliche Bildung fordert. Hierher rechnet die Kirnst lautrich-
tigen Sprechens, schönen Lesens, guter mündlicher Erzählung und Schil-
derung, dialogischer Gewandtheit, überhaupt die Kunst des gewandten
Sprechens, und zwar in der eigenen und in der fremden Sprache. Zu der
Kunst der mündlichen Darstellung tritt die der schriftlichen im Aufsatz.
Soll das Darstellen zu wertvollen Leistungen entwickelt werden, so muß
ihm vor allem Raum gegeben werden. Daher ist auch von diesem Ge-
sichtspunkt aus alles Zuviel an Stoff zurückzuweisen, weil es bei diesem
Zuviel nicht zur rechten Übung der Darstellungskunst kommt, sondern
man sich mit der rohesten Form der Garantie des Verständnisses beruhigt.
Leicht schließen sich hier die Forderungen des ästhetischen Interesses
, denn an alles Darstellen sollen auch ästhetische Maßstäbe angelegt
an
werden; an „alles Darstellen«, auch an das Darstellen mit der Singstimme,
mit dem Zeichenstift und Pinsel, mit der Nadel, ja mit dem ganzen Körper.
Gerade die persönliche Bildung der Frau hat alles Interesse, daß das
Innenleben nicht nur einen wahren, sondern auch einen schönen Ausdruck
durch den Körper gewinnt. Das ästhetische Interesse fordert ferner die
Fähigkeit zum ästhetischen Genuß. Auch hier wiederum eine Domäne
spezifisch weiblicher Geistesart: die sinnliche Lebhaftigkeit des Empfindens
und Vorstellens, die Leichtigkeit beim Wechsel der geistigen Funktion,
die leichtere Erregbarkeit des Gefühls, die größere Empfänglichkeit sind
Vorzüge des Frauengeistes. Das Ideal eines persönlichen Gegenwarts-
lebens fordert auch solche Stoffe, in denen moderne Gefühlsweise sich aus-
spricht, so die neueste Literatiu-. Die Fordenmg der „Kunsterziehung",
der Erziehung zum künstlerischen Genuß, wird die höhere Mädchenschule
noch stärker betonen müssen als bisher. Sie wird auch die Erziehung
c) unter dem
Einfluß des
ästhetischea
Interesses.
2 [ 5 Hugo Gaddr; : Höheres Mädchenschulwesen.
zum Genuß der Werke bildender Kunst in ihren Lehrplan aufnehmen.
Aber sie wird sich zunächst vor dem Glauben hüten, als genüge es zur
Kunsterziehung, wenn den Schülerinnen die Kunstwerke zugänglich ge-
macht würden. Vergl. die Verhandlungen der Kunsterziehungstage. Kunst-
genuß im tieferen Sinne ist das Ergebnis künstlerischer Seelenpflege; er
kann nur durch eine feine Arbeit an den Seelen erreicht werden. Ästhe-
tisches Genießen ist auch, außer wo es sich um ganz einfache Elementar-
gefühle handelt, nicht ohne höhere intellektuelle Tätigkeit denkbar.
Namentlich bei Werken der Dichtkunst ist ästhetische Lust nichts als die
Lust an den geistigen Funktionen, z. B. dem Schaffen der Phantasie, dem
sinnvollen Beziehen, und die Lust an Objekten, die uns nur durch tiefere
geistige Arbeit verständlich werden, z. B. den lebendigen Kräften des
Personenlebens, einem interessanten Tatsachenverlauf, bedeutsamen Bildern,
die unsere Phantasie schaffen muß, sinnvollem Aufbau des Kunstwerks,
tiefen Reflexionen. — Außerdem wird man bei der Erziehung zu ästheti-
schem Tun und Genießen bedenken, daß die Kritiker dann der höheren
Mädchenschule einen schweren Vorwurf machen könnten, wenn sie ihr
ganzes Bildungsideal zu stark ästhetisch färbte. Die schwere Zeit der
Not fordert auch von der Frau einen denkklaren Kopf, ein von sittlichen
und religiösen Gefühlen tief bewegtes Herz und einen festen sittlichen
Willen. Erst wenn diesen Forderungen genügt ist, gibt sie den Geist
frei zum Genießen der Kunst, zur Erhebung in die vom Dichter ge-
schaffene Welt über der Welt,
d) unter dem Bisher sind die Ansprüche an die Stoffauswahl erwogen, die sich auf
Rücks'icht'a'uf dem eigensten Gebiete der Bildung, dem Gebiete des intellektuellen
"^Lew ^ Lebens, geltend machen. So gewiß aber die Geistesbildung nicht gegen
das übrige Personenleben isoliert werden darf, so gewiß werden sich auch
von den übrigen Betätigungsgebieten persönlichen Lebens Forderungen an
die Wahl der Bildungselemente erheben. Als eines jener Betätigungs-
gebiete persönlichen Lebens bezeichneten wir das Leibesleben. Eine
persönliche Gestaltung des Leibeslebens setzt Kenntnis des leiblichen
Lebens, des Körpers, seiner Funktionsweise, seiner Pflege, voraus. Daraus
ergibt sich die Forderung, daß die Schule die Schülerinnen mit dem
menschlichen Organismus und seiner Pflege bekannt mache und nicht nur
in theoretisch kühler Betrachtung, sondern indem die Schülerinnen zu-
gleich mit einem klaren Bewußtsein seiner Bestimmung und seines Wertes
erfüllt werden. Besonders die Mädchen sind mit solchem Wertgefühl zu
erfüllen, da ja die Mehrzahl von ihnen berufen ist, mit eben diesem Or-
ganismus den denkbar größten Kulturdienst, die Fortpflanzung der Gat-
tung, zu leisten. Die unterrichtliche Behandlung des Körpers muß nicht
nur zu einer Diätetik, sondern zu einer „Ethik des Leibes" hinführen. —
e) unter dem Ein wcitcrcs wichtiges Betätigungsgebiet persönlichen Lebens war das
sozial ethischen Leben der Gemeinschaften, der Familie, der Gesellschaft, der Nation,
des Staates. Eben diesen Gebieten wandte sich bereits das Wissensinteresse
in. Die Gegenwart. 4. Die Bildungsstoffe. 217
nachdrücklich zu. In derselben Richtung wirkt nun auch das ethisch-
soziale Interesse. Nur daß jetzt nicht allein die Kenntnis der inneren
und äußeren Natur dieser Gemeinschaftsformen, ihrer Lebensgesetze und
Erscheinungsweisen, Ziel sein kann; vielmehr müssen die Stoffe so ge-
wählt und so behandelt werden, daß wiederum das Gefühl für den Wert
dieser Gemeinschaften und aus dem Wertgefühl die rechte Gesinnung,
z. B. der rechte Familiensinn oder die rechte Kulturgesinnung oder die
rechte Staatsgesinnung, entstehen kann. Der Reingewinn der Beschäfti-
gung mit den Gemeinschaften muß in ethisch-sozialer Richtung eine
Tugend- und Pflichtenlehre und darüber hinaus die rechte Gemeinschafts-
gesinnung sein. — Hier reiht sich nun noch folgerichtig die Forderung f^unt«rdem
an, die sich auf dem höchsten Gebiet persönlichen Lebens, dem religiösen, religiösen
' ' Interesses.
erhebt. Die Art der Forderung ist dieselbe wie in den vorigen Fällen:
Eine Auswahl und eine Behandlung der Stoffe, bei der aus lebendiger
Erkenntnis des religiösen Lebens ein tiefes Wertgefühl und ein Verlangen
nach diesem Leben entsteht.
Ganz allgemein sei hier gesagt: Will der Unterricht der Bildung
persönlichen Lebens dienen, so muß er durchweg, in allen Disziplinen,
solche Stoffe darbieten, deren Wert für den Auf- und Ausbau dieses per-
sönlichen Lebens den Schülerinnen zum Bewußtsein kommt; denn nur das
als wertvoll Gefühlte und Erkannte wird als Bildungselement in das spätere
freie Personenleben hineingenommen, und gerade die Frauennatur bedarf
solcher Erregung aes Wertgefühls.
An das Ende unseres Zusammenhangs stelle ich die Forderungen, gi unter dem
die an die Stoffauswahl aus der Rücksicht auf das spätere Berufsleben, Rücksicht auf
das Berufsleben
also auf das wichtigste Betätigungsgebiet der Persönlichkeit, erhoben der verheira-
werden können. Daß diesem Gebiet, und zwar im besondern dem Berufs-
leben der verheirateten Frau, ein besonders ausgedehntes Forderungs-
recht gewährt werden soll, ist oben zugestanden. Die drei Teilgebiete
des Berufslebens der in der Ehe lebenden Frau sind die Lebensgemein-
schaft mit dem Gatten, die Kinderpflege und Kindererziehung und die
Wirtschaftsführung. Daß einst die Lebensgemeinschaft mit dem Gatten
eine Geistesgemeinschaft wird, dafür ist im bisherigen Entwurf des Bildungs-
ideals reichlich Sorge getroffen; wenn die Frau eben die geistigen Ge-
biete, in die sie die Schule eingeführt hat, weiter ausbaut, so ist damit
die geistige Interessengemeinschaft gegeben, falls der Mann nur über
seinen vielleicht technisch einseitigen Beruf hinaus geistige Interessen hat.
Jedenfalls hat die Schule das Ihrige getan, um zu verhindern, daß „der
deutsche Mann sich am häuslichen Herde langweile". Namentlich das
Kulturleben der Nation ist ein Gebiet, auf dem die geistigen Interessen
sich treffen und ergänzen können; „ergänzen", indem die Frau mehr (!)
das Leben in der Kunst, der Mann das in der Wissenschaft oder Technik,
die Frau mehr das Leben der Gesellschaft, der Mann das Leben des
Staats, die Frau mehr die idealen, der Mann die realen Lebenserschei-
2 1 8 Hugo Gaudig : Höheres Mädchenschulwesen.
nungen mit seinem Interesse verfolgt. Beide geben und nehmen, und da
der eine Teil nicht auf dem besonderen Interessengebiet des andern fremd
ist, geben beide nehmend. Den beiden anderen Teilgebieten des häus-
lichen Lebens, der Körper- und Seelenpflege an den Kindern und der
Wirtschaftsführung, ist eins gemein: beide Arbeitsweisen haben technischen
Charakter, bedürfen aber nicht nur der technischen Einübung, sondern
einer tüchtigen theoretischen Fundamentierung: die Kinderpflege anthro-
pologischer, psychologischer und pädagogischer, die Wirtschaftsführung
anthropologischer, sowie naturwissenschaftlicher und wirtschaftlicher Kennt-
nisse. Ein gut Teil dieser Wissensstoffe gehört bereits unserem Lehrplan
aus anderen Gründen an; so vieles Anthropologische, Psychologische,
Naturwissenschaftliche. Die nötigen Erg'änzungen würden den Lehrplan
nicht wesentlich belasten. Ganz neu würde nur die Pädagogik sein.
Entscheidend ist hier aber die Frage, ob praktische Kinderpflege und
Wirtschaftsführung in den Lehrplan aufgenommen werden soll. In der
Gegenwart gehen starke Bewegungen dahin, die Erziehung- zur Kinder-
pflege und zur Wirtschaftsführung nicht mehr dem Elternhause zu über-
lassen. Namentlich von der Kinderpflege, an der allerdings die Gesell-
schaft ein großes Interesse nehmen muß, will man alles Zufallsspiel fern
halten, dank dem manche jung-e Mädchen wohl eine gute Einführung ge-
nießen, andere dagegen einem schließlich gefährlichen Autodidaktentum
verfallen. Man will, daß die Gesellschaft für die Erziehung der späteren
Erzieherinnen alles tue, um sie dann mit aller Verantwortung für die
Erziehung zu belasten. Da wir in dem Beruf das wichtigste Arbeits-
gebiet des persönlichen Lebens sehen, besteht auch für uns das Interesse,
die erste Einschulung in der Kinderpflege und in der Wirtschaftsführung
nicht dem Zufall preiszugeben. Die Einbeziehung dieser Unterrichtsstoffe
in den Lehrplan würde auch den großen Vorteil haben, daß die Schule
dann das gesamte Leistungsgebiet der Frau umspannte und im besondem
die für dies Gebiet charakteristische Verbindung rein g-eistiger und geistig-
technischer Arbeit gleichsam vorbildete. Indes kann doch der große
Unterschied zwischen diesen technischen Arbeiten und den übrigen Fächern
des bisherigen Lehrplans der höheren Mädchenschule (die Nadelarbeit ab-
gerechnet) nicht verkannt werden. Zudem entwickelt sich ein selbständiger,
verläßlicher Trieb zu diesen Arbeiten bei den jungen Mädchen erst nach
der bisher üblichen zehnjährigen Schulzeit. Auch gehören diese Arbeiten
so sehr zu dem spezifischen Pflichtenkreis der verheirateten Frau, daß
man sie nicht gut in einen Lehrplan aufnehmen kann, der die gemein-
same Bildung aller Mädchen, die höhere Bildung suchen, umspannen soll.
Die Frage, ob man die Ausbildung in der Kinderpflege und Wirtschafts-
führung rein technisch gestalten, oder ob man sie zum integrierenden Be-
Die Mögiiciikeit standteil einer weitergeführten Allgemeinbildung machen soll, wird unten
Wissenschaft- i, --i j. i
lieber Arbeit berührt Werden.
wählten Stoffen. Eine der am meisten zur Zeit erwogenen Fragen ist die nach der
m. Die Gegenwart. 5. Die Methode des Unterrichts. 219
Vorbereitung der Mädchen für die akademischen Studien. Diese Frage
wird unten in dem Abschnitt über die Organisation der höheren Mäd-
chenschule ausführlicher zur Behandlung kommen. Hier sei nur auf das
eine hingewiesen, daß an eben den Stoffen, die bisher für die höhere
Mädchenbildung ausgewählt sind, auch eine weitere, wissenschaftlich ver-
tiefte Arbeit getan werden kann, die unmittelbar in die akademischen
Studien hineinführt. Um nur einige der Stoffe zu nennen, so kann an der
Hl. Schrift X. T.'s, wenn sie in einer wissenschaftlichen Übersetzung vor-
liegt, die Gewöhnung zu textgenauer Auslegung, zur Herausstellung der
Gedankengänge, gewonnen werden; ebenso können in der Weise der
biblischen Theologie die großen Lebensbegriffe in den einzelnen Lehrtropen
herausgearbeitet werden. Die deutsche Literatur gewährt die Möglichkeit
einer literarischen Behandlung, die sich von der wissenschaftlichen auf der
Universität nur durch den Umfang unterscheidet (ästhetische Analyse
eines Kunstwerks, Herausstellung der dichterischen Eigenart, Nachweis
der Zeiteinflüsse usw. usw.). Die Aufnahme des Mittelhochdeutschen führt
die sprachgeschichtliche Betrachtung dem Unterricht zu. An den neu-
sprachlichen Dichtungen kann gleichfalls in wissenschaftlicher Art gear-
beitet werden. Benutzt der Geschichtsunterricht Quellen, und erzieht er
zur Kunst, geschichtliche Darstellungen mit geschichtlichem Sinn zu
lesen, zu exzerpieren usw., so steht er bereits in der wissenschaftlichen
Arbeit mitten drin. Wird der naturwissenschaftliche Unterricht in Botanik,
Zoologie, Chemie, Physik in der Form eines elementaren Praktikums ge-
geben, so ist damit dem Universitätsunterricht unmittelbar vorgearbeitet.
Ganz anders freilich sieht die Sachlage aus, wenn die Rücksicht auf die
akademischen Studien zur Aufnahme des Griechischen und des Lateini-
schen oder doch des letzteren zwänge. Als zwingender Grund wird wohl
die besondere formal bildende Kraft der beiden alten Sprachen angeführt.
Eine gewisse Überlegenheit mag zugestanden sein; aber ich meine: Was
eine angehende Studentin an allgemeinem Verständnis für Sein und Werden
der Sprache, an Sprachsinn usw. zur Hochschule mitbringen muß, das
kann sie überreich bis zu den Grundprinzipien der Sprachgeschichte an
der deutschen und den beiden fremden Sprachen gewinnen, wenn die Zeit
dazu da ist, sich in die Grammatik dieser Sprachen zu vertiefen. Daß
man des Lateinischen für das Studium des Altfranzösischen, des Althoch-
deutschen, in etwas auch für das Studium der Medizin und der Pharmazie,
ferner für die Jurisprudenz und auch sonst braucht, ist allerdings richtig.
Aber die rein technische Verwendung des Lateinischen zu Studien-
zwecken kann nicht dazu veranlassen, eine Sprache aufzunehmen, die in
ihrem Schrifttum nur wenig bietet, was den Frauengeist tiefer zu erregen
vermag, und deren Aufnahme einen Bruch in den Gesamtaufbau der
höheren Mädchenbildung bringt.
S. Die Methode des Unterrichts. Die Forderungen an die DicMcthodedes
■^ ^ Unterrichts.
Methode können nur so gewonnen werden, daß man sich als Ziel der
2 20 Hugo G audio: Höheres Mädchenschulwesen.
Schule die Bildung und Erziehung zu persönlichem Geistesleben vor-
hält. Es soll zu geistigem Leben und Streben kommen (s. o.). Mithin
muß die Schule für die Antriebe zu diesem Leben und Streben
sorgen, vor allem muß sie Freude an den Sachen und Freude an der
Arbeit erwecken. Daß die an den höheren Schulen im allgemeinen (!)
geübte Unterrichtsweise das vermag, kann nur Verblendung behaupten.
Der strikte Gegenbeweis ist die geringe Teilnahme der Gebildeten z. B.
an Fragen des religiösen, des literarischen, des politischen Lebens. Die
Interessen der Allgemeinbildung- kommen in unserer Zeit nicht gegen die
Berufsinteressen und gegen den geistlosen Zeitvertreib auf. Die Schule
tut gut, sich auf ihr Schuldteil zu besinnen. — Der Gebildete muß ferner
die geistige Kraft und die Mittel zur Selbstbildung besitzen. Wenn
die Schule ihn nicht zur Selbstbildung befähigt, indem sie ihn beim
Fremdunterricht durch die ganze Schule ängstlich festhält, so versäumt
sie ihre Aufgabe im wesentlichsten. — Der Gebildete soll in dem, was
ihn umgibt, und in dem, was er liest, die Reizung zum Denken emp-
finden. Eine Hauptaufgabe der Schule ist, das spontane Herausempfinden
der Denkreize zu üben. Wird der Schüler in der Hauptsache durch die
Frage des Lehrers zum Denken gezwungen, dann stumpft sich sein Geist
gegen die im Objekt liegende Reizkraft ab; dann reagiert er nur auf den
Anstoß von außen, statt auf den inneren Impuls. — Wer den Anforderungen
an den Intellekt als Gebildeter genügen will, muß ferner einen in allen
Funktionen und Funktionsgruppen ausgebildeten Geist haben. Die Schule
muß diesen formalen Gesichtspunkt allseitig- wahrnehmen und vor allem
die Verkümmerung einzelner Funktionen verhüten; auch die Leichtigkeit
im Wechseln der Funktionen (im „Umschalten") ist zu üben. Die Übung
im Formulieren der Frage ist für klares Denken sehr wertvoll; die Kunst
der Fragestellung muß darum von früh an geübt werden. Überall, wo es
sich nicht um einen einzelnen Denkakt, sondern eine Reihe solcher Denk-
akte handelt, muß der Denkweg gesucht werden. Hier liegt eine der
schwersten Aufgaben der Schule. Ebenso ist ferner erforderlich die Er-
ziehung zur besonnenen Erwägung in kritischen Denklagen, zur Prüfung
des Ergebnisses, zur Einordnung des Neugewonnenen in das System der
bereits besessenen Erkenntnisse und Wahrheiten usw. Dazu kommt dann
die Erziehung zu den intellektuellen Tugenden, zu unpersönlichem, objek-
tivem Urteil, zum Wahrheitssinn usw.; endlich die Regelung des intel-
tektuellen Gefühlslebens.
Zu diesen Interessen an der Methode treten die Forderungen des
ästhetischen, ethischen, religiösen, praktischen Interesses; das ästhetische
Interesse fordert z. B. die Selbständigkeit, Freiheit und Leichtigkeit der
intellektuellen Vorgänge, ohne die ein künstlerisches Genießen undenkbar
ist; das ethische Interesse fordert besonders die Kultur des Willens zur
Arbeit durch die Pflege pflichttreuer, selbständiger, energischer Schul-
arbeit; im religiösen Interesse liegt namentlich das Mitschwingen der Ge-
m. Die Gegenwart. 5. Die Methode des Unterrichts. 22 1
fühle beim Denken, das Ergreifen der Wahrheit mit dem Herzen. Dem
praktischen Interesse wird besonders durch die Einschulung zu schnellem
Erfassen und zu klarem Wirklichkeitssinn genügt.
Soll dieser Gesamthabitus gewonnen werden, so muß, wenn ich recht
sehe, zunächst die Theorie der Methode ihren Schwerpunkt grundsätzlich
verlegen; nicht mehr Theorie der Lehrmethoden, sondern Theorie der
Lernmethoden muJ5 sie in erster Linie sein; nicht im Lehrer, der lehrt,
sondern im Schüler, der lernt, muß sie ihr Zentrum haben. Objekt und
Schüler — das muß ihre vornehmste Relation sein; dem Lehrer aber
muß der Weg gewiesen werden, wie er in der schnellsten Zeit aus seiner
Mittlerstellung zwischen Objekt und Schüler freiwerden kann. Nicht wie
der Lehrer spricht, liest, vorträgt, erzählt, beschreibt, schildert, erläutert,
entwickelt, experimentiert, übersetzt, korrigiert, prüft usw., ist das, worauf
es eigentlich ankommt; sondern wie der Schüler das alles lernt, und
zwar zu freiem Gebrauch, darauf kommt es an. Bei jeder Arbeitsart, bei
jedem Fach, in der ganzen Schulzeit muß es heißen: des Schülers Tätig-
keit muß wachsen, des Lehrers Tätigkeit abnehmen. — Soll daher grund-
sätzlicher Wandel durchgeführt werden, so ist die Schonung und Ent-
wicklung der geistigen Regsamkeit, die das Kind in der Gestalt der Lust
am Fragen, der Lust am Beschauen, am Phantasieren und Kombinieren,
in dem Drang, sich mitzuteilen, überhaupt in seinem ganzen intellektuellen
Triebleben in die Schule mitbringt, unbedingte Voraussetzung. Die Schule
darf diese kostbare Mitgift nicht verschleudern, indem sie dem Kinde auf-
zwingt, was seiner" natürlichen Regsamkeit nicht entspricht. Und ebenso
muß sie dann weiterhin sich entwickelnde Strebungen der Kindesseele
als etwas sehr Wertvolles pflegen. — Vor allem aber ist eins nötig: Die
Schule hat die Kunst des Arbeitens, die Arbeitstechnik, zu lehren,
den Begriff der „Arbeit" im weitesten Sinne genommen. Sie muß die
Schülerinnen zunächst mit der Arbeitstechnik der Teilgebiete der einzelnen
Fächer bekannt machen und so zur Beherrschung der gesamten Arbeits-
technik der Fächer hinführen. Ebenso hat sie Bedacht zu nehmen, daß
die mehreren Gebieten gemeinsamen Arbeitsweisen, wie das Auswendig-
lernen oder wie das Beschreiben und Schildern, das Erzählen, oder wie
die Erläuterung von Texten, die Korrektur eigener sprachlicher Ent-
würfe usw., auf diese Gemeinsamkeit hin gepflegt werden, so daß hier
eine sehr förderliche formale Konzentration entsteht. Das Lehren der
Arbeitstechnik geschieht so, wie überhaupt Arbeitstechnik gelehrt wird,
durch V'ormachen, Erläutern der Arbeitsweise, Nachmachenlassen mit be-
gleitender oder nachfolgender Kritik, Einüben bis zur Beherrschung, freies
Arbeitenlassen. Das gilt vom Schreibunterricht bis hinauf zur Unterwei-
sung in der Interpretation von Schriftwerken oder zur Lösung schwieriger
mathematischer Aufgaben. Die Arbeitstechnik umfaßt die großen Grund-
züge des Verfahrens bis zu den äußerlichsten technischen Kunstgriffen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Einübung der konstanten Denkrich-
2 , , Hi'Go Gaudig : Höheres Mädchenschulwesen.
tungen, d. h. derjenigen Richtungen, in denen sich in den einzelnen
Fächern das Denken gemäß der Natur der Fächer bewegen muß; ich er-
innere an die konstanten Denkrichtungen in der Geographie, der Natur-
beschreibung, der Auslegung dramatischer Kunstwerke usw. Soll die
Einschulung auf die geistige Arbeit aber ihr Ziel erreichen, so dürfen
nicht nur die geistigen Operationen eingeübt werden, sondern auch die
geistigen „Dispositionen", die erforderlich für erfolgreiche Arbeit sind,
z. B. die Spannung des Geistes, die Besonnenheit beim geistigen Han-
deln, der förderliche Gefühlsablauf, die Anpassung der Energie an die
Arbeit. — Dieses ganze Verfahren fordert vom Lehrer die psycholo-
gische Kenntnis des geistigen Lebens im allgemeinen und der beson-
deren geistigen Vorgänge in den einzelnen Fächern und in den einzelnen
geistigen Lagen, die der Unterricht schafft. Einer ganz besonders
sorgfältigen Analyse bedürfen die Denkvorgänge in der Mathematik.
Auf diese Analyse muß sich dann eine sichere Arbeitstechnik aufbauen,
die z. B. aus dem Auffinden von Konstruktionen etwas anderes als ein
glückhches Raten macht. Zu dieser Arbeitstechnik gehört es, daß der
Lehrer bei planimetrischen Konstruktionsaufgaben mit den Schülern plan-
mäßige Umschau über die Richtungen hält, in denen nach der Relation
des Gesuchten zu dem Gegebenen die Lösungen gesucht werden können.
Daß bei dieser Arbeitstechnik die Gruppierung der Aufgaben und
das Erkennen der Gruppe, in die eine Aufgabe gehört, überhaupt die
besonnene Umsicht über die Zusammenhänge von höchstem Wert ist,
liegt auf der Hand.
Wird die Einübung des Arbeitens nach sicherer Arbeitstechnik als
Hauptaufgabe des Unterrichts erkannt, so verschiebt sich die Auffassung
des Unterrichtsverfahrens und der Unterrichtswerte auch sonst beträchtlich.
Der Unterricht kann nicht mehr spezifischer Kathederunterricht sein;
vor allem muß die Einzelfrage erheblich eingeschränkt werden, da sie
dem Geist die Eigentätigkeit der Denkbewegung raubt und die geistige
Regsamkeit beeinträchtigt; der Lehrer steigt in die Mitte seiner arbeiten-
den Schüler herab. Das Verhältnis von Schul- und Hausarbeit ändert
sich gleichfalls wesenthch; die Hausarbeit kann freier und selbständiger
werden, da der Schulunterricht die Arbeitskunst lehrt. — Durch das Ar-
beiten mit den Schülern wird der Lehrer mit deren Befähigung ungleich
mehr bekannt als bisher; ebenso wird der Schüler mehr als bisher bekannt
mit sich. — Ferner kann der Klassenunterricht mehr als bisher durch
Spezialisierung der Aufgaben den individuellen Begabungen Rechnung-
trägen. Allerdings setzt diese Arbeitsteilung Geschick des Lehrers in
der Arbeitsvereinigung voraus. — Der Wert der Schüler wird nicht
sowohl in ihrem Wissen an sich, sondern in ihrem mit dem Wissen frei-
schaltenden Können gefunden. — Da diesem Gesamtverfahren die Los-
lösimg des Schülers von der Schule als Idealziel vorschwebt, so dient es
vor allem der Förderung eines selbständigen geistigen Personenlebens;
ni. Die Gegenwart. 6. Der Lehrplan. 223
ebenso auch der Heranbildung zu eigener Forscherarbeit. Der Haupt-
aufgabe der Universitäten, der Einführung in die Kunst der Forschung,
ist so vorgearbeitet, daß eine vollständige Kontinuität besteht. — Be-
sonders der Frauennatur tut die Einschulung in die Technik der Arbeit
not, wenn sie nicht durch die geringere Dispositionskraft, die dem
Frauengeist natürlich ist, an der Entfaltimg ihrer Tugenden, namentlich
der spielenden Kombinationskraft, gehindert werden soll. Das Mädchen
erträgt den Fragezwang und die geistige Gängelei nur schwer. Darum
gilt es, ihm zur Freiheit zu helfen; der Gefahr des planlosen Gedanken-
spiels aber ist durch eine tüchtige Einschulung in die Technik der
Arbeit vorzubeugen.
Zum Schluß nur noch die eine Bemerkung: Seit Jahrzehnten ver-
stummen die Klagen über unser höheres Schulwesen nicht mehr: Alles
Reformieren hat nichts geholfen. Die Reform ist eben auf einem falschen
Ende angefangen; nicht Änderungen in den Stoffplänen sind nötig, son-
dern eine grundsätzliche Änderung der Methode. Eine Zeit wie die
unsere, die keine Folgezeit, sondern eine Anfangszeit ist, birgt in sich
eine Unsumme von Problemen, alle überragend das soziale Problem.
Solche Probleme fordern Geister, die selbsttätig prüfen, und zwar nicht
nur mit dem kalten Verstände, sondern auch mit ganzem Gemüt. Ehe
die Schule der Zeit nicht solche zur Erwägung der Zeitfragen bereite
Persönlichkeiten vom ersten Schultage an planmäßig vorbilden hilft, wird
der Zwiespalt zwischen Schule und Zeitgeist fortbestehn. Die Zeit fordert
nicht Wissensfülle, sondern Denkkraft.
6. Der Lehrplan. Der Kampf der Meinungen ist besonders Der Lehrpian.
um die Frage nach dem Schwerpunkt des Unterrichts entbrannt.
Vonveg stellen wir fest, daß die höhere Mädchenschule als Schule
jedenfalls ihren Schwerpunkt in sich selbst, nicht etwa in einem „Ober-
bau" oder Aufbau, der der Vorbereitung für wissenschaftliche Studien
dient, haben kann. Für die Lage des Schwerpunkts erscheinen folgende
Erwägungen maßgebend: Der Lehrplan entspricht nur dann dem Bil-
dungsideal, das oben entworfen wurde, wenn solche Stoffe im Mittel-
punkt der Bildungsarbeit stehn, die der Bildung persönlichen Lebens
dienen. Nun gestaltet sich persönliches Leben am besten am per-
sönlichen Leben, sei es, daß es Gegenstand des Erkennens oder des
Fühlens oder der willenhaften Betätigung ist Und namentlich das per-
sönliche Leben der Frau entwickelt sich am persönlichen Leben. —
Persönliches Leben gestaltet und betätigt sich femer am und im Leben
der Gegenwart. Bildungsarbeit, die ihre Stützpunkte im persönlichen
Leben haben soll, muß darum in wirksamer Beziehung zur Gegenwart
stehn. Fehlen diese Beziehungen, so ist das schönste Ergebnis aller Bil-
dungsarbeit, das Bildungsinteresse, bedroht. Und wiederum wird be-
sonders die Frau meist nur die Bildungsinteressen pflegen, die zu dem
Gegenwartsleben, in dem sie steht, ein fruchtbares Verhältnis haben. Die
22 A Hugo G audio: Höheres Mädchenschulwesen.
Gesamtlage unserer Zeit aber ist insofern dem natürlichen Interessenzug
der Frau besonders g-ünstig, als es sich in unserer Zeit um Menschen-
tumsfragen von größter Tragweite handelt. Nicht das bewegt unsere Zeit in
der Tiefe, wie Werte materieller und geistiger Art hervorgebracht werden,
sondern, wie mit diesen Werten die Menschheit ihr Schicksal gestaltet. Doch
ist bei diesen Bestrebungen der Zeit die Frage nach der Beschaffung der
materiellen Mittel für die Gestaltung des Daseins von großer Bedeutung. Der
natürliche Rahmen, in dem das Interesse sich hierbei bewegt, ist zunächst
das Leben der Nation; doch folgt das Interesse naturgemäß auch den
internationalen Beziehungen der Nation. Sonach ist es die erste Auf-
gabe der höheren Mädchenschule, ihre Schülerinnen zum fcrtleitenden
Interesse an dem geistigen (besonders dem literarischen), dem sittlichen,
dem religiösen, dem politischen, dem wirtschaftlichen Leben der Nation
hinzuführen. Der Schwerpunkt des Unterrichts liegt also nicht in einem
Fach, auch nicht in einer Fachgruppe; der Schwerpunkt liegt in einer
Idee. Ein tieferes Verständnis des Gegenwartslebens der Nation und ein
geläutertes Interesse an diesem Leben ist aber nur möglich, wenn es
geschichtlich verstanden wird. Namentlich dem für geschichtliche Be-
trachtung von Haus aus weniger disponierten Frauengeist tut solche ge-
schichtliche Behandlungsweise not. Die geschichtliche Behandlung er-
möglicht auch das freiere Urteil über die Bewegungen der Gegenwart
und hindert so, daß man unselbständig und unpersönlich das Leben der
Gegenwart nur mitlebt, daß man ä la mode überschätzt und unterschätzt,
vor allem, daß die Werte aus dem Geistes- und Gemütsleben der Nation
verdrängt werden, die, wie z. B. die Werke der klassischen Periode der
Griechen und der Deutschen, vor allem aber die christliche Weltanschau-
ung, die Größe unseres Volkstums so wesentlich bedingt haben.
Die deutsche Mit allem Nachdruck muß zunächst im Lehrplan der höheren Mäd-
^""^ ^' chenschule der deutschen Sprache ihr Recht gewahrt werden. In
unserer Zeit, in der die sozial voneinander gerissenen Stände unseres Volkes
sich innerlich so wenig noch verstehn, hat die Sprache wie einst in der
Zeit politischer Zerrissenheit den Wert eines Einheitsbandes. Schon
darum, noch mehr aber wegen ihrer wunderbaren Ausdruckskraft, der
Kraft ihrer geschichtlichen Entwicklung bedarf die deutsche Sprache der
nachhaltigsten, hebevollsten Pflege. Daß es im 20. Jahrhundert Schulen
gab, die um des Lateins willen die Stundenzahl des Deutschen auf 3 oder
gar 2 herabsetzten, wird einen starken Posten im Schuldkonto der höheren
Schulen bilden. Die vom nationalen Kraftbewußtsein getragene Schule
muß die Muttersprache ehren, indem sie i. ihre Schülerinnen zur möglichst
vollendeten Handhabung dieser Sprache bringt, in der es sich so klar
denkt und Gedachtes sich so schön ausspricht, indem sie 2., weit entfernt,
am geweihten Körper der Muttersprache trockene grammatische Übungen
vorzunehmen, ihren Schülerinnen das Verständnis für die Schönheit und Er-
habenheit, die Bildsamkeit und Anpassungsfähigkeit, für die Treue im
rn. Die Gegenwart. 6. Der Lehrplan. j^e
Bewahren alten Kulturlebens und für alle anderen Ehrenattribute der
deutschen Sprache erschließt. (Dieser Unterricht in der Muttersprache
sei, ohne geradezu sprachgeschichtlich zu sein, doch sprachgeschichtlich
gefärbt. In einem wissenschaftlichen Oberbau allerdings würde eine
eigentliche geschichtliche Behandlung angezeigt sein.) Die Grammatik
hat nur dann ein Recht, wenn ihr Ziel in die Erweckung des Verständ-
nisses für die grammatische Kraft und Eigenart der deutschen Sprache
gesetzt wird. Vgl. z. B. die Sütterlinschen Sprachlehren. In das Wesen
der deutschen Sprache soll aber auch aller literarische Unterricht ein- Der Unterricht
r- t IT- n* • •••-r» Tii'^'^'^^ deutschen
fuhren. Hier muß die überaus unkunstlerische einseitige Betonung des Inhalts Literatur.
vermieden werden. Wie Inhalt und Form im Dichtergeist miteinander wachsen
in geheimnisvoller Wechselwirkung, so müssen Inhalt und Sprachform zu-
einander in lebendige Beziehung gesetzt werden. Ihrem Inhalt nach aber
führt die deutsche Literatur in alles hinein, was je die Tiefen der Menschen-
seele bewegt hat. Welcher Reichtum, welche Fülle, welche Unerschöpf-
lichkeit, welche Deutschheit! Und vor allem, das sei den Gegnern des
„Ästhetischen" gesagt, welch eine Gelegenheit zu jeder Form der Denk-
arbeit vom freien Phantasiespiel bis zum gebundensten Denken! Nimmt
man aber auch die moderne realistische Literatur und die moderne Prosa
hinzu, so sind reiche Möglichkeiten gegeben, zu scharfer Wirklichkeits-
erfassung hinzuführen. Die Schule muß endlich dem Reichtum, dem täglich
sich mehrenden goldenen Überfluß gerecht werden! Dabei müssen wir be-
sonders auch die Berücksichtigung der modernen Literatur fordern; sie
spiegelt am besten, wie die Menschheit, mit der wir leben, fühlt und denkt.
Zum Deutschen tritt die Geschichte, bisher ein Stiefkind in den Geschichte.
Lehrplänen aller höheren Schulen, bald hoffentlich ein Hauptfach. Aller-
dings nicht in der Form, in der es durch die ganze Schule auf nichts
hinauskommt als auf Erzählen, Wiedererzählen, Durcharbeiten, Wieder-
holen. Hauptforderung ist die illustrierende Quellenlektüre, und zwar
in den oberen Klassen nach dem Grundsatz der Arbeitsteilung. Ferner
muß gefordert werden die Befähigung zur Lektüre geschichtlicher
Darstellungen, die in der geistigen Reichweite der Schülerinnen liegen.
Besonders zu empfehlen sind Lebensbeschreibungen, namentlich weil sie
die großen Ereignisse einer Zeit in persönlichem Leben spiegeln. Über
eine noch weitergehende Forderung, über die Beteiligung der Schülerinnen
an der geschichtlichen Forschung, vgl. den Aufsatz des Verfassers: Ein
F"ortbildungsjahr (B. G. Teubner, 1905, S. 2 fg.).
Daß die Geschichte als Kulturgeschichte zu behandeln ist, bedarf
keines Hinweises. Die illustrierende Quellenlektüre sowie die Lektüre
kultureller Schilderungen und urkundlich wertvoller Lebensbeschreibungen
dient besonders dazu, das Zeitbild vielfarbig auszumalen. Die große
Fähigkeit der Mädchen, sich in einen fremden Kulturzustand einzufühlen,
sichert diesem Verfahren gute Ergebnisse. Bei aller kulturgeschichtlichen
Behandlung ist die Kenntnis des gesellschaftlichen Lebens (s.o.S.2 lofg.)
Du Kultur dir Gisimwart. L i. IJ
220 Hugo GAunic: Höheres MädchcnschuUvesen.
ein besonders wertvolles Ziel; diese Kenntnis aber ist nicht möglich ohne
Kenntnis des wirtschaftlichen Lebens. Ein Verständnis unserer Gegen-
wart ist nicht denkbar ohne die elementare Kenntnis der modernen Volks-
wirtschaft. So muß denn von der Geschichte nachdrückliche Berück-
sichtigung des wirtschaftlichen Lebens gefordert werden; und nament-
lich muß in dem Bilde unserer Gegenwart die moderne Wirt-
schaftsorganisation in breiterer Ausführung zur Darstellung kommen.
Durch diese volkswirtschaftliche Darstellung gelangen die Mädchen zu
einer klaren Auffassung der harten Realitäten des Lebens, über die sie
sonst leicht ihre Phantasie hinwegträgt.
Religion. Zu Deutsch und Geschichte tritt als drittes Fach der Religions-
unterricht. In einer Zeit, die auch im Zeichen des Kampfes der Welt-
und Lebensanschauungen steht, muß es als dringende Pflicht der höheren
Mädchenschule gelten, die Tiefe der christlichen Weltanschauung und
ihre unersetzlichen Lebenswerte in dem Maße dem Geist und dem Herzen
der Schülerinnen zu erschließen, als es die Fassungskraft ihres Geistes
und Herzens zuläßt. Nicht vernachlässigt werden darf dabei die Ent-
wicklungsgeschichte des kirchlichen und religiösen Lebens, damit die
Schülerinnen erkennen, daß die Religion das wichtigste Problem der
deutschen Geschichte gewesen ist.
Deutsch, Geschichte (mit Volkswirtschaft) und Religion geben den
Schülerinnen den Einblick in das, was unser Volk bewegt hat und noch
bewegt, was auch sie selbst, so g^ewiß sie ein persönliches Leben führen
wollen, bewegen muß. In und an diesen Gebieten ist der Geist zu
schulen für eine klare und denkscharfe Erfassung der Lebensfragen. In
allen drei Fächern aber haftet man an der Oberfläche, wenn man nicht
in die Tiefe des Seelenlebens eindringt. Nur bei psychologischer Ver-
tiefung werden die inneren Kämpfe, nur dann die selige Ruhe, nur dann
die Beweggründe menschlichen und göttlichen Handelns verstanden.
Psyciioiogie. Psychologie muß Unterrichtsprinzip im tiefsten und weitesten Sinne
sein. Sie verbindet noch besonders die ohnehin schon eng verbundene
Fächergruppe.
Naturkunde. Die fernwirkende Kraft unserer „Idee" erweist sich nun auch darin,
daß sie aus einer Reihe anderer Fächer die Stoffe anzieht. So vor
allem zunächt' aus der naturwissenschaftlichen Gruppe. Die Erkenntnis
des Menschen bleibt so lange unvollkommen, als nicht die Natur-
wissenschaften die Naturbedingungen alles menschlichen Lebens und
Wirkens haben verstehn machen. Ohne Kenntnis des Leibes keine
Kenntnis der Seele, ohne Kenntnis der Natur des Landes keine Kenntnis
seiner Bewohner, ohne Kenntnis der gesamten „Naturbedingungen" keine
Kermtnis des wirtschaftlichen, künstlerischen, überhaupt des geistigen
Lebens. Die Erforschung- der Natur ist in der Kulturgeschichte nament-
lich der neuesten Zeit einer der wichtig'Sten Gesichtspunkte; die enge
Verknüpfung des Natur- und Geisteslebens ein Kennzeichen unserer Zeit.
m. Die Gegenwart. 6. Der Lehrplan. 227
Unentbehrlich ist für die Ausgestaltung der „Idee" die Mathematik. Math^matiL.
Sie gewährt die Möglichkeit exakter Bestimmungen in dem Gesamtgebiet
menschlichen Wirkens und in dem Naturgebiet, auf dcis der Mensch form-
gebend einwirkt.
Gestaltend ergreift unsere Idee auch den fremdsprachlichen Unter- Der fremd-
sprachlich©
rieht. Der Zweck dieses Unterrichts muß von unserer Idee aus „Ver- Unterricht,
ständnis des fremden Volkstums" lauten; diesem Zweck muß vor
allem die Lektüre ihrem Inhalt nach, aber auch die Sprachbehandlung
dienen; das letztere nicht nur durch Aufdecken des Charakteristischen der
fremden Sprache, sondern auch durch das Dringen auf das Sprechen der-
selben; gerade das Sprechen in der fremden Sprache fördert das un-
mittelbare Verständnis des fremden Volkstums außerordentlich, sobald es
ein Sprechen im Geiste der fremden Sprache ist. Das so gewonnene
Verständnis fremden Volkstums schließt sich dann zusammen mit den in
der Religion, im Deutschen, in der Geschichte und in der Geographie
erlangten Einsichten in das Wesen anderer fremder Völker, und so er-
weitert sich das Verständnis des menschlichen Wesens in bedeutsamer
Weise über das eigene Volkstum hinaus. Das Charakteristische bei dem
Verständnis des fremden Volkes durch das Studium seiner Sprache und
die Lektüre seiner Geisteshervorbringungen muß die Gründlichkeit und
Innerlichkeit („Intimität") sein.
Wirken alle die genannten Fächer in der bezeichneten Weise zu-
sammen, um in den Schülerinnen das Verständnis für das Menschenwesen
und Menschenleben (namentlich des Menschen unserer Tage) zu erwecken,
so ist damit eine Konzentration gewonnen, die alles Zerfallen des Unter-
richts in unzusammenhängende T^ile ausschließt.
Indes muß doch folsrendes festgfehalten werden: So erwünscht es ist, DieSeibständig-
° ° keit der natiir-
wenn „die Idee" eine organisierende Kraft auf den Unterricht m allen wissenschaft-
" ° 11 liehen Fächer.
wissenschaftlichen Fächern ausübt, es hieße doch den zu den Zentral-
fachem peripher gelagerten Fächern alle ihre Würde nehmen, sie des-
organisieren und ihren besonderen (namentlich formalen) Bildungswert
schwer schädigen, wenn man den Aufbau und die Unterrichtsweise in
ihnen nicht nach ihrer Natur, sondern nach „der Idee" gestaltete. Nur
das wird man fordern müssen, daß sie dem Hauptziele der Schule so viel
dienen, als es ihre Natur zuläßt, daß z. B. in der Geographie die Kultur-
geographie, in den beschreibenden Naturwissenschaften die Anthropologie,
in der Physik und Chemie das Technologische, im Rechnen die für das
Verständnis menschlichen Handelns und Wandeins wichtigsten Sach-
gebiete zu ihrem vollen Rechte kommen, und daß diese Fächer, sowenig
sie anthropozentrisch sind, doch das Verständnis namentlich des modernen
Menschenwesens fördern.
Die naturwissenschaftlichen Fächer sind untereinander wiederum Facbenippen.
zu einer Gruppe verbunden, die zuhöchst auf das Entstehn eines physi-
kalischen Weltbildes, wenn auch nur in einfachen Strichen, hinarbeiten. —
22 8 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
Zu einer Gruppe sind dann auch wieder die Sprachen miteinander
verknüpft. — Als Fachgebiete, die zwischen den Geistes- und Natur-
wissenschaften vermitteln, erweisen sich besonders die Geographie und
die Volkswirtschaftslehre, beide Konzentrationsfächer ersten Ranges. Für
sich allein steht die Mathematik, mit allen Gebieten des Unterrichts
aber, soweit sie ein Messen zulassen, eng verbunden. — —
Nach dem bisher über den Lehrplan Gesagten müssen wir zunächst
alle Bestrebungen ablehnen, die die höhere Mädchenschule nach dem
Vorbild der höheren Knabenschule umformen wollen, sei es, daß sie nach
der Art der Gymnasien den Schwerpunkt in die alten Sprachen oder
nach Art der Oberrealschulen in die mathematisch-naturwissenschaftliche
Gruppe verlegen oder nach Art der Realgymnasien mehrere Gruppen
einander das Gleichgewicht halten lassen. Zustimmen müssen wir aber
dem Verlangen vieler nach intensiverer Gestaltung des Rechenunterrichts
Die Stellung der Und nach der Einführung der elementaren Mathematik. Nur daß man
nicht zuviel tun wolle! Man halte dreierlei fest: i. Die Mathematik „liegt"
(trotz aller Beobachtungen sei's gesagt!) der Frauennatur im allgemeinen
nicht; darüber hinweg kann nur eine dem Mädchen eigentümliche Kunst
täuschen, die Kunst, zu wollen, was man soll; 2. ein fortleitendes, über
die Schulzeit hinausführendes Interesse erweckt sie nur sehr selten;
3. eine Panazee gegen die Macht des Unlogischen ist sie nicht; die Mei-
nung, die Mathematik bringe eine „allgemeine formale Verstandsbildung"
zustande, gehört endlich in eine Rumpelkammer mit der Vermögens-
theorie. Jedenfalls entwickelt sie nicht das Verständnis für die im
Menschenleben wirksamen Kräfte und Wirkensformen. — Notwendig ist
zunächst unbedingt die Einführung der Arithmetik, und zwar der Rech-
nungsarten „der ersten und zweiten Stufe"; in den Gleichungen ersten
Grades mit einer und mit mehreren Unbekannten ist dann ein Mittel für
Rechnungen auf den verschiedensten wertvollen Sachgebieten gegeben.
Namentlich aus formalen Gründen ist erforderlich die Aufnahme der
Planimetrie, und zwar, wenn irgend möglich, bis zur Lehre von der
Proportionalität der Größen. Dies ist das Mindestmaß an Stoff, dem ein
Mindestmaß von 3 Stunden in den drei oberen Klassen entsprechen dürfte,
vorausgesetzt, daß man diese von einem guten Teil des bisher üblichen
Rechenstoffs entlastet. Ob man darüber hinausgehn kann, in der Arith-
metik zu den Rechnungsarten dritter Stufe, den Potenzen, Wurzeln, Log-
arithmen, den quadratischen Gleichungen, in dem Gebiet der Geometrie
zu den Anfangsgründen der Trigonometrie und Stereometrie, hängt vor
allem von der Prinzipienfrage ab, wie man sich i. zu der Frage des
Handarbeitsunterrichts und 2. zu der Frage des Unterrichts in den
neueren Sprachen stellt. Einem Handarbeitsunterricht, der unter Ver-
meidung aller Künstlichkeiten und Überflüssigkeiten der zukünftigen
Hausfrau dienen will, müssen wir nach unserem ganzen Standpunkt das
Wort reden, wenn wir auch einer Reduktion der Stundenzahl auf eine
m. Die Gegenwart. 7. Der wissenschaftliche Oberbau. 229
Stunde in den beiden oberen Klassen oder auch der völligen Streichung
der Handarbeitsstunden in diesen beiden Klassen, in denen jetzt das
Interesse für die Handarbeit oft recht stark abflaut, nicht grundsätzlich
entgegen sind. — Einer Verkürzung oder Streichung der einen Die Streichung
Fremdsprache zugunsten der Mathematik reden manche das Wort; spräche,
manche auch der Verweisung einer fremden Sprache in das Gebiet des
Fakultativen. Wir stellen zunächst als Grundsatz fest: Wenn zwei Fremd-
sprachen beibehalten werden, so müssen die Schülerinnen in beiden
sprachlich weit genug gefördert werden können, daß sie das fremde
Volkstum in seinen Grundzügen verstehn und zur selbständigen Fort-
bildung Lust und Kraft gewinnen. Gegen das vielfach jetzt übliche
schonungslose Amputieren der Fächer müssen wir uns prinzipiell aus-
sprechen; entweder gönne man den fremden Sprachen gesunde Existenz-
bedingungen oder man verweise sie ganz. Gegen die Verweisung der
einen Sprache, d. h. zumeist des Englischen, und zwar zugunsten der
Mathematik sprechen erstens die eben gegen ein erhebliches Mehr an
Mathematik geltend gemachten Bedenken, femer die oben dargelegten
Vorzüge des Englischen (s. o. S. 2 1 1 f.), desgleichen die herrschende Idee der
Bildung, die vom Gebildeten Mehrsprachigkeit fordert, und der Parallelis-
mus zu den Knabenschulen, endlich der praktische Wert dieser Welt-
sprache. Kommt man aber über die Bedenken gegen das Ausscheiden
des Englischen hinweg, so würden wir von den 4x4 englischen
Stunden nur etwa den vierten Teil der Mathematik, ein zweites Viertel
den fortzuführenden „beschreibenden Naturwissenschaften", das dritte und
vierte aber der Geschichte und der Volkswirtschaftslehre, sowie der Gesell-
schaftskunde zuweisen. Solange, man aber das Englische beibehält, so
lange mache man es auch unserem Hauptzweck bei der Mädchenbildung
nützlich, und zwar durch Einführung in das Leben des englischen Volks
nach den Hauptseiten seines Wesens. Die Schülerin lerne die Engländer
vor allem als das klassische Volk der Volksvertretung (des Pariaments),
des Welthandels, der Kolonisation, der sozialen Selbsthilfe kennen. Privat-
leben und schönwissenschaftHches Leben muß stark zurücktreten. — Ent-
scheidend für diese Fragen sind übrigens teilweise erst die nun folgenden
Erwägungen über den Ausbau der höheren Mädchenschule.
7 Der wissenschaftliche Oberbau. Die Erörterungen über diesen Der wissen-
Punkt sind am Anfang sehr nachteilig dadurch beeinflußt, daß von vom- Oberbau,
herein für das Zugangsexamen der Mädchen zur Universität dieselben
Forderungen wie an den höheren Knabenschulen erhoben werden. Dem-
gemäß lautete früher die Fragestellung: Wie befähigen wir die Mädchen
zum g)-mnasialen Abgangsexamen? Seit der Gleichstellung der Real-
gj-mnasien und der Oberrealschulen mit den Gymnasien kommt auch die
Abgangsprüfimg der beiden letzteren Schulen als Ziel in Frage. Ja, schon
das war der sachgemäßen Erörterung der ganzen Frage abträgUch, daß
sie unter dem Gesichtswinkel „Examen" behandelt werden mußte. — Die
2 ,Q Hugo Gaudig : Höheres Mädchenschuhvcsen.
wichtigsten Formen, in denen man die Vorbildung der Mädchen für aka-
demische Studien zurzeit erreichen will, sind i. die der (jetzt meist) real-
gjrmnasialen Kurse, bei denen der erfolgreiche Besuch einer höheren
Mädchenschule vorausgesetzt wird und eine drei- bis vierjährige Schul-
zeit erforderlich ist; 2. das Mädchengymnasium oder -realgymnasium, die
Mädchenoberrealschule, die nach Absolvierung von sechs oder sieben
Klassen der höheren Mädchenschule in sechs bis sieben Jahren zur Ab-
gangsprüfung führen; 3. die Koedukation, mit der in Baden, Württemberg
und Hessen Versuche gemacht werden.
Für uns muß die Frage von vornherein zunächst so gestellt werden:
Wie befähigen wir Mädchen, die den Kursus der zehnstufigen höheren
Mädchenschule in der von uns geforderten Weise durchgemacht haben,
zu akademischen Studien? Die Form des Examens ist dabei zunächst
etwas Gleichgültiges, da von den Schulverwaltungen erwartet werden
darf, daß sie, wenn ihnen ein Bildungsgang nachgewiesen wird, der sicher
zu akademischen Studien führt, nicht eine der traditionellen Examen-
formen oktroyieren werden. Für den von uns vorzuschlagenden Bildungs-
gang lauten die Grundsätze so: i. Der Bildungsgang muß, so weit als irgend
möghch, die geradlinige Fortsetzung des Bildungsganges der höheren
Mädchenschule sein. Damit ist ausgesprochen, daß er 2. der weiblichen
Geistesart angepaßt ist. Er muß 3. seinen wissenschaftlichen Charakter
besonders in der Entfaltung wissenschaftlicher Kraft bewähren. Der
erste Grundsatz schließt zunächst eine Umbiegung nach dem Gymnasium
aus; aber auch die Aufnahme des Latein und damit die Annäherung an
das Realgymnasium. Das Latein bedeutet, wenn es mit derselben Schluß-
wirkung wie an den Realgymnasien aufgenommen werden soll, den Bruch
in der Entwicklung, die verhängnisvolle Umbiegung: ein Fach, das bei
vierstufigem „Kursus" mit ca. sechs Jahresstunden angesetzt werden muß,
bei sechsstufigem aber mehrfach die Stundenzahl 8, 8, 6, 6, 6, 5 aufweist,
hat eine solche umbiegende Kraft; das kommt auch in der Herabsetzung
der Stundenzahl des Englischen auf 2, des Französischen auf 2 — 3, des
Deutschen auf 2 — 3 zum Ausdruck; so in dem vierjährigen Lehrgang der
Leipziger Realgymnasialkurse. Das Latein hemmt aber die Fortentwick-
lung in den drei Sprachen in eben dem Zeitpunkt, in dem einer wissen-
schaftlich vertieften Arbeit sich die besten Aussichten öffnen. Schüle-
rinnen, die eine wissenschaftlich vertiefte, systematisch geschlossene, viel-
fach schon geschichtlich begründete Kenntnis der deutschen, französischen
und englischen Grammatik gewinnen könnten, müssen Elementargrammatik
lernen; Schülerinnen, die für das Beste aus der Literatur Frankreichs und
Englands heranreifen und dieser Literatur das besondere Interesse ent-
gegenbringen, das diesen beiden großen Kulturvölkern wegen ihrer ver-
gangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Kulturwirkungen zukommt,
w^erden in die römische Literatur geworfen, die dem modernen Menschen
und besonders dem Frauengemüt nichts Wesentliches zu sagen hat. Dazu
*III. Die Gegenwart. 7. Der wissenschaftliche Oberbau. 23 1
muß die Aneignung der neuen Sprache in einem Zeitmaß geschehn, das
dem Bildungsertrag schädlich ist. Statt daß man mit den Schülerinnen
im sechzehnten Lebensjahr eine Sprache anfängt, die vor allem zunächst
Gedächtnisarbeit fordert, und zwar von einem bereits stark besetzten
Gedächtnis, entwickle man ihr Wissen in den drei lebenden Sprachen
bis an die Grenzen strenger WissenschaftUchkeit. Nicht minder pflege
man in diesen Sprachen das Können, besonders das dem weib-
lichen Geschlechte so außerordentlich erleichterte Sprechenkönnen, das
zurzeit infolge des Abflauens der Reformbewegung leider wieder stark
im Preis gefallen ist. Das stete ,.Anfangen" in den Lehrplänen der
höheren Schulen ist von großem Unsegen. — Soll in Rücksicht auf die
Universitätsstudien der Neuphilologinnen, Juristinnen usw. Latein auf der
Schule gelernt werden, so wäre ein ganz knapp zugeschnittener Kursus
von rein technischem Charakter allenfalls erträglich. Er wäre aber mit
eben diesem Charakter ein fremdes Element in dem gesamten Bildungsgang.
Darum bleibt die Erlernung des Latein am besten einem streng auf die
jeweiligen Zw-ecke zugeschnittenen Kursus an der Universität vorbehalten.
Das Lehrziel der Oberrealschulen kann für uns ebensowenig in
Frage kommen als das Lehrziel des Realgymnasiums; die starke Betonung
der Mathematik auf diesen besonders zur Vorbereitung zu höheren tech-
nischen Berufen dienenden Schulen schließt das völlig aus. Man wird in
der Mathematik sich in den Grenzen halten, die das Gymnasium sich ge-
steckt hat, und auch hier vielleicht noch einige Abstriche machen.
Der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Oberbaus bleibt dort liegen,
wo er in der zehnstufigen höheren Mädchenschule lag (s. o. S. 2 2 3 fg.). Im
Deutschen, dem mindestens vier Wochenstunden zugewiesen werden
müssen, werde der Sprachunterricht bis in die oberste Klasse fortgeführt
und sprachgeschichtlich gestaltet; für die sprachgeschichtliche Behandlung
gibt das Mittelhochdeutsche sichere Unterlagen. Die Geschichte werde
in der oben von uns geschilderten Weise so behandelt, daß Lust und
Kraft zu eigener Lektüre anderer Darstellungen, Freude an der „illustrie-
renden" Quellenlektüre und ein elementares Verständnis für geschicht-
liche Forscherarbeit, der Sinn für die Methode der Ermittlung geschicht-
licher Wahrheit sich entwickeln. Zu größerer Selbständigkeit muß sich die
Volkswirtschaftslehre entwickeln, ohne die ein tieferes Verständnis
unserer Zeit unmöglich ist. Der Religionsunterricht münde aus in
einer Glaubens- und Sittenlehre, die den inneren Zusammenhang der
christlichen Lebens- und Weltanschauung darlegt und (namentlich moderne)
nichtchristliche Lebens- und Weltanschauungen zur Erörterung bringt.
UnentbehrUch ist für den ganzen Oberbau die wissenschaftliche Psycho-
logie. Sie ist ein unentbehrliches Hilfsmittel, um den gesamten geistes-
wissenschaftlichen Unterricht zu vertiefen. Durch Hereinnehmen der
Psychologie kann der Unterricht der höheren Schulen meines Erachtens
den größten Fortschritt machen, den er seit langem gemacht hat, voraus-
2-12 Hugo Gaüdig : Höheres Mädchenschulwesen.
gesetzt natürlich, daß der gesamte Unterricht von psychologischem Geist
durchdrungnen ist. Obenein ist es ein Unterricht, dem der weibliche
Geist sich mit stärkstem Interesse zuwendet. Nur wenige Richtungen,
in denen die Psychologie sehr segensreich wirken muß, seien genannt:
das gesamte Gebiet, in dem Charaktere zu verstehn sind, seien es Einzel-
oder Volkscharaktere, das Gebiet der schöpferischen Denkvorgänge, das
Leben der Sprache usw. Von jedem Fach kann die Psychologie nehmen,
und jedem kann sie geben. In der naturwissenschaftlichen Gruppe werde
vor allem der botanische und zoologische Unterricht (unter tunlichster
Benutzung der Lemform des Praktikums) bis in die oberste Klasse fort-
geführt, so daß vertiefte morphologische und physiologische Erkenntnis
gewonnen wird. Dem zu feiner Arbeit mit der Hand, zu sorgfältiger
geistiger Kleinarbeit und zu induktorischer Denktätigkeit besonders ge-
eigneten Mädchen würde die Praktikumsarbeit besonders zusagen. Zu
reichlicher Pflege muß die Physik empfohlen werden, besonders auch,
weil in den physikalischen Aufgaben ein ausgezeichnetes Mittel der Ein-
schulung in das kausale Denken und in das Auffinden und Skizzieren
von Lösungswegen liegt. Der Erdkunde kann man um ihrer selbst willen,
besonders aber auch, weil sie zusammen mit der Volkswirtschaft die
breite Brücke zwischen den „ethischen" und den naturwissenschaftlichen
Fächern bildet, nicht entraten.
Die innere Disposition des Unterrichts bleibt dieselbe wie in der
höheren Mädchenschule (s. o. S. 223 fg.). Bei der so herbeigeführten starken
Geschlossenheit des Unterrichts widerrät sich die für Knabenschulen jetzt
in Erwägung gezogene Spezialisierung des Unterrichts, bei der nur ein Kern
von Fächern obligatorisch für alle ist, im übrigen aber der Unterricht sich
nach den Neigungen und Lebenszielen spezialisiert. Diese Vorwegnahme der
akademischen Lemweise würde außerdem zu einer geistigen Vereinseiti-
gung nach Bildungsstoff und geistiger Gestaltung führen, die bei der gefähr-
lichen Wirkung des akademischen Spezialistentums besonders bedenklich
ist. Und gerade in unserer Zeit, in der ein fester Zusammenschluß aller
leitenden Kräfte unseres Volks angesichts des Ansturms der die Gesellschaft
zersetzenden Elemente dringend nötig ist, kann die Basis gemeinsamer Bil-
dung nicht wohl breit genug sein. Namentlich ist solche breite Basis für
die zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen der höheren Stände zu fordern.
Der gesamte Unterricht sei der weiblichen Natur angepaßt. Er
entwickele die besonderen Begabungen des weiblichen Geistes und
arbeite besonders sorgsam an der Beseitigung seiner Mängel.
Die Arbeitsweise ist gleichfalls nichts als die Fortsetzung- und Ent-
wicklung der Arbeitsweise in der höheren Mädchenschule. Kennwort der
Arbeitsweise bleibt Selbsttätigkeit. Die Aufgaben nehmen immer mehr
in wohl berechnetem crescendo wissenschaftlicheren Charakter an. Die
Arbeiten spezialisieren sich nach dem Verfahren der Arbeitsteilung so weit,
als die Möglichkeit der Arbeitsvereinigung nur irgend reicht.
m. Die Gegenwart. 7. Der wissenschaftliche Oberbau.
233
Die Zeitdauer für den wissenschaftlichen Oberbau ist auf drei bis
vier Jahre zu bemessen. Drei genügen allenfalls. Doch würde man bei
vier Jahren in ausgiebigster Weise auf die größere Zartheit des weib-
lichen Organismus Rücksicht nehmen können, und darum ist ein vier-
jähriger Kursus weitaus vorzuziehn.
Durchaus zu warnen ist vor einer falschen Form der Abgangs- Die Abgangs-
prüfung. Die geistbedrückende und denklähmende Anhäufung von ^"""'^■
Wissensstoffen für „Prüfungszwecke" widerstrebt der weiblichen Natur
noch ungleich mehr als der männlichen. Da wir ein selbsttätiges Arbeiten
verlangen, so bilden die freieren Arbeiten der Schülerinnen, die aus allen
Fächern (auch der Religion) seit dem Beginn des vierjährigen Kursus
vorliegen, eine breite wertvolle Unterlage für das „Urteil" über die Reife
der Schülerin. Dazu treten dann in der Examenzeit häusliche Studien
über ein beschränkteres Thema mit völlig freier Literaturbenutzung und eine
Anzahl von Klausuren. Die mündliche Prüfung hat nicht den Charakter
eines hochnotpeinlichen Abfragens, sondern gibt den Schülerinnen
Gelegenheit, zu zeigen, wie sie eine in ihrem Gesichtskreis liegende Auf-
gabe anfassen. Dabei mögen die Aufgaben, besonders aus dem Gebiet
der Auslegung der Schriftsteller, so eingerichtet sein, daß die Schülerin von
der Erläuterung aus in freier Arbeit, assoziierend und systematisierend,
ihr Wissen in die Breite und Tiefe entwickeln kann.
Die vollausgebaute höhere Mädchenschule, wie sie mir vorschwebt,
steht hinter den g>-mnasialen Anstalten durch das Fehlen der klassischen
Sprachen zurück; hinter allen Knabenanstalten durch ein Weniger in der
Mathematik, hinter dem Gymnasium allerdings nur um ein Geringes;
hinter dem Realgymnasium und der Oberrealschule in Physik und Chemie,
während sie hier dem Gymnasium überlegen sein muß; vor allen drei
Anstalten hat sie die schärfere Betonung der beschreibenden Natur-
wissenschaften, und zwar in biologischer Behandlung, voraus. Die Gebiete,
auf denen sie ihr Defizit wettmachen muß, sind die übrigen Fächer;
unter diesen würden ihr allein Psychologie und eigentliche Volkswirt-
schaftslehre eigen sein. Ein vom Frauengeist leicht zu erwerbendes
Mehr würde auf dem Gebiet der Literaturen liegen, wo eine selbständige
Behandlung auch schwieriger Kunstwerke unter künstlerischem Gesichts-
punkte, desgleichen die selbständige Behandlung kleiner literargeschicht-
licher Fragen Ziel sein müßte. Weit voraus läge das Ziel beim münd-
lichen Gebrauch der Sprache. Beträchtlich höher wäre auch das Ziel in
den drei Sprachlehren, besonders der deutschen, zu stecken. Li der Re-
ligion kämen der Frauengeist und das Frauengemüt einer weitergehenden
Vertiefung in das Innenleben der religiösen Menschen gern entgegen.
Endlich ist die Aufgabe in der Geschichte durch Annäherung an die
wissenschaftliche Arbeit erheblich zu erschweren. — In summa: Gleich-
wertigkeit der Leistungen bei starker Ungleichartigkeit muß das Lehr-
planziel sein.
2^1 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
Die Vorbildung 8. Vorbildung für das häusliche Leben. In der Geschichte unserer
Leben. Schulgattung taucht immer wieder der Vorwurf auf, sie bilde nicht für
das häusliche Leben. Auch wir lehnten oben die Tendenzen ab, die
der Schule den Charakter einer Anstalt für allgemeine Bildung durch
Umbiegung ihrer Eigenart ins Technische nehmen wollten, so scharf be-
stimmt vor uns als Leitbild die Frau stand, deren persönliches Leben
sich vor allem auch im Familienleben betätigen soll. Hat nun aber die
höhere Mädchenschule in zehnjährigem Kursus den Forderungen der
allgemeinen Bildung Genüge getan, so kann nunmehr die Vorbildung
für das häusliche Leben und zwar im technischen Sinne erwogen
werden. Und hier bietet sich in der Tat eine der lohnendsten, eigen-
artigsten Aufgaben der gesamten Frauenbildung. Ziel der Arbeit muß
sein vor allem die Pflege und Entwicklung der persönlichen Kräfte,
die für eine wertvolle Ausgestaltung des häuslichen Lebens in
religiöser, sittlicher, geistiger und geselliger Richtung, besonders für eine
gute Pflege und Erziehung der Kinder, aber auch für eine wirt-
schaftliche Haushaltsführung erforderlich sind. Den Stimmungs-
charakter der Arbeit bedingt das Mit- und Nebeneinander rein geistiger
und mehr praktischer Arbeit. Das Ganze des Frauenlebens muß ins
Auge gefaßt werden. Zugleich muß die Gefahr einer Erziehung zum
Familienegoismus vermieden werden, indem man alle die Radien be-
achtet, die aus dem engen Kreis des Familienlebens hinausweisen, aus
dem Geistesleben der Familie in das Geistesleben des Volkes, aus dem
religiösen Leben der Hausgemeinde in das Leben der Kirche, „aus der
Hauswirtschaft in die Volkswirtschaft, aus der Familienpflege in die
Pflege des arbeitenden Volkes, aus der Sorge für die Gesundheit der
Nächsten zu der Sorge für die öfi^entliche Gesundheitspflege". Treten
die Schülerinnen unvermittelt aus der Schule in das „Leben", so geht
ihnen leicht die schöne Mitgift der Schule für das Leben verloren; unsere
Vor- und Fortbildungsarbeit soll aus der Schule ins Leben überführen. —
An Bildungselementen können nur solche aufgenommen werden, die
I. mit den Lebensinteressen der deutschen Frau eng verbunden
sind, die 2. ein fortleitendes Interesse und die Möglichkeit selbst-
tätiger Fortbildung gewähren und die 3. eine enge Verbindung mit
dem Lehrgang der zehnstufigen Schule haben. Erforderlich er-
scheint zunächst eine Fortführung der religiösen Bildung, damit die deut-
sche Frau sich einst in ihrem religiösen Leben kräftig' behaupten und ent-
wickeln und dem Beruf religiöser Seelenpflege besonders an den Kindern
genügen kann. Soweit es noch nicht geschehn ist, muß eine organische Ver-
knüpfung der christlichen Lebenswahrheiten zu einem lebensvollen Ganzen
gewonnen werden. Im Interesse des selbständigen Geisteslebens liegt die
Anleitung zu selbständigem Lesen der hl. Schrift, im Interesse des den
Frauen nötigen Verständnisses für das innere religiöse Leben der Kirche
und für den Taterweis dieses Lebens in der Liebe die Einführung in die
III. Die Gegenwart. 8. Vorbildung für das häusliche Leben. 235
Lektüre von Büchern, in denen das religiöse Leben der Kirche geschildert
wird, und in die Liebesarbeit der Kirche. Als eigenartige Aufgabe im
Deutschen empfiehlt sich die Einfuhrung in das poetische Gegen-
wartsleben der Nation, an dem die deutsche Frau genießend und Genuß
vermittelnd teilnehmen soll, an dem sich auch ihr Geschmack im Urteil
erproben muß. Wertvoll erscheint von einer ganz anderen Seite eine
Einführung in die Literatur der Jugendschriften zum Zweck der Er-
ziehung zu rechtem Werturteil über die geistige Speise der Jugend. —
Einer verfeinerten Geselligkeit, der wir so dringend bedürfen, aber auch
noch edleren Zwecken dienen Übungen in der Sprachkunst, im Vor-
tragen, Erzählen, Konversieren. Die Pflege des schriftlichen Aus-
drucks fördere ein Studienheft, in dem nach freiem Darstellungstrieb alle
Formen der Darstellung, vor allem die unschulmäßigen, verwandt werden.
Damit die deutsche Frau eine Pflegerin und Schützerin der deutschen
Sprache werde, gewähre man ihr (unter besonderer Beachtung der Kinder-
sprache) noch einmal den Einblick in Leben und Werden der Sprache. —
In den Fremdsprachen muß das Hauptziel die Weiterbildung zu selb-
ständiger Lektüre besonders solcher Werke sein, in denen sich der eigen-
tümliche Geist der beiden großen Kulturvölker offenbart. — In dem
besonders zu betonenden geschichtlichen Unterricht muß das Augen-
merk besonders auf die Erweckung der persönlichen Teilnahme am Ge-
schick des Vaterlandes und der persönlichen Mitverantwortlichkeit
gerichtet sein. Zugleich muß die Fähigkeit, „sich in den Geist der Zeiten
zu versetzen", und die Lust zu geschichtlichem Lesen erweckt werden;
dazu diene Lektüre illustrierender Quellen und wertvoller geschicht-
licher Darstellungen. Der Zeitraum, der besonders in Frage kommt,
ist die Zeit von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart. Volles Gegen-
wartsverständnis aber ist nur möglich mittels einer Einführung in die
Gesellschaftskunde und zwar auf der Unterlage elementarer Kennt-
nisse in der Volkswirtschaft. Bedeutsame Unterstützung gewährt dem
Verständnis der Gegenwart die Erdkunde als Kulturgeographie. Der
Naturkunde würde die hochliegende Aufgabe, ein „physikalisches
Weltbild" in elementarsten Formen zu zeichnen, zufallen. Die techno-
logische Seite der Physik und Chemie findet in der Volkswirtschafts-
lehre und Haushaltungskunde Verwendung. Daß Psychologie und zwar
ernstgemeinte, gründliche in unseren Lehrplan gehört, bedarf keiner Be-
gründung. Die Psychologie muß schließen mit einer Psychologie der
individuellen Differenzen und einer Charakterologie. — Für eine
Veredlung des Genußlebens kommt noch in Betracht die Pflege der
Kunstbetrachtung zum Zweck des Kunstgenusses.
Die Methode muß kein höheres Ziel kennen als die Emanzipation
der Schülerinnen von der Schule zu selbständigem, selbsttätigem
Bildungswerk. Gelingt diese Ablösung nicht, so entsteht der jetzt nor-
male Zustand des Verfalls der geistigen Kräfte, der Horizontverengerung,
236
Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
der Teilnahmlosigkeit, der Allherrschaft der Nichtigkeiten, und was die
SjTnptome der d^cadence unserer einstigen Schülerinnen sonst noch sein
mögen. — Vor allem müssen die Lernweisen des Lebens, d.h. die Arten
des Lernens im gewöhnlichen Leben, gepflegt werden, das freie Lesen
von Büchern, Broschüren, Zeitungen, das Gespräch, der Besuch von
Stätten der Kunst und des werktätigen Lebens.
Das zweite Hauptgebiet der Arbeit, an Würde das erste, ist die
Heranbildung der Schülerinnen zur Pflege und Erziehung der Kinder-
Diese Arbeit muß von der Erkenntnis getragen werden, daß die wichtigste
Tätigkeit der deutschen Frau, mit der sie der Kultur ihren höchsten Dienst
leistet, nicht länger Sache des glücklichen Taktes, der bloßen Routine,
des vagen Versuchs bleiben darf. Die zukünftigen Mütter haben ein An-
recht auf Erziehung zum mütterlichen Beruf. Ist ihnen aber dies Recht
geworden, so sind sie der Nation verpflichtet, gut zu erziehen und so
die Zukunft der Nation in schicksalsschwerer Zeit zu sichern. Erforderlich
ist eine Verbindung der Einführung in die Theorie und der Einübung
in die Technik der Erziehung. Die Theorie umfaßt die Kenntnis des
Gegenstandes, des Ziels und der Mittel der Erziehung, sowie eine ele-
mentare Unterrichtslehre. Die Einführung in die Kunstübung der Er-
ziehung und des Unterrichts geschieht im Mädchenhort und im Volks-
kindergarten.
Das letzte Sachgebiet unserer Arbeit umfaßt das gesamte physi-
sche Wirken der Hausfrau. Die Unterlage der einheitlichen Disziplin
bildet eine gründliche Kenntnis vom Bau und Leben des menschlichen
Körpers. Die Hauptaufgabe umfaßt die Erhaltung und Pflege des
menschlichen Körpers. Aufbauend auf einer Belehrung über Wohnung,
Kleidung, Lebensmittel, gibt man den Schülerinnen das Wissen von der
Technik des hauswirtschaftlichen Tuns, z. B. der Wahl der Woh-
nung, der Beschaffung des Hausrats, der Beschaffung und Zubereitung der
Lebensmittel. Mit dem Erkennen verbindet sich überall das praktische
Tun. — Den Schluß bildet die Theorie und Praxis der hauswirtschaft-
lichen Rechnungsführung. Genaueres in meinem Aufsatz: Ein Fort-
bildungsjahr (s. o.).
ErforderUch sind für diese Vorbildung zum häuslichen Leben ein
bis zwei Jahre. Voraussetzung ist ein auf Erziehung zur Selbsttätig-
keit abzielender Unterricht in einer zehnstufigen höheren Mädchenschule.
Bei der hier empfohlenen genauen Anpassung des Lehrverfahrens an
den Zweck leuchtet ein, daß eine Verquickung dieser Vorbereitung für
das häusliche Leben mit dem wissenschaftlich gerichteten Unterricht des
,,Oberbaues" von uns an der Schwelle abgewiesen werden muß. Die rein-
liche Scheidung der Vorbildung für die akademischen Studien und der
Vorbildung für das Leben im Hause ist die Vorbedingung für den unter-
richtlichen Erfolg hier wie dort.
Während man die Vorbildung für das häusliche Leben in enger
ncnscmmar.
in. Die Gegenwart. 9. Das Lehrerinnenseminar. 2^J
Fühlung mit der höheren Mädchenschule halten wird, stehen andere
schulmäßige Veranstaltungen, wie Industrie- und Gewerbeschulen,
Haushaltungschulen, Schulen für Kindergärtnerinnen usw., außer-
halb des Zusammenhangs mit ihr, am besten zu „Zentralanstalten" für die
Berufsausbildung der weiblichen Jugend zusammengefaßt. Für diese
gesamte Berufsausbildung muß die höhere Mädchenschule die allgemeine
Vorbildung der Geisteskräfte leisten.
9. Das Lehrerinnenseminar. Diese Anstalt hat sich an der höheren Das Lehrerin-
Mädchenschule aus den kümmerlichsten Anfangen entwickelt. Eine ge-
schichtlich gewordene Verbindung besteht hier, die wohl auch in Segen
fortbestehen kann, wenn nicht Gründe der äußeren und inneren Ver-
waltung zur Trennung zwingen. Die Anhänger völliger Trennung be-
tonen besonders den Unterschied der beiden Schulen, von denen die eine
allgemeine, die andere Fachbildung vermittele. Da aber der wissen-
schaftliche Unterricht im Seminar sich als geradlinige Fortsetzung des
Unterrichts in der Mädchenschule darstellt, so ist immerhin eine innere
Kontinuität gegeben. — Ohne daß hier im einzelnen auf die Fragen
dieser Schulgattung eingegangen werden soll, mag zu den wichtigsten
Fragen auf diesem Gebiet das Folgende bemerkt werden: Die Bedingung
der Zulassung zur Aufnahmeprüfung sei die Absolvierung der zehn-
stufigen höheren Mädchenstufe oder der Erwerb einer ebenbürtigen Bildung.
In einer Zeit, in der der Volksschullehrerstand auf eine Vorbereitung in
der Art der Realschule dringt, tun die Volksschullehrerinnen gut, nicht
unter die Anforderungen der höheren Mädchenschule herabzugehen. Das
Ziel des Seminars ist zunächst die Vorbereitung für den Dienst an der
Volksschule, ein Dienst, der in unserer Zeit um so herrlicher ist, als
der Lehrer und die Lehrerin fast die einzigen sicheren Vermittler der
religiösen, der deutsch-nationalen, der bürgerlichen Gedanken- und Gefühls-
welt an die Kinder des vierten Standes und an diesen selbst sind. Eine
ungeheuere Kulturaufgabe! Diese Kulturaufgabe fordert eine tiefe
Bildung, für die vier Jahre nötig sind. Die Erhöhung um . ein Jahr
stellt auch den Parallelismus mit der Ausbildung der Lehrer her. Die
Prüfung für die Volksschulen berechtigt zugleich zum Unterricht auf der
Unter- und Mittelstufe, aber nicht der Oberstufe der höheren Mädchen-
schule. — Will man für die Volksschullehrerinnen bei einem dreijährigen
Kursus stehen bleiben, so würde die Lehrbefähigung für die unteren und
mittleren Klassen der höheren Mädchenschule in Preußen durch ein
Examen in Fachgruppen nach Art des Examens für Mittelschullehrer er-
langet werden müssen.
Die wissenschaftliche Ausbildung im Seminar geschehe in tun-
lichst geradliniger Fortsetzung der Arbeit, wie sie oben für die höhere
Mädchenschule gefordert ist. Das Ziel des Unterrichts kann nur eins
sein: die Befähigung der Seminaristinnen zu selbsttätigem Gewinnen des
Lehrstoffs. Hier gilt es mit allen Mitteln dem Schaden zuleibe zu
2 ?8 Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
g^eheii, an dem der Unterricht der Lehrerinnen wie der Lehrer vielfach
leidet; sie sind beim Gewinnen des Stoffs abhängig von den „abgeleitet-
sten" Quellen, wenn sie nicht gar gleich den diktatisch geformten Stoff aus
einem der schlimmen Präparationsmittel entnehmen. Die Lust und die
Kraft zu freitätiger Stoffgewinnung muß im Seminar erweckt werden.
Das ist nur möglich, wenn auch im Seminar, und hier erst recht, der
Unterricht Arbeits Unterricht ist, wenn alles Dozieren ex cathedra
auf das geringste Maß beschränkt wird und dafür das Arbeiten mit den
Schülerinnen eintritt, dessen Ergebnis eine sichere Arbeitstechnik ist,
dank deren sie z. B. mit geschickter Benutzung der exegetischen und
archäologischen Hilfsmittel an die Erklärung eines Bibeltextes heran-
gehen, dank deren sie in das innere Verständnis einer Dichtung ein-
dringen, dank deren sie illustrierende Quellen in der Geschichte benutzen,
dank deren sie selbständig experimentieren usw. Unter den Fächern, die
mit Nachdruck getrieben werden, fehle auch das Französische nicht.
Auch die Volksschullehrerin bedarf dieses eminenten Bildungsmittels, das
obenein ein anerkannter Gradmesser der „Bildung" ist. Bei vierjährigem
Kursus und etwa vierstündigem Wochenunterricht könnte auch im Fran-
zösischen das Maß von Kenntnissen erworben werden, das, einen späteren
Auslandsaufenthalt vorausgesetzt, bis zu den mittleren Klassen der höheren
Schulen genügen würde.
Für die spezifisch fachmäßige Ausbildung muß vor allem auf eine
tüchtige psychologische Grundlage gedrungen werden. Daß sich zu
solcher Grundlage nur die moderne exakte Psychologie, nicht die Her-
barts eignet, wird hoffentlich bald allgemein anerkannt. Selbstverständ-
lich muß der Unterricht das ganze Seelenleben umspannen und sich vor
jeder voreiligen Einmengung- praktischer Gesichtspunkte hüten. Beson-
derer Nachdruck ist auf den Aufbau des Seelenlebens zu legen. — Eine
Lebensfrage für den Unterricht in der deutschen Volksschule ist es, daß
grundsätzlich mit allem didaktischenFormalismus gebrochen wird. Man
lehre daher die Seminaristinnen vor allem, daß sie zunächst nichts Höheres
kennen dürfen als das Streben, den Unterrichtsstoff in seiner ganzen Kraft
und Schönheit zu verstehen. Das zweite ist dann die Erwägung, was
von diesem Kraftvollen und Schönen die Schülerin nach dem Stand
ihrer Kraft sich aneignen kann. Drittens ist dann zu überleg"en, nicht,
wie der Stoff vom Lehrer „darzubieten" ist, sondern wie die Schülerin
sich am besten des Stoffs eigentätig bemächtigt, wie zwischen ihr und
dem Stoff ein recht inniges, unmittelbares Verhältnis entsteht. Voraus-
setzung- hierbei ist, daß die Seminaristin die Anforderungen kennt, die
ein Stoff an die Seele des Kindes stellt, und daß sie weiß, in welchen
Richtungen (und auf welche Reize hin) das Denken der Natur des Stoffs
gemäß konstant verläuft. — Damit die Seminaristin diese Art der Stoff-
behandlung lernt, ist mit ihr andauernd am Stoff selbst zu arbeiten;
so erwächst ihr die Didaktik der einzelnen Fächer aus den Fächern
ni. Die Gegenwart. lo. Die Vorbildung der Oberlehrerinnen. 239
selbst, aus deren Natur heraus. Demgemäß hat die Didaktik der ein-
zelnen Fächer der sog. allgemeinen Didaktik vorauszugehen.
Diese gemeinsame Arbeit mit den Seminaristinnen ist das Wichtigste,
was das Seminar für deren Einführung in die Unterrichtspraxis tun kann,
ungleich wichtiger als das eigentliche Unterrichtenlassen in der Seminar-
übungsschule. Unterrichtsstoffe auf ihren Inhalt, ihren Wert für das
Geistes- und Gemütsleben, auf die von ihnen geforderten psychischen
Prozesse hin durchstudieren und dann erwägen, wie man diese Prozesse
im Geist der Schülerin zum Ablauf bringt, das ist etwas, was die Lehrerin
allein nur schwer lernt, während sie sich mit der äußeren Technik der
Frage u. ä. schnell abfindet.
Die Seminaristinnen dazu anzuhalten, daß sie den Stoff selbsttätig
erheben und zwar den Quellen so nahe als möglich, und ihn dann selbst-
tätig seiner und der Schülerinnen Natur gemäß und entsprechend der
stets wechselnden gesamten Unterrichtslage gestalten, das muß A und O
der Seminararbeit sein.
Eine so vorgebildete Seminaristin ist unzweifelhaft fähig, später auf
der Universität die Kunst der wissenschaftlichen Forschung zu lernen.
Die wissenschaftUche Prüfung würde ebenso zu gestalten sein wie
das Abiturientenexamen (s. o. S. 233). So fiele die Examennot weg; damit
auch die Notwendigkeit, etwa an eine stufenförmige Prüfung denken zu
müssen, damit auch ein Hauptgrund für die Trennung der Fachausbildung
von der wissenschaftlichen Ausbildung. Diese Trennung bringt, soweit
ich sehe, die Gefahr des didaktischen Formalismus mit sich.
10. Die Vorbildung der Oberlehrerinnen. Bewährt hat sich der
Weg, den man den seminarisch gebildeten Lehrerinnen geöffnet hat
(s. o. S. 190). Als Mängel dieses Bildungsgangs empfanden allerdings
die Lehrerinnen die Hindernisse bei der vorübergehenden Loslösung
aus ihrem Amt, die Schwierigkeit des Erwerbs der Vorkenntnisse im
Lateinischen, Griechischen und der Mathematik, vor allem aber die Un-
zulänglichkeit der Vorbereitung auf dem Seminar. Als Vorzüge müssen
erscheinen die größere geistige und sittliche Reife, die eine geistig und
charakterologisch wertvolle Ausnutzung der „akademischen Freiheit"
gestattet, die an der unterrichtlichen Arbeit unter eigener Verantwortung
und an der selbsttätigen Fortbildung von der Lehrerin selbst und ihren
Vorgesetzten gewonnene Einsicht in das wissenschaftliche und das davon
grundverschiedene pädagogische und didaktische Vermögen und die plan-
mäßige Beziehung des Studiums auf unterrichtliche Verwendung. Von
den Hemmnissen würde das letzte durch eine Reform des Seminars
zu beseitigen sein, deren Ziel die Befähigung zum selbsttätigen Er-
arbeiten des Unterrichtsstoffs und zum freieren Gewinnen der unterricht-
lichen Form wäre. Das Fehlen der „Vorkenntnisse", von denen übri-
gens das Griechisch auch nicht auf dem von den Lehrerinnen bevorzugten
Wege rcalgymnasialer Vorbildung gewonnen wird, kaim nicht schwer
2AO Hugo Gaudig: Höheres Mädchenschulwesen.
ins Gewicht fallen, wenn der Studiengang- so eingerichtet wird, daß im
ersten bis zweiten Semester in solchen Gebieten gearbeitet wird, die
die „Vorkenntnisse" nicht fordern, und daß in dieser Zeit die Vorkennt-
nisse in einem praktisch geleiteten Kursus gewonnen werden können.
Neben den seminarisch vorgebildeten Oberlehrerinnen werden zukünftig,
und zwar in steigender Zahl, die in derselben Weise wie die Oberlehrer
auf einer Mittelschule (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) vor-
gebildeten Oberlehrerinnen stehn. Das Ziel muß sein, daß die Bildung
beider Kategorieen von Oberlehrerinnen gleichwertig wird. Die Diffe-
renzierung der Prüfungsforderung-en ist nicht rätlich. Wird der Kursus
des Lehrerinnenseminars vierjährig, so rückt die Vorbildung der Semina-
ristin der der Mittelschülerin an wissenschaftlichem Wert nahe; ein Aus-
gleich des immer noch bestehenden durch die praktische und theore-
tische Ausbildung in der Pädagogik bedingten Weniger wird dadurch
erreicht, daß die Mittelschülerin schon auf der Universität sich ungleich
intensiver mit wissenschaftlicher Pädagogik wird beschäftigen müssen,
und daß der Lehrerin in der Zeit ihrer fünfjährigen Praxis die Möglich-
keit zu einer wissenschaftlichen Fortbildung in der Richtung ihrer Se-
minararbeit und damit zu einer Vorbildung auf der Universität gegeben
ist. — Für die aus den Mittelschulen hervorgegangenen wissenschaft-
lichen Lehrerinnen ist Seminar- und Probejahr obligatorisch zu machen.
Das Lehrer- II. Das Lehrerkollegium der höheren Mädchenschule. Akade-
mische Bildung muß nach allem Gesagten für den Unterricht auf der Ober-
stufe gefordert werden ; tüchtige Seminarbildung für den Unterricht auf der
Mittel- und Unterstufe. Dem Geschlecht nach arbeiten Lehrer und Lehre-
rinnen, Oberlehrer und Oberlehrerinnen in einem Prozentsatz nebeneinander^
der dem Spiel der örtlichen Verhältnisse überlassen werden kann. Die
Schule aber dürfte dann am besten beraten sein, wenn die Lehrer ihre
männliche Geistes- und Gemütsart ebenso deutlich ausprägen wie die
Lehrerinnen die ihre. Der Lehrer muß sich überzeugt halten, daß in
dem Geist der Frau eine Geistesart neben der seinen wirkt, die ebenso
erfreulich ist als die seine, wenn sie dem gattungsmäßigen Ideal nach-
gebildet ist. Die Lehrerinnen aber müssen sich davon überzeugen, daß
ihnen ein Monopol auf die Erziehung des Mädchens nicht zusteht, weil
der Mann eine lebendige Kenntnis des Familienlebens und des im Bann-
kreis des Familienlebens sich abspielenden Seelenlebens der Kinder be-
sitzt und durch sein Familienleben auch in eine besonders innige Beziehung
zu vielen Seiten des öffentlichen Lebens tritt.
Der Staat und 12. Der Staat und die höhere Mädchenschule. Die Zeit fordert
die h. Mädchen- . ^~, . -,^
schule. eine Schule, die das Ziel hat, einer reichen, kräftigen, gesunden Ent-
wicklung des Personenlebens der deutschen Frau die Unterlage einer
höheren Allgemeinbildung zu geben; eine Schule, die in der weiblichen
Jugend die Kraft und den Willen zu einer Lebensarbeit erweckt; eine
Schule, die an ihrem Teil zur Erziehung der einstigen Erzieherinnen der
III. Die Gegenwart. 1 1. Das Lehrerkollegium il.h.Mädchensch. 12. Der Staat u d.h.Madchcnsch. 241
deut.schen Jugend mitwirkt; eine Schule, die die Töchter der mittleren
und höheren Stände befähigt, sich in einem freigewählten Berufe selbst
zu erhalten und dem würdelosen Warten auf einen Lebensinhalt zu ent-
gehen; eine Schule, die die Vorbereitung auch für die höheren Lebens-
berufe zu leisten vermag; eine Schule, die auch der inneren Vorbereitung
für alle soziale Hilfsarbeit dienen kann; in Summa eine Schule, die die
große Fülle der in unserer Zeit nach Betätigung drängenden weiblichen
Energie in Pflege und Zucht nimmt, so die Kulturkraft der Frau erhöht
und die gesamte Kulturentwicklung durch neue und eigenartige Kräfte
bereichert. — Der Staat als Träger der Gesamtkultur hat nun allerdings
das Interesse, Schulgestaltungen zu verhindern, in denen grundwesentliche
Kulturgüter, wie etwa die echten Tugenden des deutschen Weibes, ge-
fährdet würden. Er wird namentlich gegen solche Schulgestaltungen sein
Veto einlegen, die das deutsche Familienleben, etwa die physische Ge-
sundheit der zukünftigen Mütter, schädigen müßten. Vor allem aber wird
er die positive, schöpferische Aufgabe haben, die Schulform zu ge-
winnen, in der er die Kräfte des weiblichen Geschlechts emporbilden und
für seine Kulturzwecke dienstbar machen kann. Das ist zurzeit eine der
vornehmsten Aufgaben staatlicher Kulturpflege. Diese Aufgabe ist um
so ernster, als die bürgerliche Gesellschaft offenbar schwersten Daseins-
kämpfen entgegengeht, bei denen sie der Frauen als Mitkämpferinnen
nicht entbehren kann. — Eine Schule, wie sie die Zeit fordert, trägt den
ausgesprochenen Charakter der höheren Schule. Der höheren Mädchen-
schule diesen Charakter nach ihrer inneren Organisation und ihrer äußeren
Stellung zu geben, wird daher da, wo es noch nicht geschehen ist, die
Pflicht des Staates sein. Erforderlich dazu ist eine klare Begriff'sbestim-
mung des Wesens der höheren Mädchenschule, mittels deren sie sich un-
zweideutig von anderen Schulen unterscheidet, eine Lehrordnung, die, ohne
originale Gestaltung zu verhindern, doch die Grundforderungen einer höheren
Schule festlegt, eine Formierung des Lehrerkollegiums, bei der die Schule
ihren Charakter als wissenschaftliche ausprägen kann, eine Besoldung, bei
der die Schule den Wettbewerb anderer Schulen um die Lehrkräfte zu
ertragen vermag, eine verwaltungsrechtliche Stellung, die sie in das System
der höheren Schulen als ebenbürtige Anstalt eingliedert. Das Wertvollste an
der staatlichen Kulturpflege aber ist das lebendige Interesse der staatlichen
Organe an der Schule, das aus der Würdigung ihres Kulturwerts entspringt.
An uns, den Lehrern und Lehrerinnen der höheren Mädchenschule,
aber ist es, durch immer erneute Vertiefung in die schon verwendeten
oder zur Verwendung drängenden Unterrichtswerte, in die Kulturlage
unserer Zeit, vor allem aber in die weibliche Natur aus der höheren
Mädchenschule je länger, je mehr eine Schulgestalt herauszuarbeiten, die
in klarer Anpassung an die spezifische Kulturaufgabe der Frau in unserer
großen und schweren Zeit eine originale Schulform ist.
Dit Kultur der Geoskwari. Li. i6
Literatur.
Zur Geschichte des höheren Mädchenschulwesens: O. SoMMER, Die Entwicklung des
höheren Mädchenschulwesens in Deutschland (Wychgrams Handbuch). J. Wychgram, Ge.
schichte der höheren Mädchenschule (Schmid, Geschichte der Erziehung 5, II). G. Bäumer,
Geschichte und Stand der Frauenbildung in Deutschland (Lange und Bäumer, Handbuch
der Frauenbewegung). G. Krusche, Programme der Höheren Mädchenschule in Leipzig
1887 fg. (Literatur über weibliche Erziehung und Bildung in Deutschland).
Zur Didaktik der höheren Mädchenschule : Handbuch des Höheren Mädchenschul-
wesens, herausgegeben von Prof. Dr. J. Wychgram.
DAS FACH- UND FORTBILDUNGSSCHULWESEN.
Von
Georg Kerschensteiner.
Für die Kultur eines Volkes ist die stets kleine Zahl seiner wirk- Maß für die
lieh Gebildeten und die Größe ihrer Geisteswerke kein untrügliches Maß. stetes.
Sie ist es ebensowenig, wie etwa die Zahl und Größe der Palmen in den
Oasen ein Maß wäre für die Fruchtbarkeit der großen libyschen Wüste. Das
gilt in noch viel höherem Grade für die Wertschätzung der Kultur eines
modernen Staates als der eines antiken, in welchem der größte Teil der
Bevölkerung in Sklavenfesseln lag. In unseren heutigen Kulturstaaten
hat jeder Einzelne nicht nur seinen bestimmten Platz, seinen freigewählten,
persönlichen Beruf, sondern auch seine Pflichten und Rechte als Bürger
des Staates, dem er angehört. Will man daher die Kultur dieses Staates
bemessen, so muß man die Frage beantworten, wie weit jeder seiner Bürger
imstande ist, nicht bloß die mehr oder weniger egoistische Aufgabe seines
Berufs, auf den ihn Veranlagung, Wille und soziale Schichtung gestellt
haben, zu erfüllen, sondern auch die Aufgaben des Staats Verbandes, dem
er angehört, im großen und ganzen wenigstens zu erfassen und der ge-
wonnenen Einsicht gemäß zu handeln.
Zur Blütezeit der Städte am Ausgang des Mittelalters gab es in Die zunfto als
Deutschland vereinzelte Stadtstaaten, deren Kultur, nach diesem Maße "'"""^er.
gemessen, eine beträchtliche Höhe erreichte. Jeder einzelne Bürger wuchs
im engen und strengen Verband seiner Zunft zunächst in seine persön-
liche, in seine Berufsaufgabe hinein und erreichte unter dieser Zucht die
Höhe, die seiner Begabung zugänglich war. Solange dann die Zünfte ein
notwendiges Glied der politischen und wirtschaftlichen Organisation der
Städte waren, lernte der Einzelne allmählich auch die Aufgaben seines
Gemeinwesens erkennen und einsehen, daß er seinen eigenen Interessen
nützte, wenn er im Interesse des Staates handelte. Das dauerte freilich
nicht lange. Die Wirtschaftsformen erweiterten sich mehr und mehr, der
Zunftgeist aber wurde enger und enger; im 17. und 1 8. Jahrhundert waren
die Zünfte nicht einmal mehr imstande, ihre egoistischen Berufsaufgaben
zu erfüllen, geschweige denn, daß in ihrem engen Gesichtskreis ein Ver-
i6»
2AA Georg KrrSCHENSTKINKR : Das F:ich- und Körtbildunf,'sschulwescn.
ständnis für die Aufgaben der Allgemeinheit hätte auftauchen können.
Ihre aktive und passive Erziehungsfähigkeit war erloschen.
Aber an Stelle dieser absterbenden mächtigen Erziehungskraft war
keine andere g-etreten. Nur die alten Standessitten und die Familienzucht
wirkten noch, die öffentliche Erziehung aber hatte in Deutschland so
ziemlich aufgehört. Die Elementar-, Trivial- und lateinischen Schulen, die
nach der Reformation überall in den Städten sich fanden, verfolgten
andere Ziele als berufliche oder staatsbürgerliche Ausbildung. Das große
und weite Land blieb in der Hauptsache unwissend und unerzogen in
fast allen europäischen Staaten, ausgenommen vielleicht in Frankreich, wo
schon im i6. und 17. Jahrhundert infolge der Tätigkeit der Kirche in den
meisten Departements kaum eine Kommune ohne Elementarschule war.
Erweiterung I. Die erste Periode beruflicher Erziehung bis 1851. Die
Elementarschul- Errichtung der Sonntags- und Wiederholungsschulen, welche Friedrich
18. Jahrhundert, der Große in seinem General -Land -Schul -Reglement vom 12. August
1763 anordnete, damit „die Meister ihre Lehrling-e, sofern sie nicht die
nötigen Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Religion besaßen, wöchentlich
vier Stunden in die Schule schickten", bot, wie man aus dieser Bestim-
mung sieht, nicht etwa eine Fortbildung über die Elementarschule hinaus,
sondern einen kümmerlichen Ersatz für die mangelnde Elementarschul-
bildung. Ebenso kann den in Württemberg durch die Synodalverordnung"
von 1739 festgelegten Sonntagsschulen und dem in Bayern durch die Ver-
ordnung Max Josefs III. von 1777 verlangten wöchentlich einmaligen
Schulbesuch der Lehrlinge keine andere Bedeutung zugemessen werden,
als daß sie ein Zeichen der aufkeimenden Einsicht waren, daß irgend
etwas zur Bildung des Volkes, auch über die Volksschule hinaus, ge-
schehen müsse. Den erwähnten Verordnungen und Erlassen fehlte über-
dies ein gesetzlicher Rückhalt. Sie enthielten nur Verpflichtungen zum
Besuche der Schulen und gaben kein Mittel, ihn zu erzwingen.
Die ersten Den Mang'el an staatsbürgerlicher Erziehung fühlte man in diesen
"VörsucliG zur
Hebung der Zeiten begreiflicherweise nicht sehr. Auch die großen Erzieher des
t&cliniscliGii
Bildung im 18. Jahi-hunderts, Rousseau, Rochow, Pestalozzi, hatten in der Hauptsache
nur die allgemeine Menschenbildung im Aug^e, und die vielen Kirchen-
schulen nur den gläubigen Christen. Dag'egen machte sich der Mangel
an technischer und wirtschaftlicher Bildung immer fühlbarer. Um die
teilweise kostbaren Bauten der Residenzen und deren innere Einrichtung
auszuführen, mußte man ausländische Meister berufen. Um die einträg-
lichen Industrieen, die in England und Frankreich sich bereits entwickelt
hatten, auch im eigenen Lande zu besitzen, brauchte man nicht bloß aus-
ländische Meister, sondern auch inländische Arbeiter. Neben der Porzellan-
manufaktur waren es insbesondere die Textilmanufakturen, von denen
man beträchtliche Erträgnisse für den Staatsschatz erhoffen konnte.
Österreich machte den Anfang. Es sendet in den sechzig^er Jahren des
18. Jahrhundert.
I. Die erste Periode beruflicher Erziehung bis 185 1. 245
18. Jahrhunderts geschickte Meister in Baumwolle- und Seidenfabrikation
in die Provinz und erfindet so gleichsam den heute so stark entwickelten
Wanderunterricht Um dieselbe Zeit erläßt es sogar ein Spinnschulpatent
für die sämtlichen österreichischen Provinzen, nachdem es im Jahre 1758
bereits eine Manufakturzeichenschule in Wien und 1767 eine Schule für
Spitzenklöppelei zu Prag errichtet hatte. „Alle landesfürstlichen Städte
und Märkte sollten den Winter über Spinnschulen unterhalten, deren Be-
such den Kindern der Professionisten vom 7. bis 15. Lebensjahr zur Pflicht
gemacht wird." Zur Heranbildung eines intelligenten Kaufmannsstandes
wird auf Anregung des Rektors Georg Wolf 1770 in Wien eine Real-
handelsakademie errichtet.
Auch in andern Ländern finden wir teils um diese Zeit, teils einige
Jahrzehnte später staatliche Hinweise auf die Notwendigkeit von Einrich-
tungen für technische Ausbildung, so in dem kurpfalz -bayrischen Aller-
höchsten Erlaß des Generalschuldirektoriums von 1803, der da fordert, daß
überall Arbeitsschulen für Knaben und Mädchen angelegt und mit den
Lehrschulen in Verbindung gebracht werden sollen. Doch waren auch
sie weniger im Sinne gewerblicher als allgemein menschlicher Erziehung
gedacht; denn: „^'on diesen Schulen sollen auch jene nicht freigesprochen
werden, von denen es vorauszusehen ist, daß sie einstens nicht notwendig
haben, zu arbeiten, um sich zu ernähren; abgesehen von dem Wechsel des
Glückes, wodurch viele ererbten Reichtum verlieren, so ist es immer gut,
daß jeder lerne den Vorzug zu schätzen, sich selbst den notwendigen
Unterhalt erwerben zu können und jenen gehörig zu achten, der durch
Aufmerksamkeit und Kunstfleiß sich einen Wohlstand zu verschaffen ver-
steht." Im gleichen Jahr fordert ein Edikt in Baden „über die gemeinen und
wissenschaftlichen Lehranstalten für größere Städte, die hauptsächlich mit
Gewerbe und Kunstfleiß sich beschäftigen" die Ausdehnung des Unterrichtes
in den unteren Schulen auf Lehrgegenstände mit Technologie und Zeichnen.
Doch solche Ansätze von staatlicher Anregung oder gar Fürsorge Ursache des
. . Scheiterns
für berufliche Erziehung blieben m den Ländern des alten Deutschen dieserVersachc.
Reiches vereinzelt, und die Zeiten der französischen Revolution und der
darauf folgenden Kriegswirren waren nicht geeignet, ein System in diese
Fürsorge zu bringen oder sie gar mit Nachdruck zu verfolgen. Wo die
neuen Erziehungseinrichtungen einigen Erfolg vielleicht hatten, da drückte
die damalige Wirtschaftspolitik der Fürsten, die Subventionierung der von
allen Zunftschranken befreiten Manufakturen, ihre Förderung durch das
Prämiensystem und den Schutzzoll wieder umgekehrt auf das freie Ge-
werbe und damit auf die gewerbliche Erziehung innerhalb der Zünfte.
In Österreich gingen infolgedessen sogar die meisten Spinnschulen wieder
ein, in Bayern kamen die Arbeitsschulen und in Baden die gewerbliche
Erweiterung des Unterrichts überhaupt nicht zur Ausführung. Auch fehlte
ein tieferes Interesse an der eigentlichen gewerblichen Erziehung. Fried-
rich der Große und Friedrich Wilhelm IL in Preußen, sowie Josef 11. in
246 Georg Kerschenstkiner: Das Fach- und Foitbildungsschulwesen.
Österreich gaben alljährlich bedeutende Summen zur Verbesserung von
Fabriken aus; aber in bezug auf die gewerbliche Erziehung im engeren
Sinne blieb es im allgemeinen bei den platonischen Erlassen.
Die Initiative Je Weniger aber der Staat eingriff, desto stärker wurde die Ini-
Privater. tiative einzelner Personen und privater philanthropischer oder wirtschaft-
licher Verbände wachgerufen. Denn die Not ward größer und größer.
Gegen Ende des 18. und am Anfang des ig. Jahrhunderts entstehen in-
folge der hingebenden Tätigkeit Einzelner in vielen deutschen Städten
Schulen für berufliche Erziehung. In Hamburg wird bereits 1677 von
der Gesellschaft zur Förderung der Kunst- und nützlichen Gewerbe eine
gewerbliche Unterrichtsanstalt eingerichtet; in Berlin bildet sich ein Verein
zur Errichtung sonntäglicher Fortbildungsschulen für Handwerkslehrlinge
und gründet 1797 die erste Berliner Fortbildungsschule. In Böhmen
entstehen durch die unermüdliche Tätigkeit des Pfarrers und Lehrers
und nachmaligen Schulrats und Propstes Ferdinand Kindermann bis zum
Jahre 1790 nicht weniger als 2^2 Industrieschulen, nämlich Volksschulen
mit geregelter Unterweisung in den Anfangsgründen des Handwerkes.
In München errichtet 1792 Professor Mitterer eine Zeichenschule, 1793
Kefer eine Handwerkerfeiertagsschule, 1824 der nachmalig so berühmte
Schwanthaler eine Schule für Bossierunterricht. 1806 richtete Professor
Oberthür in Würzburg und 18 ri Fürst-Primas von Dalberg- in Aschaffen-
burg eine Zeichenschule ein; in Wien legt )8i2 die Gesellschaft adliger
Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen den Grund zu einer
„Kunst- und Industrieanstalt für weibliche Arbeiten".
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Noch bis in die sechziger
Jahre des 19. Jahrhunderts hinein verdanken in den meisten deutschen
Ländern die Anstalten zur Hebung der niederen und mittleren gewerb-
lichen Erziehung ihre Entstehung in der Hauptsache der privaten Ini-
tiative. Nur in Württemberg, wo durch die Schulbehörde zu Anfang
des ig. Jahrhunderts die Sonntagsschulen in Sonntagsgewerbeschulen um-
gewandelt werden, und in Baden, wo am 15. Mai 1835 eine landesherr-
liche Verordnung zur Errichtung von Gewerbeschulen ergeht, die heute
noch blühen, fällt auf den Staat schon frühzeitig ein wesentlicher Anteil
an der Gründung' und Ausgestaltung niederer und mittlerer gewerblicher
Erziehungseinrichtungen.
Die Initiative Dicsc privatc Initiative ging- anfangs, wie schon aus den Beispielen
der neuen beruf- . t 7 !_ •• j
lichenVerbände. ersichtlich ist, im allgemeinen keineswegs von gewerblichen Verbanden
aus. Durch das berühmte Edikt vom 2. Nov. 18 10, das dem Staate
Preußen nach dem Vorbild Frankreichs die Gewerbefreiheit brachte und
damit den Grund zu seiner frühzeitigen industriellen und wirtschaftlichen
Entwicklung legte, sowie andernteils durch die zahlreichen „Hofbefrei-
ungen" und „Schutzdekrete", die in der Theresianischen und Josephinischen
Zeit auch in Österreich starke Breschen in das Zunftwesen legten, waren
in den zwei größten deutschen Staaten die natürlichen Interessenten der
I. Die erste Periode beruflicher Erziehung bis 1851. 247
gewerblichen Erziehung aufgelöst oder doch lahmgelegt. Es mußten sich
erst wieder neue Verbände bilden, die Gewerbe vereine und Innungen in
Deutschland, die Zwangsgenossenschaften in Österreich, welche neben all-
gemeinen Gewerbs- und Wirtschaftsinteressen auch die Förderung der
beruflichen Bildung wieder ins Auge fassen konnten. Und sie bildeten
sich auch unter der zunehmenden Not, die mit der aufblühenden Industrie,
den wachsenden Großbetrieben, dem mit dem Verkehr gesteigerten Wett-
bewerb, und nicht zuletzt durch das gänzliche Daniederliegen der Meister-
lehre über die meisten Gewerbe hereinbrach. Wo sie sich aber bildeten,
wurde die Frage der gewerblichen Erziehung eine Verbandsangelegenheit.
Im Großherzogtum Hessen entsteht 1837 sogar ein Landesgewerbeverein,
der sofort zur Gründung von drei Handwerkerschulen schreitet und dem
heute noch der Ausbau des gewerblichen Unterrichtswesens anvertraut ist.
Die Zwangsgenossenschaften in Österreich schritten alsbald zur Einrich-
tung von Lehrlings- und Gehilfenschulen. Das heute in Wien blühende
niedrige gewerbliche Erziehungswesen verdankt seine frühzeitige Geburt
hauptsächlich diesen aus der österreichischen Gewerbegesetzgebung von
1859 hervorgegangenen Verbänden. Freilich führten die Schulen der frei-
willigen Verbände, namentlich solange weder Gemeinden noch Staaten
sie unterstützten, ein meist armseliges Dasein, weil es sowohl am Gemein-
samkeitsgefühl der Meister als auch an den nötigen Mitteln fehlte.
Kümmerten sich nun auch viele deutsche Regierungen in der ersten Fürsorge der
Regierungen
Hälfte des i g. Jahihunderts recht wenig um die Angelegenheiten der um technische
niederen gewerblichen Erziehung, also um die Ausbildung der großen erstenHäiftedes
,18. Jahrhun-
Massen der Arbeiter und Gewerbetreibenden, so kann man doch nicht aerts.
sagen, daß sie völlig untätig waren. Die polytechnischen Schulen (höhere
Gewerbeschulen), die in diesen Zeiten nach dem Muster der am Ende des
18. Jahrhunderts in Paris eingerichteten Ecole polytechnique überall ent-
standen, in Prag 1806, in Wien 1815, in Berlin 182 1, in Karlsruhe 1825,
in München 1827, in Dresden 1828, in Stuttgart 1829, in Hannover 1831,
und die schon frühzeitig der Industrie die Stabsoffiziere ausbildeten,
wirkten auch im stillen und indirekt zugunsten der niederen und mittleren
gewerblichen Erziehung. Für den Bergbau entstanden aus dem wirtschaft-
lichen Interesse des Staates heraus frühzeitig Bildungsanstalten. Beispiels-
weise wurden aus den bereits vorhandenen Privatkursen für Bergbau
bereits 1811 in Klausthal und 181 6 — 1818 in Bochum, Essen, Eisleben,
Saarbrücken, Siegen Bergbauschulen eingerichtet. Die Kunstakademieen,
die meist schon im 18. Jahrhundert oder gar, wie die Berliner, am Ende
des 17. entstanden waren, wurden teilweise reformiert, die Münchener
1808, die Königsberger 1845 neu gegründet. Die Kunstschule, die 182 1
in Nürnberg aus einer uralten Zeichenschule geschaffen worden war,
wurde 1833 in eine Kunstgewerbeschule umgewandelt.
Für die Ausbildung des gewerblichen Mittelstandes waren
in Österreich und Bayern auch die Realschulen bzw. Gewerbeschulen
2ji8 Georg Kerschensteinf.u : Das Fach- und Fortbildungsschulwcsen.
von großer Bedeutung. Sie waren es wenigstens bis zu dem Zeit-
punkte, wo sie unter Aufnahme ausg-edehnter sprachlich - historischer
Bildungsfächer in sechsklassige allgemein bildende Schulen umgewandelt
wurden, in Österreich Ende der sechziger und in Bayern Mitte der
siebziger Jahre. Dadurch wurden die Realschulen im wesentlichen Vor-
schulen für die höhere technische Bildung; der gewerbliche Mittel-
stand aber hatte für seine Ausbildung die einzig^e wertvolle Schule in
Bayern und Osterreich verloren. Auch die Provinzialgewerbeschulen
Preußens, die ihre erste Organisation 1828 erhielten und ursprünglich
reine Fachschulen für Bauhandwerker oder Werkführer in Fabriken waren,
ihren Unterricht auf Mathematik, Naturwissenschaft, Baukonstruktion und
Zeichnen beschränkten und, wie in Österreich und Bayern die Real-
bzw. Gewerbeschulen, keine andere Vorbildung als die einer guten Volks-
schule verlangten, wurden schon 1850 auf Veranlassung des Handels-
ministers von der Heydt ihres ursprünglichen Charakters entkleidet und
in Vorschulen des Gewerbeinstituts umgewandelt, das 1827 unter der tat-
kräftigen Leitung Beuths aus dem technischen Institut von 1821 heraus-
gewachsen war. Als 1870 zur Aufnahme die Sekunda eines Gymnasiums
oder einer Realschule gefordert wurde, waren auch diese Provinzial-
gewerbeschulen in den Hafen der alleinseligmachenden, allg-emeinbilden-
den höheren Lehranstalten eingelaufen, und als vollends im Jahre 1878
ihre Ausgestaltung zu Oberrealschulen erfolgte, hatte auch in Preußen
der mittlere Gewerbestand seine einzige Ausbildungsstätte verloren. Nur
in Württemberg und Baden erhielten sich die niederen und mittleren ge-
werblichen Bildungsstätten. In Württemberg ging die Umwandlung der
alten Sonntagsschulen in Sonntagsgewerbeschulen, deren 1827 bereits 30
im Lande gezählt wurden, in Baden die Entwicklung der Gewerbeschulen,
die bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts auf etwa 35 angewachsen
waren, einstweilen ihren stillen Gang weiter. Die Leistungen dieser
Schulen waren zwar recht bescheiden, aber sie haben doch einiges zur
Hebung des Gewerbes beigetragen.
Da und dort entstanden auch durch die Initiative oder doch durch
die Unterstützung des Staates schon in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts einige Spezialfachschulen. So besonders in Sachsen, das heute
noch das klassische Land der kleingewerblichen Fachschulen genannt
werden darf, wo 18 10 die Klöppelschule in Schneeberg, 1830 die Web-
schule in Reichenbach im Voigtlande, 1836 die Strohflechtschule in Dip-
poldiswalde und 1849 die Webschule in Glauchau geschaffen und Ende
der dreißiger Jahre staatliche Baugewerbeschulen in Chemnitz, Dresden,
Leipzig, Plauen und Zittau gegründet wurden. Im großen und ganzen
kann man aber sagen, daß in der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts in
den deutschen Bundesstaaten, in Österreich, in der Schweiz eine tiefere
Einsicht für das, was notwendig war, fehlte, und dementsprechend auch
Unternehmungslust, Tatkraft und Planmäßigkeit mangelten.
II. Die zweite Periode bis 1880.
>49
II. Die zweite Periode bis 1880. Da kam ein Ereignis, Da» vorgehen
welches recht geeignet war, die Träumenden zunächst wenigstens auf-
zurütteln: die Weltausstellung in London 1851 und der unbestrittene
Sieg des französischen Gewerbes. Die Augen richteten sich auf Frank-
reich, das in kunstgewerblichen Dingen schon längst den Weltmarkt
beherrschte. Dort hatte schon anfangs des 17. Jahrhunderts kein Ge-
ringerer als Descartes den Gedanken gefaßt, große Lehrsäle für jede
GewerbegTuppe zu errichten, mit denselben Sammlungen von Werkzeugen
zu verknüpfen, wie sie der Gewerbegruppe zu lehren nützlich und not-
wendig waren, und für jede solche Sammlung einen geschickten Lehrer
anzustellen, der fähig wäre, auf alle Fragen der Kunsthandwerker zu
antworten, und der sie in den Stand zu setzen vermöchte, sich selbst
Rechenschaft zu geben über alle neuen Verfahren, die sie alltäglich ins
Praktische zu übersetzen berufen waren. Diese Idee Descartes' bekam
freilich erst am Ende des 18. Jahrhunderts eine greifbare Gestalt. Heute
ist sie vollständig durchgeführt in dem Conservatoire National des Arts
et Metiers zu Paris. Was in den deutschen Ländern nicht zu finden war
und was auch im Deutschen Reiche heute noch in vielen Staaten fehlt,
die planmäßige Ausbildung von Fach- und Gewerbelehrern, das hatte
Frankreich schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Das durch glück-
liche innere Umstände schon im 1 8. Jahrhundert sich entwickelnde gewerb-
liche Erziehungswesen hatte gegen Ende desselben zur Gründung einer
Ecole normale geführt, welche bestimmt war, Lehrkräfte für das gewerb-
liche Schulwesen auszubilden. Tausende von Schülern waren von den
verschiedenen Departements dahingeschickt, und unter ihren Händen
bildete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der kunstgewerb-
liche Geschmack und die künstlerische Hand. Als in den sechziger
und siebziger Jahren Deutschland und Österreich sich anschickten, ihr
gewerbliches und technisches Bildungswesen energischer in die Hand zu
nehmen, besaß Frankreich gTit organisierte Fachschulen für die verschieden-
artigsten gewerblichen Zweige. Sie waren nicht bloß auf die Opfer-
willigkeit von Einzelpersonen und privaten Verbänden angewiesen, auch
der Staat gab beträchtliche Summen aus. Vor allem erfreute sich der
gewerbliche Zeichenunterricht der staatlichen Fürsorge, und so kam F"rank-
reich zum friedlichen Siege von 1851.
Aber die tatkräftigen Folgeningen zog zunächst nur England daraus. Das Beispiel
wenn man von Württemberg absieht, wo unterdessen Steinbeis, angeregt
durch das Studium der zweifellos durch die französische Nachbarschaft
mit in die Entwicklung gezogenen gewerblichen Erziehungseinrichtungen
Belgiens, kräftig zur Initiative überging. Der Boden war vielleicht auch
in England durch Männer wie Ruskin und Morris besser vorgepflügt.
Schon im Jahre 1855 wird die Sorge um das gewerbliche Bildungswesen,
das bis dahin dem Board of Trade, dem Handelsamte, obgelegen hatte,
der obersten Unterrichtsbehörde übergeben; es wird ganz im Gegensatze
2=0 Georg Kerschknstkiner: Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
ZU dem übrigen Bildungswesen, das nach wie vor zum free-trade gehörte
und den Grafschaften, Gemeinden, Kirchen und Sekten anheimgegeben
war, zentralisiert und unter die Verwaltung" einer besonderen Behörde
gestellt, unter das Science- and Art-Department. Alsbald breitet sich von
der Kunstgewerbeschule des South-Kensington-Museums über das ganze
Land ein System von gewerblichen Zeichenschulen aus, für welche das Parla-
ment, wie in Frankreich der Staat, alljährlich nicht unbeträchtliche Summen
bewilligt. Um die Zeit, wo in Deutschland die Regierungen um gewerb-
liche und technische Erziehungsfragen sich lebhafter und andauernder zu
interessieren anfangen, etwa 1873, besaß nach dem berühmten „Expose"
über die Organisation des gewerblichen Unterrichtswesens, das Dum-
reicher der österreichischen Regierung 1875 vorlegte, England und Schott-
land 173 große gewerbliche Zeichenschulen (Schools of Art) mit 22000
Schülern, 460 Fortbildungsschulen (Art Night Classes) für gewerbliches
Zeichnen und 2058 Elementary Schools, in denen Zeichnen obligatorisches
Unterrichtsfach war. Dazu kamen in England, Schottland und Irland 1396
gewerbliche Schulen technischer Bildung mit 4092 Klassen und einigen
Hundert chemischen Laboratorien zusammen mit 49605 Schülern, die sich
für Baugewerbe, Maschinen- und chemische Industrieen ausbilden wollten.
Es ist begreiflich, daß sich in wenigen Jahrzehnten die Folgen dieser sorg-
fältigen Pflege des gewerblichen Unterrichtes bemerkbar machten. Eng-
land machte sich frei von Frankreich in den kunstgewerblichen Erzeug-
nissen, es eroberte selbst einen ausgiebigen Teil des Weltmarktes, nicht
bloß durch seine unerhört wachsende Industrie, sondern auch durch die
Kunst und das Kunstgewerbe.
Das Vorgehen Wie England an Frankreich gelernt hatte, so lernte Österreich an dem
Beispiel beider Länder zusammen. In Wien griff, ganz wie in London das
Science- and Art-Department, das 1861 neugeschaffene Handelsministerium
die gewerbliche Erziehungsfrage ganz energisch an. Überwog" auf der
Pariser Weltausstellung 1867 und selbst auf der Wiener 1873 noch der
französische Einfluß, so zeigte sich schon 1876 auf der Kunst- und Kunst-
gewerbeausstellung zu München zum Teil unter dem Einfluß der neuen
Wiener Kunstgewerbeschule ein derartiges Vordringen des österreichischen
Kunstgewerbes, daß (nach dem im offiziellen Memoir des österreichischen
Unterrichtsministeriums enthaltenen Berichte des Professors Estlander in
Helsingfors) Österreich unbestritten die Führerschaft in der deutschen
Kunstindustrie errungen hatte. Zwanzig Jahre nach der Gründung des
österreichischen Handelsministeriums, im Jahre 1881 also, waren von ihm
bereits 76 Fachschulen geschaffen worden, darunter 25 für Holz- und
Steinbearbeitung, 26 für Weberei und Wirkerei, 6 für Glas- und keramische
Industrie, 3 für Eisen- und Stahlbearbeitung. Bedenkt man, daß gleich-
zeitig auch das Unterrichtsministerium in Österreich eine rührige Tätig'keit
entfaltete, so begreift man den elegischen Ton, den die Denkschrift über
die Entwicklung der gewerblichen Fach- und Fortbildungsschulen in
11. Die zweite Periode bis 1880.
251
Preußen anschlägt, kurz nachdem das gewerbliche Unterrichtswesen vom
Handelsministerium auf das Kultusministerium übergegangen war. Man
glaubte unmöglich die Mittel zu gleicher Energieentfaltung aufbringen zu
können. Bald darauf freilich ging auch Preußen mit Siebenmeilenstiefeln
vorwärts.
So sehen wir von etwa 1850 — 1880 einen Keil den anderen treiben.
Aber das gMte Beispiel allein hätte vielleicht nicht entfernt so ansteckend
von Staat zu Staat gewirkt, wäre nicht gleichzeitig eine andere, viel
mächtigere, treibende Kraft erwacht, das unabweisbare Bedürfnis.
Dies Bedürfnis war in den deutschen Staaten zunächst entfesselt Die treibend«
durch die von tiefer Einsicht getragene Wirtschaftspolitik Preußens, die Bedürfnisses.
Karl von Stein und Friedrich List in die Wege geleitet hatten. Man ver-
gegenwärtige sich, daß es zu Beginn des ig. Jahrhunderts allein in den
alten Provinzen Preußens 67 verschiedene Tarife für fast 3000 Waren-
klassen gab und daß diese Tarife nach 71 amtlich anerkannten Geldsorten
zu berechnen waren, daß noch am Ende des 18. Jahrhunderts nicht etwa
bloß die zahlreichen Normal- und Duodezstaaten Deutschlands durch Zoll-
schranken voneinander getrennt waren, sondern auch innerhalb der ein-
zelnen Staaten viele Städte von dem sie umgebenden Lande, daß am Aus-
gange des 18. Jahrhunderts die meisten Privilegien der Zünfte noch zu
Recht bestanden und nirgends ein freies Spiel der Kräfte sich entfalten
konnte. So war allenthalben der unliebsame Konkurrent ausg-eschlossen
und damit die Entwicklung der gewerblichen Technik und des anregenden
Handels auf das empfindlichste gehemmt. Wozu wären hier gewerbliche
Bildungsstätten nötig gewesen! Da brachte nach der Katastrophe von
1806 das Edikt vom 2. Nov. 1810 den preußischen Untertanen die Ge-
werbefreiheit; da brachte der i. Jan. 1819 für Preußen das neue Zoll-
gesetz und damit diesem Lande zuerst von allen Staaten Europas einen
gemäßigten Freihandel; da endlich begann durch die äußerst kluge Politik
Preußens, die politische Einheit durch eine wirtschaftliche vorzubereiten,
am I. Januar 1834 die Wirksamkeit des allgemeinen deutschen Zollvereins.
Ein Jahr vorher hatte Borsig in Berlin die erste Lokomotive gebaut, und
ein Jahr darauf wurde die erste Eisenbahnlinie Nürnberg — Fürth eröffnet.
Nun waren der wirtschaftlichen Freiheit nicht bloß die Tore und Schlag-
bäume geöffnet, sondern ihr auch die Flügel gegeben. Wenige Jahre
später schon machte sich der wirtschaftliche Aufschwung bemerkbar, und
nahezu ohne Rückschlag entwickelte sich zuerst langsam, dann von den
sechziger Jahren ab immer schneller und großartiger die deutsche Industrie
und der deutsche Handel, gehoben von der Freiheit und befruchtet von
der Wissenschaft. Da galt's nun freilich nicht nur schlechtweg, sondern
schnell zu lernen; da gab es nicht nur technische Offiziere auszubilden,
damit sie die Ergebnisse der Wissenschaft in die Praxis umsetzten, sondern
auch Unteroffiziere und Mannschaften, damit sie fähig wurden, die neuen
Verfahren und Maschinen mit Verständnis zu handhaben. Da gab es ganze
'■52
Georg KkrschenSTKINEK : Das Fach- und FortbildunKsschulwescn.
Landstriche mit technischen Schulen zu versehen, damit die im Rückstand
gebliebene Hausindustrie nicht gänzlich vernichtet und Tausende dem
Hungertode preisgegeben wurden. Da mußte der ausländische Wett-
bewerb geschlagen werden, nicht bloß in Fabrikartikeln, sondern auch in
kunstgewerblichen. Das Handwerk aber, das sich nicht nur der Gewerbe-
freiheit nicht anzupassen wußte, sondern sich auch nicht anpassen wollte,
wurde durch das siegreiche Vordringen des Fabrikbetriebs, durch das An-
wachsen des Kapitals, durch die sich steigernde Arbeitsteilung, durch die
Freizügigkeit, durch die Lockerung des Lehrlingsverhältnisses und nicht
zuletzt durch Mutlosigkeit und Unverstand immer leistungsunfähiger, nicht
bloß in der Produktion, sondern vor allem auch in der Ausbildung des
gewerblichen Nachwuchses. So war also auch in Deutschland mit dem
Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bedürfnis nach tech-
nischen Schulen brennend geworden. Allein noch fehlte es an Staats-
mitteln, an staatlichen Zentralbehörden, die tatkräftig hätten vorgehen
können, an bedeutenden Männern, die mit der Einsicht auch die Tatkraft
und vor allem auch die nötige Macht hätten entfalten können.
Die erste Ent- HI. Die Entwicklung der gewerblichen Fortbildungsschule.
Wicklung des ,, , ,--, .
gewerblichen Zunächst machte das r Ortbildungsschulwesen für die niedere gewerb-
Fortbildungs-
Schulwesens in hche Erziehuug einen Schritt vorwärts. 1848 war in Württemberg eme
T-l ..113 O ' O
Deutschland.
Zentralstelle für Gewerbe und Handel gegründet worden, die mit dem
bereits vorhandenen Kgl. Studienrat im Jahre 1853 zu einer kommissio-
nellen Beratung zusammentrat zur Neugestaltung der Fortbildungs- und
Handwerkerschulen. Noch im gleichen Jahre wurde ein ausführliches
Programm über die Ausgestaltung der Sonntagsgewerbeschulen entworfen,
und da die Zentralstelle für Gewerbe und Handel von Anfang ihres Be-
stehens an sich um Heranbildung" tüchtiger Zeichen- und Gewerbelehrer
bemüht hatte, so entwickelten sich diese Schulen sehr rasch. Im Winter
1856 konnte das kleine Land an 45 Orten solche Sonntagsgewerbeschulen
zählen. Sie hatten Werktagabends- und Sonntagunterricht in Zeichnen,
Rechnen, Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie, Buchführung und Ge-
werbeökonomie für Lehrlinge wie für Gehilfen. 1864 folgte Bayern mit
seiner Verordnung zur Errichtung gewerblicher Fortbildungsschulen, die
im wesentlichen dem württembergischen Muster angepaßt waren. 1873
schloß sich Sachsen, 1874 Baden und Sachsen-Koburg'-Gotha, 1875 Sachsen-
Meiningen-Hildburghausen mit einer staatlichen Organisation des gewerb-
lichen Fortbildungsschulwesens an.
Inzwischen war am 21. Juni i86g für den Norddeutschen Bund eine
Gewerbeordnung erlassen worden, die bald nach der Gründung des neuen
Reiches auch für alle deutschen Staaten Geltung gewann. Sie war von
grundlegender Bedeutung für die Entwicklung des ganzen gewerblichen
Fortbildungsschulwesens in Deutschland. Denn sie verpflichtete nicht nur
die Innungen und Handwerkerkammern zur Einrichtung und zum Unter-
ni. Die Entwicklung der gewerblichen Fortbildungsschule. 253
halte von Lehrlings- und Gehilfenfachschulen, sondern, was noch viel be-
deutsamer war, sie legte es in die Macht der Gemeinden und weiteren
Kommunalverbände, durch Ortsstatut den Schulbesuch für alle ortsansässigen
Arbeiter unter 18 Jahren zu erzwingen. In denjenigen Staaten, wo durch
entsprechende landesgesetzliche Bestimmungen der Zwang durch Straf-
maßregeln gestützt werden konnte, entwickelte sich infolgedessen das ge-
werbliche Fortbildungsschulwesen alsbald in erfreulicher Weise.
Viele kleinere Staaten führten die Zwangsfortbildungsschule durch
Landesgesetz ein, so insbesondere Sachsen, Baden, Württemberg, Hessen.
In Bayern war der Umstand der Ausbreitung der Fortbildungsschule
förderlich, daß seit 1803 alle Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr
nach der Entlassung aus der Werktagschule zum Besuch der wöchentlich
zweistündigen Feiertagsschule verpflichtet waren. Nur in Preußen machte
die gewerbliche Fortbildungsschule zunächst nur geringe Fortschritte.
Zwar hatte bereits ein Zirkularerlaß des Ministers vom 17. Juni 1874 eine
einheitliche Regelung des Fortbildungsschulwesens angestrebt, allein er
zeigte sich wenig durchführbar. Ein neuer Erlaß vom 14. Januar 1884
beschäftigte sich abermals mit den Angelegenheiten dieser Schulgattung
und bezeichnete als notwendige Unterrichtsfächer Deutsch, Rechnen und
Zeichnen unter Berücksichtigxmg der Bedürfnisse des Gewerbes. Infolge
der zunehmenden Ausbreitung des Polentums in Westpreußen und Posen
ergeht dann am 4. Mai 1886 ein preußisches Landesgesetz, worin der
Minister für Handel und Gewerbe ermächtigt wird, in diesen Provinzen
auf Grund der Gewerbeordnung Arbeiter unter 18 Jahren zum Besuche
der Fortbildungsschulen zu verpflichten. Es werden auch an 115 Orten
derartige Schulen gebildet, aber sie gehen zum größten Teile wieder ein,
weil dort weder ein eigentliches Bedürfnis vorhanden war, noch hinter
dem Zwange irgend eine Strafgewalt stand. Erst als 1891 durch eine
Novelle zur Gewerbeordnung die Lücke im Gesetz von 1886 ausgefüllt
war, entwickelte sich auch in Preußen das gewerbliche Fortbildungsschul-
wesen in stetiger Weise, zumal der Staat, der schon in dem Ministerial-
erlaß von 1874 Zuschüsse für obligatorische Fortbildungsschulen zugesagt
hatte, reichlich und gern seinem Versprechen nachkam und vielfach mehr
als die Hälfte der laufenden Ausgaben für solche Schulen übernahm.
Dabei ist indes nicht zu übersehen, daß die Entwicklung des Fort-
bildungsschulwesens im Deutschen Reich zunächst nur in der Richtung
der allgemeinen Fortbildungsschule vor sich ging, das heißt in der
Richtung einer erweiterten Volksschulbildung. Selbst diejenigen Schulen,
die ausdrücklich den Namen „Gewerbliche Fortbildungsschulen" trugen,
unterschieden sich von der allgemeinen nur dadurch, daß sie im Zeichen-
unterricht bisweilen etwas mehr Rücksicht auf das Gewerbe der Schüler
nahmen. Auch das war nicht immer der Fall. Die baj'erischen gewerb-
lichen Fortbildungsschulen z. B. waren noch bis zum Jahr igoo mit
Einschluß des Zeichenunterrichtes nichts anderes als allgemeine Fort-
2CA Georg Kerschensteinkr : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
bildungsschulen. Die Frage der eigentlich gewerblichen Fortbildungs-
schule, die überall Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse des Gewerbes,
dem der Schüler angehört, kam erst in Fluß durch die zielbewußte Tätig-
keit des „Deutschen Vereins für das Fortbildungsschulwesen", die um das
Jahr 1892 begann.
Die neue Phase Eine bedeutende Vorwärtsbewegung in dem Ausbau der Fortbildungs-
lüui; des Fort- schulen im ganzen Deutschen Reiche erfolgte dann durch das Gesetz vom
V.esens. 26. JuU 1897, betreffend die Innungen und Handwerkskammern, mit seinen
Vorschriften über Lehrlingswesen und -bildung, das eine ausreichende be-
rufliche Schulung des Lehrlings sowohl in gewerblichen als kaufmännischen
Betrieben sicherstellte. Nun tritt der Beruf des Lehrlings immer mehr in
den Mittelpunkt des Unterrichtes in dem gleichem Maße, als sich auch die
Gewerbetreibenden immer lebhafter für den Ausbau der fachgewerbUchen
Fortbildungsschulen interessieren und an vielen Orten nicht bloß die unum-
gänglich nötige, sondern auch eine annähernd ausreichende und vor allem
geeignete Unterrichtszeit für ihre Lehrlinge, sowie eine reichliche materielle
Unterstützung gewähren. Inbesondere hat die durch dieses Gesetz gebotene
Möglichkeit, Zwangsinnungen zu schaffen, nach dieser Richtung segensvoll
gewirkt. Heute kann man sagen, daß das deutsche gewerbliche Fort-
bildungsschulwesen für männliche jugendliche Arbeiter unter i8 Jahren,
obwohl ihm noch sehr viele Mängel anhaften, in einer erfreulichen und
hoffnungsreichen Entwicklung begriffen ist.
Das kauf- IV. Die Entwicklung der kau f m ännischen und land-
biidungsschui- wirtschaftlichen Fortbildungsschule. Auch das kaufmännische
Fortbildungsschulwesen, zu dem nermenswerte Ansätze vor 1850 nur
im alten Königreich Hannover und im Königreich Sachsen vorhanden
waren, ist in den letzten zwei Jahrzehnten im lebhaften Vorschreiten
begriffen. Das Reichsgesetz vom 30. Juni 1900, wonach auch für
weibliche Handlungsgehilfen und -lehrlinge unter 18 Jahren die Ver-
pflichtung zum Besuche einer Fortbildungsschule durch Ortsstatut fest-
gelegt werden kann, wird voraussichtlich in den nächsten Jahren die
Mehrung dieser Schulgattung beschleunigen. Seine gegenwärtig'e Ent-
wicklung verdankt es aber im Gegensatz zu den gewerblichen Fortbildungs-
schulen, an deren Ausbau in den letzten 25 Jahren wenigstens die Städte
den lebhaftesten Anteil nahmen, fast ausschließlich der privaten Initiative.
Dies rührt zum großen Teile daher, daß hier die Not der fachlichen Bil-
dung ursprünglich nicht entfernt so dringend war, wie bei den gewerb-
lichen Arbeitern, nicht zum wenigsten aber auch daher, daß sich nicht
wie bei den gewerblichen und technischen Berufen die Schule der Praxis
durch eine Schule von Laboratorien und Werkstätten zum großen Teil
ersetzen läßt. Kaufmännische Fortbildungsschulen bleiben immer in der
Hauptsache theoretische Schulen. Die Versuche, sie mit einem künstlich
geschaffenen Geschäftsverkehr zu verbinden, wie das in Amerika bisweilen
Wesen.
rV. Die Entwicklung der kaufmännischen und landwirtschaftlichen Fortbildungsschule, 255
geschieht und wie das an einer Ecole professionelle in Paris eingerichtet ist,
werden immer vereinzelt und vielleicht problematisch bleiben. Die Haupt-
entwicklung der Handelsfortbildungsschulen setzt in den achtziger Jahren
ein. Erst als der deutsche Handel in seine riesigen Dimensionen gewachsen
war, als die Zahl der Handelsbetiissenen fast in geometrischen Progressionen
zunahm, ohne daß die nötige Vorbildung vorhanden gewesen wäre, als
die Klagen über mangelhaft geschultes Personal immer allgemeiner wurden,
brach sich, wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Handelskreisen
die Überzeugung Bahn, daß nicht bloß die selbständigen Handeltreibenden,
sondern auch das Hilfspersonal mit den Waffen einer entsprechenden Bil-
dung gerüstet sein müssen, um im internationalen Handelswettkampf sieg-
reich zu bleiben. So entstanden denn auch in den letzten zehn Jahren
nicht bloß die deutschen Handelshochschulen in Leipzig, Köln, Frankfurt,
Aachen, sondern auch eine große Anzahl neuer Handelselementarschulen.
Ein großes Verdienst an dieser aufsteigenden Bewegung muß den kauf-
männischen Vereinen zugeschrieben werden. Doch hat zu dieser Ent-
wicklung auch das Institut der Handelskammern ein gutes Teil beigetragen,
eine Institution, die im Deutschen Reiche, wenn auch in anderer Form,
teilweise schon bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, während die Hand-
werkskammern erst wenige Jahre alt sind. Von den 148 Handelskammern
des Deutschen Reiches dürfen viele direkt als Gründerinnen von kauf-
männischen Schulen aller Art bezeichnet werden.
Im Vergleich mit den gewerblichen und kaufmännischen Fortbildungs- oas landwirt-
° ° • T^ , , schaftliche Fort-
schulen ist das landwirtschaftliche Fortbildungsschulwesen m Deutschland widungsschui-
Wesen.
noch recht wenig entwickelt. Zwar zählte Preußen im Jahre 1902 nicht
weniger als 142 1 ländliche, gegenüber 1684 gewerblichen und kauf-
männischen und sonstigen fachlichen Fortbildungsschulen, aber es wäre
ein großer Irrtum, wenn man hieraus irgend einen günstigen Schluß auf
den Stand des landwirtschaftlichen Fortbildungsschulwesens in Preußen
ziehen wollte. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse in Bayern, Sachsen,
Württemberg, Baden, Hessen, wo sich nach den obenerwähnten Fort-
bildungsschulerlassen auch auf dem Lande nicht wenige Fortbildungsschulen
entwickeln. Auch Österreich, die Schweiz, Frankreich machen hier keine
Ausnahme. Lediglich Dänemark eilt allen europäischen Staaten weit
voraus. Die deutschen sogenannten ländlichen Fortbildungsschulen sind
eben im wesentlichen nichts anderes als allgemeine Fortbildungsschulen,
die kaum etWeis anderes leisten können, als den Lehrstoff der Volksschule
ein, zwei, selten drei Jahre in wöchentlich 2 — 3 Stunden zu wiederholen.
Sie sind mit wenig Ausnahmen nur Bremsvorrichtungen, welche ver-
hindern, daß der Wagen der Volksschulgelehrsamkeit allzuschnell in
den Strom der Vergessenheit hinüberrollt. Weder für berufliche noch
für staatsbürgerliche Erziehung haben sie eine nennenswerte Bedeutung,
so wenig wie etwa die 2079 allgemeinen Fortbildungsschulen Württem-
bergs, oder die 7380 Sonntagsschulen Bayerns. Man liebt es bisweilen,
2c6 Georg Kerschenstkinkr: Das Fach- iinJ Foiibildungsscliulwescn.
sich an solchen Zahlen zu berauschen, aber in einer so dürftig entwickelten
Schulgattung bedeuten Zahlen gar nichts. In Preußen entwickeln sich die
ländlichen Fortbildungsschulen mit dem Beginn der siebziger Jahre, ins-
besondere seit dem Ministerialerlaß von 1876, der sie ausdrücklich auf
Wiederholung des Volksschulwissens beschränkt. In dieser Organisation
entfalten sie aber keine werbende Kraft. Das Kgl. Preußische Landes-
ökonomiekollegium beschließt daher im Jahre 1895, daß der Lehrstoff in
den ländlichen Fortbildungsschulen mehr auf die praktischen Bedürfnisse
des Landmannes Rücksicht nehmen solle. Bald darauf tun sich auch land-
wirtschaftliche Fortbildungsschulen mit fachlichem Unterricht auf, steigen
im Jahre 1899 auf i^^, sinken aber 1902 schon wieder auf 6 mit 89 Schülern
henmter. In allen übrigen Schulen wird zwar der Stoff nach der prak-
tischen Seite mehr oder weniger gemodelt, bleibt aber nach wie vor in
der Hauptsache theoretisch. Die Ursachen solcher wenig erfreulichen
Verhältnisse sind nicht schwer zu erkennen. Zunächst ist in den Kreisen
der Landwirtschafttreibenden im allgemeinen so gut wie keine Sympathie
für Fortbildungsschulen vorhanden, weder in den Kreisen der Kleinbauern,
noch viel weniger in den Kreisen der Großgrundbesitzer, zumal der land-
wirtschaftliche Beruf keine Lehrlinge kennt, die außerhalb des Kreises
der eigenen Kinder in die Berufsaufgaben einzuführen wären. Dieser
Mangel an Sympathie hängt sowohl mit dem Mangel an guten Vorbildern
zusammen, als auch mit dem Umstand, daß die Umwälzungen auf dem
Gebiete der landwirtschaftlichen Betriebe im 19. Jahrhundert nicht so ein-
schneidend waren, als in den gewerblichen, technischen und kaufmännischen
Betrieben. Auch liegt es im Wesen der Landwirtschaft, daß Betriebs-
veränderungen niemals mit den gleichen, oft ganz unerwartet großen
materiellen Vorteilen verbunden sind, wie Betriebsumwälzungen in Ge-
werbe und Industrie. Damit fällt aber der stark egoistische Anreiz zur
Erhöhung des Bildungsstandes. Weiter kommt in Betracht, daß die Be-
rufsorganisationen der Landwirtschaft mit dem Fortbildungsschulwesen sich
überhaupt nicht, oder nur nebenbei befassen. In Preußen existieren seit
dem 20. Juni 1894 besondere Landwirtschaftskammern, die im übrigen
Deutschen Reich außer in Oldenburg fehlen. Aber diese Landwirtschafts-
kammem beschäftigen sich im Gegensatz zu den Handels- und Hand-
werkerkammern ausschließlich mit wirtschaftlichen Fragen. Zum vierten
fällt als wesentliches Hindernis für die Entwicklung der Mangel an irgend
welchen Zwangsbestimmungen ungemein schwer in die Wagschale. Man
macht lieber der agrarischen Bevölkerung alle möglichen Geschenke aus
allgemeinen Staatsmitteln, als daß man sich entschließt, den Bildungsstand
zwangsmäßig zu erhöhen, damit, ähnlich wie alle übrigen freien Berufe,
auch die Landwirtschaft auf dem Wege der Selbsthilfe widerstandsfähig
werde im großen Konkurrenzkampf. Welche Wirkung der Wegfall des
Zwanges hat, erkennt man daraus, daß die obenerwähnten 142 i preußischen
ländlichen Fortbildungsschulen nur von rund 2 1 000 Schülern besucht
V. Die Entwicklung der Mädchcnfortbildungs- und -fachschulcn. 2^7
werden, während die Schülerzahl der 1684 gewerblichen, kaufmännischen
und sonstigen fachlichen Schulen Preußens das Zehnfache beträgt. End-
lich ist nicht zu verkennen, daß auch die Unterhaltungskosten, die bei den
meisten, sehr viel vermöglicheren Stadtgemeinden keine ausschlaggebende
Rolle spielen, in den gewöhnlich armen Landgemeinden dem Ausbau des
ländlichen Fortbildungsschulwesens ein starkes Hindernis entgegensetzen.
Die Kosten würden sich aber leicht verteilen lassen, wenn mehrere be-
nachbarte Landgemeinden sich zur Einrichtung einer Schule entschließen
würden. Sonderbarerweise sind auch nicht wenig Lehrer und Vorstände
der höheren landwirtschaftlichen Schulen Gegner des landwirtschaftlichen
Fortbildungsschuhvesens in der irrtümlichen Meinung, daß damit ihre
Schulen entvölkert würden. Ein Blick auf das gewerbliche Fortbildungs-
schulwesen könnte aber zeigen, daß gerade das Gegenteil der Fall sein
wird. Übrigens sind zurzeit in der Provinz Westfalen neue glückliche
Anfänge zu konstatieren. Auch in Schleswig-Holstein scheint das groß-
artige dänische Beispiel anregend zu wirken.
V. Die Entwicklung der Mädchenfortbildungs- und -fach- Der Zustand der
schulen. Noch weniger als das landwirtschaftliche ist das gesamte Fort- ^i"'^Bcg!'n'',i'''d°el
bildungsschulwesen für Mädchen im Deutschen Reiche entwickelt. Nur ''J^'^'"""'''*'-
die Großstädte weisen hier erfreuliche Erscheinungen auf, während in den
kleineren Städten und vollends auf dem Lande der Volksschulunterricht
Anfang und Abschluß der Bildung des größten Teils aller Mädchen umfaßt.
Die Gründe für diese Erscheinungen liegen auf der Hand. Noch am Anfang
des 19. Jahrhunderts hielt man nicht bloß eine weitere Ausbildung der
Mädchen, sondern selbst die Elementarbildung im Lesen, Schreiben und
Rechnen im allgemeinen für überflüssig. Selbst Goethe rät 1795 in den
„Hören" einem besorgten Freund, der die Mädchen vor der bösen Lektüre
der „kuppelnden Dichter" bewahrt wissen möchte, er möge ihnen die Be-
sorgung des Weinkellers, der Küche und des Gartens übertragen und
jene, die lieber stille sitzen, die Nadel führen lassen. Indes findet der
Industrieunterricht, also ein Unterricht in weiblicher Handarbeit, wie
Spinnen, Stricken, Nähen, schon am Ende des 18. Jahrhunderts in den
südlichen Ländern des alten Deutschen Reiches Eingang in die Volks-
schule. Zu Anfang und in der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erstehen dann vereinzelt infolge der Initiative einsichtsvoller Mämier und
Frauen Schuleinrichtungen für die Mädchen des Volkes, die eine gewerb-
liche oder sonst berufliche Ausbildung des weiblichen Geschlechts ins
Auge fassen, so 1810 die Klöppelschule in Schneeberg, 181 1 die bereits
erwähnte Schule für weibliche Handarbeiten in Wien, 1836 die weibliche
Fortbildungsschule des Handwerkervereins in Chemnitz. Der eigentliche
Anfang des weiblichen Fach- und Fortbildungsschulwesens fällt aber in
das dritte Viertel des iq. Jahrhunderts. Auch hier war die Not die
treibende Kraft, die Not, die mit der rasch steigenden Zunahme der Be-
DiB Kultur der Gecemwart. I. i. j^
2e8 Georg Kerschensteiner: Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
völkerung nicht bloß über das weibliche Geschlecht an sich, sondern über
Tausende von Familien hereinbrach. Hatten früher die überschüssigen
weiblichen Familienmitglieder Schutz und Unterkunft meist am elterlichen
Herde finden können, so wurde das mit dem erhöhten Kampf um das täg-
liche Brot immer schwieriger. War früher die Mutter völlig an das Haus
gebannt und lediglich mit der Sorge um Haushalt und Kindererziehung
belastet, so wurde jetzt auch sie hinausgetrieben in den erbarmungslosen
Erwerbskampf, und bei Tausenden und Abertausenden bestand ein Fa-
milienverband mit seinen segensvollen Wirkungen nur mehr dem Namen
nach.
Die Anfange des Die Not führte zunächst zur Bildung von Frauenerwerbs- und Frauen-
schuiwesens "für bildungsverelnen, die nun ihrerseits nicht bloß die Mehrung der Erwerbs-
möglichkeiten des weiblichen Nachwuchses ins Auge faßten, sondern auch
die Mehrung der Frauenbildung überhaupt. Doch auch einzelne Männer
griffen die brennende Fragte lebhaft auf. In Württemberg nimmt bereits
Ende der fünfziger Jahre Steinbeis die Gründung von Frauenindustrie-
schulen von Staats weg^en auf; 1861 wird an der Stuttg-arter gewerblichen
Fortbildungsschule eine besondere Mädchenabteilung eingerichtet. In
München gründen Riemerschmid und Reischle 1862 die erste Mädchen-
handelschule in Deutschland, die rasch von 200 Mädchen gefüllt ist und
heute als gemeindliche Anstalt zu den blühendsten weiblichen Berufs-
schulen Münchens gehört. 1863 entsteht unter Mitwirkung von Männern
und Frauen die gewerbliche Lehranstalt für erwachsene Töchter in Leipzig,
1865 bildet sich in Berlin auf AnregTing Dr. Adolf Lettes der heute noch
so ungemein segensreich wirkende „Lette-Verein zur Förderung höherer
Bildung und Erwerbstüchtigkeit des weiblichen Geschlechtes" und im
gleichen Jahre zu Leipzig der „allg'emeine deutsche Frauenverein", dessen
Hauptaufgabe nach dem § i seiner Statuten in der Fürsorge für erhöhte
weibliche Bildung besteht. 1872 werden an der Münchner Kunstgewerbe-
schule besondere Klassen für Mädchen eingerichtet.
Die erste Teil- Nun eutschließen sich auch jene deutschen Staaten, welche bereits
Re"^erangeram für die Knaben, sei es durch ein Landesgesetz, sei es durch Orts-
schidwesM fiir statut, Fortbildungsschulzwang eingeführt hatten, diesen Zwang auch auf
die Mädchen auszudehnen oder ausdehnen zu lassen. In Bayern bestand
bereits seit 1803 die Mädchensonntagsschulpflicht auf die Dauer von drei
Jahren nach dem Austritt aus der Volksschule. 1836 folgte Württemberg,
1874 Baden, Sachsen -Koburg- Gotha, Sachsen -Weimar, 1875 Sachsen-
Meinigen-Hildburghausen. Freilich kann man auch hier nicht sagen, daß
diese weiblichen obligatorischen Fortbildungs- oder Soimtagsschulen eine
nennenswerte Bedeutung für die Volkserziehung hatten. Namentlich nicht
in den Ländern, wo sich diese Schulen lediglich mit der Erhaltung oder
sogenannten Ergänzung des Volksschulwissens befaßten. Dazu war schon
die wöchentliche Untemchtszeit (i — 2 Stimden) viel zu kurz. Da aber,
wo der Einfluß hätte größer sein können, wie in Baden mit seinem haupt-
VI. Die dritte Periode der Entwicklung des Fachschulwesens von 1880 ab. 259
sächlich hauswirtschaftlichen Unterricht, erstreckte sich die Dauer der Ver-
pflichtung nur auf ein Jahr. Xur den heute bestehenden 17 württem-
bergischen weiblichen Fortbildungs.schulen, die nach dem Muster der oben-
genannten Stuttgarter Abteilung in den letzten 40 Jahren entstanden sind,
kann eine größere Bedeutung zugeschrieben werden.
Dagegen entwickelt sich in den größeren deutschen Städten das frei- Die XeUoahme
willige Fortbildungsschulwesen für Mädchen in einer auch für die Volks-
erziehung wertvollen Weise, wenn auch seine Wirkung heute meist noch
auf einen kleinen Kreis der Bevölkerung beschränkt bleibt. Gewöhnlich
nehmen diese städtischen Fortbildungschulen beruflichen Charakter an, und
zwar den Charakter von Fachschulen, indem sie ihren Unterricht vor allem
auf das Gebiet der spezifisch weiblichen Handarbeit, der kaufmännischen
Fächer, seltener der kunstgewerblichen Bildung ausdehnen. Erst im letzten
Jahrzehnte gelangt immer mehr die Einsicht zum Durchbruch, daß die
weiblichen Fortbildungsschulen vor allem den weiblichen Beruf katexochen
ins Auge fassen müssen, den Beruf der zukünftigen Hausfrau und Mutter.
Unter diesem Gesichtspunkt hat beispielsweise München für die ganze
Stadt im Jahre 1894 fakultative Mädchenfortbildungsschulen eingerichtet.
Ihm sind aber erst wenige deutsche Städte und auch diese nur teilweise
gefolgt, wie zum Beispiel Breslau, das 1897 halbjährige Koch- und Haus-
haltungskurse an die Volksschule angliederte, oder Leipzig, das schon
i8g6 mit den gleichen Bestrebungen nach den Plänen der Frau Geheim-
rat Windscheid vorangegangen war. Städtische weibliche Fortbildungs-
schulen besitzen, außer den obenerwähnten 14 württembergischen Ge-
meinden, in größerem Umfange und in der Richtung der allgemeinen oder
beruflichen Bildung gehend, nur noch Berlin und Leipzig.
Im allgemeinen kann man sagen, daß das gesamte weibliche Fort-
bildungsschulwesen und auch Fachschulwesen mit wenigen Ausnahmen in
Deutschland heute noch leider als keine Angelegenheit der Staatsregie-
rung und Staatsverwaltung angesehen wird, daß es vielmehr im wesent-
lichen noch auf gemeinnützige Tätigkeit von Vereinen aller Art oder von
einsichtigen, opfen.villigen Einzelpersonen angewiesen ist und sich nur
nach der Größe der diesen zur Verfügung stehenden Mittel und nach
dem Verständnis und der Tatkraft der jeweils führenden Persönlichkeiten
in und mit den Vereinen entwickelt. Unter solchen Umständen kann
es nicht wundernehmen, daß hier ebenso wie im kaufmännischen Fort-
bildungsschulwesen neben ganz hervorragenden Schulen sehr viele recht
minderwertige Unternehmungen im Deutschen Reich vorhanden sind, die
mehr dem Enverbsinteresse des Besitzers dienen, als daß sie zur Lösung-
von Kulturaufgaben geeignet wären.
VL Die dritte Periode der Entwicklung des Fachschulwesens °ä*ef''^ert>™^
von i88o ab. Denselben Verlauf wie die Entwicklung des Fortbildungs- schuiwefeM''in
Schulwesens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nimmt das Fachschul- „ach'^J'gsS.
17»
->5o Georg Kerschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
weseii in Deutschland um diese Zeit. Zögernd setzt die Bewegung ein, um
dann mit Beginn des neunten Jahrzehntes ein immer beschleunigteres Tempo
einzunehmen. Weder im Reich noch in den einzelnen Staaten wird, wie das
gleichzeitig in Österreich und Frankreich geschieht, von vornherein nach
einem großen, weitausschauenden Organisationsplan gearbeitet. Erst all-
mählich kommt ein System wenigstens in die einzelnen Fachschulgruppen.
In Preußen wird zunächst 1878 das gesamte technische Unterrichtswesen
dem Unterrichtsministerium überwiesen. Aber schon sieben Jahre später
geht es mit Ausnahme der drei technischen Hochschulen und dreier Kunst-
gewerbeanstalten in die Verwaltung des Handelsministeriums über. An-
gestachelt von dem Beispiel Österreichs und Frankreichs, getrieben von
den Bedürfnissen im Innern des Landes durch den unerhörten Aufschwung
des gesamten wirtschaftlichen Lebens, erfüllt von der neuen, verantwortungs-
vollen Aufgabe, setzt in Preußen nun das Handelsministerium eine Tätig-
keit ein, durch welche es alsbald alle deutschen Staaten in der Entwick-
lung seines Fachschulwesens überflügelt. Die in den sechziger und siebziger
Jahren gegründeten privaten oder städtischen Baugewerbeschulen werden
verstaatlicht, an zwölf Orten werden neue geschaffen; war 1853 nur eine
einzige solche staatliche Schule in Nienburg vorhanden, so zählte Preußen
50 Jahre später, von den neu entstandenen Privatschulen gar nicht zu
reden, deren zwanzig. 1890 entsteht die erste Kgl. Maschinenbauschule
zu Dortmund, 1903 zählt Preußen deren bereits fünfzehn. In gleicher
Weise wachsen die Fachschulen für Textilindustrie; aus den fünfziger und
sechziger Jahren waren vier vorhanden, in den beiden letzten Jahrzehnten
entstehen zwölf. Keramische Fachschulen, Kunstgewerbe- und Hand-
werkerschulen, von denen man 1870 nur zwei vorfindet, wachsen bis auf
einundzwanzig. Im Jahre 1904 belief sich die Gesamtzahl der öffentlichen
gewerblichen Fachschulen in Preußen ausschließlich der damals vorhan-
denen drei technischen Hochschulen und zwei Bergakademien auf 285,
während sie im Jahre 1880 nur 52 betrug. Ein noch viel eindrucksvolleres
Bild für die Tätigkeit des Handelsministeriums gewährt das Wachstum
der staatlichen Ausgaben für Fortbildungsschul- und Fachschulwesen,
Während sie 1886 570000 Mark betragen, wächst der Etat im Jahre 1893
auf 2,3 und zehn Jahre später auf 6,3 Millionen.
In anderer Art entwickelt sich im industriellen Sachsen das Fachschul-
wesen, Hier gehen vor allem öffentliche Schul- und Fachverbände, Gewerbe-
vereine, Innungen, Handelskammern mit der Gründung von Fachschulen
vor, während Staat und Gemeinden nur unterstützend mitwirken. So wird
Sachsen geradezu das klassische Land der Fachschulen für das Klein-
gewerbe wie für den Handel. Vom Jahre 1884 — 1899 verdoppelt sich der
Gesamtaufwand wie der Staatszuschuß, indem er 2,5 bzw. 1,2 Millionen
erreicht. In Bayern schreitet das Fachschulwesen, abgesehen von den
Industrieschulen, die aber eigentlich den Charakter von Oberrealschulen
haben und sie tatsächlich auch vertreten, erst in den letzten zehn Jahren
VI. Die dritte Periode der Entwicklung des Fachschulwesens von 1880 ab. 261
vorwärts. Das hängt nicht nur damit zusammen, daß große Gebiete eine
nennenswerte Industrie nicht besitzen, sondern auch damit, daß der baye-
rische Staat im Gegensatz zu den übrigen deutschen Staaten noch bis
vor wenigen Jahren sich nur zu geringen Zuschüssen entschließen konnte.
Im Jahre 1900 betrug der Gesamtaufwand ausschließlich der Kosten für
die Industrieschulen, einschließlich jedoch der Ko.sten für die Kunst-
gewerbeschulen, etwa 2,2 Millionen I\Iark, von denen der Staat eines-
teils und die Kreisregierungen andemteils rund je 0,5 Millionen über-
nommen hatten. Auch in Württemberg war nach dem Aufschwung in
den fünfziger und sechziger Jahren ein Stillstand in der Entwicklung
eingetreten. Dagegen zeigt sich auch hier in neuester Zeit das Fach-
und Fortbildungsschulwesen wieder in einem Zustande lebhafter Entwick-
lung, während es in Baden und Hessen in gleichmäßiger Steigerung seit
30 Jahren sich aufwärts bewegt. Im ganzen Deutschen Reich betrug im
Jahre 1903 die Zahl der über die Fortbildungsschule hinausgehenden ge-
werblichen oder sonst technischen Fachschulen mit öffentlichem Charakter,
ausschließlich der neun technischen Hochschulen und der drei Bergaka-
demieen, rund 520.
Dazu kommen 570 landwirtschaftliche Fachschulen, unter denen sich Entwicklung des
28 Landwirtschafts-, 51 Ackerbau- imd 193 Winterschulen befinden. Die nchcn Fach-
Zahl dieser landwirtschaftlichen Fachschulen mag manchen überraschen.
Auch sie sind in der Hauptsache Kinder des Geistes der letzten drei
Jahrzehnte, obwohl einzelne Staaten schon in der ersten Hälfte des
ig. Jahrhunderts einige solche Institute schufen, so Preußen 1806 die aka-
demische Lehranstalt zu Möglin, 18 18 die Akademie zu Hohenheim, und
Bayern 1829 die landwirtschaftliche Lehranstalt zu Schleisheim, Sachsen
im gleichen Jahre die Landwirtschaftschule zu Tharandt. Die Akademieen
gingen mit wenigen Ausnahmen später wieder ein. Die in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts gegründeten Ackerbauschulen machten in Preußen
den Weg der Provinzialgewerbeschulen; sie wurden immer theoretischer, bis
sie sich 1875 in Realschulen verwandelten und etwa sechsstündigen land-
wirtschaftlichen Unterricht und den Titel Landwirtschaftsschulen annahmen.
Während aber für die in Oberrealschulen sich auswachsenden Provinzial-
gewerbeschulen zunächst kein Ersatz vorhanden war, traten neben die
Landwirtschaftsschulen schon frühzeitig entsprechende Fachschulen mit
theoretisch -praktischem Unterrichtsbetrieb, die sich dann im Deutschen
Reiche unter der Fürsorge der verschiedenen Regierungen rasch ver-
mehrten, nachdem die Arbeiten eines Liebig und Schieiden die Bedeutung
naturwissenschaftlicher Kenntnisse auf das eindringlichste gepredigt, und
die immer tiefer gehenden Preise landwirtschaftlicher Produkte die Not-
wendigkeit einer wohldurchdachten wirtschaftlichen Rechnung und Buch-
führung sowohl als eines rationellen Betriebes deutlich vor Augen gestellt
hatten.
Im Jahre 1902 besaß Preußen dank der Regsamkeit des Ministeriums
2 02 Georg Kkrschenstkiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
für Landwirtschaft i6 Landwirtschafts-, 21 Ackerbau-, 5 Wiesenbau-,
3 Garten-, 15 Obstbau- und 128 landwirtschaftUche Winterschulen, also
188 über die gewöhnlichen Fortbildungsschulen hinausgehende Fach-
schulen, deren Unterhalt gleichfalls 1,5 Millionen Mark beanspruchte, die
allerdings zu ^^ von Provinzial-, Kreis-, Kommunal- und anderen Ver-
bänden bestritten wurden. Der Gesamtaufwand aus öffentlichen Mitteln
für das Fach- und Fortbildungsschulwesen in Deutschland, ausschließlich
der Hochschulen, belief sich im Jahre 1901 auf rund 12 Millionen.
Das kauf- Unter die damit unterhaltenen oder unterstützten nahezu 11 00 öffent-
mäntüsche
Fachschalwesen, liehen Fachschuleu sind nicht eingerechnet die verhältnismäßig wenigen
selbständigen Handelsschulen imd die zahlreichen weiblichen Fachschulen,
die in ihrer überwiegenden Mehrzahl den Charakter von Privatuntemeh-
mungen tragen, zu denen aus öffentlichen Mitteln nur selten und auch
dann nur spärlich Zuwendimgen fließen. Solche höhere selbständige
Handelsschulen gab es, von den obenerwähnten Handelsakademieen ab-
gesehen, im Jahre IQ04 nur 14 in Deutschland, darunter 4 für Mädchen,
nämlich in Posen, Rheydt, München, Nürnberg, von denen die beiden
ersten als kgl. preußische Staatsanstalten auch gewerbliche Bildimg ver-
mitteln. In Preußen imd Bayern ist dagegen der Handelsunterricht viel-
fach mit Realschulen oder Realgymnasien verbunden, eine Sache, die um
so gerechtfertigter erscheint, als die übrige höhere kaufmännische Bildung
ohnehin sich im Rahmen des Unterriclitsgebietes bewegt, der diesen
Schulen zugewiesen ist.
Fachschalen für Ungleich größer ist die Zahl der weiblichen Fachschulen. Auch ab-
gesehen von den schon bei den landwirtschaftlichen Schulen mitgezählten
landwirtschaftlichen Haushaltimgs-, Molkerei- und Käsereischulen, ent-
wickelten sich nicht nur in fast allen Großstädten, sondern auch auf dem
Lande, namentlich da, wo weibliche Klöster mit Mädchenunterricht sich be-
fassen, in den letzten drei Jahrzehnten Gewerbe-, Kunstgewerbe-, Zeiclien-,
Industrie-, Frauenarbeits-, Haushaltungs-, Stickerei-, Spitzenklöppelei-,
Koch-, Kindergärtnerinnen-, Erzieherinnen-, Pflegerinnen- usw. Schulen für
,das weibliche Geschlecht. Oft heben sie sich vom Charakter einfacher
Fortbildungsschulen gar nicht ab, oft beschränken sie sich sogar nur auf
Kurse von wenigen Monaten, oft aber nehmen sie auch die Entwicklung
von großartig ausgebauten Lehranstalten an, namentlich dann, wenn
Staaten oder Kommimen sie mit Zuschüssen unterstützen oder bedeutende
Stiftungen ihnen einen auskömmlichen Nährboden sichern. Im Jahre 1900
befanden sich in Preußen etwa 200, in Bayern gegen 60, in Württemberg
imd Sachsen etwa 40, in Baden gegen 30 weibliche Fachschulen, die nicht
als Geschäftsuntemehmungen einzelner Privater, sondern als der AusfluJJ
erzieherischer Werktätigkeit von Gemeinden, Vereinen, kirchlichen und
klösterlichen Institutionen betrachtet werden müssen. Gleichwohl muß
man bekennen, daß die Fürsorge um die weibliche berufliche und all-
gemeine Ausbildung noch himmelweit hinter der Fürsorge um die mann-
Vn. Die Entwickl. d. gewerbl. Erzichungswesens in auQcrdcutscb. Staat.im letzt. Viertel d. 1 9. Jahrb. 263
liehe Ausbildung zurücksteht. Diese Aufgabe wird erst das 20. Jahr-
hundert im Deutschen Reiche lösen müssen.
VII. Die Entwicklung des gewerblichen Erziehungswesens DieEntwickiong
_ ^ . T. '" Frankreich
in außerdeutschen btaaten im letzten Viertel des 19. Jahr- unter der dritten
hunderts. Wesentlich anders als im Deutschen Reiche entwickelte sich
in Österreich das Fachschulwesen in den letzten drei Jahrzehnten, anders
insofern, als hier dem Ausbau von vornherein ein groß angelegter Orga-
nisationsplan von Staats wegen zugrunde gelegt wurde. Nach der Schaffung
des Handelsministeriums im Jahre 1861 teilten sich zunächst zwei Mini-
sterien in die Fürsorge um das technische Schulwesen. Es entwickelte sich
eine Art Wettstreit in der Schaffung von gewerblichen Schulen, der indes
zu keinem geregelten System und nicht selten zu Kompetenzkonflikten
führte. Da wird im Jahre 1874 Armand Freiherr von Dumreicher mit
dem Referate für Angelegenheiten des gewerblichen Unterrichtes am
Unterrichtsministerium betraut, der schon im Jahre 1872 mit seiner Schrift
„Die Pflege des gewerblichen Fortbildungs- und INIittelschulwesens durch
den österreichischen Staat" die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ge-
lenkt hatte. Schon ein Jahr nach seinem Dienstantritt legt er den Plan
zu einem „industriellen Schulsystem" in seinem „Expose über die Organi-
sation des gewerblichen Unterrichts in Österreich" vor, und dieser Plan
wird die Grundlage des Ausbaues in Österreich. Nach demselben wird
zunächst eine beschränkte Anzahl großer, musterhaft ausgestatteter gewerb-
licher Bildungsstätten an wenigen Hauptpunkten des Reiches geschaffen.
Sie sollen die Bildungszentren werden, von denen aus mit Erfolg die um-
liegenden Landesteile mit mittleren gewerblichen Bildungsanstalten ver-
sehen werden können, die dann ihrerseits wieder den Ausgangspunkt
bilden für das Fach- und Fortbildungsschulwesen des jeweiligen Kron-
landes. Schon im Jahre darauf, 1876, treten neun solche Hauptmittel-
punkte ins Leben, die Staatsgewerbeschulen, zu denen noch die bereits
im Jahre 1868 geschaffene Kunstgewerbeschule am Museum für Kunst
und Wissenschaft in Wien kommt, das 1863 gegründet war, und denen
sich alsbald noch das technologische Gewerbemuseum in Wien mit seinen
zahlreichen Fachschulen im Jahre 1879 anschließt. Der einheitliche Plan
des Ausbaues zog in wenigen Jahren die Notwendigkeit einer einheitlichen
Leitung nach sich. Am 30. Juli 1881 ergeht die Allerhöchste Entschließung,
daß vom Jahre 1882 an sämtliche dem gewerblichen Bildungswesen ge-
widmeten Kredite im Etat des Unterrichtsministeriums vereinigt und von
ihm unter Mitwirkung des Handelsministeriums verwaltet werden. Es
wird eine Zentralkommission geschaffen und ein Zentralblatt für gewerb-
liches Unterrichtswesen herausgegeben, das nicht nur den Sammelpunkt
aller auf das gewerbliche Unterrichtswesen bezugnehmenden Maßnahmen,
sondern auch eine Art geistigen Bandes für alle Schuleinrichtungen der
Monarchie bildet Mit den Staatsgewerbeschulen, welche nicht eigentlich
264 Georg Kerschenstkiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
eine didaktische, sondern eine administrative Einheit von Fachschulen für
gewerbliche Hauptgruppen bilden und gewöhnlich in der Landeshauptstadt
des betreffenden Kronlandes errichtet sind, werden nun die Fachschulen
für die einzelnen gewerblichen Zweige des betreffenden Kronlandes in
Beziehung gesetzt, die sich auf das engste den Produktionsverhältnissen
der betreffenden Orte anschließen und daher auch, wie die Staatsgewerbe-
schulen selbst, in ihrer Ausgestaltung sehr verschieden sind. Den staats-
gewerblichen Schulen und Fachschulen werden wiederum Fortbildungs-
schulen angegliedert, die gleichsam als Musterfortbildungsschulen wirken
sollen. War so wenigstens an den wichtigsten Orten für Ausbildung
und Fortbildung gesorgt, so fehlte es noch an Schulgattungen, welche
eine bessere Vorbildung für den Gewerbestand mit sich gebracht hätten.
Diesem Mangel sollte durch allgemeine Handwerkerschulen abge-
holfen werden, meist zweijährige Schulen, welche unter Einführung von
Werkstattunterricht an Stelle der beiden letzten Werktagsschuljahre treten
konnten. Bis zum Jahre 1894 waren deren 11 geschaffen. Auch mit ihnen
wurden Fortbildungsschulen verbunden. Mit der Gründung dieser Hand-
werkerschulen war der Organisationsplan des gewerblichen Unterrichts-
wesens abgeschlossen, nun galt es vor allem den inneren Ausbau zu
fördern. Es würde zu weit führen, auch hier der rastlosen Tätigkeit
des Unterrichtsministeriums nachzugehen. Man wird sich auch hier mit
einem Zahlenbild begnügen müssen. Im Winter 1902 gab es in Österreich
etwa 1000 Fortbildungsschulen, 18 Handelsschulen, 11 allgemeine Hand-
werkerschulen, 180 Spezialfachschulen, 17 Staats- und 2 Kunstgewerbe-
schulen, sowie 2 technologisch-gewerbliche Museen (in Wien und in Prag)
mit ihren zahlreichen fachlich gegliederten Sektionen. Der Staatsvoran-
schlag für das gewerbliche Bildungswesen in Österreich (mit Ausschluß
von Ungarn) betrug 1896 schon 5,15 Millionen Kronen, für das Jahr 1906
beläuft er sich auf 10,3 Millionen, so daß sich also innerhalb 10 Jahren
die Ausgaben für das gewerbliche Bildung"swesen, abgesehen von den
Ausgaben für die landwirtschaftlichen und für die technischen Hoch-
schulen, gerade verdoppelt haben.
Die Entwicklung Werfen wir noch einen Blick auf Frankreich, so erhalten wir ein
in Österreich
nach 1870. drittes eigenartiges Bild der Entwicklung des gewerblichen und kauf-
mämiischen Fortbildungs- und Fachschulwesens. Die heutige Ausgestaltung
ist im wesentlichen ein Verdienst der dritten Republik, die allerdings
schon eine größere Anzahl von Fachschuleinrichtungen vorfand als das
neue Deutsche Reich. Auch dieser Ausgestaltung liegt deutlich ein festes
System zugrunde: Man baut das Fachschulwesen gleichzeitig von unten
imd oben aus, das niedere Fachschulwesen in der Erkenntnis, „daß eine
gute Meisterlehre kaum mehr als Ausnahmezustand vorhanden ist", die
oberen Fachschulen in dem Bewußtsein, „daß auch für technische Offiziere,
Ingenieure, Baumeister usw, nicht bloß eine ausgiebige allgemeine und
theoretische, sondern auch frühzeitig eine praktische Schulung nützlich
VH. Die Entwickl. d. gcwerbl. Erziehungswesens inauQerdcutsch. Staat im letzt.Viertel d. 1 9. Jahrh. 265
und notwendig ist". Weder in Deutschland noch in Österreich ist daher
der Handarbeits- und Werkstattunterricht so verbreitet wie in den fran-
zösischen Schulen. Schon in den Primärschulen finden wir „l'atelier dans
l'ecole", und die sich ihnen anschließenden „cours complementaires", welche
in der Mitte der achtziger Jahre für jene 13 — 15jährigen Knaben entstehen,
die in industrielle, gewerbliche oder kaufmännische Berufe eintreten wollen,
betonen den praktischen Unterricht noch stärker. Diese cours comple-
mentaires finden wir in allen Städten Frankreichs. Für gewöhnlich dauern
sie ein Jahr, bei genügender Schülerzahl werden sie auf zwei Jahre aus-
gedehnt Mit dem certificat d'etudes complementaires, bisweilen auch mit
dem einfachen Volksschulentlassungszeugnis versuchen die Schüler nun
den Eintritt in eine bessere Lehre, oder lieber noch den Zutritt zu einer
Ecole manuelle d'apprentissage zu erreichen. Solche gewerbliche Lehr-
lingsschulen gibt es in Frankreich drei Arten. Zunächst die ^coles pra-
tiques de commerce et d'industrie, die 1892 neu gestaltet wurden, sich auf
dreijährige Ausbildung erstrecken und unter Festhalten des Grundsatzes
„l'ecole dans l'atelier" ziemlich gleichheitlich im ganzen Lande ein-
gerichtet sind. Der Werkstattunterricht ist in diesen Schulen, soweit sie
einer gewerblichen Abteilung angehören, auf 30 Wochenstunden ausgedehnt.
Ihre Einrichtung ist Sache der Departements und Kommunen, doch zahlt
der Staat bedeutende Summen für die Lehrerhonorare. Im Jahre 1900 gab
es deren i^^, teils für Knaben, teils für Mädchen, teils für beide Geschlechter
zusammen. Neben diesen staatlich anerkannten gibt es auch noch eine
sehr große Anzahl nicht anerkannter Schulen dieser Gattung, die Ecoles
publiques et libres d'enseignement technique. Von den Ecoles pratiques
de commerce gehen die besseren Schüler häufig in die zehn bis elf !^coles
superieures du commerce über, Fachschulen, die gleichzeitig eine allgemeine
Bildung wie etwa unsere Oberrealschulen vermitteln. Für die höchste
kaufmännische Bildung ist dann die Handelshochschule zu Paris, die Ecole
des hautes etudes commerciales geschaffen. Die zweite Art der gewerb-
lichen Lehrlingsschulen stellen die Ecoles primaires superieures pro-
fessionnelles dar, die je nach der Landschaft große Verschiedenheiten
zeigen und drei bis vier Jahre Tagesunterricht umfassen. Auch von ihnen,
deren Zahl etwa 30 ist, dient ein Drittel der gewerblichen bzw. kauf-
männischen Ausbildung der Mädchen. Ausgezeichnete Schulen dieser Art,
und zwar nicht weniger als 13, nämlich 7 für Knaben, 6 für Mädchen,
besitzt die Stadt Paris; der laufende Etat dieser Pariser Schulen
betrug im Jahre 1900 allein mehr als zwei Millionen Francs. Die
dritte Art endlich bilden seit 1889 die staatlichen Gewerbeschulen, die
Ecoles nationales professionnelles, die eine Verbindung von gewöhnlicher
Volks- und höherer Volksschule sind, in denen sich der gewerbliche
Unterricht „von den ersten Jahren an, wo er fast nichts bedeutet, bis
zum letzten Semester steigert, wo er fast allen Platz einnimmt". Der
Lehrling verläßt diese Schulen in einem Punkte seiner Entwicklung, wo ihm
2 66 Georg Kkrschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
„nur noch die Übung des Handwerks fehlt, um Handwerker zu sein", um
nun entweder in eine Werkstatt einzutreten, oder eine eigentliche Fach-
schule zu besuchen. Man erkennt die Ähnlichkeit dieser Schulen nach
Ausbau und Bestimmung mit den österreichischen allgemeinen Handwerker-
schulen. Ebenso aber wie die Zahl dieser ist auch die Zahl der staat-
lichen Gewerbeschulen in Frankreich nicht groß. Im Jahre 1900 existier-
ten deren nur vier, zu Vierzon, d' Armentieres, Voiron und Nantes. In den
drei ersten Schulen wurden von 1889 bis 1899 etwa 3200 Schüler aus-
gebildet.
Mit einem Zeugnis aus den beiden ersten gewerblichen Schulen kann
sich der Schüler nun zu den Schulen für Kunst und Kimstgewerbe melden,
den Ecoles d'arts et metiers, die sich zu einer Art technischer Mittelschulen
entwickelt haben und in Frankreich ziemlich verbreitet sind. Die Tüchtig-
sten aus diesen Schulen wiederum finden endlich Aufnahme in die Ecole
centrale des arts et manufactures zu Paris, die etwa einer deutschen tech-
nischen Hochschule gleichzuschätzen ist.
So ist ein wirkungsvolles, aufsteigendes System von praktischen
Schulen geschaffen, durch welches ein technisch und industriell begabter
Volksschüler die höchste Stufe der Ausbildung erreichen kann. Da der
Eintritt in die nächsthöhere Schule immer vom Bestehen einer Aufnahme-
prüfung abhängig gemacht ist, so ist auch dafür gesorgt, daß die höheren
Schulen nicht durch Unbegabte belastet werden. Dies ist nicht der ein-
zige Unterschied gegenüber dem technischen Schulwesen Deutschlands
und Österreichs. Der zweite, vielleicht noch wichtigere ist das scharf
ausgeprägte Prinzip der Lehrwerkstätten, die den Schüler durch seine
Vor-, Aus- und Fortbildung begleiten. Ein dritter Unterschied ist wohl
bereits darin erkannt, daß diese technischen Schulen ebenso für Knaben
wie für Mädchen von Staats wegen eingerichtet sind oder doch ausgiebig
von Staats wegen unterstützt werden. Beachtenswert ist weiter, daß nicht
wenige dieser Schulen mit Internaten verknüpft sind, wodurch auch für
die moralische und staatsbürgerliche Erziehung wesentlich besser gesorgt
werden kann, als in Schulen mit Extematen.
Außer diesem System von Schulen bestehen nun natürlich eine sehr
große Menge von Fachschulen aller Art, nicht bloß von gewerblichen,
sondern auch von Handels- und Kunstschulen. Insbesondere sind eine
beträchtliche Anzahl von Kunstschulen (Ecoles des Beaux-Arts appliqu^s
ä l'industrie, ecoles des Arts d^coratifs, 6coles de Dessin g^ometrique,
ecoles des Arts industriels, etc.) im ganzen Lande verbreitet. Der Staat
unterstützt gegenwärtig nicht weniger als 300 solcher Schulen, die man wohl
mit den ebenso zahlreichen englischen Art-Day-Classes vergleichen kann.
Was das Fortbildungsschulwesen betrifft, das schon in den sechziger
Jahren weit vorgeschritten, aber dann wieder stark zurückgegangen war,
so entwickelte es sich seit dem Dekret vom i. Jan. 1895 wieder in stark
ansteigender Weise, wenn auch in anderem Sinne wie in Deutschland und
Vn. Die Entwickl. d. gewcrbl. Erziehangswcsensin außerdeutsch. Staat.im letzt. Viertel d. 1 9. Jahrh. 267
Osterreich. Es sind in der Hauptsache Abendkurse für Erwachsene, die
sich auf alle denkbaren Unterrichtsfächer erstrecken, auf allgemein bildende,
kaufmännische, technische Fächer, auf Zeichnen, Modellieren, ja selbst auf
Singen. Im Jahre 1900 mochte die Zahl dieser Kurse etwa 4500 betragen,
ihre Dauer schwankt zwischen zwei bis vier Monaten, die Zahl der Schüler
erreichte etwa eine Million.
Von den übrigen Ländern mit ausgebildetem Fach- und Fortbildungs- Di« Entwick-
, - . ..,,.,,,. . lunc in anderen
Schulwesen ist zunächst die Schweiz zu nennen, die sowohl von Deutsch- ouropäUchen
land als von Frankreich gelernt und seit 1884, wo der Bund zum ersten-
mal Zuschüsse in einer Höhe von 35 000 Francs bewilligte, mit großer Tat-
kraft ihr Fachschulwesen ausbaut. Ein Bild von dem Wachstum dieses
Schulwesens mag die eine Bemerkung geben, daß der Bund heute das
Dreißigfache von dem zum gewerblichen Schulwesen der Kantone zu-
schießt, was er im Jahre 1884 zum erstenmal bewilligt hatte, wobei er
lediglich Ein Drittel der auf dieses Schulwesen fallenden Ausgaben über-
nimmt, während Kantone und Gemeinden für die beiden andern Drittel
aufzukommen haben. Da jeder Kanton seine eigene unabhängige Schul-
organisation hat, so ist das Bild des Fach- und Fortbildungsschulvvesens
beinahe noch verwickelter als in Deutschland. Im allgemeinen steht es
aber hinter demselben nicht wesentlich zurück.
In Dänemark ist besonders das ländliche Fortbildungsschulwesen in
Verbindung mit der ländlichen Volkshochschule so hoch entwickelt,
daß man es auch als mustergültig für Deutschland bezeichnen könnte.
Das Ziel der dänischen Volkshochschulen ist ein durchaus nationales, nicht
etwa ein praktisch-nützliches. Man will Bürger und Bürgerinnen erziehen,
welche die Kulturaufgaben des eigenen Staates verstehen lernen imd
diesen nach Maßgabe ihrer Kräfte einen Teil ihres Lebens widmen.
Gegenwärtig besitzt das kleine Dänemark über 70 solcher Schulen, die
bisher von etwa 100 000 dänischen Landbewohnern, das ist vom fünften
oder sechsten Teil der hier in Betracht kommenden Bevölkerung besucht
worden sind.
In Rußland beginnt die Entwicklung des technischen Schulwesens
erst 1888, nachdem bereits 1883 dem Schulrat des Unterrichtsministeriums
eine Sektion für technischen und gewerblichen Unterricht angegliedert
worden war. Nach dem von dieser Sektion ausgearbeiteten Plane wurden
drei Tj^jen geschaffen: technische Sekundärschulen, technische Primär-
schulen und Meisterschulen. Die erste Gruppe hatte den Zweck, höhere
technisch und wissenschaftlich gebildete Hilfsarbeiter zu liefern, die zweite
sollte Werkmeister und Aufseher für größere Betriebe heranbilden, wäh-
rend die dritte Gruppe bestimmt war, Handwerker zu befähigen, ihre
Arbeit mit Verständnis zu tun. Für die Zulassung zu einer Schule der
ersten Gruppe, die etwa in die Kategorie unserer deutschen Maschinen-
bauschulen zu zählen wären, wurde das Zeugnis der fünften Klasse einer
Realschule verlangt. Diese Gruppe umfaßt fünf Gattimgen: Schulen für
2 58 Georg Kf.rschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschuhvesen.
Maschinenwesen, Chemie, Hochbau, Ackerbau, Hüttenkunde. Die zweite
Gruppe, zu deren Besuch das Zeugnis einer Stadtschule, Distriktsschule
oder zweiklassigen Landschule nötig ist, umfaßt drei Gattungen: Hochbau,
Maschinenwesen, Chemie. Die dritte Gruppe endlich, zu der jeder zugelassen
wird, der lesen und schreiben kann, beschränkt sich auf praktischen
Maschinenbau und auf Holz- und Metallbearbeitung. Sobald der Plan
genehmigt war, im Jahre 1888, bestimmte die Unterrichtsbehörde 31 Orte
des Reiches, an denen 40 solcher Schulen eingerichtet wurden. Fünf
Jahre später wurde der Plan durch Lehrlingsschulen und niedere Meister-
schulen, erstere nach dem Muster der französischen Ecoles nationales pro-
fessionnelles oder der österreichischen Handwerkerschulen, letztere als
ausgesprochene Fachschulen für verschiedene Gewerbe mit ausschließlich
praktischem Unterricht und mit dem Zweck, das Kleingewerbe auf dem
Lande zu fördern, erweitert. Im Jahre igoo zählte Rußland bereits 190
industrielle Schulen, darunter 18 technische Sekundärschulen, 20 technische
Primärschulen, 22 Meisterschulen, 15 Lehrlingsschulen, 48 niedere Meister-
schulen, 67 sonstige Fachschulen. Nicht weniger als 117 dieser Schulen
waren erst nach 1888 ins Leben gerufen. Man ersieht hieraus, daß auch
Rußland in den letzten 20 Jahren keine geringe Energie entfaltet hat, und
wenn heute das große Reich auch noch stark hinter den westeuropäischen
Nachbarn zurücksteht, so würde sich doch bei Beibehaltung des einmal
eingeschlagenen Tempos die technische und gewerbliche Kultur verhältnis-
mäßig rasch der unserigen nähern. Um die Mädchen- und Frauenbildung
dagegen kümmert sich der russische Staat zurzeit noch sehr wenig. Zwar
zählt der Bericht für die Weltausstellung in Paris etwa 250 Mädchen-
fortbildungs- und -fachschulen auf, aber sie sind ausschließlich auf private
Mittel angewiesen. Auch ein Fortbildungsschulwesen ist im großen und
ganzen so gut wie gar nicht vorhanden.
In England haben sich die bereits früher erwähnten Schools of Art,
die Art Night Classes und die sonstigen Evening Continuation Schools,
sowie die Evening und Day Technical Schools unaufhörlich weiter ent-
wickelt. Um nur ein Beispiel zu geben, sei bemerkt, daß nach dem
Bericht von 1903 in London allein nicht weniger als 376 Evening Con-
tinuation Schools, die dem School Board für London unterstellt sind,
für beide Geschlechter eingerichtet waren. Ihre Kurse erstreckten
sich auf die verschiedensten Gebiete der Geschichte, Geographie, Natur-
wissenschaften, Nationalökonomie, der Handelswissenschaften, der bilden-
den Künste, der Handfertigkeit, Technik, der Musik, der alten und
neuen europäischen Sprachen, und viele dieser Kurse gaben nicht bloß
theoretischen, sondern auch praktischen Unterricht. Daneben hatte aber
auch der Technical Education Board von London eine staunenswerte Tätig-
keit entfaltet. An den ihm unterstellten 26 polytechnischen und größeren
technischen Instituten, die selbst schon neben zahlreichen secondary schools
mit Laboratorien und Werkstätten eine große Organisation für technische
VII. Die Entwickl.d.gewcrbl.Erzichungswesensin außerdeutsch. Staat. im leUt.Vicitcld. ig.Jahrh. 260
Erziehung darstellen, waren 1904 für 64 Gewerbe und Techniken 313 Klassen
mit Werkstattunterricht eingerichtet. Die Abendkurse am Polytechnic in
der Regent-Street sollen allein von etwa 10 — 12 000 Schülern jährlich be-
sucht sein. Der Unterricht in manchen dieser Abendfortbildungsschulen
geht sehr weit; in den Fortbildungsklassen des Kings College zu London
kann man sich bis zum Examen an der Universit}'^ of London vorbereiten,
die freilich nicht mit unsern deutschen Universitäten zu vergleichen ist
Einzelne Abendschulen sind auch mit Schwimmhallen, Spielplätzen und
andern Sportgelegenheiten ausgestattet. Im Schuljahre 1902/3 waren die
sämtlichen Abendschulen der Stadt London von nicht weniger als rimd
657000 Schülern besucht, von denen 2 2'yo zwischen 12 und 15 Jahre,
53 7o zwischen 15 und 20 Jahre und 2 5<'/g über 20 Jahre alt waren. Diese
Ziffern übertreffen bei weitem die Ziffern der Abendschulen von Paris,
Berlin, Wien.
Eine kurze Schilderung des eigentlichen Fachschulwesens von Eng-
land zu geben ist unmöglich. Es ist noch viel weniger einheitlich
gestaltet als in Deutschland und in der Schweiz. Fachschulen mit
geschlossenem, für alle Schüler verbindlichem Plan gibt es nur wenige.
Das ganze englische Schulwesen ist geradezu charakterisiert durch die
Wahlfreiheit der Unterrichtsfächer. Dadurch, daß eine große Zahl der
Mittelschulen nicht nur Zeichenunterricht aufweist, sondern mit Labo-
ratorien und Werkstätten ausgerüstet ist (in London allein gegen 50) im
Gegensatz zu Deutschland, hat das Fachschulwesen einen bedeutenden
Umfang angenommen. Einzelne dieser Schulen sind direkt als Experi-
mental Day Schools eingerichtet. Nicht wenig haben die Gesetze von
1889 und 1891 zu dieser Entwicklung beigetragen, wonach die Verwalttmgs-
beh Orden in einem mäßigen Umfang Steuern erheben konnten, um die
gewerbliche Erziehung zu fordern, und vor allem das Gesetz von 1890,
wonach Überschüsse der Getränksteuem den Selbstverwaltungsbehörden
zum größten Teil zum Unterhalte von gewerblichen Schulen, von Werk-
stätten und Laboratorien zugewiesen wurden. Im Jahre 1894 sollen von
diesen Überschüssen nach der Mitteilung Roschers nicht weniger als
11,5 Millionen Mark dem gewerblichen und technischen Unterrichte zu-
geflossen sein, wobei man beachten muß, daß es sich hier fast ausschließ-
lich nur um Zuschüsse und nicht um vollständigen Unterhalt von Schulen
handelt Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Mittel wird zu „scholar-
ships", zu Schulstipendien verwendet, die bis zu 1200 Mark betragen
können und entweder vom Science and Art Department, oder vom Tech-
nical Education Board verteilt werden, einer Schulbehörde, die am
30. August 1889 zur Pflege der gewerblichen Erziehung geschaffen worden
war. Der Stadt London wurden im Jahre 1900 ungefähr 3 Millionen Mark
von dieser vSchulbehörde für gewerbliche Schulen und für scholarships
zur Verfügung gestellt.
In Amerika sind vor allem die Manual Training Schools und die ''^ Ä^eHk^^
2'jo Georg KerSCHENSTEINER : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
Manual Training High Schools entwickelt, eine Art von Mittelschulen, die
man am besten vielleicht mit den französischen Ecoles pratiques und
Ecoles superieures bzw. den Ecoles des arts et m^tiers vergleichen kann,
wenigstens in bezug auf das Ziel, das sie verfolgen. Unter den 587 Städten
über 8000 Einwohner, welche Amerika im Jahre 1903 zählte, hatten 322
Manual Training als Unterrichtsgegenstand in verschiedenen ihrer öffent-
lichen Schulen, darunter waren etwa 180, die hauptsächlich dem
Manual und Industrial Training gewidmet waren. Man behauptet, der
amerikanische Arbeiter liebe im allgemeinen die „Sackgasse" der Fach-
schule nicht. Er sucht Mittelschulen auf, die ihm neben einer tüchtigen
praktischen Ausbildung auch eine nicht unbeträchtliche allgemeine ge-
währen, damit er die ganze Leiter bis zur Hochschule emporsteigen kaim,
je nach seiner Begabung. Solche Manual Training Schools oder Industrie-
schulen, wie wir sie nennen könnten, sind in vielen Staaten Nordamerikas
gesetzlich angeordnet. In Massachusetts muß sogar jede Stadt von 200000
Einwohnern eine Manual Training High School einrichten. Sie existieren
nicht bloß für Knaben, sondern auch für Mädchen und gewähren nicht selten
dem Schüler eine nicht unbeträchtliche Freiheit in der Wahl der Unter-
richtsgegenstände. Der gleiche Staat unterstützt Webeschulen mit 25000
Dollar, wenn die Städte das Doppelte beitragen. Eine ganz bedeutende
Unterstützung- findet das gewerbliche und landwirtschaftliche Schulwesen
durch die nordamerikanische College Land Grant Bill vom 2. Juli 1862,
wonach jeder Staat der Union verpflichtet ist, zur Einrichtung solcher
Schulen unentgeltlich das entsprechende Bauterrain abzug'eben. Für die
dadurch geförderten Mechanical and Agricultural Colleges waren bis 1902
nicht weniger als 10,320843 acres bewilligt worden. Sie zählten 1902
rund 47 000 Schüler. Gleichwohl gibt es nach Kreuzpointners Bericht in
Amerika nur eine einzige ausschließlich aus öffentlichen Steuern erhaltene
eigentliche Fachschule. Für die kaufmännische Bildung dagegen sind
nach dem Bericht von igoi eigene Business Schools and Colleges vor-
handen, und zwar die bedeutende Zahl von 520 mit 137000 Schülern, wozu
noch rund 4200 weitere Schulorganisationen kommen, in denen nebenbei
auch kaufmännische Fächer gelehrt werden. Eine höchst merkwürdige
Art von Schulen für beruflichen Unterricht hat sich in den letzten
Jahren infolge des Mangels an speziellen Fachschulen entwickelt, die
sogenannten Korrespondenzschulen, deren größte die Schule in Scranton
ist, die etwa 13 Jahre besteht und ihren Unterricht durch 400 Lehrer und
Assistenten brieflich erteilt. Dieser briefliche Unterricht erstreckt sich
auf alle erdenklichen Unterrichtsgebiete der Architektur, der Chemie, der
Ingenieurwissenschaften, des Handels, des Zeichnens, der Mathematik, der
Sprachen, der Maschinenbaukunde, der Elektrotechnik, der Hygiene usw.
Von den gegenwärtig- angemeldeten Schülern nehmen auf dem Wege des
schriftlichen Verkehrs 20% Zeichnungsunterricht, 18% treiben Elektro-
technik, i87o Handelswissenschaft. Seit Bestehen der Scrantonschule
Vni. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerblichen Erziehungswesens in Deutschland. 2 7 I
sind angeblich über % Million Schüler aufgenommen und an */^ Millionen
Lektionen durchgesehen worden. Kreuzpointner betrachtet sie als Not-
brücken über einen 1-luß, welcher sein Bett unerwartet erweitert und ver-
tieft habe und auf irgend eine Weise überschritten werden müsse, bis die
Verhältnisse es erlauben würden, eine zuverlässigere Verbindung beider
Ufer herzustellen. Gleichwohl würde uns Deutschen, obwohl wir durch
unsere Schulen der Buchgelehrsamkeit nicht gerade verwöhnt sind, eine
solche Papierbrücke durchaus ungangbar erscheinen.
So finden wir in allen Kulturstaaten heute einen regen Wetteifer in Di« Mannig-
der Ausgestaltung ihres gewerblichen Schulwesens. Die meisten gehen Sch^gattungen
hierbei völlig selbständig vor, indem sie sich den Bedürfnissen ihrer"" <:"»««"
übrigen Schulorganisation, ihrer Industrie, ihres Handels und den Formen
der durch frühere soziale Tätigkeit geschaffenen Schulen anpassen. Daher
sehen wir in den verschiedenen Ländern eine Mannigfaltigkeit der Schul-
formen, die im allgemeinen Volks-, Mittel- und Hochschulwesen auch
nicht entfernt anzutreffen ist. Hier sind die einzelnen Institutionen ver-
schiedener Länder noch vergleichbar. Im technischen, gewerblichen, kauf-
männischen imd landwirtschaftlichen Schulwesen ist aber meist jeder Ver-
gleich ausgeschlossen oder doch nur annähernd zulässig. In Deutschland
und in der Schweiz, wo einheitliche Unterrichts- und Organisationspläne
weder in einzelnen Staaten, noch viel weniger im ganzen Bundesgebiete
vorhanden sind, wird diese Mannigfaltigkeit geradezu verwirrend. Dabei
sind nicht nur die Arten der Schulen sehr zahlreich, sondern auch inner-
halb der einzelnen Arten gibt es viele und sehr verschiedenartige Stufen.
VIII. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerb- Die gcgen-
lichen Erziehungswesens in Deutschland. Fassen wir zu- bUdülgss^df-
nächst das deutsche Fortbildungsschuhvesen ins Auge. In die Gattung ^""''^^'"''"'°'
dieser Schulen fallen die kaum irgendwie kulturell wertvollen, wöchent-
lich zwei- oder gar nur einstündigen allgemeinen obligatorischen Fort-
bUdungs- und Sonntagsschulen der süddeutschen Staaten, ebenso aber
die auf zwei bis vier Semester sich erstreckenden Tagesklassen der
Berliner Handwerker- oder der Münchener Gewerbeschulen, die sich
bereits den Fachschulklassen der österreichischen Staatsgewerbeschulen
annähern, oder die ein- bis zweijährigen Tagesfortbildungsschulen Bayerns,
die schon den Charakter einer gehobenen Volks- oder Bürgerschule
haben. Dazwischen liegen zunächst alle mögUchen gewerblichen oder
auch allgemeinen Fortbildungsschulen deutscher Städte, ohne berufliche
Gliederung aber wenigstens mit einem wöchentlich vier- bis sechs-
stündigen Unterricht, die teils auf freiwilligen, teils auf obligatorischen
Besuch eingerichtet sind, deren Unterrichtszeit in der einen Stadt auf den
Tag, in der anderen auf den Abend nach Schluß der Werkstatt gelegt
ist, die sich das eine Mal nur auf Unterrichtsfächer der Volksschule be-
schränken, das andere Mal Zeichnen, gewerbliches oder kaufmännisches
2 72 Georg Kerschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschuhvcsen.
Rechnen und Buchführung mit in den Plan hereinziehen, die in dem einen
Lande mit ausgebildeten Fortbildungsschullehrkräften arbeiten, in dem
anderen Lande das Lehrpersonal nehmen, woher sie es bekommen. Weiter
liegen dazwischen die nach Berufsgruppen getrennten Fortbildungsschulen
mit wöchentlich sechs- bis achtstündigem obligatorischen, seltener frei-
willigen Unterricht, wie wir sie zunächst in den gut entwickelten badischen
Gewerbeschulen mit Werkstättenbetrieb oder im System der Leipziger
Fortbildungsschulen ohne solchen Betrieb vorfinden. Abermals aufsteigend
treffen wir sodann auf die acht- bis zwölfstündigen, nach einzelnen Be-
rufen scharf gegliederten obligatorischen Fortbildungsschulen für Lehrlinge
der Stadt München, die nicht nur Fachzeichnen, gewerbliches und kauf-
männisches Rechnen und Buchfülirung, sondern auch Hygiene und staats-
bürgerlichen Unterricht, vor allem auch praktischen Werkstattunterricht
in ihren Lehrplan aufgenommen haben, und die in eigens eingerichteten,
mit zahlreichen Ateliers, Werkstätten und Laboratorien versehenen Zentral-
schulgebäuden ihren Unterricht erhalten. Daneben finden wir wieder
freiwillig'e Fortbildungsschulen, wie die Berliner, die nach Art der fran-
zösischen cours d'adultes oder englischen Evening und Continuation Schools
in einzehien Abendkursen, deren viele in einem Volksschulgebäude ver-
einigt sind, alle möglichen Gegenstände des menschlichen Wissens be-
handeln, oder die Sonntags- und Abendklassen der preußischen Hand-
werkerschulen und württembergischen Gewerbeschulen, die sich auf alle
möglichen Arten des Zeichnungsunterrichtes für die verschiedensten Ge-
werbe beschränken. Neben den Lehrlingsfortbildungsschulen, die bald ein,
bald zwei, bald drei Jahre dauern oder sich auf die ganze Lehrzeit er-
strecken, finden sich dann wieder Fortbildungsschulen für Gehilfen und
Meister, wie sie an den Münchener Gewerbeschulen oder an den
Kunst- und Handwerkerschulen Deutschlands, besonders an den zwei
großen .Berliner Handwerkerschulen eingerichtet sind, die nun wieder
fast ebenso mannigfaltig ausgestaltet sind, wie die Lehrlingsfortbildungs-
schulen und nach verschiedenen Richtungen sich den eigentlichen Fach-
schulen nähern.
Die gegen- Noch buntfarbiger als das Fortbildungsschulwesen für Ivnaben und
wäxti^rcQ Fort-
biidungsschui- Männer ist das für Mädchen und Frauen, das ja zumeist der Privatunter-
Mädchen, nehmung anheimgestellt ist und sich darum mit fast jedem Privatunter-
nehmer auch in seinem Ausbau ändert. Da gibt es einfache Schulen
mit geschlossenem Lehrplan, der entweder bloß die Lehrgegenstände
der Volksschule oder die Vorbereitung für irgend einen spezifischen Beruf
des Weibes ins Auge faßt. Bald sind sie obligatorisch, bald fakultativ,
bald Tages- bald Abendschulen, bald erstrecken sie sich auf wenige
Wochenstunden und wenige Monate, bald nehmen sie den Charakter einer
Mittelschule an, dehnen sich auf mehrere Semester aus und bewegen sich
in Aufgaben und Ausbau in der Richtung einer höheren Töchterschule.
Zu allermeist aber verfolgen sie das Ziel einer Spezialfachschule in der
Vm. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerblichen Erziehungswesens in Deutschland. 273
Richtung eines typisch weiblichen Berufes. Zu diesen einfachen Schulen
gehören beispielsweise die bayerische Sonntags- und Wochenschule, die
badische Fortbildungs- und Haushaltungsschule, die verschiedenen und
zahlreichen Koch- und Haushaltungsschulen in den Gemeinden des Deut-
schen Reiches, die Pflegerinnenschule des badischen Frauenvereins, die
Kindergärtnerinnenschulen, die württembergischen Frauenarbeitsschulen.
Dann gibt es zusammengesetzte Schulen mit geschlossenem, für
alle Schüler verbindlichem Lehrplan, der die verschiedenen spezifischen
Aufgaben, die in der Richtung des hauswirtschaftlichen und mütterlichen
Berufes liegen, gleichzeitig ins Auge faßt. Als Beispiele seien die weiblichen
Fortbildungsschulen der Stadt München, das Pestalozzi - Fröbelhaus in
Berlin, das laiise- und Comeniushaus in Kassel angeführt.
Endlich gibt es — und das ist namentlich in den größeren deutschen
Städten — eine sehr verbreitete Grruppe, zusammengesetzte Schulen mit
offenem, nicht für alle Schülerinnen verbindlichem Lehrplan, die ihrer
Organisation vielfach auch die Vorbereitung für andere, als gerade weib-
liche Berufe angliedern. Hierher gehören beispielsweise die meisten
städtischen Berliner Fortbildungsschulen oder die wohlentwickelte städtische
Fortbildungsschule in Leipzig. Die Wahl der Unterrichtsfächer steht
in den meisten dieser Schulen den Mädchen gewöhnlich frei. Der
Unterricht erstreckt sich auf Deutsch, Rechnen, Buchführung, Schön-
schreiben, Zeichnen, Gesundheitslehre, Handarbeit, Gesang, Turnen, Schnei-
dern, Putzmachen, Maschinenähen, Plätten, Kochen; dann aber auch auf
Englisch, Französisch, Stenographie, Geschichte, Geographie, Kunst-
geschichte usw. Die meisten Kurse sind am Abend, und so hat diese
Art der Fortbildungsschulen ganz den Charakter der französischen cours
d'adultes oder der englischen Evening oder Continuation Schools.
Im ganzen und großen läßt sich heute im Deutschen Reich eine be- ^" ^" ""T"'
^ ^ tende zukünftige
Stimmte Tendenz in der Richtung des Ausbaues der männlichen und weib- Typ»» der Fort-
liehen Fortbildungsschulen erkennen. Was angestrebt wird für die Fort-
bildung der großen Massen des Volkes, ist unbeschadet des Ausbaues der
zahlreichen sonstigen Arten dieser Schulgattung für die Kxiaben die be-
ruflich gegliederte, obligatorisch auf die ganze Dauer der Lehrzeit oder
doch bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnte Fortbildungsschule mit wöchent-
lich mindestens sechs- bis achtstündigem Tagesunterricht, für die Mädchen
eine obligatorische wöchentlich wenigstens sechsstündige, mindestens auf
drei Jahre ausgedehnte Fortbildungsschule, welche die Ausbildung für den
weiblichen Beruf als Hausfrau und Mutter ins Auge faßt. Immer mehr
hat sich gezeigt, daß nur solche Fortbildungsschulen eine nennenswerte
Zugkraft auf die Masse ausüben, deren Unterricht in der Richtung des
zukünftigen Berufes der Schüler geht. Immer mehr drängt sich auch die
Überzeugung auf, daß diese berufliche Fortbildung der Knaben im wirt-
schaftlichen, imd die der Mädchen im sozialen Interesse geradezu unentbehr-
lich ist. Immer mehr erkennt man, daß nur Schulen mit solchem Lehr-
DiB Kultur der Gegenwart. I. i. i8
274
Gkorg Kerschknstkiner : Das Fach- und Kortbildungsschulwesen.
plan einen nennenswerten erzieherischen Einfluß auf die Massen ausüben
können.
Fortbiidungs- Die heutige Arbeitsteilung im Gewerbe, der erbitterte Kampf der
Meisterlehre. Konkurrenz, die mehr als jahrhundertelange Vernachlässigung der Aus-
bildung des Handwerkerstandes hat eine allseitige und gründliche Lehrlings-
ausbildung mehr und mehr unmöglich gemacht. Frankreich ist dadurch zu
seinen Ecoles d'apprentissages geführt worden. Ob es hiermit den rich-
tig-en Weg eingeschlagen hat, wird die Zukunft lehren. In Osterreich und
in der Schweiz ist die Vermehrung der Lehrwerkstätten für Lehrlinge
bereits ins Stocken geraten, die allgemeinen Handwerkerschulen Öster-
reichs sind seit zehn Jahren nicht mehr vermehrt worden. In Deutschland
hat sich das System der Lehrwerkstätten, ausgenommen für Maschinenbau
und Weberei, noch wenig entwickelt. Der von Österreich mit großer
Energie eingeschlagene Weg, zunächst die Meisterlehre durch Gewerbe-
museum, Meisterkurse, Fachschulen, durch Prämien für g-ute Lehrlings-
ausbildung usw. zu heben, ist billiger, und vielleicht ■ — wir können das
heute allerdings noch nicht entscheiden -^ ebenso wirkungsvoll, freilich
erst dann, wenn eine beruflich gegliederte, wohlausgebaute obligatorische
Lehrlingsfortbildungsschule ihr zur Seite steht, welche sowohl für all-
gemeine als auch für allseitig fachliche Ausbildung Sorge trägt während
der ganzen Dauer der Lehrzeit. Die Hebung der Meisterbildung- ist in
fast allen großen deutschen Staaten in der gleichen Weise wie in Öster-
reich in Angriff genommen, wenn uns auch so vortreffliche Zentralen wie
das technologische Gewerbemuseum in Wien und Prag' hierfür mangeln.
Baden hat vor etwa 20 Jahren damit den Anfang gemacht. Zur Hebung
der Meisterlehre reicht aber die Fürsorge um die Ausbildung- der Gehilfen
und Meister durch besondere Meisterkurse, ja auch das Prämiensystem
nicht aus. Erziehen fordert Opfer vom Erzieher; erziehen ist eine altru-
istische Aufgabe, die nur aus einem von Einsicht getragenen, starken
Gemeinsamkeitsgefühl herauswächst. Das Handwerkergesetz vom Jahre
i8g7 hat dieses fast erloschene Gemeinsamkeitsgefühl wieder anzufachen
gesucht. Indem es den Innungen und Handwerkskammern wieder die
Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben zur Pflicht macht, hat es das beste
Mittel gewählt, dieses Gemeinsamkeitsgefühl zu immer größerem Leben
zu erwecken und nicht bloß in egoistische, sondern auch altruistische
Bahnen zu lenken. Die Lehrlingsfortbildungsschule soll und muß das
Mittel sein, der Erziehungsaufgabe sowohl als auch der Stärkung" des Ge-
meinsamkeitsgefühls zu dienen. Das ist nur möglich, wenn die beruflichen
Organisationen aller Art, mög'en sie nun dem Gewerbe, dem Handel, der
Industrie, der Landwirtschaft angehören, auf das innigste mit den Aufgaben
einer -wohlausgebauten, vom Geiste eines gesunden Staatsbürgertums er-
füllten Fortbildungsschule verbunden werden. Diesen Weg hat die Neu-
gestaltung des gewerblichen Fortbildungsschulwesens in München zum
erstenmal vuid mit Ausnutzung aller hier g-ebotenen Möglichkeiten ein-
Vin. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerblichen Erziehungswesens in Deutschland. 2"^
geschlagen. Die übrigen deutschen Städte sind heute wenigstens daran
gegangen, ihr Fortbildungsschuhvesen im Sinne einer fachlich gegliederten
gewerblichen Fortbildungsschule mit wöchentlich sechsstündigem, auf den
Tag oder Spätnachmittag verlegtem Unterricht auszugestalten, wenn sie es
auch meist unterlassen haben, die Verbindung mit Berufsverbänden her-
zustellen. Es steht daher zu erwarten, daß wenigstens die Städte in ab-
sehbarer Zeit auf diesem Wege zu wertvollen Bildungsanstalten für die
Massen ihrer Bevölkerung gelangen werden.
Anders dagegen liegen die \'erhältnisse auf dem Lande. Die heutige Der heutige zu-
ländliche Fortbildungsschule muß fast durchaus als ungenügend bezeichnet liehen Fort-
werden. Vor allem muß auch hier an den zwei Grundforderungen fest-
gehalten werden, die wir oben für das städtische Fortbildungsschulwesen
als notwendig bezeichnet haben: eine Verbindung mit den Berufsverbänden
und eine Einführung von praktischem Unterricht, hier etwa in den akzesso-
rischen landwirtschaftlichen Betrieben, wie Obstbau, Gemüsebau, Bienen-
zucht, Geflügelzucht usw. Erst im Anschluß an solchen praktischen Unter-
richt ist es möglich, daß der theoretische Unterricht in der Landwirtschafts-
und Naturkunde, wie er für die neuen westfälischen Schulen mit vielem
Geschick im Plane bereits entworfen ist, also der Unterricht in den Ele-
menten der Bodenkunde, der wichtigsten Lebensfragen der Tiere und
Pflanzen, des Anbaues der Nährpflanzen und der Aufzucht der Haustiere,
das nötige Verständnis und Interesse findet.
Noch tiefer aber als die landwirtschaftliche Fortbildungsschule steht D»r heutige zu-
j. ., ,. , ..,.,. , , 1. .«, stand der Fort-
Öle weibliche, namlich jene, welche die Massen unserer schulent- biidunijsschuie
wachsenen Mädchen in ihre zukünftige Berufsaufgabe als Frau und Mutter
einführen soll. In den großen und mittleren Städten hat die alte, auf dem
Lande noch vielfach vorhandene Erziehungskraft der Familie infolge des
harten Lebenskampfes, der rastlosen Jagd nach Erwerb und Glück, der
wesentlich gesteigerten Genußsucht, kurz, infolge der stark veränderten
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse stark abgenommen. Tausende
und Abertausende von Mädchen haben überhaupt keinen häuslichen Herd
kennen gelernt, und andere Tausende werden frühzeitig hinausgejagt in
den bitteren Erwerbskampf, ohne von den Aufgaben der F'amilie auch nur
eine Ahnung zu erhalten. Die meisten derselben werden aber später
Hausfrauen und Mütter. Da ist es eine unabwendbare Pflicht des Staates,
helfend einzugreifen, damit sein Urelement, die Familie, nicht ganz ihre
enorme Bedeutung für die menschliche Gesellschaft einbüße. Mit fakulta-
tiven Einrichtungen ist hier nicht gedient, auch nicht mit Einrichtungen,
die sich nur mit ein oder zwei Unterrichtsstunden in der Woche begnügen.
Wer die Not des weiblichen Elementes in den größeren Städten kennt,
wird hier unbedingt obligatorische und auskömmliche Unterrichtszeiten
fordern müssen. Vielleicht ist auch hier die Stadtgemeinde München bei-
spielgebend vorangegangen, welche neben einer obligatorischen, drei-
stündigen Wochenschule vor zehn Jahren wenigstens fakultative weibliche
i8»
2^6 Gf.oro Kkkschknstkiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
Fortbildungsschulen eingerichtet hat, deren hauswirtschaftliche Abteilungen
bei wöchentlich sechs- bis zehnstündigem Tagesunterricht in allen Stadt-
teilen sich heute aufgetan haben.
Wc Fachsciiui- Ebeuso mannigfaltig wie das Fortbildungsschulwesen in den deutschen
arten inDeiitscb- . t^iii • • /-^ •• -r-'i'i.i
land. Staaten ist das l* achschulwesen m semer Urgamsation. Fmheithche, über
das Reich gleichmäßig verteilte, technische Bildungszentren, wie in Öster-
reich die Staatsgewerbeschulen und die allgemeinen Handwerkerschulen,
in Frankreich die Ecoles pratiques und Ecoles nationales professionnelles
gibt es nicht. Die übeiT\'iegende Mehrzahl der deutschen Fachschulen ist
in einer einzigen bestimmten Richtung ausgebaut. Eine Vereinigung von
verschiedenen Fachschulen wie in Österreich die Staatsgewerbeschule und
die technologischen Gewerbemuseen stellen in Deutschland nur wenige
Schulen dar, so die bayerischen Industrieschulen oder die sächsische Ge-
werbeakademie in Chemnitz oder die technische Schule in Straßburg-, viel-
leicht auch die Handwerker- und Kunstgewerbeschulen der verschiedenen
Bundesstaaten. Im allgemeinen sind die Schulen in dem Gebiete des Landes
eingerichtet, das ihrer aus irgend einem Grunde bedarf. Eine erste Gruppe,
die etwa 24 höheren Kgl. Maschinenbauschulen der deutschen Bundesstaaten
und die vier bayerischen Industrieschulen, setzt bei Aufnahme der Schüler
das Zeugnis der Reife zum Einjährig-Freiwilligen voraus. Die Ausbildungs-
zeit in diesen Schulgattungen beträgt im allgemeinen zwei Jahre. Eine
andere Gruppe, die Landwirtschaftsschulen und höheren Handelsschulen,
führt neben der technischen Erziehung die allgemeine Bildung bis zur
Erlangnng des Reifezeugnisses. Fast alle übrig^en Schulen setzen nur
eine Volksschul- oder Bürgerschulbildung- voraus. Unter diesen bilden
eine wichtige Hauptgruppe mit einer nahezu einheitlichen Organisation
die etwa 45 Baugewerbeschulen mit einem Schulbetrieb von vier Semestern;
die etwa 20 niederen Maschinenbauschulen oder Werkmeisterschulen mit
einem Unterrichtsbetrieb von vier bis sechs Semestern; die etwa 50 höhe-
ren und niederen Webeschulen, sowie die etwa 40 deutschen Kunst-
gewerbeschulen, deren Organisationsplan bestimmte Semesterzahlen nicht
vorschreibt. Jede der bisher genannten Gruppen dient nicht nur einem
bestimmten beruflichen Zweck, sondern jede ihrer Schulen ist auch, im
allgemeinen wenigstens, mit jeder anderen ihrer Gruppe infolge einer an-
nähernd gleichen Organisation auch vergleichbar. Die Lehrjjläne fassen
fast ausschließlich nur die theoretische, technische und praktische Aus-
bildung ins Auge; ausgenommen sind hier nur die Landwirtschaftsschulen,
höheren Handelsschulen und bayerischen Industrieschulen, die auch die
allgemeine Bildung stark betonen. Alle übrigen Fachschulen gehen über
die einseitige technische Ausbildung nicht oder nur sehr wenig hinaus.
Die Lehr- Verhältnismäßig wenige unter ihnen befassen sich mit reiner Lehr-
werkstätten f'Jr 1 ., , -1 ri- 1 • • 11T 1 ■•
Lehrlinge liugs ausbildung m berutlicli Organisierten We rkstattcn , abgesehen von den
und ihre Be- ... r i
deutung. mit Staatlichen, militärischen oder privaten Fabriken verbundenen, oft sehr
gut ausgebauten Lehrwerkstätten zur Heranbildung von Arbeitern für die
Vin. Der innere Ausbau des gegenwärtigen gewerblichen Erziehungswesens in Deutschland. 277
eigenen Bedürfnisse. Auf Staats- oder Gemeindekosten eingerichtete
Lehrlingsschulen finden wir nur für Tischlerei, Schnitzerei, Uhrmacherei,
Weberei und Maschinenbau. In der großen Mehrzahl dienen die deutschen
Fachschulen der Weiterbildung des bereits ausgebildeten Lehrlings. Die
Erziehung des gewerblichen und industriellen Nachwuchses in öffentlichen,
an staatliche, kommunale oder private Betriebe angeschlossenen Werkstätten
mit drei- bis vierjähriger Ausbildungszeit hat in gewisser Richtung un-
verkennbare Vorteile. Die Ausbildung des Lehrlings kann von vornherein
gründlich und allseitig angelegt, schlechter Einfluß auf Charakter und
Sitten kann ferngehalten, die hygienische, sittliche und staatsbürgerliche
Erziehung in der günstigsten Weise beeinflußt werden, namentlich wenn
solche Werkstätten mit Internaten verbunden sind; das sind Vorteile,
welche die Erziehung draußen im praktischen Leben nur mehr sehr selten
dem jungen Mann bietet. Solchen Erwägungen verdanken insbesondere
die fast durchweg großartig angelegten Ecoles professionnelles Frankreichs,
vor allem jene der Stadt Paris, ihre Entstehung und ihren Ausbau. Wer
tiefer in die Verhältnisse unserer Meisterlehre blickt, der muß sagen, daß sie
heute noch einen sehr bedenklichen Tiefstand aufweist, daß sie immer noch
imd vor allem in den Großstädten mit wenigen Ausnahmen jene Charak-
teristik verdient, die ihr einst im Jahre 1872 Direktor Gr^ard in seiner
Denkschrift an den Stadtrat von Paris gab, wo er sie eine „döplorable
^cole de moeurs de privees" nannte, „qui deprave l'homme dans l'apprenti,
le citoyen dans l'ouvrier et ne forme merae pas l'ouvrier". Gleichwohl
würde eine Unterrichtspolitik, welche die Ausbildung von praktischen
Handwerkern vorwiegend oder gar ausschließlich in staatlichen oder kom-
munalen Lehrwerkstätten veranstalten wollte, kaum ihre Absicht erreichen.
Zunächst lehrt die Erfahrung, daß so allseitig ausgebildete Lehrlinge für
gewöhnlich dem praktischen Handwerk nicht zugehen, wenn sie nicht
eben mitten in der Praxis des Lebens aufgewachsen sind. Nicht gewohnt
an die oft sehr rauhe Seite des öffentlichen Handwerkerlebens flüchten sie
sich im Bewußtsein ihres Könnens nur zu gern in die Stellen des tech-
nischen Unteroffiziers großer Betriebe, oder in Lehrerstellen an den ge-
werblichen Schulen, oder, wenn es ihnen die Verhältnisse, die Mittel und
die Begabung erlauben, in höhere Fachschulen. Das ist die große, in
allen Ländern mit guten Lehrlingslehrwerkstätten gemachte Erfahrung. Die
Lehrlingslehrwerkstätten sind daher nur insoweit eine wertvolle Einrich-
tung für gewerbliche Erziehung, als sie den Bedarf an tüchtigen mitt-
leren Technikern decken helfen oder einzelnen Meistersöhnen, die auf
jeden Fall den Beruf des Vaters ergreifen, eine solide, allseitig aus-
gebaute Grundlage geben. Für diese Zwecke sind sie heute sogar un-
entbehrlich. Je mehr ein Staat zum Industriestaat sich entwickelt oder je
gründlicher diese Entwicklung gefördert werden muß, desto notwendiger
werden Lehrlingslehrwerkstätten bei der Unfähigkeit des heutigen Hand-
werks, tüchtige geschulte Arbeiter in größerer Zahl heranzubilden. Nur
2-8 Georg Kerschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschuhvesen.
für den kleinhandwerklichen Agrarstaat gewinnen sie nicht jene einst von
ihnen erhoffte Bedeutung. Hier scheint uns zunächst wichtiger zu sein,
das Interesse der Meister an der Erziehung des g-e werblichen Nach-
\^'uchses und die Fähigkeit zu dieser Erziehung wieder zu fördern. Eine
zu große Verbreitung von Lehrwerkstätten aber würde dieses Interesse,
das durch die neuen Handwerkergesetze wieder wachgerufen und durch
alle möglichen Veranstaltungen für die Meisterausbildung stark g-efördert
wurde, noch mehr ausschalten, als das heute schon der Fall ist. Ins-
besondere würde der Lehrling, der doch in vielen Meisterlehren un-
entbehrlich ist, noch mehr als bisher zum Handlanger und Taglöhner
herabsinken. Die Aufgabe einer weitschauenden Erziehungspolitik muß
aber sein, "die Berufskreise in weitgehendstem Maße für die Erziehung
ihres Nachwuchses zu erwärmen, nicht bloß, weil die Ausbildung
in einer wahrhaft guten Meisterlehre in Verbindung mit einer wohl-
organisierten fachlichen Fortbildungsschule immer noch die beste Lehr-
lingserziehung ist, sondern auch, weil es im Interesse der sozialen
und moralischen Entwicklung eines Volkes liegt, eine möglichst große
Menge von brauchbaren Erziehungskräften auch außerhalb der Schule zu
entwickeln. Denn das ist eine Eigenschaft aller ernsten Erziehungstätig-
keit, daß sie den Zögling wie den Erzieher in gleicher Weise geistig und
sittlich fördert.
Lehrwerkstätten Für die Fortbildung aber von Gesellen und Meistern, von Werk-
Meister, führem und Kleinindustriellen und damit für die wirtschaftliche Entwick-
lung eines Landes sind wohleingerichtete Lehrwerkstätten, welche die
kunstgewerbliche oder technische und wissenschaftliche Seite des Berufes
fördern, welche die Strebsamen mit der Wirkungsweise und dem Betriebs-
wert neuer Werkzeuge und Maschinen, mit den Vor- und Nachteilen neuer
technischer Verfahren, mit den Eigenschaften neuer Rohprodukte usw.
vertraut machen, für alle Zukunft unerläßlich. Im allgemeinen kann
man auch sagen, daß nach dieser Richtung Deutschland den Vorsprung
anderer Länder reichlich eingeholt hat, nicht bloß durch sein gut ent-
wickeltes Fachschulwesen, sondern auch durch eine beträchtliche i\nzahl
wohleingerichteter Gewerbemuseen, deren Ausnutzung im Dienste der
Gewerbeförderung freilich noch viel rationeller gestaltet werden könnte.
In bezug auf diese Ausnutzung könnten unsere Verwaltungen von dem
Betriebe des South Kensington Museums in London noch sehr viel lernen.
Ausbildung des Insbesondere leiden die Fachschulen nicht an dem Mangel von tech-
personais. nisch gebildetem Lehrpersonal. Wenn auch besondere Ausbildungs-
anstalten für Fach- und Gewerbelehrer in Deutschland nicht eingerichtet
sind, wie dies in Österreich und Frankreich der Fall ist, so geht doch
die Ausbildung der Schüler in vielen Fachschulen Deutschlands weit genug,
daß sie, nachdem sie eine genügende Zeit in der Praxis gestanden haben,
wieder als Lehrer an ihre Schule zurückkehren können. Auch bilden die
technischen Hochschulen im ganzen Reich eine nicht unbeträchtliche An-
IX. Schlußbetrachtungen. 279
zahl von Lehrkräften aus, die sich dem technischen Lehrfache zuwenden.
Für den Unterricht im Fach- und Freihandzeichnen haben übrigens die
meisten deutschen Staaten besondere Bildungsgelegenheiten und besondere
Staatsprüfungen eingerichtet. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei
den Fortbildungsschulen. Hier fehlt es fast durchweg an entsprechend
ausgebildeten Lehrern. Was einzelne Staaten und einzelne Städte an
solchen Ausbildungsgelegenheiten geschaffen haben, kann nur als Not-
behelf angesehen werden. Mit sechs- bis achtwöchentlichen Ferienkursen,
auch wenn sie ein paar Jahre wiederholt werden, ist eine gründliche Aus-
bildung von FortbildungsschuUehrem unmöglich zu erreichen. Eine Aus-
nahme macht hier nur Baden, das besondere, mehrjährige Ausbildungs-
einrichtungen für seine Gewerbelehrer geschaffen hat.
Der Anstellung von geeigneten Aufsichtspersonen für das technische Aufsicht.
Unterrichtswesen in Deutschland ist in der neuesten Zeit in den deutschen
Staaten, ausgenommen in Bayern, eine größere Aufmerksamkeit zugewendet
worden. Berufsmäßige Gewerbeschulinspektoren finden wir in Sachsen,
Baden, Hessen, in neuester Zeit auch in Preußen. Vortrefflich organisiert
ist die Schulaufsicht in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, in
England.
IX. Schlußbetrachtungen. In einer Richtung aber leiden nichtoas leme ziei
° ^ . aller öffentlichen
bloß die Fortbildungsschulen, sondern auch die Fachschulen einen emp- Emohung.
findlichen Mangel. Sie sind heute in Deutschland wie in Österreich,
vielleicht auch in England und Amerika, lediglich vom Standpunkt
des wirtschaftlichen Nutzens aus organisiert. Daß diese Schulen auch
im Sinne der staatsbürgerlichen Erziehung unbedingt ausgebaut werden
können, ja ausgebaut werden müssen, das ist weder den Regierungen
noch den Kommimen, noch viel weniger den Privaten bisher in den
Sinn gekommen. Nur vereinzelt erheben sich da und dort in der
Literatur, auf Versammlungen, in Vereinen zur Förderung dieses gewal-
tigen Teiles unseres deutschen Bildungswesens mahnende Stimmen. Die
bloß technische oder kunstgewerbliche Ausbildung eines Volkes genügt
in kritischen Zeiten zur Sicherung der Gesamtwohlfahrt und der Kultur
eines Staates keineswegs. Sie fördert zunächst nur die egoistische
Seite im Menschen. Nun geht aber das Bestreben der meisten Berufs-
schulen und Fortbildungsschulen fast ausschließlich dahin, den Schüler
für seinen Beruf und nur für diesen zu interessieren, ihn vorwärts zu
bringen, ihn mit geistigen und manuellen Waffen für den allgemeinen
Wettkampf mit Berufsgenossen auszurüsten. Jahre hindurch gönnen die
meisten nicht einer einzigen Stunde Raum, damit der Blick des jungen
Mannes sich erweitere und auf das Ganze richte, damit er verstehen lerne,
daß neben ihm und seinen Berufsgenossen noch andere Menschen und
andere Berufsarten vorhanden sind, die auch Ansprüche auf Luft und
Sonne im Staate haben, damit er fühlen lerne, daß im geordneten
2 8o Georg Kerschensteiner : Das Fach- und Fortbildungsschulwesen.
Staate die eigenen egoistischen und beruflichen Interessen ihre Schranken
finden an den gleichen Interessen der Mitbürger. Wer klärt heute
die imgeheuren Massen, die in Gewerbe, Industrie, Handel und Land-
wirtschaft beschäftigt sind, über die Aufgraben auf, die ein Staatsver-
band zu erfüllen hat? Wer lehrt sie die Segnungen eines geordneten
Staatsverbandes erkennen oder auch nur ahnen? Niemand. Die Volks-
schule kann es nicht wegen der mangelnden geistigen Reife der Schüler;
die Fach- und Fortbildungsschule aber kümmert sich nicht darum, oder
glaubt mit Verfassungs- oder Gesetzeskunde das Nötige getan zu haben.
Man überläßt diese wichtige Unterweisung den politischen Parteien, die
dann frühzeitig dem jungen Mann die gefärbte Brille ihres Parteigötzen
auf die Nase setzen. Diese schwere Unterlassung unserer Schulbehörden
ist um so sonderbarer, als das vergang-ene Jahrhundert dem Volke die
wichtigsten politischen Rechte übertragen und es berufen hat, die Ge-
schicke des Staates mitzubestimmen. Aber wie kann jemand die Geschicke
eines Staates oder einer Kommune bestimmen, der das Wesen dieser Ge-
sellschaftsverbände und ihre Aufgaben nicht erkannt, oder dem sie gar
in völlig verzerrter Gestalt geschildert worden sind? Wie kann jemand
den Interessen anderer im Staate g-erecht zu werden versuchen, der nie
belehrt worden ist, wie unendlich mannigfaltig die Interessen aller Berufe
im Staate miteinander verflochten sind, wie im Staats verbände jeder ein-
zelne von jedem einzelnen abhängig ist, wie die hartnäckige Verfolgung
einseitiger Partei- und Berufsinteressen nur eine beschränkte Zeit dem
Egoisten nützt, schließlich aber immer nicht bloß den anderen Partei- und
Berufsgruppen, sondern auch der eigenen schadet? Dieser grobe Mangel
unserer deutschen und österreichischen Fach- und Fortbildungsschulen,
alles für die technische x\usbildung zu tun und nichts für die hygienische
und staatsbürgerliche, haftet den französischen Ecoles professionnelles im
allgemeinen nicht an. Es gibt kaum eine Schule dieser Art, die nicht
neben der technischen Ausbildung auch eine staatsbürgerliche zu verbinden
trachtet, sei es durch einen Unterricht in Geschichte, sei es durch Bürger-
kunde, öffentliches Recht, Volkswirtschaftslehre, und es gibt keine, die
nicht auch durch Turnen und Gesundheitslehre für die hygienische Aus-
bildung ihrer Schüler Sorge trägt. Selbst die Manual Training High
Schools Amerikas, eines Landes, das wie kaum ein anderes auf praktische
Zwecke in seinen Schulen ausgeht, entbehren nicht Geschichte, Staats-
kunde und Wirtschaftslehre. Und doch hätten es Völker mit so starkem
nationalen Empfinden wie Franzosen und Amerikaner weit weniger not-
wendig wie unser deutsches Volk oder gar ein solches Konglomerat von
Völkern wie Österreich. Dabei gibt es kaum eine Schulgattung, die den
Unterricht im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung wirksamer ge-
stalten und mit dem gesamten Lehrprogramm enger verbinden ließe, als
unsere Fortbildungs-, Fach-, Gewerbe- und Kunstgewerbeschulen. Hier,
wo alle Blicke von Schülern und Lehrern Tag für Tag auf die Güter-
rX. Schlußbetrachtungen. 2 8 1
Produktion gerichtet sind, wo Technologie, Waren- und Werkzeugkunde
von selbst auf eine Entwicklungsgeschichte unserer Produktionsweisen hin-
führen, wo die Gewinnung von Rohprodukten, die Ein- und Ausfuhr,
die Zoll- und Handelsverhältnisse, die Arbeitsteilung, die Berechnung all-
gemeiner Spesen und hundert andere Dinge unwiderstehlich den Blick
auf die Abhängigkeit aller von allen bei Menschen wie Staaten hin-
lenken, wo die stete Veränderung der Herstellungsarten, der Maschinen und
der Arbeitsverhältnisse das Auge zwingen, in die Vergangenheit wie in die
Zukunft zu schauen, wäre hier nicht der natürliche Boden gegeben, gleich
von vornherein in einer Wirtschaftsgeschichte, die in konkreten Beispielen
mitten durch die Kultur der Menschheit hindurch, von den primitiven
Anfangen bis zu unserer heutigen Weltwirtschaft führt, das Verständnis
der Schüler für das große Ganze anzuregen und ihren Sinn darauf zu
richten? Das 20. Jahrhundert wird auf dem Gebiet der staatsbürgerlichen
Erziehung noch unendlich viel an allen unseren Schulen zu tun vorfinden.
Das letzte Ziel aller Erziehung kann nicht ein berufliches sein. Das
letzte Ziel ist die staatsbürgerliche Erziehung, die allerdings mit
und durch die berufliche am besten gefördert werden kann. Nur wenn
unsere öffentlichen Schul- und Erziehungseinrichtungen dieses letzte Ziel
unverrückt im Auge behalten und mit allen Mitteln zu erreichen streben,
wird der moderne Staat die schweren Krankheiten überstehen, die, aus
seinem eigensten Wesen geboren, ihn heute gefährden, wird er in Wahr-
heit das werden, was er so gerne sein möchte: ein homogener Kulturstaat.
Literatur.
Über den Stand des Fach- und Fortbildungsschulwesens am Ende des ig. Jahrhunderts
unterrichten folgende Werke und Schriften eingehender :
Deutschland: Lexis, Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 4 Bde. (Berlin,
Asher & Co., 1904). (Hier einschlägig sind Bd. II u. Bd. IV.) — Pache, Handbuch des deutschen
Fortbildungsschulwesens (Wittenberg, Herrosds Verlag). (Bis jetzt sind 7 Bändchen erschienen,
1896 bis 1905.) — Simon, Das gewerbliche Fortbildungs- und Fachschulwesen in Deutschland
(Berlin, Mittler & Sohn, 1903). (Eine kleine Broschüre, die den Stoft' übersichtlich und klar
behandelt.) — Kerschensteiner , Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend.
Von der Kgl. Akademie zu Erfurt gekrönte Preisschrift (Erfurt, Viüaret, 1900). (Behandelt
den zukünftigen Ausbau des Fortbildungsschulwesens in Deutschland.) — Roscher, Gewerb-
licher Unterricht. (Ein ausführlicher Artikel von 62 Spalten im Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften von Konrad und Lexis [Jena, Fischer, 1900] Bd. IV, mit sehr großer Sach-
kenntnis geschrieben.)
Österreich: KlimburG, Die Entwicklung des gewerblichen Unterrichtswesens in
Österreich (Tübingen, J. C. B. Mohr, 1900). (Eine gute Monographie.) — Centralblatt
für das gewerbliche Unterrichtswesen in Österreich, im Auftrage des Unterrichtsministeriums
herausgegeben seit 1882 (Wien, Holder).
Schweiz: Albert Hitber, Schweizerische Schulstatistik. 8 Bde. herausgegeben im
Auftrage der Berner Regierung. (Hier einschlägig Bd. V 1895.) — Kerschensteiner, Beob-
achtungen und Vergleiche über Einrichtungen für gewerbliche Erziehung außerhalb Bayerns
(München, Carl Gerber, 1900).
Belgien: Carl Genauck, Die gewerbliche Erziehung im Königreich Belgien (Reichen-
berg i. Böhmen, Fritsche, 1886).
Frankreich: Rapport sur l'organisation et la Situation de Fenseignement primaire
publie en France (Paris, imprimerie nationale), 3 Bde. Einschlägig hier Bd. I (1900). (Vom
Ministerium herausgegeben.) — L'enseignement technique en France (Paris, Imprimerie
Nationale), 5 Bde. (Vom Ministerium herausgegeben.) — Ville de Paris, Les ^coles et les
Oeuvres municipales d'enseignement (Paris, P. Mouillet, imprimeur, 1900). (Im Auftrag der
Stadt Paris herausgegeben.)
England: Report of the department of Science and Art (London, printed for her
Majesty's stationary office) by Eyre and Spottiswoode. (Bis jetzt sind 52 Jahresberichte
erschienen.) — Annal Reports of the Technical Education Board of the London County
Council (London, P. S. King and Son, 1904). — Reports of the Evening Continuation
Schools Committee (London, P. S. King and Son, Great Smith Street, Westminster, S. W. 1904).
— Clarence H. Creasey, Technical Education in Evening Schools (London, Swan Sonnen-
schein & Co., 1905).
Rußland: Apergu du d^veloppment de l'enseignement industriel en Russie dans les
annees 1888 — 1898 (Petersburg, 1900), herausgegeben vom Unterrichtsministerium.
Amerika: Monographs on Education in the United States edited by Nicholas
Murray Buttler (1900). (Vom Erziehungsdepartement der Nordamenkanischen Staaten
für die Pariser Weltausstellung 1900 herausgegeben. Im ganzen 19 Monographieen. Hier
einschlägig die Mongraphieen 9 bis 13.) — Report of the Commissioner of Education
Literatur. 283
(Washington, Govemement, Printing Office). (Eine klare und sehr reiche Quelle für das
Studium des gesamten amerikanischen Schulwesens. Enthält auch wertvolle Studien über
das Schulwesen anderer Staaten. Die Berichte gehen bis auf das Jahr 1889 zurück.)
Über zahlreiche andere hier einschlägige Einzelbeschreibungen vergleiche man die
Literaturnachweise und Bibliographieen bei:
ROSCHER, am Schlüsse des oben erwähnten Artikels im Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften.
Petersilie, Das Unterrichtswesen im Deutschen Reiche und den übrigen europäischen
Kulturländern, 2 Bde. (Leipzig, Hirschfeld, 1892). (Am Schlüsse des 2. Bandes ist eine um-
fangreiche Bibliographie angegliedert ; doch ist das meiste, was auf gewerbliches Unterrichts-
wesen sich bezieht, veraltet.)
Pache, in dem oben zitierten Handbuch und in dem .Artikel über Fortbildungsschulen
in Reins Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik, Bd. II, 2. Aufl. (Der Literatur-
nachweis könnte vielleicht teilweise etwas kritischer gesichtet sein.)
DIE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE
HOCHSCHULAUSBILDUNG.
Von
Friedrich Paulsen.
I. Die Geisteswissenschaften, ihr Gegenstand und Charakter,
ihre Aufgabe und Gliederung. Da die Ausbildung in einer Wissen-
schaft von der Natur des Gegenstandes und der dadurch bedingten Methode
der Forschung abhängt, so seien ein paar Bemerkungen hierüber voraus-
geschickt.
üegensundund Die Geisteswissenschaften stehen neben den Naturwissenschaften als
GetSssea- das zwcite große Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis. Ihr Unterschied
Schäften. .^ Hinsicht auf den Gegenstand und die Methode läßt sich für unsem
Zweck ausreichend in folgender Weise bestimmen. Die Naturwissen-
schaften haben die in der sinnlichen Anschauung gegebenen oder dar-
stellbaren Objekte und Vorgänge zum Gegenstand. Ihre Erkenntnismittel
sind: Beobachtung, Experiment und Mathematik. Der Gegenstand der
Geisteswissenschaften ist das geistige Leben, wie es dem einzelnen im
Selbstbewußtsein gegeben ist, wie es im großen in dem geschichtlichen
Leben der Menschheit sich entfaltet. Die Grundform ihrer Methode ist
die Interpretation an der Hand der Analogie. Geistiges Leben ist, ab-
gesehen von dem Inhalt, den der einzelne im Selbstbewußtsein erlebt, als
solches niemals unmittelbar gegeben; es wird aus seinen Manifestationen
in der physischen Welt durch ein Interpretationsverfahren, dem ein Ana-
logieschluß aus dem eigenen Innenleben und seiner Darstellung in der
physischen Welt zugrunde liegt, erschlossen. Unter diesen Manifestationen
nimmt neben der Formung körperlicher Objekte durch menschliche Arbeit
die Sprache die erste Stelle ein; sie ist, mit der Schrift, ihrem sekun-
dären Symbolsystem, das wichtigste Symbolsystem, worin geistiges Leben
sich objektiviert. Und daher ist Sprachkenntnis erste Voraussetzung für
alles Erkennen auf diesem Gebiet. Nennen wir die Fähigkeit allseitiger
imd gesicherter Interpretation der Sprache Philologie, so wird gesagt
werden können, daß diese zu den Geisteswissenschaften in einem ähnUchen
Verhältnis steht, wie zu den Naturwissenschaften die Mathematik: Philo-
logie das eigentliche Organon aller Geisteswissenschaften.
I. Die Geisteswissenschaften, ihr Gegenstand und Charakter, ihre Aufgabe und Gliederung. 285
Ein zweiter Unterschied ist der, daß die Naturwissenschaften es haupt-
sächlich mit gleichförmig sich wiederholenden und darum überall und stets
gegenwärtigen Vorgängen, die Geisteswissenschaften dagegen mit, wenn
nicht sing^lären, so doch individualisierten Vorgängen, den Vorgängen per-
sönlichen Lebens zu tun haben. Natürlich, gewisse Gleichförmigkeiten sind
auch hier vorhanden, sonst wäre Begriffsbildung imd also Wissenschaft
auf diesem Gebiet überhaupt nicht möglich; aber identische Wiederkehr
desselben, wie in der physischen Welt, findet in der geistig-geschichtlichen
Welt überhaupt nicht statt; jede Generation, ja jedes Individuum lebt ein
besonderes Leben, erlebt jeden Tag ein neues Leben. So haben die ge-
schichtlichen Wissenschaften es stets mit Tatsachen zu tun, die nicht als
gegenwärtige beobachtet werden können, sondern erst aus halb erloschenen
Erinnerungen, Zeugnissen, Spuren und Überbleibseln der Vergangenheit
erschlossen werden müssen. Damit ist auch das Experiment ausgeschlossen;
höchstens, daß es in dem Grenzgebiet anwendbar ist, wo sich Natur- und
Geisteswissenschaft am engsten berühren, in der physiologischen Psy-
chologie.
Mit alledem ist schon gegeben, daß in der geisteswissenschaftlichen Hervortreten
. des subjektiven
Forschung der persönliche Faktor eine viel bedeutsamere Rolle als m Moments.
den Naturwissenschaften spielt. Hat in diesen, soweit die Mathematik imd
die anschauliche Darstellung herrscht, das subjektive Meinen und Vor-
stellen keinen Ort (es beginnt erst, wo jenseits dieser Grenzen das Denken
sich mit Hypothesen und Vorstellungen des Möglichen anbaut), so gibt es
in den Geisteswissenschaften, wo der Gegenstand selbst erst durch ein
subjektiv bedingtes Interpretationsverfahren hervorgebracht werden muß,
überhaupt kein Objektives in demselben Sinne wie dort, ein gleichmäßig
Gegebenes oder von allen durch identische Produktion gleichmäßig Er-
zeugtes. Die „persönliche Differenz" macht sich hier an jedem Punkt
geltend. Daher der ewige Streit an jedem Punkt ; daher auch der Wechsel
der Auffassung mit dem Wechsel der Zeiten: jede Generation spiegelt
sich selbst in ihrer Deutung der Vergangenheit wider. Und. noch ein
Drittes kommt hinzu: in den Geisteswissenschaften mischt sich in die Auf-
fassung der Gegenstände regelmäßig und unvermeidlich ihre Würdigimg;
sie werden als gut oder schlecht, schön oder häßlich empfunden und be-
urteilt. Die Affekte, Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung kommen
ins Spiel und heften an die Auffassung jedes Moments ihre Gefühlsakzente,
den Willen zur Verteidigung und Propaganda oder zur Abwehr und Ver-
nichtung aufrufend. Darum wird hier die wissenschaftliche Diskussion
nicht mit der kühlen Ruhe geführt, mit der von Dreiecken und Kreisen
gehandelt wird. In den Streit um wahr und unwahr mischt sich, bewußt
oder unbewußt, der Eifer für die gute, der Haß gegen die schlechte Sache
und führt alsbald zum Streit der Personen; der Angriff auf eine Ansicht
wird zugleich als Angriff auf Geist und Gesinnung dessen, der .sie hat,
gemeint und empfunden. Wie die Geister jener auf den katalaunischen
,8^ Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
Feldern Erschlagenen, so stehen in der Geschichte die Geister derer, die
im Leben miteinander stritten, wieder auf und führen den Kampf in der
Luft mit derselben Erbitterung, mit der sie einst im Fleisch miteinander
rangen. Und darum ist die Geschichte das Herrschaftsgebiet aller Dä-
monen des Kriegs: des Hasses, der Verleumdung, der Lüge und wird es
ewig bleiben. Es gilt allgemein, was Spinoza in dem 7. Kapitel des theo-
logisch-politischen Traktats von den Theologen und ihrer Interpretation
der Schrift sagt: „Mit den Menschen ist es so bestellt: was sie mit dem
reinen Verstände erfassen, das verteidigen sie auch allein mit dem Ver-
stände; die Meinungen aber, die sie unter dem Einfluß der Affekte bilden,
die verteidigen sie auch mit solchen."
Beschreibeude Wir Wenden uns zur Aufgabe und Gliederung der Geisteswissen-
"oeisTesi^^sen- schaffen. Die Aufgabe aller Wissenschaft ist eine doppelte: Erfassung
und Darstellung des Wirklichen in concreto und Bildung von abstrakten
Begriffen und Formeln. Wir können hiemach beschreibende und begriff-
liche Wissenschaften unterscheiden. Verbinden wir mit dieser Einteilung
die nach dem Gegenstand, so kommen wir auf ein viergUedriges Schema,
wie es schon von Schleiermacher aufgestellt worden ist: beschreibende
und begriffliche Naturwissenschaften, beschreibende und begriff-
liche Geisteswissenschaften. Ein Beispiel bieten dort die topogra-
phische und die allgemeine Geographie: jene ist gerichtet auf die be-
schreibende Darstellung eines singulären Tatbestandes, diese auf die Bil-
dung allgemeiner Begriffe und Formeln, worin die wiederkehrenden For-
mationen, sowie die Prozesse, Kräfte und Gesetze ihrer Entstehung dar-
gestellt werden. In den Geisteswissenschaften haben wir dasselbe Ver-
hältnis zwischen Religionsgeschichte und Religionsphilosophie, Wirtschafts-
geschichte und Nationalökonomik: jene gehen auf die Beschreibung des
religiösen oder wirtschaftlichen Lebens eines bestimmten Volks oder Kultur-
kreises und seiner geschichtlichen Entwicklung, soweit möglich auch mit
statistischen Daten es erfassend, diese bilden allgemeine Begriffe von
Formationen und Funktionen, von Kräften und Gesetzen der religiösen
oder der wirtschaftlichen Lebensbetätigung überhaupt.
Dabei ist einleuchtend, daß die beiden Formen wissenschaftUcher Arbeit
durchaus aufeinander angewiesen sind: die auf das Einzelne gerichtete
Forschung liefert der Begriffe bildenden das Material, aber zugleich ist
sie genötigt, für die Beschreibung und Erklärung des Besonderen sich der
allgemeinen Begriffe und Formeln zu bedienen, die jene hervorbringt. Es
handelt sich nicht um trennende AbschUeßung, sondern nur um eine Ver-
schiedenheit in der Richtung der wissenschaftUchen Arbeit; das Ziel ist
eines: die von der begrifflichen Theorie ganz durchleuchtete Erkenntnis
der konkreten Wirklichkeit.
Darum kann natürlich auch nicht von einer Minderwertigkeit der
einen Arbeitsform gegenüber der andern die Rede sein, beide sind gleich
notwendig für das eine Ziel. Nimmt die begriffliche in Anspruch, die
I. Die Geisteswissenschaften, ihr Gegenstand und Charakter, ihre Aufgabe und Gliederung. 287
eigentlich und allein wissenschaftliche zu sein — alle Wissenschaft hat,
nach dem Aristoteles, zum Gegenstand das Allgemeine — , so kann die
auf das Besondere gerichtete Forschung dagegenhalten, daß ohne ihre
Arbeit jene überhaupt keinen Gegenstand und kein Ziel hätte: das Wirk-
liche ist immer ein bestimmtes Dieses; die Begriffe aber haben Wert als
Werkzeug für seine Erfassung. Das gilt vor allem in der historischen
Welt, die Erkenntnis des konkreten Einzelnen ist das Ziel. Wollte aber
umgekehrt die historisch -philologische Einzelforschung gegen die nach
Art der Naturwissenschaften auf das Allgemeine, den Begriff oder das
Gesetz ausgehende Forschung vornehm tun: die Arbeit am Einzelnen
allein sei echte Forschung, jene andere bringe es nur zu allerlei leerer
Spekulation, so wäre dagegen zu sagen: die Erkenntnis des Einzelnen als
solchen ist niemals das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern
die Erkenntnis des Einzelnen in seinem Wesen, und diese ist nur durch
seine Erfassung im Begriff möglich: kein religiöser oder wirtschaftlicher
imd auch kein politischer oder militärischer Vorgang kann ohne das All-
gemeine erkannt werden. Die Sache liegt übrigens in den Naturwissen-
schaften nicht anders: auch hier handelt es sich um die Erkenntnis der
konkreten Wirklichkeit; freilich hat hier das Einzelne als solches nicht
die Besonderheit und nicht die Bedeutung, wie in der Welt des geistig-
persönlichen Lebens, und so tritt hier die auf das Allgemeine, den Begriff
und das Gesetz gerichtete Forschung in den Vordergrund. Zuletzt aber
hat auch ein Naturgesetz Erkenntniswert dadurch, daß es uns befähigt, den
Einzelvorgang in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen zu erkennen.
Das Gravitationsgesetz dient als Konstruktionsmittel dieses konkreten
tellurisch -kosmischen Systems.
Zu bemerken bleibt noch, daß es neben der begrifflichen und be- ß"« No™-
^ ^ Wissenschaften.
schreibenden Form der Wissenschaft noch eine dritte gibt, das ist die
normative oder technologische. Sie stellt in Form von allgemeinen
Sätzen Regeln für die Lösung von Aufgaben auf einem bestimmten Gebiet
dar. Allerdings ist sie nicht eigentlich eine neue und selbständige Form
der Erkenntnis; die Normen oder Regeln, sofern sie überhaupt wissen-
schaftlich begründet werden, sind natürlich aus der Theorie, aus der Er-
kenntnis des Wesens der Sache abzuleiten. In geschichtlicher Betrach-
tung ist aber das Verhältnis dies, daß wissenschaftliche Erkenntnis zuerst
in der Form von praktisch-technischen Regeln zur Lösung praktischer
Aufgaben hervortritt; die Notwendigkeit der Meßkunst hat die Geometrie,
die der Heilkunst die Kenntnis des Leibes und Lebens hervorgetrieben. Die
„Technologie" ist also die älteste Form der Wissenschaft, die Regeln sind
früher als die Theoreme, diese lösen sich erst allmählich zu selbständigen
Systemen von jenen ab. Das ist in den Geisteswissenschaften noch sicht-
barer als in den Naturwissenschaften; die Grammatik, die Logik, die Ethik,
die Politik, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, sie sind alle entstanden
als Versuche, zunächst einzeln gefundene Regeln zur Lösung von Auf-
,gg Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
gaben systematisch darzustellen, also als normative oder technologische
Disziplinen. Und die Scheidung von Theorie und Technologie ist bei den
meisten viel später erfolgt und viel weniger scharf durchgeführt, als im
Gebiet der Naturwissenschaften; sie läßt sich vielleicht auch überhaupt
nicht so scharf durchführen.
Was endlich die Gliederung des Forschungsgebiets der Geistes-
wissenschaften anlangt, so weisen die Tatsachen auf eine doppelte hin,
die topographische und die ideographische. Der Gegenstand der
Geisteswissenschaften ist, wie gesagt, das geschichtUche Leben der Mensch-
heit auf Erden; wobei es dahingestellt bleiben kann, ob wir Grund haben,
wie es denn wohl der Fall sein mag, geistiges Leben auch außerhalb
dieses Kreises anzunehmen; für die Weltanschauung ist das von großer
Bedeutung, aber der wissenschaftlichen Forschung bietet es keinen Stoff.
Das geschichtliche Leben zeigt nun jene doppelte Gliederung, die topo-
graphische nach Völkern, Rassen, Kulturkreisen, und die ideographische
nach Inhalten und Richtungen der geschichtlichen Lebensbetätigung.
Als die Träger alles geistigen Lebens stellen sich die dauernden, in
dem Wechsel der Generationen sich selbst erhaltenden Lebensgemein-
schaften dar, vor allem die Nationen. Der einzelne hat an dem geistigen
Leben nur als Glied einer Gemeinschaft teil, aus der er es empfängt, in
der er es lebt, für die er es erhaltend schafft und mehrt. Seelisches
Leben hat auch der einzelne als solcher, wie auch das Tier es hat; zum
geistigen Leben, zum reflektierten, sich selbst im Selbstbewußtsein er-
fassenden Leben erhebt er sich nur, sofern er am geschichtlichen Leben
der Gesamtheit teilhat. Alles geistige Leben ist daher ein national
diiferenziertes und seine wissenschaftliche Erforschung wird demnach dieser
auch räumlich-zeitlich dargestellten Gliederung folgen.
Topographische Die idcographische GUederung folgt der Differenzierung der geistigen
pbrscheGifede- Lebensbetätigung. Als die hauptsächlichsten Organ- und Funktionssysteme,
""^' in denen der menschliche Geist den Inhalt des geschichtlichen Lebens
schafft, treten hervor: Familie und Sitte, Gesellschaft und wirtschaftliches
Leben, Staat und Recht, Kirche und Religion, Geselligkeit und Spiel,
Kunst und Poesie, und zuletzt, auf höchster Entwicklungsstufe sich be-
sondernd, Philosophie und Wissenschaft. Überall, wo menschlich-geistiges
Leben aus und über dem bloß animalischen sich erhebt, finden sich diese
Grundformen wenigstens in keimhaften Anfängen. Die Sprache aber ist
überall ihre Voraussetzung und ihr vornehmstes Vehikel, sie ist das Band,
wodurch die Individuen und die Generationen zur überorganischen Einheit
geistigen Lebens verknüpft sind.
Für die auf das Allgemeine gerichtete Forschung wird das ver-
gleichende Studium der homologen Bildungen bei den verschiedenen
Völkern und in den verschieden gearteten Kulturen von besonderer Wich-
tigkeit sein: die allgemeine Staats- und Rechtslehre, die Religions-
oder Kunstphilosophie wird die überall wiederkehrenden Formationen
I. Die Geisteswissenschaften, ihr Gegenstand und Charakter, ihre Aufgabe und Gliederung. 280
und Funktionen, Institute und Normen auf ihr allgemeines Wesen zu
bringen und in ihrem begrifflichen Zusammenhang darzustellen suchen,
zugleich den Bedürfnissen und inneren Triebkräften nachgehend, in denen
sie ihre Wurzeln haben. Die auf das Einzelne gerichtete Forschung wird
in der Arbeitsteilung hauptsächlich der topographischen Gliederung folgen,
schon darum, weil die fruchtbare wissenschaftliche Arbeit an die Beherr-
schung der Sprachen geknüpft ist. Dazu kommt der innere Zusammen-
hang zwischen allen Lebensäußerungen eines Volks oder eines Kultur-
kreises: sein wirtschaftlich -gesellschaftliches und sein politisches Leben,
sein Recht und seine Religion, seine Dichtung und Kunst bilden eine or-
ganische Einheit; jeder Teil empfängt Licht aus dem Ganzen und wirft
Licht auf das Ganze.
Zum Schluß noch ein Wort über die Bedeutung der Geisteswissen- Bedeutung der
Schäften. Das geschichtliche Leben der Menschheit ist das Stück der schS^^"'"
Wirklichkeit, das uns am intimsten bekannt ist und am nächsten angeht.
Hier allein erreichen wir ein innerliches Verstehen des Wirklichen, ein
Verstehen, das auf dem Mit- und Nacherleben beruht. Die Naturwissen-
schaften führen nicht über ein äußeres Begreifen hinaus, wie in der Astro-
nomie und Physik, so in der Chemie und Physiologie; Konstellationen
und Bewegungen von materiellen Teilen sind überall ihr Gegenstand. So
gerechten Stolz die Astronomie über die Herrschaft empfindet, womit sie
das Universum oder sagen wir bescheidener, den kleinen, uns von unserem
Standort aus sichtbaren Teil bemeistert hat, so gewiß ist andererseits, daß
alle astronomische Erkenntnis niemals mehr als ein äußerliches mathe-
matisches Begreifen von Erscheinungen zu leisten vermag. Dagegen das
Universum, das im Innern sich darstellt, bietet erst die Wirklichkeit, wie
sie für sich selbst ist; erst im geistig-geschichtlichen Leben geht uns das
Verständnis für Wesen, Sinn und Wert des Wirklichen auf. Fiele es aus,
so wäre, was die Naturwissenschaften als solche von der Wirklichkeit zu
sagen wissen, für uns im Grunde bedeutungslos. Und daher liegt der
Brennpunkt unseres Interesses an der Wirklichkeit in den Geisteswissen-
schaften; das Wissen von der Natur erhält erst durch seine Beziehung
zum Geist eigentlich theoretisches Interesse.
Ich sage das nicht, um die Wichtigkeit der Naturwissenschaften her-
abzudrücken, sie ist groß und unwidersprochen, sondern um gegen eine
oberflächliche Betrachtung Verwahrung einzulegen, die, durch die äußere
Größe der Natur in Raum und Zeit in Erstaunen gesetzt, die absolute Be-
deutsamkeit des Geistigen vergißt. Gegenüber einer Auffassung, die den
Geist als ein geringfügiges Nebenprodukt des Naturberufs anzusehen an-
leitet, die es als verrückten Größenwahn ansieht, wenn der Mensch von
sich, vom Geist aus das Verständnis der Wirklichkeit sucht (Haeckel hat
hierfür den Ausdruck „Anthropismus" geprägt und erblickt in seiner Ab-
stoßung die eigentliche Großtat der Wissenschaft im 19. Jahrhundert),
gegenüber solcher Verachtung des Geistes wird immer wieder zu sagen
DcE Kultur der Gegenwart. 1. 1, 1^
2Q0 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
sein: so groß oder klein die Bedeutung des menschlichen Geisteslebens
für das Universum sein mag, für uns bleibt es auf jeden Fall das Stück
der Wirklichkeit, das allein unmittelbar Wert und Bedeutung hat, das
einzige auch, wo wir die Wirklichkeit unmittelbar, wie sie ist, erfassen.
Studium der 11. Das Studium der Geisteswissenschaften in seiner gegen-
^IchXnT" wärtigen Gestalt auf den deutschen Schulen und Universitäten,
"'der" Kursus"" Drei Stufen des Unterrichts ergeben sich aus der Natur der Sache; sie
stellen sich in schematischem Entwurf so dar. Ein Elementarkursus wird
zur ersten Aufgabe die Erlernung des Lesens und Schreibens und die Be-
festigung in der Muttersprache haben: die heimische Sprache und Schrift
sind für jedes Menschenkind das Eingangstor zur Welt des Geistes. Es
folgt ein mittlerer Kursus, nennen wir ihn den Gymnasialunterricht, dessen
Aufgabe in Absicht auf die geisteswissenschaftliche Ausbildung vornehm-
lich der Unterricht in fremden Sprachen sein wird, den Sprachen des
räumlich und zeitlich erweiterten Kulturkreises, dem das Leben der eigenen
Nation angehört. Die Einführung in die Literatur dieser Sprachen und
die Geschichte dieser Völker wird sich damit naturgemäß verbinden. Die
Form des Unterrichts wird schulmäßige Übung sein. Selbstverständlich
kann der Gymnasialunterricht nicht darauf verzichten, auch die Elemente
der Mathematik und Naturwissenschaften aufzunehmen, sie gehören zu den
unentbehrlichen Voraussetzungen des Verständnisses auch der mensch-
lichen Dinge.
2. Hochschule, Diesem vorbereitenden Unterricht wird endlich ein dritter Kursus,
^schaftTicher das abschließende Studium auf der Hochschule folgen. Hier wird es sich
um eine eigentlich wissenschaftliche Ausbildung handeln. Ihre Aufgabe
wird sein, sich mit den Tatsachen und den Begriffen, den Erkenntnis-
mitteln und den Arbeitsmethoden vertraut zu machen, mit denen in den
Geisteswissenschaften Erkenntnis gewonnen wird, bis zur Fähigkeit, durch
eigene Arbeit solche Erkenntnis zu erzeugen. Wobei denn die Be-
schränktheit menschlicher Kraft Lehrer und Schüler zur Beschränkung
auf einen mehr oder minder ausgedehnten Ausschnitt aus dem unendlichen
Gebiet des menschheitlichen Geisteslebens nötigen wird. Als Unterrichts-
formen ergeben sich der Vortrag und die Übungen. Die Aufgabe des
Vortrags wird vor allem die sein, geformte Erkenntnis in ihrem inneren,
systematischen Zusammenhang vorzuführen und dadurch die Neueintreten-
den in dem Gebiet zu orientieren; die Aufgabe der Übungen wird sein,
zum selbständigen Gebrauch der Erkenntnismittel und Arbeitsmethoden
anzuleiten, durch die aus gegebenen Tatsachen wissenschaftliche Erkennt-
nis erzeugt wird. Selbstverständlich müssen beide Formen des Unter-
richts Hand in Hand gehen: ohne eigene Versuche wird keine selbständige
und fruchtbare Erfassung möglich sein, aber auch die vorbildliche Dar-
stellung des Gegenstandes in der „Vorlesung" wird nicht leicht entbehrt
werden können: wie der Hörer der lebendigen Rede bedarf, um an die
II. DasStudium der Geistes wissensch. in seiner gegenwärt. Gestalt auf d. deutsch. Schulen u.Univ. 2g I
Sache zu kommen, so ist für den Lehrer die zusammenhangende Mitteilung
zugleich Antrieb und Lohn der Arbeit.
Zu dem fachwissenschaftlichen Unterricht kommt dann noch als eine b) phiiosophi-
r • 1 *i- r-i r^ ^ • sches Studium.
unentbehrliche Ausrüstung für wissenschaftliche Arbeit auf jedem uebiet
die Philosophie. Der akademische Unterricht in der Philosophie wird zu-
nächst zwei Aufgaben haben: einerseits die allgemeinen Formen und Maß-
stäbe wissenschaftlicher Erkenntnis dem angehenden Jünger der Wissen-
schaft zu übermitteln, sowie die Einordnung der einzelnen Wissenschaft
in das System der Wissenschaften aufzuzeigen: das Geschäft der Logik
und Wissenschaftslehre; andererseits den Zusammenhang alles Einzelnen
mit dem Ganzen, alles Einzelwissens mit dem stets gesuchten und nie er-
reichten absoluten System einer Weltwissenschaft aufzuzeigen: das Geschäft
der Metaphysik. Zur Metaphysik, wenn wir mit diesem Namen die ge-
suchte allgemeine Theorie der Wirklichkeit bezeichnen, kommt noch die
Ethik, die, wie jeden Lebensinhalt, so auch die Wissenschaft und ebenso
jede berufswissenschaftliche Tätigkeit aus dem Gesichtspunkt der höchsten
menschlichen Lebenszwecke zu betrachten Anleitung gibt. Für die geistes-
wissenschaftliche Ausbildung wird eine Orientierung über die letzten Maß-
stäbe menschlicher Werte sich noch als besonders notwendig erweisen,
weil sich hier (es wurde schon oben berührt) die Würdigung tatsächlich
niemals ausschalten läßt, wie es in den Naturwissenschaften möglich ist;
Klarheit über die Maßstäbe der Wertung wird hier also zu einer auch
aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft selbst unerläßlichen Forderung.
Endlich kommt noch die Psychologie in Betracht, welche die Grundformen
und Gesetze des seelischen Lebens untersucht, das die Naturgrundlage
alles geistigen Lebens ausmacht; alle Geisteswissenschaften machen be-
ständig von Begriffen Gebrauch, die in der Psychologie im Zusammenhang
untersucht und dargestellt werden.
So das Schema. Ihm entspricht in den großen Zügen die Wirklich-
keit. Auf den Elementarunterricht folgt überall eine Mittelstufe, wo der
Unterricht in den fremden Sprachen und Literaturen ein Hauptstück oder
das Hauptstück des Unterrichts bildet. Gelehrt werden die Sprachen der
führenden Nationen der modernen Kultur, auf deren gemeinsamer Arbeit
das Geistesleben der europäischen Völkerwelt beruht, und die Sprachen
der beiden großen Völker der Altertums, durch welche die geistige Sub-
stanz geschaffen oder bereitet worden ist, mit deren Übernahme und Ver-
arbeitung das geistige Leben der modernen Völker beginnt. Dann folgt
das fachwissenschaftliche Studium auf der Universität. In drei Fakultäten
unserer alten Universitäten hat das Studium der Geisteswissenschaften
seinen Ort: in der theologischen, der juristischen und der historisch-philo-
logischen Hälfte der philosophischen Fakultät.
Zuerst über die beiden „oberen" Fakultäten, die theologische und Theologie un.i
... Jurisprudeoi ;
juristische, eine Bemerkung. Sie bieten jede einen relativ in sich ab-
geschlossenen, fachwissenschaftlichen, für einen praktischen Beruf vorberei-
19*
202 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
tenden Studienkursus, doch so, daß sie auf bestimmte Ergänzungen aus
der philosophischen Fakultät, nach der philologisch-historischen und der
philosophischen Seite, verweisen. Es ist das ein Hinweis darauf, daß die
ganze Fakultätsgliederung nicht aus dem Gesichtspunkt einer theoretischen
Einteilung der Wissenschaften getroffen worden ist. In einer rein wissen-
schaftlichen Anstalt, wo der Studienbetrieb lediglich aus theoretischem
Gesichtspunkt geordnet wäre, würde die Gliederung eine andere sein. Das
„theologische" Studium würde hier, etwa unter dem Titel einer religions-
wissenschaftlichen, das „juristische" unter dem Namen einer rechtswissen-
schaftlichen Abteilung innerhalb der philologisch-historischen Hälfte der
philosophischen Fakultät seinen Ort haben; diese Fakultät würde eben,
der ursprünglichen Bedeutung ihres Namens entsprechend, überhaupt alle
wissenschaftliche Forschung umfassen, in der Einheit der Forscherarbeit
darstellend die gesuchte Einheit der Wirklichkeitserkenntnis oder die
Philosophie.
Ihre systema- Was zur Hcraushcbung der Theologie und Jurisprudenz aus dem Zu-
te ung. g^j^j^gjjjjj^j^g ^jjj(j 2^ ihrer Konstituierung als selbständiger Gebiete geführt
hat, das ist natürlich der praktische Gesichtspunkt, dem, wie alle Berufs-
bildungsanstalten, so auch die Universitäten mit ihren Fakultäten Ursprung
und Gestalt verdanken; für die ältesten und ersten öffentlichen Berufe
sind in der theologischen und juristischen Fakultät Fachbildungsanstalten
geschaffen. Und der praktische Gesichtspunkt bestimmt in ihnen auch die
Auswahl des Lehrstoffs: jede hat die Fächer in sich aufgenommen, die für
die entsprechende Berufsübung die notwendigen wissenschaftlichen Kennt-
nisse bieten. Ganz ebenso wie die medizinische Fakultät die für die wissen-
schaftliche Ausbildung des Arztes wesentlichen Studien in sich vereinigt
hat, ohne Rücksicht auf ihren systematischen Ort, denn offenbar würden
Anatomie und Physiologie in einer systematischen Ordnimg innerhalb der
biologischen Wissenschaften und zusammen mit ihnen in der naturwissen-
schaftlichen Abteilung der philosophischen Fakultät ihren Platz finden,
ebenso hat die theologische Fakultät die christliche Religion und ihre
geschichtliche Entwicklung mit ihrer Vorgeschichte im Judentum aus der
Gesamtheit religionswissenschaftlicher Studien herausgenommen, alle übrigen
Religionen, griechische und römische, indische und persische, Islam und
Buddhismus der philosophischen überlassend, wo sie dann freilich, im Ver-
gleich mit jener bevorzugten, nur gelegentliche und spärliche Behandlung
finden. Und das Entsprechende gilt auch von der juristischen Fakultät.
Einem möglichen Mißverständnis zu wehren, füge ich gleich hinzu,
daß dies nicht im Sinne des Tadels gesagt ist; es liegt mir fem, die
jüngst erhobene Forderung mir anzueignen, die theologische Fakultät in
eine „religionswissenschaftliche" umzuwandeln oder etwa sie als Abteilung
unter diesem Namen in die philosophische zu versetzen. Wer das wollte,
der müßte ein gleiches natürlich auch für die juristische fordern und dann
wohl auch die weitere Folge ziehen, daß diese religions- oder rechts-
n. Das Studium derGeisteswssensch. in seiner gegenwärt. Gestalt auf d. deutsch. Schulen u.Univ. 293
wissenschaftliche Abteilung nun die Religionen oder die Rechtssysteme
aller Völker der Erde, ohne allen Vorzug, ob christlich oder tibetanisch,
römisch oder babylonisch, mit gleicher Eindringlichkeit erforsche und dar-
stelle. Und dasselbe würde dann natürlich auch für die übrigen philo-
logischen und historischen Forschungsgebiete gelten: für die Wissenschaft
als solche liegt gar kein Grund vor, der griechischen oder deutschen
Sprache und Literatur vor der ägyptischen oder chinesischen den Vorzug
zu geben. Solange alle Welt diese Konsequenz für absurd halten wird,
solange wir diesen bestimmten Ort in der geschichtlichen Welt einnehmen
und unsere Lehrer und Studierenden nicht Menschen im allgemeinen oder
abstrakte Subjekte der wissenschaftlichen Forschung, sondern individuali-
sierte und nationalisierte Persönlichkeiten mit bestimmtem Interessenkreis
und bestimmten Lebensaufgaben sind, so lange wird auch für uns die
christliche Religion im Mittelpunkt des religionswissenschaftlichen Uni-
versitätsstudiums stehen, und ebenso im Mittelpunkt des Rechtsstudiums
das deutsche und römische Recht.
Die Vorherrschaft des praktischen Gesichtspunktes in den beiden Dogmatischer
^ o rc "°^ historisch-
„oberen" Fakultäten tritt aber nicht nur in der Auswahl des Stoffes, son- exegetischer
" . Unterricht.
dem auch in der Behandlung zutage. Zwei Formen gehen hier von jeher
nebeneinander her: die dogmatische und die exegetisch-historische.
Die dogmatische ist verwandt, aber nicht gleichbedeutend mit der, die
wir oben als die begriffliche ableiteten; sie kann als eine Art Mittelding
zwischen der begrifflichen und der normativen bezeichnet werden. Sie
stellt ein geltendes Glaubens- oder Rechtssystem in Gestalt eines Systems
wissenschaftlich abgeleiteter Sätze dar, aber diese Sätze nehmen zugleich
normative Bedeutung in Anspruch: so soll gelehrt und geglaubt, so soll
für Recht erkannt werden. Dabei bedient sich die dogmatische Darstel-
lung der allgemeinen Begriffe, wie sie aus der bestimmten Sphäre abstra-
hiert sind: der religiösen Begriffe, wie sie im Christentum, der Rechts-
begriffe, wie sie im römischen Recht ausgeprägt sind. Die übrigen Formen
der Religion oder des Rechts werden nur gelegentlich und nebenher in
Betracht gezogen, sonst aber der „vergleichenden" Rcligions- und Rechts-
wissenschaft überlassen. Man wird darin eine Nachwirkung der alten
Anschauung zu erkennen haben, die nur eine Religion als die wahre, alle
übrigen als unechte oder Aberglaubensformen ansah; und ähnlich im
Recht, wo nur eine Form, das römische Recht, als die vollkommene
Form des Rechts überhaupt galt.
Der dogmatischen Behandlung geht die historische und exege-
tische zur Seite. In der Kirchen- und Dogmengeschichte wird die Ge-
schichte der christlichen Religion, in der Rechtsgeschichte die Geschichte
des römischen und deutschen Rechts vorgetragen. Daneben wird in lite-
rarisch-exegetischen Vorlesungen über den Stand der Quellenkunde, der
Kritik und Hermeneutik berichtet und Ziel und Form der wissenschaft-
lichen Arbeit gezeigt.
2Q4 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
Seminar- Ncbeii den Vorlesungen sind in jüngster Zeit die seminaristischen
Übungen, ausgehend von der philosophischen Fakultät, auch in den
beiden oberen Fakultäten mehr und mehr in i\ufnahme gekommen. Wir
begegnen ihnen in drei Formen. Dem dogmatischen Vortrag geht die
Erläuterung- und Einübung der gebrauchten Begriffe in Gestalt von Be-
sprechungen zur Seite, die sich an die Vorlesung oder an die gemeinsame
Lektüre eines dogmatischen Werkes anschließen, in der juristischen auch
von vorgelegten Rechtsfällen ausgehen. Neben den exegetisch-literarischen
Vorlesungen steht die Übung in der Interpretation und kritischen Behand-
lung von Ouellentexten. Endlich haben wir in den eigentlichen Seminaren
die Anleitung zu ersten selbständigen Untersuchungen und zur Ausführung
wissenschaftlicher Arbeiten. Doch ist die Zahl derer, die es hierzu bringen,
im Verhältnis zur Gesamtzahl nicht groß.
Philosophische Wir wenden uns zur philosophischen Fakultät. Hier tritt der Cha-
rakter der Universität als theoretisch-wissenschaftlicher Anstalt am stärk-
sten hervor. Sie hat jetzt zwar auch eine Art praktischer Aufgabe, die
Vorbildung von Gymnasiallehrern für ihren Beruf; da sie aber diese Auf-
gabe, und nicht ohne guten Grund, sich so auslegt, daß sie die künftigen
Lehrer so viel als möglich zu eigentlichen Gelehrten auszubilden sucht,
ohne auf jene praktische Bestimmung direkt Rücksicht zu nehmen, so er-
fährt der Zug zur rein gelehrten Ausbildung von dieser Seite kaum eine
Beschränkung. Am unbedingtesten setzt sich die Richtung auf rein theo-
retische und universelle Erforschung der Wirklichkeit vielleicht in der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Hälfte der Fakultät durch. In der
philologisch-historischen Abteilung macht sich die Beziehung zu jenem
Die Gebiete, praktischen Beruf wenigstens in der Auswahl des Lehrstoffs geltend: die
Arbeit konzentriert sich, wenn auch im Prinzip die Universalität fest-
gehalten wird, tatsächlich auf das Gebiet geschichtlichen Lebens, das zu
der Aufgabe der Jugendbildung in unseren höheren Schulen nähere Be-
ziehung hat, also das klassische Altertum, das Christentum und die Haupt-
völker der abendländisch-christlichen Zivilisation. Die Gebiete, die, von
diesem Mittelpunkt aus gesehen, peripherisch gelegen sind, finden an un-
seren Universitäten nur eine mehr nebenhergehende Pflege, am meisten
und längsten die semitische und die indische Welt, jene wegen ihrer ge-
schichtlichen Beziehungen zum Christentum und Altertum, diese vor allem
um der Sprachverw^andtschaft willen. Übrigens hat das 19. Jahrhundert
den Kreis immer mehr erweitert; wie die Forschung einerseits in die
Welt des Ostens immer weiter vorgedrungen ist, so hat sie andererseits
die modernen Sprachen und Literaturen beständig fortschreitend in den
Bereich der philologischen Bearbeitung hineingezogen. Geschah es zu-
nächst in rein theoretischer Absicht, so ist in dem letzten halben Jahr-
hundert durch das rasch wachsende Bedürfnis nach wissenschaftlich ge-
bildeten Lehrern der großen lebenden Kultursprachen ihrem Universitäts-
betrieb auch eine praktische Aufgabe zugewachsen. Es erscheint darin
n. Das Studium derGeisteswissensch.in seiner gegenwärt. Gestalt auf d. deutsch. Schulen u.Univ. 295
die mit der steigenden Differenzierung der Nationalkulturen in gleichem
Schritt sich vertiefende Wechselwirkung. In der Angliederung eines
„oriencalischen Seminars" an die Universität Berlin für die praktische Er-
lernung der asiatischen und afrikanischen Sprachen, mit denen Handels-
verkehr und Kolonialwesen uns in immer nähere Berührung bringen,
haben wir die jüngste Wirkung dieser Tendenz. Mit dem Weltverkehr
wächst sich der alte Name der Weltgeschichte immer mehr zur Wahr-
heit aus.
Bemerkt mag noch werden, daß die neuen Gebiete der Philologie
gewisse Verschiedenheiten in den Arbeitszielen mit sich gebracht haben.
Während für die klassische Philologie die Textkritik, d. h. die auf die
Herstellung der verderbt und lückenhaft überlieferten Schriftwerke ge-
richtete Arbeit ein sehr wichtiges Stück der Aufgabe war und ist, tritt
diese für die moderne Philologie, namentlich soweit es sich um gedruckte
Literatur handelt, der Natur der Sache nach durchaus in den Hintergrund.
Dafür stellt hier die Sprache selbst in ihrer geschichtlichen Entwicklung
der Forschung ebenso anziehende als lohnende Aufgaben; und auch die
literargeschichtliche Untersuchung, besonders auch in Absicht auf die
historische Abhängigkeit der Schriftsteller nach Stoff und Form, die Ent-
wicklung der Werke im Geist des Autors und ähnliches ist hier, bei der
Fülle der Überlieferung, eine dankbare Aufgabe. Für die modernen
Fremdsprachen hat sich endlich noch als ein wichtiges Stück der Aus-
bildung auch die Fertigkeit im lebendigen Gebrauch der Sprache durch-
gesetzt.
Was im übrigen den Studienbetrieb anlangt, so zeigt sich der Cha- Der .studien-
= o ' o betrieb,
rakter der philosophischen Fakultät als der eigentlich theoretischen auch die Seminare,
darin, daß er mehr als in den anderen Fakultäten auf die Anleitung zur
selbständigen Beteiligung an der wissenschaftlichen Forschung gerichtet
ist. Die Seminararbeit erreicht hier ihre größte Ausdehnung und Inten-
sität. Ausgehend von der klassischen Philologie, die im Zeitalter des
Neuhumanismus mit der systematischen Heranziehung der Studierenden
zur Erforschung des Altertums voranging, hat sie sich allmählich über das
ganze Gebiet der philologischen Studien und ebenso über die historischen
und staatswissenschaftlichen, in gewissem Maße auch die philosophischen
Gebiete au.sgebreitet. ÜberaU. findet Anleitung zu selbständiger Unter-
suchung von Quellen und Tatsachen statt. In der Regel wird die Arbeit
auf zwei Stufen verteilt, die erste hat die mehr schulmäßige Einführung
in den Gebrauch des notwendigen Handwerkszeugs zur Aufgabe, auf der
zweiten handelt es sich um die mehr oder minder selbständige Bearbei-
tung kleinerer wissenschaftlicher Aufgaben, woraus die Dissertationen
her\orzugehen pflegen, in denen, der Idee nach, die Legitimation zur Mit-
arbeit an der Wissenschaft erbracht wird.
In demselben Maße, als der seminaristische Betrieb an Breite und des"ijoKnia°
Bedeutung gewonnen hat, ist der eigentlich dogmatische Vortrag der ,):l^'^H°s"to?r,che.
2q6 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
Wissenschaften, wie er noch im 1 8. Jahrhundert auch in der philosophischen
Fakultät herrschend war, zurückgegangen. Er findet sich fast nur noch
in den Staatswissenschaften und in der Philosophie; und auch hier ist die
Wendung vom Dogmatischen zum Historischen unverkennbar: die Ge-
schichte der Philosophie htit die Metaphysik und Ethik, die Wirtschafts-
geschichte die theoretische Nationalökonomie, die Staatengeschichte die
allgemeine Staatslehre oder Politik in den Hintergrund gedrängt. Und
noch mehr ist die Abwendung von dem Begrifflich-Doktrinalen auf andern
Gebieten sichtbar. Die Theorie der literarischen Produktion, wie sie früher
unter dem Titel der Rhetorik und Poetik gelehrt wurde, ist so gut wie
ganz verschwunden, statt ihrer haben wir in breitester Fülle Literatur-
geschichte, Kritik und Exegese. Ebenso hat die Theorie der Kunst, die
Ästhetik, der Kunstgeschichte das Feld geräumt. Vielfach wird das Be-
dürfnis einer systematischen Behandlung der Begriffe des Gebiets über-
haupt gar nicht mehr empfunden; man behilft sich mit den Begriffen, wie
sie im Umlauf sind, oder bildet sie, wie sie der augenblickliche Gebrauch
in diesem Material zu fordern scheint. Das Interesse ist durchaus auf die
anschauliche Erkenntnis des Konkreten und seiner geschichtlichen Zu-
sammenhänge gerichtet. Zur Mitarbeit auf diesem Gebiet in Übungen
und Seminaren heranzuziehen, ist gegenwärtig die Seele des geisteswissen-
schaftlichen Unterrichts der deutschen Universität.
vorteUe und Ohne Zweifel hat dieser Unterrichtsbetrieb einen bedeutsamen Vor-
teil; er führt den Studierenden bald zu relativ selbständiger Arbeit, während
der alte dogmatische Unterricht allzu oft ihn rein passiv ließ. Freilich
fehlt es auch nicht an Gefahren; nicht nur, daß das begriffUche Denken
xmd die philosophische Betrachtung leicht unentwickelt bleibt, so verführt
jene Methode auch nicht selten zu einer Art Frühreife und Pseudoproduk-
tivität, die den Studierenden von freier Hingabe an das wissenschaftUche
Studium abzieht und das gemeine Wesen mit einer Last wertloser „Unter-
suchungen" heimsucht: irgendwelcher Schutt wird umgewühlt, aufs neue
durchgesiebt und in Dissertationen und Abhandlungen die Ausbeute zur
Schau gestellt. Indessen, auf Zweifel und Fragen dieser Art will ich
später, am Schluß einer geschichtlichen Darlegung, zurückkommen. Hier
möchte ich noch das Folgende bemerken.
Die Vorlesung. Trotz der eben bezeichneten Entwicklung werden auch heute noch
Klagen erhoben, so von E. Bemheim in Greifswald, daß der Universitäts-
unterricht die Studierenden allzu sehr dem bloß passiven Hören und Auf-
nehmen überlasse; es wird gefordert, daß die Vorlesung überhaupt auf die
Rolle einer bloßen ersten Einführung in den Gegenstand sich zurückziehe
und der Schwerpunkt von Anfang an in die Übungen verlegt werde. So
sehr jede Ausdehnung selbständiger Arbeit bis in die ersten Semester
hinein Billigung verdient, so wird meines Erachtens von Bemheim die
Bedeutung der Vorlesung stark unterschätzt; der zusammenhängende Vor-
trag seiner Disziplin könnte dem Universitätslehrer nicht aus der Hand
in. Der geisteswisscnsch.Untcrr. i. seiner geschichtl. Entwickl. u. d. Schwierigk. d. gegenwärt. Lage. 297
genommen werden, ohne den Unterricht wichtigster Kräfte zu berauben
und ihn geradezu zu degradieren. Die Unzuträglichkeiten, die ohne Mangelnde
Zweifel hier vorhanden sind, scheinen mir nicht in der Natur der Vor-
lesung zu liegen, sondern teils in dem Stoif: die Arbeitsgebiete der Philo-
logie und Geschichte haben nicht den Vorteil der inneren und systemati-
schen Abgeschlossenheit und des natürlichen Stufengangs, wie die der
anderen Fakultäten, daher die Gefahr des Irregehens und sich Verlierens
hier größer ist; teils aber auch in dem Mangel an äußeren Mitteln und
Hilfskräften. In den medizinischen und naturwissenschaftlichen Gebieten
nimmt von Anfang an ein Institut, mit Lehrmitteln und Lehrkräften aus-
gestattet, den Studierenden auf; ein Stab von Assistenten und Kustoden,
mit dem der Vorsteher des Instituts umgeben ist, nimmt sich des Suchen-
den an und leitet ihn zum Verständnis und zur Arbeit. Die geisteswissen-
schaftlichen Studien, früher in Absicht auf den Studienbetrieb voranstehend,
sind jetzt, man wird es sich nicht verhehlen können, ins Hintertreffen ge-
raten; der Aufwand für Lehrmittel, Büchersammlungen, Seminareinrich-
tungen und ebenso auch der Aufwand für persönliche Lehrkräfte hat mit
dem Aufwand für den naturwissenschaftlichen Unterricht nicht von ferne
gleichen Schritt gehalten. Es wird eine nicht unwichtige Aufgabe der
Unterrichtsverwaltung sein, hier Abhilfe zu schaffen. Vielleicht können
wir in diesem Punkt von den amerikanischen Universitäten lernen, sie
stellen auch für die geisteswissenschaftlichen Studien dem Professor die
nötigen Hilfskräfte zur Verfügung, um den Unterricht durch Besprechungen,
Wiederholungen, Ausarbeitimgen fruchtbar zu machen.
in. Der geisteswissenschaftliche Unterricht in seiner ge- Geschichtliche
,.,,., -r- .,, .« Entwicklung des
schichtlichen Entwicklung und die Schwierigkeiten der gegen- Studienbetriebs,
wärtigen Lage. Zwei Formen des Unterrichts hat es, wie schon bemerkt,
in den Geisteswissenschaften von jeher nebeneinander gegeben: den dog-
matischen und den historisch-exegetischen. Die Verschiebung ihres
Verhältnisses gegeneinander macht eigentlich die Geschichte dieses Unter-
richtsbetriebs aus und bestimmt seine Gestalt in der Gegenwart. Man
kann die Nöte unserer Zeit nicht verstehen, ohne auf die Vergangenheit
zurückzugehen.
Am Anfang stand die dogmatische Behandlung durchaus an erster Mittelalter.
Stelle. An den mittelalterlichen Universitäten handelte es sich vor
allem und zuerst um die Überlieferung und Einübung eines geschlossenen
begrifflichen Lehrsystems von gebotener und anerkannter Geltung. Das
theologische Studium, das die krönende Spitze des gesamten Wissenschafts-
betriebs bildete und schon dadurch formgebend auch auf die übrigen Stu-
dien zurückwirkte, war seiner Natur nach dogmatisch: seine Aufgabe nicht
die Entdeckung neuer Tatsachen oder Wahrheiten, sondern die wissen-
schaftliche Bearbeitung der ihrem Inhalte nach gegebenen Kirchenlehre.
Ein eigentlich geschichtliches Studium lag ganz außerhalb des Gesichts-
2q8 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
kreises des durchaus dogmatisch gerichteten Zeitalters. Freilich fand man
sich auf die Schrift und die Väter und damit auf die Interpretation und
Geschichte hingewiesen; aber die Behandlung war auch hier nicht histo-
risch und philologisch, sondern dogmatisch: sie ging darauf aus, aus der
Schrift, den Vätern, den Kommentatoren durch Anführung von Beweis-
stellen die Wahrheit des eigenen dogmatischen Systems zu erhärten. Ein
ähnliches Verfahren war in der Jurisprudenz herrschend: auch hier Glos-
sierung und Kommentierung von Texten in rein dogmatischer Absicht.
Und auch die beiden andern Fakultäten begründeten in derselben Weise
auf kanonische Texte ein dogmatisches System, die philosophische oder
artistische im besonderen auf die Schriften des Aristoteles, die in den
Vorlesungen kommentiert und systematisiert wurden. Auch die Disputa-
tionen, die neben den Prälektionen das zweite Stück des Unterrichts aus-
machten, zeigen ganz denselben Charakter; sie hatten die Aufgabe, zur
Auflösung von Schwierigkeiten und der Widerlegung falscher Ansichten
auf Grund des vorausgesetzten Wahrheitsbesitzes anzuleiten.
i6. und 17. Jahr- Auch die Neuzeit änderte hierin während der beiden ersten Jahr-
hunderte noch nichts Wesentliches. Die Renaissance und die Reformation
führten zwar beide tiefer in das philologisch-historische Studium ein, aber
nach ihrem innersten Geist und Wesen blieben beide dogmatisch gerichtet:
sie haben beide einen geltenden Kanon. Die Renaissance hatte einen
Kanon der künstlerischen und literarischen Vollkommenheit, nämlich an
den Werken der Alten. Im Unterricht stellte sie sich, soweit sie denn
überhaupt durchgedrungen ist, nicht die Aufgabe, zum historischen Ver-
ständnis, sondern zur „Imitation" zu führen; die Werke der Alten als Muster
erfassen und nachbilden, darauf war das Studium durchaus gerichtet, in
der neulateinischen Poesie und Prunkberedsamkeit haben wir seine Früchte.
Und noch strenger gilt das von der Reformation; sie hatte an der Bibel
den Kanon des Glaubens und der Lehre; eben darum war die Auslegung
der Bibel, auf der Universität wie in der Volksschule, nicht historisch,
sondern dogmatisch. Dazu kam noch ein Moment: der Universitätsunter-
richt wurde jetzt strenger als früher auf das praktische Ziel gerichtet:
tüchtige und in der rechten Lehre wohl befestigte Prediger und Lehrer,
bald auch fähige und des römischen Rechts kundige Richter und Beamte
des modernen Staats zu bilden. Die freie Wahrheitsforschung lag den
Universitäten dieser Zeit kaum näher als dem Mittelalter; eher versteifte
sich mit dem Konfessionalismus auch die dogmatische Tendenz. Und
ebenso behielt der philosophische Unterricht, der auch jetzt nicht über die
Bedeutung eines propädeutischen allgemeinwissenschaftlichen Studiums
hinausging, die überlieferte Gestalt; die gebundene Lehrnorm blieb durch-
aus herrschend.
18. Jahrhundert. Erst das achtzehnte Jahrhundert hat den großen Umschwung im
Leben der deutschen Universitäten gebracht: der Glaube an kanonische
Bücher und Lehrautoritäten fiel, die eigene Vernunft wurde als alleinige
ni. Dergeisteswissensch.Untcrr.i.seincrgeschichtl.Entwickl.u.d.Schwierigk.d. gegenwärt. Lage. 2QQ
Quelle der Wahrheit anerkannt. Allerdings wurde an dem dogmatischen
Lehrbetrieb auch hierdurch zunächst nicht viel geändert. In der Philo-
sophie trat an die Stelle der aristotelischen eine neue dogmatische Schul-
philosophie, die Wolffische, mit ihren „vernünftigen Gedanken", das heißt
aus der Vernunft mit logischer Notwendigkeit aus ersten Begriffen abge-
leiteten Lehrsätzen. In der Jurisprudenz gewann das „Naturrecht", in der
Theologie die „Vernunftreligion" gegenüber der alten auf Offenbarung ge-
stützten Dogmatik anerkannte Geltung, beide wieder dogmatische und
dogmatisch lehrbare Systeme „ewiger Wahrheiten". Allerdings war damit
in der Theologie für eine philologisch-historische Behandlung der biblischen
Bücher Freiheit geschaffen; sie beginnt in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts als „Bibelkritik" hervorzutreten. Und ebenso beginnt mit Win-
ckelmann und Heyne ein geschichtliches Studium des Altertums. Im
ganzen ist doch kein Zweifel, daß das Interesse des „philosophischen Jahr-
hunderts" nicht der historischen, sondern der Vernunfterkenntnis in erster
Linie zugewendet war. Ja vielleicht haben bloß „historische" Wahrheiten
zu keiner Zeit tiefer im Kurs gestanden als zur Zeit der Aufklärung. Be-
merkenswert sind in dieser Absicht auch die zahlreichen Versuche, die
Geschichte selbst in ein Sy.stem einsehbarer Vernunftwahrheit zu bringen,
denn so darf man die auf eine „Philosophie der Geschichte" gerichteten
Bestrebungen von Lessing und Kant bis auf Fichte und Hegel wohl
nennen.
Im neunzehnten Jahrhundert hat sich endlich ein nochmaliger großer iq. j.-ihrhundert,
Wendung zum
Umschwung vollzogen, das ist die Wendung vom Dogmatisch-Ratio- Historischen,
nalen zum Historischen; und durch diesen Umschwung ist die große
Wandlung im geisteswissenschaftlichen Unterricht herbeigeführt worden,
die schon oben angedeutet wurde: die Zurückdrängung des dogmatischen
Unterrichts durch die Einführung in die geschichtliche Betrachtung.
Das IQ. Jahrhundert beginnt mit dem großen .Stimmungsumschlag
gegen die „Aufklärung", den wir Romantik nennen. Die mit Herder
einsetzende Reaktion gegen den abstrakten und unhistorischen Rationalis-
mus, die ästhetisch-religiöse Sehnsucht nach dem Positiven und Konkreten,
die neuhumanistische Begeisterung für das klassische Altertum, die Schwär-
merei für die Natur, für das Volkstümliche und Ursprüngliche, das Altertüm-
liche und Ferne, endlich auch die politisch-kirchliche Reaktion gegen den
rationalistischen Radikalismus der Revolution, alles das wirkte zusammen,
um die große Umstimmung hervorzurufen, die das saeculum historicum von
dem saeculum philosophicum scheidet. Selbst die Philosophie wendete sich
von dem Rationalen zum Historischen, von der Natur zum Geist, wie er
im geschichtlichen Leben sich auswirkt; die .spekulative Philosophie ersetzt
die an der Mathematik und Mechanik orientierte altrationalistische Denk-
weise durch die an dem Organischen und Geschichtlichen orientierte dia-
lektisch-evolutionistische Betrachtung, die auch die Vernunft und die Wahr-
heit selbst als ein Werdendes faßt In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
•lOO Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
ist dann die geschichtliche Forschung' mehr und mehr in die Breite ge-
wachsen. Und selbst in die Naturwissenschaften hat die historisch-gene-
tische Betrachtung'sweise ihren Einzug- gehalten.
Anteil der Die dcutschcn Universitäten haben an dieser großen Wandlung des
deotschon Uni- , ■, r -i- -i r\ i iai« • 11 1 \
versitäton. wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens emen sehr hervorragenden An-
teil g'ehabt. Im Bunde mit der Philologie, die immer neue Arbeitsgebiete
in Anbau nahm, machte sich die Geschichte an die Aufgabe, die Erkennt-
nis der Vergangenheit unabhängig von abgeleiteten Darstellungen zu
machen und allein auf die ersten Zeugnisse zu stellen, Akten, Urkunden,
Denkmäler, Quellen aller Art. Es begann die systematische Durchforschung
aller Archive, die Absuchung- aller Länder nach Denkmälern und Inschriften,
die Umwühlung der Erde nach Überresten der Vergangenheit, wie sie bis
auf diesen Tag mit immer vermehrten Kräften und unvermindertem Eifer
fortgesetzt wird. Man darf die Gesamtheit der deutschen Universitäten
als die Zentrale aller dieser Unternehmungen zur Erforschung alles ge-
schichtlichen Lebens auf Erden bezeichnen. Hier vor allem werden die
Arbeitsziele abgesteckt, die Methoden ausgebildet und fortgepflanzt, die
Kräfte geschult, die dann in allen Ländern am Werke sind.
Revolution der Die phüosophische Fakultät steht dabei in der vordersten Reihe, ihre
geschichtlichen . _-, ^
Weltansicht, wissenschaftliclien Seminare sind die Stätten, wo die Forschergenerationen
sich die Hand reichen, um die Kontinuität der Arbeit zu sichern. Sie
hat sich dadurch, früher die untere und propädeutische Fakultät, zur füh-
renden emporgeschwungen, wie es denn auch in ihrem äußern Wachstum
zur Erscheinung kommt. Aber auch die erste und zweite Fakultät sind
dem Zuge der Zeit zur historischen Forschung gefolgt. In der Theologie
hat an Stelle der Dogmatik die historische Erforschung der Denkmäler
des christlichen Glaubens und Lebens den ersten Platz wie in der wissen-
schaftlichen Arbeit und in der allgemeinen Teilnahme, so auch im Unter-
richt erobert. Und in der Jurisprudenz ist derselbe Umschwung zu be-
obachten; die „historische" Schule, die hier das Naturrecht aus seiner alten
Geltung verdrängte, hat der Forschung neue Aufgaben gestellt und die
Einsicht in das geschichtliche Werden des Rechts, des römischen und vor
allem des germanischen Rechts, ungemein erweitert und vertieft. Und
auch hier ist der Unterricht der Wissenschaft gefolgt, auch er hat die
Wendung vom Dogmatischen zum Historischen mitgemacht, wenngleich
hier die drängenden Forderungen der Praxis der akademischen Tendenz
am fühlbarsten Schranken setzen.
Der Erfolg dieser Arbeit ist ein erstaunlicher g-ewesen; das ig. Jahr-
hundert hat eine unermeßlich erweiterte Ansicht von dem geschichtlichen
Leben gewonnen. Man darf die Revolution, die es in der geschichtlichen
Weltansicht bewirkt hat, neben die Revolution stellen, die das i6. und
17. Jahrhundert in der physischen Weltansicht hervorgebracht haben. Der
enge Horizont der alten biblisch-klassizistischen „Weltgeschichte" ist wie
ein Nebelschleier zerrissen und der Blick reicht in unermeßliche Tiefen.
III. Der geisteswisscnsch.Unterr. i. seiner geschichtl. Enhvickl. u. d. Schwierigk. d. gegenwärt. Lage. 30 1
Und wo die Geschichte nicht weiter sieht, da öffnet die prähistorische
Forschung eine neue Aussicht, und wo auch diese am Ende ist, da gibt
die biogenetische Betrachtung den Ausblick in weitere dämmerige Fernen,
indem sie das geschichtliche Leben in das Leben der Erde und zuletzt
in das kosmische Leben hineinversenkt erscheinen läßt.
Damit steht dann aber eine weitere höchst bedeutsame Wandlung im
Zusammenhang: die Verdrängung der dogmatischen und absolutistischen
Denkweise durch eine historische und relativistische. Eine frühere Zeit
glaubt an die Möglichkeit, überall, in der Theologie, in der Metaphysik,
in der Ethik, im Naturrecht, bis herab zur Rhetorik und Grammatik, zu
absoluten oder ewigen Wahrheiten zu kommen. Der Gegenwart da-
gegen stellen sich alle menschlichen Dinge als geschichtlich gewordene
und im Fluß des Werdens befindliche dar, wie die Sprache, so auch das
Recht und die Religion. Und damit schwinden die ewigen Wahrheiten.
So wenig unsere historische Sprachwissenschaft grammatische Gesetze
von absoluter Gültigkeit kennt, so wenig gibt es für die historische
Rechts- oder Religionswissenschaft die „ewigen Wahrheiten" des alten
Xaturrechts oder der alten Dogmatik. Wie die Sprache, so sind Religion
und Recht ein ewig Werdendes, ein zeitlich Bedingtes und darum nicht
durch absolute Formeln zu Erfassendes oder zu Bindendes. Alle Formeln
sind ein bloß Provisorisches, es gibt kein dcfinitivum.
Es ist der „historische Sinn", auf dessen Ausbildung das 19. Jahr- "i^.^"^''"";''^*''
hundert stolz ist, der so spricht; er relativiert mit Notwendigkeit alle Reiativismas.
Wahrheiten anf diesem Gebiet; die Bedingtheit oder Zufälligkeit alles
Geltenden ist sein Grundprinzip. Das Vergangene verstehen als ein an-
deres und doch als ein unter den gegebenen zeitlichen und nationalen
Verhältnissen Notwendiges und Berechtigtes, so fordert es der historische
Sinn, wie in der Poesie und Kunst, so in der Religion und im Recht.
Er nimmt damit zugleich dem gegenwärtig Anerkannten die absolute
Geltung; ist es doch auch ein geschichtlich Bedingtes und also ein Ver-
gängliches. Freilich, das Zukünftige, wodurch das gegenwärtig Geltende
ersetzt werden wird, sehen wir nicht in concreto; und insofern stellen
unsere Anschauungen und Gedanken sich uns notwendig als die ab-
schließenden dar. Aber doch können wir uns dem übermächtigen Eindruck
der allgemeinen Vorstellung nicht entziehen: alles fließt, es gibt im ge-
schichtlichen Leben nichts absolut Festes, auch nicht in der Wissenschaft,
es gibt nur „historische Kategorieen", fließend wie die Dinge selbst. Bis
in die Physik und selbst in die Mathematik hinein läßt sich der Einfluß
dieser veränderten Denkweise verfolgen: die Begriffe nicht starre Kopieen
starrer Wesenheiten, sondern Werkzeuge der Auffassung des W^irldichen,
die, wie dieses selbst, beständig der Veränderung, der verbessernden An-
passung unterliegen.
Von hier aus komme ich nun auf die Schwierigkeiten zurück, die Schwierigkeit
*^ dor neuen Lage
der geisteswissenschaftlichen Ausbildung aus der neuen Lage erwachsen.
702 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
Es ist kein Zweifel, daß namentlich für diejenigen, die in der Folge nicht
zur Forschung, sondern zur praktischen Wirksamkeit im Leben berufen
sind, die alte dogmatische Verfassung der Wissenschaft und des akademi-
schen Unterrichts in mehr als einer Hinsicht einen sichreren und be-
quemeren Weg bot. Vor allem machte sie es dem Jünger der Wissen-
schaft leichter, einen festen Standpunkt zu gewinnen, zu „notwendigen Ge-
danken" zu kommen. Sind solche die Unterlage für sicheres Urteil, feste
Entschließung und kräftiges Handeln, so muß man sagen, das ig. Jahr-
hundert mit seiner historischen Forschung und Kritik, mit seinem „histori-
schen Sinn" hat die Aufgaben imgemein erschwert.
inderTheoiogie, Am Unmittelbarsten und lebhaftesten wird das. wohl von den Theo-
logen gefühlt, die mit der neuen „historischen Bildung" ins Amt eintreten.
Früher brachten sie von der Universität ein abgeschlossenes und befestigtes
System mit; jetzt werden sie in die Geschichte und Kritik, in alle Probleme
und Zweifel, in das brandende Meer rastlos auf und abschwankender historisch-
kritischer Untersuchungen und Meinungen hineingestoßen: nirgends ein
sichrer Hafen mit festem Ankergrund, alles ewig- wieder in Frage gestellt;
was gestern die „Wissenschaft" definitiv ausgemacht zu haben schien, man
denke an die neutestamentliche Kritik der Tübinger Schule, wird heute
wieder in Zweifel gezogen und bekämpft und morgen ist es antiquiert und
abgetan. So ist es mit dem Wesen der historischen Forschung' gegeben.
Für eine Kirche, die absolute Heilsgewißheit geben will, für einen Geist-
lichen, an dessen Gewißheit sich der Glaube anderer aufrichten soll,
scheint solche „Wissenschaft" allerdings eine mißliche Grundlage. Man
kann es verstehen, daß die katholische Kirche es ablehnt, diesen Weg zu
gehen; sie ist dogmatisch geblieben und will nicht „historisch" werden,
und darum hält sie auch an dem dogmatischen Grundcharakter des Stu-
diums fest: ein entschiedener Glaube oder wenigstens ein resoluter Ent-
schluß zum Gehorsam, der sich an die dogmatisch festgelegten Tatsachen
und Formeln hält, erscheint ihr wichtiger als historisches Wissen und die
Fähigkeit zur kritischen Untersuchung. Und es- hat in der protestantischen
Kirche zu keiner Zeit an Leuten gefehlt, es fehlt auch heute nicht an
ihnen, die mit Neid auf die andere Kirche, ihren autoritativ befestigten
Wahrheitsbesitz und ihren des Zweifels und der Kritik überhebenden
Unterricht blicken.
iu der Lehrer- Ähnliche Schwierigkeiten fehlen doch auch auf anderen Gebieten
bildung. . °
nicht ganz. Am wenigsten vielleicht werden sie in der Jurisprudenz
gefühlt; hier gibt die jedesmal geltende Rechtssatzung dem Richter und
Beamten wenigstens äußerlich den festen Standort, von dem aus zu wirken
ist. Freilich gibt sie keine Gewißheit ihrer inneren Notwendigkeit; aber
da hier kein Glaube, keine innere Überzeugtheit gefordert wird, so ist
auch der Zweifel weniger peinigend. Viel mehr macht sich die Schwierig-
keit dem Lehrer und Jugendbildner fühlbar. Wo sind die festen Ziele,
wo die sicheren Mittel der Wirksamkeit? Früher hatte die Schule an der
m. Der geisteswissensch.Unterr. i. seiner geschichtl. Entwickl. u. d.Schwierigk. d. gegenwärt. Lage. ^03
Kirchenlehre und andererseits an dem klassischen Altertum und seinen
kanonischen Werken ihre festen Grundlagen und Ziele; in der modernen
Pädagogik ist der Boden überall schwankend. Freilich gibt es offizielle
Ordnungen, aber auch hier wird, was heute gilt, morgen in den Ofen ge-
worfen; ist doch die durchschnittliche Lebensdauer der Lehrpläne für die
höheren Schulen neuerdings auf unter zehn Jahre herabgegangen. Woran
soll sich der denkende Mann halten? Immer an die letzte Lehrordnung,
wie der Richter an die letzte Gesetzgebung? Wenn es sich hier nur
nicht um so viel tiefere und innerlichere Dinge handelte.
Und weiter, wie steht es um die wissenschaftliche Ausstattung, die Maaijei m
-•,■ . ,. ...... Ol- -1 1*1 Geschlosseolicit
em junger Mann von emem vier- bis sechsjährigen Studium in der philo- derAnschauung.
sophischen Fakultät in die Schule mitbringt? Im besten Fall, so lassen
sich längst mißgünstige Stimmen vernehmen, hat der Studierende der
Philologie oder der Geschichte an irgend einem Punkt „wissenschaftlich"
arbeiten gelernt; vielleicht hat er in einer um ihrer Erudition und Saga-
zität willen belobten Dissertation das Verhältnis von ein paar historischen
Quellenschriften festgestellt oder doch untersucht, denn der nächste bringt
wieder etwas anderes heraus; oder er hat Beobachtungen über den Sprach-
gebrauch dieses oder jenes berühmten oder unberühmten Autors, seine
Versmaße oder seine Anakoluthieen zusammengetragen, oder er hat stati-
stische Beobachtungen über das Vorkommen und die Verbreitung einer
Erzählung oder eines Sprichworts in einer bestimmten Periode gemacht usw^.
Dazu hat er einen größeren oder kleineren Besitz an Kenntnissen von
historischen Tatsachen und Büchern und, nicht zu vergessen, von Mei-
nungen über die Tatsachen und Bücher angesammelt. Aber an Weisheit,
an Einsichten und Überzeugungen, mit denen man wirken kann, mit denen
man es auf Leben und Sterben wagen mag, was bringt er mit? Hat er
überhaupt Überzeugungen, hat er einen Glauben, wie ihn ehemals die
theologische Dogmatik, hat er eine feste und einheitliche Welt- und Lebens-
anschauung, ein System „vernünftiger Gedanken", wie die Philosophie
Wolffs oder Kants sie als unverherbaren Besitz mitgab? Oder hat er
wenigstens ein konkretes Lebensideal, wie es der Jünger der humanisti-
schen Altertumswissenschaft früher von der Universität mitbrachte? Ist
er nicht am Ende durch all die betriebsame Vielgeschäftigkeit der „wissen-
schaftlichen Forschung" abgehalten worden, mit den für den Menschen
und den Lehrer eigentlich wichtigen Dingen sich überhaupt zu beschäf-
tigen? Geht's uns nicht wirklich manchmal wie jenen, von denen der
Apostel sagt: „lernen immerdar und können nimmer zur Wahrheit kommen"?
Wer von dieser Not etwas gesehen und empfunden hat, der kann es doch
auch heute noch verstehen, warum das 18. Jahrhundert nach „Vemunft-
wahrheiten" so begierig war und bloß historische Wahrheiten so gering
anschlug. In der Tat, welchen Gewinn bringt es für die Seele, wenn nun
jemand von dem Bestand und dem Abhängigkeitsverhältnis aller griechi-
schen und römischen Codices, oder von den Wandlungen aller Buchstaben
-r,A Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
in allen Dialekten der englischen und deutschen Sprache Bescheid weiß?
oder wenn er über alle Meinungen Auskunft geben kann, die jemals über
diese oder jene Stelle der Schrift oder die Abfassungszeit und die Ver-
fasser aller biblischen Bücher aufgestellt worden sind? Denn so liegt doch
die Sache: an keinem Punkt hat es die Wissenschaft auch nur in diesen
Dingen zur Gewißheit gebracht; vielmehr hat sie die Sicherheit fast überall,
wohin sie dringt, zerstört, indem sie das Ansehen des textus rccepfus er-
schütterte oder die Überlieferung als faile convenue beanstandete, ohne
doch etwas Festes und Definitives an die Stelle setzen zu können. Und
so geschieht es, daß das immermehr anwachsende Material, der Schwall
von Untersuchungen und Meinungen durch seine bloße Masse die Sache
selbst erstickt und zuletzt alles Interesse an ihr ertötet. Es ist, wie
Nietzsche sagt, daß die Geschichte nur von starken Persönlichkeiten er-
tragen wird, die schwachen löscht sie vollends aus.
Historismus und Die altc klassische Altertumswissenschaft, die ließ sich noch ertragen;
se.ue Folgen, g^j^^^^^ ^-^ AlleinherTScherin war, hatte man den Vorteil, in beschränktem
Kreis mit nicht gar zu umfangreichem Material zu arbeiten; hier konnte
jemand heimisch werden und das Gefühl einer gewissen Sicherheit er-
langen; dazu hatte er den Glauben an die einzige Größe und Vortrefflich-
keit des Gegenstandes. Durch die rastlose Arbeit der Wissenschaft im
letzten Jahrhundert hat sich das alles verändert, der Kreis des Altertums selbst
ist ins Unermeßliche erweitert, die Quellen zur Erkenntnis seiner Sprache,
seiner Literatur, seiner Geschichte, seiner Beziehungen, sind ins Unüber-
sehbare gewachsen. Und nun gar die neue Völkerwelt; hier geht jede
Untersuchung gleich ins Grenzenlose; das Quellenmaterial häuft sich berge-
hoch und jedes Jahr bringt neue Massen von Editionen, Urkunden, Mate-
riaUen, Erinnerungen, Untersuchungen. Das Entsetzen des Zauberlehrlings
über die Geister, die er rief, ist wohl von jedem, der hier mitarbeitete,
nachempfunden worden. Und immer ist noch kein Ende abzusehen, die
Flut steigt rascher und immer rascher, je mehr die „Forschung" sich der
Gegenwart nähert. Was sollen unsere Nachkommen in hundert Jahren machen,
wenn sie erst die Verhandlungen der hundert Parlamente und Parteitage, und
den tausendstimmigen Chorus der Zeitungen dazu aufzuarbeiten haben werden?
Und doch drängt der Wissenschaftsbetrieb unaufhaltsam dazu. Mit demselben
Hunger, mit dem das Kapital neue Exploitationsgebiete sucht, wenn die alten
abgebaut sind, sucht die „Wissenschaft" neue Forschungsgebiete, Gebiete,
wo auch etwas zu machen ist. Ob dabei wertvolle Einsichten zu gewinnen
sind, einerlei, wenn sich nur Gelegenheit bietet, „etwas zu machen", seinen
Fleiß, seinen Spürsinn, seine Methode ans Licht zu stellen. Auch die
Naturwissenschaften fühlen die Beschwerde des unablässigen Indiebreite-
wachsens, doch haben sie den Vorteil, daß ihre Arbeit unmittelbar zu den
Dingen selbst führt und auch in der Beziehung zur Technik, zur schaffen-
den Tätigkeit ein Maß und Korrektiv hat. In den historischen Wissen-
schaften sind die Objekte der Forschung Bücher und Meinungen, und
TTT Der geistcswisscnsch. Unterr.i. seiner geschieht!. Entwickl. u. d. Schwierigk. d. gegenwiirt. Lage. 305
wieder Bücher und Meinungen. Und unter all dem Papier drohen die
Dinge .selbst verloren zu gehen.
Wie sollen wir uns retten? Durch Auszüge und Übersichten? durch
zusammenfassende Bearbeitungen und ins Allgemeine strebende Dar-
stellungen? Offenbar verdanken die neuerdings sich mehrenden Versuche
zusammenfassender, die Geschichte unter Begriffe und Ideen stellender
Bearbeitung ihre Entstehung dem Empfinden, daß es mit dem ewigen
Sammeln und Stoffanhäufen nicht weiter geht, daß dabei die Geschichte
zuletzt sich selbst ad absurdum führt, alle Möglichkeit eines Wissens von
den Dingen durch das Drum und Dran erstickend. Aber nun tritt ein
Anderes und Seltsames hervor: in der Geschichte ist es zuletzt doch das
Einzelne, das ganz Besondere und Persönliche, das lebendige Teilnahme
erregt. Die Geschichte wird erst interessant, wenn man ins Detail geht;
die Übersichten, die Zusammenfassungen, die Schematisierungen, sie werden
bald matt und langweilig. Es i.st die wunderliche Antinomie des histo-
rischen Studiums: geht es aufs Einzelne, so zeigt sich dieses endlos, un-
erschöpflich, der Wissenschaft unerreichbar; geht es aber auf das Allge-
meine, so entbehrt es der Anziehungskraft, die nur das Individuelle und
Persönliche hat.
Das ist die Lage. Ich glaube auszusprechen, was in weiten Klreisen Müdigkeit
empfunden wird: die enthusiastische Arbeitsfreudigkeit, womit das junge
ig. Jahrhundert an die philologische und historische Forschung ging, ist
vielfach einer müden, resignierten Stimmung gewichen: die Geschichte ein
Labyrinth ohne Ausgang, die Forschimg hier eine Arbeit ohne Ende, ohne
feste und abschließende Ergebnisse. Vielleicht ist der Glaube an die
Wissenschaft überhaupt im Zurückgehen, rascher doch wohl der Glaube
an die historischen als an die Naturwissenschaften. Nietzsche, der
Philolog, reflektierte in jugendlichen Jahren über den „Nutzen und Nach-
teil der Historie", um sich bald, enttäuscht von der hoffnungslosen Müh-
sal, von Grauen erfaßt über die „Schlaflosigkeit", womit der historische
Sinn das Leben schlage, zur Philosophie, zur Prophetie zu wenden. Und
Nietzsche ist, was immer er sonst sein mag, auf jeden Fall ein guter
Exponent der Zeitstimmungen. Das „saeculum historicum" scheint im Ab-
laufen. Das Verlangen nach lebendigen, starken und tiefen Gedanken,
nach persönlichen Überzeugungen, nach einem Glauben regt sich überall.
Es ist mit dem Verlangen nach Kunst verwandt, das wieder durch die
Seele der Völker geht: wir können nicht leben von der Wissenschaft,
von der Historie, von der Kritik, von der Quellenuntersuchung, von der
„Andacht zum Kleinen", kurz von dem, was man in jüngster Zeit den
„Großbetrieb der Wissenschaft" nennt, und was in Wahrheit der Fabrik-
betrieb ist.
Was sollen wir also tun? Umkehren von der historischen Betrachtung rmkehr zum
J )0)^matisinus
der Dinge und wieder in die Dogmen und Formeln eines Kirchenglaubens unmöglich.
oder einer Schulphilosophie hineinschlüpfen? Wenn es nur möglich wäre.
Die Kultur der Gbobswart. 1. 1. *0
5o6 Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
Aber es ist nicht möglich, kann auch ein Mensch wiederum in seiner
Mutter Leib gehen? Wir können nicht aus der Weite des historischen
Gesichtskreises in die Enge eines unhistorischen, dogmatischen Systems
zurück. Und wenn wir es könnten, wir wollten es nicht. Wir wollen
nicht auf den „historischen Sinn", auf das freie Verständnis und die freie
Würdigimg für alle menschlichen Dinge verzichten. Wir wollen nicht
zu der dogmatischen Denkweise zurückkehren, zu der mit ihr gegebenen
harten Ausschließlichkeit, zu der verständnislosen Gleichg-ültigkeit gegen
die Mannigfaltigkeit und den Reichtum des geschichtlichen Lebens, end-
lich nicht zu dem dumpfen Fanatismus, wie er auf dem Boden des un-
historischen Denkens erwächst, mag das Dogma als die Lehre einer allein
seligmachenden Kirche oder als die orthodoxe Formel eines Schulsystems oder
als das Parteiprogramm des jederzeit neuesten rationalistischen Radikalis-
mus uns entgegentreten. Das unbefangene Verständnis für die unendlich
vielgestaltige Eigentümlichkeit menschlicher Lebensbildungen, die eine
Reduktion auf einige dürftige Formeln nicht ertragen, und anderseits die
praktische Einsicht, daß geschichtliches Leben nur in stetiger und konti-
nuierlicher Entwicklung sich erhalten kann, daß, wie ein starrer Konser-
vatismus lähmend, so ein unhistorischer Radikalismus zerstörend, nicht auf-
bauend wirkt, das ist der Gewinn, den das ig. Jahrhundert der Vertiefung
in die historische Forschung verdankt und den wir nicht wieder fahren
lassen können und wollen.
Teilnahme an Und darum können und wollen wir auch die Ausbildung der akade-
unentbehrlich, mischcn Jugcnd nicht wieder auf den enggebundenen dogmatischen Unter-
richt zurückführen. Ist historisches Studium die notwendige Voraussetzung
für die Erlangung historischer Perspektive, der Weg auch zur Bildung
jener echt humanistischen Gesinnung, der nichts Menschliches fremd ist,
so ist sie damit als notwendig erwiesen. Und ein eigentliches historisches
Studium ist wieder nicht denkbar ohne ein Eintreten in die Arbeit der
Forschung: ein dogmatisches System kann man lernen, Geschichte kann
nicht gelernt werden, das Verständnis geschichtlichen Lebens will von
jedem einzelnen neu erarbeitet sein. Ob bei seiner Arbeit ein bleibender
Gewinn für die Wissenschaft herauskommt, das kommt erst in zweiter
Linie in Betracht; das Erste und Wesentliche ist der Gewinn für den Stu-
dierenden selbst. Wobei wir uns übrigens doch erinnern wollen, daß
Wissenschaft überhaupt nicht wie ein fertiges, ruhendes Besitztum, wie
eine aufgespeicherte Ware Wert hat, sondern nur als lebendige Kraft des
Erkennens, mag sie nun in der Betrachtung und Forschung oder in der
Lösung praktischer Lebensaufgaben betätigt werden. „Der Baum der
Wissenschaft trägt wie der der Hesperiden seine goldenen Äpfel nur für
den, der sie sich selbst bricht; anderen kann man sie zeigen, aber nicht
geben." Das Wort Mommsens gilt von allen Wissenschaften, am meisten
doch von der Geschichte. Wie die Geschichte unter allen Wissenschaften
am wenigsten ein Fertiges und Vollendetes ist, so ist ihr Wert am wenig-
in. Dergeisteswissensch. Unterr. i. seiner geschichtl. Entwickl. u. d. Schwierigk. d. gegenwärt. Lage. 307
sten auf das aufbewahrte Besitztum, am meisten auf die lebendige Energie
des Erkennens und Verstehens menschlicher Dinge gestellt. Dient hierzu
dem Studierenden seine Arbeit, so ist sie damit gerechtfertigt. Es ist
kein Vorwurf für eine philologische oder historische Dissertation, daß sie
nicht ein ewiger Schatz für die Wissenschaft ist; hat sie dem, der sie
machte, den BUck für geschichtliches Leben geschärft, hat sie ihn an
irgend einem Punkt in lebendige und intime Berührung mit dem geistigen
Leben und seinem Werden und zugleich mit der wissenschaftlichen Arbeit
der Gegenwart gebracht, so hat sie geleistet, was ihre Bestimmung war.
Ein Lot selbsterarbeiteter geschichtlicher Erkenntnis ist mehr als ein
Zentner gelernter: durch jene lernt man geschichtlich denken und Ge-
schichte verstehen. Und nun kann man weiter sagen: die philologisch-
historische Forschung kann in Gang erhalten werden nur durch um-
fassende Unternehmungen, in deren Bearbeitung die Kräfte entwickelt,
geschult, geprüft und bewährt werden; ohne große im ständigen Betrieb
und Abbau befindliche Gruben steht der Bergbau der Wissenschaft still.
Gilt das wieder von jeder Wissenschaft, so gilt es doch wieder besonders
von der Geschichte: sie setzt, um lebendig zu bleiben, einen stetigen
Arbeitsbetrieb voraus, worin die Generationen sich zur Kette zusammen-
schließen. Und damit sind denn jene Unternehmungen gerechtfertigt, die
der Arbeit des 19. Jahrhunderts die Signatur geben, die großen Samm-
lungen von Urkunden und Inschriften, von kritisch gesichteten Quellen-
darstellungen und Überlieferungen, die philologischen Bearbeitungen von
Texten und Sprachdenkmälern usw. Werden in der Arbeit an diesen
Unternehmungen, die ja denn auch Handlangerdienste fordert, die Kräfte
für ein sicheres und lebendiges Erfassen des geschichtlichen Lebens ge-
bildet, so ist ihr Wert damit bewiesen, die Zukunft mag davon nun wei-
teren Gebrauch machen oder nicht. Der Staub, der auf den Folianten
mittelalterlicher Spekulation ruht, die jetzt ungebraucht in unseren Biblio-
theken stehen, ist kein Beweis gegen ihren Wert; hat das heiße Bemühen
um die Wahrheit den Geist jener Männer gekräftigt und erhoben, so ist's
genug. Vielleicht kommt die Zeit, wo der Staub ebenso auf unseren In-
schriftenwerken und Monumentensammlungen, unseren Editionen und kri-
tischen Untersuchungen liegen wird; hat ihre Zusammenbringung und Be-
arbeitung die Sehkraft der Forscher für das Schauen vergangenen Lebens
geübt und damit das Verständnis für menschliche Dinge erweitert und
vertieft, so ist die Arbeit nicht umsonst gewesen. Haben die Niebuhr,
Boeckh, Ranke, Waitz, Mommsen in solcher Arbeit ihr geistiges Wesen
gewonnen und ausgeprägt, so ist das nicht das geringste, was die Be-
schäftigung mit der Geschichte leistet: nicht um der Vergangenheit und
nicht um der Zukunft willen treiben wir Geschichte, sondern um der
Gegenwart, um unserer selbst willen. Und ist dann wieder durch die
Persönlichkeit und die Werke solcher Männer anderen ihre Kraft gemehrt
worden, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu divinieren und
■jqS Friedrich Paulsen: Die gcistcswisscnschartliclu' liochschulausbililun};.
2U bilden, so haben sie dem Lobenden den größten Dienst geleistet, den
die Wissenschaft zu leisten überhaupt imstande ist. Wer aber verdankte
nicht der Geschichtschreibung solchen Dienst? Ist ein Mann wie Bismarck
oder der Freiherr von Stein zu denken ohne Vertiefung in geschichtliche
Studien? „Politik", saigt Sir John Seeley, „ist vulgär, wenn sie nicht durch
Geschichte veredelt wird; und Geschichte sinkt zu bloßer Literatur herab,
wenn sie ihre Beziehung zur praktischen Politik aus dem Auge verliert."
Wir können das Wort verallgemeinem: alle persönliche Lebensbetätigung
erlangt ihre eigentliche Bedeutung erst dadurch, daß sie sich in lebendige
Beziehung zur Vergangenheit und Zukunft setzt, wie könnte sie es aber
tun ohne geschichtliche Basierung? Und umgekehrt: Geschichte erhebt
sich dadurch über bloße Unterhaltungsliteratur, daß sie auf die Gegenwart
und ihre Aufgaben den Blick gerichtet hält.
In diesem Sinne möchte ich auch das oft zitierte Wort Goethes von
dem Enthusiasmus verstehen, der das beste sei, was wir der Geschichte
verdanken: die Freude an dem Kräftig-Tüchtigen der Vergangenheit, die
Sicherheit und Selbstgewißheit gegenüber den Aufgaben der Gegenwart
und der Mut zur Zukunft, das sind die Inspirationen, die wir dem rechten
Studium der Geschichte verdanken.
Nach allem wird es sich also nicht darum handeln können, die Aus-
bildung- in den Geisteswissenschaften von dem Weg, auf den das letzte
Jahrhundert sie gestellt hat, von der Einführung- in die Arbeit der philo-
log-isch-historischen Forschung überhaupt wieder abzubringen und auf den
alten Weg des rein dogmatischen Unterrichts zurückzuführen. Die Auf-
gabe kann nur die sein, den vorhandenen Studienbetrieb wirkungsfähiger
zu machen und vor den angedeuteten Gefahren zu bewahren.
Belebung des In dicser Absicht wird zunächst die Wiederbelebung des philosophi-
philosophischen ,
Sinnes. schcn Studiums von Bedeutung sem. Daß die Philosophie, die um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts, im Zeitalter des Positivismus und der
Exaktheit, beinahe ausgeschieden und erdrückt war durch die herrschende
Richtung auf das Tatsächliche und Einzelne, wieder im Aufsteigen be-
griffen ist, daß auch die Teilnahme der Studierenden ihr wieder in er-
höhtem Maße zugewendet ist, darf als eine der erfreulichsten Wendungen
im Geistesleben der Gegenwart bezeichnet werden. Ihre Wirksamkeit im
akademischen Unterricht wird vor allem darin sich geltend machen, daß
sie, indem sie für die großen Fragen der Wirklichkeit und der Menschheit
den Sinn auftut, vor dem Versinken in einen selbstgenügsamen, stumpf-
sinnigen, das Gemüt ausdörrenden, fabrikmäßigen Kleinbetrieb der Wissen-
schaft bewahrt, eine Gefahr, die nicht am wenigsten der philologischen
und historischen Arbeit droht und durch einen Seminarbetrieb, der auf
Dissertationenzüchtung ausgeht, begünstigt wird. Schleiermacher hat sie
schon gesehen: er warnt (in den Gelegentlichen Gedanken über Universi-
täten) davor, voreiligerweise Akademieen vorstellen und vollendete Gelehrte
treibhäuslich bei sich ausbilden zu wollen durch immer tieferes Hinein-
III. Dcrfjeisteswissensch. Unterr. i. seiner geschichtLEnt-n-ickl. u. d. Schwierigk. d. gegenwärt. Lage. 30Q
führen in das Detail der Wissenschaften und darüber es vernachlässigen,
den allgemeinen wissenschaftlichen Geist zu wecken, was die eigentlichste
Aufgabe der Universität und hier im besonderen des philosophischen
Unterrichts sei. Freilich sei hierzu nicht tauglich eine bloße gespenster-
artige Transzendentalphilosophie, die sich gegen alles reale Wissen iso-
liert: leerer lasse sich wohl nichts denken als eine Philosophie, die sich
so rein auszieht und wartet, daß das reale Wissen als ein niederes ganz
anderswoher soll gegeben oder genommen werden. Sondern nur in
ihrem lebendigen Einfluß auf alles Wissen lasse sich die Philosophie, nur
mit seinem Leibe, dem realen Wissen zugleich lasse sich der wissenschaft-
liche Geist darstellen und auffassen. Warnungen und Mahnungen, die
auch heute nicht unzeitgemäß sind.
Was aber den Studienbetrieb in den einzelnen Geisteswissenschaften AbstoSung des
Nichtigen.
anlangt, so wird es überall von entscheidender Wichtigkeit sein, daß er
die Richtung auf das Wirkliche und Lebendige hat. Es kann doch im
Grunde nie und nirgends die Meinung der philologisch-historischen For-
schungsarbeit sein, alles was jemals war und geschah, auch das schlecht-
hin Unbedeutende, Vergangene und Tote bloß darum, weil es einmal war,
zu sammeln und aufzuheben, alles w^as jemals getan und gesagt, gedacht
und gemeint wurde, auch das schlechthin Törichte und Nichtige, noch
einmal zu denken. Philologie und Historie haben eine Neigung dazu; das
Ideal der Vollständigkeit verfolgt sie; unter dem Titel der Gründlichkeit
der Forschung wird gefordert, nichts gering zu achten, auch das Unbe-
deutendste aufzuheben und in Anschlag zu bringen. Was haben nicht
Theologen und Philologen in ihren exegetischen und kritischen Vorlesungen
und Kommentaren für eine Last törichten Meinens mitgeschleppt, jede je-
mals geäußerte Ansicht nochmals vorbringend, um sie nochmals zu wider-
legen. Hier gilt: lasset die Toten ihre Toten begraben, sonst bringen sie
das Lebendige ums Leben. Geht die historische Arbeit auf absolutes Be-
halten alles dessen aus, was jemals war, so läuft sie in sinnloser Stoff-
anhäufung sich selber zu Tode. Man denke nur an eine Forderung wie
die: für eine Geschichte des Unterrichtswesens alles Material, was in
Bibliotheken und Archiven, in Schulschränken und alten verstaubten
Bücherkisten auf allen Hausböden steckt, zusammenzubringen und heraus-
zugeben, von den Schulordnungen und Schulbüchern bis herab auf die
Konferenzprotokolle und Schülerexerzitien. Die Kraft des Historikers
zeigt .sich nicht im Behalten, sondern im Vergessen, dem richtigen Ver-
gessen, so daß allein das Behaltenswerte übrig bleibt.
Vielleicht hat sich die historische Forschung an diesem Punkt irre-
führen lassen durch die in der Naturforschung gerechtfertigte Maxime:
nichts gering zu achten. In der Natur ist jede Erscheinung ein Hinweis
auf ein Allgemeines, und gerade in den anomalen Erscheinungen verrät
sie oft ihre sonst so gut gehüteten Geheimnisse, man denke an die Elek-
trizität oder die Röntgenstrahlen. In der geschichtlichen Welt ist es
:5io Friedrich Paulsen: Die geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung.
nicht so; hier findet nicht gleichförmige Wiederholung desselben, sondern
unendliche Variation eines Themas statt: jeder einzelnen Variation nach-
gehen führt hier nicht zum Gesetz, sondern zum Sichverlieren im endlosen
vmd nie zu erschöpfenden Detail. Der Historiker muß den Mut der Aus-
lese, also auch der Ausstoßung haben, den der Physiker nicht haben darf.
Richtung auf Als Gcsichtspunkte aber für die Auslese scheinen mir die folgenden
und Ewige, hingestellt werden zu können. Anspruch darauf, zum Gegenstand philo-
logisch-geschichtlicher Erforschung gemacht zu werden, hat auf der einen
Seite alles, was an sich selbst menschlich groß und bedeutend ist: an ihm
entzündet sich immer aufs neue menschliches Leben; auf der anderen
Seite das, was durch sein Fortwirken in der Gegenwart sein Leben und
seine Wirklichkeit beweist; schließlich ist das „Erkenne dich selbst!" doch
die innerste Triebkraft aller geschichtlichen Forschung. In einigem Maße
scheinen beide Momente zusammenzukommen; die Geschichte, das Wort
im objektiven Sinne genommen, zeigt eine erstaunliche Sicherheit darin
das wahrhaft Bedeutende, auch wenn es von der Gegenwart verkannt
wurde, zur Dauer und Wirksamkeit zu bringen. Goethe hat dies, auf ein
langes Leben und eine lange und eindringende Beschäftigung mit der Ge-
schichte zurückblickend, beobachtet: „Die vernünftige Welt ist als ein
großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das
Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum
Herrn erhebt."
Über das einzelne aber und seine Notwendigkeit aus diesem Gesichts-
punkt werden verschiedene immer verschieden urteilen; von einer kano-
nischen Auswahl kann ja überall nicht die Rede sein. Darauf kommt es
auch nicht an, wohl aber darauf, daß diejenigen, die als Lehrer und Leiter
g-eisteswissenschaftlicher Studien wirken, für ihre Person von dem Trieb,
zum Wesentlichen, Wichtigen und Lebendigen zu kommen, durchdrungen
sind. Ja, man mag sagen: alles wird wichtig, wenn es in Beziehung auf
das werdende und sich vollendende Leben jenes unsterblichen Individuums,
von dem Goethe spricht, betrachtet wird. Wo dagegen bloßer toter
Sammlerfleiß, bloße g^elehrte Betriebsamkeit herrscht, da wird auch das
an sich Große zu Spreu und Häckerling.
Also, ein universalhistorischer, ein philosophischer, ein von Ideen be-
fruchteter Geist, ein Geist, der auch der Gegenwart etwas zu sagen hat,
der zur Zukunft drängt, der macht das historische Studium lebendig, an
welchem Punkt immer er es angreift. Wenn Dahlmann von der deutschen
Geschichte forderte, daß sie „mit kräftigem Willen zusammengehalten
werden und in die Gegenwart ausmünden müsse", so werden wir diese
Forderung als jeder historischen Forschung und jedem historischen Unter-
richt gestellt aussprechen dürfen.
Literatur.
Als Darstellungen der Einrichtungen des Unterrichtsbetriebes der deutschen Universi
täten sind in erster Linie zu nennen die beiden großen aus Anlaß der Chicago- und der
St. Louis- Ausstellung entstandenen, von W. Lexis herausgegebenen Werke: Die deutschen
Universitäten (2 Bde. 1893) und Die Universitäten im Deutschen Reich (1904).
Ich nenne dann meine Geschichte des gelehrten Unterrichts (2 Bde. 2. Aufl.
1896) sowie mein Buch: Die deutschen Unversitäten und das Universitätsstudium
(1902), in welchen beiden Werken auch weitere Literatur zur Geschichte und Methodologie
der Studien zu finden ist.
Als ein hilfreiches Nachschlagebuch für das ganze Gebiet der Universitätsliteratur ist
endlich noch ein eben erschienenes Werk anzuführen: W. Erman und E. HORN, Die
Bibliographie der deutschen Universitäten (2 Bde. 1904/5).
DIE NATURWISSENSCHAFTLICHE
HOCHSCHULAUSBILDUNG.
Von
Walther von Dyck.
Die phiioso- I. Die Entwicklung bis zum i8. Jahrhundert. Vor nahezu 2000
^s Ve^mHüerin JahrsH, ZU der Zeit, als der Einfluß der griechischen Kultur im römi-
dung^ünrais schcH Reichc immer stärker hervorzutreten begann, hat sich der Begriff
rufsausbiidung. einer allg-emeinen wissenschaftlichen Durchbildung, die der praktischen
Schulung für den speziellen Beruf vorauszugehen habe, in einer Form
herausgebildet, welche auch für den Lehrbetrieb des Mittelalters maß-
gebend geworden ist und sich noch bis in unsere Tage hinein in ihren
Nachwirkungen verfolgen läßt.
Marcus Terentius Varro Reatinus gibt im ersten Jahrhundert v.Chr.
als Grundlage der gelehrten Bildung in den „disciplinarum libri novem"
neun Disziplinen: die Grammatik, Dialektik und Rhetorik, später als trivium
bezeichnet, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, das spätere
quadrivium, und noch weiter Baukunst und Medizin. Des Marcianus
Capeila Einteilung (De nuptiis philologiae et Mercurii de Septem artibus
liberalibus libri IX, etwa 470 n. Chr.) schließt diese letzteren aus „quoniam
his mortalium rerum cura terrenorumque soUertia est nee cum aethere
quicquam habent superisque confine".
Die Septem artes liberales aber bilden den Inhalt der Lehraufgaben
zunächst der Klosterschulen des frühen Mittelalters wie der Gelehrten-
schulen und der Artistenfakultäten der um das 14. Jahrhundert auch in
Deutschland entstehenden Universitäten. Dabei erscheinen sie auch in
diesen als die grundlegende Vorbildung für das Studium der praktischen
Berufe der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, und die Promotion zum
magister artium war die Vorbedingung zum Eintritt in jene drei „oberen"
Fakultäten.
Das wesentliche Merkmal der Wissenschaftspflege jener Zeit war der
allmählich immer mehr überhandnehmende Einfluß des Aristoteles, zumal
als durch die Araber der volle Inhalt seiner Werke dem Abendlande
übermittelt wurde. So erweiterte sich von hier aus das Studium der Dia-
I. Die Entwicklung bis zum 1 8. Jahrhundert. -iii
lektik zu dem der Philosophie und ihr Überwiegen schuf weiterhin der
Artistenfakultät auch den Namen der philosophischen. Aus Grammatik
und Rhetorik erwuchsen unter mählicher Läuterung und Verschiebung des
Lehrinhaltes, unter dem Einfluß der humanistischen Bewegung des 15.,
der neuhumanistischen des 1 8. Jahrhunderts die philologischen und in Ver-
bindung damit die historischen Wissenschaften, während der ursprüngliche
Lehrstoff an die jetzt vorbildende Stufe des Gymnasiums überging.
Die Interpretation des Euklid, die sich zudem in der Regel nur auf
die ersten Teile beschränkte, bildete, wenn auch nicht ohne Widerspruch
zu finden, (so Petrus Ramus, der Bekämpfer des aristotelischen Systems)
noch auf lange hinaus den Inhalt des geometrischen Unterrichtes Geometrie.
der Universitäten, sowie heute noch dieser selbe StoflF und auch die Form
der euklidischen Beweisführung dem Anfangsunterricht der Mittelschule
zugrunde liegt. Darüber hinaus erweiterte sich, zunächst ohne Einfluß
auf die Schule, der Gesichtskreis im Laufe des 16. Jahrhunderts durch
das Bekanntwerden und die Durcharbeitung der Werke des ApoUonius,
des Archimedes; wurde, auf die Kenntnis der Araber (Dschäbir Ibn
Aflah) gegründet, von Regiomontanus und Kopernikus die Trigono- Trigonometrie,
metrie neu geschaffen, konnte der letztgenannte nun an die .Stelle des
Ptolemäischen Weltsystems das nach ihm benannte setzen.
Der Rechenunterricht erhob sich bis zum Ende des 15. Jahrhun- Rechen-
derts nicht wesentlich über die Darlegung der sechs Grundoperationen.
Ihre Kenntnis wurde, den praktischen Bedürfnissen angepaßt, weiter hin-
ausgetragen durch die um diese Zeit zahlreich, auch in deutscher Sprache
erscheinenden Volksrechenbücher mit ihren schon damals alten Rechen-
beispielen, die wir auch jetzt noch im Elementarunterrichte finden. Werke
wie Paciuolos Summa (1494), Stifels Arithmetica integra (1544) zeigen
gegenüber dem früher zugrunde gelegten Sacrobosco (1250) den allmäh-
lichen Fortschritt des Unterrichtes. Weiter forderten dann die neuen Lehren
der Astronomie die Entwicklung der Trigonometrie und führten wie zu
einzelnen Kompendien so auch zur Herstellung großer Tafelwerke für den
praktischen Gebrauch (Opus Palatinum 1568 — 1596) und in ihrer Weiter-
bildung zu den Logarithmentafeln. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts
treten diese Gebiete in den Universitätsunterricht ein, in welchem sie im
18. Jahrhundert ebenso wie die Elemente der Algebra eine regelmäßige
Stelle gefunden haben. Die neuen Methoden der Analysis aber und der
Geometrie, die sich an die Namen von Descartes, von Newton und
Leibniz knüpfen, die mit allen ihren Anwendungen die mathematischen
Wissenschaften von Grund aus umgestaltet haben, werden (von einzelnen
Ausnahmen wie sie etwa Christian Wolffs mathematische Lehrtätig-
keit in Halle darstellt, abgesehen) regelmäßig erst gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts in Vorlesungen über die Elemente der Differential- und Integral-
rechnung in den Unterricht einbezogen. Die Wissenschaft wurde vielmehr
von Person zu Person übertragen. Ihre Jünger waren zunächst auf das
•3]^ Wai.thkr von Dyck: Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildun;;,
Studium der gTundlegcnden Werke angewiesen, zu dem im einzelnen
Falle — wir gedenken etwa Eulers Jugendverhältnis zu Joh. Bornoulli
— der ältere Fachgenosse die Anleitung gab.
Naturlehre. Die N atUT 1 e h r c War zunächst in den Werken des Aristoteles in den
Gesamtplan eingefügt iind die dogmatische Form seines Lehrgebäudes,
welche das Weltsystem einem vorher entworfenen Schema einordnete, be-
herrschte Anschauung vmd Lehre. Aber auch als mit dem Ende des
i6. Jahrhunderts die Beobachtung der Einzelvorgänge in der Natur die
Naturphilosophie zu ersetzen begann, als dann in der Anwendung und
Ausbildung experimenteller Methoden zuerst eine eigentliche natur-
wissenschaftliche Forschung erstand, als das 17. Jahrhundert die ge-
waltigen modernen Hilfsmittel der Analysis schuf, als das Weltsystem
neu erbaut worden, drang doch nur langsam der neue Geist in Schule
und Lehre.
Wir können allerdings die Lehrtätigkeit Galileis in Padua, die sich
weit über den engeren Kreis der Studierenden hinaus erstreckte, in ihrem
Einfluß auf die Umgestaltung der Naturbetrachtung nicht hoch genug ein-
schätzen, auch werden wir etwa Kirchers und seines Schülers Schott
Lehrtätigkeit in Würzburg uns nicht völlig losgelöst von ihren experimen-
tellen Arbeiten vorstellen. Der Schwerpunkt der Interessen der Universi-
täten lag aber zu ausschließlich auf theologischem und philosophischem
Gebiete, war zu stark von den hier entbrannten geistigen Kämpfen be-
herrscht, der Organismus der Universitäten war zu enge begrenzt, zu starr
in seinem Unterrichtssystem geworden, und so ging die mächtige Bewegung,
welche die naturwissenschaftlichen Anschauungen und Methoden so gänz-
lich neu geschaifen, wohl nicht an den einzelnen Gelehrten, aber doch
an der Universität als Körperschaft vorüber, ohne dort tatkräftige Förderung
und Verbreitung" zu finden.
Entstehender IL Die Entwicklung während des 18. Jahrhunderts. Die For-
Akailemieen im , .. ^ . , . ^ *~ , ,, . ^, i i n i
17. und is.jahr- schung knupftc sich Vielmehr an den allgemeinen Zusammenschluß der
Bedeutung als Gelehrten untereinander, der schon früh in einem lebhaften Austausch
lehrten For- uiid W^cttstrclt der neuen Ideen zum Ausdruck kam. Im 16. Jahrhundert
sind es bisweilen geradezu öffentliche Turniere mathematischer Geschick-
lichkeit (Cardano-Tartaglia !) , später werden neu gefundene Sätze ohne
Beweis der gesamten Gelehrtenwelt vom Entdecker vorgelegt, so von
Vieta, von Fermat, Huyghens und noch der Streit der beiden Ber-
noulli trägt diesen Charakter. Daneben vermittelt ein reger brieflicher
wie auch persönlicher Verkehr die rasche Verbreitung neuer Entdeckungen.
Dieser Zusammenschluß der Forschenden gewann seine äußere Ge-
staltung mit der Errichtung der Akademieen. So erwuchs aus den ge-
lehrten Zusammenkünften bei Mersenne durch Colberts organisatorische
Initiative die Pariser Akademie (1666), wurde aus einer schon seit 1645
bestehenden Privatgesellschaft 1662 die Royal Society in London ge-
n. Die EntNvicklung während des 1 8. Jahrhunderts. 315
gründet, fanden Galileis Schüler 1657 in der accademia del cimento ihren
Vereinigungspunkt. Den Akademieen wies Leibniz, der für ihre Errich- Leibniz.
tung und Gestaltung so unermüdlich wie erfolgreich tätige, die Aufgabe
zu, die Wissenschaften in allen ihren Teilen auszubauen, ihnen die Sorge
für ihre nutzbringende Anwendung in volkswirtschaftlichem Sinne, ihnen
die Aufgabe, die Vermittler zu sein für die geistige Wechselbeziehung
der Nationen.
So trägt denn auch, im Gegensatze zu dem partikularistischen Geiste
der mit den Landesinteressen enge verknüpften Universitäten, die Pflege
der Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert, der für die mathematisch-
naturwissenschaftliche Forschung grundlegenden Epoche, einen internatio-
nalen Charakter. Frankreich, die Niederlande und England, später auch
Rußland nehmen mit Deutschland daran teil. Die Berliner Akademie,
1700 errichtet, zumal zeigt unter Friedrich des Großen weitblickender
Fürsorge schon in den glänzenden Namen ihrer Mitglieder diese über das
einzelne Volk und den Staat hinausgreifenden Beziehungen. Dort wirkten
neben dem trefflichen Lambert der Baseler Euler, den die Peters-
burger Akademie am Anfang und Ende seines reichen Gelehrtenlebens
zu den ihren zählte, die hervorragendsten Mathematiker Frankreichs
D'Alembert, Lagrange, Maupertuis.
An Plänen, auch den Unterricht den neuen Anschauungen der Zeit Hervortreten
' realer Inter-
anzupassen, insbesondere den „realen" Interessen in höherem Maße Rech- essen,
nung zu tragen, fehlte es nicht, aber man glaubte sie nicht an den Uni-
versitäten, sondern nur in neuen Organisationen verwirklichen zu können.
So entwirft Skytte, wohl in Anlehnung an die Ideen Bacons (Nova At-
lantis), für den Großen Kurfürsten den Plan der Gründung einer internatio-
nalen wissenschaftlichen Zentralanstalt, der Forschung und dem Unterricht
gewidmet, in welchem besonders umfassend die naturwissenschaftlichen
und technischen Institute bedacht sind. So hebt Leibniz in seinen Ent-
würfen für die Gründung gelehrter Gesellschaften die Bedeutung der
mathematischen und naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre besonders
in ihrer Beziehung zu sozialen und technischen Aufgaben, zu Handel und
Gewerbe immer wieder hervor.
Immerhin drangen auch an den Universitäten gegen Ende des 17. Jahr- Die Physik an
^ 00 ^ j^^ Universi-
hunderts die neuen physikalischen Anschauungen so weit durch, daß tx-^^ iai,rhu!^ert
perimentalphysik im Unterrichte eine elementare Darstellung finden konnte.
Eine Anschauung, wie weit etwa man hier gekommen war, geben uns Peter
Musschenbroeks Elementa physices (1725), die direkt für den akade-
mischen Unterricht bestimmt sind. Wesentliche Neugestaltung des Stoffes
ist dann im Laufe des 1 8. Jahrhunderts im Unterrichte, der wie auch sonst,
z. B. in der Mathematik, sich auf die Interpretation eines Kompendiums
beschränkte, nicht hervorgetreten, nur Erweiterung im einzelnen, ohne
daß doch die großen Errungenschaften namentlich auf dem Gebiete der
mathematisch-physikalischen Forschung des 1 8. Jahrhunderts mit einbezogen
316
Wai.thf.r von Dyck : Die n:\Uu\vissenschaftlichc llochsclnihiusbildung.
Ausbreitung
naturwissen-
schaftlichen
Interesses.
Ritter-
akademiecn.
Technischer
Unterricht.
Collegium
Carolinum iu
Braunschweig.
Frankreich.
worden wären. Dies schloß schon die Unmöglichkeit aus, andere als die
elementarsten Kenntnisse der Mathematik vorauszusetzen. So müssen wir
s'Gravesandes umfassende Physices elementa sive introductio ad philo-
sophiam Newtonianam {1726) ausschließlich dem gelehrten SpezialStudium
bestimmt erachten. Beachten.swert ist dagegen das in weiten Kreisen der
Gebildeten zutage tretende Interesse für naturwissenschaftliche Tatsachen,
freilich mehr in der naiven Freude am Merkwürdigen und unterhaltend
Belehrenden als an der strengen Forschung. An dieses Interesse hatten
sich schon Guerikes berühmte Experimente auf dem Reichstage zu
Regensburg gewandt, so sind jetzt Desaguiliers Vorträge in London, die
s'Gravesandes in Leyden aufzufassen, bei denen die Vorführung von Ex-
perimenten (Johann Musschenbroeks berühmte Apparate) ganz besonders
betont wird. Im Anschluß an solche Vorlesungen entstehen die ersten
Sammlungen von Instrumenten und Demonstrationsapparaten, zunächst fast
immer im Privatbesitz der Gelehrten. Ihr Ankauf durch die Universitäten
läßt gegen das Ende des 18. Jahrhunderts die ersten physikalischen Kabi-
nette entstehen.
Auch das Interesse fürstlicher Höfe, ursprünglich besonders der Astro-
nomie (und auch der Astrologie) zugewandt, dem die Wissenschaft zu den
Zeiten Keplers und Tycho Brahes so bedeutsame Förderung ver-
dankt, führt zur Begründung von astronomischen Observatorien und von
Sammlungen astronomischer und physikalischer Instrumente, wie auch na-
turwissenschaftlicher Kuriositäten, die weiterhin hier und dort an den im
18. Jahrhundert entstehenden Ritterakademieen für den Unterricht nutzbar
gemacht werden. Diese Akademieen fordern auch noch um deswillen unser
Interesse, als sich in ihnen — die für den Adel des Landes auch die Uni-
versitäten ersetzen sollten — ganz im Leibnizschen Sinne die Pflege der
modernen und „eleganten" Wissenschaften vorzüglich mit Rücksicht auf
ihre Anwendungen im Feldmessen, in Baukunst, in Kriegskunst und Be-
festigungslehre findet; wie denn auch im Betriebe der übrigen Gebiete die
Bezugnahme zum praktischen Bedürfnis, zu volkswirtschaftlichen und staats-
wirtschaftlichen Fragen im Vordergrunde steht.
Gedenken wir vor anderen des Collegium Carolinum in Braun-
schweig (1745), so sehen wir hier die Ansätze des technischen Unterrichts-
wesens, das wir in seinen ersten Anfängen, den elementaren realistischen
Schulen, an den Beginn des i8. Jahrhunderts zu setzen haben, schon klar
auf das Ziel einer höheren technischen Ausbildung gerichtet. Auch die
Universitäten tragen diesem Bedürfnis der Zeit in ihren kameralistischen
Vorlesungen Rechnung; ja die erste Vorlesung über Ingenieurwissen-
schaften findet sich in Prag schon um 1717. Ausgeprägter gestaltet sich
dann der Charakter technischer Schulen in den der Ausbildung zum Berg-
werksbetriebe dienenden Fachschulen in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts.
In Frankreich fällt in diese Zeit die Errichtung höherer Fachschulen
J
II. Die Entwicklung während des 18. Jahrhunderts. JI7
auch schon auf weiteren Gebieten der Technik, so der ecole des beaux
arts (die auch der Ausbildung der Architekten dient), der ecole des ponts
et chauss6es und der 6coIe des mines. In der Tat, in Frankreich war das
System gesonderter Fachschulen für den einzelnen Beruf schon gegeben,
hatte doch dort jener Zusammenschluß der Fakultäten, der zur Bildung
unserer deutschen Universitäten geführt hat, nur ganz äußerlich statt-
gefunden, und ist z. B. auch heute noch die Verbindung der 6cole de
droit und der 6cole de medecine in der Pariser Universität mit der facult6
des lettres und der faculte des sciences (Sorbonne) nur eine ganz lose.
Dementsprechend sind auch Physik, Chemie, wie die beschreibenden
Naturwissenschaften an der medizinischen Fakultät ganz selbständig ver-
treten und mit Rücksicht auf die hier gegebenen engeren Fachinteressen
ausgestaltet. Der unmittelbare Anschluß der Fachschule an die vorberei-
tende Mittelschule ist dabei in Frankreich auch noch durch den Umstand
erleichtert, daß die Lyzeen in ihren Spezialkursen (cours des lettres und
cours des sciences) über die allgemein bildenden Fächer hinaus schon den
grundlegenden (hier den mathematisch-physikalischen) Lehrstoff des Fach-
studiums in einem weit größeren Umfang vermitteln als etwa bei uns die
Gymnasien trotz ihres allmählichen Fortschreitens auch nach dieser Richtung.
Wir haben auf diesen bedeutsamen Unterschied noch einmal zurück- England,
zugreifen, nehmen aber hier Gelegenheit, des Vergleiches wegen (wenn auch
wie soeben zeitlich vorgreifend) noch in einigen Worten die entsprechenden
Verhältnisse in England heranzuziehen. Hier haben die Universitäten,
dem konservativen Sinne des Engländers entsprechend, den Charakter der
mittelalterlichen Schulen noch in vielen Organisationen (so in der Be-
schränkung der Bewegungsfreiheit des Einzelnen) beibehalten. Die Grade
des baccalaureus, magister artium und doctor werden durch sorgfältig
geregelte Examina erlangt; die Vorbereitung auf diese Prüfungen, durch
Einstudieren der hierzu vorgeschriebenen Werke, durch Lösen von Auf-
gaben bildet den wesentlichsten Teil der Arbeit im College. Darüber hin-
aus und fast unabhängig davon bietet sich dem einzelnen Gelegenheit zu
weiterem vertieften Studium in gesonderten Instituten. Die Möglichkeit
zur unbehinderten Fortsetzung wissenschaftlichen Studiums ist durch die
für England charakteristische Institution des Fellowship gegeben. Im
ganzen aber dient die Universität auch heute noch wesentlich der Ver-
mittlung allgemeiner Bildung für den gentleman, die besonders auch auf
körperliches wie geistiges (und politisches) training abzielt. Die speziellere
Fachausbildung verbleibt dem Sonderunterrichte der einzelnen Gelehrten,
der Praxis beim Arzt, im Privatlaboratorium, beim Ingenieur, beim Archi-
tekten. So hatten sich denn auch im Gegensatz zu Frankreich Fach-
schulen erst in jüngster Zeit unter dem Drange der praktischen Notwendig-
keit entwickelt.
Unsere deutschen Universitäten aber haben durch die freie
Entfaltung von Forschung und Lehre ebenso das Stadium eines
7l8 ^VALTHER VON Dyck: Die iiaturwissrnscbafüiche Hochschulausbildung.
schulmäßigen Unterrichtsbetriebes überwunden, wie sie sich
durch die ideale Auffassung ihrer g'emeinsanien Interessen vor
dem Zerfallt' II in l'achschulen zu bewahren wußten.
Kntstcbou dor 111. \)vr H a t u r w i s s f u s c h u f 1 1 i c h c U n i V e r s i t ä t s u n t crr i c h t
modernen Uni-
voraitat. Halle, i m 1 9. J a li r h u u d c r t. Für die allmähliche Wandlung der Bedeutung
Göttingon.
der Universitäten im wissenschaftlichen Leben, wie im Leben der Nation
kommt vor anderem die Errichtung zweier neuen hohen Schulen in
Betracht: von Halle, das um die Wende des 17. Jahrhunderts als
brandenburgisch -preußische Universität ersteht, und von Göttingen, der
chrisua.1 WoKf voniclimen Universität des hannoverisch - englischen Hauses. Unter den
und Kant. • t-» t t ii i /-• •
Männern, welche die Bedeutung Halles als der ersten modernen Geist
atmenden Universität geschaffen haben, haben wir für unsere Gebiete
Christian Wolff zu nennen, der die dogmatische Philosophie in seinen
„Vernünftigen Gedanken" durch eine auf die Naturwissenschaften gegrün-
dete Weltbetrachtung ersetzte und jene mächtige auch den gesamten
Unterricht der Universitäten durchdringende Bewegung auslöste, welche
Wachsende dann Kant in die klaren Bahnen seines Systems der reinen und der prak-
Jicdeutung der . ^ ^ . ," . .
Universitäten in tischen V emunft führt. Die Bedeutung Göttingens, in dem sich bald die
der Öffentlich- , tt . „ . .
keit. Interessen der Universität mit denen der 1751 errichteten Sozietat der
Wissenschaften verbinden, bezeichnen auf mathematisch-naturwissenschaft-
lichem Gebiete die Namen Hallers, des Anatomen, Physiologen, Bota-
nikers und Dichters, Lichtenbergs, des Physikers und scharfsinnigen
Humoristen, Kästners, des Mathematikers und Epigrammendichters. Die
Bedeutung dieser drei liegt in ihrer wissenschaftlichen Tüchtigkeit, noch
mehr aber in ihrer Stellung inmitten der allgemeinen geistigen Interessen
jener Zeit. Und noch ein weiteres ist für Göttingen bezeichnend, „in allen
Pflege der Teilen der Wissenschaften gleich aufs praktische zu führen" (Pütter). So
aniiewandton . ^ c ■ • i t^ i i i ■
Naturwissen- emchtetc schou Segner ein zu astronomischen Beobachtungen bestimmtes
Göttingen. Observatorium, das zugleich eine kleine Sammlung physikalischer Appa-
rate enthält, Kästner behandelt in seiner angewandten Mathematik die
Baukunst, die Artillerie und Fortifikation, denen schon Chr. \\'olff in seinen
Elementen einen so weiten Raum gewidmet hat; weiter finden wir dort
schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts praktischen Unterricht im
F'eldmessen, im Entwerfen von Hochbauten, von Wasser- und Brückenbauten.
Tobias Mayers, des ruhmvollen Vorläufers von Gauß, Wirksamkeit ist in
seinen Mondtafeln, wie in seinen Arbeiten zur Theorie des Erdmagnetis-
Gauß mus niedergelegt. Und wenn wir in diesem Zusammenhange schließlich den
Namen von Gauß verzeichnen, so geschieht es, um die Bedeutung des
Mannes, welcher der mathematischen Forschung des 19. Jahrhunderts die
Wege gewiesen, auch auf den Gebieten der Anwendungen, die er in allen
ihren Teilen, in Physik und Meßkunst der Erde und des Himmels mit
neuen Ideen befruchtet hat, hier hervorzuheben.
War durch den geistigen Einfluß, den ein Mann wie Kant für das
m. Der naturwissenschaftliche Universitätsunlerricht im 19. Jahrhundert. 31g
Leben gewonnen hatte, durch die geniale und tiefgründige Gedankenarbeit
eines Gauß die Bedeutung der Universitäten auch nach außen hin im
Vergleich zu ihrem Ansehen zu Leibniz' Zeit von Grund aus geändert,
so bedurfte es für sie doch noch eines wesentlichen Momentes, um in
ihrem gesamten Wirken den Lehraufgaben zu genügen, wie sie nimmehr
die fortschreitende Wissenschaft an sie stellte: Es ist das Hervortreten Di« ümve™tät
als Statte der
der Universität als einer Stätte der freien wissenschaftlichen frcienForachaag
and Lehre.
Forschung, die ihre Jünger zu wissenschaftlicher Arbeit erzieht.
Diese Erweiterung- ihrer Lehrziele trifft in erster Linie die philosophische Die pMo»-
^ . pbiscnerakaltat
Fakultät, die auch am Ende des i8. Jahrhunderts wesentlich noch eme au Fichschoie
' ... des Gclchrteo
Vorstufe der oberen Fakultäten ist und die Ubermittlerin einer, w^enn auch und u-hrers.
\ crUcrang ihrer
allmählich gewandelten und vertieften allgemeinen Bildung. Jetzt verschiebt Lehraufgaben.
" ° . Reakaon gegen
sich, zunächst in sprachlicher Richtung, ein Teil des Umversitatsunter- die realistischen
' * ^ . Tendenzen des
richtes auf das auch äußerlich als Vorstufe wenigstens für die Ausbildung i8. jahrhua-
zum Staatsdienst geforderte klassische Gymnasium. In semer Neuorgani-
sation wird, das Verdienst eines F. A. Wolf und Friedrich Thiersch,
die Frage der Jugenderziehung wieder von einem höheren Standpunkte
aus, sub specie aetemitatis, erfaßt. Freilich betont sie zu ausschließlich
die Pflege der griechischen Literatur, allgemeiner der Altertumswissen-
schaften, als die universelle Vorschule aller gelehrten Bildung. Aber die
hier geforderte Vertiefung führt doch auch, etwa in der Mitte der 20er
Jahre, zu einem eindringlicheren Unterricht in Mathematik und Natur-
wissenschaft auf den Gj-mnasien. So wird einerseits die philosophische
Fakultät eines großen Teiles ihrer allgemeineren Aufgabe, elementare und
enzyklopädische Kenntnisse als Vorbereitung auf die Berufswissenschaften
zu vermitteln, entlastet, andererseits erwächst ihr eben durch die erweiterte
Organisation der Vorschulen die Aufgabe, ihnen tüchtig geschulte Lehrkräfte
zuzuführen, an Stelle von Theologen, welche bisher vorzugsweise und
als Vorbereitung für ihren eigentlichen Beruf das Lehramt versahen, Fach-
lehrer der Sprachen, Lehrer der Mathematik und der Naturwissenschaften
heranzubilden. Die philosophische Fakultät tritt damit auch nach ihrer
Bestimmung in den Kreis der anderen, der Fachausbildung dienenden
Fakultäten. Aber indem sie für die Lösung ihrer Aufgabe das Prinzip
aufstellt, daß die Erziehung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit die
beste Vorbereitung auch für den Lehrer sei, daß die Elemente von einem
höheren umfassenderen Standpunkt erkannt sein müssen, um in der Schule
mit Erfolg gelehrt zu werden, heischt sie die Vertiefung des Universitäts-
unterrichtes durch die Einbeziehung des gegenwärtigen Standes der wissen-
schaftlichen Forschung. Sie setzt sich damit in einen bewußten Gegensatz
zu einer auf die unmittelbaren Forderungen des späteren Berufes gerich-
teten Einschulung, ein Gegensatz, der um so stärker betont wird, als ge-
rade das vorausgehende 18. Jahrhundert das Utilitätsprinzip auf Kosten
wissenschaftlicher Vertiefung für die Jugendbildung hat hervortreten lassen.
Die neue Richtung bezeichnet vor anderen die Universität Berlin,*'*'^^""""*
die Schöpfung Wilhelm von Humboldts, und es ist die dort glänzend ^BerUn^s
der Universität
10.
320 Wai.thkr von Dyck: Die rmtunnsscnschafllichc Hochschulausbildung.
und allseitig vertretene Philologie, bei welcher zuerst Forschung und
Lehre sich verbindet. Für die mathematisch -naturwissenschaftlichen Ge-
biete ist zunächst Bonn mit dem 1825 errichteten ersten naturwissenschaft-
lichen Seminar, das später durch Plückers Lehrtätigkeit besondere
Bedeutung gewinnt, zu nennen. Neben dem Vorbild der Organisation
philologischer wSeminare macht sich hier wohl auch der Einfluß französi-
scher Einrichtungen an der ecole normale und der ecole polytechnique
geltend, ein Einfluß, dem wir weiterhin in erhöhtem Maße begegnen. Von
grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung wie für die
Das mathe- Ausbildung der Lehrer wird dann Königsberg und das von Bessel, Franz
matisch-natur- -»t t ^ j
Wissenschaft- JNeumann und Jacobi 1830 gegründete mathematisch-physikalische
liehe Seminar o • ' /-^ ny ttt- i • •
in Königsberg, oem mar. ürauD Wirksamkeit liegt in der Fülle und Tiefe der Gedanken,
durch welche er die Wissenschaft in allen ihren Teilen bereichert, durch
welche er in reichstem Maße Anregung zu weiteren Forschungen gegeben
hat, ohne aber dem Unterrichte selbst besonderes Interesse zu widmen. Die
Wirkung Jacobis stützt sich auf seine glänzenden, analytischen Arbeiten und
vor allem auf seine unübertrofl'ene Tätigkeit als Lehrer. Durch Hinleitung
zum Studium der Klassiker der Wissenschaft und vor allem durch die
Einführung- in den Gedankenkreis der eigenen Forschung leitet der Lehrer
den Schüler zu selbständiger Arbeit an. Dabei stellt sich noch ein wei-
Persüniiches tcres bcdeutsames Moment hier naturgemäß ein: das persönliche Ver-
Verhältnis ,.. ,. .- . .. ^-,.
zwischen Lehrer haltnis, welches sich ZU gegenseitigem Gewinn zwischen beiden auszu-
und Schüler, t«-., i"i i- .-i«.
bilden vermag-, um so hoher zu schätzen, je schwieriger es heutzutage bei
dem an Zahl der Schüler wie an Zersplitterung des Inhaltes so sehr ge-
steigerten Unterrichtsbetrieb noch herzustellen ist.
Eben diese persönliche Beziehung zu seinen Schülern gilt ganz be-
sonders auch von Bessels Wirksamkeit, der, an Gauß anschließend und
weiter bauend, Königsberg zum Ausgangspunkt der praktischen Astronomie
gemacht hat. Franz Neumann aber hat der großen Epoche der Franzosen
ruhmvoll die deutsche Schule der mathematischen Physik an die Seite
gestellt. Auch in der Folge ist ganz besonders der Einfluß der Persön-
lichkeit bestimmend für Inhalt und Methode der Einzelforschung: Man
denke, um nur die von Göttingen und Berlin ausgehenden Gruppen
noch zu nennen, an Dirichlet, Riemann, Clebsch und ihre Schüler,
an die zeitlich mit der Wirksamkeit Jacobis, Dirichlets in Berlin zusammen-
fallende kraftvolle originale Lehrtätigkeit Steiners, an die von Weier-
straß und Kronecker ausgehende kritische Schule, an Kirchhoff,
Helmholtz, Hertz und ihren Wirkungskreis.
Die modernen Im Bereiche der experimentellen Naturwissenschaften machte die Ver-
Bedürfnisse des .... T-^ . 1,-.^,. . ..
naturwissen- wirklichuiig dcr Forderuug, Anregung und Gelegenheit zu eigener Arbeit
Unterrichts. ZU bieten und dazu vorzubereiten, Einrichtungen notwendig, an denen es
bis dahin völlig gebrach. Zwar gab es neben den Sternwarten bota-
nische Gärten, ursprünglich medizinischen und pharmakologischen Zwecken
dienend; zoologische und mineralogische Museen, zum guten Teil den Ra-
Hr. Der naturwissenschaftliche Univcrsitätsunterricht im 19. Jahrhundert. ^2 1
ritätenkabinetten einer früheren Periode entstammend, waren wohl vor-
handen. Aber schon die Ausstattung physikalischer Sammlungen für
die Zwecke experimenteller Vorlesungen war noch zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts, ja noch weiter hinaus eine äußerst beschränkte; vielfach bildeten
sie noch den Privatbesitz der Vertreter des Faches, wie denn auch die
Vorlesung selbst nicht selten mangels geeigneter Hörsäle in der Wohnung
des Dozenten abgehalten wurde. Noch in den vierziger Jahren stellt
Franz Xeumann, dessen lebenslanger Wunsch, ein physikalisches Labo-
ratorium zur Forschung und zum Unterricht zur Verfügung zu haben, sich
nicht erfüllt hat, Garten und Haupträume seines Hauses zur Verfügung,
um seinen Zuhörern ein Studium der Physik zu ermöglichen.
Auch die Chemie, für deren wissenschaftliche Behandlung das Ende Chemie,
des 18. Jahrhunderts (Lavoisier) die Grundlagen geschaffen, entbehrte noch
der Arbeitsstätte an den Universitäten und war fast durchweg auf Privat-
laboratorien, zumeist der Apotheken, angewiesen. Um die Mitte des
I Q. Jahrhunderts schreibt ein Fachmann in einer Broschüre „Über die Stellung
der Naturwissenschaften an den Universitäten": „Es gibt in Preußen heutzu-
tage weder ein von Staats wegen gegründetes, nur nennenswertes chemisches
Laboratorium, und ebenso fehlen ähnliche Einrichtungen für Physik und
für die experimentelle Richtung der Physiologie. Die Universität Berlin,
die erste Deutschlands, besaß bis vor kurzem gar keine physikalische
Sammlung. Wenn jetzt eine solche, wie man sagt, aufgekauft ist, so ist
sie weder in der Universität aufgestellt, noch haben junge Physiker Ge-
legenheit, diesen Apparat zu selbständigen Untersuchungen zu benutzen.
Zu Halle und Greifswald stand es bis vor kurzem nicht besser; an letz-
terer Universität hat das physikalische Kabinett 80 Taler zu vertun, wofür
vielleicht auch noch Heizung und Beleuchtung bestritten werden sollen.
Wieviel Jahre muß wohl der Greifswalder Physiker sparen, um eine
Luftpumpe anzuschaffen?"
Die entscheidende Tat war hier die Schöpfung des chemischen Das Liebigscho
X o . Laboratorium m
Unterrichtslaboratoriums in Gießen, 1825, durch Liebig. Es ist Gießen .825.
in seiner Organisation, wie in den glänzenden Leistungen, die aus ihm
hervorgingen, das Vorbild für die im Laufe der folgenden Jahrzehnte nun
allenthalben errichteten chemischen Institute geworden. Während bis dahin
Paris (Lavoisier) und Stockholm (Scheele, Berzelius) die Jünger der
aufblühenden Wissenschaft versammelte, entstanden nun bei Liebig in
Gießen und München, bei Bunsen in Marburg und Heidelberg, bei
Wohl er in Göttingen die Zentren und Schulen der wissenschaftlichen
Arbeit in Deutschland.
Noch später fällt die Einrichtung physikalischer Laboratorien. ^.Die^phynka-^
Wir müssen hier die hauptsächlichsten Daten aus der Entwicklungs- 'ä^^^^;^?-^^^'"-
geschichte der physikalischen Forschung einschalten. Mit seinen neu ge-
schaffenen mathematischen Hilfsmitteln war Newton imstande gewesen, die
Mechanik insbesondere des Himmels als systematisches und exakt aufgebautes
DiB Kultur der Gbgiikwart. I. i. "
322
Wai.thrr von Dyck: Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildung.
Ganze darzustellen. Seine Nachfolger im i8. Jahrhundert hatten das Werk
für die gesamte Mechanik durchgeführt, d'Alemberts Prinzip hatte den
Schlußstein, Lagrange klassische analytische Mechanik, wie Poinsots
geometrische Behandlung eine abschließende Darstellung gegeben, über
die später Grauß, Hamilton und Hertz doch nur in einzelnen Richtungen
oder nach der methodischen und prinzipiellen Seite hinausgingen. Da-
gegen waren aus den anderen Gebieten der Physik bis zu Anfang des
19. Jahrhunderts nur vereinzelte Probleme, so von den Bernoulli, von
Euler, der mathematischen Behandlung unterworfen worden. Auch auf
experimentellem Gebiete fehlte es, so bedeutende Resultate das 18. Jahr-
hundert noch besonders für die Elektrostatik aufweist, doch namentlich
auf dem Kontinent an einer systematisch umfassenden Durchforschung- der
Erscheinungen auch nur eines Gebietes. Mit dem Beginn des 19. Jahr-
hunderts bemächtigt sich die mathematische Analyse in neuer zusammen-
fassender Art systematisch der verschiedenen Gebiete der Physik.
Nacheinander werden die Wärmelehre, die Elastizitätslehre und die
Plydrodynamik, die Optik, die Potentialtheorie, die Lehre von der Elek-
trizität und dem Mag-netismus und ihren Wechselbeziehungen in mathe-
matischer Form durch Gleichungen dargestellt und durch die gerade in
diesen Gleichungen auftretenden Analogieen zu einander in Beziehung
gesetzt. Wir nennen hier nur die Namen von Fourier, Navier, Cauchy
und Fresnel, von Gauß und F. Neumann bis Kirchhoff und Helm-
holtz, von Young, Green, Stokes bis Maxwell und Hertz.
Solche systematische Durchforschung finden wir dag^egen auf dem
Gebiete der Experimentalphysik im allgemeinen bis zur Mitte des ig. Jahr-
hunderts noch nicht. Allerdings wird diese Periode durch die Entdeckung
einer Reihe von grundlegenden Naturgesetzen bezeichnet, die gerade
auch für die ebenerwähnten theoretischen Formulierungen die Unterlage
geliefert haben. Wir nennen etwa auf dem Gebiete der Optik die Ar-
beiten von Malus (Polarisation), Fraunhofer (Spektrallinien) und Fresnel
(Interferenz und Beugung); auf dem Gebiete der Elektrizität und des Magne-
tismus Seebeck (Thermoelektrizität), O erste dt (Elektromag-netismus), Biot-
Savart, Ampere und Ohm mit den nach ihnen benannten Grundgesetzen.
Für sich genommen aber erscheinen diese Entdeckungen zunächst mehr als
vereinzelte Gipfelpunkte, zwischen denen eine unmittelbare Verbindung noch
nicht besteht. Eine Persönlichkeit dagegen wie Faraday, die mit immer-
hin bedeutenden Mitteln versehen in jahrzehntelanger rastloser Arbeit ein
neues Gebiet der Experimentalphysik bis in seine dunkelsten Winkel
durchforschte und auf die so erworbenen Kenntnisse ganz neue Grund-
anschauungen aufbaute, ist in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine
vereinzelte Erscheinung.
Einen neuen Abschnitt bezeichnet das durch die Arbeiten von Robert
Mayer, Joule und Hirn erwiesene, durch Helmholtz nach seiner
vollen Tragweite umfassend formulierte Gesetz von der Erhaltung der
m. Der natarwissenschadliche Universitätsunterricht im 19. Jahrhundert. 753
Energie. Mit ihm ergab sich eine Möglichkeit, die physikalischen Er-
scheinungen unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt des Austausches der
Energie zusammenzufassen. Den größten Erfolg brachte diese Anschauung
in der auf Carnot und Clausius zurückgehenden Thermodynamik; ihre
weitgehendste Konsequenz zog sie in dem Versuch, die Mechanik und
mit ihr die gesamte Physik als Energetik aufzubauen. Auf der anderen
Seite führten die atomistischen Vorstellungen besonders in der kinetischen
Gastheorie zu neuen Resultaten, versuchte Kelvin eine Deutung der
Materie in seiner Wirbeltheorie. Auch die moderne Elektronentheorie
lehnt sich in mancher Beziehung an atomistische Vorstellungen an. Parallel
damit läuft die Neigung, Vorgänge auch auf anderen Gebieten der Physik
durch mechanische Analogieen zu veranschaulichen. Zugleich aber führen
alle diese Ansätze zu der Erkenntnis von der nur relativen Gültigkeit der
einzelnen physikalischen Theorieen, zu der Auffassung auch der mathe-
matischen Formulierungen als bloßer Analogieen der Xaturvorgänge und
leiten damit die kritische Periode der Physik ein, welche auf Kirchhoffs
berühmt gewordene Formulierung ihrer Aufgabe als einer vollständigen
und möglichst einfachen Beschreibung der Xaturvorgänge zurückgeht.
Die große heuristische Bedeutung aber solcher mathematischer Analogieen
zeigt sich am besten auf der durch sie veranlaßten Vereinigung nicht nur
der Lehre von der Elektrizität und dem Magnetismus, sondern auch der
Lehre vom Licht zu einem gewaltigen Ganzen, wie sie Maxwell, der
Beobachtung vorgreifend und ihr den Weg bahnend, gelungen ist.
Man wird den Grund des verhältnismäßigen Zurücktretens der syste-
matischen experimentellen Forschung in der ersten Hälfte des ig. Jahr-
hunderts in Deutschland wohl mit aus dem Fehlen geeigneter Arbeitsstätten
und größerer Mittel zur Durchführung breiter angelegter Untersuchungen
und nicht zuletzt auch aus der in vielen Richtungen noch recht großen
Unvollkommenheit und Beschränktheit des instrumenteilen Apparates er-
klären können. Man gedenke der geringen Hilfsmittel, mit denen Ohm
seine fundamentalen Gesetze nachwies, der hohen technischen Kunst, die
Fraunhofer erst auf die Verv'ollkommnung der optischen Instrumente
verwenden mußte, ehe er durch seine Arbeiten den Grund der Spektral-
analyse legte, der schwerfälligen Apparate, mit denen Robert Mayer
mit zäher Ausdauer die Versuche zum Beweise seiner genialen Kon-
zeptionen durchführte! Zu allseitiger Durchforschung eines größeren Ge-
bietes gehört, und dies gilt um so mehr, je weiter die Wissenschaft fort-
schreitet, vor allem ein umfassender und systematischer Apparat, wie er
im nötigen Umfang nur schwer von Einzelnen beschafft werden konnte.
So hängt denn die allseitige Inangriffnahme experimenteller Probleme, wie
sie nun in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzt, aufs engste zu-
sammen mit der Einrichtung und Ausgestaltung der physikalischen In-
stitute.
An den Anfang dieser Entwicklung haben wir bedeutungsvoll Wilhelm '''"iS".''*
^■yA Walthkk von Dyck ! Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildung.
Webers Lehr- und Forschertätigkeit in Göttingen zu setzen. Er hat wohl
zuerst in den dreißiger Jahren in umfassender Weise das physikalische
w. Webers Kabinett der Universität, über die Zwecke der Demonstration hinaus, zu
i-iböratorium einem Institute der wissenschaftlichen Forschung umgestaltet und Gelegen-
ottingeu. ^^.^ ^^ einem physikalischen Praktikum für Anfänger und Fortgeschrittene
geschaffen. In den vierziger und fünfziger Jahren entstehen auch ander-
wärts, wenn auch noch nicht in größerem Maßstabe, Einrichtungen zu
experimenteller Schulung und für selbständige Arbeiten, und wird schon
bei Neubauten für Anlage pliysikalischer Institute Sorge getragen. In den
sechziger Jahren hat Magnus in BerUn in seiner Privatwohnung ein
kleines Laboratorium für experimentelle physikalische Untersuchungen er-
öffnet. Von 1870 an findet dann in raschem Fortschreiten allenthalben
der Ausbau physikalischer Institute statt, zumal an den großen Universi-
täten in besonders reicher und vielseitiger Ausgestaltung. So ist es heute
möglich, daß an den einzelnen Instituten ein engerer Schülerkreis sich
um den Lehrer sammelt, um sich an der Durchführung größerer Probleme
zusammenwirkend zu beteiligen und so für selbständige Arbeit vorzube-
reiten. In breiterem Rahmen läuft daneben die Aufgabe der Ausbildung
der Lehrer der Naturwissenschaften, bei welcher, nach dem Durch-
laufen einer allgemeinen experimentellen Schulung, besonders die für den
einführenden Unterricht verwendbaren beschränkten Hilfsmittel und Me-
thoden ihre Beachtung zu finden haben.
Neben den großen Laboratorien haben sich weiterhin, wie schon früher
für Erdmagnetismus und Meteorologie, in den letzten Jahrzehnten dem
Eingreifen der Physik in die Nachbargebiete entsprechend speziellere In-
stitute für die Pflege solcher Grenzgebiete entwickelt, so die Institute der
physikalischen Chemie, der Geo- und Astrophysik. Auf die Be-
ziehung der modernen physikaHschen Forschung zu den Problemen der
Technik und auf die dadurch gegebene Erweiterung ihres Interesses nach
Seite der angewandten Gebiete (Thermodynamik, Elektrotechnik) haben
wir noch später einzugehen. Hier sei nur noch der großzügigen Organi-
sation der physikalischen Reichsanstalt gedacht, welche zunächst
als Normalprüfungsstation für einheitliche Maße zu sorgen hat, welche
aber darüber hinaus gemeinsame Arbeiten der deutschen Physiker in
hohem Maße zu fördern berufen ist.
Experimentelle Auch auf den Übrigen Gebieten naturwissenschaftlicher Forschung
den besuchtet' treten die experimentellen Methoden und damit das Laboratorium in den
^sseTschaften. Vordergrund. Es muß genügen, hier nur einzelnes hervorzuheben:
Kristallographie, Kristallographie, Mineralogie und Geologie haben erst gegen
öTob^e*' das Ende des 18. Jahrhunderts wissenschaftliche Behandlung erfahren. Sie
ist aus den praktischen Bedürfnissen des Bergbaues heraus erwachsen.
In Deutschland bilden A.G.Werners Vorlesungen an der Bergakademie
in Freiberg den Ausgangspunkt für diese erste Entwicklung, deren Be-
deutung durch die Schüler Werners L. v. Buch, A. v. Humboldt,
rn. Der naturwissenschafUiche Universitätsunlemcht im 19. Jahrhundert. ^25
Chr. A\'eiß u. a. gekennzeichnet wird. Dann traten Geometrie, Physik
und Chemie der Reihe nach für die Vertiefung ein. Haug und Chr. Weiß
gaben die Grundgesetze einer geometrischen Kristallographie, deren Aus-
gestaltung zu einer vollständigen Klassifikation der Kristallsysteme auf
Grund der regulären Punktsysteme des Raumes und ihrer Symmetrieeigen-
schaften führt. Durch die eingehende Untersuchung der thermischen,
optischen und elastischen Eigenschaften der Kristalle legte sodann Franz
Neumann den Grund einer physikalischen Kristallographie, während sich
auf Klaproths und Berzelius' Arbeiten auf dem Gebiete der Mineral-
chemie eine chemische Kristallographie aufbauen konnte, als deren be-
deutendste Vertreter wir die Schüler Berzelius' E. Mitscherlich (Iso-
morphismus), die beiden Rose, Wöhler und Bunsen zu nennen haben.
Von hier aus öffnete sich der Weg zu den physikalischen und chemischen
Methoden der Geologie, die andererseits mit Ausgestaltung der Paläon-
tologie die zoologischen und botanischen Forschungen heranzog.
Mußte die gewaltige Entwicklung des gesamten Lehrgebietes schon
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zu einer Trennung von Mineralogie
und Kristallographie einerseits und von Geologie und Paläontologie an-
dererseits führen, so paßte sich auch die Lehrmethode der Ausgestaltung
an. Neben Vorlesung und Exkursion tritt heute eine intensive Tätigkeit
im mineralogischen und geologischen Institut, dessen Ausrüstung ebenso-
wohl den physikalischen und chemischen wie den spezifisch mineralogisch-
geologischen Untersuchungsmethoden zu entsprechen hat. Daneben aber
vermittelt die Beziehung zu den geologischen Landesanstalten, die wohl
zumeist der praktischen Forschung der Universitätslehrer ihre Entstehung
verdanken, wie die Verbindung mit dem Bergbau, der an den Berg-
akademieen noch besonders auch dem Unterrichte zu dienen hat, neben
wissenschaftlichen Exkursionen und Expeditionen ein reiches Material für
das Studium.
Botanik und Zoologie haben von zwei Richtungen her Ausbau und «ounik und
° '^ Zoologie.
Pflege gefunden. Auf der einen Seite war es die Aufgabe der Beschrei-
bung und Klassifikation all' der Mannigfaltigkeiten der Pflanzen- und Tier-
welt — eine Aufgabe, welcher gemäß noch heute diese Naturwissenschaften
zusammen mit Mineralogie und Geologie als die beschreibenden bezeichnet
werden — die von Linnes Wirksamkeit an noch bis zur Mitte des
IQ. Jahrhunderts vorherrschend gepflegt wurde. Das zoologische Museum,
dem früheren Naturalienkabinett entstammend, wie der nach systematischen
Gesichtspunkten geordnete botanische Garten, aus dem früheren hortus
medicus envachsen, kennzeichnen diese Richtung. Andererseits war zu-
vörderst auf dem Gebiete der Zoologie von Seiten der Anatomie her eine
Morphologie der Tiere im Sinne Cuviers erwachsen, die zunächst vor-
nehmlich in der medizinischen Fakultät ihre Stätte fand. So vertreten
Blumenbach in Göttingen und vor allem Meckel in Halle die ver-
gleichend-anatomische Forschung. In den ersten Dezennien des ig. Jahr-
^26 W'aLTHKR von DycK : Die uaturwisscnschafllichc Ildchbchulausbildunf;.
hunderts entwickelte sich, wir nennen besonders H. v. Mohl, auf dem
Gebiete der Botanik eine Anatomie des fertigen Pflanzengewebes und
des Zellgerüstes der Pflanze, welcher, eröffnet durch Schleidens ent-
wicklungsgeschichtliche Forschungen, eine eigentliche Morphologie der
Pflanzen, geknüpft an das Studium der Zelle und des Zellinhaltes, der Ent-
stehung der Gewebe, der Entwicklung der Glieder des Pflanzenkörpers,
besonders durch Nägelis und Hofmeisters Arbeiten gefördert, sich an-
schließt. Es folgen die pflanzenphysiologischen Untersuchungen Seh wen-
de n er s, später die von Sachs, die Heranziehung mechanischer, physi-
kalischer und chemischer Methode und Auffassungsweise; auf Darwins
„Entstehung der Arten" gründet sich die Phylogenie des Pflanzenreichs ;
mit dem Studium der Anpassungserscheinungen erhöht sich das Interesse
für biologische Vorgänge.
In analoger Entwicklung treten mit Johannes Müller neben den
vergleichend-anatomischen die physiologischen, mit v. Baer die entwick-
lungsgeschichtlichen Elemente in die zoologische Forschung ein, begrün-
dete Schwann die Zellentheorie der tierischen Gewebe; während die
Darwinsche Lehre in Deutschland insbesondere nach der morphologischen
Seite hin ihren Ausbau fand.
Das Ineinandergreifen so mannigfacher Disziplinen und Forschungs-
methoden förderte eine möglichst vielseitige Entwicklung der botanischen
und zoologischen Institute. So berichtet R. Hertwig in seinem Referat über
Zoologie und vergleichende Anatomie in Lexis' Universitätswerk von 1893
über die Umgestaltung des Unterrichtes und der Unterrichtsmittel: „In glei-
chem Maße als Anatomie, Entwicklungsgeschichte und Physiologie der Tiere
in den Vorderg-rund traten, mußte das Übermaß ausgestopfter Säugetiere
und Vögel, getrockneter Insekten, Krebse, Konchylien usw. anatomischen
und entwicklungsgeschichtlichen Präparaten weichen. Die Sammlungen
der Wirbeltierskelette wurden vergrößert; zur Belebung des Unterrichtes
wurden bildliche Darstellungen und Modelle angefertigt, teils um Anatomie
und Entwicklungsgeschichte zu erläutern, teils um von Tieren, deren Form
und Farbe sich nicht erhalten lassen, richtige Vorstellung-en zu erwecken.
Vor allem aber entstanden im Laufe der letzten 30 Jahre zoologische
Institute und mit ihnen neue Unterrichtsräume, in denen die Studieren-
den Gelegenheit fanden, sich in der Handhabung des so wichtig gewor-
denen Mikroskops und im Beobachten und Zergliedern der Tiere zu üben,
die Methode der Konservierung und wissenschaftlichen Forschung kennen
zu lernen und die Wissenschaft durch selbständige Forschung zu fördern."
In ähnlichem Sinne haben sich auch die Hilfsmittel des botanischen
Unterrichtes erweitert. Neben dem botanischen Garten, der eine Zeitlang,
zu der Zeit, als die mikroskopische Forschung eine makroskopische Be-
trachtung fast ganz verdrängt hatte, vernachlässigt war, dann aber durch
die Bedeutung der biologischen wie auch der pflanzengeographischen
Fragen eine Neubelebung erfuhr, sind heute wohl allenthalben botanische
III. Der naturwissenschaftliche Universitätsunterricht im 19. Jahrhundert. ^27
Institute getreten und nach den mannigfachen Richtungen der Forschung
hin ausgerüstet. Wenn dabei — wie auch in anderen Gebieten der Natur-
wissenschaft — das spezielle Arbeitsgebiet des Gelehrten an den einzelnen
Universitäten sich in der besonderen Ausgestaltung seines Institutes für
eben diese Zwecke bekundet, so ist das ein nicht zu unterschätzender
Vorzug, welcher der in ihrer Entwicklung begründeten Eigenart der deut-
schen Universitäten voll entspricht und welche der Intensität des Unter-
richtes ebenso wie der Forschung zug-ute kommt.
Für die Pflege der durch Morphologie und Biologie neu belebten
Systematik haben dann, zumeist wohl nicht im unmittelbaren Zusammen-
hang mit dem Unterricht die großen naturwissenschaftlichen Museen an
Bedeutung und allseitigem Interesse gewonnen und bilden heute — man
denke an London, Berlin, Wien — Zentralstellen, welche der Forschung,
besonders über die geographische Verbreitung und die Lebensbedingungen
der Lebewesen ein reiches Material zur Verfügung zu stellen vermögen
und die zugleich der Verbreitung naturwissenschaftlicher Anschauung im
Volke zu dienen bestimmt sind. Dazu sind dann noch in den letzten
Jahrzehnten jene bedeutsamen Stationen getreten, welche wie Neapel,
Helgoland für die Zoologie, Buitenzorg für die Botanik — in ähnlicher
Weise wie schon früher der Jardin d'acclimatisation zu Paris, Kew garden
in London, der botanische Garten auf Ceylon — wesentlich für die Be-
arbeitung biologischer Fragen bestimmt sind, und weiter haben sorgfältig
und mit reichsten Mitteln ausgerüstete wissenschaftliche Expeditionen (so
seit der Challenger-Expedition als erster bahnbrechender Unternehmung
unter den deutschen die Planktonexpedition Hensens, die Expedition der
Valdivia) unsere Kenntnis auch nach der systematischen Richtung hin in
hohem Maße bereichert.
Arbeits- und Lehrgebiet des Mediziners war von alters her not-D'enatorwiiscn-
scliaftlichea
wendigerweise enge verknüpft mit den Naturwissenschaften, die ja lange Methoden in d«
. Medizin.
fast nur als ihre Hilfswissenschaften Anerkennung und Ausbildung- er-
fahren hatten. Die große Bewegung, welche um die Mitte des 16. Jahr-
hunderts die Naturwissenschaften neu gestaltet, hat auch hier die alten
dogmatischen Systeme und eine bloße Interpretation medizinischer Lehr-
bücher verdrängt durch Einführung klinischen Unterrichts und anatomischer
Forschung. Das 17. Jahrhundert bringt dann auch in Deutschland in einem
reichen Erfahrungsmaterial die Ausgestaltung der theatra anatomica, wäh-
rend im 18. Jahrhundert, auf dem Wege über Holland, die Einrichtung
von Kliniken beginnt. Aber die nun selbständig und umfassend sich ent-
wickelnde Naturlehre kommt doch zunächst nur in einzelnen Resultaten
der Medizin zugute. Von Vorurteilen befangene Auffassung, von natur-
philosophischen Spekulationen geleitete Betrachtungsweise der Erschei-
nungen des Lebens hemmen mehrfach den freien und objektiven Blick.
Erst im 19. Jahrhundert beginnt die moderne Entwicklung der medi-
zinischen Wissenschaften mit der Zugrundelegung der naturwissen-
528 Walthek von Dyck: Die naturwisscnscliaftliche Hochschulausbildung.
schaftlichen Methoden. Wir gedenken hier vor allem des Tierver-
suchs als der Übertragung des Experimentes in das Gebiet der innern
Medizin, der physiologischen Forschung mit ihren engen Beziehungen
zu Chemie und Physik, wie sie sich an Johannes Müllers, an Wöhlers,
Liebig s, Helmholtz' Namen knüpft; der allseitigen Wirksamkeit Vir-
chows auf dem Gesamtgebiete der Pathologie, der Arbeiten von
Pettenkofer im neugeschaffenen Gebiet der Hygiene. Hand in Hand
mit dieser in die Tiefe gehenden Entwicklung läuft eine weitgehende
Spezialisierung und Differentiierung, deren Fortschreiten einer gleich-
mäßigen Gestaltung des Unterrichtes, dem Ineinklangsetzen theoretischer
und praktischer Ausbildung ganz wesentliche Schwierigkeiten bereitet.
Fügen wir hierzu an, was Ziemsse n (in dem schon genannnten Lexis-
schen Universitätswerke) über die moderne Ausgestaltung der Kliniken
bemerkt:
„Wie die wissenschaftliche Methode ausschlaggebend gewesen
ist für die klinische Medizin unseres Jahrhunderts und ihre Entwicklung
in naturwissenschaftlichem Sinne, so ist auch die Methode des Lehrens
und Lernens auf den deutschen Hochschulen in erfreulichem Fortschreiten
begriffen. Die klinische Medizin hat in dieser Beziehung eine Erweiterung
ihres Arbeits- und Lehrbezirkes erfahren, welche in mancher Hinsicht
geradezu einer Neugestaltung gleichkommt. Wenn man die Verhältnisse
in den klinischen Lehranstalten um die Mitte des Jahrhunderts vergleicht
mit den Verhältnissen von heute, so erscheint vor allem eine Tatsache
bemerkenswert: das Lehr- und Arbeitsgebiet der klinischen Medizin, früher
auf das Krankenzimmer beschränkt, erfordert jetzt ein wissenschaftliches
Institut mit einer vollständigen Ausrüstung an Lehr- und Arbeitsmitteln.
Der Anschauungsunterricht beschränkt sich nicht mehr auf die Demon-
stration von Kranken, sondern er verlangt die Vorführung der wissen-
schaftlichen Methoden, aus denen das Urteil über den Krankheits-
prozeß und die Richtschnur für dessen Behandlung g-ewonnen wird. Eine
solche Demonstration kann nicht mehr in Krankenzimmern stattfinden,
sondern erfordert große, zweckmäßig eingerichtete Hörsäle, ein vollstän-
diges Inventar an wissenschaftlichen Instrumenten und Apparaten, an
Tafeln und Atlanten, an Gipsabgüssen und Modellen usw. — Und nicht
bloß für die Demonstrationen der Kliniker ist ein vollständiges Lehr-
material vorzukehren, sondern auch für die spezialistischen Kurse der
Dozenten und für die so wichtigen praktischen Übung'en, deren Bedeutung
sich gerade in der Neuzeit immer mehr in den Vordergrund drängt. Je
umfangreicher und komplizierter das klinische Studium sowohl in wissen-
schaftlicher als in praktischer Hinsicht sich gestaltet, um so notwendiger
erscheint eine adäquate Vervollkommnung der demonstrativen Unterrichts-
methoden, um so dringlicher tritt die Notwendigkeit hervor, für die kli-
nische Medizin selbständig-e, wohleingerichtete Institute zu erbauen!"
Fassen wir zusammen: Die glänzende, allseitig-e und vielgestaltig"e Ent-
m. Der naturwissenschaftliche UniversitäUunterricht im 19. Jahrhundert. ^2g
Wicklung, welche die gesamten Naturwissenschaften ■ — und wir schließen
hier die medizinischen mit ein — im 1 9. Jahrhundert genommen, kommt an
den Universitäten schon äußerlich in dem reichen Ausbau, den ihre Lehr-
attribute gefunden, in Umfang und Differentiierung des dargebotenen Lehr-
stoffes zum Ausdruck.
An der Schwelle des Jahrhunderts begreift die Universität noch
nicht wie heute in dem Umfang ihrer Lehre auch jeweils den Gesamt-
inhalt der wissenschaftlichen Forschung eines Gebietes mit ein. Schon die
vielseitige Lehrtätigkeit des einzelnen, bisweilen an die Mannigfaltigkeit
der lectiones volventes des 16. Jahrhunderts erinnernd, läßt erkennen, daß
es sich doch in den Vorlesungen zumeist um eine elementare oder eine
enzyklopädische Darlegung handelt. In Halle bestand noch am Ende des
18. Jahrhunderts die medizinische Fakultät aus nur vier Dozenten, von
denen der eine neben der medizinischen Klinik noch Pharmakologie, Ex-
perimental chemie und Mineralogie vertrat; Meckel vereinigte Physiologie,
Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe; in der philosophischen Fakultät, in
welcher der Hallenser Tradition gemäß die Philosophen überwogen, waren
Mathematik und die gesamten Naturwissenschaften durch je einen einzigen
Fachmann vertreten. Ähnliche Verhältnisse finden sich allenthalben.
Und heute ist aus den damals in ihrer Entstehung begriffenen neuen
Gebieten zusammen mit den gnmdlegenden alten ein reich gegliederter
Organismus geworden, der die wissenschaftliche Arbeit des Jahrhunderts
umfaßt. Der spezialisierten Forschung entsprechend ist die Zahl der Do-
zenten verdreifacht, vervielfacht, sind die Lehrgebiete wie die ihnen die-
nenden Institute ins einzelne gesondert. So ist wohl allenthalben ein
eigenes „naturwissenschaftliches", ein „medizinisches Viertel" zu den
altehrwürdigen Universitätsgebäuden und zu den alten primitiven anato-
mischen und klinischen Anstalten getreten, und es ist ein nicht unbeträcht-
licher Teil sorgsamer Arbeit auch der Gelehrten selbst, der in der mög-
lichst praktischen und vielseitigen Ausgestaltung dieser Institute nieder-
gelegt ist. Gedenken wir nur etwa der trefflichen Neuorganisation der
naturwissenschaftlichen Institute Leipzigs, Würzburgs, Tübingens, der
umfassenden medizinischen Anstalten Berlins, Wiens, der besonders die
angewandten Gebiete betonenden Laboratorien Göttingens und Jenas,
der prächtigen Bauten des jungen Straßburg,
Und doch, der mannigfaltige und reiche Ausbau, welchen die gesamten
Naturwissenschaften durch die Vertiefung von innen her, durch den von
außen eingedrungenen Stoff, durch die Wechselbeziehung der einzelnen
Gebiete untereinander im Laufe des 19. Jahrhundert im Rahmen der Uni-
versitäten gefunden, erschöpft noch nicht den ganzen Inhalt ihrer Entwick-
lung. Er zeigt nur nach einer Seite hin die Bedeutung einer gegenseitigen
Befruchtung. Gerade das Einsetzen mathematischer Älethoden und weiter-
hin der experimentellen ist bestimmend geworden für den Ausbau eines
neuen Gebietes menschlicher Erkenntnis und Betätigung, welches an der
3 5Q Walthkk von Dvck : Die nuturwissenscbaftliclie Iluchscliulausbildimg.
kulturellen Gestaltung der Gegenwart in ganz besonderem Maße teil-
genommen: Es ist das Gebiet der Technik und der technischen
Wissenschaften, zu dem wir uns, vornehmlich mit Bezug auf den Ent-
wicklungsgang der technischen Hochschulen, nun zu wenden haben.
Anfänge im IV. Der technische Hochschulunterricht im n^. Jahrhundert.
'Die\amerai-' Wir haben schon oben ausgeführt, wie die Betonung der praktischen Auf-
Land°-°undFor"t- gaben Und Ziele des Unterrichtes, welche für das 1 8. Jahrhundert charakte-
ristisch ist, zur Einrichtung elementarer realistischer Schulen führte, und wie
sie auch im höheren Unterricht durch die Aufnahme einzelner technischer
Fächer hervortrat. Wir können den Beginn dieser Entwicklung für die
Universitäten in das Jahr 1727 verlegen, in welchem Friedrich Wilhelm I.
die erste „Professur in Ökonomie, Polizei und Kammersachen" gründete.
Sie galt der Ausbildung von Verwaltungsbeamten für eine rationelle Be-
wirtschaftung der Staatsgüter und Bergwerke, für die Förderung von Manu-
faktur und Kommerz des Landes. Von diesen unter den Kameralwissen-
schaften ursprünglich zusammengefaßten Disziplinen haben sich Land- und
Forstwirtschaft selbständig entwickelt, zu einem Teile in gesonderten
Fachschulen und in Verbindung mit Musterinstituten für den praktischen
Betrieb (Thaer), zum anderen an den Universitäten in bedeutsamer Wechsel-
wirkung mit den naturwissenschaftlichen Disziplinen (Liebig). Volkswirt-
schaftslehre und Finanzwissenschaft sind heute zum Teil in Anlehnung an
die juristischen Fakultäten in den Staatswissenschaften zusammengefaßt.
Der Rest technischer und technologischer Disziplinen aber fristete noch bis
etwa zur Mitte des ig. Jahrhunderts, in seinem Wirkungskreis beschränkt,
unbeachtet und ungeachtet ein kümmerliches Dasein.
Selbständige Zwei Momente hatten aber inzwischen die selbständige Entwicklung
"tJ^hnischen""^ technischer Schulen in Deutschland in die Wege geleitet: Die Maschinen-
industrie Englands hatte am Ende des 1 8. Jahrhunderts eine völlige Um-
wandlung auf allen Gebieten der Technik hervorgerufen, aber auch eine
Abhängigkeit von England in technischer und kommerzieller Beziehung
herbeigeführt, welcher nur durch eigene Kraft begegnet werden konnte.
Und weiter: Die um eben diese Zeit, in den Stürmen der Revolution und
mit Rücksicht auf die gebieterischen Forderungen der Wohlfahrt des
Staates errichtete 6cole polytechnique zu Paris bot das glänzende Muster
für die höhere Ausbildung des Technikers.
Wir müssen, um das um die Wende des vorigen Jahrhunderts immer
dringender herantretende Bedürfnis nach technischen Fachmännern zu ver-
stehen, uns vergegenwärtigen, wie rasch in dieser Zeit die Maschine in
allen Betrieben ihren Einzug fand: 1776 hatte die Fabrik von Watt und
Boulton in Soho ihre erste Maschine geliefert, in die Jahre von 1767 bis
1787 fällt die Konstruktion der Spinnmaschinen und ersten mechanischen
Webstühle, durch welche die englische Textilindustrie einen auf dem Kon-
tinent nur zu sehr empfundenen Vorsprung gewann.
IV. Der technische Hochschulunterricht im 19. Jahrhundert. ^jl
Schon 1780 wurde dann in Deutschland die erste Spinnmaschine (in
Augsburg), 1785 die erste Dampfmaschine (in Hettstädt) aufgestellt, aber
man war für Betrieb und Reparatur der Maschinen vollständig auf die
englischen Techniker angewiesen!
So trieb denn zunächst das unmittelbare Bedürfnis nach geschulten Technische
. ,-%f-i- • • Mittelschulen.
Technikern für den Betrieb, nach Maschinenmeistern, andererseits nach
Feldmessern, Land- und Wasserbaumeistern, Baugewerksleuten zur Organi-
sation von Schulen, die wir heute, sowohl was den Inhalt der als Vorbe-
reitung dort gelehrten mathematisch -naturwissenschaftlichen Fächer als
den Umfang der eigentlichen technischen Lehrgebiete anbetrifft, als mitt-
lere Gewerbeschulen bezeichnen würden.
Das Vorbild Frankreichs führte dann zuerst in Österreich zur Errich-
tung polytechnischer Institute, deren reales Ziel neben gründlicher theo-
retischer Vorbildung „die Emporbringung der vaterländischen Gewerbe
durch wissenschaftlichen Unterricht" charakteristisch bezeichnet. Dem-
entsprechend war auch in Wien ein Konservatorium für Künste und Ge-
werbe, ein Verein zur Beförderung der Nationalindustrie angegliedert.'
Von der Bedeutung dieser Institute zeugt der Umstand, daß mehrfach
dort vorgebildete Techniker bei Gründung und Neuorganisation der deut-
schen technischen Schulen eine führende Rolle übernahmen.
Langsamer gestaltete sich, aus inneren und äußeren, zum Teil lokalen
Gründen, der Ausbau höherer Schulen in den übrigen deutschen Staaten.
Wie enge der Kreis war, aus dem heraus die Entwicklung erfolgen mußte,
geht beispielsweise aus einer Bestimmung der Dresdener „technischen
Bildungsanstalt" hervor, welcher zufolge die aus der Schule hervorgehen-
den Techniker von den Beschränkungen, die sonst der Zunftzwang den
Handwerkern und Gewerbetreitienden auferlegt, befreit sein sollten.
In München treten uns die Pläne für „eine Hochschule, welche alle
technischen Studien umfassen sollte" entgegen in einer trefflichen Denk-
schrift Reichenbachs und Fraunhofers aus dem Jahre 1823, aber sie
werden durch den Hinweis, daß für den höheren technischen Beamten die
kameralistische Ausbildung an den Universitäten bestimmt und ausreichend
sei, vertagt. Höhere Gewerbeschulen treten allenthalben auf. Aber erst
Karlsruhe kann in seiner Organisation von 1832 als die erste deutsche
technische Hochschule nach Forderung und Leistung bezeichnet werden.
Grundlegende Bedeutung gewinnt es für die technischen Wissenschaften
in den 40er Jahren durch Redtenbachers Wirksamkeit. Dann folgt 1855
Zürich, das von Anfang an durch eine glückliche A-Uswahl vorzüglicher
Lehrkräfte (Zeuner, Culmann) eine hervorragende Stellung gewinnt.
Für den nun folgenden Umwandlungsprozeß der technischen Schulen Umwandlung
. ^ r 1 ^""^ Hochschule.
ZU Hochschulen zitieren wir, was Grashof in einer im Auftrag des Vereins
Deutscher Ingenieure verfaßten Denkschrift „über die der Organisation der
pol}'technischen Schulen zugrunde zu legenden Prinzipien" sagt: „Meines
Erachtens ist es eine Lebensfrage der polytechnischen Schulen, daß sie
5^2 Walthek von Dvck : Die naturwissenschaftliche Tlochschuhiusbildung.
durchaus den Charakter von Hochschulen behaupten resp. erstreben, die
wissenschaftliche Ausbildung für untergeordnete und mittlere technische
Berufsstellungen den Gewerbeschulen überlassend."
„Zweck und Charakter der polytechnischen Schule möge hiernach
so zusammengefaßt werden: Sie sei eine technische Hochschule und be-
zwecke die den höchst berechtigten Anforderungen entsprechende wissen-
schaftliche Ausbildung für diejenigen technischen Berufsfächer des Staats-
dienstes und der Privatpraxis, welche die Mathematik, die Naturwissen-
schaften und die zeichnenden Künste zur Grundlage haben, sowie auch
die Ausbildung von Lehrern der an der Schule vertretenen technischen
und Hilfswissenschaften."
Von da ab datiert der zielbewußte Ausbau der technischen Schulen
zu Hochschulen, für welchen zunächst die Reorganisation von Karlsruhe,
die Errichtung der Polytechniken in München und Aachen, der Ausbau von
Darmstadt, Dresden, Hannover, Stuttgart, Braunschweig, endlich die Ver-
einigung" der Bau- und Gewerbeakademie in Berlin in einem umfassend
angelegten Neubau den äußeren, wesentlich in den 70er Jahren sich voll-
ziehenden Werdegang bezeichnet. In den letzten Jahrzehnten hat die stei-
gende Bedeutung- der technischen Arbeit im gesamten Leben der Nation
und die allgemeine Anerkennung- ihrer Leistungen die kräftigste Förderung
der derselben gewidmeten Bildung'sstätten zur Folge gehabt, die besonders
auch in der jüngst erfolgten Gründung Danzigs ihren Ausdruck findet.
Darüber hinaus aber hat sie zur Gleichstellung der technischen Hoch-
schulen mit den Universitäten geführt, die zunächst in dem Grundsatze der
Lehr- und Lernfreiheit, in der äußeren Stellung der Lehrkräfte, in der Ge-
währung akademischer Verfassung ihren Ausdruck fand. Als dann in den
letzten Jahren auch das letzte Vorrecht der Universitäten, das Recht der
Doktorpromotion den technischen Hochschulen eingeräumt wurde, da sollte
dies ein Zeichen dafür sein, daß die volle Gleichberechtigung dieser Stätten
des Unterrichts nach außen hin anerkannt sei und daß es sich jetzt nur
noch um den ehrenvollsten Wettstreit zwischen beiden handeln könne, den
der inneren Tüchtigkeit und des geistigen Lebens.
Innerer Ausbau. Für die innere Gestaltung der technischen Schulen ist der Entwick-
lungsgang der technischen Wissenschaften selbst maßgebend, wie er sich
im Laufe des ig. Jahrhunderts vollzieht, in seinen verschiedenen Stadien,
nach seinen Beziehungen zu Mathematik und Naturwissenschaften auf der
einen, zur technischen Praxis auf der anderen Seite.
Die''grund- Zunächst gibt die 6cole polytechnique das Vorbild für die Ausgestal-
zipiinen. tung' der grundlegenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, ge-
wissermaßen der philosophica des Technikers. Sie ist in hohem Maße eine
theoretische: Der einheitlichen Auffassung-, welche die Naturerscheinungen
in ihrer mathematischen Behandlung in den Händen von d'Alembert,
Lagrange, Laplace gewonnen, tritt die Entwicklung einer technischen
Mechanik durch Navier, Poncelet, de Saint-Venant, die Einführung
rV. Der technische Hochschuluntcrricht im 19. Jahrhundert. 333
graphischer Methoden durch Monge zur Seite, während in Deutschland
Gauß die Methoden der höhern Geodäsie entwickelt und bis zur prak-
tischen Verwendung ausgestaltet. Das gab der Vorstufe zum praktischen
Beruf eine vorwiegend mathematische Richtung. Sie wurde in ihrer Wir-
kung noch verstärkt, als in der Folge die mathematische Forschung sich
immer mehr von den Problemen der Anwendung entfernte.
So entstand eine Kluft zwischen dem Lehrinhalt der theoretischen
Vorstudien und den Forderungen, welche die technischen Fächer in ihrer
Entwicklung an das Anschauungsvermögen, an konstruktive Fertigkeit,
an praktisch-venvertbares Können stellen mußten. Zunächst tritt hier
vermittelnd eine weitgehende Ausgestaltung und Ausnützung der graphi-
schen Methoden ein: Der Ausbau der darstellenden Geometrie nach selten
der Baukonstruktion, der graphischen Statik (Culmann), der Kinematik,
der Photogrammetrie und der Kartenprojektion, die Anwendung allgemeiner
graphischer Rechenmethoden. Auch die moderne Entwicklung all der
sinnreichen Rechenmaschinen, Meßinstrumente, Planimeter und Integraphen
ist in diesem Zusammenhange zu nennen. Weiterhin paßt sich aber auch
die Lehrmethode der rein mathematischen Fächer dem Ziele des Unter-
richtes an. Sie verzichtet auf die moderne kritische Strenge in der Dar-
legung der Grundlagen und auf eine lückenlose Konsequenz des Auf-
baues; bevorzugt vielmehr statt dessen eine anschauungsmäßige Darstellung
und sucht an vStelle einer nach der formalen Seite hin zu weit gehenden
allgemeinen Behandlung die Kraft ihrer Methode durch das Anpassen an
das Wesen der besonderen vorliegenden Fragestellung zu gewinnen, ohne
dabei auf die künstliche Ausbildung von Hilfsmitteln zu verfallen, welche
nur im Einzelfalle anwendbar und jedesmal für einen solchen zurecht zu
formen sind. Das Heranziehen einfachster Beispiele aus den Gebieten der
Physik und Technik unter Verwendung genäherter Rechenmethoden für
die volle numerische Durchführung leitet zu den Aufgaben des Fach-
studiiuns über. Die Praxis stellt den Techniker, so oft es sich um neue
Konstruktionen oder auch nur um neue Anordnimgen handelt, immer
wieder vor Probleme, die er in ihrer Gesamterscheinung, und ohne die
Möglichkeit, vereinfachende Bedingungen einführen zu können, zu erfassen
und durchzuführen hat. So handelt es sich für ihn darum, ein gewisses
Gefühl für das Herausheben der wesentUch bestimmenden Größen, für den
Einfluß der Begleiterscheinungen eines Prozesses zu gewinnen. Erwächst
ein solches erst im Laufe der ausübenden Praxis auf Grund gewonnener
Erfahrung, so kann es doch vorbereitet werden wie im technischen so auch
im grundlegenden mathematischen und physikalischen Unterricht in An-
lage und Durchführung der den Anwendungen entnommenen Beispiele,
Unter den eigentlichen Fachgebieten nimmt die Architektur insofern Architektur,
eine gesonderte Stellung ein, als hier sowohl in der Vor- wie besonders
auch in der Fachausbildung als wesentlich neu noch das rein künst-
lerische Moment hinzutritt und eine starke Betonung auch im Unter-
334
Walther von Dvck: Die naturwissenschaftliche Hochschulausbiklunf;.
Ingenieur-
wissenscbaften.
Theorie und
Erfahrung.
richte fordert. F"rüher haben (wie noch heute in Frankreich) aus diesem
Grunde die jungen Architekten ihre Erziehung vielfach an den Kunst-
akademieen gefunden, während im Gegensatz dazu anderwärts das Zu-
sammenwerfen der Ausbildung von Bauingenieuren und Architekten das
künstlerische Element nicht voll entwickeln konnte; die jetzige Organisation
der Architektenabteilung hält die Mitte und gewährt die Möglichkeit zu
individueller künstlerischer Entfaltung ebenso, wie sie die bei der heute
so gesteigerten Stein- und Eisentechnik unerläßliche theoretisch-konstruktive
Ausbildung darzubieten vermag".
In den Ingenieur Wissenschaften tritt die Bedeutung der theore-
tischen Forschung besonders in der Entwicklung des Eisenbaues zutage.
Hier hat die Theorie die volle Grundlage des rationellen Baues geschaffen
und hängt die Weiterentwicklung, so kühne Versuche man auch heute
etwa mit dem noch nicht durchforschten Eisenbetonbau macht, ganz
wesentlich mit der Weiterentwicklung der theoretischen Berechnungen zu-
sammen. So gewaltige Werke wie die Müngstener Brücke oder die Ber-
liner Hoch- und Untergrundbahn verdanken Entstehung und Durchführung
ebenso der Kühnheit des Entwurfes wie der klaren und sicheren theo-
retischen Bearbeitung. Eine wichtige technische Grundlage aber mußte
geschaffen werden: Kenntnis der Elastizitäts- und Festigkeitsverhältnisse
des Materials. So entstanden Laboratorien und Prüfungsanstalten für
technische Mechanik zunächst an den technischen Hochschulen (das erste
unter Bauschinger in München), weiterhin vereinzelt als gesonderte
Organisationen des Staates (wie jetzt die große Materialprüfungsanstalt in
Berlin-Großlichterfelde), oder als spezielle Einrichtungen großer industrieller
Werke, die hier wie noch nach mancher anderen Richtung die technisch-
wissenschaftliche Forschung mit großen Mitteln auf das wirksamste zu
fördern in der Lage sind.
Auf dem Gebiete des Maschinenbaues verlor die von Redtenbacher
g'eschaffene Theorie der Maschinenkonstruktion schon in ihrer weiteren
Ausbildung bei Grashof, noch mehr bei Reuleaux zu sehr die Fühlung
mit der rapide sich entwickelnden ausführenden Technik, die, nachdem
einmal die physikalischen Grundlagen gegeben waren, der theoretischen
Entwicklung weit vorausgeeilt war. So bedurfte die allzu schulmäßig ge-
wordene Theorie einer Neubelebung aus den Tatsachen der Erfahrung, aus
den Aufgaben der Technik heraus und der Beschneidung einer rein for-
malen Systematik. Erfahrungen aber, die nur zum Teil der Praxis zu ent-
nehmen waren, mußten auch hier erst gesammelt werden. Es galt vor
allem in eingehendem Studium alle beim Gange einer Maschine — zu-
nächst der Dampfmaschine — sich abspielenden Prozesse genau zu ver-
folgen und so die auf die klassischen Arbeiten von Carnot, Clausius und
Hirn gegründete technische Thermodynamik im Maschinenlabora-
torium für alle Einzelaufgaben der Maschinenkonstruktion auszubauen.
Von Zeuners Arbeiten beginnend, erstreckt sich heute diese der Physik
IV. Der technische Hochschuluntcrricht im 19. Jahrluindorl. j^e
entnommene und für die großen Verhältnisse des technischen Experiments
angepaßte Untersuchungsmethode auf das ganze Gebiet der Kraft- und
Arbeitsmaschinen und die Frage ihrer rationellen Konstruktion, und hier
gibt die theoretische Durchforschung des Gebietes (wir erinnern etwa an
die Kältemaschinen) der Praxis die von dort gebotenen Anregungen zu
fruchtbarster Verwertung zurück. Die Maschinenlaboratorien gewinnen in
der Folge auch für den Unterricht eine erhöhte Bedeutung, ganz besonders
seit der Vergleich mit den Unterrichtsorganisationen Englands und Amerikas
den Wert praktischer Ausbildung für den jungen Techniker immer mehr
in den Vordergrund gerückt hat.
Neben den Maschinenlaboratorien, und zeitlich zumeist früher als diese
erstehen, den Kraft- und Lichterscheinungen der strömenden Elektrizität
und des Elektromagnetismus gewidmet, die Laboratorien der Elektro-
technik. Sie vor anderen zeigen die Bedeutung des Zusammenarbeitens
von Naturwissenschaft und Technik. Den physikalischen Forschungen von
Ohm, von Faraday und Joule, von Maxwell und Hertz entstammen
die Gesetze, welche die Grundlagen für die Anwendung der Elektrizität
im technischen Betriebe bilden. Umgekehrt fließt aus den Laboratorien
eines Siemens ein Starkstrom in die Forscherstätten der Physik und
der Chemie und veranlaßt hier, Versuche mit ganz anderen Kräften durch-
zuführen, als man sie früher für möglich und für nötig hielt. Auch noch
in mannigfachen anderen Richtungen, so in der technischen Physik, in
der chemischen Technik bewährt sich die Organisation besonderer mit
den Hilfsmitteln des technischen Großbetriebes ausgestatteter Laboratorien
für Unterricht und Forschung und bietet für die allenthalben in der hoch-
entwickelten Praxis auftauchenden- theoretischen Fragen die ergänzende
Arbeitsstätte.
So tritt die enge Fühlung mit den exakten Wissenschaften allerorts
zutage, und zeigt sich auf der anderen Seite auch die Notwendigkeit
einer steten Bezugnahme zu den Erfahrungen der Praxis. Der Wett- Ausgleich,
streit beider Richtungen hat unsere technischen Hochschulen zu. dem ge-
staltet, was sie heute sind. Gewiß, zu früh geschaffene Theorie, auf un-
vollständige Erfahrungstatsachen gestützte mathematische ?~ormulierung,
in ihrer Tragweite überschätzt, hat zu Mißerfolgen geführt und auch im
Unterricht Sinn und Interesse für rein wissenschaftliche Forschung stärker
diskreditiert, als eben nötig war. Aber eine das Berechtigte anerkennende
Umbildung des Lehrinhaltes der theoretischen Wissenschaften, eine ge-
eignete Auswahl der Methoden und der Darstellungsform mit Rücksicht
auf die Anwendungen war die gute, die Forschung selbst neu belebende
Folge. Auf der andern Seite, den allzu eng bemessenen Forderungen,
■welche den Inhalt des Unterrichtes den unmittelbaren Bedürfnissen der
späteren praktischen Betätigung anzupassen wünschen, gegenüber ist
dieses festzuhalten: Die Erziehung an der Hochschule kann die Aus-
bildung des Ingenieurs nicht vollenden; sie kann, wie immer auch ge-
^^(, Walther von Dyck: Die naUirwisscnschafUichc Ilochscliulaiisbildung.
Staltet, nur das wissenschaftliche Rüstzeug bieten, welches der praktischen
Betätig-ung zugrunde liegt ; sie muß es durchdringen, verstehen und
brauchen lehren als eine lebendige Erkenntnis, gewonnen nicht durch
Aneignung von Routine und Schablone, sondern im selbständigen Nach-
denken, in eigener, die Schwierigkeiten durchkämpfender, nicht beiseite
schiebender Arbeit. Nur durch diese wird auch das Individuelle, das Ur-
sprüngliche des Schaffens zur Erscheinung und Entwicklung kommen,
dessen der führende Konstrukteur heute nicht minder als der gelehrte
Forscher bedarf.
Die Aufnahme dieses idealen Zieles, die in Lehre wie in
Forschung zum Ausdruck kommt, aber ist es, welche unsere
Polytechnika zu hohen Schulen der Technik macht.
Einfiiiß der V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft.
Technik auf den x t *
Unterricht der Die Universitäten konnten von dem Hereingreifen technischer Probleme
in die Gebiete der Mathematik und der Naturwissenschaften' nicht unbe-
rührt bleiben. Die Chemie stand von Anfang an in engster Fühlung mit
der chemischen Industrie, die sie geschaffen; ja selbst die wirtschaftlichen
Fragen des Großbetriebs stehen hier in zu naher Beziehung zu den rein
wissenschaftlichen, als daß sie sich abweisen ließen. So ist denn auch der
Universitätsunterricht hier grundsätzlich nicht so wesentlich von dem der
technischen Hochschulen verschieden. Im einzelnen freilich werden dort
die den Mediziner berührenden Fragen mit hereingenommen werden, hier
speziell die wichtigsten Zweige der chemischen Technik eine eingehendere
Behandlung erfahren.
Mathematik und Physik kommen in ihrem gesamten Ausbau an
der Universität in erster Linie für den künftigen Lehrer in Betracht. Wir
haben oben bezeichnet, wie aus der Übernahme der Aufgabe der Lehrer-
ausbildung durch die philosophische Fakultät die wohlerwogene Tendenz
einer begrenzten und vertieften Fachausbildung erwachsen ist, die
in ihrer Abstraktion und Konzentration nach wissenschaftlicher und
indirekt auch nach pädagogischer Seite die besten Früchte trug. Die
völlige Loslösung" der Probleme von allen Anwendungen, und insbesondere
die Forderung, nur innerhalb des notwendigen und hinreichenden Be-
reiches der abstrakten Fragestellung sich zu bewegen, hat speziell in
den mathematischen Wissenschaften zu einer Klarlegung und Sicher-
stellung ihrer Fundamente geführt, zu einer Vertiefung ihrer Methoden,
wie sie nur einmal früher in den Werken des Euklid uns entgegentritt.
Ganz abgesehen von der inneren Notwendigkeit und dem nicht hoch
genug zu stellenden prinzipiellen und absoluten Werte solcher Unter-
suchungen haben sie gerade für die Vorbildung des künftigen Lehrers
ihre besondere Bedeutung, weil sie ihn das eigene Lehrgebiet von einem
höheren und zusammenfassenderen Gesichtspunkte aus erkennen und ver-
stehen lassen.
V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft. ^iT
Aber die so begrenzte und vertiefte Forschung bedarf einer Ergän-
zung, welche der stets wachsenden Bedeutung des Ineinandergreifens aller
naturwissenschaftlichen und technischen Gebiete Rechnung trägt, welche
das weite Feld, das hier eine gemeinsame Bearbeitung verlangt, zugäng-
lich macht, welche den Anforderungen gerecht wird, die von selten der
entstehenden Fachschulen an Kenntnis und Verständnis praktischer Fragen
an die Lehrer gestellt werden müssen. So wird der Einfluß der tech-
nischen Wissenschaften auch an den Universitäten durch eine freilich nur
ganz allmählich sich vollziehende Erweiterung des Inhaltes der Forschung,
des Umfanges der Lehrgebiete, der Methoden des Unterrichtes bezeichnet.
Auch hier ist, zumal in der Mathematik, in der Betonung anschauungs-
mäßiger Darstellung, in der Verwendung von Modellen und graphischen
Hilfsmitteln der ursprüngliche Einfluß der 6cole polytechnique unverkenn-
bar. Die weitere Entwicklung kommt in einer Ausdehnung der Vorlesungen
nach Richtung der Anwendungen, wie in der Ausgestaltung des Labora-
toriumsunterrichtes zum Ausdruck, der nun auch in den Laboratorien der
Universitäten den erweiterten Inhalt der Forschung berücksichtigt. Hier
ist es vor allem das Verdienst von Göttingen, den Forderungen einer
neuen Zeit Rechnung getragen zu haben, durch die seit einem Jahrzehnt
geschaffenen trefflichen Unterrichtsorganisationen für angewandte Mathe-
matik und Physik, die speziell nach selten der darstellenden Geometrie,
der technischen Mechanik, der Thermod3'namik und theoretischen Ma-
schinenlehre, der Elektrotechnik, der Geodäsie und Geophysik den früheren
Lehrinhalt in vorzüglicher Weise bereichern und ergänzen. Es knüpft
Göttingen damit an seine große Vergangenheit an, an die der reinen und
angewandten Mathematik in gleichem Maße zugewandte Lebensarbeit von
Gauß.
Auf der anderen Seite haben die eben genannten Gründe dazu ge-
führt, auch den technischen Hochschulen allenthalben (wie seit langem
schon in Bayern) wenigstens zum Teil die Ausbildung der Lehrer der
Mathematik und der Naturwissenschaften zu übertragen. Dadurch ist
AnregTing und Gelegenheit gegeben, neben dem engeren Fache noch
die angrenzenden Gebiete in ihrer eigenen Sphäre zu studieren, und
besonders dem künftigen Lehrer an technischen Schulen die Möglichkeit
geboten, an den wichtigen Fragen, welche die Technik in mannigfacher
Gestalt auch den theoretischen Untersuchungen darbietet, mitzuarbeiten.
Auch gestattet eine Erweiterung der Prüfungsordnungen die Erwerbung
einer besonderen Lehrbefähigung für technische Fächer. Damit erwächst
zugleich eine neue Beziehung der Interessen der Lehre und der Forschung
zwischen Universität und technischer Hochschule.
So ist auch an dieser Stelle die in jüngster Zeit mehrfach erörterte
F'rage nach einer Vereinigung beider Hochschulen zu einer vc^migung der
großen Universität des gesamten menschlichen Wissens nahe- HÖcÜjcWcnmit
gelegt. Und man wird sagen müssen, daß das enge Ineinandergreifen der '^"ktca""
DiB Kultur der Gegenwart. I. i. 22
7^8 Walther von Dvck : Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildung.
naturwissenschaftlichen und technischen Gebiete, die gewaltige induktive
Wirkung, die sie aufeinander ausüben, wenn auch die wichtigste, doch
keineswegs die einzige Beziehung ist. Volks- und staatswirtschaft-
liche Fragen gewinnen einen immer mächtigeren Einfluß im Entwick-
lungsgang der Technik; nur im Zusammenhang mit jenen ist die kulturelle
Bedeutung der Technik zu verstehen, nur auf ihrer Grundlage sind die im
Großbetrieb der Industrie erwachsenen sozialen Fragen zu lösen. Rechts-
kenntnis, Einsicht in die Grundsätze der Verwaltung ist, wenn auch
für gToße industrielle Unternehmungen der Jurist stets als Berater wird
beigezogen werden müssen, heute dem Techniker in selbständiger Stellung
unentbehrlich, wie umgekehrt der Jurist als Richter, wie im Verwaltungs-
dienst, der Finanzbeamte, der Volkswirt spezieller Einsicht in naturwissen-
schaftliche und technische Gebiete in mannigfacher Richtung bedarf.
Innere Gründe würden also nach wichtigen Beziehungen einer solchen
Vereinigung das Wort reden, und doch erscheint eine solche (von An-
gliederung einzelner Institute, die [wie etwa in Breslau] aus Ort und Um-
ständen sich zu beiderseitigem Gewinn ergibt, hier abgesehen) auch da
nicht mehr zu erreichen, wo eine Zusammenlegung aus äußeren Gründen
möglich wäre. Nachdem frühere Versuche, die Ausbildung für den tech-
nischen Staatsdienst an die Universitäten zu verlegen, bei der geringen
Einschätzung technischer Arbeit und bei dem mangelnden Verständnis für
technisches Wesen ohne Erfolg geblieben sind, haben sich die technischen
Hochschulen selbständig in stetigem Vorwärtsschreiten in ihrer Eigenart
entwickelt und sich die Anerkennung ihrer Bedeutung und des wissen-
schaftlichen Ernstes ihrer Forschung erzwungen. Sie bilden heute einen
weit gegliederten Organismus, welchem der Rahmen einer einzigen oder
zweier Fakultäten — das würde ihre Stellung an den Universitäten sein —
zu enge geworden ist. Das Ganze aber würde für eine einheitliche Ver-
waltung ein zu großer Körper sein, in welchem die einzelnen Glieder, bei
der Vielheit, Verschiedenartigkeit und konkurrierenden Bedeutung ihrer
besonderen Interessen, doch weitgehendste Selbständigkeit erhalten müßten,
um sich ihrer Eigenart gemäß voll entfalten zu können. Gleichwohl, in
ihrem inneren Ausbau, in der Erfüllung ihrer gemeinsamen Aufgaben
werden die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Universitäten und
technischen Hochschulen mit dem Fortschreiten der gesamten naturwissen-
schaftlichen Forschung, mit der wachsenden Bedeutung ihrer Errungen-
schaften für unsere gesamte soziale und kulturelle Entwicklung in der
Folge noch stärker hervortreten, und um so mehr, je mehr unsere heu-
tigen Lebensbedingungen und Lebensanschauungen dazu führen, Natur-
und Geisteswissenschaften als gleichberechtigte Grundlagen der Fach-
ausbildung nicht allein, sondern auch der allgemeinen Bildung anzu-
erkennen.
Vorbildung für Der Einfluß, den die eewaltige Entwicklung aller Naturwissenschaften
die Hochscliule. J fe 6 o
und der Technik auf den Unterricht übt, kommt außer in den hier an-
V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft. ^^g
gedeuteten Beziehungen noch in einer anderen für die gesamte Kultur
der Gegenwart bedeutsamen, für die Unterrichtsorganisationen der Hoch-
schulen bestimmenden Frage zum Ausdruck, der Frage der Vorbildung
für die Hochschule. Die Frage ist, von ähnlichen, wenn nicht gleichen
Gründen und Strömungen beeinflußt, so alt wie die Hochschulen selbst;
aber mit dem wachsenden Umfang, mit der Differenzierung aller Gebiete
menschlichen Wissens, mit der Verschiedenartigkeit der F'orderungen,
welche die menschUche Gesellschaft, der Staat, das praktische Leben, der
gelehrte Beruf an die Erziehung zur geistigen Arbeit stellen, schwieriger
als je und widerspruchsvoller geworden.
In der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts wurde die Vorbildung zur
Hochschule fast ganz in der Pflege der Altertumswissenschaften
gefunden. Sie sicherte durch die engere Begrenzung des Lehrstoffes wie
in altbewährter Methode eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Vor-
bereitung, die besonders einem späteren geisteswissenschaftlichen Studium
zugute kam, für naturwissenschaftliche Studien freilich nur indirekt durch
die Schärfung logischen Denkens wirkte. Heute verlangt schon der Be-
griff der allgemeinen Bildung eine gleichmäßige Berücksichtigung
der Natur- und Geisteswissenschaften. Weiter aber fordert die
Fülle des in allen Gebieten auf der Hochschule zu bewältigenden Stoffes
einerseits die Aneignung grundlegender Kenntnisse und anderer-
seits die Erlernung gewisser technischer Fertigkeiten auch schon
auf der vorbereitenden Stufe. Gewähren die Hochschulen bei den ge-
steigerten Anforderungen .aller Fachstudien, unter dem Druck der Ver-
hältnisse, welche die Studienzeit nicht über das unmittelbar notwendige
Maß auszudehnen verstatten, nur mehr geringen Raum für die Pflege der
allgemeinen Bildung, so muß die Mittelschule den wesentlichen Teil dieser
übernehmen. So fällt, wie schon früher in sprachlicher Richtung, nun
auch in naturwissenschaftlicher der vorbereitenden Stufe die Übermittlung
der wesentlichen Grundanschauungen zu. Darüber hinaus erwächst dann
das Bedürfnis, wie bisher für die sprachlichen, so auch für die natur-
wissenschaftlichen Studien eine besondere Vorbereitung schon auf der
Mittelstufe zu erhalten, in der Mathematik gewisse über die Elemente
hinausgreifende Grundvorstellungen zu vermitteln, in den Xaturwissen-
schaften die Beobachtungsgabe, für die technischen graphische und tech-
nische Fertigkeiten in höherem Masse entvvickelt zu sehen. Die Vielheit
dieser Forderungen führt zur Frage der Gabelung des vorbereiten-
den Unterrichts, wenigstens für die letzten unmittelbar zur Hochschule
führenden Jahre; es entspringt der Wunsch, der Wahl des künftigen
Berufes wie der individuellen Begabung Rechnung tragen zu können,
und im vorbereitenden Unterrichte, sei es die sprachlichen und histo-
rischen, sei es die mathematisch-naturwissenschaftlichen, die technischen,
die künstlerischen Elemente vorzugsweise hervorheben zu können. Er-
fordert die Vermittlung allgemein bildender Kenntnisse einen weiteren
•?dO Wai.thf.r von Dyck : Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildung.
Rahmen des Lehrstoffes, so erscheint hier ein vertieftes Eingehen in
einzehie Abschnitte der Sondergebiete geboten. Kann eine einzige
Schule, etwa durch Einführung einer Anzahl wahlfreier Fächer, diese
verschiedenartigen Richtungen und Lehraufgaben in sich vereinigen,
können getrennte, trotz der stärkeren, wenn nicht ausschließlichen Pflege
einer einzelnen das gemeinsame Endziel einer gleichwertigen
Vorbildung für die Hochschule erreichen? Inwieweit kann den ver-
schiedenen gleichwertigen Richtungen eine gleiche Berechtigung
für den Eintritt zu den verschiedenen Fachstudien zugesprochen werden?
Kann die Hochschule mit Erfolg an die verschieden gearteten Kennt-
nisse anknüpfen und dabei die im einzelnen vorhandenen Lücken im
Rahmen ihrer Unterrichtsmethoden ergänzen? Oder sollen die einzelnen
Vorschulen je nach ihrem Charakter auch nur einzelnen Richtungen
des späteren Studiums die Wege öifnen? Und weiter: wird durch die
auf der unteren Stufe gebotene Darlegung das Interesse für einen Gegen-
stand erhöht oder stumpft es sich ab, wenn nun die Hochschule teilweise
wiederholt? Für die Fachstudien insbesondere: Soll die gegebene Vor-
bildung es ermöglichen, an einem höheren Punkt den Unterricht der Hoch-
schule einzusetzen, oder soll sie vielmehr nur eine bessere methodische
Vorbereitung bieten?
Zu all diesen Fragen, deren Entwicklung heute den Streit der
Meinungen und Wertungen Berufener und Unberufener hervorruft, können
in den Grenzen des gegenwärtigen Berichtes nur einzelne kurze Be-
merkungen gemacht werden: Der vornehmste Gesichtspunkt für alle aus
den dargelegten Gründen erwachsenden Organisationen des vorbereiten-
den Unterrichtes muß sein das Hervorheben der idealen Bedeutung
allen wissenschaftlichen Studiums, welche auch durch das Herein-
greifen speziellerer Gebiete und durch die Verschiedenartigkeit des dar-
zubietenden Unterrichtsstoffes nicht verkümmert werden darf. Die Doppel-
aufgabe der Vorstufe, allgemeine Bildung nach verschiedenen Richtungen
und ein gewisses Maß spezieller Kenntnisse in engerem Rahmen darzu-
bieten, muß sich mit der Forderung vereinigen, die Jugend mit
frischen, empfänglichen und geschärften Sinnen für das freie
Studium der Hochschule zu erziehen.
Dazu ist aber nicht allein ein Überwuchern rein philosophischer Ge-
lehrsamkeit zu beschränken, sondern auch die schwierige Methodik des
naturwissenschaftlichen Unterrichts zu klären, der Umfang dieses Unter-
richtes, der viel, nicht vielerlei darbieten soll, richtig abzugrenzen! Die
Vertiefung des Unterrichtes in den Naturwissenschaften drängt auf allen
Stufen zu einer starken Betonung der eigenen Betätigung des
Schülers. Dies führt auf der Hochschule in steigendem Maße dazu, den
Unterricht im Laboratorium, im Konstruktionssaal, in der Form seminaristi-
scher Übung gegenüber der Vorlesung in den Vordergrund zu stellen und
besonders in den Spezialgebieten solcher Massen lebendiges Verständnis
V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft. 7^1
und volle Durchdringung des dargebotenen Stoffes zu erreichen. Dem
wird der vorbereitende Unterricht entgegenkommen, wenn er an einzelnen
t}-pisch gewählten Aufgaben den Schüler zu eigener praktischer Arbeit
führt, denselben etwa einzelne Grundgesetze der Ph3-sik durch sj-stema-
tische Anordnung der die Antwort vermittelnden Experimente selbständig
auffinden läßt, eine Methode, die schon mannigfach in England in prak-
tischen Schülerübungen eingeführt ist und auch bei uns an Boden ge-
winnt. Die Schule muß dabei verzichten auf eine Darlegung des ge-
samten Inhaltes eines naturwissenschaftlichen Gebietes, die doch nur eine
oberflächliche sein könnte, und vielmehr durch die eindringliche Behand-
lung einzelner weniger Abschnitte Einsicht in die Methode naturwissen-
schaftlicher Forschung gewähren und die Beobachtungsgabe zu entwickeln
suchen. So wird sie das Interesse wachrufen, das Verständnis fördern für
eine umfassende Vorführung eines Gebietes der Naturwissenschaften nach
seiner gesamten Entwicklung wie nach seinen Beziehungen zu den Nach-
bargebieten der Forschung, die gründlich und erschöpfend zugleich nur
die Hochschule darbieten kann. Auch in der Mathematik wird der vor-
bereitende, für die Mehrzahl der Schüler ja auch abschließende Unter-
richt etwa die Grundbegriffe der analytischen Geometrie, der Analysis
des Unendlichen an der Hand anschaulicher Probleme vorführen können
und dadurch das Verständnis besonders der phj-sikalischen Fragen fördern,
ohne doch der späteren umfassenden und systematischen Darlegung vor-
zugreifen. Soweit es sich andererseits um gewisse technische Fertig-
keiten handelt, die auf der vorbereitenden Stufe gelehrt werden können
(so neben dem Mechanismus des elementaren Rechnens und geometrischer
Konstruktionen noch die Technik des Differenzierens und Integrierens der
elementaren Funktionen, die Technik des gebundenen Zeichnens), so wird
man zugeben müssen, daß gerade die Aneignung solcher mehr mechani-
schen Fähigkeiten auf der Vorstufe, in welcher der Schüler dem Zwang
unterliegt, leichter erreicht werden kann als auf der Hochschule mit ihren
freien Institutionen; ist doch auch im sprachlichen Unterricht gerade dieser
technischen Seite ein breiter Raum gewährt, der der freier und höher
gehenden Behandlung auf der Hochschule zugute kommt, ja eine solche
vielfach erst ermöglicht. Auf der anderen Seite aber ist gerade auf dieser
Stufe die Aneignung mechanischen Wissens nicht ohne Gefahr für die
spätere vertiefte Arbeit. Jedenfalls muß solcher mechanischer Lehrstoff
ausgeglichen werden durch Gebiete, in welchen der Schüler zu eigenem
Nachdenken und selbständiger Arbeit gebracht wird.
Für die Organisation der vorbereitenden Schulen im ganzen aber
wird man meines Erachtens daran festzuhalten haben, daß trotz der Ver-
schiedenartigkeit sprachlicher und mathematisch - naturwissenschaftlicher
Vorbildung, welche die Ausgestaltung der einzelnen Schulen mit sich
bringen mag, doch ein Ausgleich auf den Hochschulen im Rahmen der
dort gewährten Freiheit in der Anordnung der Studien sich ermöghcht:
5^2 Wai.thek von Dyck : Die naturwisscnschaftliclic Hochschulausbildung.
So daß also, wenn auch im einzelnen unter EinfÜL;ung ergänzender Studien
den verschiedenen Gattungen vorbereitender Schulen die Gleichberech-
tigung für die Zulassung zu allen Hochschulstudien zu gewähren
ist. Abgesehen davon, daß die Wahl des Berufes auch Neigung und
Talent dazu erwarten läßt, wird die Möglichkeit eines Ausgleiches ver-
schiedener Vorbildung gerade dadurch erleichtert, daß, wie schon erwähnt,
die Erziehung zur eigenen Arbeit heute im Hochschulunterricht, sei es im
Laboratorium oder im Konstruktionssaal, sei es im Seminar oder Prakti-
kum, für das Studium der Naturwissenschaften, der Medizin, der Technik
ebenso wie für das der Jurisprudenz, der sprachlichen und historischen
Wissenschaften in höherem Maße hervortritt und eine individuelle Behand-
lung, die der vorangegangenen Studienrichtung Rechnung tragen kann,
ermöglicht und verlangt.
Weiterbildung Und uun noch einige Worte über die Weiterbildung nach der
schule. Hochschule sowie über die Ausdehnung wissenschaftlichen Unter-
richtes auf weitere Kreise. Wenn auch beide Aufgaben nicht auf
die Gebiete der Naturwissenschaften beschränkt sind, so haben sie doch
für diese eine ganz besondere Bedeutung.
Wir haben schon oben für den Techniker hervorgehoben, wie die
Studienzeit keineswegs die Lehrzeit abschließt, und dies gilt wohl für alle,
die von der Hochschule ins Leben treten. Ein Teil der Aufgabe dieser
Fortbildung für den Beruf muß noch als eine erweiterte Aufgabe der
Hochschule selbst betrachtet werden: Neben der Aneignung praktischer
Lehrbefähigung, die die pädagogischen Seminare ermöglichen, soll der
Lehrer die Fühlung- mit der fortschreitenden Wissenschaft behalten; der
Mediziner, der die Praxis seines Berufes nach dem Hochschulstudium
erst als Assistenzarzt am Krankenbett erlernt, bedarf über diese prak-
tische Schule hinaus immer wieder der Erweiterung seines in Klinik
und Versuch.slaboratorium erworbenen Wissens. Hier suchen die Ferien-
und Fortbildungskurse der Universitäten vermittelnd einzutreten; sie ge-
währen den jungen Lehrern wie den Medizinern aufs neue die Fühlung
mit der Hochschule als der mütterlichen Erde, die ihnen in der Studien-
zeit den besten Teil ihrer Kraft gegeben. Hier erwächst dem Hoch-
schullehrer eine wichtige Aufgabe zu seiner engeren hinzu, während
die andere, die Erziehung für die Praxis des Berufes recht wohl und
besser noch von anderen Kräften und von außerhalb der Hochschulen
stehenden Organisationen übernommen wird. Wie sehr man auch diesen
heute eine größere Bedeutung beimißt, zeigt, neben der Ausdehnung und
Ausgestaltung pädagogischer Seminare für die Lehrer der Mittelschulen,
vor allem die mit der Forderung eines praktischen Jahres für die Medi-
ziner in Zusammenhang stehende Errichtung von Akademieen für prak-
tische Medizin, welche sich die Aufgabe stellen, diese Lehrzeit durch
einen möglichst intensiv und vielseitig organisierten praktischen Unter-
richt nutzbringend zu gestalten. In ähnlicher Weise müßte auch für den
J
V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft. 343
Techniker, der nach oder inmitten seines Hochschulstudiums seine prak-
tische Lehrzeit in der Fabrik oder auf dem Bau durchzumachen hat, hier
durch eine zweckmäßige Organisation eine möglichst vielseitige Unter-
weisung dargeboten werden.
Wir müssen der Beziehung der wissenschaftlichen Arbeit zu einer vcrbindunK do
... . -f.iT~»ri 1- -1 Hochschulunter-
erganzenden Betätigung im praktischen Berut noch nach einer anderen ricius mit
Seite ein paar Worte widmen, nach ihrer für alle Gebiete der an- praktischen
gewandten Naturwissenschaften geltenden Bedeutung für den Hochschul-
lehrer selbst. Für den Mediziner hat diese doppelte Betätigung von
jeher bestanden ; für den Techniker hat sie sich erst allmählich mit
der Herübernahme von inmitten der Praxis stehenden Ingenieuren in
den Lehrberuf entwickelt. Sie ist hier wohl am erfolgreichsten zutage
getreten im Gebiete der Baukunst, wo der Hochschullehrer zumeist
auch als praktischer Baumeister wirkt und nicht selten Gelegenheit er-
hält, seine Kraft an monumentalen Aufgaben zu bewähren. Die Auf-
nahme praktisch wichtiger Forscherarbeiten im Großbetrieb der Technik
selbst, wie sie zumal die chemische Industrie unternimmt, wie sie
aber auch für den Maschinen- und Eisenbau, in der Elektrotechnik, im
Schiffsbau, der Waffenkonstruktion immer größere Bedeutung gewinnt,
fördert die Möglichkeit, in Fühlung mit der Praxis zu bleiben, für den
Hochschullehrer (und hier kommt neben dem Techniker auch der Che-
miker, der Physiker in Betracht) ganz besonders. Diese Fühlungnahme ist aber
für die Forscherarbeit auf technischen Gebieten um so wichtiger, als die
wirtschaftliche Bedeutung und Tragw^eite technischer Errungenschaften
nur in Berücksichtigung aller in der praktischen Durchführung im großen
auftretenden Momente klar hervortritt. Neben dieser besonderen Rolle,
welche den wirtschaftlichen Furagen der Technik zukommt, muß aber noch
eines Umstandes hier gedacht w-erden, der ganz abseits der rein wissen-
schaftlichen Aufgaben der Technik liegt und ihre Behandlung wesentlich
von den allein um ihrer selbst willen geführten naturwissenschaftlichen
Forschungen, von der allein dem Wohl der Mitmenschen gewidmeten
Forschertätigkeit des Mediziners unterscheidet: die Möglichkeit, ja Not-
wendigkeit, manche Errungenschaften der Technik durch Fabrikations-
geheimnis und Patentschutz der offenen Darlegung zu verschließen. Der
große Zug der wissenschaftlichen Arbeit geht freilich über diese kleinen,
auch zeitlich sehr beschränkten Hindemisse hinweg, der Unterricht im
einzelnen muß aber vielfach darauf verzichten, den neusten Stand der
Technik darzustellen, ja er muß — wie in der Waffentechnik — nicht
unwichtige Gebiete völlig ausschalten.
Haben wir bisher ausschließlich diejenigen Aufgaben der Hochschulen Ausdehnung d«
,.., -«. ,.^^, wissenschaft-
betrachtet, welche der Ausbildung mr den Beruf gelten, so müssen wir liehen inter-
. . . . .^ . - , -^ . rieht« auf
jetzt noch einer gerade in neuerer Zeit bedeutungsvoll gewordenen Erweite- weitere Kreise:
rung der Lehraufgabe gedenken, die unter dem Sammelnamen des Volks- untcrri.ht.
hochschulunterrichtes, der „university extension" (weil wir Deutsche
■IAA Walthf.k von Dyck : Die naturwissenschaftliche Hochschulausbildung.
SO gern ein Fremdwort gebrauchen) zusammengefaßt werden. Sie bezieht
sich einmal auf die Darbietung zwangloser Vorträge, in welchen neuere,
besonders bedeutsame Errungenschaften der Wissenschaft vor einem höher
gebildeten Publikum behandelt werden, Einrichtungen, die seit Desaguiliers,
seit s'Gravesandes Zeiten mehr oder weniger organisiert, dem wechselnden
Geschmack des Publikums unterworfen, bestanden haben. Dann aber handelt
es sich, und dies entspricht der neuerlich entstandenen sozialpolitischen Be-
wegung, um größere Vortragsreihen, in denen fiJr die Kreise des Volkes, in
populärer Darstellung bestimmte, in sich geschlossene Gebiete eingehend, sei
es mit der Absicht der Erweiterung des speziellen Fachwissens, sei es zur
Gewährung allgemeiner Übersicht, vorgeführt werden. Zum Teil wird ja
dem Zweck, weitergehende Belehrung in einem Fachgebiet auch den außer-
halb des regulären Studiums Stehenden zu bieten, durch die Institution
der Hospitanten innerhalb des Hochschulunterrichtes selbst Rechnung ge-
tragen, aber die Verschiedenartigkeit der Aufgaben solcher Hochschul-
kurse und die Verschiedenartigkeit der Vorbedingungen, auf die sich ihre
Lösung stützen muß, erfordert doch eine freiere Bewegung, die einen
engeren Anschluß an die Hochschule verbietet. Zudem beschränken sich
die Pläne nicht allein auf Vorträge, sondern wollen noch weiter in Museen,
in Laboratorien, durch Anlage von Volksbibliotheken für die Verbreitung
gründlicher Bildung- Sorge tragen. Wenn auch alle diese mannigfaltigen
Einrichtungen noch erst im Werden sind, wenn auch in jedem besonderen
Falle die Organisation des Unterrichtes, die Anordnung des darzubietenden
Stoffes besondere Schwierigkeiten bietet, wenn in den Naturwissen-
schaften und besonders in den medizinischen die Gefahr, Halbwissen
und Oberflächlichkeit zu verbreiten, nicht gering ist, so sind doch die
ernsten Bestrebungen des Volkshochschulunterrichtes zu einem bedeu-
tungsvollen Faktor für die Volksbildung wie im sozialen Sinne geworden,
und wichtig ist es, um Gutes und in gutem Sinne darzubieten, daß die
Hochschulen aktiv an der hier gegebenen Arbeit sich beteiligen.
Es ist nicht zufällig, sondern steht mit dieser Aufgabe im Zusammen-
hange, wenn heute mehr als vielleicht vor 50 Jaliren der Schaffung populär-
wissenschaftlicher Schriften über allgemein wichtige Gebiete in Natur-
wissenschaft und Technik Interesse und Beteiligung bedeutender Gelehrter
gewidmet ist und wir auch in Deutschland, wie schon früher in England
und besonders in Frankreich, treffliche Werke solcher Art entstehen
sehen, die richtige Belehrung und Aufklärung in weite Kreise tragen.
Sie entspringen überdies demselben Bedürfnis nach zusammenfassender
Darstellung der großen Errungenschaften auf mathematischem, naturwissen-
schaftlichem und technischem Gebiete, welche auch die Schaffung rein
wissenschaftlicher Gesamtdarstellungen größerer W^issensgebiete (wir ge-
denken hier vor anderen etwa der umfassend angelegten Enzyklopädie
der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen in
Naturwissenschaft und Technik) unter der vereinten Arbeit der besten
V. Fragen der Gegenwart und Forderungen für die Zukunft. 74 =
Kräfte herbeigeführt hat. In der Durchführung solcher großer Aufgaben,
die über die Kraft des Einzelnen hinausgreifen, sehen heute die gelehrten
Gesellschaften in nationalem und internationalem Zusammenschluß ein be-
deutungsvolles Feld der Tätigkeit, welches schon zurzeit der Gründung
der Akademieen einem Leibniz vorschwebte.
Wir brechen hier die Darlegung ab, bewußt, nur Unvollständiges, nur Einheit de»
Vorstudien zu all den mannigfachen Fragen des natiu-wissenschaftlichen schuiuntarrichts.
Hochschulunterrichtes geboten zu haben. Eine erweiterte Betrachtung
hätte vor allem auch die außerdeutschen Verhältnisse einer eingehenden
Würdigung zu unterziehen, die wir hier nur an einzelnen Stellen an-
deutungsweise und mit Bezug auf ihren Einfluß auf unsere deutschen be-
zeichnen konnten.
Überblickt man zusammenfassend die vielgestaltigen Aufgaben, die
heute an den Vertreter des gelehrten Unterrichtes herantreten, so sieht
man mit Sorge, wie ein Übermaß von außerhalb erwachsenden Forde-
rungen, welche praktische, organisatorische Betätigung verlangen, die
ruhige Gelehrtenarbeit und die Versenkung in das engere Gebiet rein
wissenschaftlicher Forschung gefährden; wie andererseits in der inneren
Entwicklung selbst die Fülle und Mannigfaltigkeit des Stoffes dem Ein-
zelnen den Überblick erschwert, zu allzuenger Begrenzung des eigenen
Arbeitsfeldes und damit zur Isolierung führt. Dafür bietet der erweiterte
Bereich der Betätigung des Einzelnen nach persönlicher Anlage und
Neigung den weitesten Spielraum dar und die Möglichkeit, die besonderen
Fähigkeiten am rechten Platz zu nützen.
Mehr aber als je erwächst heute, um zu innerer Befriedigung zu
gelangen, die Notwendigkeit einer einheitlichen Auffassung aller dieser
Aufgaben, welche die getrennt und in verschiedenartiger Weise Tätigen
in einem höheren Sinne vereinigt. Sie kommt, wie in dem vorhin er-
wähnten Bedürfnis nach zusammenfassenden Darlegungen, so insbesondere
in dem erhöhten Interesse zum Ausdruck, welches gegenwärtig den auf
die Grundlagen und Methoden naturwissenschaftlicher Erkenntnis ge-
richteten Betrachtungen, einer Philosophie der Naturwissenschaften
zugewendet ist. Sie muß auch in der einheitlichen Auffassung des Unter-
richtes ihren Ausdruck finden. Läßt sich hier- eine äußere Einheit nicht
erreichen, so müssen wir um so mehr an der inneren Zusammengehörigkeit
des gesamten Organismus unserer hohen Schulen festhalten. Und das
geschieht, wenn die Vertreter der verschiedenen Gebiete, die sie in sich
schließen, ihr engeres Werk als einen Teil aufzufassen und im Zusammen-
hange zu verstehen lehren des gesamten Weltbildes, das in Natur- und
Geisteswissenschaft die menschliche Erkenntnis sich geschaffen, und wenn
sie es in Einklang und in lebendige fruchtbringende Beziehung zu setzen
wissen zu der Welt, die uns umgibt
Literatur.
W. Erman und E. Horn, Die Bibliographie der deutschen Universitäten, 3 Bde.
(Leipzig, 1904/5). [Die vollständigste Zusammenstellung der Universitätsliteratur, aus welcher
hier im besonderen die Geschichte der einzelnen Universitäten herauszuheben ist.] —
A. HarNACK, Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, 3 Bde. (Berlin, 1900).
— J. Hart, German Universities (New-York, 1874). — Die Jahresberichte der Deutschen
Mathematiker -Vereinigfung (Leipzig, 1891 — 1906). [Enthalten eine Reihe wichtiger Aufsätze
zur Frage des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichtes.] — G. Kaufmann,
Geschichte der deutschen Universitäten, 2 Bde. (Stuttgart, 1888/96). — F. KLEIN und
E. RlECKE, Über angewandte Mathematik und Physik in ihrer Bedeutung für den Unter-
richt an den höheren Schulen. Mit einem Wiederabdruck verschiedener Aufsätze von
F. Klein (Leipzig, 1900). — W. Lexis, Die deutschen Universitäten. Für die Universitäts-
ausstellung in Chicago 1893 herausgegeben. 2 Bde. (Berlin, 1893). — Derselbe, Das Unter-
richtswesen im Deutschen Reich. Aus Anlaß der Weltausstellung in St. Louis 1904 heraus-
gegeben (1904). Bd. I. Die Universitäten. Bd. 4. Das technische Unterrichtswesen. Teil 1.
Die Technischen Hochschulen. [Hier zahlreiche Angaben über speziellere Literatur, insbe-
sondere für die Geschichte der technischen Hochschulen.] — F. PaulSEN, Geschichte des
gelehrten Unterrichts. 2 Bde. 2. Aufl. (Leipzig, 1896). [Mit einer großen Zahl weitergehen-
der Literaturangaben.] — Derselbe, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium
(Berlin, 1902). — Riedler, Zur Frage der Ingenieur-Erziehung. [Im Anschluß daran ver-
schiedene Aufsätze und Referate in der Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, in
denen die moderne Bewegung für die Gestaltung des technischen Unterrichts (nach Vor-
und Fachbildung) zum Ausdruck gelangt.]
Über den Inhalt und Umfang des an den Universitäten vorgetragenen Stoffes geben
(außer Vorlesungsverzeichnissen) bis etwa an den Anfang des 19. Jahrhunderts die mannig-
fachen Kompendien und Lehrbücher Aufschluß, deren wichtigste in Texte Erwähnung ge-
funden haben. Später entfällt mit der freieren und wissenschaftlicheren Gestaltung des
Unterrichtes diese Beziehung, aber man wird hier sagen können, daß die reiche Zahl zu-
sammenfassender Werke und Lehrbücher auch über spezielle Wissensgebiete und über ein-
zelne Probleme der Wissenschaft, welche im besonderen unsere deutsche Literatur aus-
zeichnet, die enge Beziehung der wissenschafüichen Forschung zum Unterricht, das besondere
Merkmal der Hochschule des 19. Jahrhunderts, widerspiegelt.
KUNST- UND KUNSTGEWERBE-MUSEEN.
Von
Ludwig Pallat.
I. Die Entstehung- der Sammlungen. Wer heute die Sammlung Das Sammeln
_. j T» 1 1 vonKunstwerkeil
antiker Bildwerke des Louvre besucht und dann Genuß und Belehrung im Aitcnum.
findet, sollte mit besonderer Ehrfurcht und Dankbarkeit vor dem Porträt
des M. Vipsanius Agfrippa stehen bleiben, denn er ist, soweit unser Wissen
reicht, der erste gewesen, der den Gedanken» private Sammlungen von
Kunstschätzen allgemein zugänglich zu machen, öffentlich ausgesprochen
und begründet hat. Der Gedanke lag nahe in einer Zeit, die wie die
Augusteische rückwärts blickte auf die hohen Vorbilder, welche die grie-
chische Kunst geschaffen hatte, und gleich Wertvolles hervorzubringen sich
bemühte.
Die Fürsten von Pergamon hatten das erste Beispiel im Sammeln
hervorragender Werke aus der Blütezeit der attischen Kunst gegeben.
Mit der Unterwerfung Griechenlands war auch in den Römern der Sammel-
eifer erwacht. Die Schätze, die seitdem nach Italien hinübergeschaflft
wurden, hatten sich gegen Ende des i. Jahrhunderts v. Chr. bereits so
gehäuft, daß man manches Museum mit Werken von künstlerischer und
historischer Bedeutung hätte füllen können.
Aber die Anregung des Agrippa fiel nicht auf fruchtbaren Boden-
Über dem ausschließlichen Streben nach literarischer Bildung wurden
die in der Kunst liegenden kulturellen Werte noch nicht hoch genug ge-
schätzt. Der Gedanke, um dieser Werte willen' Bilder und Skulpturen zu
verstaatlichen, war der großen Masse der Gebildeten noch zu fremd. Die
Kunst selbst bedurfte der Museen nicht. Sie war noch so lebendig, daß
sie ohne sie bestehen und sich entwickeln konnte; sie überwand den
Klassizismus und schuf in freier Verwertung der griechischen Vorbilder
Eigenes, Nationalrömisches. Zugleich entfaltete sie sich im Dienste der
Kaiser in immer breiterer Öffentlichkeit. Was der Laie zur Befriedigung
seiner Schaulust oder auch aus künstlerischem und Bildungsinteresse zu
sehen wünschte, das bot ihm der Schmuck der Kaisertoren, der Tempel,
Theater, Basiliken, Thermen usw. in vollem Maße. Auch Werke der
348
Ludwig Pallat: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
gTiechischeii Kunst standen dort in Originalen und Kopieen zahlreich zur
Schau. \Vie stark das Interesse dafür war, zeigt die Nachricht des Plinius,
wonach das Volk den Apoxyomenes des Lysipp von Tiberius, der ihn von
den Thermen des Agrippa weg in seinen Palast hatte bringen lassen, zu-
rückverlangte und seine Wiederaufstellung am alten Platze durchsetzte.
Kunstgelehrte, die ihrer Studien wegen ein besonderes Interesse an
der systematischen Sammlung von Skulpturen und Gemälden gehabt
hätten, gab es in der Kaiserzeit nicht mehr. Einige Ansätze zu einer
Kunstwissenschaft im modernen Sinne, die sich besonders in Pergamon
gebildet hatten, waren längst abgestorben. Die gelehrte Arbeit beschränkte
sich darauf, literarische Angaben über Künstler und Kunstwerke zu sammeln,
ohne sie durch eigenes Studium der Quellen und der Denkmäler zu kon-
trollieren und zu beleben.
Das Mittelalter. Im Mittelalter begnügte man sich mit dem überlieferten Wissen. Es
fehlte der Drang, durch Sammeln, Beobachten und Vergleichen eine tiefere
Einsicht in das Wesen der Dinge zu gewinnen. Das Einzige, was außer
kostbaren Geräten, Steinen, Gewändern u. dgl. m. mit Leidenschaft ge-
sammelt wurde, waren Knochen, Schädel, Skelette und sonstige Reliquien
von Heiligen. Selbst in Konstantinopel, wo die Produkte des Orients zu-
sammenflössen und die Schätze der antiken Kunst und Literatur sich zum
letzten Male konzentrierten, blieb der fruchtbare Boden, aus dem eine
neue wissenschaftliche Erkenntnis hätte ersprießen können, unbenutzt. Von
den Kreuzzügen durchwühlt trug er auch in der Folgezeit keine Früchte;
aber seine Keime gingen wenigstens nicht ganz verloren. Mancherlei
Kunstwerke, Manuskripte uud seltsame Naturprodukte gelangten durch
die Kreuzfahrer in das Abendland und weckten hier nicht nur die Freude
am Besitz, sondern auch das Verlangen nach Belehrung. So kam den
griechischen Gelehrten, die im 14. Jahrhundert ihre Heimat zu verlassen
begannen, namentlich in Italien ein starker Wissenstrieb entgegen und
bereitete ihnen einen freundlichen Empfang.
Die ersten Das Interessc für die griechische Literatur, die man nun aus erster
Antikensamm-
langen. Hand kennen lernte, wurde bald so lebendig, daß man nicht nur Manu-
skripte, sondern auch Inschriften, Münzen, geschnittene Steine und Bild-
werke zu sammeln begann. Besonders beliebt waren die mit Inschriften
versehenen Büsten und Hermen berühmter Männer. Gelehrte, wie Cyriacus
von Ancona, machten auf weiten Reisen im Orient förmlich Jagd auf
Altertümer, teils aus eigenem Antrieb, teils im Auftrage der Päpste und
Fürsten, die vom 15. Jahrhundert ab in rasch steigendem Wetteifer An-
tikensammlungen zu begründen begannen. War es auch zunächst nur
literarisches Interesse, das diesen Sammeltrieb erweckte, so kam doch
mit dem Aufblühen der bildenden Kunst bald das ästhetische Bedürfnis,
sich an den Schöpfungen der Alten zu erfreuen und von ihnen zu lernen,
hinzu. Tatkräftige Fürsten, wie Cosimo und Lorenzo de' Medici, denen es
nicht nur um den Besitz der alten, sondern auch um die Förderung der
I. Die Entstehung der Sammlungen. xaq
neuen Kunst zu tun war, erwarben antike Statuen, Reliefs, Mosaiken usw.
als anregende Vorbilder für die an ihrem Hofe tätigen Bildhauer und
Ziseleure. Wo die Mittel zur Beschaffung wertvoller Originale nicht aus-
reichten, begnügte man sich mit Nachbildungen. So ließ sich der beson-
ders rührige P'ranz I. von Frankreich durch den Bildhauer Primaticcio
Gipsabgüsse berühmter plastischer Werke beschaffen. Aber weder die
Fürsten noch die Künstler sahen zu der Höhe der Alten wie zu etwas
Unerreichbarem hinauf. Wie ein Cellini in naivem Selbstbewußtsein die
alten Toreuten weit zu übertreffen vermeinte, so glaubten es die Fürsten
den römischen Großen mindestens gleich zu tun, wenn sie ihre Paläste
und Villen mit Werken nicht nur der antiken, sondern auch der zeit-
genössischen Kunst füllten. Was nicht unmittelbar zum Schmuck der
Architektur und der Gärten diente, wurde in eigenen Räumen als kost-
barer Besitz aufgestellt und bei besonderen Gelegenheiten den Vertrauten
und Gästen des Hofes mit Stolz gezeigt. Damit war das erste Funda-
ment zu den Kunstkammem und Gemäldegalerieen gelegt, die später den
Grrundstock der Kunstmuseen bilden sollten.
In der nächsten Folgezeit traten die Kunstkabinette in enge Ver- Die Kunst- und
• 1 AI Raritäten-
bindung mit den eben damals entstehenden Naturaliensammlungen. Auch Uammorn.
auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete war infolge der Kreuzzüge und
des Wiederauflebens der Wissenschaften der Sammeleifer erwacht. Ge-
lehrte und Geheimkünstler waren die ersten, die teils zu praktischen
Zwecken, teils aus Leidenschaft für Kuriositäten und abnorme Bildungen
zu sammeln anfingen. Tradition und Vorbild, sie dabei zu leiten, gab es
nicht. Im Altertum hatten zwar auch einzelne (lelehrte und Schulen
Sammlungen für Studienzwecke besessen, aber diese Spezialsammlungen
waren nicht weiter entwickelt worden, und schließlich hatte sich hier wie
auf dem Gebiete der Kunstgeschichte allein die Buchgelehrsamkeit be-
hauptet. Als dann durch Humanismus und Reformation die Fesseln der
Scholastik gelöst waren, drängten sich mystische und abergläubische Ten-
denzen neben die freie Forschung und führten auch den neuerweckten
Sammeltrieb auf mancherlei Abwege. Das Verlangen, in den Besitz
wunderW'irkender Fähigkeiten zu kommen, füllte die Laboratorien der
Alchimisten mit einem krausen Gemisch von nützlichen und merkwürdigen
Dingen. Aber auch nüchterne Spezialsammler, wie sie vornehmlich aus
den Reihen der Ärzte hervorgingen, richteten ihren Blick zunächst mehr
auf die absonderlichen als auf die für die wissenschaftliche Erkenntnis
wichtigen Objekte. Die Naturaliensammlungen wurden so zugleich Rari-
tätenkabinette, und indem sie als solche alle irgendwie interessanten
Bildungen in Stein, Metall, Glas, Eisen usw. aufnahmen, zogen sie auch
die bildende Kunst in ihren Bereich.
Da der Begriff „Rarität" alles umfaßte, was aus den drei Reichen der
Natur entweder in Europa sich selten fand, oder aus fernen Ländern her-
beigebracht oder durch die Hand eines Künstlers gefertigt war, so gingen
^co Ludwig Pallat: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
mit der Zeit die Naturalien- und die Kunstkammern eine so enge Verbin-
dung ein, daß es kaum eine Naturalien- oder Materialiensammlung gab,
die nicht zugleich Kunstgegenstände, und keine Schatz- oder Kunst-
kammer, die nicht Naturalien oder Raritäten enthalten hätte. An den
größeren Fürstenhöfen gab meist die Kostbarkeit der Kunstobjekte für
die Benennung „Schatz"- oder ,, Kunstkammer" den Ausschlag. So be-
klagt sich J. D. Major 1674 in seinem „Unvorgreifflichen Bedenken von
Kunst- und Naturalien-Kammern insgemein" (abgedruckt in M. B. Valen-
tinis Museum Museorum, Frankfurt 1704 — 17 14), daß die „Natural-Raritäten
Gemächer . . . insgemein doch nicht zum bequemsten Kunstkammern ge-
nannt" wurden. Nach seiner Meinung müßten die Naturalien von den
Kunstsachen völlig getrennt und in besonderen Räumen untergebracht
werden. Die Kunst- oder Artificialsachen empfiehlt er nach der Materie
zu ordnen und nennt dabei folgende Abteilungen, die für den Inhalt der
im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entstandenen Sammlungen be-
zeichnend sind: a) Antiquarium für Gemälde, Monumente, Inschriften,
Statuen, Aschentöpfe, Thränengiäser, Lampen, Münzen, Medaillen usw.;
b) Cabinet für mathematische, musikalische, astronomische u. a. Instru-
mente; c) Armamentarium oder Rüstkammer; d) Technicarcheum oder
Technicotheca für gewisse Kunstsachen geringerer Qualität, wie Wachs-
bilder, Gläser, Geschirr, Kästen, Laden, Gewebe usw.; e) Chemische Kunst-
sachen, wie Öle, Balsame, Salze, Tinkturen usw.
Der Name Unter den vielerlei Namen, die solchen Sammlungen geg-eben wurden,
JVtusßuni.
erlang-te der uns jetzt geläufige „Museum'' vom Beginn des 18. Jahrhun-
derts ab allgemeinere Geltung. Von dem mit Büchern und Raritäten
gefüllten Studierzimmer des Gelehrten wurde er auf solche „Logimente
und Kammern" übertragen, in denen „allerhand rare Natur-Sachen mit Fleiß
auffgehoben und zu jedermanns so wol Augen- als innerlicher gut philo-
sophischer Hertzens-Lust dargestellet werden" (Major a. a. O. Cap. IV, V).
In dieser Definition lebt die alte Forderung- des M. Vipsanius Agrippa,
die Privatsammlungen der Allgemeinheit zugäng'lich zu machen, wieder
auf. Solange nur die Fürsten und einzelne hochgestellte Persönlichkeiten
sich mit dem Sammeln von Kunstwerken und Raritäten befaßten, hatte
man darin ein Privileg der Macht gesehen und einen Luxus, an dem der
gemeine Mann einen Anteil selbstverständlich nicht haben konnte. Als
aber der Sammeleifer sich ausbreitete und auch die bürgerlichen Kreise
ergriff, da ward wie in der augusteischen Epoche der Wunsch reg'e, es
möchte ein jeder an solchem Besitz Freude und Nutzen haben können.
IL Die Entwicklung der Sammlungen zu Museen. In Italien
und Frankreich waren im Verlaufe des 17. Jahrhunderts die Kunstsamm-
lungen am raschesten an Zahl und Bedeutung gewachsen. Aber während
man im Vatikan imd in den Palästen und Villen der Barberini, Borghese,
Ludovisi u. a. an dem Besitze allein und seiner möglichst glänzenden Auf-
I
II. Die Entwicklung der Sammlungen zu Museen.
351
Stellung sich genügen ließ, begann man in P>ankreich in weit höherem
Maße noch, als es im 16. Jahrhundert der Fall war, den vorbildlichen
Wert der überlieferten Kunst für die Gegenwart zu schätzen und prak-
tisch auszunützen. Zum ersten Male wurden hier Kunstsammlungen zum
Faktor einer weitschauenden Wirtschaftspolitik gemacht.
Der Staat als Beschützer und Förderer von Handel und Gewerbe
nahm unter Louis XJV. zugleich mit der gewerblichen auch die künstle-
rische Erziehung in die Hand, und Colbert, der geniale Organisator, war
es, der den Lernbegierigen die königlichen Sammmlungen erschloß.
Künstler und Kunsthandwerker erhielten im Louvre eigene Ateliers. Die
Mitglieder der im Jahre 1663 gegründeten Akademie der Künste ver-
sammelten sich am ersten Sonnabend jeden Monats im großen Akademie-
saal oder in der Louvregalerie imd diskutierten nach einleitenden Vor-
trägen über die dort vorhandenen Kunstwerke. Von noch größerer Be-
deutung für die Folgezeit war, daß sie im Jahre 1667 auf Betreiben von
Colbert und nach einem von ihm entworfenen Programm die erste Aus-
stellung ihrer eigenen Werke im Palais Royal veranstalteten. Von da ab
fanden solche Ausstellungen zunächst ziemlich regelmäßig alle zwei Jahre,
von 1706 an mit großen Zwischenpausen und von 1737 ab wieder regel-
mäßig, zuerst jedes Jahr, dann wieder alle zwei Jahre statt. Durch diese
Ausstellungen gewöhnte sich das Publikum daran, den Genuß der Kunst-
werke als ein ihm zukommendes Recht zu betrachten. Auch die im
Jahre 1662 von Colbert ins Leben gerufene Manufacture Royale des
Meubles de la Couronne trug dazu bei, das Bedürfnis und die Empfäng-
lichkeit für eine höhere künstlerische Kultur zu steigern und zu ver-
breiten. Eine Zentralwerkstätte und -schule für alle Arten der dekora-
tiven Kunst, wie wir sie uns heute noch zu wünschen haben, nahm diese
Anstalt unentgeltlich 60 — 100 Zöglinge auf, bildete sie außer in ihrem
Handwerk allgemein künstlerisch durch Zeichnen nach der Antike und
nach dem lebenden Modell und entließ sie nach zehn Jahren mit dem
Meisterrecht für ganz Frankreich. Diese Aussaat trug reiche Früchte.
Im ganzen Lande erwachte im Laufe des 18. Jahrhunderts das Interesse
an den Fragen des Kunst- und Gewerbeunterrichts. Immerhin dauerte es
fast hundert Jahre, ehe sich der auch bereits von Colbert entwickelte
Gedanke der Begründung von Provinzial-Zeichenschulen verwirklichte.
Das Volk brauchte Zeit, um mündig zu werden, aber als es sich seiner
Kraft bewußt war, verlangte es auch stünnisch Zutritt zu allem, was
seine Bildung fördern und seine Erwerbstätigkeit steigern konnte.
So war es kein Zufall, daß um dieselbe Zeit, in der die ersten Pro-
vinzial-Zeichenschulen ins Leben traten, die Verwaltung der königlichen
Kunstsammlungen, dem Drängen des Publikums nachgebend, iio Gemälde
aus Versailles nach dem Palais Luxembourg bringen ließ und sie zu-
sammen mit der hier bereits befindlichen Rubensgalerie vom 14. Oktober
1750 ab am Mittwoch und Sonnabend jeder Woche zugänglich machte.
Staatliche
Kunst- und
Gewürbupolitik
in Franlüetch.
Die erste nKunst-
ausstellongen.
Das Verlangen
nach Zugäng-
lichkeit der
Kunstsamm-
lungen.
Teilweise
Erfiillnng.
5C2 Ludwig Pali.At: Kunst- uml Kunstpewerbe-Museen.
Zu gleicher Zeit brachte man alle Gegenstände des von Louis XIV. in
Versailles geschaffenen Cabinet de Raret^s zusammen mit dem Inhalte
des Cabinet des Armes in den Garde Meuble und gestattete am ersten
Dienstag in jedem Monat die Besichtigung. So dankenswert diese Maß-
nahmen für die Allgemeinheit waren, so genügten sie doch nicht ihren
Ansprüchen. Sie hingen überdies von dem Willen des Königs ab und
konnten jederzeit zurückgenommen werden, was denn auch unter der
Regierung von Louis XVI. geschah. Unter demselben Regime wurde
ein Plan zu einer ständigen Ausstellung von Meisterwerken der alten
und neuen Kunst in der großen Galerie des Louvre zwar ausgearbeitet,
aber in den Akten des Ministeriums begraben. Es bedurfte der Revo-
lution, um ihn aus dem Zustande der „Erwägung" zum Leben zu er-
wecken.
Das erste Staat- In England hatte bereits die Revolution von 1 64g zur Verstaatlichung
liebe Aluseum.
königlichen Kunstbesitzes geführt. Aber auch hier dauerte es hundert
Jahre, bis die Idee eines allgemein zugänglichen Museums in dem 1753
begründeten Britischen Museum Gestalt gewann; und obwohl vom Parla-
ment ausdrücklich bestimmt wurde, daß das Museum dem allgemeinen
Gebrauch und Nutzen des Publikums dienen sollte, ließ doch ebenso wie
in Paris die Zugänglichkeit auf Jahrzehnte hinaus sehr viel zu wünschen
übrig. Die für einen Besuch gewährte Zeit betrug nur zwei Stunden.
Auch wurden nicht mehr als 15 Personen zu gleicher Zeit zugelassen.
Ferner mußte man sich einige Tage vorher unter Angabe von Tauf- und
Zunamen beim Pförtner anmelden und durfte dann nach einigen Tagen
die erforderlichen Billetts abholen, auf denen Tag und Stunde, wann man
zugelassen werden sollte, angegeben war. Bei so beschränktem Eintritt
konnte dieses erste staatliche Museum für die Entwicklung der öffent-
lichen Sammlungen nicht von einschneidender Bedeutung werden, als
Kunstmuseum um so weniger, als sein Inhalt in der Hauptsache nur aus
Büchern, Naturalien und kleineren Altertümern bestand.
Die französisciie Der wirkUche Fortschritt vollzog sich in Frankreich. Hier riß die
Revolution. t-» -i • • r^ i
Begründung des Revolution vou 1789 die Schranken nieder, die das Volk von den Kunst-
Musee National . .
du Louvre. schatzen des Königs und der Kirche trennte. Daß man nicht wild zer-
störte und verschleuderte, was man vorfand, sondern auch in den stür-
mischsten Tagen der Nationalversammlung und des Konvents bestrebt
war, zu erhalten und zu ordnen, zeigt, wie stark das Bewußtsein von dem
bildenden Werte der Kunst und der Stolz auf ihren Besitz das zur Macht
gelangende Bürgertum durchdrang. Man wollte nicht vernichten, was
das Königtum durch Aussaat und Pflege geschaffen hatte, sondern die
Frucht von dem Baume pflücken, zu dem der Zugang, kaum geöffnet, von
einem kurzsichtigen Regiment wieder verwehrt worden war. Aber die
Ernte, die man nun mit einem Male zu bergen hatte, war zu groß, als
daß sie alsbald sorgfältig und übersichtlich hätte geordnet werden können.
Es bedurfte einer Unzahl von Dekreten, Protokollen und Berichten, ehe
in. Die Museen im 19. Jahrhundert. ^; ^
das National-Museum auf Beschluß des Konvents vom 27. Juli 1793 in
der großen Galerie des Louvre eröffnet werden konnte. Damit hatte
wenigstens der größere Teil der bis dahin ohne Inventare und Kontrolle
an verschiedenen Orten untergebrachten Kunstschätze ein sicheres Asyl
gefunden; aber wieder verstrichen drei Jahre, bis die Räume des Louvre
so weit restauriert und die Objekte so weit geordnet und instandgesetzt
waren, daß sie dem Publikum, für das sie bis dahin mit seltenen Aus-
nahmen verschlossen waren, wirklich zugänglich gemacht werden konnten.
Da der Louvre bei weitem nicht alles fassen konnte, was die vom
Konvent ernannte Commission temporaire des Arts als für die Wissen- dm Conscn,a-
toire des Ans
Schaft, die Kunst und das Handwerk geeignet aus dem m den Besitz der et iieHers.
Nation übergegangenen Schatze ausschied, tat man alsbald den weiteren
Schritt und schuf das Conservatoire des Arts et Metiers. In diesem ver-
einigte man die von der Academie des Sciences in den letzten hundert
Jahren zusammengebrachte Kollektion von Maschinen, die bis dahin im
Louvre aufgestellt war, mit der von dem Mechaniker Vaucanson im Jahre
1775 begründeten und bei seinem Tode der Regierung vermachten ersten
öffentlichen Sammlung von Maschinen, Instrumenten und Werkzeugen.
Der Zweck dieser Anstalt, des Vorbildes für alle späteren Gewerbe- und
Industriemuseen, war von vornherein ein erziehlicher. Durch praktischen
Anschauungsunterricht sollten Handwerker und Industrielle belehrt und
gefordert werden. 1806 wurde mit dem Museum eine Gewerbeschule und
181 7 eine Hochschule verbunden, in der öffenllich und unentgeltlich die
Anwendung der Wissenschaft auf die Industrie gelehrt werden sollte.
Diese Einrichtungen setzten Frankreich in den Stand, mit der von .Beginn des
f^ • 1 Übergewichts
Enerland auscfehenden industriellen Entwicklung Schritt zu halten; aber von Wissenschaft
ob ö _ . und Industrie.
sie bewirkten zugleich, daß die von der Wissenschaft genährte Industrie
auch das Kunstgewerbe in Beschlag nahm und seine natürliche Verbindung
mit der bildenden Kunst löste. Als Gegengewicht gegen diese wissenschaft-
lich-technischen Tendenzen hätte man mit den Kunstsammlungen eben-
falls Lehranstalten, und zwar solche für Künstler und Kunsthandwerker
nach Art der von Colbert gegründeten — inzwischen in ihrem Betriebe
auf die Teppichwirkerei beschränkten — Manufacture Royale des Meubles
ins Leben rufen müssen. Statt dessen wurden die Künstleratcliers im
Louvre aufgehoben und 1795 eine Spezialschule für die hohe Kunst, die
Ecole des Beaux-Arts begründet. Die Museen sollten natürlich dem
Künstler weiter als Studienfeld dienen; aber auch sie gerieten bald ganz
in den Bann der rasch emporblühenden Wissenschaft.
III. Die Museen im 10. Jahrhundert. Das Bedürfnis nach einer SystcmatUche
Ordnunf; und
systematischen Ordnung der Kunst- und Raritätenkammern war schon seit Aufstellung.
•' ^ .... Aufliisunff der
langem empfunden worden. Auch an praktischen Ratschlägen hatte es'Kunstkammeni.
nicht gefehlt; aber diese bezogen sich mehr auf die Naturalien als auf die
Ximstgegenstände. Bilder imd Statuen dienten in erster Linie als Schmuck
Dra Kultur der Gbgbnwakt. I. i. 23
354
Ludwig I'ali.at: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
galerieen.
und mußten sich deshalb da, wo überhaupt auf eine gute Aufstellung Wert
gelegt wurde, in den geg-ebenen architektonischen und dekorativen Rah-
men fügen. Fragmentierte Werke der antiken Kunst wurden durchweg
ergänzt, wobei neben dem dekorativen Zweck meist modische Liebhaberei,
wie die Vorliebe für bestimmte allegorische Figuren, den Ausschlag gab.
Daß man damit viel anspruchsvolles und widersinniges Flickwerk schuf,
des wurde man sich in der Leidenschaft des Sammeins und Dekorierens
lange nicht bewußt. Erst als um die Wende des Jahrhunderts der prunk-
volle Rahmen sich löste, in den die sehr ungleichwertigen Kunstschätze
gefaßt waren, und gleichzeitig die archäologische Wissenschaft zwischen
Griechisch und Römisch zu scheiden begann, trat das Bedürfnis nach
einer Auslese und einer der historischen und künstlerischen Bedeutung
der Kunstwerke entsprechenden Aufstellung unabweisbar hervor. Man
erkannte in einer solchen Ordnung die notwendige Grundlage für die er-
zieherische Wirkung, die man von den öffentlichen Museen erhoffte.
Die GemäJde- Verhältnismäßig leicht ließ sich in den größeren Gemäldesammlungen
Gutes und Mittelmäßiges sondern und das Aufsteilenswerte nach Epochen
und Schulen ordnen. So geschah es z. B. in dem von Friedrich Wilhelm IIL
gestifteten Berliner Museum, von dessen Gemäldegalerie schon bei der
Eröffnung im Jahre 1830 Wilhelm von Humboldt rühmen konnte, daß sie
im Gegensatz zu den meisten, ja vielleicht zu allen übrigen Galerieen,
welche nach und nach ohne bestimmten Plan zusammengekommen seien,
sich systematisch über alle Perioden der Malerei ausdehne, und daß die
Geschichte der Kunst sich in ihr von ihren Anfängen an verfolgen lasse.
Auch die für die weitere Entwicklung der Museen wichtige prinzipielle
Frage, ob die vorhandenen Lücken rasch durch Kopieen oder allmählich
durch Originale auszufüllen seien, wurde bei den Gemäldegalerieen ver-
hältnismäßig leicht zugunsten der Originale entschieden. Die relative
Vollständigkeit und der vorhandene Bestand an wertvollen Originalen,
dem man nicht minderwertige Kopieen zugesellen mochte, gab dabei den
Ausschlag.
Die Antiken- Weit Schwieriger war es auf dem Gebiete der antiken Kunst, die
neuen Grundsätze ohne Konzessionen durchzuführen. Die junge Wissen-
schaft der Archäologie bot für die Scheidung der Bildwerke nach Stil
und Zeit einstweilen nur geringe Anhaltspunkte, und die Sammlungen
selbst waren zu sehr zusammengewürfelt und zu lückenhaft, als daß sie
sich in eine streng historische Ordnung hätten bringen lassen. Die Auf-
stellung wvirde so im günstigsten Falle ein Kompromiß zwischen dem bis
dahin üblichen dekorativen und dem neuen wissenschaftlichen Prinzip.
Vor allem fehlte es an Originalen der frühen und der reifen griechischen
^Kunst. Um solche zu beschaffen, bedurfte es besonderer Anstrengungen
mußte der Boden selbst, der sie erzeugt hatte, unter Aufwendung großer
Mittel durchsucht werden. Die Engländer und die Franzosen gingen auf
diesem Wege mit Energie voran, und bald füllte sich namentlich das
museen.
in. Die Museen im 19. Jahrhundert. 95 e
Britische Museum mit den köstlichsten Schätzen aus allen Gebieten der
orientalisch-griechischen Kultur. Von den kleineren Staaten erhielt Bayern
durch die Ergebnisse der äginetischen Expedition einen Besitz, der seine
1830 eröffnete Glj'ptothek gleich in die vorderste Reihe der Antiken-
museen stellte. Trotz dieser Erfolge dauerte es aber verhältnismäßig wisscnschaft-
lange, bis auch die übrigen Museen, soweit sie auf ihre Weiterentwicklung nehmungen.
bedacht waren, sich zu eignen Ausgrabungen entschlossen. Mittlerweile
wuchsen die Ansprüche, welche die archäologische und die historische
Wissenschaft an solche Untersuchungen stellte. Während jene früheren
Expeditionen sich auf das Aufsuchen von Museumsstücken beschränkt
hatten, konnten die in den letzten Jahrzehnten insbesondere von Wien
und Berlin aus organisierten Unternehmungen nicht umhin, alles, was sie
anfaßten, nach jeder Richtung hin auszuschöpfen. Das historische Ge-
wissen ist jetzt so geschärft, daß man es als ein Verbrechen ansehen
würde, wenn ein Museum eine Ausgrabungsstätte aufgeben wollte, nach-
dem es durch glückliche Funde seinem eigenen Bedürfnisse genügt hätte.
Die Antikenmuseen, die einst reine Kunstmuseen waren, stehen damit
ganz im Dienste der Wissenschaft.
Neben den Originalsammlungen schuf das Bedürfnis nach einem mög- uie Abguu-
lichst vollständigen Studien- und Lehrmaterial teUs in Verbindung mit '"" ""^°"'
den Antikengalerieen, teils selbständig oder im Anschluß an die Universi-
täten Abgußsammlungen, die bald ein übersichtliches Bild der Entwick-
lung der antiken Kunst darboten. Wie diese Sammlungen zumeist un-
abhängig von den schon früher vorhandenen AbgTißsammlungen der
Kunstschulen entstanden, so kamen sie auch und kommen noch heut-
zutage fast ausschließlich der Wissenschaft zugute, auf deren Boden sie
erwuchsen. Kunst und Wissenschaft sind hier so weit, als es überhaupt
möglich ist, voneinander abgerückt; denn während der Archäologe durch
die Abgußsammlungen rasch mit den neuauftauchenden Werken der origi-
nalen griechischen Kunst vertraut wird und ihren Wert gegenüber dem
der späteren Nachbildungen und Kopieen erkennen lernt, zeichnet der
junge Künstler unentwegt nach der sogenannten „Antike" und kommt
vielleicht erst nach Jahren zufällig zu der Einsicht, daß die wirklich antike
Kunst etwas ganz anderes ist, als was er sich nach den berühmten Muster-
beispielen vorgestellt und eingeprägt hat.
Analog den Gipssammlungen entwickelten sich die Nebonzweige der r>ie Neben-
alten Kunstkammern, die Antiquarien, die Kupferstich- und Münzkabinette, Kunstkammern.
die prähistorischen, ethnologischen und ägyptischen Sammlungen rasch zu
Archiven und Arbeitsstätten der Wissenschaft. Der Sammeleifer und der
Forschungstrieb fanden hier mehr Genüge als in den Galerieen der hohen
Kunst Auch die Prinzipien wissenschaftlicher Ordnung ließen sich leichter
als dort zur Geltung bringen.
Während so in den größeren Residenzen dank der Initiative ein- Die Museen in
sichtsvoller Fürsten und Staatsverwaltungen aus den Kunst- und Raritäten- städtoo.
23*
356
Ludwig Pallat: Kunst- iiiul ICimslf'CWorbc-Miiscen.
kammcrn selbständige Museen erwuchsen und sich zu Pflanzschulen neuer
Wissenschaftszweige entwickelten, fristeten die in den kleineren Städten
teils in fürstlichem, teils in städtischem Besitz vorhandenen Sammlungen
noch lange ein nutzloses Dasein. In Frankreich hatte zu Beginn des
neuen Jahrhunderts das Konsulat Provinzialmuseen ins Leben zu rufen ge-
sucht, indem es aus der Fülle der Kunstwerke, die infolge der Revolution
und der Krieg"e Napoleons in Paris zusammenströmten, einen Teil den
Departements überwies. Diese künstliche Gründung hatte aber keinen
dauernden Erfolg. Es fehlte zu einer günstigen Entwicklung dieser Samm-
lungen noch an dem entgegenkommenden und selbsttätigen Interesse der
lokalen und provinzialen Behörden. Auch in Deutschland wußte man mit
dem durch die Säkularisation der geistlichen Stifte und Klöster frei-
werdenden Besitz zunächst nicht viel anzufangen. Man begnügte sich
nach wie vor, die in den Archiven, Stadtbibliotheken usw. ang'esammelten
Kunstgegenstände und Raritäten zu behüten und im übrigen die Pflegte
der Kunst und ihrer Denkmäler einzelnen Privaten zu überlassen. Erst
im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts wurde das Bedürfnis nach archäo-
logischer Belehrung" und künstlericher Anregung so allgemein, daß es aus
sich selbst heraus neue Formen der Sammeltätigkeit entwickelte. Es ent-
standen die ersten Altertums- und Geschichtsvereine, die ersten Kunst-
vereine, Museumsgesellschaften usw. Der Zweck dieser Gründungen war,
durch Sammeln, Ordnen und Vorführen von archäologischen und Kunst-
gegenständen der Allgemeinheit das zu bieten, was sich bisher nur der
reiche Liebhaber hatte g-estatten können.
Die Kunst- Wenn wir heute die Ergebnisse der Tätigkeit dieser zum Teil noch jetzt
bestehenden Vereine und der später gegründeten überblicken, so müssen wir
sagen, daß auch sie im allgemeinen der Wissenschaft mehr Nutzen gebracht
hat als der Kunst. In die Sammlung-en alter Gemälde und Plastiken wollte
Jahrzehnte hindurch kein rechtes Leben kommen. Vielfach schätzte man
die vorhandenen Kunstwerke so gering ein, daß man sie der öffentlichen
Zurschaustellung überhaupt nicht für wert hielt. Zur Vermehrung fehlte
es an Mitteln und, wo diese vorhanden waren, meist an Kritik. Für ein
bescheidenes Sichbeschränken auf die lokal oder landschaftlich interessan-
ten Werke war das historische Bedürfnis noch nicht differenziert genug.
Auch von der Pflege der neueren Kunst läßt sich nicht behaupten, daß
ihr die Vereinstätigkeit sonderlich viel genützt hätte. Das Interesse und
die Beteiligung war hier wohl größer, aber nicht der Effekt; denn während
man sich der alten Kunst gegenüber den Mangel an Sachverständnis ein-
gestand und lieber auf jede energische Tätigkeit verzichtete, als daß man
den Ankauf eines möglicherweise gefälschten Werkes riskierte, hielt sich
zum Urteil über moderne Kunst ein jedes Vereinsmitgiied für berechtigt.
Für die Gestaltung der Kunstvereinssammlungen gab so nicht das Ver-
ständnis der wenigen, sondern der Durchschnittsgeschmack der Menge
den Ausschlag. Auch heute sind die meisten dieser Vereine noch weit
vereine.
III. Die Museen im 19. Jahrhundert. -icj
von der Einsicht entfernt, daß es nicht die Kunst fordern und den Ge-
schmack des Publikums bilden heißt, wenn mah nur nach dem Namen
und der äußerlichen Wohlgefälligkeit kauft. Die Mehrzahl der Städte,
die sich gegenwärtig ansehnlicher Kunstsammlungen erfreuen, verdanken
sie nicht dem Wirken der Vereine, sondern opferwilligen Sammlern und
freigebigen Bürgern. Immerhin muß man als Leistung der Vereine an-
erkennen, daß sie Interesse und Stimmung geweckt und so die hervor-
ragenden Stiftungen Einzelner mit hervorgerufen haben.
Das Gebiet der Altertumsfunde und der historischen Denkmäler lag nie Aiiertums-
von vornherein tur eine erfolgreiche Vereinstätigkeit günstiger. Die ™"""'-
Schätze, die der heimische Boden barg oder die in Rumpelkammern Sorg-
losigkeit und Nichtachtung verkommen ließ, konnten mit verhältnismäßig
geringen Mitteln erworben und geborgen werden, Dabei war es jedem
Vereinsmitglied möglich mitzuwirken, indem es in seiner nächsten Um-
gebung nach Altertümern spürte und dafür sorgte, daß solche, die zu-
fällig zutage traten, nicht verkamen. Leichter auch als für die Kunst
fanden sich unter Lehrern, Geistlichen, Ärzten usw., wenn nicht gerade
Sachverständige, so doch Beobachter, die durch sorgfältige Sammelarbeit
der Wissenschaft zu dienen imstande waren. Das Interesse der Vereine
richtete sich, von der klassischen Archäologie angeregt, zunächst auf die
römischen und vorgeschichtlichen Altertümer. Wie sie hier ihre ersten
Erfolge erzielten, so haben sie auch in der Folge auf diesen Gebieten das
meiste geleistet. Eine ganze Reihe prähistorischer, römisch-germanischer,
römisch-keltischer usw. Sammlungen haben neben den Museen der Haupt-
städte Ansehen und selbständige Bedeutung für die Wissenschaft ge-
wonnen. Mit Genugtuung dürfen die deutschen Vereine auf das Römisch-
Germanische Zentralmuseum blicken, das sie im Jahre 1852 in Mainz be-
gründet haben.
Für die Kulturdenkmäler der geschichtlichen Zeit wurde das Interesse DieiGeschichw-
erst durch die Romantik rege. Erst aus der Schwärmerei für die natio- ersten* Betnünt
nale Vergangenheit entsprang der Wunsch, möglichst viel von dem zu ' "^naimu»cel °
erhalten, was sich aus dem Mittelalter und der Renaissance durch die
Stürme der Jahrhunderte hindurch gerettet hatte. Soweit dies durch
Sammeln geschehen konnte, waren Privatleute die ersten, die sich mit
Erfolg betätigten: so der Marquis von Sommerard, der 1833 ™ Hotel
de Cluny die Sammlung mittelalterlicher und Renaissance-Gegenstände
begründete, die nach seinem Tode der Staate erwarb; so der Freiherr von
Aufseß, der schon in den zwanziger Jahren die Anfänge seiner kultur-
und kunstgeschichtlichen Sammlungen schuf, die später den Grundstock
des von ihm ins Leben gerufenen Germanischen Museums in Nürnberg
bilden sollten. Für die Vereine war das Sammeln kulturgeschichtlicher
Denkmäler zunächst nur ein Beiwerk zu ihren lokalhistorischen For-
schungen. Und auch für den Freiherm von Aufseß standen bei der Be-
gründung des Nationalmuseums, die auf seinen Antrag 1852 in Dresden
Tcg Ludwig Pallat: Kunst- und Kunstgeweibe-Museen.
von den deutschen Geschichts- und Altertumsforschern beschlossen wurde,
die Kunst- und Altertumssammlungen erst in zweiter Linie hinter der
Sammlung des Quellenmateriales für die deutsche Geschichte. Erst in
den sechziger und siebziger Jahren beg-annen sich die kulturhistorischen
Museen selbständig zu entwickeln. Außer der Hebung des National-
gefiihls kam ihnen die neueinsetzende kunstgewerbliche Bewegung zugute.
Die kuDst- Weite Gebiete des Kunsthandwerks waren seit Beginn des Jahrhunderts
Bewegung, von der Industrie in Beschlag genommen. Die Vertreter der hohen Kunst
hatten es leichten Herzens geschehen lassen. Auch bei den Museums-
gründungen waren aller Augen auf die Gemälde und die antiken Skulp-
turen gerichtet. Daneben fanden allenfalls noch die Antiquarien Inter-
esse. Der sonstige Bestand der alten Kunstkammern wurde weiter auf-
bewahrt, aber einen besonderen, bildenden Wert maß man ihm nicht bei.
Die Welt- Dieser Zustand dauerte, bis durch die Weltausstellung in London vom Jahre
London 185 1. 1851 aller Welt klar wurde, daß es mit der Vernachlässigung des Kunst-
handwerkes so wie bis dahin nicht weitergehen dürfe. Unter den Ein-
sichtigen, die zur Umkehr mahnten, erhob besonders klar und eindrucks-
voll Gottfried Semper seine Stimme. Er erkannte scharf die Ursachen
des offenkundigen Niederganges und gab mit überzeugenden Worten
Mittel und Wege zum neuen Aufstieg an. Eine seiner Forderungen war
die Begründung von Museen, die dem Handwerker gute Beispiele der
einzelnen Zweige des Kunstgewerbes vorführen und ihm das Studium
derselben möglichst leicht machen sollten. Dieser Gedanke fiel vor allen
anderen auf fruchtbaren Boden. Die Meinung von dem bildenden Werte
der Museen und ihrer Wirkungsmöglichkeit war so hoch gestiegen, daß
man sich ohne weiteres von ihnen auch die beste Hilfe für die Wieder-
belebung des Kunsthandwerks versprach. Schon 1852 wurde in London
als ein Teil des großen Zentralinstitutes für Kunst und Wissenschaft,
des South-Kensington-Museums, ein Museum für omamentale Kunst ge-
gründet. Die Begeisterung, aus der diese Schöpfung entstand, griff bald
auch auf den Kontinent über und rief hier in rascher Folge eine statt-
liche Zahl von Gewerbe- und Kunstgewerbemuseen ins Leben.
Die Kuust- Die neuen Museen sollten in erster Linie den allgemeinen Geschmack
gewer emuseen. ^^^^^^ indem sic ihn von den kunstverlassenen Erzeugnissen der Industrie
auf die Meisterwerke des guten alten Kunsthandwerkes hinlenkten. Daß man
sich hierbei nicht auf das bloße Zurschaustellen beschränken durfte, hatte
man schon an den Kunstmuseen erfahren. Es mußten neue Formen der
Belelu-ung und Anregung geschaffen werden. Auch der gemeine Mann, der
den Schätzen der großen Galerieen scheu und verständnislos gegenüber-
stand, sollte sich in den neuen Museen heimisch fühlen und Nutzen daraus
ziehen können. Zu diesem Zwecke wurden gemeinverständliche Führer
herausgegeben, die einzelnen Gegenstände mit erklärenden Bezeichnungen
versehen und Vorträge und Vortragszyklen in den Museen selbst ein-
gerichtet. Eine weitere Aufgabe war, das Publikum mit den im Privat-
ni. Die Museen im ig. Jahrhundert. 350
oder sonstigen Besitz befindlichen Schätzen alter Kunst und mit den
Fortschritten der Gegenwart bekannt zu machen. Die in dieser Absicht
zuerst beim South-Kensington-Museum eingerichteten Leihausstellungen
und permanenten Vorführungen neuer Erzeugnisse des Kunsthandwerkes
wurden mit der Zeit das beste Agitationsmittel der Kunstgewerbemuseen
und zugleich eines der Hauptmerkmale des in ihnen neugeschaffenen
Typus des „arbeitenden Museums". Weniger allgemein haben sich die
ebenfalls von dem Londoner Museum zuerst veranstalteten Wanderaus-
stellungen eingebürgert. Je zahlreicher Kunstgewerbemuseen auch in den
Provinzen eingerichtet wurden, desto geringer wurde das Bedürfnis nach
Ausstellungen von Gegenständen aus dem Besitze der Zentralsammlungen.
Waren diese Leih- und W^anderausstellungen ein völlig neuer Ge- Kunstgcwcrbe-
-III* T^ 11 !• -IT»*- schulen in Ver-
danke, so suchte man durch die Kunstschulen, die man mit den Museen bindung mit den
verband, Anschauung und Unterricht in einer Weise zu vereinigen, wie
sie für Gewerbe und Industrie in dem Conservatoire des Arts et Metiers
bereits vorbildlich gegeben war. Man hoffte damit am ehesten den
Schaden auszugleichen, den die Loslösung des Handwerkes von der
Kunst und die Übermacht der Maschine gestiftet hatte. Die Sammlungen
selbst sollten das Studienmaterial für die Schule bilden, für deren Zwecke
es jederzeit zur Verfüg"ung stand. Neben den Originalsammlungen wurden
besondere Sammlungen von graphischen Vorbildern und Gipsabgüssen
angelegt, die im Verein mit Fachbibliotheken sowohl der Schule als auch
den Besuchern des Museums dienen sollten. An einigen größeren An-
stalten hat sich aus diesen Nebenzweigen ein lebhafter Vertrieb von
Lehrmitteln an die Museen der Provinz und des Auslandes entwickelt.
So praktisch alle diese Maßnahmen gedacht waren, so verhinderten Entwicklung m
11-1 ifti- • i-'i TT- 1 • *i historischen
Sie doch nicht, daß die eigentlichen Kunstgewerbemuseen, wie sie sich Mnseen.
unter Beiseitesetzung der gewerblich-technischen Interessen namentlich in
Norddeutschland entwickelten, bald ebenso wie die Kunstsammlungen in
die rein wissenschaftliche Richtung gedrängt wurden. Im allgemeinen voll-
zog sich die Entwicklung so, daß man die Restbestände der alten Kunst-
kammem und was sonst aus öffentlichem und privatem Besitze überwiesen
wurde, systematisch sowohl nach technologischen wie nach historischen
Gesichtspunkten ordnete. Indem man dann die vorhandenen Lücken durch
tj'pisch und künstlerisch wertvolle Objekte zu. ergänzen suchte, kam man
immer mehr zu der Einsicht, daß die Bedeutung der Einzelstücke nur in
dem Rahmen, für den sie geschaffen waren, voll gewürdigt werden könnte.
Je weiter diese Erkenntnis vorschritt, desto mehr erhielten die Samm-
lungen kulturgeschichtlichen Charakter und berührten sich bald eng mit
den Nationalmuseen, die ihrerseits durch das kunstgewerbliche Interesse
stark gefördert und in ihrer Gestaltung beeinflußt wurden. Diese Ent-
wicklung hatte, solange das Kunsthandwerk sich in historischen Bahnen
bewegte, nichts Bedenkliches, wenn man auch manchem Museum vielleicht
mit Recht den Vorwurf machen konnte, daß es das Interesse der Samm-
,Aq Ludwig Pallat: Kunst- und ICunstgcweibc-Museen.
lung dem des Handwerks, das es fördern sollte, voranstellte. Seit aber
infolge der kunstgewerblichen Bewegung der letzten Jahre das Interesse
an den historischen Vorbildern erheblich gesunken ist, haben die Kunst-
gewerbemuseen zum Teil die Fühlung mit den Bedürfnissen der Gegen-
wart verloren und werden von den Vorwürfen mitgetroffen, die man gegen
die historischen Kunstmuseen erhebt.
Die Museums- IV. Dic Museen in der Gegenwart. Ausblicke. Man ist unzu-
geiehrten. jy^g^jg^^ ^^^^ ^^^ Museen — trotz ihrer glänzenden Entwicklung, auf die
man nebenher natürlich stolz ist. Die letzten Gründe dieser Unzufrieden-
heit sind Empfindungen und Anschauungen, die sich nicht gegen die
Museen allein richten. Man klagt über einseitige Verstandesbildung und
wünscht mehr Kultur des Gefühls und mehr Entwicklung der schöpferi-
schen Kräfte. Von den Museen heißt es darum: sie seien nicht der
Wissenschaft und der Kunsthistoriker wegen da. Dabei vergißt man frei-
lich, daß es viele Museumsgelehrte gibt, die ihre Erfahrung und ihr Ur-
teil nicht in wissenschaftlichen Büchern vergraben oder nur wieder dem
Museum zugute kommen lassen, sondern energisch in die Breite wirken
und an ihrem Teil dazu beitragen, den Sinn für Kunst zu beleben und
zu vertiefen. Schon ist ein ganzer Stamm von solchen Gelehrten in und
durch die Museen erwachsen; und wir Deutsche können mit besonderem
Stolze auf die KönigUchen Museen in Berlin blicken, die in den letzten
25 Jahren unter der Leitung von Richard Schöne sich nicht nur zu be-
deutenden Arbeitsstätten der Wissenschaft, sondern auch zu einer hohen
Schule des Geschmacks für die an ihnen wirkenden jungen Gelehrten ent-
wickelt haben. In keinem anderen Lande der Welt greifen die Museums-
beamten so tatkräftig, so fördernd und in so großer Zahl in den Gang
der Kunst und des Kunstgewerbes ein. Man braucht nur an die Kunst-
ausstellungen in Dresden zu erinnern, die wesentlich infolge der Mit-
wirkung von Kunsthistorikern sich weit über das Niveau der nur von
Künstlern veranstalteten Ausstellungen erhoben haben, oder an die viel-
seitigen Anregungen, die unser Kunstgewerbe durch Museumsbeamte er-
halten hat. Gerade die inmitten des historischen Kunstgewerbes wirken-
den Männer waren es, die mit als die Ersten erkannten, welches Unheil
die äußerliche und überhastete Imitation der verschiedenen historischen
Stilarten anrichtete. Gegen die Ornamentierungswut erhoben sie von
neuem die Sempersche Forderung, daß nicht im Beiwerk, sondern in der
allgemeinen Erscheinung eines Gegenstandes die Kunst zum Ausdruck
kommen müsse; und im Sinne dieser Forderung, nicht aus modischer
Neuerungssucht, ermunterten und förderten sie die jungen Künstler, die
auf den Boden des Handwerks traten und Gebrauchsgerät zu entwerfen
begannen. Der große Erfolg, den das moderne Kunstgewerbe auf der
Weltausstellung in vSt. Louis erworben hat, bedeutet so auch für die
Museumsbeamten einen Sieg.
IV. Die Museen in der Gegenwart. Ausblicke. ^öl
Aber auch wenn man die Arbeit, die der Einzelne leistet, gebührend Die Kunst-
schätzt, bleibt von der Kritik, die an den Museen geübt wird, noch genug Avirkung kuf
Beherzigenswertes übrig. Es ist leider wahr, daß die Mehrzahl der großen
Museen durch die Masse ihres Stoffes wie durch Anlage und Aufstellung
den Beschauer rasch ermüdet oder zu llüchtigem Durcheilen geradezu
herausfordert. Wie dem abzuhelfen sei, ist schon viel hin und her er-
örtert worden. Als naheliegender Ausgleich zwischen den Interessen der
Laien und denen der Wissenschaft hat der Vorschlag, nach dem Vor-
bilde, das zuerst L. Agassiz im naturhistorischen Museum zu Cambridge,
Mass., geschaffen hat, Schausammlung und wissenschaftliche Sammlung
zu trennen, viel Anklang und auch Nachfolge gefunden, £;in wohltuendes
Beispiel einer solchen Trennung ist das Berliner Pergamon-Museum, dessen-
Schausammlung in dem Altaraufbau zugleich den Vorzug eines stark
wirkenden Mittelpunktes hat. Ferner wird mit Recht die eintönige Flucht
großer, ineinander gehender Säle getadelt, wie sie sich in den meisten,
nach dem herkömmlichen Palastschema erbauten Museen zum Leidwesen
der Direktoren und zum Überdrusse des Publikums findet. Wie angenehm
ein von diesem Tj'pus abweichendes Museum wirken kann, zeigt das
Thermenmuseum in Rom, das durch die reizvolle Abwechselung und das
Behagen seiner aus Thermenüberresten für Klosterzwecke umgestalteten
Anlage den Beschauer zum Verweilen einlädt. Hier war auch, wenigstens
in der ersten Zeit seines Bestehens, als die Menge von kleineren Räumen
noch eine gesonderte Aufstellung der dem Museum zuwachsenden Fund-
stücke gestattete, eine andere Forderung unserer Museumskritiker erfüllt:
das einzelne Kun.stwerk konnte still für sich oder im Rahmen nicht
störender oder seinen Reiz erhöhender Gegenstände genossen werden.
Man erholte sich dort förmlich von dem Vielzuviel der vatikanischen
und kapitolinischen Museen. Große historische Sammlungen in dieser
Weise aufzustellen, ist freilich eine sehr viel schwierigere Aufgabe. Der
Versuch, den man im neuen Kaiser Friedrich-Museum in Berlin gemacht
hat, ist leider nur zum Teil gelungen. Alte und neue Prinzipien liegen
hier in einem Widerstreit, der den Wendepunkt, an dem unsere Museums-
technik angelangt ist, recht deutlich kennzeichnet: das Museum ist weder
ein reiner Palastbau, in dem die Kunstwerke nur zur Dekoration von
Prunksälen dienen, noch ist es ein Studienbau,' der nur wissenschaftlichen
Bedürfnissen Rechnung trägt, noch ist es ein Kunstbau, für dessen Ge-
staltung Gehalt und Stimmung des Einzelwerks den Ausschlag geben —
es ist von allem etwas und macht dadurch auf den kunstliebenden Be-
schauer einen unharmonischen, seine Stimmung bald erhebenden, bald
lähmenden Eindruck.
Li den an Kunstwerken übervollen Museen wird in der Regel noch
eins vermißt: ein monumentaler Haupteindruck, der den Eintretenden
mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt und seine Seele beim Umher-
wandern und auch noch lange, nachdem er das Museum verlassen hat.
0^2 Ludwig Paixat: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
gefangen hält. Wie man solche Wirkung erzeugt, können die i.\rchitekten
von unseren Ausstellungskünstlern lernen. Die große Halle mit Bartho-
lom6s „Monument aux Morts" auf der Dresdener Internationalen Kunst-
ausstellung von 1901 und der mächtige Mittelraum der deutschen kunst-
gewerblichen Abteilung auf der Weltausstellung in St. Louis von 1904
bleiben für den, der sie gesehen hat, unvergeßliche Eindrücke. Auch wie
man um so wuchtige Räume kleinere gruppiert und zur Wirkung bringt,
ist auf mancher Kunst- und Kunstgewerbeausstellung für den, der lernen
will, zu sehen. Auch auf die Kirchen möchte man hinweisen, die in
natürlicher Entwicklung zu Museen geworden sind — aber da fallen
einem g-leich alle die Sünden ein, die man um der Museen willen an den
.öffentlichen Monumenten, „den eigentlichen Lehrern der Kunst", wie sie
Semper nannte, begangen hat. Kirchen, Klöster, Villen usw. haben ihr
Bestes hergeben müssen. Aus lebendigem Zusainmenhange hat man es in
stimmungslose Räume versetzt, wo ein Werk das andere um seine Wirkung
bringt. Neuerding's sucht man künstlich die alte Stimmung wiederher-
zustellen, indem man stilechte Ensembles schafft und in diese die Bilder
und Statuen einordnet. Aber das bleibt im Grunde doch ein frostiges
Mittel. Das einzelne Kunstwerk läuft dabei Gefahr, zum bloßen Dekora-
tionsstück erniedrigt zu werden; und das Publikum, das dafür gewonnen
werden soll, geht vorbei und sagt sich weise: „das ist romanisch, das ist
gotisch, das ist barock" usw. Das trifft allerdings mehr die kultur-
geschichtlichen als die Kunstmuseen. Im Kaiser Friedrich -Museum in
Berlin lassen die mit Geschmack und Zurückhaltung verteilten Möbel die
Zeitbestimmung nur leise anklingen.
Wechselnde Um das Interesse des Publikums anzuregen, hat man auch daran ge-
Ausstellungen, .
dacht, in den Kunstmuseen durch wechselnde Ausstellungen neue Em-
drücke zu schaffen. Das scheint plausibel, ist aber nur in beschränktem
Umfange ausführbar. Ein Kunstwerk will Ruhe haben. Wenn es
einen guten Platz gefunden hat, so soll man es dort lassen. Man
kann sich die Venus von Milo nicht gut im Louvre herumwandernd
denken. Gleichwohl sollte jedes Museum einen oder mehrere vSäle be-
sitzen, in denen es entweder eigene zurückgestellte Bestände, um ihre
Wirkung zu erproben, oder neue Erwerbungen oder aus Privatbesitz ge-
liehene Werke dem Publikum abwechselnd vorführen kann. Diese Räume
dürften aber nicht vom am Eingang oder abgesondert liegen, sondern
so, daß der Besucher auf dem Wege zu ihnen den Haupteindruck des
Museums in sich aufnimmt. Für Städte mit bescheidenen Sammlungen
sind die wechselnden Ausstellungen von weiter greifender Bedeutung.
Sie vermitteln dem Publikum die Bekanntschaft mit Kunstwerken, die
sonst nicht in seinen Gesichtskreis treten würden, und können, wenn gut
organisiert, zur Hebung des Geschmacks in der Regel mehr beitragen
als die Museen selbst. In vielen Städten täte man sogar besser, die
vorhandenen geringen Mittel auf solche Ausstellung-en zu verwenden,
IV. Die Museen in der Gegenwart. Ausblicke. 363
anstatt die Gemäldesammlungen mit Werken zweiten, dritten und noch
niedrigeren Ranges zu füllen.
Aber nicht nur das Publikum, auch die Kunst selbst verlangt von Wirkung auf die
. Kunst.
den Museen stärkere Anregung und Förderung. Sie hat dazu em ge-
wisses Recht; denn die Museen im allgemeinen und namentlich die für
moderne Kunst haben einen Teil der Pflege zu ersetzen, die vor der
Umwandlung der Hofmuseen in Staatsmuseen Fürsten und Magnaten der
Kunst ihrer Zeit zuteil werden ließen. Leider haben die Museen
für neuere Kunst von vornherein viel zu sehr den alten Galerieen
nachgeeifert. Sie beanspruchten dieselbe Art von Palästen wie diese
und mühten sich ab, es ihnen auch an Charakter und Wert gleich zu tun.
Angesehene Namen, stattliche Formate und historischer Charakter der
Bilder werden deshalb bevorzugt. Wenn man einmal die Kunst des
19. Jahrhunderts aus weiterem Abstand überblickt, wird man den neuen
Galerieen vielleicht den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie die ge-
sunde Malerei, deren sich Deutschland trotz der Kartonkunst in den
ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts erfreute, zum guten Teil haben mit
erdrücken helfen. Jedenfalls erkennt man schon jetzt, daß eine ganze
Reihe von Künstlern, deren Schaffen wertvoll war und, wenn es geför-
dert worden wäre, noch wertvoller hätte werden können, in unseren
Museen nicht vertreten sind; von anderen fehlen bezeichnende W^erke.
Was sich noch erreichen läßt, muß oft mit vielem Gelde aufgewogen
werden, während man es seinerzeit mit bescheidenen Mitteln hätte er-
werben können. Leider sind wir trotz dieser Erfahrung auch heute nicht
klüger — und daran ist noch immer das Vorbild der alten Galerieen
schuld. Man kann die Kunst .der Gegenwart nicht fördern, wenn man
sich immer ängstlich fragen muß, ob ein Werk auch schon abgeklärt
genug ist, um in einer monumentalen Galerie dauernd Aufnahme finden
zu können. Das Beispiel von Frankreich, das die für den Staat erwor-
benen Kunstwerke zunächst in das Palais de Luxembourg bringt und
erst nach 30 Jahren die für würdig befundenen in den Louvre aufnimmt,
hat darum viel für sich; nur brauchte man für solche Durchgangsmuseen
ganz andere Gebäude und Einrichtungen.
Notwendig wäre auch, daß man den Männern, die man im Vertrauen
auf ihre Tüchtigkeit zu Leitern solcher Sammlungen berufen hat, mög-
lichst freie Hand ließe. Ihre Tätigkeit wird schon durch das Publikum,
die Presse und andere Faktoren so stark kontrolliert, daß man sie nicht
noch durch Sachverständigen- oder Museumskommissionen einengen sollte.
Diese hindern nur jedes rasche Zugreifen und jedes W^agnis und einigen
sich gewöhnlich nicht auf das Beste, sondern auf den Durchschnitt.
Auf der Mannheimer Museumskonferenz von 1903 hat ein Redner ge-
äußert, man sei versucht zu sagen, daß der eine Graf Schack, der uns
Feuerbach und Böcklin rettete, für die deutsche Kunst mehr getan habe
als alle bildersammelnden Kunstvereine zusammen. Vor noch nicht langer
564
Ludwig Pai.kat: Kuusl- und Kunstgcwcrbe-Musccn.
Zeit hätte man das auch von den modernen Galerieen behaupten können.
Zum Glück haben neuerdings einige energ-ische und gewandte Direktoren
ihren Willen durchzusetzen und damit viel Versäumtes auszugleichen
vermocht. Einer davon wenigstens verdient mit Namen genannt zu
werden: Alfred Lichtwark in Hamburg; denn er hat nicht nur für die
künstlerische Erziehung des Publikums die meisten Anregungen gegeben,
sondern ist auch in vorbildlicher Weise bemüht, die lokale Kunstbetäti-
gung zu stärken und zu entwickeln. Gäbe es nicht solche Direktoren,
so könnte man sich mit Recht fragen, ob es nicht besser wäre, der
lebendigen Kunst auf anderem Wege als durch Museen zu helfen.
Die Kunst- Auch die Kunstgewerbemuseen müssen aus zurückblickenden voraus-
gewerbemuseen. , _. , , t-^ , , , ^. . .
Wirkung auf die schauende Institute werden. Darum braucht man denen, die rem wissen-
schaftliche und kunsterhaltende Zwecke verfolgen, die Existenzberechtigung
noch nicht abzusprechen. Man hat sie nur auszuscheiden aus der Zahl
derer, die nach der ursprünglichen Bestimmung der Kunstgewerbemuseen
Handwerk und Industrie künstlerisch befruchten sollen. Im letzten Jahr-
zehnt haben gerade die bedeutendsten dieser Museen viel an Wirkungs-
kraft eingebüßt. Der Handwerker kümmert sich wenig um sie, und der
Industrielle so gut wie überhaupt nicht, und doch tut beiden — dem
Industriellen noch mehr als dem Handwerker — Erziehung des Geschmacks
ebenso not wie anno 1850. Um wieder neuen Einfluß zu erlang-en, werden
die Museen vor allem das Mittel der wechselnden Ausstellungen noch
mehr ausnutzen müssen als seither. Den im Konkurrenzkampf stehenden
Fabrikanten kann man nur gewinnen, wenn man ihm in auffälliger Weise
Dinge vorführt, die momentan im Zentrum seines Interesses liegen. Solche
Gegenstände brauchen nicht immer allerneueste Schöpfungen zu sein.
Geschmack und Mode bringen es mit sich, daß auch heute Vorführungen,
wie die von alten schönen Drucken und Schriftarten, von seltenen Stoffen
u. a. m. lebhaften Anklang finden. Aber der Museumsdirektor muß wie
ein Unternehmer auf der Warte stehen und ausspähen, womit er sein
Publikum — und als solches sollte er in erster Linie die Industriellen
betrachten — anziehen und wie er seinen Geschmack heben kann. Der-
artige aktuelle Ausstellungen bieten ihm dann auch die Möglichkeit, seine
eigenen Bestände zur Geltung zu bringen, indem er alte und neue
Lösungen derselben Aufgabe vergleichsweise nebeneinander stellt. In
Österreich hat man bereits eine Art Museumsausdehnung ins Werk ge-
setzt, indem man von der Hauptstadt aus wohlvorbereitete Ausstellungen
durch die Provinzen wandern läßt. Für die Museumsdirektoren ist das
etwas bedenklich. Es wird ihnen fertig dargeboten, was ein jeder aus
den Bedürfnissen seiner Stadt oder seiner Provinz heraus selbst erarbeiten
sollte. Sie werden dadurch auch leicht bequem, im Ausstellen sowohl wie
im Interessieren des Publikums. Solches Nachlassen aber wäre gefähr-
lich; denn die Kunstgewerbemuseen haben noch schwere Arbeit vor sich.
Sind sie doch selbst mit daran schuld, daß trotz aller Fortschritte der
IV. Die Museen in der Gegenwart. Ausblicke. 365
letzten Jahre das Ideal der Erzeugung" zweckmäßiger und zugleich ge-
schmackvoller Gebrauchsgegenstände wenig.stens in Deutschland noch
lange nicht erreicht ist. Ihre Stilsammlungen haben die Aufmerksamkeit
viel zu sehr auf das Äußerliche, das Ornament, und viel zu wenig auf
den organischen Aufbau von Kunstgegenständen gelenkt. Die Anschauung,
daß das Ornament die Kunst im Gewerbe ausmacht, ist zu einer förm-
lichen Krankheit geworden, von der sich gerade die Länder mit Kunst-
gewerbemuseen nur sehr schwer erholen können. Die Gesundung dauert
um so länger, als das historisch gebildete Publikum auf die Bemühungen
der Künstler, einfach und geschmackvoll zu arbeiten, überlegen lächelnd
herabblickt.
Die üble Wirkung kunsthistorischer Kennerschaft, die nicht nur hier, Führungen in
sondern auch auf dem Gebiete der freien Kunst den Fortschritt hemmt,
erweckt starke Bedenken gegen die an Zahl immer mehr zunehmenden
Vorträge und Führungen, durch die man die Kreise, die den Museen
bisher femer gestanden haben, insbesondere die der Arbeiter, dafür zu
gewinnen sucht. Es wird zwar versichert, daß es in vielen Fällen ge-
linge, den Sinn für künstlerische Werte in den Zuhörern zu erschließen;
aber die Gefahr liegt doch sehr nahe, daß nur die Zahl derer vermehrt
wird, die über Kunst mitreden, ohne ihr innerlich nahe gekommen zu
sein. Der Abstand von dem kunstlosen Zustande, in dem der gemeine
Mann aufwächst, bis zu den Höhen der Zentralmuseen ist zu groß. Rasch
gewonnene Überblicke gehen ebensobald wieder verloren. Man sollte
Wege und Brücken schaffen, die einen zwar langsamen, aber tiefere Ein-
drücke gewährenden Aufstieg ermöglichen.
Einiges ist in dieser Richtung schon angebahnt. Man hat nament- Die Kunst in
lieh in England und Amerika begonnen. Schulen, Volksbibliotheken, Ver- vierteln der
11" • Ti*ii -rr.i 1 , Großstadt.
sammlungshauser usw. mit guten Bildern auszustatten, viel tut dort auch
die zwar schlichte, aber geschmackvolle Ausstattung, in die sich die
Bilder wie etwas Selbstverständliches einordnen. Das Wohlgefühl, das
solche Räume hervorrufen, bedeutet schon künstlerischen Gewinn. Der
nächste Schritt ist dann leicht getan. In dem Volkshause — um alle in
Betracht kommenden Anstalten mit diesem Worte zusammenzufassen —
wird eine kleine, sei es wechselnde, sei es dauernde Ausstellung von
guten Reproduktionen und, wenn es angeht', auch von Originalen einge-
richtet. So haben bereits Toynbee Hall und andere University Settlements
angefangen, Ausstellungen von guten Werken der neueren englischen
Kunst für den Osten von London zu veranstalten. Auch die großen
Zentralmuseen könnten sich mit ihrem Überflusse nützlich betätigen.
Viele Gegenstände — namentlich aus graphischem und kunstgewerb-
lichem Gebiete — die dort nicht zur Geltung kommen oder von denen,
die sie angehen, nie gesehen werden, würden in Fachschulen, Gewerbe-
sälen, Schulmuseen, Volksbibliotheken usw. viel mehr Interesse finden
und weit bessere Dienste tun, als in übervollen Museumsschränken. Ob
,A(^ Ludwig Pau.at: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
man so weit gehen soll, in den Arbeitervierteln selbständige Museen
nach Art des Bethnal Green Museums in London oder des Ruskin Mu-
seums in Sheffield zu errichten, steht nach den mit diesen Anstalten ge-
machten Erfahrungen noch sehr in Frage.
Die Volks- und Aus dem Streben nach Belehrung weiterer Kreise hat sich in den
Heimatmuseen, j^^^^^^ Jahrzehnten auch ein neuer Museuinstypus zu entwickeln be-
gonnen, das sogenannte Volksmuseum. Den Anstalten dieser Art, wie
sie sich namentlich in Amerika und in Skandinavien finden, ist die Ab-
sicht gemeinsam, das Volk durch möglichst anschauliche Vorführungen
zu interessieren und unmittelbarer zu bilden, als es durch die gelehrten
Sammlungen möglich ist. Soweit sie historisch-volkskundliche Gebiete
pflegen, gehen diese Museen zugleich als Lokal-, Provinzial- oder Landes-
museen darauf aus, Kultur- und Kunstdenkmäler der Heimat im weitesten
Umfange zu sammeln und zu erhalten. Die naturkundlichen Museen oder
Museumszweige stellen ebenfalls die Heimat in den Mittelpunkt und
regen zur Beobachtung ihrer Bodenbeschaffenheit, ihrer Flora und ilirer
Fauna an. In den Sammlungen oder Abteilungen von mehr gewerblich-
technischem Charakter w-erden Handel und Gewerbe durch Rohprodukte,
Halbfabrikate und fertige Erzeugnisse, durch geographisch-ethnologische
Bilder, durch Modelle von Maschinen, industriellen Anlagen usw., ver-
anschaulicht.
Bei der Gründung solcher Museen war man sich klar, daß es „arbei-
tende Museen" sein mußten. Man entnahm deshalb aus dem Programm
der Gewerbe- und Kunstgewerbemuseen die Bibliotheken, die Lese-, Vor-
trags- und Arbeitssäle, sowie die belehrende Etikettierung, die Führungen,
die Vorträge und die wechselnden Ausstellungen. Eine in Amerika dazu
gekommene Spezialität sind die Kinderabteilungen, die schon die heran-
wachsende Jugend an einen verständigen, nutzbringenden Besuch der
Museen gewöhnen sollen. Aber auch ohne diese Besonderheit dürften
gut eingerichtete Volksmuseen für die junge Generation verständlich und
von großem Nutzen sein. Vielleicht ist es sogar richtiger, bei der ganzen
Anlage des eigentlichen Schaumuseums mehr an die Kinder als an die
Erwachsenen zu denken; denn diese können in der Regel eher von jenen
lernen als umgekehrt. Selbstverständlich muß sich auch die populärste
Aufstellung auf wissenschaftliche Erkenntnis gründen. Liebhaberei und
Dilettantismus wären hier ebenso gefährlich wie in den großen Museen.
Schon die Schausammlung muß zum Beobachten und Vergleichen anregen.
Daneben dürfen aber auch systematische vSammlungen nicht fehlen, damit
diejenigen, die sich für besondere Gebiete interessieren, Anleitung zu
wissenschaftlichen Arbeiten oder Hilfe beim Sammeln erhalten können.
Freiluftmuseen. Die wissenschaftlichc Betätigung bildet zugleich ein Gegengewicht
gegen Übertreibung des den Volksmuseen zugrunde liegenden Prinzips.
Das Streben, anschaulich zu sein und womöglich jeden Gegenstand in
den Zusammenhang zu bringen, in dem er entstanden oder gebraucht
rV. Die Museen in der Gegenwart. Ausblicke. 307
worden ist, ist gewiß berechtigt, und Schöpfungen, wie die von Artur
Hazelius begründete Freiluftabteilung „Skansen" des Nordiska Museet in
Stockholm und die anderen ähnlichen Museen des skandinavischen Nor-
dens mit ihren ländlichen Originalgebäuden, mit ihren Tieren und Pflan-
zen, ihren Volk.sfesten und -spielen sind als lebendige Kulturbilder der
hohen Bewunderung, die ihnen gezollt wird, zweifellos wert — aber damit
ist auch die äußerste Grrenze erreicht. Wenn man erst anfängt, künstlich
Ensembles zu schaffen mit neuen, aber alt aussehenden Häusern, mit
Straßen, Plätzen usw., dann werden aus den Museen Schaustellungen,
denen ähnlich, die unter den Namen: Venedig, Alt-Berlin, Tiroler
Alpen usw. die Massen der Großstädte wohl interessieren, sie aber gegen-
über Natur, Land, Volkskunst und allem, was damit zusammenhängt, wo-
möglich noch blasierter machen, als sie an sich schon sind. Und nicht
nur das. Dieselben Stadtleute, die sich auf Ausstellungen dieser Art gut
unterhalten, lassen, wenn es in ihrem geschäftlichen Interesse liegt, rück-
sichtslos alte Bau- und Kulturdenkmäler beseitigen und sagen dabei:
wozu erhalten, was man in Museen, Ausstellungen, Panoptiken usw. „ebenso
schön" sehen kann!
Museen für Volks- und Heimatkunde sollten überhaupt — sofern es Lokaimusecu.
nicht Museen für die Geschichte einer bestimmten Stadt sind — nur da
geschaffen werden, wo noch ein gewisser Zusammenhang zwischen Stadt-
und Land besteht. Sie dürfen andererseits auch nicht dem Lande zu nahe
rücken oder gar auf das Land selbst verlegt werden. Das „Dorfmuseum'',
das man neuerdings fordert, ist die andere Sorte Verirrung, zu der das
Volksmuseum führen kann. Dem Bauer nahe legen, sich seines alten Be-
sitzes zugunsten solcher Museen zu entäußern — und das wird schließ-
lich, wenn es auch nicht sein soll, jeder rege Museumsleiter tun — heißt
ihn doch gewaltsam von der lebendigen Tradition, die man erhalten sehen
möchte, losreißen; und was tatsächlich nicht mehr lebendig, d. h. außer
Gebrauch gesetzt oder außer Übung ist, das trägt auch in solchen Museen
keine Früchte mehr und findet im Zusammenhange von Landesmuseen
eine bessere und zugleich gesichertere Stätte. Durch Museen läßt sich
auch nicht verhindern, daß sich die schlechten Ableger gfroßstädtischer
Kultur in Bauten, Geräten, Schmuck usw. auf dem Lande breit machen.
Den Bauer und kleinen Städter in der Anhänglichkeit an altem Besitz
bestärken und daneben die Architekten und die Industrie zu einfacher,
geschmackvoller Art, die gar nicht gesucht bäuerlich zu sein braucht,
erziehen, das ist weit notwendiger und auch weit aussichtsvoller als die
Gründung von noch mehr Lokalmuseen. ^lan braucht sich nur einige der
vorhandenen anzusehen, um sich rasch zu überzeugen, wie wenig Nutzen
aus solchen, dem Zufall und dem Laien anheimgegebenen Sammlungen
herausspringt. Sie bedeuten bei allem, was man dafür anführen mag, doch
nur eine Zer.splitterung von Kraft, die in Landschafts- oder Provinzial-
museen gesammelt breiter und tiefer wirken könnte.
368
Ludwig Paixat: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
L.indesmusee.1. VoH den Laiidesmuseen müßte man allerdings veflangen, daß sie durch
geschickte Organisation alles in ihr Bereich zu ziehen suchen, was wirk-
lich zu verkommen oder verschleudert zu werden droht. Viele davon
tragen jetzt noch die Spuren ihrer Entstehung aus fürstlichen oder privaten
Raritätenkammern zu deutlich an sich und beschäftigen sich mit zu vielerlei,
anstatt ein bestimmtes Ziel — und da wäre doch wohl die Heimatkunde das
Gegebene — klar ins Auge zu fassen. Hier sind die Stellen, an denen der
von den Volksmuseen gegebene Anstoß Leben wecken kann. Auch die
bereits mit dem wissenschaftlichen Ausbau heimatlicher Sammlungszweige
beschäftigten Provinzial- oder größeren Lokalmuseen können in bezug auf
Belehrung des Publikums vieles lernen. Manche Leiter solcher Samm-
lung-en glauben, sie genügten ihrer Pflicht, wenn sie, den wissenschaftlichen
Zentralmuseen nacheifernd und zum Teil mit ihnen konkurrierend, sich
einseitig mit der systematischen Vervollständigung ihrer Sammlungen be-
schäftigten. Dieser Wetteifer wird um so verhängnisvoller, je mehr er
dahin führt, Gegenstände und Einrichtungen, die in ihrer ursprünglichen
Umgebung noch am Platze und auch vor Zerstörung gesichert sind, fort-
zunehmen und in Museen, die im Grunde nur für den wissenschaftlichen
Fachmann da sind, unterzubringen. Wenn man damit bezweckte, alles
historisch Wertvolle wie in Archiven zu sammeln und damit die Bahn
frei zu machen für eine neue Kultur, daim ließe sich der exklusiv wissen-
schaftliche Standpunkt wohl rechtfertigen; aber einstweilen sind die Ver-
bindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart noch nicht abgerissen,
und wir haben trotz aller schöpferischen Kräfte, die sich regen und be-
tätigen, noch lange laicht selbsterrungenes Kapital genug, um davon allein
leben zu können. Wir können also auf der einen Seite die stille Wirkung
der Denkmäler und auf der anderen die anregende Tätigkeit der Volks-
museen neben den rein wissenschaftlichen Museen nicht entbehi'en.
Sind Museen Aber SO wcit stehen wir doch bereits auf eigenen Füßen, daß wir uns
"""^ bei der Neugründung von Museen ernstlich fragen müssen, ob überhaupt
ein zwingender Grund dafür besteht, ob man die Ziele, die man vor Augen
hat, nicht besser und billiger durch wechselnde Ausstellungen, durch Fach-
schulsammlungen, durch künstlerischen Wandschmuck in Schulhäusern
und andere Wege dieser Art erreichen kann, und schließlich, ob man
nicht vielleicht Faktoren schafft, die wie das überkluge Publikum der
Großstädte die weitere Entwicklung eher hemmen als fördern. Bei
allem, was man für und in den Museen tut, sollte man dies nicht ver-
gessen: wir brauchen ein Volk, das die Natur und die Heimat liebt, die
Denkmäler der Vergangenheit ehrt und Verständnis hat für die ernste
künstlerische Arbeit der Gegenwart — ohne sich etwas darauf ein-
zubilden.
Literatur.
Eine umfassende Geschichte der Museen ist noch nicht geschrieben. Der kürzlich
erschienene Abriß : David Murray, Museums their history and their use I — III (Glasgow,
1904) behandelt zwar neben den naturwissenschaftlichen auch die prähistorischen und histo-
rischen Museen, schließt aber die Bilder- und Skulpturgalerieen aus. Der 2. und 3. Band
enthält eine Bibliographie, die sich auch auf die Kunstsammlungen erstreckt. Von kürzeren
Darstellungen der Geschichte der Kunstsammlungen ist bemerkenswert:
E. CURTIUS, Kunstsammlungen, ihre Geschichte und ihre Bestimmung, in : E. CURTIUS,
Altertum und Gegenwart I (Berlin, 1875), S. 94 fr.;
G. Hirschfeld, Zur Entwicklungsgeschichte von Kunstsammlungen, in ,,Nord imd Süd"
(Januar 1890);
A. FURTWÄNGLER, Über Kunstsammlungen in alter und neuer Zeit. Festrede, gehalten
in der Kgl. Bayr. Akademie der Wissenschaften (München, 1899).
Aus der Fülle von Büchern, Schriften und Aufsätzen, die einzelne Epochen oder
Sammlungen, die Organisation der Museen, ihre Aufgaben und ihre Betätigung behandeln,
seien hier einige wichtigere genannt. Die Ordnung, in der sie aufgezählt werden, entspricht
dem Gang der Darstellung in dem vorstehenden Aufsatz.
E. BoNNAFFIi, Les coUectionncurs de l'ancienne Rome (Paris, 1867).
L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, Bd. III.
F. JaCOBI, Grundzüge zu einer Museographie der Stadt Rom zur Zeit des Augustus I.
{Speyer, 1884).
F. Grecoroviu-S, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (Stuttgart, 1886—96).
F. K. V. DUHN, Über die Anfänge der Antikensammlungen in Italien (Berlin, 1880).
E. MüNTZ, Les arts ä la cour des Papes pendant le XVe et le XVI« sifecle. 11. 1879
Cap. Ml Essai sur l'histoire des CoUections italiennes d'art et d'arch^ologfie depuis les debuts
de la Renaissance jusqu'ä la mort de Paul II (1470).
Derselbe, Les collections des Mddicis au XV' si^cle (Paris, 1888).
A. Michaelis, Geschichte des Statuenhofes im \'aticanischen Bclvedere, im Jahrbuch
d. Archaeol. Instituts V (1890), S. 5 ff.
A. B. Valentini, Museum Museorum oder Natur- uhd Materialienkammer (Frankfurt,
1704 — 14). In Tom. I: D. MAJOR, Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-
Kammern insgemein. Vorrede datiert: Kiel, 1674.
C. F. Neickelius (Einckel), Museographia, oder Anleitung zum rechten Begriff und
nützlicher Anlegung der Museorum oder Raritätenkammern (Leipzig und Breslau, 1727).
G. Kle.nlm, Zur Geschichte der Sammlungen füJ Wissenschaft und Kunst in Deutsch-
land (Zerbst, 1837).
E. BONNAFFt, Les collectionneurs de l'ancienne France (Paris, 1873).
A. Michaelis, Ancient Marbles in Great Britain (Cambridge, 1882).
AR.MAND Freiherr VON DlTMRElCHER, Über den französischen Nationalwohlstand als
Werk der Erziehung (Wien, 1879;.
E. Edwards, Lives of the founders of the British Museum (London, 1870).
Du KuL-nnt Dia Gioemwart. L i. 24
,-Q Ludwig Pallat: Kunst- und Kunstgewerbe-Museen.
A. Lemaitre, Le Louvre, Monument et Mus^e, depuis leurs origines jusqu'k nos jours
(Paris, 1877).
P. DUPRfi et G. Ollendorff, Traitd de l'administration des Beaux-Arts (Paris, 1885).
Bd. I Chap. preliminaire, Sect. II Considdrations historiques sur le röle de l'dtat dans les arts
u. Bd. II Chap. V Mus<5es.
Zur Geschichte der Kgl. Museen in Berlin. Festschrift zur Feier ihres 50 jährigen
Bestehens (Berlin, 1880).
JOH. MÜLLER, Die wissenschaftlichen Vereine und Gesellschaften Deutschlands im
19. Jahrhundert. Bibliographie ihrer Veröffentlichungen seit ihrer Begründung bis zur Gegen-
wart (Berlin, 1883—87).
Finder, Die Aufgaben der Provinzialmuseen (Leipzig, 1881).
BODE, Die Entwicklung der öffentlichen Sammlungen des Mittelalters und der Re-
naissance in Deutschland seit dem Kriege 1870—71 in „Deutsche Rundschau" 1889 Heft 10.
Das Germanische Nationalmuseum von 1852— 1902. Festschrift von Dr. Th. Hampe (1902).
J. H. VON Hefner -Alteneck, Entstehung, Zweck und Einrichtung des bayrischen
Nationalmuseums in München. Bayerische Bibliothek Bd. XI (Bamberg, 1890).
Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst (Braunschweig, 1852).
Das K. K. Österreichische Museum für Kunst und Industrie. Festschrift zur Eröffnung
des neuen Museumsgebäudes (Wien, 1871).
R. Eitelberger von Edelberg, Gesammelte kunsthistorische Schriften (Wien, 1879
—1884), besonders Bd. II.
Das Kunstgewerbemuseum in Berlin. Festschrift zur Eröffnung des Museumsgebäudes
(Berlin, 1881).
J. Brinckmann, Das Hamburgische Museum für Kunst und Gewerbe. Ein Führer
durch die Sammlungen (Hamburg, 1894). In der Einleitung: Entstehung und Bedeutung
der Sammlung.
M. Marius Vachon, (abgekürzter Titel:) Rapports sur les musees et les ecoles d'art
industriel et sur la Situation des industries artistiques en Allemagne, en Autriche-Hongrie, en
Italie et |en Russie (Paris, 1885).
A. Lichtwark, Zur Organisation der Hamburger Kunsthalle (Hamburg, 1887).
E. Grosse, Aufgabe und Einrichtung einer städtischen Kunstsammlung (Tübingen und
Leipzig, 1902).
J. Bain, Museums, Art Galleries and Lectures in connection with public libraries.
Report of the Commissioner of Education. U. S. A. 1892—93, p. 850.
Die Museen als Volksbildungsstätten. Ergebnisse der 12. Konferenz der Zentralstelle
für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (in Mannheim 1903) (Berlin, 1904).
K. Koetschau, Museumswesen und Kunstförderung im Jahrbuch der bildenden
Kunst (1903).
W. Bode, KunsUammlungen und Museumsbauten hüben und drüben, in Kunst und
Künstler, 3. Jahrg., Heft I.
Derselbe, Das Kaiser Friedrich -Museum in Berlin; in Museumskunde Bd. I, Heft i
(Berlin^ 1905).
M. S. Prichard, Current Theories of the Arrangement of Museums of Art and their
Application to the Museums of Fine Arts. Museum of Fine Arts (Boston, Mass., 1904).
F. A. Bathes, The Functions of Museums: a resurvey, aus Populär Science Monthly
vol. LXIV January 1904 (s. Museumskunde Bd. I, Heft I, S. 62).
H. Dedekam, Reisestudien in Museumskunde Bd. I, Heft 2 (Berlin, 1905).
F. Deneken, Zweiter Bericht des Städtischen Kaiser Wilhelm-Museums in Krefeld
(Krefeld, 1904).
A. B. Meyer, Über Museen des Ostens der Vereinigten Staaten (von Amerika, in Ab-
handlungen und Berichte des Kgl. Zoologischen und Anthropologisch -Ethnographischen
Museums zu Dresden 1900/01 Bd. IX und Beiheft.
Literatur.
371
Derselbe, Über einige Europäische Museen und verwandte Institute (ebd., 1902/03),
Bd. X, Nr. I.
An Account of the Smithsonian Institution, its origin, history, objects and achieve-
ments (City of Washington, 1904).
J. J. WoRSAAE, De l'organisation des Musees Historico-Arch^ologiques dans le nord
et ailleurs. Extrait des Mdmoires de la Soci^t^ Royale des Antiquaires du Nord', 1885
(Copenhague, 1885).
Das Nordische Museum in Stockholm. Stimmen aus der Fremde (Stockholm, 1888).
H. E. VON Berlepsch-Valendas , Nordische Freiluft- Museen, im Kunstgewerbeblatt
1905, Heft 6, 7 u. 8.
Robert Mielke, Museen und Sammlungen. Ein Beitrag zu ihrer weiteren Entwick-
lung (Berlin, 1903).
H.Wagner, Museen, in: Handbuch der Architektur, IV. Teil, 6. Abt. , 4. Abschn.,
S. 219 ff. (Stuttgart, 1906).
Kunsthandbuch für Deutschland (Berlin, 1904).
Handbuch der Kunstpflege in Österreich (Wien, 1902).
Museumskunde, Zeitschrift für Verwaltung und Technik der öffentlichen und privaten
Sammlungen. Herausgegeben von Dr. H. Koetschau. Erscheint seit 1905, jährlich i Band
von 4 Heften.
24»
NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE MUSEEN.
Von
Karl Kraepelin.
I. Die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Museen. Die
Entwicklung der naturwissenschaftlichen Museen umfaßt nur die verhältnis-
mäßig kurze Spanne Zeit von wenig mehr als drei Jahrhunderten. Die
vielversprechenden Anfänge wissenschaftlichen Natur erkennens, wie sie
dvurch Aristoteles geschaffen, waren in den Wirren der Völkerwanderung
und unter dem Drucke des kirchlichen Regiments in Europa völlig ver-
loren gegangen: Niemand kannte, niemand achtete die Natur, und nur
hie und da waren in Kirchen und Klöstern heilkräftige und wundertätige
Naturobjekte, wie Giftpflanzen, Mineralien, Donnerkeile, Elefantenzähne
usw. aufbewahrt. Selbst Albertus Magnus (1193 — 1280) schrieb sein
großes Opus naturarum, ohne sich dabei auf bestehende Sammlungen
stützen zu können.
Mittelalter. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als der von Italien
her vordringende Humanismus das Geistesleben der Völker aus fast andert-
halb Jahrtausende langem Schlummer erweckte und, nicht zum wenigsten
mit Hilfe der schnell emporblühenden Buchdruckerkunst, allerorten neues
Wissen, neue Ideen verbreitete, begann man, auch den Objekten der um-
gebenden Natur seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es war ein glück-
liches Zusammentreffen, daß gerade um diese Zeit die für die Aufbewah-
rung von Naturalien so wichtige konservierende Eigenschaft des Alkohols
entdeckt und auch das alte Pergament durch billiges Leinenpapier ersetzt
wurde. So konnte denn der erwachte Sammeleifer zahlreicher Forscher,
unter denen namentlich Conrad Gesner (1515 — 66) eine führende Rolle
spielt, in ausgiebiger Weise an Tieren und Pflanzen sich betätigen, viel-
fach angeregt durch die großen geographischen Entdeckungen am Aus-
gange des 15. Jahrhunderts und die reichen Mittel, die durch sie nach
Europa flössen. Überall, in Italien, der Schweiz, in Deutschland, Holland,
Frankreich, England usw. entstanden Privatsammlungen, zunächst von
hervorragenden Gelehrten und begüterten Kaufleuten zusammengebracht,
bald aber auch von geistlichen Schulen (Collegium Romanumi in Rom),
I. Die Entwicklong der naturwissenschaiUichen Museen. 7-j i
von Fürsten und Herren, die nicht selten bedeutende Summen für solche
Kollektionen oder gar für einzelne , besonders begehrte Stücke veraus-
gabten. Eine reiche Literatur kam bald zur Blüte, in welcher die Schätze
dieser „Kunst- und Raritätenkammern" beschrieben, resp. die hervor-
ragendsten Sammlungen der Reihe nach aufgezählt wurden. Der älteste
jener, in der Folgezeit oft genug zu prächtigen Kupferwerken ausgestal-
teten Kataloge datiert bereits aus dem Jahre 1565, während das älteste
Verzeichnis der wichtigsten Sammlungen im Jahre 1649 veröffentlicht
wurde. Sogar eine Abhandlung über den Ursprung und die Entwicklung
der Museen von Joh. Daniel Major liegt schon aus der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts (1674) vor.
Noch waren die zur Modesache gewordenen, mit Kunstschätzen mannig-
facher Art vergesellschafteten naturhistorischen Sammlungen wenig mehr
als eine „Gemüts- und Augenergötzung", eine Anhäufung verschiedenster
Kuriositäten und Seltenheiten ohne logisches System, ohne wissenschaft-
liche Durchgeistigung. Allein dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Natur-
erkenntnis ist es zu danken, daß auch hierin im Laufe der folgenden zwei
Jahrhunderte von Grund aus Wandel geschaffen wurde.
Bereits die Entdeckung des zusammengesetzten Mikroskops am Be-
ginn des 17. Jahrhunderts eröffnete den Forschem eine neue Welt des
Kleinen (Swammerdam 1637 — 80, Leeuwenhoek 1632 — 1723 usw.);
überraschende anatomische (Harvey 1578 — 1657) und biologische (Reau-
mur 1683 — 1754, Roesel 1705 — 5g) Entdeckungen schlössen sich an; ein
reiches Material von Formen aus fremden Zonen wie aus der Heimat er-
heischte wissenschaftliche Vertiefung, und die in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts gegründeten Akademieen (Leopoldina 1652, London 1660,
Paris 1670) nebst den im 18. Jahrhundert reformierten Universitäten trugen
mächtig dazu bei, diesem Bedürfhisse gerecht zu werden. Nachdem schon
beim Ausgange des 17. Jahrhunderts John Ray (1627 — 1707) den für die
systematische Wissenschaft so wichtigen Speciesbegriff aufgestellt und
die Terminologie durch Einführung schärferer Definitionen reformiert
hatte, war dann endlich der Zeitpunkt gekommen, wo Carl von Linn6
(1707 — 1778) durch die Schaffung seines tiefdurchdachten, alle Natur-
reiche umfassenden Systems, verbunden mit der Anwendung der
binären Nomenklatur, die so lange entbehrte Ordnung in die chao-
tische Mannigfaltigkeit der Naturgebilde brachte und damit auch den
Museen die Möglichkeit bot, sich ganz in den Dienst der Wissenschaft
zu stellen.
Das Ende des 18. Jahrhunderts und auch noch die erste Hälfte des Neoerc zeit.
I g. Jahrhunderts stehen zum großen Teil unter dem Einflüsse dieses hervor-
ragenden Mannes. Die mit dem Wandel der politischen Verhältnisse aus
Privathänden mehr und mehr in den Besitz der Staaten, Städte, Hoch-
schulen usw. übergehenden Museen werden allerorten von Schülern Linn^s
oder doch im Linne sehen Geiste reformiert, das Ordnen, Bestimmen, Be-
■ijA Kam. Kraepelin: Naturwissenschaftlich-technische Museen.
schreiben der Naturkörper feiert seine Triumphe; der Systematiker be-
herrscht das Feld und zeigt sich nicht selten gegenüber der Laienwelt
von einer ihochmütigen Ausschließlichkeit, die das Museum allein dem
Fachgelehrten vorzubehalten wünscht.
Jedoch auch diese Periode wird schnell überwunden. Die großartigen
Gesichtspunkte eines Cuvier (1773 — 1838), der die vergleichende Ana-
tomie begründete, der unvergleichliche Einfluß Alexander von Hum-
boldts (1769 — 1859), der seine Feder in den Dienst der allgemeinen Volks-
belehrung — im edelsten Sinne des Wortes — stellte, wirkten mächtig
auf die Hebung des Naturinteresses ein; Vereine und Gesellschaften mannig-
facher Art traten zusammen, um sich und weitere Kreise der Bevölkerung
in der Kenntnis der Natur zu fördern, und überall in den Großstädten
wuchsen stattliche Bauten empor, um in lichtvollen Sälen die Wunder-
werke der Natur dem Publikum vor Augen zu führen.
Das beginnende Zeitalter des Dampfes brachte mit seinen hundert-
fach gesteigerten Beziehungen zu fernen Ländern zunächst nur gewaltige
Massen bis dahin unbekannter Formengebilde und ein hierdurch bedingtes,
fast beängstigendes Anwachsen der Museumsbestände. Eine neue, letzte
Epoche in der Geschichte der Museen aber beginnt erst mit der Wieder-
belebung der Lamarck sehen Theorie von der phylogenetischen Ent-
wicklung der Organismen durch Charles Darwin, eines Gedankens,
dessen außerordentliche Tragweite nicht nur für die Wissenschaft, son-
dern für alle Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft von Tag zu
Tag mehr hervortritt. Er hat auch den Museen neue und bedeutende
Aufgaben zugewiesen, die zu erfüllen man allerorten mit rastlosem Eifer
bestrebt ist.
11. Die naturwissenschaftlichen Museen als Bildungsmittel.
Eine Untersuchung der Frage nach der Bedeutung der naturwissenschaft-
lichen Museen für unsere moderne Kultur führt zu dem Schluß, daß
Wissenschaft, Unterricht und Volksbildung gleicherweise in ihnen
ein hervorragendes Förderungsmittel zu erblicken haben.
Museen als I, Die Wisse ns chaf t. Die Naturwissenschaft, deren beispiellose
iiche''Archive. Fortschritte der Gegenwart ihr Gepräge gegeben, gewinnt ihren Einblick
in das innere Getriebe des Weltganzen keineswegs in erster Linie durch
allgemeine Abstraktionen, sondern sie bedarf dazu der Kleinarbeit, in-
dem sie mit unermüdlicher Sorgfalt nicht nur die mannigfachen Vorgänge
des Naturgeschehens beobachtet und analysiert, sondern auch die hundert-
tausendfältigen Gestaltformen der organischen und der unorganischen
Natur nach Art und Wesen zu erkennen strebt. Diese verwirrende Fülle
der den Forschem sich darbietenden Objekte läßt es zur Ermöglichung
des notwendigen Gedankenaustausches als ein erstes unerläßliches Er-
fordernis erscheinen, daß ein jeder Naturkörper wiedererkennbar be-
schrieben und gekennzeichnet sei. Die durch Linn6 begründete
II. Die naturwissenschafUichen Museen als Bildungsmittel. 375
internationale Nomenklatur der Organismen, verbunden mit einer mög-
lichst scharfen Charakterisierung derselben, ist daher als der Grundpfeiler
jeder Forschung auf dem Gebiete der Systematik zu betrachten. Leider
stellte sich bei dem allmählichen Bekanntwerden immer neuer Zehn-
tausender von Tieren und Pflanzen gar bald heraus, daß die Beschreibungen
der älteren Autoren, infolge von Nichtberücksichtigung wichtiger Merk-
male, den Ansprüchen auf „Eindeutigkeit" nur selten genügen, wenn die
Aufgabe gestellt wird, neu entdeckte Formen mit früher beschriebenen
zu identifizieren oder von ihnen abzutrennen, und daß es daher neben den
Schriften jener Forscher vor allem der von ihnen untersuchten Ori-
ginalstücke selbst bedarf, sollen die immer mehr sich häufenden Kon-
troversen über Nomenklaturfragen endgültig erledigt werden. Die pietät-
volle, auch auf die Etikettierung seitens des Beschreibers sich erstreckende
Aufbewahrung der alten, als Unterlage für systematische Arbeiten be-
nutzten Sammlungen erwies sich daher in der Folge als von nicht hoch
genug anzuschlagendem Nutzen für die Wissenschaft, während es anderer-
seits kaum tief genug beklagt werden kann, daß die eminente Wichtig-
keit der „Originalexemplare" vielfach erst zu spät erkannt wurde, daß
hochwichtige Sammlungen unserer bedeutendsten Systematiker achtlos ver-
zettelt, zerstört oder von unberufener Hand umetikettiert wurden, und daß
somit das wichtigste Mittel zum richtigen Verständnis ihrer Arbeiten für
immer verloren ging.
Die erste Aufgabe der naturwissenschaftlichen Museen müssen wir
nach dem Gesagten darin erblicken, daß sie als die Archive dienen für
alle von der Forschung bereits beschriebenen und registrierten Formen
der Naturkörper, deren zweckentsprechende Aufbewahrung und Bereit-
stellung für Nachuntersuchung und Vergleichung allein imstande ist, der
leidigen Verwirrung in der Namengebung der Naturobjekte Einhalt zu tun.
Doch nicht nur die Originaltj'pen der zum erstenmal beschriebenen
Formen gilt es in den naturwissenschaftlichen Museen aktenmäßig festzu-
legen, sondern nicht minder alles, was in den verschiedenen Gebieten des
Naturw'issens auf Grund positiver Unterlagen erarbeitet ist, mag es sich
dabei um die Ethnographie, die Fauna, die Flora, den Mineralreichtum, den
geologfischen Aufbau eines Landes handeln, oder um die Ergebnisse einer
Tiefbohrung, einer Forschungsreise, einer Meeresuntersuchung. In allen
diesen Fällen ist die Aufbewahrung des den wissenschaftlichen Ar-
beiten zugrunde liegenden Materials das beste Mittel, begangene
Irrtümer aufzuklären und weiterer Forschung zur Basis zu dienen, ganz
abgesehen von den zahlreichen Fällen, wo durch Untergang oder teil-
weise Zivilisierung eines Naturvolkes, durch Aussterben einer Tier- und
Pflanzenart jede Möglichkeit geschwunden ist, neues Untersuchungsmate-
rial herbeizuschaffen.
Stellen so die Museen die Magazine dar, in denen gewissermaßen die
Akten der gesamten Forschungsgeschichte niedergelegt werden.
^76 Karl Kraepeun: Naturwissenschaftlich-technische Museen.
SO sind sie andererseits in hohem Grade berufen und befähigt, unser
Wissen von der Natur auf Grund eigener Forschung zu fördern und
zu vertiefen.
Museen als Daß die rein systematische Klassifizierung und Beschreibung
mittel. der Tier- und Pflanzenformen, der Mineralien und der Erzeugnisse der
Naturvölker nicht möglich ist ohne ein ausgiebiges Material realer Ob-
jekte, bedarf keiner weiteren Ausführung. Allein eine solche Tätigkeit
des reinen Beschreibens und Rubrizierens, wie sie besonders zu den Zeiten
Linnes und seiner Nachfolger fast ausschließlich geübt wurde, konnte beim
Fehlen allgemeinerer Gesichtspunkte auf die Dauer nicht wohl als echte
Wissenschaft anerkannt werden. Es kam eine Zeit, in der man der sog,
„deskriptiven" Naturwissenschaft und somit auch den ihrer Pflege dienen-
den Museen jeden höheren Wert absprach und den weiteren Ausbau des
trockenen Systems in erster Linie den dilettierenden Naturfreunden zu-
weisen zu können glaubte. Diese Auffassung gewann um die Mitte des
verflossenen Jahrhunderts um so mehr an Boden, je mehr die neu erstan-
denen Disziplinen der Anatomie, Physiologie, Embryologie, Biologie die
Kräfte und das Interesse der Forscher in Anspruch nahmen. Erst die
Darwinsche Epoche mit ihrer Wiederbelebung des Entwicklungsgedankens
brachte auch der lange mißachteten Systematik neue, hochwichtige Auf-
gaben, zu deren Lösung vor allem die Museen mit ihren reichen Schätzen
berufen sind.
Während man bis dahin allein das Trennende der Formen zu finden
sich bemüht hatte und in der Einreihung derselben in das „System" sein
Genüge fand, verlangte die total veränderte Fragestellung jetzt gerade im
Gegenteil, die Brücken zu suchen, die alles Lebendige in der Gegenwart
wie in grauer Vorzeit miteinander verknüpfen, den tausendfaltigen Ur-
sachen nachzuspüren, welche die Wandlung der Formen, ihre Speziali-
sierung, ihre Verbreitung über den Erdball bewirkt haben. Eine ganz
neue, fast möchte man sagen, jungfräuliche Wissenschaft mit klaren Zielen
und allgemeinen philosophischen Gesichtspunkten erwuchs so aus dem
Wurzelstock der alten Systematik, die, ehedem ein ödes und geistloses
Fachwerk, heute in ihren idealen Zielen als der höchste und letzte Aus-
druck aller der Ergebnisse erscheint, die Morphologie, Anatomie und Ent-
wicklungsgeschichte, Variationslehre, Paläontologie und geographische
Verbreitungslehre bei ihren Spezialforschungen zutage gefördert haben.
Und zur Erfüllung dieser ihrer hohen Aufgabe bedarf sie, gleich allen
ihren Hilfswissenschaften, nicht nur des bescheidenen Materials der alten
Museen, sondern sie vervielfacht ihre Ansprüche und fordert für die
Lösung einer einzelnen Frage etwa aus dem Gebiete der Variations-
statistik oder der geographischen Verbreitung eine Bereitstellung von
Individuenmassen, die für die frühere Auffassung von der Konstanz der
Art als völlig unerhört erscheinen müssen. Nur Magazine von gewaltigen
Dimensionen werden daher den Forderungen der modernen Systematik
II. Die naturwissenschaftlichen Museen als Bildungsmittel. ?7y
gerecht werden können, und eine weitgehende Arbeitsteilung nach Län-
dern und Objektgruppen wird in der weiteren Entwicklung kaum zu ver-
meiden sein.
2. Unterricht. Daß jede Belehrung über die Gebilde der Natur an
die Objekte selbst anzuknüpfen hat, ist ein Satz, der seit Überwindung
des mittelalterlichen Scholastizismus wohl kaum von irgend einer Seite
in Zweifel gezogen wird. Universitäten, Akademieen und Schulen be-
dürfen daher naturwissenschaftlicher Sammlungen, die den Vortrag des
Lehrers erläutern und dem Lernenden die Möglichkeit eigenen Beobachtens
und eigenen Untersuchens gewähren. Nur so ist der leidigen Wortgläubig-
keit zu begegnen, nur so wird der künftige Forscher zu selbständigem
Können auf dem Boden der realen Wirklichkeit erzogen werden. Natur-
gemäß dürfen diese Sammlungen nur eine bescheidene , aber sorgfältige
Auswahl der überhaupt existierenden Naturkörper und ihrer Derivate ent-
halten, um den Lernenden nicht durch die Masse des Gebotenen zu er-
drücken, und diese Auswahl wird je nach den Zielen des Unterrichts eine
verschiedene sein. Der Universitätslehrer wird für seine allgemeinen und
speziellen rein wissenschaftlichen Vorlesungen anderer Demonstrations-
und Untersuchungsobjekte bedürfen als der Landwirt, der Forstmann, der
Berg- und Hüttenmann. Dem jungen Kaufmann wird vor allem eine
Sammlung einheimischer und fremdländischer Handelsprodukte, dem Ge-
werbetreibenden eine solche von Rohstoffen und Halbfabrikaten von Nutzen
sein, und von allen diesen Spezialmuseen wird man, sofern sie in richtigem
Geiste geleitet und benutzt werden, sagen können, daß sie, neben den
Studien am lebenden Objekt in Forst und Feld, in botanischen Gärten
und an biologischen Stationen, neben dem Besuch der Bergwerke und
technischen Betriebe, für die Berufsbildung der kommenden Generation
von fundamentaler Bedeutung sind.
3. Volksbildung. Wie die Kunstmuseen seit der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts mehr und mehr der Allgemeinheit zugänglich ge-
macht wurden, so auch glaubte man, die mit der Erleichterung des Ver-
kehrs rapide wachsenden und sich differenzierenden Naturaliensammlungen
dem Publikum zu freier Belehrung eröffnen zu sollen. Der Gedanke an
sich, daß auch dem Laien eine gewisse Kenntnis der Naturgebilde von
Nutzen sei, muß fraglos als berechtigt anerkannt werden, allein von einem
greifbaren Erfolge in dieser Richtung konnte nicht wohl die Rede sein,
solange man sich damit begnügte, die für wissenschaftliche oder Lehr-
zwecke in meist unzulänglichen Räumen aufgespeicherten Objekte als
Ganzes der Schaulust des Publikums preiszugeben. Eine schier sinn-
vervvirrende Menge von Einzelobjekten, ohne andere leitende Gesichts-
punkte als den des Systems aneinandergereiht, mochte im Einzelfalle wohl
Staunen oder Bewunderung über Größe, Farbe und Gestaltung besonders
in die Augen fallender Naturkörper hervorrufen; eine wirkliche Beleh-
rung über das Wesen der Dinge und selbst nur über deren systema-
378
Karl Kraepelin: Naturwissenschaftlich-technische Museen.
Moderne
Forderungen.
tische Gruppierung war um .so weniger möglich, als jene Sammlungen
fast ausnahmslos nicht einem emstdurchdachten Plane, sondern dem blinden
Zufall ihre oft genug nur die äußere Hülle der organischen Naturkörper
darbietenden Schätze verdankten.
Auch hier hat erst die durch Charles Darwin ausgelöste Bewegung
auf dem Gebiete der biologischen Wissenschaften neue Ideen geweckt
und zur Verwirklichung gebracht. Wie der ,3alggelehrte" vergangener
Zeiten allmählich zum Forscher wurde, dem das Problem des Lebendig-
seins der Organismen mehr und mehr in den Vordergrimd trat, wie der
Geologe, der Paläontologe erkannte, daß das Studium der wirksamen
Kräfte und deren Betätigung im Laufe der Erdgeschichte seine vor-
nehmste Aufgabe sei, so auch begann man für den gebildeten Laien nicht
allein und nicht in erster Linie eine oberflächliche Kenntnis der toten
Formen zu fordern, sondern ein Eindringen in das Geheimnis des Lebens,
ein Verständnis der Gesetze, welche den Mechanismus des Einzelwesens
wie die tausendfältigen Beziehungen der Organismen zueinander regeln,
einen Überblick über die wichtigsten Etappen, welche die Geschichte
des Erdkörpers und seiner Bewohner bis zu deren jetziger Gestaltung und
geographischen Verbreitung durchlaufen hat. Indem man sich selbst als
ein den Gesetzen des Naturgeschehens unterworfenes Wesen, als letztes,
höchstes Glied in der Reihe der organischen Entwicklung fühlen lernte,
wuchs das Verlangen, durch tieferes Eindringen in das Getriebe des Natur-
ganzen zu einer klareren Auffassung der Stellung des eigenen Ich im
Universum emporzusteigen.
Es liegt auf der Hand, daß diesem stets weitere Kreise erfassenden
Verlangen nach ernsterer Belehrung über die Ergebnisse der modernen
Naturforschung in erster Linie nur durch eine vertiefte Behandlung des
naturwissenschaftlichen Unterrichts Genüge getan werden kann. Da-
neben aber wird man die Bedeutung der naturhistorischen Museen für
dieses Streben nicht unterschätzen dürfen, zumal, nachdem man seit etwa
einem Vierteljahrhundert begonnen, durch weitgehende Reformen in den
für die breite Öffentlichkeit bestimmten Schausälen der Museen wirk-
liche Belehrung zu bieten und allgemeine Ideen zum Ausdruck zu
bringen.
Schaasamm- Das crstc Erfordernis bei diesem Reformwerk war natürlich die voU-
lungen und . iri'ioj'j"
deren Aus- Ständige Abtrennung der allem dem wissenschaitlichen btudmm die-
gestaltung, ,., , -i-," •• ttj_ 1 J
nenden, m besonderen Räumen magazmierten Hauptsammlung von der
lediglich für das Publikum bestimmten Schausammlung. Auf diese
Weise war es möglich, zunächst in der rein systematischen Abteilung
unter weitgehender Beschränkung nur diejenigen Formen vorzuführen,
welche gewissermaßen als Paradigmen für die verschiedenen Kategorieen
der Naturobjekte, als Charaktertypen für die Klassen, Ordnungen, Familien
der Naturreiche zu gelten haben. Durch sorgfältigste Präparation und
Konservierung, durch weitläufige, jedes Einzelobjekt zur vollen Geltung
n. Die naturwissenschafUichen Museen als Bildungsmittcl. -i^g
bringende Aufstellung, durch zweckentsprechende Etikettierung, geogra-
phische Kartenskizzen und erläuternde Abbildungen gelingt es, selbst föir
diesen trockenen Wissenszweig von der Formgestaltung der Naturkörper
und deren systematischer Gruppierung ein gewisses Interesse zu erwecken
und den Beschauer zu eingehenderem Studium anzuregen. Besonders gilt
dies auch für Sammlungen, welche die Tiere, Pflanzen und Mineralien
der engeren Heimat in übersichtlicher, ästhetisch ansprechender Weise
vor Augen fuhren und so dem Besucher den Gedanken nahelegen, diesen
Gebilden draußen in der freien Natur mehr als bisher sein Augenmerk
zuzuwenden, oder wohl gar durch eigene Sammeltätigkeit einen tieferen
Einblick in deren Formenmannigfaltigkeit zu gewinnen.
Neben dieser, das System der Naturkörper veranschaulichenden Auf-
stellung finden sich in allen modernen Schaumuseen weitere Abteilungen,
die dem Belehrung suchenden Laien die wichtigsten Ergebnisse auch
der übrigen naturwissenschaftlichen Disziplinen, der Ontogenie, Phylogenie,
Biologie, Paläontologie usw. zu übermitteln bestrebt sind.
Als ein noch der Lösung harrendes Problem dürfen wir zunächst wohl
die Veranschaulichung der geographischen Verbreitung der Tiere
und Pflanzen betrachten, da ein einfaches Nebeneinanderstellen der für
irgendeine „Region" charakteristischen Formen nicht allein wegen der
Verschiedenheit der zu berücksichtigenden Objekte nach Grüße und Kon-
servierung — vom Elefanten bis zum Sandfloh — seine Schwierigkeiten
hat, sondern auch wenig anschaulich wirkt, da die Eigenart des land-
schaftlichen Gepräges fehlt. Auch die Versuche, die wichtigsten Charakter-
formen eines Gebietes zu einer umfangreicheren Gruppe zu vereinigen,
wie dies namentlich im Museum zu Darmstadt versucht ist, wollen nicht
völlig befriedigen. Vielleicht ist es der Zukunft vorbehalten, mit Zuhilfe-
nahme der Malerei für die eindrucksvolle Darstellung zoologischer und
botanischer Charakterbilder aus fernen Zonen in besonderen Hallen ähn-
liche Dioramen zu schaffen, wie sie seinerzeit auf der internationalen
Gartenbauausstellung in Hamburg im Jahre 1897 für die Haupttj^Den
fremdländischer Vegetation vorgeführt wurden.
Ungleich leichter lassen sich andere allgemeine Gesichtspunkte aus den
Gebieten der biologischen Wissenschaften zur Anschauung und zum Verständ-
nis bringen. Dahin gehört in erster Linie ein Einblick in die verschiedenen
Organisationspläne der Tiere mit Einschluß des Menschen, ihren ana-
tomischen und histologischen Bau, durch Aufstellung instruktiver Präpa-
rate und Demonstrationsmikroskope. Hieran schließt sich die Darstellung
der Anpassungserscheinungen an die umgebenden Medien, an Luft,
Erde, Wasser, an Licht, Wärme, Klima, der Beziehungen der Organis-
men zueinander, die in den mannigfachen Mitteln des Schutzes und des
Kampfes, der Mimikry, des Parasitismus, der Symbiose usw. zum Aus-
druck kommen, die wichtigsten Beweismittel der Darwinschen Lehre,
wie sie durch Beispiele der Variation und Rassenbildung, durch ontoge-
^8o Karl KrabpeliN: Naturwissenschaftlicli-technische Museen.
netische und phylogenetische Entwicklungsreihen zur Anschauung gebracht
werden können.
Auch ohne diese Bezugnahme auf die Deszendenzlehre dürfen einige
Beispiele des Entwicklungsganges der Organismen vom Ei bis zum
vollendeten Geschöpf im modernen Schaumuseum nicht fehlen, während
Geologie und Paläontologie berufen sind, den Beschauer einen Blick in
den Werdegang unserer Erdrinde, in die Vorgeschichte der heutigen
Lebewelt tun zu lassen.
Mehr praktische Zwecke verfolgen sodann die Zusammenstellungen
der wichtigsten Schädlinge des Menschen, seiner Haustiere und Kultur-
pflanzen, der in den Wohnungen verbreiteten Tiere, der mannigfachen
Naturkörper und Naturprodukte, die wirtschaftlich nutzbringend sind
oder sonstwie aus irgendeinem Grunde das besondere Interesse des Men-
schen herausfordern. Ist es doch nicht allein für den Land- und Forst-
mann, den Obst- und Weinbauer, den Berg- und Hüttenmann von Be-
deutung, daß er über die sein Wohl und Wehe bedingenden Naturobjekte
eingehendere Belehrung empfängt, sondern für alle, die als Kaufleute,
Industrielle, Lehrer, Handwerker direkt oder indirekt zu ihnen in irgend-
einer Weise in Beziehung stehen, wofern nicht gar, wie beispielsweise
bei den Parasiten des Menschen, ein jeder ohne Ausnahme Schädigungen
seitens gewisser Geschöpfe zu fürchten hat.
Biologische Eine ganz besondere Anziehungskraft auf das große Publikum üben
Gruppen.
aber die im letzten Viertel des verflossenen Jahrhunders mehr und mehr
in Aufnahme gekommenen biologischen Gruppen aus, d. h. Dar-
stellungen der Tiere, Pflanzen und Menschenrassen in der natürlichen
Umgebung, in welcher der Kreislauf ihres Daseins sich abspielt. Die
ersten dahinzielenden Versuche, dem Beschauer mit dem Naturobjekt zu-
gleich auch ein Bild von dessen Tätigkeit und dessen ökologischen
Beziehungen zu geben, reichen allerdings noch in eine frühere Periode
zurück; allein sie konnten nur wenig befriedigen, solange die Häufung
unvereinbarer, weil in Wirklichkeit zusammen nicht vorkommender Formen
und die völlig unzureichende Technik in der Wiedergabe der zu charak-
terisierenden Örtlichkeit den Mangel an Naturwahrheit allzusehr hervor-
treten ließen. Erst das Vorbild der berühmten „Collection of British birds"
im Britischen Museum hat auf diesem Felde neue Bahnen eröfi^net. Nicht
nur das Tun und Treiben der Naturvölker mit ihren Wohnstätten und
Arbeitsgeräten, die Kunsttriebe und sonstigen Lebensäußerungen der
höheren Tiere sucht man heute in künstlerisch vollendeten, mit höchster
Naturtreue ausgeführten Einzelgruppen zur Anschauung zu bringen, son-
dern auch die vielgestaltigen Formen der Insektenwelt und die Lebens-
gemeinschaften des Meeres, am seichten Ebbestrand, auf hoher See, wie
in der Tiefe des Grundes. Besonders viele amerikanische Museen (New-
York, Chicago, Washington, Carnegie Museum usw.) wenden für die Her-
stellung derartiger, oft riesige Dimensionen annehmender Gruppen fabel-
II. Die naturwissenschaftlichen Museen als Bildungsmittel. ^S I
hafte Summen auf; aber auch in Deutschland (Bremen, Hamburg, Institut
für Meereskunde in Berlin) hat das Beispiel des Britischen Museums ver-
ständnisvolle Nachahmung- gefunden, ja im Museum zu Altona ist die
Vorführung von Lebensbildern zum alleinigen Prinzip der Aufstellung
erhoben.
Man könnte einwenden, daß der Versuch, in der angedeuteten Weise
das Leben der Tiere zur Darstellung zu bringen, die Mühe nicht lohne,
da ein solches „nachgemachtes" Leben unmöglich das wirkliche Leben
ersetzen könne, und daß demnach jeder zoologische Garten in dieser Hin-
sicht tmendlich viel wert\roller und lehrreicher sei. Demgegenüber darf
darauf hingewiesen werden, daß der zoologische Garten zwar für das
Studium der geistigen Fähigkeiten des lebenden Geschöpfes, für dessen
Bewegnngsformen, Gewohnheiten, Charakter willkommene Gelegenheit
bietet, daß er aber nur selten in der Lage ist, das natürliche „Milieu", in
dem das Tier in der Freiheit lebt, wiederzugeben, daß viele Tiere sich
der Beobachtung zu entziehen bestrebt sind, und daß vor allem gerade
die charakteristischsten Momente ihrer Lebensführung, wie Nahrungs-
erwerb, Nestbau, Brutpflege usw., in der Gefangenschaft kaum je unter
natürlichen Bedingungen zur Anschauung gelangen, ganz zu schweigen
davon, daß die große Masse der an biologisch interessanten Erscheinungen
so reichen niederen Tierwelt schon wegen ihrer Kleinheit zu Schau-
stellungen in den zoologischen Gärten nur wenig geeignet ist. Unter
diesen Umständen kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Dar-
stellung der Tiere in den interessantesten Momenten ihrer Lebensbetäti-
gung und in der für sie charakteristischen Umgebung ein nicht zu ver-
achtendes Surrogat für die wirkliche Naturbetrachtung ist, dessen wohl-
verstandene Anwendung um so berechtigter erscheint, je mehr den
Bewohnern der modernen Großstädte die Möglichkeit einer intimeren
Beschäftigung mit der Natur selbst genommen ist. Jedenfalls tritt dem
Beschauer das auf diese Weise dargestellte Geschöpf nicht mehr als ein
nur nach Form und Farbe zu betrachtender, dem leblosen Stein oder
Kunstprodukt vergleichbarer Körper entgegen, sondern es wird in ihm
mit zwingender Kraft die Vorstellung von der Eigenart des organischen
Lebens geweckt, von dem Ringen und Kämpfen ums Daseih, der Sorge
um die Familie, dem bestimmenden Einfluß der äußeren Lebensbedingungen,
und aus diesem Vorstellungskreise heraus erwächst ein ungleich tieferes,
weitere Belehrung heischendes Interesse für die Natur, als es durch
einfache Aneinanderreihung der Naturkörper gewonnen werden kann.
Von besonderem Werte dürften solche „Ausschnitte aus dem Getriebe
des Naturganzen" sich erweisen, soweit sie die Gebilde der engeren
Heimat zum Vorwurf wählen, so daß hier den Landes- und Provinzial-
museen ein weites Feld der Tätigkeit offen steht. Für die überreiche
Formenwelt fremder Zonen wird man sich, selbst im günstigsten Falle,
mit wenigen ausgewählten Beispielen begnügen müssen.
igj Karl Kraepeun: Natunvissenschaftlich-technische Museen.
Führungea u.ij Daß bcl allen den bisher geschilderten Darbietungen des modernen
Schaumuseums auf die Auswahl der Objekte, die Etikettierung, die Er-
läuterung durch Skizzen und Modelle, wie auf die Herstellung allgemeiner
und spezieller Kataloge oder „Führer" die höchste Sorgfalt verwendet
werden muß, ist selbstverständlich, da hierdurch vor allem dem Besucher
die Möglichkeit gegeben wird, die den Ausstellungen zugrunde liegenden
Ideen auch wirklich zu erfassen. Geteilter sind die Ansichten über den
Nutzen der sogen. Führungen durch die Museumsräume seitens sach-
kundiger Fachmänner. Nach dem Vorgange Kopenhagens sind solche
Führungen in neuerer Zeit mehrfach eingerichtet, und sie haben auch,
was die Besucherzahl anlangt, nicht unbedeutende Erfolge erzielt, wie
2. B. in Berlin. Ob es möglich ist, auf dem Gebiete der Kunst durch
einmalige oder selbst durch „Reihenführungen" ein tieferes Verständnis
für die Werke der Malerei und Plastik zu erwecken, mag zweifelhaft er-
scheinen. Etwas günstiger liegen die Verhältnisse jedenfalls für die natur-
wissenschaftlichen Museen, deren Objekte eine auch dem naiven und
ungeschulten Geiste verständliche Sprache reden, deren der Schaustellung
zugrunde liegende allgemeine Ideen ohnehin, wenigstens zum Teil, in
weite Schichten des Publikums eingedrungen sind. Immerhin mag es
geraten sein, auch hier die Erwartungen nicht zu hoch zu spannen und
den größeren Erfolg von solchen mit den Museen verknüpften Institu-
tionen zu erhoffen, die, unter Zugrundelegung ihres reichen Demonstra-
tionsmaterials, eine weitergehende Belehrung in dauernden Unter-
richtskursen und Vorlesungen anstreben. Daneben wird es sich
empfehlen, besondere Führungen durch die Schausammlungen für Lehrer
und Lehrerinnen einzurichten, die hierdurch die Fähigkeit gewinnen,
nun auch ihrerseits die im Museum veranschaulichten Ideen im Sinne der
Museumsleitung ihren Zöglingen zu erläutern.
Der soeben berührte Gedanke von der Bedeutung der naturwissen-
schaftlichen Museen für die heranwachsende Generation bedarf noch
einer kurzen Erörterung. In seinem „Scope and functions of Museums"
spricht Ray Lancaster es aus, daß die Museen „not a place for children
or school teaching" seien, sondern „a place for the delight of grown-up
men and women". Mag man diesem Satze auch zustimmen, sofern damit
gesagt ist, daß die ernste Wissenschaft nicht zum Spielzeug der Kinder
herabgewürdigt werden solle und sich daher in erster Linie in ihren Dar-
bietungen an den gereiften Erwachsenen zu wenden habe, so wird man
doch andererseits den Besuch der naturhistorischen Museen seitens der
Jugend keineswegs als etwas Unerfreuliches oder gar zu Verhinderndes
betrachten dürfen. Gerade in der frischen, offenäugigen Jugend feiert die
Liebe zur Natur ihre höchsten Triumphe, bei ihr finden wir den Trieb
zum Beobachten, zum Sammeln, zu eigener Betätigung am lebendigsten;
von ihr wird mit wärmstem Interesse aufgefaßt und weiter verarbeitet,
was den im Kampfe des Lebens mürbe gewordenen und abgestumpften
III. Die Haupttypen der naturwissenschaftlichen Museen und deren Aufgaben. 583
Erwachsenen kaum noch tiefer zu berühren vermag, wie denn wohl so
mancher Naturforscher freudig bekennen wird, daß er die stärksten und
nachhaltigsten Eindrücke für seinen Beruf als Knabe in der ungebundenen
Zeit des fröhlichen Umherstreifens und Sammeins in Wald und Heide
gewonnen hat. Wir betrachten daher die naturhistorischen Museen als
eine Bildungsanstalt, die der heranwachsenden Generation keineswegs
vorenthalten werden darf, in der sie Anregung und Belehrung findet, sei
es, daß sie darin auf eigene Hand ihre kleinen Entdeckungen macht und
das in der freien Natur Erschaute auf Grund der im Museum gebotenen
Belehrung zu geordnetem geistigen Besitztum verarbeitet, sei es, daß sie
unter der Führung des Lehrers zu tieferem Eindringen in die Probleme
modemer Naturforschung geleitet wird. Vielleicht ist es angezeigt, wie
dies in den Vereinigten Staaten geschehen, für das frühere Jugendalter
in den Museen eigene Kinderabteilungen mit Vorträgen, Preisauf-
gaben usw. einzurichten. Wo derartige Institutionen aber fehlen, sollte
man in bezug auf den Besuch der Kinder die weitestgehende Liberalität
walten lassen und es nicht als eine Entweihung der Wissenschaft be-
trachten, wenn hie und da die erläuternde Etikette der Schausammlung
sich sogar dem Verständnisvermögen des halbwüchsigen Jungen anpaßt.
Auch der Mann aus dem Volke wird dabei gewinnen, dessen Auffassungs-
fähigkeit ja oft genug kaum über das des geweckten Knaben hinausgeht.
in. Die Haupttypen der naturwissenschaftlichen Museen und
deren Aufgaben. Die im vorigen Abschnitte entwickelten Gesichts-
punkte gestatten es, darüber ein Urteil zu gewinnen, welche Hauptformen
der naturwissenschaftlichen Museen als berechtigt bzw. entwicklungs-
fähig anzuerkennen sind, und welchen besonderen Zielen sie ihre Kraft
zu widmen haben. Entsprechend der im früheren skizzierten Bedeutung
der Museen für Wissenschaft, Unterricht und Volksbildung ergeben sich
ohne Zwang auch drei Haupttypen naturwissenschaftlicher Sammlungen,
deren Aufgaben zwar in mancher Hinsicht sich decken, immerhin aber
durch das Vorwalten einer bestimmten Richtung weitgehende Verschieden-
heiten der gesamten Organisation erheischen. Wir wollen diese Haupt-
typen, die selbstverständlich heute noch vielfach ineinander übergehen, kurz
als Zentralrauseen, Unterrichtsmuseen und Provinzialmuseen unterscheiden.
I. Zentralmuseen. Den großen Zentral- oder Landesmuseen fällt
vor allem die Pflege der Wissenschaft zu. Sie sind die Archive, in
denen die Ergebnisse der bisherigen Forschung gehegt werden, und die
berufen sind, mit Hilfe ihrer reichen Bestände nicht nur der modernen
Systematik, sondern auch den mit ihr in engem Konnex stehenden Wissens-
zweigen der geographischen Verbreitung der Organismen, der Morphologie,
Anatomie, Biologie usw. usw. als Grundlage zu dienen. Den heutigen An-
forderungen entsprechend verlangen sie gewaltige, nicht prunkvolle, aber
zweckentsprechende Magazine, einen großen Etat für Ankauf und Aptie-
384
Karl Kraepei.in: Natunvissenschaftlich-technische Museen.
der Zentral-
museen.
rung- der Naturobjekte, zahlreiche Arbeitsräume und einen nicht zu gering
zu bemessenden Stab von Beamten, die, in fester, sorgenfreier Lebens-
Stellung, zur Verwaltung dieses Riesenarchivs und zur Lösung der hohen
wissenschaftlichen Aufgaben des Museums berufen sind.
Differenxierung Bei der fast Unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Naturobjekte ver-
steht es sich von selbst, daß derartige Zentralmuseen von vornherein nur
eine oder wenige Hauptgruppen des Gesamtforschungsgebietes umfassen
können, daß also ethnographische, anthropologische, zoologische, bota-
nische, mineralogische Museen usw. zu unterscheiden sein werden. Aber
auch mit dieser primären Gliederung dürfte die notwendige Differenzie-
rung der Sammlungen noch nicht zum Abschluß gelangt sein. Schon
treten besondere Museen für Entomologie, für Kolonial- und Meereskunde
auf den Plan, und selbst für die mit den bedeutendsten Mitteln, den zahl-
reichsten Arbeitskräften ausgestatteten Institute ist es unmöglich geworden,
alle Zweige der Spezialwissenschaft in gleichem Maße zu pflegen. Zwar
ergibt sich als willkommenes Hilfsmittel wenigstens für die wissen-
schaftliche Bearbeitung gewisser, mit den Kräften des Museums nicht
zu bewältigender Formengruppen ohne weiteres die Heranziehung aus-
wärtiger Spezialforscher, sowie vor allem der rege geistige Austausch
zwischen den Instituten derselben Art: ob aber hiermit der Entwicklungs-
prozeß bereits seinen Abschluß gefunden hat, oder ob man nicht viel-
mehr dazu gelangen wird, auch das Arbeitsmaterial selbst miteinander
auszutauschen, derart, daß beispielsweise das eine Museum nur für gewisse
Tiergruppen eine führende Stellung erstrebt, während es das Material
aus anderen Gruppen im Interesse der Konzentrierung einem befreundeten,
gerade hierin dominierenden Zentralinstitute überläßt, dürfte heute kaum
zu entscheiden sein.
Als die gegebenen Örtlichkeiten, an denen die Zentralmuseen zu
errichten sind, resp. gedeihlich sich fortentwickeln können, haben einer-
seits die Hauptstädte größerer Staaten, andererseits die wichtigsten Em-
porien des überseeischen Handels zu gelten. Ein großer Teil der Kultur-
produkte fremder Länder und Völker, der tausendfältigen Gestaltformen
der organischen wie der unorganischen Welt ist nicht einfach durch Kauf
zu erwerben, sondern gelangt auf sehr verschiedenen Wegen, durch
Schiffsoffiziere, Matrosen, Passagiere, überseeische Pflanzer und Kaufleute
über den Ozean, um dann in den großen Kulturzentren Europas sich an-
zusammeln. Diesen nie' versiegenden Strom wissenschaftlich nutz-
baren Materials richtig zu leiten und der Allgemeinheit dienstbar zu
machen, ist die Aufgabe der in diesen Kulturzentren errichteten Museen,
denen gleichzeitig auch alle die zahlreichen und nicht selten hoch-
bedeutenden Privatsammlungen zufallen, in denen oft die ganze
Lebensarbeit eines opferwilligen Naturfreundes verkörpert ist. Die Klein-
stadt mit ihren engen Verhältnissen wird auf die Gewinnung derartiger
Hilfsquellen nur selten zu rechnen haben.
in. Die Haupttypen der naturwissenschaftlichen Museen und deren Aufgaben. igj
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß wir eine ausschließliche Ver-
bindung der Zentralmuseen mit den Universitäten weder für nötig noch
auch für ersprießlich halten. Wohl ist es wünschenswert, daß wenigstens
an einigen Hochschulen der Großstädte derartige Institute vorhanden
sind, schon um der nach unserer Auffassung so wichtigen Systematik den
Zusammenhang mit den übrigen Disziplinen der Naturwissenschaft zu
wahren und die Möglichkeit einer Lehr- und Lerntätigkeit auch auf
diesem Gebiete an ihnen zu bieten; kleinere Universitäten aber mit ihren
bescheidenen Mitteln werden auf weitergehende Pflege der systematischen
Wissenschaft und ihrer Nebenzweige verzichten müssen. Andererseits
kann es jedenfalls nicht zum Schaden der Wissenschaft sein, wenn nun
auch in NichtUniversitäten Institute emporblühen, die vermöge des reichen
Stromes ihrer Hilfsquellen imstande sind, aus eigener Kraft auf weiten
Gebieten der Forschung sich zu betätigen, zumal deren Beamte nicht, wie
die Hochschullehrer, durch umfangreiche Lehrtätigkeit in ihrer wissen-
schaftlichen Arbeit behindert sind.
Freilich wird auch das ganz auf sich allein gestellte, keinem höheren Lehrtätigkeit.
Lehrkörper verbundene Zentralmuseum nicht völlig auf jede Lehrtätig-
keit verzichten wollen. Wie es der gegebene Mittelpunkt ist für die
nach Übersee gehenden Sammler, für die zahlreichen Naturfreunde der
Großstadt, die hier sich Rat und Anregung holen, so auch wird es das
Interesse und das Verständnis für die Natur in weitere Kreise des Volkes
hinauszutragen bestrebt sein. Die in den Großstädten mit so großem
Beifall und reichem Erfolge ins Leben gerufenen Volkshochschulkurse
liefern den Beweis für die Wichtigkeit der hier in der Lösung begriffenen
Aufgabe. Die Männer der Wissenschaft selbst aber, die auf so einsame
Posten gestellt sind, entgehen durch eine derartige, vornehmlich die all-
gemeinen Gesichtspunkte der Wissenschaft berücksichtigende Lehr-
tätigkeit der Gefahr, in einseitigem Spezialistentum zu verknöchern und
den Blick für das große Ganze zu verlieren.
Nur kurz sei zum Schluß noch hervorgehoben, daß ein jedes Zentral- schausiramiung.
museum, entsprechend der in einer Großstadt vereinigten Fülle von In-
telligenz, nun auch selbstverständlich eine Schausammlung zu ent-
wickeln hat, die den im vorhergehenden Abschnitt dargelegten Anforde-
rungen entspricht und, neben einer Berücksichtigung der Interessen
aller Bevölkerungskreise, in bezug auf Räumlichkeiten und Anordnung
auch den Ansprüchen eines verfeinerten Geschmacks gerecht wird. —
In der Abteilung der heiniischen Naturobjekte dürfte die Fauna, Flora
und Geologie des Gesamtstaates zu berücksichtigen sein.
2. Unterrichtsmuseen. Die Hauptaufgabe der Unterrichtsmuseen
liegt, wie schon ihr Name sagt, in der Unterstützung und Belebung des
naturwissenschaftlichen Unterrichts. Sie liefern dem Dozenten das
notwendige Demonstrationsmaterial für seine Vorträge und bilden eine not-
wendige Ergänzung der Laboratorien, botanischen Gärten, Exkursionen
Die Kultur dhr Gbcenwart. L t. 25
,g(, Karl Kraepklin: Naturwissenschaftlich-technische Museen.
und sonstiger, die genauere Bekanntschaft mit den realen Objekten der
Wissenschaft bezweckenden Übungen.
Entsprechend dem sehr verschiedenen Charakter naturwissenschaft-
licher Lehrinstitute muß der Inhalt dieser Lehrsammlungen ein sehr ver-
schiedener sein; in jedem Falle aber wird die bestmögUche Unter-
stützung des Lehrzieles als oberste Norm seiner Fortentwicklung zu
gelten haben. Der großen Gefahr, daß in solchen Lehrsammlungen im
Laufe der Zeit durch Schenkung, Gelegenheitskäufe, persönliche Lieb-
habereien des Leiters usw. vielfach Objekte sich anhäufen, die zu den
speziellen Aufgaben in nur lockerer Beziehung stehen, ist mit Nachdruck
zu begegnen, ohne daß deshalb unter allen Umständen die Ausgestaltung
der Sammlung für wissenschaftliche Spezialstudien als unerwünscht
zu bezeichnen wäre. So muß es dem Universitätslehrer freistehn, je nach
seinen Neigungen auf rein systematischem Gebiete sich zu betätigen und
hierfür die nötigen Unterlagen zu sammeln, sofern dazu nicht größere
Mittel und Aufstellungsräume erforderlich sind. Noch näher liegt die
wissenschaftliche Ausnutzung und Vervollständigung der Unterrichts-
museen auf den mehr praktischen Gebieten der Land- und Forstwirt-
schaft, des Garten- und Obstbaus, des Fischereiwesens, Bergbaus, der In-
dustrie- und Handelsprodukte, bei denen man zur weiteren Vertiefung
der Spezialforschung fast mit Notwendigkeit zu einer Entwicklung der
Sammlungen kommt, die weit über das Bedürfnis der einfachen Lehr-
tätigkeit hinausgeht. In allen diesen Fällen wird zum mindesten dafür
Sorge zu tragen sein, daß die Übersichtlichkeit der für Studienzwecke
bestimmten Objekte nicht durch die Fülle des Materials verloren geht.
Ob die zunächst ausschließlich für fachmännische Studien geschaffenen
Lehrsammlungen nun auch berufen sind, die Allgemeinbildung zu
fördern, kann zweifelhaft erscheinen. In WirkUchkeit pflegen ja derartige
Museen an Universitäten, Akademieen usw., wenigstens in beschränktem
Maße, dem großen Publikum zugänglich zu sein; es darf aber nicht außer
acht gelassen werden, daß Fachbildung und Allgemeinbildung zwei recht
heterogene Dinge sind, und daß die wissenschaftliche Unterrichtssamm-
lung nur in sehr bescheidenem Maße den Anforderungen des Laien-
publikums sich anpassen kann. Am meisten Gewinn dürfte das letztere
noch aus solchen Museen davontragen, die der angewandten Wissen-
schaft dienen und demgemäß Objekte vor Augen führen, die auch für
das praktische Leben Interesse bieten.
3. Provinzialmuseen. Diese dritte Hauptgruppe der naturwissen-
schaftlichen Museen, die nach langer, kümmerUcher Daseinsfristung erst in
der Gegenwart zu ungeahnter Blüte gelangt, hat die Erweckung und
Belebung des Interesses für die Natur in den breiten Schichten des
Volkes zum Zielpunkte. Dementsprechend muß sie den Schwerpunkt
ihrer Tätigkeit auf die Ausgestaltung der Schausammlung legen, die
in ansprechenden Räumen je nach Maßgabe der aufzuwendenden Mittel
III. Die Haopttypen der naturwissenschaftlichen Museen und deren Aufgaben. ^jg?
alle die verschiedenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen hat, die wir im
früheren als für die Anbahnung eines tieferen Verständnisses des Natur-
ganzen maßgebend hervorhoben. Im Gegensatz zu den Zentral- und den
Unterrichtsmuseen wird die Differenzierung der Provinzialmuseen keine
sehr weitgehende sein, wenn auch die Verschiedenheit der zu Gebote
stehenden Mittel, die spezifischen Neigungen des Leiters und der Be-
völkerung, wie vor allem die lokale Eigenart der Umgebung, ob Küste,
Flachland oder Gebirgsgegend, mannigfache Unterschiede bedingen
werden.
Eine wenn auch beschränkte Lehrtätigkeit durch „Führungen" und
populäre Vorträge wird das Provinzialmuseum kaum entbehren können,
sofern es die Sphäre seines Einflusses nach Möglichkeit zu erweitem
strebt.
Aber auch auf wissenschaftliche Tätigkeit soll und darf es
keineswegs völlig verzichten. Als natürlicher Mittelpunkt für die natur-
wissenschaftlichen Interessen der umgebenden Landschaft, deren Sammler
und Naturfreunde es beraten und zur Mitarbeiterschaft anregen soll, hat
es vor allem den Naturobjekten der Heimat seine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden, dieselben archivmäßig zu sammeln und so für die geographische
Verbreitung der Formen, deren Abhängigkeit von Boden und KJima,
deren wirtschaftliche Bedeutung usw. usw. feste Unterlagen zu schaffen.
Auch Grund und Boden des Landes, Vorgeschichte und Volkskunde
bieten dem Provinzialmuseum reiche Gelegenheit zu wissenschaftlicher
Betätigung, während es andererseits mit rücksichtsloser Entschiedenheit
alles von sich fernhalten sollte, was der Natur der Sache nach in die
Zentralmuseen gehört. Ist doch gerade in dem nutzlosen Ballast, den die
meisten Provinzialmuseen in Form von Geschenken, Vermächtnissen, Ge-
legenheitskäufen usw. fort und fort in sich aufnehmen, das wesentlichste
Hemmnis für die energische Durchführung der ihnen nächstliegenden, so-
eben skizzierten Aufgaben zu erblicken.
Diese Aufgaben erscheinen nach unserem heutigen Standpunkte so
wichtig, daß man dem Gedanken, es sei ein planmäßig angelegtes Netz
von miteinander in reger Wechselbeziehung stehenden Provinzial- und
Landschaftsmuseen über das Gesamtgebiet des modernen Kulturstaates zu
erstreben, schwerlich seine Zustimmung versagen kann. Ob man indes,
wie manche wollen, im Verfolg dieser Idee dereinst auch bis zur Er-
richtung von Kleinstadt- oder gar Dorfmuseen fortschreiten wird, darf
billig bezweifelt werden.
»S*
Literatur.
Im folgenden sind einige der wichtigsten Arbeiten über Bedeutung und Organisation
der Museen in historischer Reihenfolge aufgeführt. Ein uinfangreiches , aber keineswegs
vollständiges Verzeichnis aller auf Museen bezüglichen Schriften findet sich in Mxjrray;
Museums their History and their Use Vol. II u. III (Glasgow, 1904).
J. D. Major, Unvorgreiflfliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins-
gemein (Kiel, 1674).
M. B. Valentini, Museum museorum, 2 Vol. (Frankfurt a. M., 1714).
C. F. Neickelius, Museographia, oder Anleitung zum rechten BegfrifF und nützlicher An-
legung der Museorum oder Raritätenkammern (Leipzig, 1727).
M\D0NETTI, Discours sur l'utilit^ des cabinets d'histoire naturelle dans un ^tat, et prin-
cipalement en Russie (St. Petersbourg, 1766).
A. Agassiz, On the Arrangement of Natural Histoi-y CoUections in Ann. Mag. Nat. Hist.
(3) IX (1862), 8.415-419.
J. E. Gray, On Museums, their Use and Improvment etc. in Ann. Mag. Nat. Hist. (3)
XIV (1864), S. 283—297.
A. H. Hagen, Historical Sketch of the development of Natural History Museums in
Proc. Boston Soc. Nat. Hist. XVII (1874—75), S. 387-
Derselbe, The History of the Origin and Development of Museums in Amer. Natur. X
(1876), s. 80—89, 135—148.
W. E. Winks, Local Museums, their purpose and management in Rep. and Trans.
Cardiff Nat. Soc. IX (1878), S. 83—90.
A. C. L. G. GÜNTHER, Museums, their Use and Improvment in Rep. 50. Meeting Brit.
Assoc. (1880), S. 591 — 598.
E. PiNDER, Die Aufgaben der Provinzial-Museen (Leipzig, 1881).
W. A. Herdmann, On an ideal Natural Histoi-y Museum (Liverpool, 1887).
H. Dewitz, Die Aufgaben großer zoolog. Landesmuseen, in Zool. Anz. (1888), Nr. 281.
A. Fritsch, Prinzipien der Organisation der naturhistorischen Abteilung des neuen
Museums zu Prag (Prag, 1888).
K. Kraepelin, Die Bedeutung der naturhistorischen, insonderheit der zoologischen
Museen, in Naturw. Wochenschr. (1888) Nr. 10, II, 12.
Sir W. Flower, Museums, their rise, use etc., in'Brit. Assoc. Addr. at Newcastle upon
Tyne (1889).
K. Moebius, Die zweckmäßige Einrichtung großer Museen, in Deutsche Rundschau,
(1891), S. 352—360.
W. B. Dawkins, The Museum Question, in Proc. Mus. Assoc. (Manchester, 1892), S. 13.
F. E. Weiss, The Organisation of a Botanical Museum ibid. (Manchester, 1892), S. 25).
Sir W. Flower, Modem Museums, in Mus. Assoc. (London, 1893), S. 21.
G. Br. GoODE, On the Classification of Museums, in Science N. S. III (1895), S. 154 — i6i.
A. L. Herrera, Les Mus^es de I'avenir, in Mem. y Rev. Soc. Cient. „Antonio AJzale".
Mexico, IX (1896), S. 221—251.
Sir W. Flower, Essays on Museums and other Subjects connected with Natural
History (London, 1898).
Literatur. 380
L. P. Gratacap, Natural History Museums, in Science N. S. VIII (i8g8), S. 29—37, 61—68.
A. König, Ziele u. Aufgaben naturhistorischer Museen, in Naturw. Wochenschr. XIII
(1898), S. 71.
E. Hecht, Quelques id^es sur I' Organisation [des Musdes d'histoire natur., in Feuill.
jeun. Natur. (Sept. 1899).
K. Kraepelin, Das Naturhistorische Museum in Hamburg |Und seine Ziele in Verh.
D. Zool. Ges. (Hamburg, 1899), S. 7—18.
T. VlGNOLl, I musei modemi di storia naturale, in Rend. Ist. Lomb. (2) XXXIII (19CX)),
S. 246—251, 332—344, 504—510.
E. Ray Lancaster, Scope and functions of Museums, in Nature (1901), S. 91.
A. B. Mayer, Über Museen des Ostens der Ver. Staaten v. Amerika I u. II, in Abh.
zool. anth. ethn. Mus. Dresden IX und Beiheft (1901).
A. Fritsch, The Museum Question in Europe and America, in The Museums Journal
(1904), S. 247.
D. Murray, Museums their History and their Use, 3 Vol. (Glasgow, 1904).
An periodischen Schriften sind zu nennen :
Die Schriften der Museums Association, und zwar:
a) Report of Proceedings of the Meetings (seit i8go).
b) The Museums Journal (seit 1901).
Museumskunde, Zeitschr. f. Verwaltg. u. Technik der öffentl. u. privaten Sammlungen.
Herausgegeben von K. Koetschau (Berlin, seit 1905).
KUNST- UND KUNSTGEWERBE-
AUSSTELLUNGEN.
Von
Julius Lessing.
Grundzüge. I. We s 6 n Und Aufgabe der Ausstellungen. Die Ausstellungen
des letzten Jahrhunderts haben sich in unzähligen, großen und kleinen
Veranstaltungen zu einer treibenden Kraft in der Entwicklung von Kunst
und Kunstgewerbe entwickelt. Für das nie i-astende Fortschreiten bieten
sie Anhaltspunkte, welche das Rückblicken und das Vorwärtsblicken er-
möglichen. Aber die kleineren Anhaltspunkte mit ihrem feinen Netze
von Beziehungen ballen sich seit der Mitte des Jahrhunderts in den Welt-
ausstellungen zu großen festen Stufen zusammen. Erst von diesen aus
wird das Getriebe der Ausstellungen verständlich. Diese sind eines der
merkwürdigsten Produkte der modernen Zeit, nicht nur in ihrer Anlage,
in der Anhäufung der Waren und in dem Verkehr der Besucher, sondern
in ihren Grundbedingungen, in welchen alle Fäden des modernen Lebens
zusammengefaßt sind.
Wir denken bei Weltausstellungen an einen möglichst großen Aufbau
von künstlerischer und gewerblicher Arbeit, an eine grandiose Gelegen-
heit, seine eigene Fähigkeit zu zeigen und die Fähigkeit anderer Völker
kennen zu lernen. Frühere Kulturperioden haben nichts, was man diesen
Veranstaltungen gleichstellen könnte. Man darf sich wohl der Messen
erinnern, die von der ältesten Zeit her in den Hauptstädten des Verkehrs
abgehalten wurden und die Kaufleute aus aller Herren Ländern zu-
sammenführten; sie schlössen sich an die kirchlichen Feste, welche einen
Zusammenfluß der Menschen sicherten, bis in die neueste Zeit haben sie
den Namen der Michaelismesse, Ostermesse u. a. behalten. Aber diese
Messen bedeuteten die direkte Anfuhr von Waren, sie gehören in eine
Zeit, welche den Kredit und das kaufmännische Vertrauen nicht kannte;
man mußte die Ware vor sich haben, um sie zu erwerben; man hoffte
und erwartete, daß der fremde Kaufmann, der sie bringt, von der eigenen
Ware in nahezu gleichem Betrage mit nach Hause nehme: ein Rest des
alten Tauschhandels. Alles das hat sich gewaltig geändert. Wir wissen
I. Wesen und Aufgabe der Ausstellungen. sgi
jetzt weit über die Meere hin, was ein Land, was eine Stadt, ja selbst
ein einzelnes Geschäftshaus zu leisten vermag; große Bankhäuser ver-
mitteln den Geldverkehr von einem Weltteil zum andern, und so genügt
in vielen Fällen ein Musterlager, um daraufhin mit vollem Vertrauen auf
Monate und Jahre hinaus Lieferungen zu bestellen. Und selbst diese
Musterlager braucht der Käufer nicht mehr aufzusuchen. Ein Heer von
Geschäftsreisenden durchzieht die Welt und knüpft mit emsigen Händen
das große Maschennetz, welches ganze Schiffsladungen zu genau abge-
grenzten Zeitpunkten von Stelle zu Stelle schiebt. Nur wo noch Reste
mittelalterlicher Unbeholfenheit andauern, erhält sich die Messe im alten
Sinne; in Nischni-Nowgorod entsteht in jedem Juli eine große Budenstadt,
wo die Karawanen des Orients mit Kamelen und Dromedaren hoch-
beladen einziehen, Teppiche und Sämereien durch Steppen und Hoch-
gebirge heranbringen und die bedruckten Kattune und Stahlwaren Europas
in ihre ferne Heimat zurückführen. In Europa ist diese Art der Messen
nahezu verschwunden, die alten Kaufhäuser in Leipzig und Naumburg
stehen leer. Übrig bleiben nur diejenigen Stücke, die man im einzelnen
prüfen muß und auf Proben hin nicht ankaufen kann, von den gröberen
Waren hauptsächlich die Pelze. Aber vorgeführt für das Urteil und die
Kauflust müssen schließlich alle diejenigen Waren werden, welche ein
künstlerisches Element bergen. Läßt sich die Form einigermaßen durch
Kataloge und Preislisten erkennen, so bleibt doch der Grad der Aus-
führung, die Wirkung des Materials zugleich mit der Kunstform zu prüfen.
Die früheren Jahrhunderte mochten dazu besonderer Veranstaltungen
entraten, der Bürger bestellte sich seine Hausausstattung bei dem Nachbar
Tischlermeister, jeder kannte den andern und für die hinzureisenden
Fremden wurden an einzelnen Stellen kleine Lager fertiger Waren ge-
halten. Für die Güte der Waren bürgte in den meisten Zweigen die
Zunft, welche das einzelne Stück prüfte und abstempelte. Diese Art
direkter Bestellung ging bis in das Ende des i8. Jahrhunderts hinein.
Die Könige von Frankreich, welche die Kunstformen für ganz Europa
angaben, sicherten sich die Arbeit hersorragender Meister, denen sie
besondere Rechte und den Arbeitsplatz in ihren Schlössern gaben. Die
königliche Manufacture des Gobelins in Paris stellte keineswegs nur die
Wandteppiche her, welche jetzt ihren Namen führen, sondern Möbel,
Bronzen, Silberwaren im größten Stile, welche kaum käuflich waren und
nur als Geschenke an die Höfe abgegeben wurden. Li der eigentlichen
Kunst mochte es den Meistern einfallen, rein persönlichen Eingebungen
zu folgen. Der Bildhauer arbeitete fast selbstverständlich nur im Auf-
trage, der Maler dagegen hatte es leichter, freie Schöpfungen herzustellen;
auch er konnte im wesentlichen darauf rechnen, daß seine Gönner ihn in
der Werkstatt aufsuchten und die fertigen Bilder erwarben. Aber für ihn
mußte doch ein Bedürfnis eintreten, auszustellen, und so werden wir den
Anfangen der Kunstausstellungen im 17. Jahrhundert begegnen.
5Q2 Julius Lessing; Kunst- und Kunstgewerbe- Ausstellungen.
II. Gewerbeausstellungen. Um die eigentlichen gewerblichen
Ausstellungen entstehen zu lassen, mußte erst das Gerüst der alten Gesell-
schaft mit ihren reichen und vornehmen Bestellern zerbrochen werden.
Frankreich. Die fratizösische Revolution tritt auch hier zerstörend und schaffend zu-
gleich ein. Die vornehme Gesellschaft Frankreichs, für welche recht
eigentlich die hochentwickelte Industrie arbeitete, war verschwunden.
Patriotisch gesinnte Männer sahen mit Betrübnis, wie sich in den Werk-
stätten der Pariser Handwerker die herrlichsten Teppiche, Bronzen und
Kunstmöbel anhäuften, die niemand zu kaufen wagte. Im Jahre 1798
errichtete man auf dem Marsfelde, das seitdem eine so unendliche Reihe
von Ausstellungen beherbergt hat, eine Verkaufsstelle mit wenigen
Budenreihen; 11 o Aussteller waren vertreten, drei Tage dauerte das
ganze Unternehmen, aber es war von Erfolg gekrönt und wurde wieder-
holt. Im Jahre 1801 sah man bereits 220 Aussteller, die im Hofe des
Louvre ihre Waren sechs Tage lang ausgebreitet hatten, 1802 sind es
540 Aussteller und sieben Tage. Dann griff 1806 Napoleon I. ein und gab
die Esplanade des Invalides her, man zählte 1422 iVussteller während
24 Tage. Bei dieser Ausstellung ging- man bereits über Paris weit hin-
aus, die Departements waren aufgefordert, sich zu beteiligen, und so
sehen wir hier die eig'entliche Wurzel der Landesausstellungen, welche
nunmehr in rascher Folge bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in allen
Kulturstaaten Europas abgehalten wurden. In Frankreich selbst wieder-
holte man diese Ausstellungen in kurzen Intervallen von vier bis fünf
Jahren. Zumeist handelte es sich um Erzeugnisse der eigentlichen Luxus-
industrie, dessen, was wir heute Kunstgewerbe zu nennen pflegen, aber
auch Gebrauchsgegenstände von guter Ausführung, Werkzeuge und halb-
verarbeitete Produkte wurden allmählich herangezogen.
Suchte bis dahin der Käufer die Waren, so fing nunmehr die Ware
an, den Käufer zu suchen.
Es war auch dies nicht zufällig, sondern ganz wesentlich die Folge
der Maschinenindustrie, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
einsetzte. Die kostspielige Anlage der Maschinen erforderte einen
größeren Absatz der Waren, und war auch die kunstgewerbliche Produk-
tion in ihren Spitzen auf die Arbeit der Hand angewiesen, so war doch
die Grundlage der Arbeit durch die Arbeitsmaschine so wesentlich er-
leichtert, daß die Zahl der in gleicher Zeit hergestellten, selbst künst-
lerisch verzierten Stücke sich in schnellster Folge verdoppelte, verdrei-
fachte, bis in das Hundertfache stieg. Der Weg vom Kattundruck mit
Handmodeln, bis zum Druck mit Dampfwalzen, die in einem Tage in
Meilenlängen bedruckte Stoffe herzustellen vermochten, und der damit zu-
sammenhängende Massenimport englischer Manufakturwaren ist ein spre-
chendes Beispiel. Man ward gezwungen, der Bevölkerung zu zeigten, was
und wie billig man zu leisten vermochte. Selbst in dem Bannkreise der
einzelnen Stadt hatte die Fühlung des Bürgers mit den einzelnen
n. GewerbeaussteUungen. ITI. Weltausstellungen. ßgj
Gewerbtreibendan aufgehört, das Ausstellen war zur Notwendigkeit
geworden.
In Deutschland bot München 1818 die erste bemerkenswerte Aus- Cewerbe-
ausstollungen.
Stellung. Dann folgt über alle Länder Europas hin eine Flut von üeutscUani
städtischen, provinzialen und Landesausstellungen, durch welche in den
Zentren des Gewerbes die Bevölkerung allmählich lernte, sich in die
neuen Herstellungsweisen einzugewöhnen. Eine Art von politischer Be-
deutung hatte Mainz 1842 nach Begründung des Zollvereins, hier war
zum ersten Male der Versuch gemacht, Deutschland als einen einheit-
lichen Staat zu behandeln. Berlin 1844 blieb noch Generationen hindurch
lebendig in der Erinnerung der Bevölkerung, man sah hier in der Haupt-
stadt des preußischen Staates zum ersten Male, was man zu leisten ver-
möge; eine große Menge von Waren, besonders Stoffe und Eisen, welche
bis dahin als englische Ware auf dem Markte waren, wurden als heimische
Erzeugnisse erkannt.
Diese Ausstellungen unterschieden sich erheblich von den alten
Messen. Natürlich sollten sie dem Arbeiter und Fabrikanten einen Ab-
satz bringen; es war und blieb bis zum heutigen Tage ein Ehrentitel
für die ausgestellte Ware, Käufer gefunden zu haben; aber die Aussicht
auf den direkten Verkauf war doch schon nicht mehr das einzige, was
zum Ausstellen veranlaßte. Man sagte sich, daß es dem Vaterlande
zum Ruhme gereiche, eine groß entfaltete Industrie vorzuführen, und man
erkannte auch bereits, daß der moralische Erfolg materiellen Vorteil
brächte. Dringt das Bewußtsein durch, daß die deutsche, die preußische,
die westfälische, die Berliner Arbeit auf gewissen Gebieten Vorzügliches
leistet, so kommt das jedem Einzelnen, auch dem Geringsten, zugute und
drückt sich allmählich in dem Absatz aus. So bemühen sich denn der
Staat und die Gesellschaft, die Ausstellung durch besondere Zuwendungen
zu bereichern. Man macht Bestellungen für öffentliche Zwecke, um sie
zunächst auf der Ausstellung vorführen zu können. Der Handwerker
macht den Bestellern mäßigere Bedingungen, wenn er das Recht hat,
die betreffenden Prachtstücke noch vor der Ablieferung öffentlich vorzu-
führen. 1844 räumt man in Berlin das Zeughaus, die Hochburg des
waffenstarrenden Preußens, der Landesausstellung ein und gibt ihr somit
von vornherein in den Augen der Bürgerschaft eine erhöhte Bedeutung.
III. Weltausstellungen. Diese Landesausstellungen stehen noch im wcit-
^ ... y^ ausatclluDgen,
Bannkreis lokaler Anschauungen, aber es keimt in ihnen der Gedanke
der Weltausstellungen. Um ihn zur Reife zu bringen, bedurfte es noch
großer umwälzender Ereignisse auf dem Gebiete des Verkehrs, es bedurfte
der Eisenbahnen, die 1835 begannen und im Laufe der vierziger Jahre
im schnellen Fortschreiten alle Hauptstätten zunächst einmal der euro-
päischen Kultur miteinander verbanden. Jetzt zum ersten Male durfte man
daran denken. Völkerfeste zu veranstalten, welche nicht einzelne Ver-
,Q^ Jixius Leasing: Kunst- und Kunstgewerbc-Ausslellungen.
treter, sondern ganze Scharen der Bewohner in BewegTing setzen sollten.
In diese Entwicklung der Eisenbahnen hinein fiel die Ausbildung der
elektrischen Telegraphie, die im Laufe von wenigen Minuten Kunde zu
geben vermochte von dem fernsten Punkte des Erdballes her, hier hinein
fiel die Erfindung der Photographie, welche das Bild des Auges festhielt.
Die Unterwerfung der Naturkräfte in den Dienst der Menschheit, die
ungeheuere Ausbildung der Maschinen brachte eine so vollständige Um-
wälzung aller Vorstellungen von Kraft und Leistungen, daß aus diesem
an Keimen überreichen Boden weltbewegende Gedanken emporsprießen
konnten, die ein früheres Jahrhundert niemals zu fassen imstande gewesen
war. Vor diesem übermächtigen Strome brachen auch die Schranken
engherziger Zollpolitik zusammen. Der Freihandel wurde, wenn auch noch
nicht völlig erreicht, so doch als das große erstrebenswerte Ziel der Neu-
zeit verkündet.
Auf diesem Boden ist die Weltausstellung von London 1851 er-
wachsen.
I. London 1851. Wenn jemals in der Kulturgeschichte ein großer
neuer Gedanke wie eine edle Frucht am Baume der Menschheit aus-
gereift ist, wenn jemals die Ziele klar vorbereitet, alle Wünsche und Be-
dingungen dem bestimmten Ziel unterworfen, wenn jemals ein solches
Ziel auch klar und voll erreicht ist und in klar erkennbarer Weise seine
Wirkung auf die Mitzeit und ihre Nachfolge ausgeübt hat, so ist es
diese erste Weltausstellung von London 185 1. Es ist das unsterbliche
Verdienst des Prinzgemahls Albert von England, in seiner hohen Seele
den Gedanken einer Weltausstellung rein erfaßt und ohne Rücksicht auf
kleinliche Bedenken auf das ideale Ziel hingelenkt zu haben. Es handelte
sich für ihn nicht nur um ein lehrreiches Nebeneinander der Gewerbe-
erzeugnisse aller Völker; ihm bedeutete das Zusammenführen der Arbeit
der ganzen Welt auf einen einzigen Punkt die Vereinigung des Menschen-
geschlechtes in friedlicher Arbeit. Nicht aufgehoben werden sollten die
Einzelheiten; jedes Staatswesen sollte zu seinem vollen Rechte kommen.
Niemand sollte beraubt, sondern jeder bereichert zurückkehren von
einer Ausstellung, in der er sein Bestes eingesetzt, um auch das Beste
anderer Völker frei nach Hause führen zu können.
Der hochsinnige Aufruf, den Prinz Albert erließ, fand einen begei-
sterten Widerhall. Wer sich die Mühe gibt, die Zeitungen des Jahres
1850 durchzusehen, wird eine wahre Hochflut der Gedanken finden. Das
Jubiläum der Arbeit werde gefeiert werden. Einst habe Rom es ver-
mocht, unter der Weltherrschaft des Papstes Jubiläumsjahre einzurichten,
zu denen Pilger aus allen Weltteilen zusammenströmten: aber was wollten
diese Pilgerscharen sagen gegen die Fluten der Völker, die nunmehr
nach London strömen würden; welche Schätze würde man zusammen-
bringen; wie müßte alles dagegen verschwinden, was die Geschichte uns
erzählt von den Beutemassen, welche römische Imperatoren und die
III. Weltausstellungen. ige
Satrapen des Ostens über Blut und Leichen herangeschleppt hätten. Was
hier zusammenkäme, müßte eine so ungeheure Wirklichkeit haben, daß
alle Phantasie früherer Jahrhunderte dagegen lahm erschiene. Das ganze
Menschengeschlecht sollte sich an dieser Stätte fühlen wie eine einzige
große Familie, und die Arbeit sei ihre Mutter. Lothar Bucher, der 1851
als politischer Flüchtling in London lebte, hat diesen Anschauungen die
klaren Worte verliehen und die kulturhistorische Bedeutung der Welt-
ausstellung in voller Größe erkannt. Er schrieb damals: „Es gibt Ereig-
nisse in der Geschichte des Menschengeschlechtes, in denen das stille
Wachstum, welches selbst Stürme und Ungewitter nicht zu hindern ver-
mögen, plötzlich, wie das Pflanzenleben im Aufbruch zur Blüte, zur pracht-
vollen Entwicklung, zum gebieterischen Beweise seines Daseins kommt.
Das sind Knotenpunkte des Geschichtslaufes; sie scheiden ein Zeitalter
vom andern, indem sie die Leistungen einer abschließenden Periode zur
Anerkennung und zum Bewußtsein des Geschlechtes, das aus ihr hervor-
geht, bringen und in Kopf und Herz desselben zugleich den Samen für
die Zukunft ausstreuen."
Dieser großen Anschauung, aus welcher der Ausstellungsgedanke
hervorging, entsprach die Ausführung. In acht Monaten war alles voll-
endet. „Ein Wunder, das nun Geschichte ist." Eine hohe Begeisterung
hatte alle Kreise des englischen Gewerbes erfaßt. Es war die Zeit, in
der England fast ohne Nebenbuhler im Großgewerbe dastand und seine
Waren als die vorzüglichsten der Welt überallhin ausschüttete. Wenn es
gelang, die Bevölkerung des Weltalls nach London zu führen, so durfte
auch der materielle Nutzen für die englische Bevölkerung nicht aus-
bleiben. Mächtig hob sich der Stolz des Bürgertums. Im Kern der Be-
wegung steht der Grundsatz, daß nicht der Staat, sondern lediglich die
freie Tätigkeit der Bürger ein derartiges Werk hervorbringen müsse.
„Der gegenseitigen Hilfeleistung menschlichen Fleißes über die ganze
Welt kann der Eingriff durch Anordnungen außerhalb der freien Privat-
tätigkeit nur schaden." Zwei Privatleute erboten sich sofort, auf ihre
eigene Gefahr einen Palast für eine Million Mark zu bauen. Man ent-
schloß sich aber zu einem noch größeren Maßstabe und der dafür not-
wendige Garantiefonds war in allerkürzester Frist gezeichnet.
Für den großen neuen Gedanken fand sich die große neue Gestalt.
Der Gärtner Paxton erbaute den Kristallpalast. Wie etwas Märchen-
haftes klang die Kunde durch alle Lande, daß man aus Glas und Eisen
einen Palast bauen würde, der 18 Morgen Landes bedecke. Paxton
hatte nicht lange vorher eines der Treibhäuser in Kew, in dem die Palmen
übermächtig emporschössen, mit einem gewölbten Dache aus Glas und
Eisen überdeckt, und das gab ihm den Mut, an die neue Aufgabe heran-
zutreten. Als Stätte für die Ausstellung wählte man den stattlichsten
Park von London, den Hydepark, der in der Mitte eine weit ausgedehnte,
freie Wiese bot, die nur in ihrer kurzen Achse von einer Allee herrlicher
5q5 Julius Lf.ssinü; Kunst- und Kunstgewerbe- Ausstellungen.
Ulmen durchquert wurde. Aus dem Kreise der Angstlichen erscholl der
Schreckruf, daß man einem Phantasiegespinst zuliebe diese Bäume nicht
opfern dürfe. So werde ich die Bäume überwölben, war die Antwort
Paxtons, und er entwarf das Querschiff, das in einer Wölbung von 1 1 2 Fuß
Höhe — höher als das Berliner Schloß — die ganze Baumreihe in sich
aufnahm.
Kuustformon. Es ist im allerhöchsten Grade merkwürdig und bedeutungsvoll, daß
diese Weltausstellung von London, die erwachsen war auf den technischen
Errungenschaften der Dampfkraft, der Elektrizität und des Verkehrs, daß
diese zugleich für den Umschwung der Kunstformen innerhalb dieser
ganzen Periode den großen entscheidenden Schlag geführt hat. Einen
Palast zu bauen aus Glas und Eisen, das war damals der Welt wie eine
Art phantastischer Eingebung für einen Gelegenheitsbau erschienen. Wir
erkennen jetzt, daß es der erste große Vorstoß ist auf dem Gebiete einer
völlig neuen Formengebung. Wenn frühere Jahrhunderte sich damit be-
gnügen mußten, die Spannweite der Gebäude und die Form ihrer Teile
danach zu bemessen, was Stein und Holz an Länge und Tragkraft her-
gaben, so sind wir jetzt dieser Fessel entbunden. Mit dem Eisen als
Alaterial, mit der Maschinenkraft als schaffendem Diener sind wir in der
Lage, Räume zu überspannen, von denen frühere Jahrhunderte keine
Ahnung hatten.
Alles dies durfte zunächst als eine rein technische Errungenschaft
gelten. Bis in die zweite Hälfte des ig. Jahrhunderts hinein war man
noch geneigt, die ganze Eisenkonstruktion nur als Gerüst anzusehen
für die eigentlichen Kunstformen altgewohnten Materials. Nur ganz all-
mählich drang die Überzeugung durch, daß auf dieser mechanisch ent-
standenen Grundlage auch neue Kunstformen erwachsen könnten und
müßten. Die vollständige Umbildung des Konstruktionswesens muß zu-
nächst das Haus, dann aber alle Teile unseres Hausrates in die Um-
wälzung hineinziehen. Lauter und lauter erschallt in unseren Tagen der
Ruf, daß wir uns einer modernen Kunst zuzuwenden haben, bei der jedes
Gerät aus seinem Zweckbedürfnis und aus den technischen Voraus-
setzungen heraus konstruiert sein müsse. Der konstruktive Stil gegen-
über dem historischen ist das Stichwort der modernen Bewegung ge-
worden, und der Punkt, von dem aus dieser Gedanke zum ersten Male
siegreich in die Welt hineinstrahlte: es ist der Kristallpalast zu London
im Jahre 1851. Und wieder eine neue grandiose Blüte dieses Gedankens
ist von der Pariser Ausstellung im Jahre 1889 der Eiffelturm, ein unge-
heueres Ausrufungszeichen der neuen Periode, welche sich nicht nur regt,
sondern bereits mit festem Fuß in der Wirklichkeit steht.
Im Jahre 1851 hatte man zuerst nicht einmal glauben wollen, daß es
technisch möglich sei, mit Glas und Eisen einen Palast kolossaler Ab-
messungen zu erbauen. In den Veröffentlichungen jener Tage finden wir
als Merkwürdigstes die Verbindung der Eisenglieder dargestellt, die uns
in. Weltausstellungen. 397
jetzt etwas Alltägliches geworden ist. England durfte sich rühmen, in
den vorhandenen Fabriken ohne Anspannung weiterer Kräfte dieser
ganz neuen und unerhörten Aufgabe in der Zeit von acht Monaten ge-
recht geworden zu sein. Triumphierend rief man aus, wie es Jahrtausende
gebraucht habe, um das Glas seines Charakters einer besonderen Kost-
barkeit zu entkleiden, wie noch im 16. Jahrhundert ein kleines verglastes
Fenster ein Luxusgegenstand gewesen sei, und wie man jetzt ein Ge-
bäude, das 18 Morgen bedeckt, ganz aus Glas herzustellen vermöge. Ein
Mann wie Lothar Bucher^war sich klar, was diese neue Konstruktion
bedeute. „Dieses Gebäude ist der ungeschmückte , von allem Schein
befreite, architektonische Ausdruck der Tragkräfte in schlanken Eisen-
gliedem." Über diese Bezeichnung, die geradezu das Programm der
Zukunft enthielt, weit hinaus ging der phantastische Reiz, den dieser
Bau auf alle Gemüter ausübte. „Es ist nüchterne Ökonomie der Sprache,
wenn ich den Anblick des Raumes unvergleichlich, feenhaft nenne, es
ist ein Stück Sommernachtstraum in der Mittagssonne." (L. B.) Diese
Empfindungen zitterten nach in der ganzen Welt. Das Wort „Kristall-
palast" erinnerte an eine ferne Märchenwelt, und selbst jetzt noch, da
nur Trümmer des Palastes in Sydenham stehen, erfüllen sie uns mit
einem Schauer der Ehrfurcht und reinem Entzücken. Diesem großen
Zuge des Kristallpalastes entsprach der äußere Erfolg. 17000 Aussteller
waren beteiligt, darunter 9730 Engländer, 36 Millionen Besucher waren
erschienen, 5 Millionen Überschuß blieben. Man erwarb für künftige
Unternehmungen ähnlichen Charakters ein mächtiges Gelände in South
Kensington, welches somit der Nährboden für gewerbliche und wissen-
schaftliche Entwicklung auf mehr als ein halbes Jahrhundert hin wurde.
Was man mit der Weltausstellung zunächst bezweckt hatte, erfüllte
sich in glanzvollster Weise. Die Nationen sahen zum ersten Male ihre
Erzeugnisse nebeneinander stehen; in diesem Ringen aller gegen alle
erkannte man, wcis die eigene Arbeit wert sei. So manches, was man zu
Hause als besonders Herrliches empfunden hatte, schwand zusammen, und
selbst der mächtigste aller vertretenen Faktoren, die englische Fabrik-
industrie, lernte erkennen, was ihr fehlte. Ihre Produkte mochten tüchtig
sein für das tägliche Bedürfnis, aber es fehlte ihnen der künstlerische
Reiz, der in alter Tradition die Arbeiten Frankreichs wie mit einem
goldenen Glanz umstrahlte. England zog aus dieser Betrachtung die
praktische Lehre. Man erkannte, daß man in der einseitigen Maschinen-
industrie ein köstliches Gut, die künstlerische Ausbildung, preisgegeben
hatte und setzte sofort alle mächtigen Hebel des reichen und einsichts-
vollen Landes in Bewegung, um die fehlende Tradition durch künstliche
Mittel zu ersetzen.
Man hätte sich die Frage aufwerfen können, ob es möglich wäre,
aus den neugewonnenen Formengrundsätzen des Eisenbaues eine neue
Formensprache zu erfinden, welche als der natürliche und notwendige
agg JvLius Lkssing: Kunst- und Kunstgewerbe- Ausstellungen.
Ausdruck des Maschinenzeitalters seinen Siegeslauf durch die Welt halten
müßte. Aber so weit war man damals noch nicht. Man hielt sich zu-
nächst an das Hergebrachte und bemühte sich, an Beispielen alter Kunst
ein möglichst großes Material zusammenzutragen als das wahre Lebens-
element der heimischen Kunst. So entstand die eigentümlich rückwärts
gewendete Bewegung, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aus-
gefüllt hat und erst jetzt ganz allmählich im Schwinden begriffen ist. Man
errichtete das South-Kensington-Museum, jetzt Viktoria- und Albertmuseum
genannt, häufte die unendlichen Schätze aus den alten Kulturländern zu-
sammen, schuf Leih- und Wanderausstellungen und einen Kunstunterricht
über das ganze Land hin. In weniger als zehn Jahren hatte sich das
Bild der englischen Abteilung auf den weiteren Ausstellungen vollständig
verwandelt; das Künstlerische trat in den Vordergrund, das Technische
wich in die Maschinenhalle zurück. Das im South-Kensington-Museum
gegebene Beispiel wurde das rückhaltlos anerkannte Vorbild für ganz
Europa. Was in jener Zeit in Wien, in Berlin, in München, dann auch
in den nordischen und schließlich in den romanischen Ländern an kunst-
gewerblichen Museen entstanden ist, geht alles bis in die Kleinigkeiten
hinein auf das South-Kensington-Museum zurück, und jedes der unzähligen
Programme jener Jahre beginnt seine Betrachtung naturgemäß mit der
Weltausstellung von 1851, aus der die Erkenntnis auf diesem Gebiete
hervorgewachsen sei.
In dieser Rückbewegung nach den alten historischen Formen von
dem Boden der allermodernsten Schöpfung des Kristallpalastes heraus
sehen wir jene Schraubenbewegung der Entwicklung, die scheinbar zu
einem früheren Punkte zurückkehrt, aber doch immer aufwärts strebt.
Auch für andere Punkte der Erkenntnis war London 1851 von durch-
schlagender Bedeutung. Hier wurden zum ersten Male in großer Menge
die Erzeugnisse der Kolonieen zur Darstellung gebracht. Man sah die
herrlichen Teppiche von Indien im Gegensatz zu den europäischen
Teppichen mit Blumenmustern in buntschreienden Farben; man sah, was
in Kanada und den Südsee-Inseln Völker schaffen, die man einfach zu
den Wilden zählte, und deren Waffen und Schmuck bis dahin nur ver-
einzelt in den Raritätenkabinetten aufbewahrt wurden. Leute mit weit-
schauendem Blick erkannten damals schon in diesen primitiven Werk-
stücken eine lebendige und frische Äußerung des Kunstgefühls, welches
unbelastet von Traditionen auf einfache und konstruktive Formen hinaus-
geht. Wenn jetzt unsere modernste Richtung wieder auf derartig Primi-
tives zurückgreift, so ist auch hierfür London 1851 der Ausgangspunkt.
In dem grundlegenden Werke für alle unsere Arbeit, dem 'Stil' von
Gottfried Semper, der einer der eifrigsten Mitarbeiter des Prinzgemahls
war, ist bereits im Jahre 1860 dieser Anschauung der vollbewußte Aus-
druck gegeben.
Die erste Weltausstellung in London ist der wichtigste Merkstein
III. Weltausstellungen. ^jng
in der gewerblichen und kunstgewerblichen Entwicklung des ig. Jahr-
hunderts.
2. Paris 1855. Der wunderbare Erfolg der ersten Weltausstellung
mußte naturgemäß dahin fuhren, daß alle Kulturstaaten sich des neuen
Gedankens bemächtigten, nicht nur um eine Pflicht zu erfüllen, sond ern
um direkt handgreifliche Erfolge einzuheimsen. Am nächsten lag dieser
Gedanke für Frankreich, welches sich innerhalb der kunstgewerblichen
Produktion bis zum gewissen Grade als Siegerin in London betrachtet
hatte. Daß der Grundgedanke der englischen Ausstellung ein wesentlich
modemer war, daß England seine Arme über alle Kontinente ausbreitet e,
daß die Ausstellung gerade auf technischen Errungenschaften wurzelte,
in denen England zweifellos die Führung ausübte: das alles verstand
man in Frankreich nicht. In Frankreich, das ganz wesentlich von der
alten Tradition zehrte, hätte der Weltgedankc 185 1 niemals aufkommen
können, am wenigsten in den Wirren der Republik; aber um so üppiger
konnten die Wünsche emporschießen, als Napoleon III. 1852 das Kaiser-
reich errichtet hatte. Die feste Regierung sollte den Gewerbebetrieb
und die Wohlhabenheit des Landes in ungewohnter Weise heben. Für
ein beweiskräftiges Friedensfest war nichts geeigneter als eine Weltaus-
stellung. Die Eitelkeit mischte sich hinein. Wie man 1866 von einer
revanche pour Sadowa sprach, so sprach man 1851 in Paris von einer re-
vanche pour Londres. Auch in Paris entschloß man sich, die Ausstellung
in den vornehmsten Park der Stadt zu stellen. Der Eingang der Champs
Elys^es, anstoßend an den Konkordienplatz, wurde dazu ausersehen und
hier wurde das umfangreiche Gebäude errichtet, das Palais de ITndustrie.
Die Erfahrung von London, daß man einen weiten Raum mit Glas und
Eisen einzudecken vermöge, wurde benutzt, aber doch nur um eine mitt-
lere Halle herzustellen, welche mit massiven Bauteilen umkleidet wurde.
Dieses sehr stattliche, aber keineswegs übergroße Gebäude wurde dann
noch durch Hallen ergänzt. Das Unternehmen als Weltausstellung gelang
nur mäßig. Das Vertrauen zu Frankreich war noch nicht genügend
wiederhergestellt. Das Ganze schloß mit einem Fehlbetrage von acht
Millionen. Aber zehnfach und hundertfach wurde dieses Defizit einge-
bracht durch den Bestand jenes Palais de 1' Industrie. Paris hat vierzig
Jahre die Möglichkeit gehabt, in jeglicher Art von Ausstellung sich breit
entfalten zu können. Dreißig Jahre hintereinander hat hier in jedem Mai
der Salon stattgefunden. Die mächtige Längshalle ward alsdann mit
grünen Gewächsen gefüllt, ein vortrefflicher Hintergrund für die Masse
statuarischer Bildwerke. Nach Belieben hatte man die unendliche Reihe
von Sälen für tausende und abertausende von Bildern zur Verfügung.
Waren die Kunstwerke wieder fortgeräumt, so war Platz für jegliche
andere Art von Ausstellungen, für Pflanzen, Ackerbau-Erzeugnisse, Vieh,
Pferde usw. Allmählich wurde es Sitte, im April jeden Jahres hierhin
den vornehmen Sport zu verlegen, die Concours hippiques, den Sammel-
jQO Julius Lkssinc. : Kunst- und Kuiislgcwcrbe-Ausstellungen.
punkt der eleganten Welt, wo ausgesprochenermaßen in einer Ausstellung
auf lebenden Modellen die Mode für den kommenden Frühling- festgelegt
wurde. Wer die einschlägigen Verhältnisse kennt, der weiß sehr wohl,
daß auch die vortrefflichsten Schneider und souveräne Damen eine Mode
nicht persönlich feststellen können, sondern daß es immer des Zusammen-
flusses einer großen Menge von Beteiligten bedarf, um zu einem ab-
schließenden Ergebnis zu gelangen, und ebenso wissen die Beteiligten,
wie unendlich weite Kreise in jeder Industrie dadurch berührt werden,
daß das führende Land auch nur wenige Wochen früher als die übrigen
weiß, was es für das laufende Jahr an Industrieerzeugnissen für die
moderne Tracht zur Verfügung zu stellen hat.
Ziele. Frankreich hatte somit aus dem großen idealen Plan, welcher die Welt-
ausstellung von 185 1 zu einem mächtigen Ehrendenkmal für alle Ziele der
modernen Zeit machte, sich ein brauchbares Stück herausgeschält, nicht
sowohl für die Bedürfnisse der Welt als für die speziellen Bedürfnisse
Frankreichs, und es hat wiederum im allerhöchsten Maße zweckmäßig mit
diesem Pfunde für seine eigenen Bedürfnisse gewuchert und hat dieses
System fortgesetzt bis in unsere Tage hinein.
3. London 1862. In London durfte der unvergleichliche Erfolg
des Unternehmens von 1851, dazu der Besitz großer Grundstücke, ganz
naturgemäß dazu ermutigen, es zu wiederholen, nicht ohne den Neben-
gedanken, dem wettbewerbenden Frankreich die eigene Übermacht zu
zeigen. Der Tod des Prinzgemahls Albert von England im Dezember
1861 war ein schwerer Schlag. Es fehlte der ideale Mittelpunkt, welcher
alle Kräfte hätte einigen können, die Sonderinteressen einzelner Gnappen
traten schärfer in den Vordergrund. Selbst äußerlich fehlte es an dem
alten Aufschwung. Der große vollendet siegreiche Gedanke des Kristall-
palastes mit seiner einzigartigen Modernität ließ sich nicht überbieten:
man kehrte zu den historischen Formen der alten Baustile zurück, um in
South-Kensington einen Palast herzustellen, dessen Hauptmassen auch für
spätere Ausstellungen erhalten bleiben konnten. Hier hatte das Pariser
Vorbild eingewirkt. Diese Galerieen mit mäßigen Kuppeln an den Ecken
waren wie ein Bleigewicht, nichts mehr von der leichten Freudigkeit des
auch anderwärts niemals wieder erreichten Kristallpalastes. Die Organi-
sation war erheblich straffer, die einzelnen Staaten Europas hatten bereits
gelernt, sich auf das Ereignis vorzubereiten, ihre Erzeugnisse zu ordnen.
Viel Sehenswertes war vorhanden, aber zu einer gehobenen Feststimmung
wollte es nicht kommen. Immerhin hatte die Ausstellung einige sehr
bemerkenswerte Ergebnisse. Man hatte die Kunst stärker herangezogen.
Orient. Man hatte sich bemüht, die Kultur der Orients zur Anschauung zu bringen,
und Indien, welches bereits aus dem Besitze der Compagnie in die volle
Staatsverwaltung übergegangen wai-, hatte reichlich eingeschickt. Weitaus
die größeste Überraschung bot China. Bis dahin hatte in unserem Jahr-
hundert Europa von der chinesischen Kunst nur das gesehen, was in den
III. Weltausstellungen. Aöi
wenigen Hafenstädten für die Schiffer als kurio.se Marktware feilgeboten
wurde. Nun aber hatte der englisch-chinesische Krieg sich abgespielt;
man hatte den prächtigsten Fürstensitz der Welt, das Sommerpalais, zur
Züchtigung, wie es hieß, niedergebrannt. In Wahrheit aber war es den
Engländern, noch mehr als den dabei beteiligten Franzosen, gelungen,
große Massen von den dort aufgehäuften Schätzen zu entführen, und diese
Schätze waren 1862 in London zur Schau gestellt. Hier enthüllten sich
nun die Wunder einer Kunst, welche fast ein Jahrtausend älter war als
unsere europäische. Die Teppiche, die Porzellane, die Bronzen, die
Arbeiten in Gold und edeln Steinen, alles von erlesenster Technik, von
wunderbarer Pracht der Farbe, in wunderlicher, aber die Phantasie mächtig
anregender Form erfüllte mit Staunen und erschloß völlig neue Vor-
stellungen über die Alöglichkeiten dekorativer Kunst. Von jener Zeit
an beginnt die tiefgreifende Befruchtung des modernen europäischen
Geschmackes durch die Werke orientalischer Kunst, und keine der nach-
folgenden Weltausstellungen hat es versäumt, aus diesem Gebiete der
Welt Neues vorzuführen.
Mit dem Jahre 1862 tritt London, welches so gewaltig eingesetzt
hatte, aus der Führerschaft im Ausstellungswesen zurück; es hat das Ex-
periment einer Weltausstellung nicht noch einmal gemacht. Es muß also
wohl eingesehen haben, daß ein greifbarer Nutzen nicht herausspränge,
es hat sich selbst an den französischen und sonstigen Ausstellungen
keineswegs mit der Kraft beteiligt, welche aufzuwenden es sehr wohl im-
stande gewesen wäre. Politische Erwägungen, wie 1867 in Paris, mochten
dahin führen, einige große Paradesäle zu errichten, aber die Großindustrie
stand seit jener Zeit ziemlich abseits.
4. Paris 1867. Das Ausstellungswesen für Europa fiel im wesent-
lichen Paris zu; man hat es ihm nicht ernstlich abzunehmen versucht.
Napoleon IIL hatte sich durch den Mißerfolg von 1855 nicht abschrecken
lassen; nach Beendigung des .Krimkrieges, des chinesischen, des italie-
nischen Krieges fühlte er sich auf der Höhe seiner Macht; die Souveräne,
die ihn noch 1855 als einen Par\'enu verschmäht hatten, waren durch
Bündnisse und gemeinsame Interessen an ihn gefesselt, er durfte auf ihren
Besuch rechnen. Für sein Ansehen im Innern Frankreichs konnte er sich
zeigen an der Spitze von ganz Europa. So bekam die Ausstellung ein
neues Gepräge, sie sollte nicht nur der Mittelpunkt der Belehrung und
des friedlichen Wettstreits, sondern auch der Mittelpunkt der Weltlust
sein für die ganze Erde. Als der Kaiser von Rußland zum offiziellen
Besuch der Ausstellung in Paris eintraf, hatte er bereits für denselben
Abend sich die Theaterloge für die Grande-Duchesse de Gerolstein
bestellt.
Diese starke Betonung eines leichtfertigen Elements hinderte aber
nicht, daß man das eigentliche Programm der Ausstellung in großen
Zügen entwarf.
Die KuLTt'R dur Gegenwart, L i. 26
402 Julius Lf.ssino: Kunst- und Kunstncwerbe-Ausstellungen.
Daß in dem alten Palais de l'Industrie kein Raum sei, war selbst-
verständlich. Von 1867 an wurde nunmehr das Marsfeld der eigentliche
Mittelpunkt der Pariser Ausstellungen. Die Anlage des Gebäudes 1867
war sehr geistreich. Es war ein längliches Rund, dessen Galerieen kon-
zentrische Ringe bildeten; von diesen Ringen war der innerste, der
kleinste, für die Ausstellung alter Kunstwerke bestimmt, der nächste
etwas weitere Kreis für die moderne Kunst, der noch weitere für deko-
rativ angewandte Kunst, Möbel, Bronzen, Porzellane; schließlich kamen
die großen Ringhallen für die Maschinen und für die Rohprodukte. Von
diesem großen Feld bekam jedes Land einen Ausschnitt, wie das Stück
einer Torte, das außen breit, innen spitz verlief, jedes Land nahm somit
an allen Ringen teil. Ging man von außen nach innen, so übersah man
die gesamte Industrie des betreffenden Landes; bewegte man sich in
dem Ringe, so hatte man die gleichen Industrieen aller ausstellenden
Länder hintereinander in klarer Übersicht. Es ist kaum möglich, eine
schönere Lösung des Gedankens zu finden, aber schließlich hat sie den
Fehler, daß als Maßstab für die Größe der einzelnen Ringe doch nur
das Verhältnis hatte dienen können, in welchem diese verschiedenen
Zweige gerade innerhalb Frankreichs zueinander stehen. Für Deutschland,
Belgien und die Schweiz traf dies noch leidlich zu, allenfalls noch für
England, dagegen schon gar nicht für Italien, wo die Kunst stark, die
mechanische Industrie überhaupt nicht vorhanden war, ebensowenig für
Rußland, wo das Verhältnis das umgekehrte war, ganz zu schweigen von
den halbzivilisierten und orientalischen Ländern. Um dieses nun einiger-
maßen auszugleichen, war man genötigt, besondere Bauten aufzuführen,
die als Annexe bezeichnet wurden, aber sich an vielen Stellen zu großen
selbständigen Gebäudemassen entwickelten. So ergab sich für den Park,
der ungefähr zwei Drittel des Marsfeldes einnahm, eine unendliche Fülle
von Baulichkeiten, und wenn die Staaten, die diese errichtet hatten,
einigermaßen die Aufmerksamkeit auf diese außerhalb des Palastes ge-
legenen Teile hinlenken wollten, so mußten sie wohl oder übel besondere
Anziehungsmittel aufwenden. Schließlich kam man dazu, das ethnogra-
phische Moment und noch mehr das Moment des rein äußerlichen Ver-
gnügens in den Vordergrund zu rücken. Rußland hatte ein ganzes Dorf
errichtet mit Stallungen und Bauernhäusern, mit Aufführungen von Kosaken
und Tscherkessen, russischen Bauernkapellen, Stutenmilch und bäuerlichen
Spitzen. Den allergrößten Aufwand trieb der Vizekönig von Ägypten,
der damals in den Geldern des Suezkanals schwamm: Moscheen, Caf6s
mit nubischen und äthiopischen Tänzern und Tänzerinnen, daneben aber
auch eine wunderbare Vorführung der altägyptischen Kunst in Nach-
bildungen berühmter Bauwerke; aus dem Museum in Bulak hatte man
die herrlichsten Stücke hervorgeholt, die erst während des letzten Jahr-
zehnts in den großen durch Franzosen geleiteten Ausgrabungen ent-
deckt worden waren. So brachte diese Weltausstellung einen Einblick in
III. Weltausstellungen. 403
eine Welt, die um mehr als viertausend Jahre zurücklag. Erst aus diesen
Funden des altägj'ptischen Reiches erkannte man die Höhe der ägyp-
tischen Kunst.
Hiermit war im großartigsten Stile die Periode eröffnet, welche für die
Weltausstellungen ein ganz besonderes Reizmittel forderte, den sogenannten
clou, Ausblicke in das Archäologfische, Antiquarische und das Exotische
hinein. Die ideale Aufgabe von 1851, die Aufgabe eines grandiosen Ver-
gleiches der Werktätigkeit aller Völker hatlo sich erweitert in die Auf-
gabe, auch alle Zeiten vorzuführen, ja, auch darüber hinaus in ganz be-
stimmte Aufgaben moralischer oder nationalökonomischer Art. Man sollte
sinnfällig sehen, wie Kunst und Arbeit am Wohle der Menschheit tätig
seien, vornehmlich, in wie hohem Grade der Kaiser bemüht sei, für das
Wohl seiner Untertanen zu sorgen, vor allem der Arbeitermassen, welche
damals zu bedrohlichen Gruppen heranzuwachsen begannen. Es kam in
den Plan das Kapitel der Histoire du travail hinein. Sowenig das Pro-
gramm erfüllt wurde, so brachte der Versuch immerhin einige wichtige Baucmkunst
Anregungen. Die einzelnen Staaten sollten zeigen, in welcher Weise die
mäßiger begüterten Klassen, besonders die Arbeiter, wohnten und lebten.
Man kam darauf, Modelle von Bauernhäusern aufzustellen. Diese sollten
eigentlich nur als Folie dafür dienen, wie vorzüglich das Normalhaus
des französischen Arbeiters wäre, welches der Kaiser Napoleon vor-
geblicherweise für das ganze Land plante. Aber diese Bauernhäuser
brachten merkwürdige Überraschungen. Man hatte in den betreffenden
Ländern zusammengerafft, was sich an bäuerlichem Gerät fand, Gegen-
stände, die man aus freien Stücken niemals als würdig einer Ausstellung
betrachtet haben würde. Französische Ingenieure, welche in Spanien
Eisenbahnen ausführten, hatten aus weltabgelegenen Dörfern Töpferwaren
herangeschleppt, welche nicht nur Traditionen der maurischen Industrie
aus dem früheren Mittelalter enthielten, sondern ein ganz direktes
Nachleben altrömischer Kunstformen aufwiesen. Ebenso kamen aus
den slawischen Ländern Töpfereien, Stickereien und primitive Metall-
arbeiten herbei, welche eine unglaubliche Fülle ungeahnten Kunstmaterials
erschlossen. Ähnlich war es mit den Schmucksachen aus orientalischen
Landen und aus bäuerlichem Betrieb. Bedenkt man, daß in jener Zeit
künstlerisch bereits das Stichwort ausgegeben war, zurückzugehen zu den
Formen früherer Zeit, zu der Väter Werken, so mußten diese Arbeiten,
welche zeigen, daß unter den Händen gewöhnlicher Bauern solche klas-
sischen Kunstformen praktisch bis in unsere Tage weiter zu leben imstande
waren, eine glänzende Note hergeben in dem Kriegsruf: Auf zur Wieder-
eroberung des alten Formenschatzes!
Auch das direkte Hinwenden nach dem Orient nahm seinen galten Der Orient
Fortgang. Die Arbeiten am Suezkanal unter starkem Vorherrschen fran-
zösischen Einflusses innerhalb des türkischen Reiches führton große Massen
lehrreichen Materials herbei. Für den Weg nach Ostindien hin fanden
26*
404 Juliiis Lessinc. : Kunst- iiml Kunstgewerbe-Ausstellungen.
Japan. sich ncuc Stationen. Zum er.sten Male trat ferner Japan in den Kreis
der au.s.stcllenden Kulturvölker, allerdings noch in bescheidenem Umfange.
Aber mit höchstem Staunen sahen die Völker Europas die unendliche
Feinheit der dortigen Arbeit, die Überwindung technischer Schwierig-
keiten mit den ureinfachsten Mitteln und zugleich den ganz besonderen
feinen Geschmack, der völlig unberührt von den abgelebten Traditionen
des alten Europas in vollkommener Frische und Naivität die Naturgebilde
heranzog, um sie in phantastischer, leicht spielender Weise mit zierlicher,
fast kindlicher Anmut über ihre Geräte und Gefäße auszubreiten.
Alles dieses waren Erscheinungen, die man dankenswert verzeichnen
mag, und welche auch der Ausstellung von 1867 einen ehrenvollen Platz
in der europäischen Kunstentwicklung begründen. Daneben aber wucherte
ein giftiges Element, die ganz unverhohlene Absicht, die Welt nach
Paris zu ziehen. Was die Ausstellungen lehren sollten, wurde schließlich
fast gleichgültig. Vor allem sollte der Fremde sich in Paris vergnügen,
sein Geld dort lassen imd in seiner Heimat den Ruf verbreiten, daß hier das
eigentliche Vergnügen auf Erden sei. Die bedenklichsten Mittel wurden
nicht gescheut. In der Ausstellung selbst waren an allen Ecken und
Enden Verkaufsstätten, Buden, Theater; um das ganze Rund der Aus-
stellung war ein Kranz von internationalen Restaurants gelegt, welche ein
gefälliges Bindeglied zwischen der Arbeit im Innern des Palastes und der
Erheiterung außerhalb desselben bildeten. Niemals vorher oder nachher
war das Leben auf einer Ausstellung lustiger als damals im Jahre 1867 in
Paris, und dieses Leben ging hinüber in die Stadt. Der Festjubel jener
Tage klingt bis heute in den Offenbachschen Operetten nach. Von einem
Defizit der Ausstellung war nicht mehr die Rede, der Überschuß betrug
sogar mehr als drei Millionen. Der Ruf von Paris als Weltausstellungs-
stadt war festgelegt.
5. Wien 1873. Zunächst galt der Erfolg der Aus.stellung von 1867
noch nicht ohne weiteres als ein Erfolg von Paris. Man meinte, die
Weltausstellung an sich habe eine volle Lebensfähigkeit erwiesen, es
müsse nun eine Art Wechsel eintreten, zum mindesten zwischen den euro-
päischen Hauptstädten. Man dachte an Berlin, aber der Krieg von 1870/71
machte ein Friedensfest an dieser Stelle unmöglich. Die Stadt Wien
hatte den Mut, in einer Periode großen wirtschaftlichen Aufschwunges
für 1873 eine Weltausstellung einzuberufen. Es ist ihr schlecht bekommen.
Die Ausstellung selbst durfte als wohlgelungen bezeichnet werden, glän-
zend war die Ausdehnung nach dem Orient hin. Die Hungersnot, welche
in Persien eingesetzt hatte, brachte unendliche Massen alten wertvollen
Gutes auf den Markt, für die nahegelegenen slawischen Länder, auch
Griechenland und die Türkei, waren Lebens- und Handelsbeziehungen
günstig, Japan trat mit besonderem Glänze auf. Es waren große An-
strengungen gemacht, viel guter Geschmack entwickelt, aber es zeigte
sich, daß der Stadt doch die Grundbedingungen für eine Weltausstellung
III. Weltausstellungen. 405
fehlten. Will man die Welt zusammenrufen, so muß auch für sie gesorgt
sein. Wien, das eben erst aus dem Zuschnitt einer Kleinstadt sich
herausgewunden hatte, entbehrte aller großen Anlagen für einen mächtig
gesteigerten Verkehr, es mußten gewaltsame Anstrengungen gemacht
werden für schwindelhafte Hotelbauten und Speisehäuser, die Arbeits-
löhne stiegen in das Unsinnige, der Handwerkerstand wurde aus seinen
Fugen gerissen, alles trug dazu bei, den lange schon lauernden Börsen-
krach herbeizuführen, der in den Beginn der Ausstellung fiel. Dazu kam
noch äußeres Mißgeschick, Ansätze zur Cholera, und so hinterblieb für
Wien statt des gehofften Segens eine böse Zerrüttung. Als in kom-
menden Jahrzehnten in Berlin einzelne Heißsporne eine Weltausstellung
forderten, hatten die Besonneneren eine weise Lehre gezogen, der Ge-
danke hat in Berlin nie feste Wurzel fassen können.
6. Paris 1878, 1889, igoo. Den Kriegsjahren 1870/187 1 war eine
leidliche Beruhigung gefolgt. Frankreich, das in seinem politischen An-
sehen so furchtbare Schläge erlitten hatte, wollte zeigen, daß es künst-
lerisch und vor allem gesellschaftlich auf der alten Höhe geblieben, und
so hatte es den stolzen Wagemut, eine neue Weltausstellung für das
Jahr 1878 in das Werk zu setzen. Trotz aller Gegnerschaft, Zweifel und
Bedenken war die Ausstellung gelungen. Eine Weltausstellung im Sinne
der älteren war es nicht, die Lücken waren gar zu groß, aber das für
Frankreich Wichtigste ging in Erfüllung: Paris war wieder feierlich ein-
gesetzt als die Welthauptstadt für den Luxus und jegliche Art von Lebens-
lust. Und nach demselben Schema konnte man elf Jahre später, 1889,
bereits wieder an eine Weltausstellung denken. Etwas über das Niveau
hinaus, aber im wesentlichen immer wieder eine spezifische Pariser Aus-
stellung blieb auch die von 1900, an welcher auch Deutschland in wür-
diger Weise teilnahm. Bei jeder dieser Veranstaltungen hatte man
vorausgesagt, die Sache gehe zu Ende, das Interesse werde erlahmen,
aber es war nicht der Fall. Das Ausstellungsfeld dehnte sich weiter und
immer weiter aus, zog die benachbarten Hügel und Esplanaden hinzu.
Im Jahre lyoo steigerte sich der Besuch auf 49 Millionen. Das Geschäft
von Paris blühte. Man hatte es geschickt genug angelegt, von jeder
dieser Ausstellungen hatte man etwas Greifbares zurückbehalten, 1878
den großen Palast des Trocadero, 1889 den Eiffelturm, der bis heute wie
ein ungeheures, alle Dome und Pyramiden der Welt überragendes Sieges-
zeichen die Phantasie der Menschheit erfüllt. Der in London 1851 an-
geschlagene Ton, aus der modernen Technik heraus Wunder der Archi-
tektur zu schaffen, brachte es hier zu einer glänzenden Fortentwicklung.
Fast ebenso bedeutend, wenn auch weniger augenfällig, war nach der
Richtung der Eisenkonstruktion das Palais der Kunstausstellung, dessen
Treppenanlagen für die Konstruktion der modernen Warenhäuser wichtige
Typen geschaffen haben. Das Jahr 1900 ließ das alte Palais de l'Industrie
verschwinden, dafür aber für die verschiedensten Ausstellungszwecke zwei
.Q^ Julius Lessing: Kunst- und Kunsißcwerbc-Ausstellungen.
prachtvolle Gebäude, das große und kleine Palais in den Champs Elysees,
entstehen.
Welchen Einfluß diese alle elf Jahre sich wiederholenden großen
internationalen Völkerfeste schließlich auf die Vorstellungen der Mensch-
heit diesseits und jenseits des Ozeans geübt haben, läßt sich zurzeit noch
kaum übersehen. Jedenfalls ist es klar, daß die Bedürfnisse der Mensch-
heit eine starke internationale Mischung erfahren haben. So begann 1867
in der österreichischen Bierhalle von Dreher das deutsche Bier seinen
Triumphzug nach Frankreich und durch die ganze gebildete Welt. An
die Ausstellungen schlössen sich, von Jahr zu Jahr steigend, Kongresse.
Die Juries allein führten Hunderte intelligenter Männer aller Nationen zu
gemeinsamer Arbeit in stetige Berührung. Die Lotterieen streuten Zehn-
tausende von Kunstwerken in alle Welt hinaus. Selbst der jahrmarkts-
mäßige Anstrich wirbelte alle möglichen Elemente des Völkervergnügens
stark durcheinander. Das Wort „Weltausstellung" blieb eine Art Zauber-
wort; selbst unbedeutenden Veranstaltungen hing man dieses Wort an,
indem man einiges Wenige aus aller Welt herbeiholte. So hatten wir
1905 eine Weltausstellung in Lüttich, selbst ein Vorort in Berlin heftete
das Wort internationale Ausstellung an seine Pforten. Natürlich setzte
auch der Schwindel ein, der mit der Eitelkeit der Menschen ~ nie erfolg-
los — rechnet. So manche der goldenen Medaillen auf den Briefköpfen
der Industriellen könnten eine Nachprüfung auf ihre Herkunft nur schlecht
vertragen.
7. Überseeische Weltausstellungen. Weltausstellungen in Amerika,
in Australien, zunächst mit großem Pomp angekündigt, Newyork 1853,
Melbourne 1866, 1880, 1888, Philadelphia 1876, Sidney 1879 waren für
Europa nicht sonderlich lehrreich. Amerika hatte noch nichts zu zeigen;
was Europa hinschickte, waren Exportlager für die fremden Weltteile, die
man sich als halb barbarisch vorstellte. Deutschland hatte die sprungweise
Entwicklung der Vereinigten Staaten nicht verfolgt und holte sich in Phila-
delphia 1876 eine derbe Lehre auf das Stichwort „cheap and nasty". Seit
jener Zeit wuchs Amerika mächtig empor; seine Industrie, frei von den
Vorurteilen der historischen Stile, entwickelte sich in der modernen Tech-
nik derart glänzend, daß es Europa mit seinen Waren zu überschütten
begann. Chicago 1893 zeigte, wie in Europa das Verständnis gestiegen
war; speziell Deutschland hob sich zu einer glanzvollen Leistung, um den
amerikanischen Markt wieder zu erobern, und auch nach St. Louis 1904 führte
man große Massen vortrefflicher Arbeiten, so daß hierdurch die Absatz-
fähigkeit Deutschlands nach fernen Ländern hoch gesteigert und die
geistigen Wechselbeziehungen auf das lebhafteste gefördert sind. Nicht
zu übersehen ist es, daß Chicago in der Architektur vollständig in die
historischen Formen zurückgegangen war und ein Gesamtbild von einer
Großartigkeit geschaffen hat, wie es die Welt seit dem Forum romanum
nicht mehr gesehen hatte.
rV. Landesausstellungen seit 1875. V. Kunstausstellungen. 407
IV. Landesausstellungen seit 1875. Seitdem man in Europa, außer-
halb Frankreichs, auf die Weltausstellungen verzichtet hatte, wuchsen die
Landesausstellungen wieder auf das üppigste in die Höhe. Es gibt keine
größere Stadt Deutschlands, welche nicht in der letzten_Generation eine
oder mehrere Ausstellungen für größere oder kleinere Kreise veranstaltet
hätte. Die wichtigste von ihnen war die in München 1876, in welcher
das Kunstgewerbe von Deutschland und Österreich übersichtlich zusammen-
gefaßt wurde. Man war in einer siegesbewußten Strömung, zu einem selb-
ständigen deutschen Kunststil zu gelangen, indem man auf die Formen
der alten deutschen Renaissance zurückgriff, und sah in München die Er-
folge zum ersten Male vereint.
Es mußte der Gedanke auftauchen, unter der Beibehaltung des inter- j^^^^^l^'^^^^'^^-jj;^^
nationalen Charakters einzelne Zweige herauszuheben, London hatte da- Zweige,
mit begonnen, hatte 187 1 eine Weltausstellung für Töpferei, 1875 eine
gleiche für wissenschaftliche Instrumente angeregt, aber der Versuch miß-
lang völlig. Erfolge wurden nur erzielt, wenn man sich an neuauftretende
Industriezweige hielt, welche gebieterisch eine große lehrreiche Vorführung
verlangten, wie die Kraftmaschinen, die elektrischen Anlagen, die Fahr-
räder, schließlich die Automobilausstellungen, die von aller Welt eifrig
beschickt und gewöhnlich mit Rennen und dergleichen verbunden wurden.
Auch für Gärtnerei und landwirtschaftliche Bedürfnisse wurden und werden
internationale Veranstaltungen getroffen.
Sehr beschränkte, fast nur lokale Bedeutung haben permanente
Ausstellungen, wie man sie in Stuttgart gepflegt hat. Eigentlich sind
es nxir Musterlager. Die sogenannten Wanderausstellungen, von denen
man jetzt wieder in Amerika spricht, haben keine ernstliche Bedeutung,
sie müssen auf eine mehrjährige Rundreise hergerichtet werden und was
man 1900 zusammengestellt, ist igo2 nicht mehr modern.
V. Kunstausstellungen. Daß die Maler und Bildhauer Gelegen-
heit haben müssen, die Schöpfungen der einsamen Werkstatt weiten
Kreisen vorzuführen, ist selbstverständlich. Solange die Kunst vornehm-
lich auf monumentale Wirkungen in Kirchen und Palästen angewiesen
war, stand sie den Beteiligten vor Augen; die Kabinetsmalerei dagegen
bedurfte der Vorführung. In Paris haben Ausstellungen in den Sälen des
Louvre bereits 1663 angefangen; bereits 1667 veranstaltete die Akademie
regelmäßig alle zwei Jahre in der Osterwoche Ausstellungen, schon
1673 erschienen Kataloge, 1699 illustrierte. Das intelligente Paris sah
hier nicht nur einzelne schöne Bilder, sondern empfand den Gang des
Kunstlebens, dies klingt in den Berichten eines Diderot wieder. Die
Revolution brachte seit 1793 jährliche Ausstellungen. Aus den politischen
Wallungen Frankreichs drangen merkwürdige Blasen an die Oberfläche,
die Egalite der Revolution von 1848 schaffte die Jury ab und wälzte eine
trübe Flut von mehr als 5000 Bildern durch den Salon. Nach 1852 wird
^o8 Julius Lessing: Kunst- uml Kimslgewcrbe-Ausstelhmgen.
wieder eine strammere Zucht eingeführt, die Akademie herrscht un-
beschränkt. An die Bilder und Skulpturen schließen sich die Pläne der
Architekten, die Kupferstiche, dann auch die künstlerischen Prachtwaren
der Staatsmanufakturen, der Gobelins, von Sevres, von Beauvais. Die
starre Herrschaft der Akademie, welche ihren Mitgliedern, selbst den ganz
greisen und welken, die Ehrenplätze einräumte, führt zur Abtrennung
Sezession, junger lebenskräftiger Elemente in der Sezession, die in Paris seit 1883
einsetzt. Alle modernen Gedanken der Kunstentwicklung lassen sich auf
diesen Ausstellungen vSchritt für Schritt verfolgen. Man kommt zu der
Erkenntnis, daß die Kunst nicht nur in Bildern und statuarischen Werken
wurzele, sondern daß jedes Gerät, von der menschlichen Hand hergestellt,
ein Stück des modernen Kunstempfindens in sich tragen könne, und so
halten allmählich die Schnitzereien, die Töpferwaren, die Gläser, vor allem
die künstlerisch durchgeführten Metallarbeiten ihren Einzug in die Paläste
der Kunstausstellungen und bringen es neben den jährlichen großen Aus-
stellungen auch noch zu besonderen Veranstaltungen der Arts d^coratifs,
der Arts du metal und dergleichen.
Was im übrigen Europa sich vollzieht, folgt im wesentlichen dem
Schema von Paris. In München, in Wien, in Berlin haben wir dieselben
Gärungen und Erfolge; streng konservativ im alten Sinne ist fast nur
London geblieben. Bei allen Kunstausstellungen ist es verhältnismäßig
leicht, aus dem Rahmen der nationalen Grenzen herauszugehen. Man
zieht entweder einzelne Gruppen auswärtiger Künstler heran oder ver-
anstaltet auch internationale Kunstausstellungen, oft großen Stiles, welche
alle Hauptstädte Europas durchwandern. Kleinere Gruppen dieser oft
unerhörten Massen schwer verkäuflicher für Ausstellungszwecke gemalter
Bilder wandern alsdann in die mittelgroßen Städte. In den Haupt-
städten bilden sich daneben ganze Reihen von Privatunternehmungen.
Den Künstlern der Sezession sind auch ihre engeren Räume bereits viel
zu weit und öffentlich, sie machen intime Privatausstellungen in vornehm
hergerichteten Salons, und gerade diese, deren Leiter mit den zahlkräftigen
Herren der ganzen Welt in naher Fühlung stehen, befördern den Absatz
und die steigende Preisbildung am allermeisten.
Werke alter Die ausgcsprochcne Strömung unserer Zeit, sich den Werken alter
Kunst als Vorbildern zuzuwenden, führte naturgemäß dazu, die im Privat-
besitz verteilten unendlichen Massen solchen Erbes in Leihausstellungen
zusammenzubringen. Um die vornehmen Besitzer zur Hergabe zu be-
stimmen, schrieb man patriotische oder philanthropische Ziele auf das
Programm. So entstand für hungernde Fabrikarbeiter die erste große
Ausstellung dieser Art, die von Manchester 1854, die für Elsaß-Lothringen
in Paris 1874. München 1876 gab unter dem Stichwort „Unserer Väter
Werke" der nationalen deutschen antiquarischen Richtung ein starkes
Rückgrat. Keine der großen Weltausstellungen hat es versäumt, die
alten Kunstwerke als kräftiges Anziehungsmittel in ihr Programm auf-
Kunst.
Schluß.
409
zunehmon. London hatte bereits 1862 die Silberschätze von Alt-England
%"orgefiihrt.
In London gibt es jetzt jährlich Veranstaltungen lediglich auf Grund
alter Kunstwerke aus Privatbesitz. Diese und ähnliche Ausstellungen
haben sich allmählich zu einem Markt entwickelt, welcher die Waren aus
dem festen alten Privatbesitz herauslockt und dem Kunsthandel zuführt.
An Museen und öffentliche Sammlungen treten fortwährend die Auf-
forderungen heran, kleinere Gewerbeausstellungen in den Provinzen durch
LIerleihen älterer Stücke zu unterstützen, kritiklose Ansinnen, denen man
kaum noch irgendwo nachkommt.
Allmählich bildet sich aus diesem Wirrsal mancherlei Verständiges
heraus. Man sucht bestimmte historische und kunsthistorische Gruppen,
deren Werke sich in den Sammlungen aller Welt zerstreut finden»
gelegentlich zusammen zu bringen. Ein glänzendes Beispiel dafür ist
die Ausstellung der Primitifs Flamands in Brügge IQ03, ebenso die
l^rimitiven Franzosen in Paris 1904, l'art bruxellois in Brüssel 1905,
Spezialausstellungen, wie die von Siena, wie die Ludwigsburger Porzellane
in Stuttgart, dann wieder bestimmte Kulturperioden, wie die Columbus-
ausstellung Madrid 1893, welche zum ersten Male die mittelalterlichen
Schätze Spaniens an das Licht brachte, die Kongreßausstellung in Wien.
Ganz besonders wichtig kann die Ausstellung für einzelne Meister werden,
wie die für Holbein Dresden 1871, für Jordaens Antwerpen 1905. Von
den Sammlungen für moderne Kunst wird bei Todesfällen oder Jubiläen die
Lebensarbeit gefeierter Meister vorgeführt, in Berlin in glanzvollster Weise
Adolf von Menzel 1905. Hier ergibt sich ein wissenschaftliches Material,
dessen Würdigung der kunsthistorischen Forschung überlassen bleiben muß.
Schluß. Die Ausstellungen, welche vor kaum mehr als hundert
Jahren schüchtern begannen und vor erst fünfzig Jahren mit der Welt-
ausstellung in die Zeit der Reife eintraten, sind für die moderne Kultur
einer der wichtigsten Faktoren geworden. Sie konnten und mußten es
werden, weil sie ihre Entstehung nicht einer Laune verdanken, sondern
der lebendige Ausdruck des Jahrhunderts wurden, welches mit Recht als
das Jahrhundert des Verkehrs bezeichnet wird. Wenn eine Kultur sich
unter dem Druck großer Neuerungen in raschen Zügen umbildet, so bedarf
sie gewisser Haltepunkte, von denen aus man überschaut, was wirklich
geschaffen ist. Es ist ein gewichtiger Vorteil für dieses Erkennen, daß
jede große Ausstellung durch das Zusammenraffen aller Kräfte die Ent-
wicklung der nächsten Periode vorwegnimmt; solche Ausstellungen sind
Stichtage des gewerblichen Lebens, hier wird der Kurs festgestellt, zu
welchem die Ware jeden Landes für die nächsten Jahre marktgängig ist.
Hier wird erkannt, welche Länder in die Konkurrenz des Weltmarktes
eintreten, wo die Anstrengungen einzusetzen haben, um alten Besitz zu
festigen und neue Gebiete zu erobern.
AlO Julius Lkssing: Kunst- und Kunstgewerbe- Ausstellungen.
Durch das Herbeiströmen der Menschenmassen aus allen Teilen des
Erdballs erwächst eine unvergleichliche Bereicherung der Anschauungen,
eine Sichtung der Werte, die Möglichkeit zu beurteilen, was die eigene
Arbeit wert ist, was sie aus der internationalen Arbeit zu lernen vermag.
Diese Anschauung wird bestimmend auch für die Kunstformen, in denen
die Welt in der nächsten Periode sich zu bewegen hat.
Eine Absonderung des einzelnen Landes gibt es nicht mehr, es ist
merkwürdig genug, wie selbst im 1 8. Jahrhundert, als die Verkehrsverhält-
nisse noch sehr unvollkommen waren, ja wie selbst schon im 17. und
16. Jahrhundert, ausgehend von einzelnen Höhepunkten der Macht, von den
Höfen der deutschen Kaiser, später von den Höfen der Könige von Frank-
reich, sich die Kunstformen über die ganze Welt verbreiteten. Aber wenn
es fast hundert Jahre bedurfte, ehe die bald nach 1400 entstandenen
Formen der italienischen Renaissance sich in die deutsche Renaissance
um 1520 umsetzten, so entspricht es den modernen Verhältnissen, daß jetzt
innerhalb weniger Wochen die Modeformen, die schließlich doch weiter
nichts sind als die stufenweisen Übergänge zu den Stilformen, sich von
einem Weltteil zum andern verbreiten, in einer Bewegung, der niemand
zu widerstehen vermag. Es ist das Charakteristische der Ausstellungen,
daß das Jüngstgeborene, das Werdende sich am meisten bemerkbar zu
machen sucht; das Alteingesessene, durch akademische Ehren und fürstliche
Aufträge reichlich belohnt, glaubt der Anstrengungen einer Ausstellung
nicht zu bedürfen; das noch nicht Beglaubigte stürmt vor, um sich seinen
Platz an Licht und Sonne zu erwerben. Alles geht vorwärts, jeder Ansatz
von Kraft und Geschick meldet sich und wird auf dem großen Markte
der Ausstellungen gesichtet, zu Ehren und zur Geltung gebracht,
veröffent- Man macht auch ernstliche Versuche, alles was hierbei gearbeitet
wird, sorgfältig zu registrieren. Die amtlichen Berichte über die einzelnen
Gruppen der Ausstellungen werden in Dutzenden von gewaltigen Folianten
niedergelegt. Die Tausende von Beamten und Arbeitern, die zur Be-
sichtigung der Ausstellungen entsandt werden, sind verpflichtet, schrift-
liche Berichte abzustatten. Möglich ist es ja, daß diese Papiermassen mit
ihrer Fülle gewissenhafter Arbeit späteren Zeiten zur Fundgrube von
wichtigen Beobachtungen werden; zunächst ist das Voranschreiten der
Bewegung so gewaltig, daß die Berichte ständig überholt sind, ehe sie
auch nur abgeschlossen im Drucke erscheinen.
Literatur.
I. Allgemeines.
W. F. EXNER, Die neuesten Fortschritte im Ausstellungswesen in Beziehung auf
Sicherheit, Zweckmäßigkeit usw. (Berlin, 1868). — Derselbe, Die .A.ussteller und die Aus-
stellungen (Berlin, 1868). — BRUNO Bucher, Zur Reform des Ausstellungswesens (Wien,
1880). — P. DuPRli, Traite de l'administration des beaux arts. 2 Bde. (Paris, 1885). —
Julius Lessing, Das halbe Jahrhundert der Weltausstellungen (Berlin, 1900J.
II. Amtliche Berichte über Weltausstellungen.
1. London 1851. Official descriptive and illustrated catalogue of the great exhibition
of the works of industry of all nations 1851. 4 Bde. (London, 1851). — Reports by the
juries on the subjects in the thirty classes into which the Exhibition was divided
(London, 1852).
2. Paris 1855. Catalogue officiel de l'Exposition des produits de l'industrie de toutes
les nations 1855 (Paris, 1855). — Exposition universelle de 1855. Rapport du jury mixte
international. 2 Bde. nebst Atlas (Paris, 1856).
3. London 1862. Reports of the juries (London, 1863). — Waring, Masterpieces of
Industrial art and sculpture International exhibition 1862.
4. Paris 1867. Rapports du jury international de l'Exposition universelle de 1867.
13 Bde. (Paris, 1868). — Bericht über die Weltausstellung zu Paris im Jahre 1867. Heraus-
gegeben durch das k k. Central-Comite (Wien, 1869).
5. Wien 1873. Officieller General - Catalog der Weltausstellung 1873 in Wien (Wien,
1873). — Amtlicher Bericht über die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873. 5 Bde. (Braun-
schweig, 1875).
6. Paris 1878. Die Pariser Welt-Ausstellung 1878. Illustrierte, von der Kommission
autorisierte deutsche Ausgabe. 2 Bde. (1878). — Rapports sur TExposition universelle
intemat. de 1878 h. Paris. 16 Bde. (Paris, 1880—85).
1889. Catalogue gdndral officiel de l'Exposition Universelle Internationale de 188g
ä Paris. 8 Bde. (Lille, 1889).
ige». Catalogue officiel illustrd de l'exposition retrospective de l'art frangais des ori-
gines ä 1800 (Paris, igoo). — Catalogue officiel illustrt- de l'exposition centennale de l'art
frangais de 1800 ä i88g (Paris, 1900). — Amtiicher Katalog der Ausstellung des Deutschen
Reiches. Weltausstellung in Paris 1900 (Berlin, 1900). — ALFRED Picard, Rapport gdneral
administratif et technique (im Erscheinen).
7. Chicago 1893. Official Catalogue of the World's Columbian Exposition Chicago
1893. 13 Parts in 1 vol. (Chicago, 1893;. — Amtlicher Katalog der Ausstellung des
Deutschen Reiches auf der Columbianischen Ausstellung in Chicago (Berlin, 1893). — Amt-
licher Bericht über die Weltausstellung in Chicago 1893, erstattet vom Reichskommissar.
2 Bde. (Beriin, 1894).
NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE
AUSSTELLUNGEN.
Von
Otto N. Witt.
Vorläufer I. Die E 11 1 s 1 6 h u 11 g und Entwicklung der Ausstellungen.
TuVsteii'angfn!" Die Veranstaltung von Ausstellungen ist eine Errungenschaft des 19. Jahr-
hunderts, wenn auch Anläufe zu denselben bis ins 18. Jahrhundert zurück-
reichen. 1757 hielt die Society of Arts in London eine Ausstellung
kunstgewerblicher Erzeugnisse ab, und etwa gleichzeitig wurde eben-
daselbst die erste Kunstausstellung durch die Royal Academy ins Leben
gerufen. 1789 kam in Paris eine Ausstellung von Gobelins und Sevres-
Porzellan in der ausgesprochenen Absicht zustande, die ausgestellten
Objekte zu verkaufen und damit den notleidenden Arbeitern der beteiligten
Fabriken zu helfen. 1798, 1801, 1802 und 1806 folgten ähnliche Aus-
stellungen in Paris, und 1819 fand eine besonders große Ausstellung
ebendaselbst statt, welche die gesamten Erzeugnisse des französischen
Handwerkerstandes umfaßte. Bei einer im Jahre 1849 veranstalteten der-
artigen Ausstellung waren schon 4494 einzelne Aussteller beteiligt. Die
erste deutsche Ausstellung fand 1842 in Mainz statt.
Grundidee und Trotz dieser und anderer Vorläufer kann man indessen doch wohl
sagen, daß die Ausstellungen, wie wir sie heute kennen, eine Schöpfung
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind. Der ihnen zugrunde liegende
Gedanke entsprang ohne Zweifel aus der Beobachtung der guten Erfolge,
welche die Errichtung und Pflege ausgedehnter Museen und Sammlungen
gezeitigt hatte. Wie sich unsere derzeitigen, bestimmten Wissensgebieten
gewidmeten und systematisch geordneten Museen aus den älteren Rari-
tätenkabinetten entwickelt haben, in denen planlos alle möglichen Kuriosi-
täten zusammengetragen wurden, so entsprangen auch wohl die ersten
Ausstellungen nur dem Gedanken, möglichst viel Sehenswürdiges an einer
Stelle zu vereinigen, jedoch mit der Maßgabe, daß das zur Schau Ge-
stellte nur eine gewisse Zeitlang beisammenbleiben, dann aber, falls es nicht
auf der Ausstellung verkauft wurde, an die Stelle seiner Herkunft zurück-
kehren sollte, um dort geeignete Verwendung zu finden. Während also
Definition.
I. Die Entstehung und Entwicklung der Ausstellungen. 41 j
die Museen sich in den vollen Besitz der in ihnen zur Schau gestellten
Objekte setzen und eine dauernde Fürsorge für dieselben übernehmen,
erscheinen die Ausstellungen als zeitweilige Unternehmungen, deren Um-
fang beliebig groß gewählt werden kann, weil sie ihren Veranstaltern
dauernde Verpflichtungen nicht auferlegen.
Maßgebend für die Grüße der Ausstellungen war zunächst das Gebiet, Entwicklung
aus welchem die auszustellenden Objekte herangeholt werden konnten, ausstciiuns.-n.
Indem man dieses Gebiet mehr und mehr erweiterte und schließlich über
die ganze Erdoberfläche ausdehnte, entstand der Gedanke der Universal-
oder Weltausstellungen, welcher seine erste großartige Verwirklichung in
der Londoner Weltausstellung von 1851 fand. Dieselbe wurde mit einem
für die damalige Zeit unerhörten Aufwand an Mitteln (Ausgaben 339 334,
Einnahmen 512 632 Pfd. St.) in Szene gesetzt, und für ihre Aufnahme
wiirde der noch jetzt existierende Krystallpalast erbaut, dessen Umfang
uns gestattet, uns Rechenschaft von dem seither erfolgten Anwachsen
derartiger Veranstaltungen zu geben. Der große Erfolg der Weltaus-
stellung zu London führte dazu, daß schon im Jahre 1855 eine ähnliche
Ausstellung zu Paris stattfand, welcher in den Jahren 1867, 1878, 1889
und igoo gleichartige Unternehmungen ebendaselbst folgten, so daß sich
endlich die Regel herausbildete, daß alle elf Jahre eine Weltausstellung
zu Paris stattfindet. 1862 wurde eine weitere Weltausstellung in London
veranstaltet, 1873 folgte die Weltausstellung zu Wien, 1876 diejenige zu
Philadelphia, 1893 fand eine Weltausstellung zu Chicago und 1904 eine
solche zu St. Louis statt. Andere Ausstellungen, welche ebenfalls als
Weltausstellungen bezeichnet wiu-den, beschränkten sich in Wirklichkeit
auf ein engeres Gebiet und mögen daher unerwähnt bleiben.
Verfolgt man die Serie dieser Weltausstellungen unter Berücksichti- Einteilung.
gung der für sie getroffenen Veranstaltungen und der bei ihrer Einrich-
tung in den Vordergrund gestellten Prinzipien, so erhält man ein inter-
essantes Bild der allmählichen Entwicklung der Ausstellungsidee. Mehr
und mehr macht sich das Bestreben geltend, selbst bei diesen Unter-
nehmungen, die doch im Prinzip alles zur Ausstellung zulassen, eine
gewisse Einteilung vorzunehmen, so daß das Ganze nur noch als ein
Konglomerat von verschiedenen Spezialausstellungen erscheint, deren Be-
sucher und Besichtiger verschiedenen Lebens- und Interessensphären ent-
stammen. Die im Anfang allein maßgebende Einteilung der Ausstellung
nach Ländern wird zwar nicht aufgegeben, tritt aber in den Hintergrund
gegenüber dem Bestreben, die verschiedenen Arbeits- und Schaffens-
gebiete stärker zu betonen. Auf der Wiener Weltausstellung 1873 wurde
der Versuch gemacht, gewisse Arbeitsgebiete, wie z. B. die Landwirtschaft
und das Maschinenwesen, abzusondern und in besonderen Palästen zur
Schau zu .stellen, welche ebenso wie das Hauptgebäude nach den Ur-
sprungsländern der au.sgestellten Objekte in einzelne Teile zerlegt waren.
In den nachfolgenden Ausstellungen tritt das gleiche Bestreben immer
AiA Otto N. Witt: Naturwissenschaftlich-technische Ausstellungen.
deutlicher zutage. Die in mancher Hinsicht vorbildliche Aus.stellung von
Chicago 1803 bildete eine vollständige Stadt von Gebäuden, von denen
jedes einzelne einem besonderen Arbeitsgebiet gewidmet war, so daß die
Einteilung nach der Provenienz für den Beschauer mehr und mehr zurück-
trat. Eine vollständige Unterdrückung der Frage nach dem Ursprungs-
lande der ausgestellten Objekte ist natürlich unmöglich, da Weltaus-
stellungen immer als ein friedlicher Wettstreit der verschiedenen Nationen
aufgefaßt werden müssen. Bei aller Hervorhebung systematischer Ge-
sichtspunkte wird daher die Provenienz der Objekte in der Einteilung der
Ausstellung und namentlich bei den Arbeiten der Preisgerichte genügend
betont werden müssen, um einen Vergleich der verschiedenen Nationen
in ihren Leistungen auf verschiedenen Schaffensgebieten zu ermöglichen.
Wirkungen. Es kann nicht bestritten werden, daß die Weltausstellungen einen
außerordentlich großen Erfolg zu verzeichnen haben. Sie haben sich nicht
nur in der Mehrzahl der Fälle finanziell mit Vorteil durchführen lassen,
sondern sie haben auch indirekt sehr großen Nutzen gestiftet, indem sie
als mächtige Triebfeder für den industriellen Unternehmungsgeist der
Völker wirkten, die Reiselust in Kreise trugen, welche sie vordem gar
nicht gekannt hatten, den persönlichen Verkehr zwischen Fachgenossen
der verschiedensten Länder anbahnten und dem Handel neue Absatz-
gebiete eröffneten. Die Weltausstellungen wirkten in allen Kreisen so
anregend, daß sich nach und nach in den verschiedensten Schichten der
Völker ein vollständiges Bedürfnis nach der Besichtigung von Aus-
stellung-en herausbildete. Diesem Bedürfnis wird entsprochen durch die
zahlreichen Landes-, Provinzial- und Fachaus-stellungen, welche gegen-
wärtig in jedem Sommer in den verschiedensten größeren Städten statt-
finden. Einen besonderen Wert erlangen solche in engerem Rahmen
veranstaltete Ausstellungen, wenn sie sich auf die möglichst vollständige
und umfassende Vorführung eines oder einiger Sondergebiete beschränken.
Als mustergültig können in dieser Hinsicht genannt werden: die Aus-
stellung wissenschaftlicher Apparate zu South Kensington 1876, die
Fischerei- und Hygieneausstellungen zu London und zu Berlin u. v. a. m.
Manchen dieser Ausstellungen ist ein Umfang gegeben worden,
welcher den der ersten Weltausstellung erreicht und sogar übertrifft. Es
sei hier an die Ausstellungen zu Berlin, speziell diejenige vom Jahre
1896, erinnert, an die Ausstellung zu Manchester 1887, zu Brüssel 1897
und Lüttich 1905, an die nordischen Ausstellungen zu Kopenhagen 1889
und Stockholm 1899, sowie an die Ausstellung zu Düsseldorf 1902.
Organisation. IL. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. Im Laufe
der Zeit hat sich ein vollständiges System für die Veranstaltung, Durch-
führung und Abwicklung von Ausstellungen herausgebildet. Unter allen
Umständen tritt zunächst eine Ausstellungskommission zusammen, deren
erste Sorge es ist, die finanzielle Grundlage des Unternehmens zu
11. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. 4IS
schaffen. Für diesen Zweck wird gewöhnlich von selten wohlhabender
Personen ein Garantiefonds gezeichnet, der nach Bedarf in Anspruch
genommen wird. Für größere Ausstellungen, welche ein ganzes Land
umfassen, oder gar den Charakter der Weltausstellungen tragen sollen,
ist es üblich, bei den betreffenden Parlamenten um Gewährung ansehn-
licher Zuschüsse vorstellig zu werden. Nachdem ein geeigneter Platz
für die Ausstellung gefunden und der allgemeine Plan für dieselbe unter
Berücksichtigung des Geländes ausgearbeitet ist, ergehen Einladungen
an die beteiligten Kreise. Bei Weltausstellungen werden die Einladungen
auf diplomatischem Wege zunächst den einzelnen Ländern übersandt,
welche dann ihrerseits Kommissionen für die Beschickung der Ausstellung
erwählen, Geldmittel flüssig machen und den Verkehr mit den Ausstellern
in die Wege leiten. Bei Weltausstellungen ist es femer üblich, daß jedes
Land durch einen zu diesem Zwecke ernannten Kommissar sich vertreten
läßt, welcher nach Feststellung der Beteiligung in seinem Lande früh-
zeitig den Ausstellungsort aufsucht, um sich daselbst den nötigen Raum
zu sichern und im Interesse der von ihm vertretenen Aussteller tätig
zu sein.
Auf Grund der eingehenden Anmeldungen wird für jede Ausstellung Kauiogc.
rechtzeitig ein möglichst vollständiger Kattilog vorbereitet. Bei Weltaus-
stellungen ist es seit langer Zeit üblich geworden, daß heben dem von
der Ausstellungsleitung herausgegebenen Generalkatalog noch besondere
Kataloge der einzelnen Länder erscheinen, welche genauere Angaben
über die Aussteller und die von ihnen vorgeführten Objekte machen. Auf
den letzten Weltausstellungen enthielten die Spezialkataloge der meisten
Länder auch noch ausführliche Abhandlungen über die industrielle Ent-
wicklung des betreffenden Landes und der einzelnen von ihm gepflegten
Gewerbszweige. Bemerkenswert war in dieser Hinsicht der Spezialkatalog
des Deutschen Reiches auf der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago
und in noch höherem Maße der deutsche Katalog der Pariser Weltaus-
stellung von 1900, welcher auch durch seine originelle typographische
und künstlerische Ausgestaltung auffiel.
Es ist ferner üblich geworden, die Ergebnisse einer bedeutenden Aus- Ausstciiungs-
Stellung, welche ja am Schlüsse der für sie festgesetzten Zeit wieder ver-
schwindet, wenigstens in der Weise dauernd festzuhalten, daß von der
Ausstellungsleitung sowie mitunter auch von den Ausstellungskommissionen
der einzelnen Länder ein eingehender Bericht erstattet wird. Durch be-
sondere Ausführlichkeit und glänzende Ausstattung zeichnet sich der von
der Generalkommission der Pariser Weltausstellung iqoo erstattete Be-
richt aus.
Daß jede Ausstellung neben den erwähnten offiziellen Druckschriften
noch eine privater Initiative entspringende umfassende Literatur hervor-
bringt, ist selbstverständlich.
Die finanziellen Hilfsmittel einer Ausstellung setzen sich zusammen cf,!^*dfagen.
4i6
Otto N. Witt: Naturwissenschaftlich-technische Ausstellungen.
Dauernde
Schöpfungen.
Ausstellungs-
bauten.
aus den von den Au.sstellern erhobenen Platzmieten und den Eintritt.s-
geldem der Besucher. Beide Einnahmequellen ergeben bei geschickter
Inszenierung und günstiger Lage der Ausstellung sehr bedeutende Er-
träge. Bei einzelnen Ausstellungen sind außerdem auch noch Lotterien
und andere gewinnbringende Veranstaltungen zu Hilfe genommen worden.
Schon die Londoner Weltaus.stellung von 1851 schloß mit einem so be-
deutenden Überschuß ab, daß nicht nur auf die Inanspruchnahme des
Garantiefonds verzichtet werden konnte, sondern daß außerdem auch noch
Mittel verfügbar blieben, welche in der Errichtung des South Kensington-
Museums eine überaus segensreiche Verwendung gefunden haben. Von
den nachfolgenden Weltausstellungen haben insbesondere diejenigen zu
Paris meist ein günstiges finanzielles Resultat geliefert, aber selbst in dem
Falle, wo bei Ausstellungen die Zeichner des Garantiefonds stark in An-
spruch genommen werden mußten, läßt sich im allgemeinen aus der Zu-
nahme des Verkehrs und dem Gewinn vieler Gewerbetreibenden ein in-
direkter erheblicher Vorteil für den Sitz der Ausstellung ableiten. Die
Veranstaltung einer Ausstellung wird gewöhnlich zur Ursache zahlreicher,
oft groß bemessener gewerblicher Unternehmungen, wie Hotels, Theater,
Vergnügungsorte, welche häufig dem Ausstellungsorte dauernd erhalten
bleiben und zum Nutzen und zur Verschönerung gereichen.
Bei den fegelmäßig wiederkehrenden Pariser Ausstellungen ist es
üblich geworden, einige der für Ausstellungszwecke errichteten Bauten in
solcher Weise auszuführen, daß sie der Stadt erhalten bleiben. Die An-
regung dazu ergab sich aus der dauernden Erhaltung des Londoner
Krystallpalastes von 1851 nach seiner Übertragung- aus dem Hydepark
in die zu seiner Aufnahme hergerichteten Parkanlagen von Sydenham.
Auch der Münchener Gla.spala.st, welcher jetzt für die alljährlich wieder-
kehrenden Kunstausstellungen benutzt wird, ist ursprünglich für die dortige
Ausstellung von 1854 erbaut worden. Der aus der Pariser Ausstellung
von 1867 stammende Ausstellungspalast der Champs Elysees ist bei Ver-
anstaltung der Ausstellung von iqoo abgebrochen worden. An seine Stelle
traten neue, aus den Mitteln der Ausstellung von igoo errichtete Pracht-
bauten, das Grand Palais und das Petit Palais, welche jetzt Ausstellungs-
und Museumszwecken gewidmet sind, sowie die neue Brücke, der Pont
Alexandre III. Von der Ausstellung des Jahres 1878 blieb der jetzt als
Museum dienende Trocaderopalast, während die Ausstellung von 1889 den
Eiffelturm als weithin sichtbares Wahrzeichen hinterließ.
Abgesehen von derartigen, aus den Erträgnissen der Ausstellungen
bestrittenen Monumentalbauten ist der großen Mehrzahl der für Aus-
stellungszwecke errichteten Gebäude eine sehr ephemere Existenz be-
schieden. Für die Herstellung derselben hat sich eine eigene Technik
herausgebildet, welche unter Verwendung zerlegbarer Stahlgerüste von
genügender Tragkraft den äußeren Schmuck der Gebäude fast ganz aus
mit Gipsstuck überzogenem Drahtgeflecht und zum Teil sogar aus be-
n. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. d. I 7
malter Leinewand herstellt. Die Leichtigkeit, mit der diese Materialien
sich handhaben lassen, gestattet den weitesten Spielraum für die Errich-
tung großartiger und unter Umständen sogar stylistisch gewagter Bauten.
In unübertroffener Weise ist die so gegebene Gelegenheit bei Errichtung
der noch unvergessenen „weißen Stadt" im Jacksonpark zu Chicago aus-
genutzt worden, in welcher vielfach antike Motive zur Verwendung kamen
und gleichzeitig auch das von zahlreichen Wasserläufen durchflossene Ge-
lände so glücklich ausgenutzt und der Architektur dienstbar gemacht
wurde, daß das entstehende Gesamtbild trotz aller Vergänglichkeit zu den
großartigsten Leistungen gerechnet werden muß, welche die Architektur
je hervorgebracht hat
In Chicago kam auch wohl zum erstenmal das seither bei allen Aus-
stellungen wiederkehrende Prinzip voll zum Ausdruck, daß jedes beteiligte
Land neben seinen Ausstellungen in den einzelnen großen Palästen sich
auch noch ein eigenes Haus errichtete, in welchem die Arbeitsräume
seines Kommissariats und außerdem einzelne besonders wichtige und
charakteristische Ausstellungsobjekte untergebracht waren. In Chicago
ging dieses System so weit, daß jeder einzelne der Vereinigten Staaten
von Amerika sein besonderes Haus besaß. Die Häuser der einzelnen
Nationen pflegen auf Weltausstellungen in eine oder mehrere Straßen ge-
ordnet zu sein und es ist üblich, denselben Formen zu geben, welche für
die Eigenart des Landes charakteristisch sind und den Baustil desselben
unverkennbar zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne sind die Häuser
des Deutschen Reiches zu Chicago 1893 und Paris 1900 in Anlehnung
an süddeutsche Renaissancebauten errichtet worden, während auf der
Weltausstellung zu St. Louis das deutsche Haus dem Mittelbau des Char-
lottenburger Schlosses nachgebildet war. Das deutsche Haus auf der
Weltausstellung zu Paris enthielt in seinem Obergeschoß Prunkräume,
deren Motive den Schlössern Friedrichs des Großen entnommen waren
und in denen dank der besonderen Huld Seiner Majestät des Kaisers
Wilhelms II. die erlesensten Kunstwerke der Fridericianischen Zeit als
eines der wertvollsten und meistbewunderten Ausstellungsobjekte aufge-
stellt waren. In ähnlicher Weise enthielt das englische Haus der Pariser
Weltausstellung eine unschätzbare Sammlung" von Originalwerken der
großen englischen Maler des 18. Jahrhunderts, das spanische Haus die
Waffen und Gobelins Karls V. usw.
Die Grundidee jeglicher Ausstellung ist die eines Wettkanipfes auf AusstciiunKcn
allen Gebieten der menschlichen Arbeit. Jeder Produzent soll durch die wcukdmpfc.
Hoffnung, als erster Meister seines Faches anerkannt zu werden, zur Ent-
faltung seiner höchsten Leistungsfähigkeit angespornt werden. Auf klei-
neren Ausstellungen vollzieht sich so ein Wettstreit zwischen den Ver-
tretern jedes einzelnen Faches, auf größeren tritt noch der Wetteifer
zwischen ganzen Produktionsgebieten oder Industrieländern hinzu. Solche
Wettkämpfe aber haben nur dann einen Sinn und einen Nutzen, wenn sie
Da KULTI-K DER Gbgbnwakt. I. 1. 2 7
^l8 Otto N. Witt: Natiirmssenschafllich-technische Ausstellungen.
schließlich zu einer Entscheidung führen. Seit Beginn der Ausstellungs-
untemehmungen ist man daher darauf bedacht gewesen, Preisgerichte zu
erwählen, durch deren Urteil ein endgültiges Urteil über die vorgeführten
Pr&miierung. Leistungen zustande kommt. Die Einrichtung- und Zusammensetzung
dieser Preisgerichte, die Art und Weise, wie ihre Entscheidung zum Aus-
druck gebracht wird, ist der Gegenstand vielfacher Untersuchungen und
Neuerungen gewesen, bis sich auch auf diesem Gebiete ein gewisser Usus
herausgebildet hat, der trotz mancher noch bestehender UnvoUkommen-
heiten der überaus schwierigen Aufgabe einer vorurteilslosen Prämiierung
einigermaßen gerecht wird.
Aossteihmgs- Bei den Vorarbeiten für die erste große Weltausstellung zu London
1851 bestand zunächst die Absicht, durch Aussetzung großer Geldpreise
für die vollkommensten Ausstellungsobjekte die Schaffenslust anzuregen
und Erfinder dazu zu veranlassen, Dinge auszuführen, deren Herstellung
im gewöhnlichen Laufe der gewerblichen Arbeit zu kostspielig und daher
für eine gewinnbringende Verwertung aussichtslos gewesen wäre. Aber
noch ehe die Ausstellung vollendet war, wurde dieser Gedanke als un-
durchführbar verlassen und statt dessen derjenige einer Gewährung von
Ehrenpreisen in Form von Medaillen aufgegriffen. Bei dieser Form der
Prämiierung sind dann alle nachfolgenden Ausstellungen stehen geblieben.
Die meisten derselben, speziell die bezüglich ihrer Organisation muster-
gültigen Pariser Ausstellung-en haben Medaillen verschiedenen Grades ver-
teilt, deren wachsender Wert durch das zu ihrer Herstellung benutzte
Metall — Bronze, Silber, Gold — angedeutet wurde. Später trat dann
noch als höchster, über der goldenen Medaille stehender Preis das große
Ehrendiplom, Grand Prix, hinzu. Die Wiener Weltausstellung- von 1873
verteilte nur Ehrendiplome, was vielfach zur Unzufriedenheit Veranlassung
gab. Andere Ausstellungen haben im Hinblick auf den hohen Wert der
zur Ausprägung der höheren Preise erforderlichen Edelmetalle mitunter
nur Bronzemedaillen verteilt, dabei aber den Empfängern silberner und
goldener Medaillen das Recht gegeben, dieselben in dem betreffenden
Metall gegen Erstattung der Kosten für dasselbe zu beziehen. In der
künstlerischen Ausführung der Medaillen haben die einzelnen Ausstellungen
miteinander gewetteifert und sich zu überbieten gesucht. Die größten
Künstler wurden für die Herstellung der erforderlichen Entwürfe heran-
gezogen. Die schönsten Medaillen sind wohl diejenigen der beiden Pariser
Weltausstellungen von 1878 und igoo. Namentlich die letztgenannte
hat auf diesem Gebiete Außerordentliches geleistet, indem sie außer
den an die Aussteller verteilten Medaillen noch für Personen, die sich um
die Ausstellung besondere Verdienste erworben hatten, außerordentlich
schöne und wertvolle Plaketten in Silber und Sevres-Porzellan ausführen ließ.
Preisgerichte Die Mitglieder der Preisgerichte werden gewöhnlich von den an der
und Organisa- j • i r
tion derselben. SpitzB dcr Ausstellung Stehenden Kommissionen erwählt und emberuten.
Bei Weltausstellungen, die naturgemäß auch an die Zusammensetzung ihrer
IL Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. ^10
Preisgerichte die weitgehendsten Anforderungen stellen, gesellen sich zu
den von der Ausstellungskommission berufenen einheimischen Preisrichtern
noch diejenigen der auswärtigen Staaten, welche auf Grund einer durch
Vermittlung der Kommissariate ergehenden Einladung von den Regie-
rungen dieser Staaten ernannt und an den Ausstellungsort entsandt werden.
Das Preisgericht muß unter allen Umständen so frühzeitig zusammentreten,
daß es volle Zeit hat, die gesamte Ausstellung gründlich zu studieren und
seine Arbeiten rechtzeitig für die kurz vor Schluß der Ausstellung statt-
findende Preisverteilung abzuschließen. Die Organisation des Preisgerichtes
ist bei verschiedenen Ausstellungen eine verschiedene gewesen; am voll-
kommensten und daher am häufigsten angewandt ist wohl die Einteilung,
wie sie regelmäßig bei den Pariser Weltausstellungen stattfindet. Die
Preisrichter werden nach den Fächern, welche sie vertreten, in ebenso
viele einzelne Preisgerichte eingeordnet, als Klassen für die verschiedenen
Ausstellungsobjekte vorhanden sind. Auf der Pariser Weltausstellung von
1900 waren im ganzen 126 Klassen vorhanden, und ihnen entsprachen
ebenso viele Preisgerichte. Jedes derselben studiert an Hand der Aus-
stellungskataloge und der ihnen zugänglich gemachten nachträglichen Be-
richtigungen derselben alle in ihrer Klasse ausgestellten Objekte, diskutiert
den Wert derselben und bringt bestimmte Auszeichnungen in Vorschlag.
Das Resultat dieser Arbeiten wird den Gruppenpreisgerichten vorge-
legt, welche in kleinerer Zahl vorhanden sind und von denen jedes eine
Reihe von Klassen in sich begreift. Diese letzteren sind in dem Gruppen-
preisgericht vertreten durch die Präsidenten, Vizepräsidenten und Schrift-
führer der einzelnen Klassenpreisgerichte. Die Präsidenten der Gruppen-
preisgerichte werden in Paris von der französischen Regierung ernannt,
können aber ebensowohl Ausländer wie Einheimische sein. Auf der
Pariser Weltausstellung von igoo waren im ganzen 18 Gruppenpreis-
gerichte vorhanden, deren Aufgabe es war, die von den Klassenpreis-
gerichten gemachten Prämiierungsvorschläge nochmals auf das genaueste
zu prüfen und auf Grund weiteren herbeigeschafften Materials wenn nötig
zu berichtigen. Es sind die Gruppenpreisgerichte, denen weitaus die um-
fangreichsten und verantwortlichsten Arbeiten auf diesem Gebiet zufallen.
Als oberste Instanz des ganzen Preisgerichtes fungiert die sogenannte
Jury superieur, welche sich aus den Präsidenten und Vizepräsidenten der
Gruppenpreisgerichte, den Chefs der AusstcUungskommission, sowie den
Kommissaren der einzelnen auf der Ausstellung vertretenen Staaten zu-
sammensetzt und an deren Spitze wiederum ein Präsidium steht, dessen
Mitglieder von der französischen Regierung ernannt werden und zumeist
aus hohen Staatsbeamten bestehen. Die Jury superieur beschließt end-
gültig über die Zuerkennung der von den Gruppenpreisgerichten in Vor-
schlag gebrachten Preise. Die Verteilung derselben erfolgt in Form einer
großartigen Festlichkeit durch den Präsidenten der Französischen Republik
in eigener Person. Da es indessen bei dem Umfang, den die Weltaus-
27*
A20 Otto N. Witt: Naturwisscnschaftlich-teclinische Ausstellungen.
Stellungen jetzt angenommen haben, unmiiglich wäre, die überaus zahl-
reichen Preise den einzelnen Ausstellern selbst einzuhändigen, so geschieht
die Preisverteilung symbolisch, indem der Präsident jedem der Präsidenten
der Gruppenpreisgerichte ein Verzeichnis der auf seine Gruppe entfallen-
den Preise einhändigt. Die Zustellung der zuerkannten Medaillen und zu-
gehörigen Diplome erfolgt dann gewöhnlich erst nach Schluß der Aus-
stellung durch die Ausstellungsleitung.
Wirkungen der Es Ucgt auf der Hand, daß die bei solchen Ausseilungen stattfindende
ciung. pJ.g^J^^JJgJ-^J^g. keine durchaus gerechte sein kann. Insbesondere bringt die-
selbe die relative Leistungsfähigkeit der verschiedenen Aussteller nur in-
soweit zur Geltung, als dieselbe sich an den ausgestellten Objekten er-
kennen läßt. Unter Umständen kann daher ein Aussteller, der an sich
sehr leistungsfähig ist, bei Beschickung der Ausstellung aber nur beschei-
dene Anstrengungen gemacht hat, von einem anderen überflügelt werden,
der bei geringerer gewerblicher Bedeutung sich eine sehr glänzende Ver-
tretung auf der Ausstellung hat angelegen sein lassen. Derartige Miß-
verhältnisse werden allerdings auf Grund der Sach- und Fachkenntnis der
einzelnen Mitglieder des Preisgerichtes mit in Rechnung gezogen, trotz-
dem aber ist eine gewisse Ungleichheit bei der Zuerkennung der Preise
gar nicht zu vermeiden. Im allgemeinen geht die Tendenz der Preisge-
richte auf Ausstellungen darauf hinaus, eine möglichst milde Praxis zu
üben, d. h. alle irgendwie erkennbaren Verdienste durch Zuerkennung
eines Preises auszuzeichnen und nur durch die verschiedene Höhe der
Preise den relativen Wert der ausgestellten Objekte zum Ausdruck zu
bringen. Das Resultat solcher Maßnahmen ist die auf allen neueren Aus-
stellungen beobachtete Tatsache, daß weitaus die größte Zahl aller vor-
handenen Aussteller mit Preisen bedacht wurden und nur ganz wenige
leer ausgingen. Damit sinkt bei Ausstellungen, welche überhaupt nur
einen Preis gewähren, die Preisverteilung fast auf das Niveau einer Farce
herab und die mühsamen Arbeiten der Preisgerichte erscheinen eigentlich
als überflüssig. Wo aber, wie dies doch bei ernsthaften Ausstellungen zu-
meist geschieht, verschiedene in ihrem Werte abgestufte Preise verteilt
werden, da hat trotz der vielbekrittelten Freigebigkeit der Preisgerichte
die Preisverteilung immer noch eine sehr erhebliche Bedeutung, welche
auch dadurch nicht abgeschwächt wird, daß die große Zahl derer, welche
auf die Beschickung einer Ausstellung nicht die erforderlichen Unkosten
und Bemühungen verwenden wollen, eifrig bestrebt ist, den Wert der auf
Ausstellungen erworbenen Auszeichnungen herabzusetzen.
Stellung außer Da die Preisgerichte aus sachverständigen Personen bestehen müssen
und da eine genügende Zahl solcher sich nur finden läßt, wenn man auch
die Kreise der Produzenten zur Ausübung des Preisrichteramtes mit heran-
zieht, so ist es nicht zu vermeiden, daß auch Aussteller gelegentlich zu
Preisrichtern ernannt werden. Um selbst den Schein zu vermeiden, als
könnten dieselben das ihnen übertragene Amt zum eigenen Vorteil aus-
IT. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. 4 2 I
nutzen, ist auf allen Ausstellungen die Einrichtung getroffen, daß ein
Aussteller, der ins Preisgericht berufen wird, aus der Bewerbung um einen
Preis ausscheidet. Hierauf bezieht sich die auf allen Ausstellungen häufig
sichtbare Bezeichnung irgend welcher Objekte als „hors concours" oder
„außer Wettbewerb". Da nun aber die Berufung ins Preisgericht an sich
schon eine Anerkennung besonderer Tüchtigkeit oder Sachkenntnis dar-
stellt, so hat man sich gewöhnt, die Bezeichnung „außer Preisbewerb"
ihrerseits als eine Auszeichnung anzusehen und Aussteller, welche sich
für hervorragend tüchtig hielten, oder auch solche, die Gründe hatten, an
dem schließlichen Ausfall der Preisverteilung Zweifel zu hegen, haben sich
mitunter als hors concours erklärt, ohne daß dazu die obenerwähnte Ver-
anlassung der Berufung ins Preisgericht gegeben war. Um dem auf solche
Weise entstehenden" Unfug zu steuern, ist sehr vernünftigerweise bei ein-
zelnen Ausstellungen, speziell auch bei derjenigen zu Paris iqoo, die eigen-
mächtige Erklärung des Ausscheidens aus dem Preisbewerb durch die
Aussteller verboten worden. Andrerseits hat dieselbe Pariser Ausstellung
die Härte, welche in der gezwungenen Hors concours-Stellung liegt, da-
durch zu mildem versucht, daß sie eine besondere Hors concours-Medaille
verteilte, welche an alle diejenigen verliehen wurde, die infolge ihrer Be-
rufung ins Preisgericht aus dem Wettbewerb ausschieden.
Eine reichliche Verteilung von Preisen, deren Besitz für den Aus- Beanspruchung
der Austeller.
steller zweifellos eine dauernde und wertvolle geschäftliche Empfehlung
bildet, erscheint schon deshalb angezeigt, weil die Anforderungen, welche
durch Ausstellungen und namentlich durch Weltausstellungen an die be-
teiligten Aussteller gemacht werden, für diese eine große und schwer-
wiegende Last bedeuten. Es handelt sich dabei nicht nur um die meist
reichlich bemessene Platzmiete, um die Aufwendungen für die zur Ein-
richtung, Instandhaltung und Abräumung der Ausstellung erforderlichen
zahlreichen Reisen und längeren Aufenthalte am Ausstellungsorte, sondern
auch um die oft sehr großen Kosten der Herstellung von Ausstellungs-
objekten, für die in den meisten Fällen kein Besteller vorhanden ist und
die daher beim nachträglichen freihändigen Verkauf häufig bloß Preise er-
zielen, die geringer sind als die tatsächlichen Herstellungskosten. Hierzu
kommen dann noch bei großen Objekten die oft sehr bedeutenden Fracht-
spesen, während die bei Weltausstellungen regelmäßig gewährte zollfreie
Einfuhr in das Ausstellungsland nur dann in Wirkung tritt, wenn das ausge-
stellte Objekt nach Beendigxing der Ausstellung wieder in das Ursprungsland
zurückkehrt und somit erneute Frachtspesen verursacht. Da in den fünfzig
Jahren, während welcher Ausstellungen regelmäßig abgehalten werden, ein
Wetteifer nicht nur auf den einzelnen Ausstellungen stattfindet, sondern
auch jede neue Ausstellung alle ihre Vorgängerinnen zu übertreffen sucht,
so sind die Aufwendungen, welche von einzelnen Ausstellern bei den ver-
schiedenen Ausstellungen gemacht worden sind, schließlich zu außerordent-
licher Höhe herangewachsen. Es sei in dieser Hinsicht an die Ausstellung
422
Otto N. Witt: Naturwisscnschaftlüh-technischc Ausstellungen.
der Firmen Krupp und Stumm in Chicago, an diejenigen von Borsig und
der Allgemeinen Elektri/.itätsgesellschaft zu Paris 1900 und an viele andere
erinnert, deren Herstellungskosten in die Hunderttausende gingen. Im
Verhältnis vielleicht noch anstrengender sind die Aufwendungen, welche
industrielle Unternehmungen mittlerer Größe für Ausstellungen zu machen
haben, und welche in ihrer ständigen Wiederkehr eine nicht zu verachtende
Belastung derselben bedeuten. Hierdurch sowie durch die Störung des
Geschäftsbetriebes, welche die Vorbereitung einer Ausstellung zweifellos
mit sich bringt, ist die oft erwähnte Ausstellungsmüdigkeit zu erklären,
welche sich in einzelnen industriellen Kreisen und mitunter sogar in ganzen
Ländern geltend macht. Den prägTiantesten Ausdruck findet eine der-
artige Ausstellungsmüdigkeit in der gelegentlich stattfindenden Ablehnung
irgendeines Landes, sich an einer Weltausstellung zu beteiligen. Eine
solche Ablehnung erfolgte beispielsweise von Seiten des Deutschen Reiches
für die Pariser Weltausstellungen von 1878 und 1889. Wenn auch vielleicht
politische Gesichtspunkte bei diesen Ablehnungen mit in Betracht gezogen
worden sind, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß auch die damals
nicht sehr günstige Lage der deutschen Industrie für die getroffene Ent-
scheidung mit maßgebend war. Daß bei einer solchen offiziellen Nicht-
beteiligung für einzelne Firmen, welche gerne ausstellen möchten, dpch
immer noch Mittel und Wege vorhanden sind, ihre Erzeugnisse den Be-
suchern der Ausstellung vorzuführen, mag hier nur erwähnt werden,
sammei- und Aus dem Streben nach einer Herabminderung der dem einzelnen
AussteUung und Ausstcller erwachsenden Kosten ist die Einrichtung der Sammelaus-
ihnen zugrunde- Stellungen hervorgegangen, welche immer größere Beachtung gefunden
liegenden Ideen. ,--,.., . ,, . ..,.,-,,.
hat und daher bei jeder neuen Ausstellung immer starker in Erscheinung
tritt. In ihrer ursprünglichen Form kam die Sammelausstellung in der
Weise zustande, daß namentlich in gewissen, einer und derselben Industrie
gewidmeten Bezirken alle Gewerbetreibenden gleicher Art sich zusammen-
taten und in gemeinsam beschafften Ausstellungsschränken oder sonst er-
forderlichen Hilfsmitteln eine Ausstellung veranstalteten, die als Ganzes
groß genug war, um die Aufmerksamkeit der Ausstellungsbesucher auf
sich zu ziehen, in der aber jeder einzelne Fabrikant mit nur einem oder
einigen wenigen Objekten vertreten war, die seinen Namen trugen. In
dieser Weise haben z. B. die Thüringer Spielwarenindustrie und die Nürn-
berger Metallindustrie fast alle Ausstellungen beschickt, auf denen sie ver-
treten waren. Besonders großartig gestalteten sich femer durch ein solches
gemeinschaftliches Vorgehen bei den letzten Weltausstellungen, ebenso
wie auf der deutschen Ausstellung zu Berlin die Vorführungen der deut-
schen Feinmechanik und Optik.
Im Laufe der Zeit aber ist die auf solche Weise erzielbare Herab-
setzung der Kosten nicht das einzige Motiv geblieben, welches zu der
Herstellung von Sammelausstellungen führte. Mehr und mehr brach sich
die Überzeugung Bahn, daß durch den Zusammenschluß der gleichartigen
IT. Einrichtung und Betrieb der Ausstellungen. 423
Industrie eines ganzen Bezirkes, einer Provinz oder eines Landes ohne
Benachteiligung der Interessen des Einzelnen die Bedeutung des ganzen
Industriezweiges besser zum Ausdruck gebracht werden kann, als bei un-
abhängigem Vorgehen jeder einzelnen F"irma. Auf solche Weise kamen
Sammelausstellungen zustande, bei welchen die einzelnen Aussteller oft
durch sehr große und zahlreiche Objekte vertreten waren, bei denen aber
durch vorherige Wahl gleichartiger Ausstellungsformen die Zusammen-
gehörigkeit des Ganzen betont wurde. Gleichzeitig konnten immer noch
gewisse Ersparnisse in der Weise realisiert werden, daß die Einrichtung
und Vertretung der ganzen Sammelausstellung einzelnen dazu erwählten
Personen übertragen wurde. Beispiele derartiger Sammel- oder richtiger
Gruppenausstellungen sind die Ausstellungen, wie sie z. B. von der Kre-
felder Seidenindustrie oder der deutschen chemischen Industrie auf der
Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago 1893 veranstaltet wurden und
in ihrer Großartigkeit ein deutliches Zeugnis für den Wert gemeinsamen
Vorgehens bei solchen Gelegenheiten ablegten.
Man ist aber bei dieser Entwicklung der Sammelausstellungen noch
weiter gegangen, indem man namentlich auf den neueren Ausstellungen
mitunter Vorführungen veranstaltet hat, bei denen direkte geschäftliche
Interessen weit weniger maßgebend waren, als der Wunsch, von dem
Stande irgend einer Industrie oder eines Wissensgebietes weite Kreise zu
unterrichten. Insbesondere sind es Staatsregierungen und Behörden, oder
auch Gemeindeverwaltungen, wissenschaftliche Körperschaften und Vereine
gewesen, welche die durch Ausstellungen sich bietende Gelegenheit be-
nutzten, um von bestimmten Bestrebungen oder Unternehmungen öffent-
lich Rechenschaft abzulegen. Aber auch die Industrie selbst hat sich
unter Umständen bei der Beschickung von Ausstellungen von derartigen
höheren Motiven leiten lassen. In großartigster Weise hat dies die deutsche
chemische Industrie auf der Weltausstellung zu Paris 1900 getan. Im Be-
wußtsein ihrer, die gleichartige Industrie aller anderen Länder überragen-
den Größe hat sie eine Sammelausstellung in der Weise veranstaltet, daß
alle beteiligten Firmen die zu einer systematisch geordneten Vorführung
erforderlichen, oft sehr kostbaren Objekte beitrugen, dabei aber auf Nen-
nung ihres Namens verzichteten. Durch gleichartige und überaus ge-
schmackvolle Aufstellung der zusammengetragenen Objekte und Erläuterung
derselben durch einen ausführlichen Katalog entstand ein Bild des Schaffens
der Gesamtindustrie von überwältigender Großartigkeit, welches zu den
am meisten besprochenen und am eingehendsten studierten Vorführungen
dieser gewaltigen Weltausstellung gehörte. Es wäre bedauerUch gewesen,
wenn eine derartige mit beispiellosem Aufwand an Mühe und Kosten her-
gestellte Sammlung, deren Wert auf etwa *|^ Millionen veranschlagt wurde,
nach Beendigung der Ausstellung wieder zerstreut worden wäre. Es
wurde dies dadurch verhindert, daß die Aussteller nach Schluß der Aus-
stellung das Ganze der preußischen Regierung zum Geschenk machten,
, , , Otto N. Witt: Naturwissenschaftlich-technische Ausstellungen.
welche für seine Aufnahme im Park der Technischen Hochschule zu Char-
lottenburg ein besonderes „Chemisches Museum" errichtete.
Bcscinikuiii; vou Am hüufigstcii habcii wohl die Verwaltungen großer Städte von dieser
durdi'ncSdcn. Ausstellungsform Gebrauch gemacht, indem sie die von ihnen getroffenen
gemeinnützigen Einrichtungen in oft sehr ausgedehnten Sammelausstellungen,
bei deren Veranstaltung die Mithilfe vieler Privatpersonen und Firmen
herangezogen wurde, vorführten. Mehr und mehr aber haben sich auch
die Regierungen der einzelnen Länder, bei denen ja wohl die Triebfeder
des Wetteifers in geringerem Maße vorhanden war, daran gewöhnt, solche
Ausstellungen zu veranstalten. Das Vorgehen deutscher Ministerien und
Reichsbehörden kann in dieser Hinsicht als mustergültig bezeichnet werden.
Das königlich preußische Kultusministerium beschickte die Kolumbische
Weltausstellung zu Chicago mit einer großartigen Vorführung der Hilfs-
mittel des gesamten Unterrichtswesens und namentlich der Universitäten.
Eine nicht minder umfangreiche, aber anders geordnete Ausstellung ähn-
licher x\rt, bei deren Veranstaltung auch die deutsche Industrie mitwirkte,
wurde von der gleichen Behörde auf die Weltausstellung zu St. I.ouis ge-
sandt. Großer Anerkennung erfreuten sich auch die vom Deutschen Reichs-
versicherungsamt auf den letzten Ausstellungen veranstalteten Vorführungen,
welche die Tätigkeit dieser Behörde in volkstümlicher Weise erklärten
und sicherlich dazu beigetragen haben, die Idee des Arbeiterschutzes in
der gesamten zivilisierten Welt populär zu machen. Wohl die umfang-
reichste und großartigste Vorführung dieser Art, die je stattgefunden hat,
war diejenige der Bundesregierung der Vereinigten Staaten von Amerika
auf der Weltausstellung zu Chicago 1893. In einem ausgedehnten Palast,
den sie zu diesem Zwecke errichtet hatte, stellte die Bundesregierung von
Washington mit einer bis in die kleinsten Details gehenden Gründlichkeit
all die vielen Unternehmungen dar, in denen sie für das Gesamtwohl der
vielen in ihr zusammengeschlossenen, an sich aber vollständig selbstän-
digen Staaten sorgt. Insbesondere brachte sie dabei auch die von ihr mit
außerordentlicher Umsicht und größtem Aufwand an Mitteln betriebene
naturwissenschaftliche Erforschung des weiten Ländergebietes von Nord-
amerika zur Kenntnis weiter Kreise.
Retrospektive Eine andere neuere Errungenschaft des Ausstellungswesens, durch
- "^"^ ""^'"welche die ethische Bedeutung desselben ganz erheblich gewonnen hat,
ist die der retrospektiven Vorführungen. Während die ersten Ausstellungen
alles Vorhandene als bekannt voraussetzten und in erster Linie dem Zwecke
dienen wollten, den Kreis unseres Könnens zu erweitem und zur Schaffung
und Vorführung des bisher für unerreichbar Gehaltenen die nötige An-
regung zu geben, hat man später auch den Wert des Rückblickens in die
Vergangenheit mehr und mehr gewürdigt. Auf den letzten Ausstellungen
der achtziger Jahre, derjenigen zu Manchester 1887 und der Weltaus-
stellung von Paris 1889 suchte man die Vergangenheit zu rekonstruieren,
indem man auf Grund alter Abbildungen und Beschreibungen bestimmte
II. Kinrichtung und Betrieb der Ausstellungen. 425
Stadtgpgcnden der Au.s.stellungsstädte, einzelne Straßen oder berühmte
Gebäude (Bastille) in dem leichten architektonischen Material der Aus-
stellungen, aber in täuschend genauer Nachahmung der äußeren Form
wieder aufführte. Die Häuser solcher alten Straßen wurden zum Teil mit
alten kunstgewerblichen Erzeugnissen ausgestattet, und so zu einer Art
von Museum gfemacht, ja, man ging so weit, die Wächter und sonstigen
Angestellten des betreffenden Ausstellungsteiles in dem Kostüm der be-
treffenden Periode ihren Dienst tun zu lassen. Diese Maßnahme fand so
viel Anklang, daß die Vorführung alter Stadtteile zu einer stehenden Ein-
richtung auf Ausstellungen wurde. Alt-Nürnberg, Alt-Wien, Alt-Berlin
sind heute noch in jedermanns Munde und man hat diese großen Aus-
stellungsobjekte mitunter noch nach Beendigung der Ausstellungen, für
die sie geschaffen waren, an anderen Orten neu aufgebaut und zur Schau
gestellt. Freilich wurde dabei die Rücksichtnahme auf historische Treue
immer geringer und die ursprünglich von rein künstlerischen und wissen-
schaftlichen Motiven getragenen Rekonstruktionen alter Städtebilder dege-
nerierten allmählich zu Vergnüg-ungslokalen. Die Idee der retrospektiven
Vorführungen aber machte sich in neuen ernsteren Formen geltend. Auf
der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago wurden alle noch beschaff-
baren, auf die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus bezüglichen Objekte
den Besuchern vorgeführt. Die Karavellen, auf denen der große See-
fahrer seine erste Reise über den Ozean unternahm, lagen nicht nur in
täuschend genauer Nachbildung in einer den Hafen von Huelva vor-
stellenden Bucht des Michigansees vor Anker, sondern man hatte sie tat-
sächlich in Spanien erbaut und kurz vor Beginn der Ausstellung die Fahrt
über den Ozean vollbringen lassen. Und in einer mehr dem amerikani-
schen als dem europäischen Geschmacke entsprechenden Weiterführung
des Gedankens war man sogar so weit gegangen, den letzten Nachkommen
des Entdeckers der Neuen Welt, den Herzog von Veragna, auf Kosten
der Ausstellung aus Spanien nach Amerika kommen zu lassen und dort
gewissermaßen als lebendes Überbleibsel der kolumbischen Zeit dem
Publikum vorzuführen. Wenn so der Weltteil, in dem die Ausstellung
stattfand, geschichtliche Gesichtspunkte in den Vordergrund stellte und
dies auch in dem für die Weltausstellung gewählten Namen zum Ausdruck
brachte, so ist es begreiflich, wenn auch die einzelnen Staaten Amerikas
in den Häusern, welche sie sich erbaut hatten, Vorführungen aus ihrer
Geschichte zu veranstalten suchten. Bei einzelnen von ihnen, so z. B. bei
den Neu -Englandstaaten und Kalifornien konnten dieselben auch ein
größeres Interesse beanspruchen, während sie bei anderen Staaten und
Territorien, die eben noch kaum eine Geschichte haben, mitunter groteske
Formen annahmen.
In noch höherem Maße und in ganz systematischer Weise wurde das
retrospektive Prinzip durch die Leitung der Zentenarausstellung zu Paris
1900 betont. Hier wurde, soweit es immer möglich war, in jeder ein-
A2() Otto N. Witt: NaUinvisscnschaftlicli-technischc Ausstclhinpcn.
zeliien Ausstellungsklassc eine retrospektive Abteilung eingerichtet, welche
in interessanter Gegenüberstellung mit den modernen die gleichartigen
Behelfe früherer Zeiten zur Anschauung brachte. Namentlich von Seiten
der französischen Einzelkommissionen für die Ausstellung ist der von der
Gesamtleitung gegebenen Anregung in gewissenhaftester und weitgehend-
ster Weise Rechnung getragen worden und es sind auf diese Weise Vor-
führungen von ganz überraschender Art zustande gekommen. Es zeigte
sich, daß unsere Museen trotz ihrer großen Zahl und ihres Umfanges noch
lange nicht über alles Rechenschaft gegeben hatten, was unsere Vorfahren
getan und getrieben haben. Gerade die alltäglichsten Dinge waren es,
bei denen die Vergleichung des früher Üblichen mit dem heute Einge-
führten besonders interessant sich gestaltete.
Vielfach hat man auch versucht, den belehrenden Charakter der Aus-
stellungen durch Veranstaltung von wissenschaftlichen Kongressen und
Vorträgen stärker zu betonen. Sehr glücklich organisiert waren die täg-
lichen Vorträge auf der Berliner Ausstellung von 1896, während die Welt-
ausstellungen zu Paris igoo und St. Louis 1904 sich durch die große Zahl
der mit ihnen verbundenen Kongresse auszeichneten.
Aussteiiungs- III. Wirkungen und Erfolge der Ausstellungen. Es liegt
Vorkehrungen in der Natur der Sache, daß Ausstellungen einen Zusammenfluß großer
für dieselben. n r t i/^ i*i • j^j
Mengen von Menschen an den Orten bewirken, wo sie stattfinden.
Sie sind von vornherein darauf berechnet, viele Besucher aus weiter
Feme heranzuziehen, sie sind nur unter dieser Voraussetzung möglich
und die stete Zunahme ihres Umfanges steht im direkten Verhältnis
mit der Erweiterung, Verbesserung und Verbilligoing unserer Verkehrs-
mittel. Der Besuch der auf eine Zeitdauer von fünf bis sechs Monaten
berechneten Weltausstellungen hat bei jeder derselben nach Millionen ge-
rechnet, aber auch bei Landes- und Provinzialausstellungen wird derselbe,
wenn sie einigermaßen umfangreich und geschickt inszeniert sind, sehr oft
durch sieben- bis achtstellige Zahlen ausgedrückt. Für die Unterbringung,
Bewirtung und Unterhaltung derartiger Menschenmengen sind umfassende
Vorkehrungen erforderlich, welche auch wieder nur möglich geworden
sind durch die Hilfsmittel des modernen Verkehrs. Ganz abgesehen von
der gesteigerten Frequenz des Personenverkehrs bewirken somit Aus-
stellungen auch eine nicht zu verachtende Belebung des Warenverkehrs
und Handels.
Frühzeitig hat man eingesehen, daß auch für die Unterhaltung der
zahlreichen Ausstellungsbesucher gesorgt werden muß. So kommen die
vielen Vergnügungseinrichtungen und Schaustellungen zustande, welche
mit Ausstellungen stets Hand in Hand gehen und die man von selten der
Ausstellungsleitungen mehr und mehr auf bestimmte Teile der Aus-
stellungen zu beschränken sucht, um so der Hauptveranstaltung ihren
ernsthaften Charakter zu wahren. Charakteristisch war in dieser Hinsicht
III. Wirkungen und Erfolge der Ausstellungen. 427
die Midway Plai.sance der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago, der
eine gleichartige Abteilung zu St. Louis entsprach. Auch hier können
wir ein ähnliches Anwachsen der Großartigkeit der Vorführungen, der auf-
gewandten Mittel und des stattfindenden Besuches verzeichnen, wie es für
die Ausstellungen überhaupt der Fall ist.
Der bei Ausstellungen hervortretende Wetteifer zwischen einzelnen v.-r«icicho mit
° rlcn älteren
Individuen und Firmen, Körperschaften, Produktionsgebieten und ganzen Messen und
' ' ° ^ . Jahrmarkten.
Ländern und Nationen, die unverhohlen ausgesprochene Tendenz einer
Belebung des Handels und Verkehrs und nicht zum mindesten auch die
Verquickung des Festlichen und Lustbaren mit den ernsteren Motiven der
ganzen Veranstaltung legen für Ausstellungen jeglicher Art den Vergleich
mit einer uralten Einrichtung aller Völker und Zeiten nahe, nämlich mit
den Messen und Jahrmärkten. In der Tat sind die Ausstellungen sehr
häufig Riesenjahrmärkte genannt worden, am schroffsten von den Ameri-
kanern, welche ihre eigenen Weltausstellungen auch in ernsthaften und
offiziellen Veröffentlichungen nicht selten als „World's Fair", „Weltjahr-
markt" bezeichnet haben. Es lieg^ aber in diesem Namen eine Gering-
schätzung, welche das Ausstellungswesen sicherlich nicht verdient. Denn
insofern unterscheiden sich die Ausstellungen, sie mögen nun Weltaus-
stellungen oder auch Landes-, Provinzial- oder Fachausstellungen sein,
sehr wesentlich von den alten Jahrmärkten, daß sie nicht wie diese bloß
einen zu bestimmter Zeit stattfindenden planlosen Zusammenlauf von Men-
schen darstellen, die kaufen und verkaufen, schmausen und sich ergötzen
wollen, sondern wohlorganisierte, mit großem Aufwand an Scharfsinn,
Mitteln, Mühe und Arbeit in Szene gesetzte Vorführungen, bei denen die
Belehrung weiter Kreise in einer für diese annehmbaren und den ver-
schiedensten Geschmacksrichtungen angepaßten Form der Hauptzweck ist.
Daß dieser Zweck erreicht wird durch eine allmählich geschaffene Allgemeine
Wirkungen.
Organisation, welche gleichzeitig auch eine gesunde finanzielle Grundlage
für Ausstellungen bildet, ist mit der größten Freude zu begrüßen, denn
die Größe unserer Ausstellungen ist eine solche, daß sie überhaupt nur
möglich erscheinen, wenn die entstehenden Kosten auf irgend eine Weise
wieder hereingebracht werden. Es steht nicht nur fest, daß derjenige,
der eine Ausstellung in vernünftiger Weise besucht und besichtigt,
unendlich viel auf derselben lernen kann, sondern auch, daß auf Aus-
stellungen vieles gelehrt wird, was auf andere Weise gar nicht oder doch
sicherlich nicht in so bequemer Weise zu erlernen wäre. Ausstellungen
in der Form, wie sie ihnen die Neuzeit gegeben hat, sind daher ein Kultur-
faktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung, und man kann sagen, daß
es heutzutage für den gebildeten Menschen gar nicht mehr angängig ist,
sich ihrer nach Belieben zu bedienen oder sie unbenutzt zu lassen. Der
Besuch einiger Ausstellungen muß vielmehr als durchaus notwendige Er-
gänzung einer allgemeinen Bildung betrachtet werden, und es entspricht
vollständig dieser Auffassung von der Sachlage, wenn es mehr und mehr
^28 Otto N. Witt: Naturwissenschaftlich-technische Ausstelhingen.
Üblich wird, daß Staatsregierungen und Behörden, Gemeindeverwaltungen
und Schulen, Vereine und große industrielle Unternehmungen es für ihre
Pflicht halten, die ihrer Fürsorge anvertrauten Personen, Beamte und Mit-
glieder, Schüler und Arbeiter auf ihre Kosten oder doch unter kräftiger
finanzieller Beihilfe zum Besuch von Ausstellungen zu entsenden. In
gleicher Weise geben Eisenbahnverwaltungen und Schiffahrtsgesellschaften
ihrer Auffassung von der hohen kulturellen Bedeutung des Ausstellungs-
wesens in der Weise Ausdruck, daß sie bei Gelegenheit großer Aus-
stellungen sehr erhebliche Verkehrserleichterungen für Ausstellungsbesucher
eintreten lassen.
Man kann, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, sagen,
daß der beispiellose Aufschwung, den namentlich die zweite Hälfte des
ig. Jahrhunderts gezeitigt hat, auf das Innigste mit dem Ausstellungs-
wesen verknüpft ist. Die Ausstellungen sind ein Produkt der gesteigerten
Intensität der geistigen Arbeit unserer Zeit, aber sie tragen ihrerseits
mächtig dazu bei, zu immer weiterer Steigerung anzuregen.
Literatur.
Die auf das Ausstellungswesen bezügliche Literatur ist überaus umfangreich, kann aber
im einzelnen kaum namhaft gemacht werden.
Genauere Belehrung über die einzelnen Ausstellungen gewinnt man am besten durch
das Studium der in den meisten öffenüichen Bibliotheken erhältlichen Ausstellungskataloge
und Ausstellungsberichte.
Die wissenschafüichen und technischen Ergebnisse einzelner Gebiete sind in den
Spezialberichten der Fachzeitschriften niedergelegt.
DIE MUSIK.
Von
Georg Göhler.
Musik ist
Ausdnick.
Khytlimus,
Melodie,
I. Die Grundlagen der musikalischen Kultur. Musik ist Aus-
druck; Musik ist Sprache. Auf dieser Grundwahrheit beruht die gesamte
Kulturbedeutung aller Musik seit ihren Uranfängen.
Man hat sich gewöhnt, in dieser Wahrheit, die so alt ist wie die
Musik selbst, eine Entdeckung des Geistes der Neuzeit zu sehen. Und
doch ist, was als die Krone des altehrwürdigen Baumes der Musik oder
als die nach jahrtausendelangem Wachstum endlich erschlossene Blüte
gilt, in Wahrheit seine Wurzel, aus der er alle Lebenskraft sog. Selbst
die einfachste Musik der tiefststehenden Naturvölker ist im Urgründe
ihres Wesens genau dasselbe, was die Kunst Wagners sein will: Aus-
druck, Sprache. Keine Wesens-, nur Gradunterschiede sind vorhanden.
Will man die Kulturbedeutung der Musik im Leben der Menschheit
verstehen, so ist es unerläßlich notwendig, an diesem fundamentalen Axiom
festzuhalten. Nur dann deuten sich leicht alle Phasen der langen, reichen
Entwicklung.
Musik ist Ausdruck. Träger dieses Ausdrucks sind die beiden
Grundelemente aller Musik, Rhythmus und Melodie; je nach der beson-
deren Art des Ausdrucks herrscht bald das eine, bald das andere vor.
Die Harmonie ist Resultante aus beiden, also nicht primär! Ob der
Rhythmus als Prinzip der Bewegung und bei weiterem Fortschreiten als
Prinzip der Ordnung in der Bewegung oder ob die Melodie bei den
frühesten Äußerungen musikalischer Art das Ausschlaggebende gewesen
ist und noch ist, kann Spezialuntersuchungen auf dem Gebiete der Völker-
psychologie überlassen bleiben. Nimmt man als Analogon der Völker-
entwicklung die des Kindes, so erscheint das Erfassen und Behalten
rhythmischer Elemente als das Primäre.
Karl Bücher hat in seinem Buche: Arbeit und Rhythmus auf die
Bedeutung des rhythmischen Elementes bei den verschiedensten Arbeits-
leistungen hingewiesen. Von den primitivsten Zuständen eines Volkes aus
erhält sich diese Bedeutung bis in die entwickeltsten Kulturen und findet
I. Die Grundlagen der musikalischen Kultur. ati
in einer Menge von Handwerksliedern Ausdruck, die ihren charakteristi-
schen Rhythmus der Tätigkeit des betreffenden Handwerkers verdanken.
Unter Melodie darf man bei Naturvölkern natürlich nicht lange, ge-
schlossene Linien verstehen, sondern wird kurze Ausrufe, in denen einzelne
Worte mit wechselnder Tonhöhe gesprochen werden, als die ersten An-
sätze melodischer Bildung anzusehen haben. Die Steigerung des Gefühls- •
ausdrucks, für den die gewöhnliche Sprache nicht mehr ausreicht, schafft
diese Art primitivster Musik; großer Schmerz, große Freude schafft sich
selbst den Ton.
Am wichtigsten wird diese Art Musik und am meisten entwickelt sie Götterkultus.
sich im Dienste der Gottheit. Nichts beweist mehr unsere Behauptung,
daß das Wesen auch dieser Musik Ausdruck sei, als die Tatsache, daß
für die Anrufung der Götter sich bei allen Völkern sehr bald typische
Tonformeln bilden, daß das Wort allein nicht genügt, sondern daß der
Ton der Verehrung der Überirdischen einen besonderen Nachdruck, einen
besonderen Ausdruck geben muß. Die Steigerung des Gefühlslebens, die
der Verkehr mit den unbekannten Mächten hervorruft, die Erregung, die
selbst beim plumpesten Götzendienst über den Naturmenschen kommt,
verlangt die Sprache der Töne. Da im Kultus der meisten Völker als
weiteres Ausdrucksmittel zu der rhythmisierten und melodisierten Sprache
(beides natürlich in der primitivsten Manier) meist die erregtere Sprache
der Gebärde, d. h. der Tanz, hinzutritt, so können wir in der musikalischen
Kultur der Naturvölker bereits das Vorhandensein aller der Elemente
konstatieren, die in den größten Kunstwerken der fortgeschrittensten
Kulturen eine Rolle spielen.
Der Völkerpsychologie wird dabei noch zu untersuchen bleiben, ob Metaphysik der
gewisse Rhythmen und gewisse Tonverbindungen konventionell als mit
einem gewissen Ausdruck verbunden angesehen werden, d. h. ob ein
Volk durch Gewohnheit eine bestimmte Sorte Ausdruck gleichsam durch
die Art von Tonfortschreitungen symbolisiert, oder ob in der Natur der
Rhythmen und Töne ein gewisses Etwas ist, was notwendigerweise eine
für alle Menschen gültige typische Gefühlsbedeutung hat. Sieht man
mit Schopenhauer und Wagner in der Musik mehr als eine bloße Nach-
ahmung, die nichts als Eidola, Abbilder, gibt, sieht man in ihr eine un-
mittelbare Verlebendigoing der „Idee", des Wesens der Welt oder des
Willens, so wäre man wohl genötigt, diese Einheitlichkeit der Verbindung
eines Ausdruckswertes mit einer bestimmten Tonverbindung anzunehmen.
Erachtet man diese Theorie jedoch lediglich als eine interessante philo-
sophische Spekulation, so hindert nichts, diese Verbindung von Gefühls-
wert und melodischer bzw. rhj-thmischer und harmonischer Natur als durch
die Gewohnheit erzeugt, als konventionell anzusehen. Wir würden dann
z. B. die gefühlsmäßige Tatsache, daß wir mit den beiden Tongeschlechtern
von Dur und Moll gewisse Ausdrucktypen verbinden, nicht dem Wesen
dieser Tongcschlechter, sondern der Macht der Gewohnheit, der Erziehung
.-2 Georg Göhler: Die Musik.
zuzuschreiben haben, genau wie man es als symbolische Auffassung be-
zeichnen kann, wenn wir mit Farben, wie rot und schwarz, einen gewissen
Gefühlsausdruck verbinden, der nicht im Wesen, in der Idee dieser Farben
selbst begründet liegt.
Na-urvüiker. IL Die Entwicklung der musikalischen Kultur. Auf der primi-
tiven Kulturstufe der Naturvölker fehlt natürlich völlig die theoretische
Erwägung solcher Fragen. Wie sich das ganze Leben den Bedürfnissen
und dem triebmäßigen Gefühlsleben gemäß entwickelt, so sind auch alle
musikalischen Äußerungen unreflektiert und bilden sich auf dem dunklen
Boden des Gefühlslebens vielleicht mit Nachahmung der Töne, die die
umgebende Natur dem Ohre als Vorbilder liefert.
Hebräer. Das erste Volk, bei dem wir von einer wirklichen musikalischen
Kultur reden können, sind die Hellenen. Bei den Hebräern sind gewiß
im Kulte ihres Gottes die musikalischen Ausdrucksmittel schon ziemlich
reiche gewesen; die vielen erhaltenen Gesänge, die Instrumente, deren
Namen genannt werden, das alles läßt auf eine ziemlich entwickelte
Musikübung schließen. Auch daß die Macht der Musik, die Ausdrucks-
fähigkeit der Töne erkannt war, beweisen Erzählungen wie die von
Davids Saitenspiel vor Saul. Doch können wir hier, wo wir von der
Kulturbedeutung der Musik im allgemeinen zu reden haben, ruhig die
Musik der Hebräer wie die der alten Kulturvölker des Ostens unberück-
sichtigt lassen und gleich die wesentlichsten Elemente der althellenischen
Musikkultur kurz bezeichnen.
Musikkultur Den Griechen verdankt die musikalische Kultur des Abendlandes
der Hellenen, ^-^veierlei, zunächst die Ausbildung der musikalischen Theorie und dann
die Grundlegung der musikphilosophischen Spekulation.
Es ist klar, daß eine wirkliche Entwicklung einer Kunst unmöglich
ist, wenn nicht die Grundlagen ihrer Technik theoretisch festgestellt, so-
zusagen lehrbar gemacht sind. Ohne diesen theoretischen Ausbau eines
Systems bleibt wie alles Handwerk so auch alle Kunst dem Zufall über-
lassen und erreicht sehr bald den toten Punkt, von dem aus kein Fort-
System der schritt mehr zu erzwingen ist. Dieses System für die Musik geschaffen
Musiktheorie. ^^ ^abeu, ist das Verdienst der griechischen Musiktheoretiker. Von der
späteren abendländischen Theorie ist es dadurch völlig verschieden, daß
ihm der Begriff des Zusammenklangs, der Harmonie gänzlich fehlt. Die
Musikübung der Griechen kannte nur einstimmige Musik; wirkten mehrere
Stimmen oder Stimmen und Instrumente zusammen, so gab es nur Ver-
dopplung und Tonverstärkung oder Zufügung einzelner Noten, die aber
kein harmonisches Ganze ergaben. Die ganze Theorie beschränkt sich
also auf rhythmische und melodische Untersuchungen. Die Art des Fort-
schreitens von Ton zu Ton, die Beziehungen der einzelnen Melodietöne
zueinander, die Intervallenlehre wurde theoretisch festgelegt. Dabei
wurden so viele Ergebnisse gewonnen, daß die gesamte Musiktheorie des
II. Die Entwicklung der musikalischen Kiiltur. 4^^
Mittelalters auf diesem in hellenisch-alexandrinischer Zeit gelegten Funda-
ment sich aufbaut Diese Tatsache zeigt die Külturbedeutung dieser Seite
der griechischen Musikpflege, die infolgedessen im 19. Jahrhundert auch
von zahlreichen Forschern, Musikern wie Philologen, behandelt worden ist.
Verhältnismäßig zurückgetreten ist gegenüber diesen Arbeiten über Hellenische
° ° r. • 1 l'liilüsophio der
die musiktheoretischen Leistungen der Griechen das Studmm ihrer speku- .viuäik.
lativen Musikphilosophie. Erst in neuester Zeit hat Hermann Abert in
seiner „Lehre vom Ethos in der griechischen Musik" alles das zusammen-
gefaßt, was griechische Philosophen und Musiktheoretiker über dieses
Thema geäußert haben. Danach ist die hellenische Musikkultur bereits
zu einer außerordentlichen Höhe philosophischer Kunstbetrachtung fort-
geschritten gewesen, zu einer Höhe, die eigentlich erst im 19. Jahrhundert
durch die Betrachtungen wieder erreicht worden ist, die Männer wie
Schopenhauer, Wagner und Nietzsche über die Metaphysik der Musik
aufgestellt haben.
Schon bei den griechischen Denkern begegnen wir dem scharfen Idealismus und
Gegensatz zwischen Formalisten und Idealisten in der Auffassung der
Musik. Schon hier sehen die einen in der Tonkunst nur eine Nach-
ahmung, ein Spiel mit tönenden Formen, einen Sinnenreiz, der an sich
gleichgültig ist und nur überschätzt schädliche Wirkung ausüben kann, die
anderen dagegen eine innerliche Macht, eine sittliche, geistige Kraft, ein
Movens idealster Art. Fast alles, was die neueste Musikästhetik vor-
gebracht hat, ist wenigstens im Keime in dieser Kunstlehre vorhanden.
Die Zahlenmystik der Pythagoräer, die von dem tönenden, harmonischen
Weltganzen, von der Musik der Sphären reden, ist ebenso bekannt wie
die Bestimmungen, die Plato für die Musikpflege in seinem Staat gegeben
hat. Alle diese der idealistischen Richtung der Musikästhetik angehörigen
Philosophen sind überzeugt, daß die Musik imstande sei, durch eigene
Kraft, durch das Wesen ihrer Tongeschlechter auf das sittliche Leben
der Menschen zu wirken, und zwar nicht bloß ganz allgemein belebend
durch eine Art Nervenreiz, sondern direkt bestimmend, zu Gut und Böse
anregend, je nach der Art ihres Ausdrucks. Sowohl die einzelnen
Rhythmen, als auch die einzelnen Stimmlagen, ganz besonders aber die
einzelnen Tonarten haben eine ganz spezifische, genau bestimmbare Wir-
kung. Plato verbietet gewisse Tonarten für seinen Staat wegen ihrer
entsittlichenden, verweichlichenden Wirkung; in den Untersuchungen der
Musikphilosophen nimmt die Charakterisierung dieser verschiedenen Ton-
arten stets großen Raum ein. Überall aber findet man die Kunstlehre
nicht vom ästhetischen, sondern vom ethischen Standpunkt genommen
bei dieser Gruppe von Philosophen. Die Kunst ist auf diese Weise mit
dem Leben, mit der Gesamtkultur weit inniger verbunden, als wir z. B.
in der Gegenwart gewöhnt sind, es zu empfinden. Kunstgenuß ist nichts
sittlich Indifferentes; die intensive Beschäftigung mit gewisser Musik kann
sogar etwas direkt Unsittliches sein.
Dis KrcTUR DER Gbobkwart, I, 1. 28
A-iA Gkorc. Göhlek: Die Musik.
Es versteht sich von selbst, daß gegen diese außerordentlich vertiefte
Auffassung" der Musik Männer auftreten mußten, die, weniger musisch
veranlagt, in dieser Überschätzung von Gefühlswerten eine Gefahr für
den denkenden Menschen sehen mußten. Immerhin scheinen diese For-
malisten nicht nur die späteren, sondern auch die für die eigentliche
hellenische Kultur weniger maßgebenden Geister gewesen zu sein und
erst mit dem Niedergange dieser Kultur mehr Bedeutung gewonnen zu
haben. Zweifellos ist, daß beide Gruppen sich der außerordentlichen
sinnlichen Wirkung der Musik bewußt waren. Während aber die Forma-
listen dieses sinnliche Spiel mit Tönen entsprechend niedrig eingeschätzt
wissen wollten, um den Verstand des Menschen frei von dem Über-
wuchern künstlerischer Elemente zu halten, suchten die Idealisten den
Grund dieser außerordentlich starken Gefühlswirkung der Töne in einer
geistigen Kraft, die ihnen innewohne und imstande sei, den Charakter
eines Menschen zu beeinflussen und zu lenken. Es ist einer der deut-
lichsten Beweise für den Reichtum der griechischen Kultur, daß derartige
feine psychologische Probleme bereits die Geister beschäftigten.
Christentum. Mit dem Zusammeubruch dieser alten Welt war natürlich für Jahr-
hunderte ein Weiterdenken dieser Gedankenreihen unmöglich geworden.
Die christliche Kultur hatte mit ihrer Abwendung von den sinnlichen
Elementen des Lebens keinen Raum für solche Spekulationen. Die ger-
manischeu Elemente aber, die durch die Völkerwanderung wenig-stens
vorübergehend in den äußerlichen Besitz des alten Kulturbodens gelangten,
bedurften jahrhundertelanger Entwicklung, ehe sie an ein Aufnehmen und
Weiterbauen dessen gehen konnten, was sie als Reste jener alten musi-
kalischen Kultur vorgefunden hatten.
Christlicher Träger der im Gegensatze zur griechischen natürlich ziemlich un-
bedeutenden musikalischen Kultur wurde zunächst die Geistlichkeit. Wie
wir schon bei den Naturvölkern sahen, daß die Musik eines der wichtig-
sten Elemente für den Götterkult ist, weil durch die Töne die gefühls-
mäßige Wirkung der Worte gesteigert wird, so ist auch in der christlichen
Religionsübung die Musik sehr bald einer der wichtigsten Faktoren. Man
wird z. B. die Tatsache, daß im Kultus der Kirche alle Lektionen aus
der Heiligen Schrift nicht gelesen, sondern im Lektionston gesungen
wurden und werden, gewiß damit erklären können, daß man fühlte, wie
die Musik das Wort aus dem Profanen des täglichen Gebrauchs in eine
höhere Sphäre hebt. Für den Ausbau des Kultus der christlichen Kirche
hat die Musik im Laufe der Jahrhunderte eine Bedeutung gewonnen, von
der man sich nur einen Begriff machen kann, wenn man alles, was die
liturgischen Bücher der christlichen Kirche enthalten, überschaut. Die
Kirche ist sich der Macht der Töne über das Empfindungsleben des
Menschen auch jederzeit bewußt gewesen und hat, weil sie vor allen
Dingen den fühlenden Menschen für ihre Feiern braucht, ihr den breite-
sten Raum in ihrem Kultus angewiesen.
II. Die Entwicklung der musikalischen Kultur. atc
Theoretische Grundlage dieser christHchen Musik bildete das Ton- Nrusikii.corie
System der alten Griechen, das allerdings wesentlich umgestimmt wurde und "' ' '^^ "'
verändert werden mußte, als die Mehrstimmigkeit sich einzubürgern be-
gann. Noch ehe diese große und rasche Entwicklung sich vollzog, hatten
aber auch die Träger weltlicher Macht und Kultur der Entwicklung welt-
licher Musikübung den nötigen Boden verschafft. Träger dieser frühesten Minnesängor.
deutschen weltlichen Musikkultur sind die Fürsten und der Adel an
ihren Höfen. Man darf die Bedeutung der Musik für die Kultur an den
Höfen der Minnesängerzeit nicht unterschätzen und vor allen Dingen
nicht vergessen, daß die hohe Entwicklung der Lyrik ohne die Musik
kaum denkbar gewesen wäre. Denn jene Lyrik ist doch keine Buch-
lyrik, sondern Gelegenheitdichtung zum lebendigen Vortrag gewesen;
auf diesen aber, wie auf den Aufbau und die Gliederung der Gedichte
haben musikalische Elemente zweifellos mitbestimmend gewirkt. Wenn
uns auch heutzutage, da jene Gesänge noch ohne die harmonische Grund-
lage gedacht sind, ohne die wir fast keine Musik empfinden können, diese
Musik nicht auf der Höhe der Dichtungen zu stehen scheint, so dürfen
wir daraus doch nicht auf einen geringen Zeitwert dieser musikalischen
Leistungen schließen. Die ganze Literatur jener Zeit spricht so viel von
Sängern, von ihren Liedern und Tönen, daß wir an jenen Höfen eine
wirkliche musikalische Kultur, die für das gesamte geistige Leben ihre
große Bedeutung hatte, durchaus annehmen müssen. Auch daß sich dieser
Kunstübung, als die wirtschaftliche Bedeutung des Adels durch das
Emporkommen reicher Bürger vermindert wurde, dann diese Bürger auf
ihre Art annahmen, daß dem Minnesänger der Meistersinger nachfolgte, be-
weist, daß hier eine lebens-, eine zeugungsfähige Kultur vorhanden war.
Freilich war für die Zukunft viel wichtiger, daß in der Zeit vom 12. .Mehrstimmige
bis zum 16. Jahrhundert die mehrstimmige Musik aus ganz unbeholfenen
Anfängen sich rasch zu glänzender Vollkommenheit entwickelte. Die
Geschichte dieser Entwicklung kann in un.serem allgemeinen Überblick
nur insoweit beachtet werden, als sie kulturelle Folgen gehabt hat. Das
spezifisch Musikgeschichtliche und Theoretische muß die spezielle Ab-
handlung über dies Gebiet nachholen.
Zweifellos ist es für die Beurteilung des musikalischen Kulturstand-
punktes eines Volkes sehr interessant zu wissen, warum es nicht zur
Mehrstimmigkeit kommt. Bei den Hellenen scheint außer der Art ihrer
Musikübung, die vor allem beim Vokalgesang, der überwog, Deutlichkeit
des Wortes verlangte, die Bildung ihrer Tongeschlechter der Mehr-
.stimmigkeit hinderlich gewesen zu sein. Bezeichnend ist jedenfalls,
daß mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit im Mittelalter die Über-
windung des Systems der griechischen Tonarten, aus denen sich die so-
genannten Kirchentonarten entwickelt hatten, und die Einführung des
modernen Dur-Moll-S)-.stems verbunden war.
Wie kam aber das Mittelalter zur Mehrstimmigkeit? Zweifellos nicht
28*
436
Georg Göhler: Die Musik.
auf dem Wege theoretischer Spekulation, auf dem späterhin manche neue
Kunstform gesucht wurde, sondern durch die Praxis der Kunstübung.
Aus dem verstärkenden Begleitinstrument beim Gesang bildete sich eine
neue Stimme, und nun wurden gewisse Arten von Zusammenklängen als
vorteilhafter, als natürlicher empfunden als andere. Die Theorie bemäch-
tigte sich des neuen Problems und bildete im Laufe von Jahrhunderten
in umständlichen Untersuchungen die Regeln für den mehrstimmigen Satz
aus. Noch nicht aufgeklärt sind die Gründe, weshalb diese neue Kunst
von England, Nordfrankreich und den Niederlanden ihren Ausgang nahm.
Zu vermuten ist, daß hier, bevor die geistliche privilegierte Tonkunst und
ihre Theoretiker der neuen Kunstübung ihre Aufmerksamkeit zuwandten,
als eine wilde Pflanze weltlicher mehrstimmiger Gesang aufgewachsen
war, der sich unbelastet durch theoretische Untersuchungen auf das Urteil
des Ohres verließ.
Mensuralmusik. ErstaunUch Und ein Beweis für die Bedeutung der Musik im Leben
jener Zeit ist die Zahl oder besser Unzahl von Kompositionen, die in
diesem neuen mehrstimmigen Satze geschrieben wurden. Da wir oben-
drein annehmen müssen, daß aus der Entwicklungs- und Blütezeit der
kontrapunktischen oder Mensuralmusik, wie sie genannt wird, besonders
vor der Erfindung des Notendrucks eine Menge von Material verloren
gegangen ist, kann man aus diesem Reichtum an noch vorhandenen
Kunstwerken den besten Schluß auf das musikalische Leben der Zeit
machen. Denn man darf nicht vergessen, daß jener Zeit unser Begriff
der Musikliteratur völlig fremd ist, daß alle diese Werke als Gelegenheit-
arbeiten für den praktischen Gebrauch geschrieben wurden und nicht wie
bei uns sehr häufig als Handels- und Geschäftsartikel. Wir werden auf
diese Tatsache, die für die Einschätzung des Kulturwertes der Musik
äußerst wichtig ist, noch zurückkommen müssen, wenn wir von der Gegen-
wart reden.
Die Kirche als Der größte Teil jener mehrstimmigen Tonsätze ist geistlichen In-
"Kunst. "' halts. Die Kirche hat sich um die Entwicklung der musikalischen Kultur
ein außerordentliches Verdienst dadurch erworben, daß sie der Musik ein
so großes Feld zur Betätigung anwies. Tat sie dies auch, wie wir ge-
sehen haben, aus dem natürlichen Grunde, der alle Völker für ihre reli-
giösen Übungen und die Verehrung der Gottheit die Musik zu Hilfe
nehmen läßt, so ist doch die Bedeutung, die der musikalischen Erziehung
bei der Ausbildung für den geistlichen Stand zugesprochen w^urde, be-
Musikunterricht, sonders zu rühmen und könnte für die Gegenwart vorbildlich sein. Die
Musik nahm in den Lehrplänen aller höheren Schulen am Ausgang des
Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit einen sehr wichtigen Platz ein.
Infolgedessen waren sehr viele gelehrte Männer gute Musiker, mindestens
Freunde der Musik, und fast alle Musiker gleichzeitig tüchtig allgemein
gebildet. Die Musik war kein Luxus, sondern gehörte mit zur Bildung
fürs Leben, war ein wirklicher Kulturfaktor. Daran war zweifellos schuld,
n. Die Entwicklung der musikalischen Kultur. ^^7
daß die Schulen vor allen Dingen Vorbereitung'san.stalten fürs geistliche
Amt, als solche von der Kirche geleitet und dotiert waren und daß diese
für ihren Kultus nicht nur zur Leitung des Chors, sondern auch der
reichen Liturgie wegen unter den Geistlichen tüchtige Musiker brauchte.
Selbstverständlich profitierten davon auch die Schüler, die sich nicht dem
geistlichen Stande zuwandten, und infolgedessen war unter den Rats-
herren und an den Höfen jener Zeit eine außerordentliche Menge gut
gebildeter Musikfreunde zu finden. Aber auch das Volk hatte Nutzen wdtiichoMusiic.
von diesen Zuständen. Eine Menge weltlicher vierstimmiger Lieder, die
nicht so sehr zahlreich geschrieben und gedruckt worden wären, wenn
man sie nicht gesungen hätte, beweisen, daß der weltliche Gesang in den
Bürgerkreisen jener Zeit sehr gepflegt wurde. Freilich — zum Glück —
nicht in Vereinen oder Konzerten, sondern im Leben. Bei frohen Festen
in der Familie, in Dorf und Stadt, bei Spiel und Tanz sang man diese
„Gassenhawerlin", von denen sich manche Weise volkstümlicher Art als
weltliches Lied oder als Choral bis heute erhalten hat. Der Unterschied
„geistlich" und „weltlich" war damals in der Kunst wie im Leben noch
nicht so scharf. Hatte eine Weise als Liebeslied Popularität gewonnen,
so fand sie mit einer „Parodie", d. h. einem geistlichen Text, ihren Weg
auch in die Kirche.
Die außerordentliche Macht, die damals, an der Wende von Mittel- Reformation,
alter und Neuzeit, die Musik hatte, ihre lebendige Kraft als wirklicher
Kulturfaktor läßt sich mit nichts schlagender beweisen als mit dem Er-
folge, mit dem sie Luther in den Dienst seiner Reformationsidee nahm.
Man darf in Luthers musikalischer Begabung nicht etwas Absonderliches,
Außergewöhnliches sehen. Wie wir gesehen haben, hatten die Gebildeten
jener Zeit fast alle eine tüchtige musikalische Erziehung genossen und
verstanden sich auf Kunstübung und häufig auch auf Tonsatz. In einer
Zeit, die so mit Musik aufwuchs, lag nichts näher, als die sammelnde und
fortreißende Kraft dieser Kunst zu benutzen, um eine große geistige
Bewegung bis in die weitesten Kreise des Volkes zu verbreiten.
Der Choral, das geistliche Volkslied, ist darum eine so mächtige Der evange-
lisctic Choral.
Hilfe bei der Propaganda für die Reformation geworden, weil im Volke
der Geist der Musik lebendig war, weil es in seiner Kultur so weit war,
um den Gefühlswert dieser Töne zu verstehen, sich von ihm erfassen zu
lassen. Andererseits hat diese Verwertung der Musik zur Verbreitung
einer neuen geistlichen Kultur wieder die Folge gehabt, daß die musika-
lische Technik sich den Bedürfnissen der Bewegung fügte, daß der Satz
der Gesänge vereinfacht wurde, daß an die Stelle kunstvoller Kontra-
punktik schlichter homophoner Satz trat, der dann wieder den Sieg der
einstimmigen, begleiteten Musik vorbereiten half. Jedenfalls gehört das
Refonnationszeitalter zu den Zeiten, in denen die Musik eine außerordent-
lich wichtige kulturelle Rolle gespielt hat und deren musikalische Erzeug-
nisse infolge dieses Erstandenseins aus dem wirklichen Leben bleibenden
438
Georg GÖHr.ER: Die Musik.
Kunstwert behalten haben. Denn nur was aus dem Leben geboren ist,
hat Lebenskraft in der Kunst.
Dio Renaissance Kurz nach der Reformationszeit ereignet sich eines der eigentüm-
hchsten Vorkommnisse in der Kulturontwickkmg der Musik. Die Speku-
lation, der reflektierende Verstand wollte ihr eine neue Bahn weisen und
wies sie ihr auch. Und auf dieser Bahn kam sie zu einer Fülle neuer
Möglichkeiten. Das scheint den eben ausgesprochenen Satz von der
Lebensfähigkeit der Musik zu widerlegen. Doch nur scheinbar. Es muß
darauf hingewiesen werden, daß erstens jene theoretischen Versuche nur
etwas künstlich ausbrüten wollten, was durch die natürliche Entwicklung
bereits fast zur Reife gebracht worden war, und daß zweitens gerade das,
was man hatte erzielen wollen, nicht erzielt wurde. Man wollte Indien
entdecken und fand Amerika.
Das Jahr 1600. Es handelt sich um die einstimmige begleitete Musik. Uns scheint
das etwas so Einfaches und Selbstverständliches wie Dampfmaschine und
Telephon. Und doch datiert vom Jahre 1600, das man als runde Zahl für
das Auftreten der Monodie annimmt, eine rapide Entwicklung der ver-
schiedensten Kunstformen, ein Fortschritt im Kunstleben, der wohl mit dem
verglichen werden kann, den jene technischen Erfindungen im äußeren
Leben hervorriefen.
Die Florentiner. Ich Sagte, die Sache sei theoretisch erklügelt worden. Die Finder
bildeten sich wenigstens ein, diese Neuheit sei ihrem Geiste zu danken.
In Italien .stritten sie sich darum, wer sie wohl zuerst entdeckt habe, die
nuove musiche. Florentiner Edelleute, die das griechische Drama wieder
lebendig machen wollten, stellten als wichtigste Forderung auf, daß es zum
Verständnis des Textes unbedingt notwendig sei, auf den künstlichen
Kontrapunkt mehrerer Stimmen zu verzichten und nur eine Stimme mit
Begleitung singen zu lassen. Den neuen Stil, die Monodie erfunden zu
Die nuove haben, rühmten sich aber bald auch andere. Man kann diese ganzen
Streitigkeiten ruhig übergehen, wenn man bedenkt, daß auch ohne die
glücklichen Finder die Entwicklung der Musik zu diesem Stil gekommen
wäre, zu dem sie drängte. Schon hatte sich neben der Vokalmusik die
Instrumentalmusik entwickelt; zur Stärkung des Chors, zur Ergänzung
fehlender Stimmen wurden Streich- und Blasinstrumente und Orgel zuge-
zogen, die wohl oft die Neben.stimmen selbständig ergänzten und nur die
melodieführende den Sängern überließen; der protestantische Choral mit
seinem einfachen Satz lud direkt dazu ein, alle Begleitstimmen einem In-
strument zu übertragen und die Melodie, die die Gemeinde sang, darüber
schweben zu lassen; die Lautenmusik, die sehr entwickelt war, förderte
diese Art der Musikübung ebenfalls aufs entschiedenste. Kurz — es
mußte so kommen, auch wenn die Theoretiker des griechischen Dramas
nicht gewesen wären.
Die enorm rasche Entwicklung des neuen Stils bestätigt unsere Be-
hauptung, daß eine ihm günstige Strömung bereits in der Luft lag. In
musiche.
II. Die Entwicklung der musikalischen Kultur.
439
Sieg de*
lividualismus.
'I'cchaische
l'orUchrittc.
einem halben Jahrhundert hatte er in dem ganzen kultivierten Europa auf
der ganzen l.inie gesiegt. Für die musikalische Kultur war damit außer-
ordentlich viel gewonnen, denn jetzt erst war völlige Freiheit der Ent-
wicklung nach allen Richtungen, jetzt erst die Möglichkeit zu den ver-
schiedensten Kombinationen gegeben.
Es war eine Art Befreiung des Individuums aus dem Zwange gesell-
schaftlicher Gebundenheit, ein Sieg des Individualismus, der jeder Stimme,
jedem Instrument das Recht zu selbständiger Entwicklung gab. Man wird
finden, daß dieser Fortschritt in der Musik Fortschritten auf anderen gei-
stigen Gebieten, wo dieselbe Befreiung bereits etwas früher erreicht war,
mit Notwendigkeit folgen mußte. Die Musik, die am spätesten entwickelte
der Künste, konnte erst jetzt in diese Phase eintreten, nachdem die nötigen
technischen Grundlagen für die neue x\usdrucksweise geschaffen waren.
Um so rapider gfing nun die Bebauung des gewonnenen freien Feldes
vor sich. Notwendigerweise mußte die Befreiung aus den Fesseln der
Rücksicht auf andere Stimmen zu einem Kultus, zu einem Sport in der
möglichst großen Ausnutzung dieser Freiheit, in der möglichst kühnen
Betätigung der Selbständigkeit führen. Die Anfäng-e des Virtuosentums
im Gesang und auf den Instrumenten, die bereits genügend vervollkommnet
waren, mußten sehr bald bemerkbar werden. Die Grundlagen der Technik
der höheren Gesang- und Geigenkunst sind in jenen Zeiten gelegt worden.
Waren die größten Auswüchse reinen Virtuosentums späteren Zeiten vor-
behalten, so war daran nur die gesündere musikalische Gesamtkultur und
die Mangelhaftigkeit verschiedener Instrumente schuld, die erst den neuen
Anforderungen entsprechend vervollkommnet werden mußten.
Deutschland blieb zunächst dieser Entwicklung der Technik am meisten Deutschland
fem, weil seine wirtschaftlichen Verhältnisse ihm keine luxuriöse Musik-
pflege gestatteten. Trotzdem ist gerade in den Zeiten wirtschaftlicher
Depression, wie sie die Kriege des 17. Jahrhunderts brachten, die Musik
eine Macht gewesen, die den deutschen Geist lebendig erhielt. Hier
zeigte sich der Segen der guten Tradition des Reformationszeitalters, das
in seinen Schulen, wie wir gesehen haben, eine Menge tüchtiger Musiker
erzogen und durch sie den Sinn für Musik im Volke sehr lebendig ge-
macht hatte. Die Kantoreien in den deutschen Städten waren damals
Schützer deutscher Kunst und die Studenten an den deutschen Hoch-
schulen die regsten Musikfreunde. Neben der geistlichen Musik, die, halb
in der neuen Form, halb in der Weise des 16. Jahrhunderts weiter lebte
und überall rege gepflegft ward, hatte die musikalische Renaissance von
1600 den Deutschen eine der schönsten Gaben gebracht, die die Geschichte
seiner Musik seitdem ziert, das Lied. Diese anspruchslose Kunstform, als
deren Vater man Heinrich Albert nennt, die aber gleichzeitig an mehreren
Orten aus vorhandenen Keimen sich entwickelte, war im 17. Jahrhundert
neben der geistlichen Chormusik und der aufblühenden Instrumental- und
Orgelmusik der reichlichste Bestandteil der deutschen Kunstpflege, und
Uu Lied.
_, ,Q Georg fiiim.KR: Die Musik.
ist es als spezifisch deutsche Kunstform geblieben. Es ist oft darauf hin-
gewiesen worden, daß der Franzose einfach das Wort „le lied" übernommen
hat, wenn er bezeichnen will, was wir unter Lied verstehen, weil die Aus-
drücke seiner Sprache den Begriff nicht in der gehörigen Weise decken.
Von der Kulturmacht des deutschen Liedes zu reden ist nicht nötig. Es
verdankt sie seiner Anspruchslosigkeit, dem Reichtum seiner Formen und
Farben, der Wahrheit seines Gefühlsausdrucks und hat mit ihr besonders
in den Zeiten, da deutsches Wesen in der Welt nicht viel galt, den deut-
schen Geist am Leben erhalten helfen,
itaiisn. In Italien war die Entwicklung der neuen Kunst infolge der günsti-
geren äußeren Verhältnisse weit glänzender als in Deutschland. Hier
wurden die großen musikalischen Formen gefunden und ausgebildet, die
bis zur Gegenwart die Grundlage des musikalischen Schaffens geblieben
sind. Oper, Oratorium, Sinfonie, die Namen stammen von daher, und
wichtige Bestandteile ihrer späteren Gestaltung sind auf jene glänzende
Entwicklung zurückzuführen. Als musikalisches Kulturland stand damals
Italien unbedingt weit über Deutschland, und unsere ganze musikalische
Kultur dankt jener Zeit ihre wertvollsten Anregungen. Träger der Kultur
waren in Deutschland zunächst wesentlich die Gebildeten, die Studierten.
In Italien dagegen einzelne Mäcene, die kleinen Höfe, die reichen Städte.
Hier entwickelte sich jene Kunstgattung, die als Gradmesser für musika-
Die Oper, lischc Kultur SO gut brauchbar ist, die Oper. Die Verbindung von Szene
und Musik wurde freilich nicht erreicht wie bei den Hellenen, deren Drama
man hatte wieder beleben wollen. Aber die neugefundene Kunstgattung
erwies sich doch als so lebensfähig, daß sie von Italien aus mit der italie-
nischen SjDrache ihren Siegeszug durch das ganze gebildete Europa hielt.
Was bereits vor 1600 begonnen hatte, wurde nun zur Sitte. Italien
zu bereisen, dort Musik zu studieren, dort Triumphe zu feiern, ward das
Ziel der weltmännisch veranlagten Musiker. Und bei den Italienern, dem
Volk mit dem natürlichen Instinkt für Klang und Wohllaut, bildete sich
naturgemäß auch zuerst der Kultus der schönen Stimme, der Virtuosität
aus. Es ist leicht verständlich, daß diese Richtung der Verflachung leichter
ausgesetzt war als die musikalische Kultur der Deutschen. Immerhin
G. F. Händel, war sic notwendig. Und was sich in ihr erreichen ließ, daß wirklich
große, monumentale, weltbeherrschende Kunst ohne sie überhaupt unmög-
lich war, das zeigt G. Fr. Händel, dieser in der Schule der Italiener groß-
gewordene Deutsche, dessen universale künstlerische Begabung und dessen
außerordentliche Kulturbedeutung gerade für die Gegenwart leider noch
viel zu wenig- erkannt ist. Die Mischung deutscher und italienischer Kunst
hat diesen Großen künstlerische Taten verrichten lassen, die selbst Beet-
hoven am Ende seines Lebens noch zur staunenden Bewunderung' dieses
größten Musikers veranlaßten. Wir haben in Händel den T3rpus eines
Repräsentanten der vollendeten weltmännischen musikalischen Kultur,
der so verschieden von dem trotz einiger italienischer Einflüsse ganz im
II. Die Entwicklung der musikalischen Kultur. 44 1
enercn Bezirke der damaligen deutschen Kultur erwachsenen Bach ist, j. s. Bich.
daß man beiden unrecht tut, wenn man ihre Naturen aneinander mißt.
Bachs Leben und Schaffen gibt die charakteristischsten Bilder aus der in
stiller Zurückgezogenheit weiterwachsenden mitteldeutschen Musikkultur,
die sich ohne Berühung mit der an den Höfen eingeführten italienischen
Kunst bei ihrer beschaulichen Geistesrichtung wohlfühlte.
Wie alle Kulturfortschritte schließlich aus der Wechselwirkung ver-
schieden gearteter Elemente erklärt werden können, so wird man auch
die Entwicklung der deutschen Musik bis zu Beethoven so darstellen
können, daß man sagt, die großen Formen der weltmännischen italienischen
Kunst seien, als der Kultus des virtuosen Elementes und die Verflachung
und Veräußerlichung ihres Geistes sie immer tiefer sinken ließen, durch
Berühung mit der in der stillen Zurückgezogenheit echt und kräftig ge-
bliebenen deutschen Kunst neu belebt worden. Denn nichts wäre tö- Mozart und
Gluck.
richter, als leugnen zu wollen, daß in einem Künstler wie Mozart eme
Unmenge italienischer Elemente wirksam gewesen sind, nichts einfältiger,
als verkennen zu wollen, daß eine Menge Anregungen aus Frankreich,
dessen musikalische Kultur auf italienischer Grundlage ruhte, nach Deutsch-
land kamen. Auch Gluck ist genau wie Händel ohne den kosmopolitischen
Grundzug seiner Kunst nicht denkbar.
In Deutschland hatten von jeher die Höfe die prunkendere italienische nie deutschen
Hofe.
Kunst vorgezogen und fanden auch nach 1800 nicht gleich den Weg zu
der neuentwickelten deutschen Kunst. Als deren Schirmstätten muß man
in jener Zeit mehr als früher und mehr als gegenwärtig verschiedene
Zentren musikalischer Kultur unterscheiden. Das wichtigste war unzweifel- wieo.
haft Wien; dort aber hat als der bedeutendste und regste Träger der musi-
kalischen Kultur in dieser Glanzzeit deutsch -österreichischer Kunst der
österreichische Adel zu gelten. Er gab mit seinen Privatkapellen der
Entwicklung der neuen Instrumentalmusik die notwendigen Pflegestätten,
er gewährte zu einer Zeit, da die politischen Verhältnisse der Kunst wenig
günstig waren, ihr Heimatrecht bei sich.
Im bürgferlichen Xorddeutschland waren es die Vereinigungen von Nord-
* . . deutschland.
Studenten und Bürgern, die die nötigen Sammelpunkte für die Musik-
pflege schufen. Das musikalische Vereinswesen, Instrumental- und Gesang-
vereinswesen entwickelte sich rasch und bildete die Grundlage für das
moderne Konzertleben.
Das Bild der musikalischen Kultur wurde dadurch außerordentlich Konzenweicn.
verändert. Bi.sher war alle Musik eigentlich Gelegenheitmusik gewesen.
Am frühesten war wohl die Oper, die ehemals auch für festliche Tage in
fürstlichen Häusern als besonders reiche Gelegenheitmusik komponiert
worden war, zum Schaustück für Geld geworden, das Opemkomponieren
also zur Spekulation auf Erfolg. Und doch waren auch die Werke dieser
Gattung meist für ein bestimmtes Opernhaus und für ein be.stimmtes Spiel-
jahr geschrieben.
^, , Georc Göhi.kk : Din Musik.
Durch die Ausbildung;- dos Konzertwesens wird nun dieselbe Alöglich-
lichkeit, Werke zu verbreiten, auch für die Instrumental- und Gesangs-
kompositionen, die nicht für die Bühne bestimmt sind, geboten. Der
Komponist schreibt nicht mehr im Auftrage oder von Amts wegen, der
Zuhörer verbindet den Musikgenuß nicht mit festlichen Tagen, sondern
geht ex professo als Musikfreund in ein Konzert, zunächst meist als
tätiges, spielendes oder singendes Mitglied, bald aber nur als Zuhörer, als
Genießer. Die Musikkultur des ig. Jahrhunderts ist charakterisiert durch
die immer mehr verbreitete und immer mehr zur Mode gemachte Sitte
des bloßen Musikgenusses, durch die sich immer und immer mehrende
Masse von Gelegenheiten zum Musikhören, schließlich durch die immer
größer werdende geschäftliche Verwertung künstlerischer Größen. Doch
ehe wir diese Kehrseite der Medaille betrachten, muß mit einigen Worten
der Kulturfortschritte gedacht werden, die seit jener Zeit, d. h. seit Beet-
hoven, die Musik gemacht hat.
Beethoven. Becthovcu kann in gewissem Sinne als der Musiker gelten, der, ohne
sie gekannt zu haben, die Lehre vom Ethos in der Musik, von dem die
alten griechischen Philosophen redeten, wieder aufnahm, als der erste, der
mit Bewußtsein philosophische, metaphysische Musik schrieb. Seine Musik
ist keine Gelegenheitmusik im Sinne der früheren Jahrhunderte mehr,
keine angewandte Kunst, sondern freie Bekenntnismusik. In gewissem
Sinne wird damit auf die Uranfänge der Musik zurückgegangen. Aus-
druck dessen, was unsagbar ist, wofür das bloße Wort nicht genügt. Die
Tatsache, daß Beethoven für die ganze musikalische Kultur des ig. Jahr-
hunderts und damit auch noch für weitere Zukunft mehr bedeutet, als alle
früheren Musiker zusammengenommen, ist nur dadurch zu erklären, daß
er seiner Musik den ethischen, den metaphysischen Hintergrund gegeben
hat, daß sie auf nichts ruht als auf den großen, die Welt umspannenden
Gefühlen eines der tiefst veranlagten Menschen.
Man kann auf diese Bedeutung der Kunst Beethovens nicht nachdrück-
lich genug hinweisen. Die alles überragende Stellung, die er einnimmt,
ist mit Gründen musikalisch -technischer Art nicht erklärt. Was ihn von
denen vor, um und nach ihm trennt, ist nicht eine besondere Art Musik,
sondern seine Persönlichkeit, nichts Ästhetisches, sondern das Ethische.
Metaphysik d« Als Musiker im Sinne der idealistischen griechischen Philosophie ist
'^""''' Beethoven auch heute noch unerreicht, ist er auch heute noch das größte
Vorbild für alle künstlerisch begabten Menschen, die diesen Kunstgeist
als den einzig lebengebenden in sich fühlen. Es ist fast selbstverständlich,
daß erst, nachdem in Beethoven dieser Geist wieder Mensch geworden
war, die Denker sich wieder den tiefsten Problemen der philosophischen
Musikbetrachtung zuwenden konnten. Das ig. Jahrhundert er.st brachte so
die Renaissance von Gedanken, die in der Ethoslehre der alten Griechen
bereits niedergelegt worden waren. Schopenhauers, Wagners und Nietzsches
Namen können hier nur genannt werden, um zu beweisen, ■ daß die Kultur-
II. Die Entwicklung der nuisil<nlischcn Kultur. 443
bedeutuiij^ dpr Musik nach Beethoven von Künstlern und Philosophen auch
zum Gegenstände theoretischer Untersuchungen gemacht wurde.
Daß Künstler wie Wagner und Liszt diese Kulturbedeutung Beet- Wagnor, usn.
hovens erkannten und empfanden, daß sie in dem, was Beethoven ohne
Theorie, allein aus seiner großen Menschennatur der Kunst gewonnen
hatte, das eigentliche Wesen der Kunst der Zukunft erkannten, das machte
sie zu Reformatoren auf den verschiedensten Gebieten der Musik. Vom
Künstler menschliche, geistige Größe und Freiheit, von der Kunst Lebens-
gehalt und Wahrheit zu fordern, das wurde nun die Losung aller, die auf
dieser Bahn vorwärts strebten.
Man sieht immer noch bei der Beurteilung der Kunst nach Beethoven
viel zu sehr auf Äußerlichkeiten und nebensächliche Dinge und verkennt
den Fortschritt, der in der Vertiefung der ganzen Kunstauffassung, in der
Verschmelzung von Kunst und Leben beruht, in der sittlichen Bewertung
künstlerischer Äußerungen.
Gewiß kann man diesen höchsten Maßstab nur an ganz wenig Kunst-
werke anlegen, gewiß haben nur wenig Künstler und Laien die geistige
Größe, um diese Kunstauffassung zu teilen, aber daß sie vorhanden, daß
sie wiedergewonnen ist, muß als einer der wichtigsten Kulturfortschritte
in der ganzen Entwicklung angesehen werden.
Daneben spielen natürlich eine Menge niederer Kräfte und Mächte i>as 19. Jahr-
^ * hundert.
durcheinander, die die Geschichte der musikalischen Kultur des 19. Jahr-
hunderts so buntscheckig machen wie die keiner früheren Periode. Es
wäre völlig sinnlos, wollte man diese Elemente als künstlerisch minder-
wertig einfach ausschalten und ihre zum Teil ganz enorme Wirkungs-
fähigkeit nicht anerkennen. Gerade daß gewisse Kunstrichtungen, die
ästhetisch und ethisch tiefer stehen, ganze Jahrzehnte beherrscht haben,
ist charakteristisch für die gesamte geistige Kultur dieser Zeiten. Wer Mcycrbeer.
wollte z. B. leugnen, daß Meyerbeer für ein gewisses Zeitalter als typischer
Repräsentant eines großen Bruchteiles seiner Gesamtkultur zu gelten hat?
Wer wollte verkennen, daß Richtungen wie die Mendelssohns und seiner Mendciwohn.
Anhänger und Nachfolger ungemein charakteristisch für das gesarate
geistige Niveau einer gewissen Gesellschaftszone sind und da zur Aus-
prägung einer Abart von Kultur zweifellos viel beigetragen haben? Aber
eben weil diese und manche andere Richtungen in der Musik nicht im
Anschlüsse an Beethoven der Musik den Boden gaben, aus dem sie einzig
ewige Lebenskraft saugen konnte, war die größte Kulturwirkung dem
Wagner-Lisztschen Kreise vorbehalten, in dem weiter an der Aufgabe ge-
arbeitet wurde, der Musik die Zunge zu lösen zum Ausdrucke alles dessen,
was im Tiefsten der menschlichen Psyche schlummert und was keine Rede
verdeutlichen kann. Selbstverständlich wurde dadurch die Kunst immer vcrfcincruog
komplizierter, die Nuancen der einzelnen Gefühlswerte immer differen-
zierter, und nur geistig hochstehende Menschen vermochten ganz in ihre
Geheimnisse einzudringen. Der Reichtum und die Feinheit dieser Sprache
AAA GK.ORr, GÖHi.K.K: Die Mvisik.
brachten es natürlich mit sich, daß der Nervenapparat des Menschen in
der denkbar stärksten Weise angespannt wurde, und so ergab sich beim
Versenken in diese Kunst häufig- als Folge nervöse Überreizung-. Es ist
hier nicht der Ort, zu entscheiden, ob das nachteilig für den Kulturwert
dieser Kunst ist, oder ob man abwarten soll, ob Geschlechter, die bereits
moderner aufgewachsen sind, widerstandsfähiger gegen diese Kunst sein
werden. Zum mindesten scheint zu bedenken, daß gewisse Werke Beet-
hovens genau dieselbe höchste Spannung der Nerven verlangen, wenn
auch der sinnliche Klangreiz noch nicht in der künstlichen Weise der
Neuen verfeinert ist.
vervoiikomm- Eine der Hauptaufgaben der Nachfolger Beethovens war ja, die musi-
Technik. kaiische Technik so zu vervollkommnen, daß die Musik zum Ausdruck
der feinsten Schattierungen jedes Gefühls fähig wurde, daß sie als wirk-
liche Sprache gebraucht werden konnte. Dabei wurden selbstverständlich
ihre Grenzen verschoben, zunächst sogar vielfach weit in das Gebiet an-
derer Künste hinein. Alle Zeiten des Fortschritts sind Zeiten der Ver-
irrung. Auf dem rechten Wege bleiben da nur die Größten, und auch die
heutzutage nicht mehr aus Instinkt, sondern bewußt, aus Prinzip.
Alle Zeiten des Fortschritts sind Zeiten des Kampfes. Die Leichen
auf den Schlachtfeldern der Musikgeschichte des ig. Jahrhunderts füllen
einen stattlichen Friedhof. Requiescant in pace. Sache der Musikhisto-
riker wird es sein, jedem seinen Nekrolog zu schreiben. Hier können wir
nur der Kämpfe selbst gedenken als eines charakteristischen Merkmals
für die Musikkultur des 19. Jahrhunderts. Auch frühere Zeiten sahen
schon einzelne Fehden künstlerischer Richtungen; in dieser Allgemeinheit
und mit solcher Erbitterung wie im 19. Jahrhundert war aber wohl noch
nicht gekämpft worden. Als Grund kann man wohl angeben, daß wie die
allgemeinen Kulturunterschiede immer zahlreicher und immer mehr abge-
stuft wurden, so auch die Unterschiede im künstlerischen Empfinden. Da-
durch, daß einer Menge Menschen, die überhaupt in früheren Zeiten nichts
von Kultur wußten, oft mit Gewalt aufgezwungen wurde, was sie nie ver-
mißt hatten, kamen zum Kunstgenuß eine Menge Menschen, bei denen
die Organe dafür noch ungenügend entwickelt waren. Die Mode fing an,
eine Rolle zu spielen, die Kunstheuchelei begann zu blühen.
Proletarisierung Die Demokratisierung des ganzen Lebens führte zu einer Proletari-
sierung auch derjenigen Kunst, die dafür am wenigsten geeignet war.
Wie sie die höchsten Höhen gewann, so wurde die Musik auch in die
tiefsten Tiefen der modernen Kultur hinabgezogen. Die Zeit der Wagner-
festspiele, der Beethovenfeste ist gleichzeitig die Blütezeit des Berliner
Gassenhauers. Von einer einheitlichen musikalischen Kultur kann nicht
mehr die Rede sein. In früheren Zeiten waren im wesentlichen einzelne
Stände Träger dieser Kultur gewesen, die dann stets ihre bestimmte
Farbe gehabt hatte. Jetzt haben wir ein buntes Durcheinander, ein un-
zusammenhängendes Nebeneinander der verschiedensten Elemente, und
in. Die Zukunft der musikalischen Kultur.
445
wenn auch unter den Musikern selbst die Gegensätze der einzelnen Par-
teien nicht mehr so schroif zu sein scheinen, wie zu der Zeit, da die neu-
deutsche Kunst um die Vorherrschaft rang, so ist die Verwirrung jetzt
dadurch größer, daß der Verbrauch von Musik außerordentlich gestiegen
ist und daß für jede Art Lebensauffassung heutzutage auch die passende
Art Musik von zahlreichen Produzenten und Reproduzenten prompt ge-
liefert wird.
III. Die Zukunft der musikalischen Kultur. Die Zukunft der
musikalischen Kultur zu betrachten ist unter diesen Verhältnissen keine
dankbare Aufgabe. Zu weissagen ist an sich stets ein heikles Ding; und
nun gar noch aus einem so tollen Vielerlei, wie es das Musikleben der
Gegenwart ist, herauslesen, was fallen, was bleiben, was werden wird?
Und doch muß diesem kurzen Überblick über die Entwicklung und den
Stand der musikalischen Kultur noch ein Ausblick folgen. Ungefähr muß
sich andeuten lassen, nach welchen Zielen die Kultur, die wir erreicht
haben, weiter zu lenken wäre, wo ihr Gefahren drohen, wo ihre schwachen
und starken Seiten zu suchen sind.
Es ist schon gesagt worden, daß von einer einheitlichen künstlerischen
Kultur keine Rede mehr sein kann. Solange die ganze Weltanschauung
der Menschen, ihr Urteilen und Fühlen dem Weltganzen wie dem einzelnen
Menschen gegenüber so zerfahren, so ohne Grund und Halt ist, solange
die widersprechendsten Lebensauffassungen die einzelnen Kreise des Volkes
beherrschen, so lange ist an eine große einheitliche, künstlerische Kultur
nicht zu denken, die eben nur auf dem Boden einer geschlossenen, großen
Lebensanschauung möglich ist. Wir werden uns also damit begnügen
müssen, die wesentlichsten Faktoren, aus denen das Gesamtbild der musi-
kalischen Kultur sich ergibt, einzeln zu betrachten. Dabei kämen als
Schöpfer der Kulturwerte die Komponisten, als Vermittler alle reprodu-
zierenden Künstler, als Träger der Kultur aber die musikfreundlichen
Glieder fast aller Stände in Betracht
Es ist bereits angedeutet worden, daß eines der Zeichen der Zeit die überkuUur.
Tatsache ist, daß künstlerische Werte immer mehr zu Geschäft-, zu Speku-
lationsartikeln werden. Hier zeigt sich aufs deutlichste der Zusammenhang
der musikalischen Kultur mit der allgemeinen, d. h. mit ihren Fehlem und
Gefahren. In der Musik ist dieser Umstand der direkte Beweis des Vor-
handenseins einer Überkultur gewisser Kreise. Die Kunst ist ja heutzu-
tage gerade für die Menschen, die sich als Laien am meisten mit ihr be-
fassen, kein Glied im lebendigen Organismus des Lebens mehr, kein
konstruktiver Teil, sondern ein Anhängsel, ein Ornament. Die angewandte
Musik hat den reichen Boden, den sie besaß, Stück für Stück verloren,
und nun wird in einem Ziergarten als Luxuspflanze geduldet und gehegt,
was eine frische Feldblume sein sollte. Infolgedessen sind die Vermittler
der Kunst, die Ausführenden, für die Kunstpflege außerordentlich wichtig
446
Georg Göhlf.r; Die Musik.
Schutz der
Kuust!
geworden. Früher war der Laie viel mehr selbst tätig" als Ausübender,
jetzt ist er's meist nur als Zahler. Infolge der immer stärker werdenden
geschäftlichen Einflüsse ist dem Vermittler immer mehr der Sinn dafür
abhanden gekommen, was er vermittelt, nämlich Kunst. Er vermittelt
etwas Gutbezahltes, eine Ware.
Geschäftskunst. Unser ganzes öffentliches Musikleben leidet seit Jahren unter diesem
Fluch des Geschäftsgeistes. Die Mächte, die hinter den Kulissen dieser
weltbedeutenden Bretter arbeiten, die Agenten haben eine so außer-
ordentliche Macht, daß eine große Anzahl Künstler von Kulturaufgaben
überhaupt nichts mehr weiß. Unser Konzertleben ist zur Hälfte minde-
stens ohne alle Bedeutung für die musikalische Kultur des Volkes, ja
direkt schädlich, weil durch das Massenangebot und die oft widerliche
Reklame die Achtung vor dem Geiste der Kunst immer mehr schwindet.
Wie kann auch ein Gebildeter Achtung vor einem Künstler haben, dem
es erstens ganz gleichgültig ist, unter welchen äußeren Verhältnissen er
sich produziert — der Artistenausdruck paßt sehr gut daher! — , in welcher
Zusammenstellung- er seinen Zuhörern Werke bringt und ob er mit minder-
wertigen Werken den Geschmack des Publikums verdirbt.
Hier liegen zweifellos große Gefahren vor, die die deutsche Musik-
überkultur nach und nach immer widerlicher machen werden. Angebot
und Nachfrage ist in den großen Städten im schreiendsten Widerspruch;
in den kleinen Städten aber liegt die Ansteckungsgefahr durch den Ge-
schäftsgeist der Zentralen sehr nahe, durch den dann eine gesunde, schlichte,
bodenständige Kultur oft in wenigen Jahren vernichtet wird.
Die Aufgaben, die hier zum Schutze der Kulturwirkung der Musik
vorliegen, sind zum Teil schon in Angriff genommen. Die Proteste gegen
die zwecklose Konzertiererei ohne künstlerische Absichten mehren sich,
der Kampf gegen die geschäftlichen Veranstaltungen reklametüchtiger
Agenten wird von verschiedenen Seiten, wenn auch noch viel zu zaghaft,
geführt, die Forderung künstlerisch zusammengestellter Konzertprogramme
wird nicht nur erhoben, sondern immer mehr, wenn auch nicht von den
großen Modegöttern, erfüllt. Die Hausmusik, die vor einigen Jahrzehnten
noch in den mittleren Ständen die schönste Blüte einer gesunden musi-
kalischen Kultur war, findet wieder Verteidiger und Freunde. Das Volks-
lied, das dem Gassenhauer weichen zu müssen schien, soll wieder an seinen
Ehrenplatz gerückt werden.
Das alles sind gute Mittel, um den Gefahren der öffentlichen Musik-
pflege zu begegnen. Das alles muß kräftig gefördert werden, wenn die
Zukunft der deutschen Musik nicht der Mode, dem Zufall und den Geld-
interessen einzelner überlassen werden soll. Leider haben gerade die
Großen im Lande der Kunst keine Zeit für solche Kultur der Musik,
sondern nur für die ihrer Eitelkeit und ihrer Finanzen.
Das Theater. Neben dem Konzertsaal ist der Bühne die größte Macht über die
Menge gegeben, die für Musik empfänglich ist. Von der Bühne ist aber
III. Die Zukunft der musikalischen Kultur. 447
wenig zu erwarten. Die deutschen Opernbühnen leben von Wagner und
einigen neuen und alten Schlagern, sie sind fast alle auf Geldeinnahmen
angewiesen und können Kulturaufgaben höchstens nebenher lösen. Auch
über den Einfluß Wagners auf weitere Kreise gebe man sich keinen Illu-
sionen hin. Künstlerisch vertiefte Kultur darf man nicht nennen, was zu
drei Vierteilen leider Mode ist. Die ständige Bühne, die nur Werke, die
einst gToßen Kulturwert gehabt haben oder noch haben, aufführen könnte,
i.st noch nicht vorhanden. Und wer wollte schließlich leugnen, daß der
„Trompeter von Säkkingen" auch Kulturwert hat, daß er wenigstens einer
der wertvollsten Kulturmesser ist, daß er für die Kultur des zwischen
Bier und sentimentalen Gemütstrieben hin- und herpendelnden deutschen
Philisters die richtige Musik war, und daß die Tausende von Aufführungen,
die das Werk schon erlebt hat, aufs deutlichste beweisen, wie viele Ver-
treter dieser Kultur noch in hohen und niederen Volksschichten vegetieren.
Das ist selbstverständlich und nicht zu bejammern. Alle große geistige
Kultur kann nur wenigen eigen sein.
Viel schmerzlicher ist's, wenn sich die wenigen gerade nicht unter Mangel an
denen finden, die Schöpfer der Kultur sein sollten! Auf diesem Stand- Persönlich-
punkte aber stehen wir leider heutzutage. Seit Liszt und Wagner, seit
ßrahms und Brückner tot sind, ist der Gedanke an künstlerische Kultur,
an geistige Führerschaft in der Musik einer der wenigst erfreulichen.
Sagen wir's glatt: wir haben keine geistigen Führer. Sicher eine Menge
stiller, ernster Geister, vielleicht irgendwo im Verborgenen schon einen
Großen, dessen Name noch völlig unbekannt ist, aber kein geistiges Ziel,
keine Kultur.
Wir leben in den Tagen der Sensation, der Mode, der musikalischen
Experimente, des Artistentums.
Alle großen Kulturfragen der Kunst werden ohne Teilnahme der
Mehrzahl der Schaffenden in Angriff genommen. Gedanken, wie sie den
Wagner-Lisztschen Kreis bewegten, haben für viele der maßgebendsten
Komponisten kein Interesse. Ein geistiger Stillstand und Rückschritt ist
ganz zweifellos zu konstatieren. Denn die Sucht nach neuen Reizen und
Effekten hat mit geistigem F'ortschritt nichts zu tun. Dagegen nehmen
materielle Fragen einen großen Platz in der Diskussion ein. Unter dem
Schutze eines neuen Urheberrechtsgesetzes, das ohne alles Verständnis für
den Kulturwert der Kunst und die Nationalökonomie der geistigen Güter
gemacht ist und eine der verfahrensten und beklagenswertesten Leistungen
deutscher Gesetzgebung darstellt, versuchen eine große Anzahl deutscher
Komponisten als das Wichtigste für die Zukunft der deutschen Kunst
die strenge Durchführung eines rein materiellen Geschäftsprinzips hin-
zustellen.
Hier sind zweifellos alle Zeitalter der Kun.stgeschichte dem unsrigen
voraus und man ist berechtigt, von einem Niedergange der künstlerischen
Kultur bei einer Menge von Komponisten zu reden. An die Stelle der
448
Georg Göhlek: Die Musik.
Kunst und
Leben.
Schule.
Schafteiisfreude, der Lust am Musizieren, des künstlerischen Bekenntnisses
ist in vielen Fällen der Gedanke getreten, für den Kunstmarkt einen ren-
tablen Absatzartikel zu liefern. Wie degenerierend derartige Zustände,
wenn sie von Dauer sind, auf die gesamte künstlerische Kultur wirken
müssen, das wird jeder einsehen, der weiß, wie sehr die Menge gerade in
der Kunst der Führung durch große Idealistermaturen bedarf.
Es scheint leider zu befürchten, daß für eine Reihe von Jahren von
den deutschen Komponisten nichts Ersprießliches für die Pörderung der
künstlerischen Kultur des Volkes zu erwarten ist. Und deshalb müssen
alle die guten Kräfte, die in der großen Masse als dem eigentlichen Sub-
jekte dieser Kultur vorhanden sind, von anderer Seite so energisch als
möglich gefördert werden.
Dem Volke muß eine Kunst erhalten werden, die nicht als äußerlicher
Flitter seinem Leben lose aufgeheftet wird, sondern die in inniger, orga-
nischer Verbindung mit diesem ganzen Leben steht. Ihm muß alles er-
halten oder wiedergewonnen werden, was frühere Zeiten an angewandter
Musik besaßen, was bei frohen und ernsten Anlässen die Stimmung stei-
gern, den Ausdruck des Gefühls vertiefen und reinigen half. Spiel und
Gesang muß aus dem Leben mit Ursprünglichkeit hervorquellen, die Lust
an der Kunst muß erhalten bleiben, Zwang und Überdruß muß schwinden
und jeder muß die Art Kunst pflegen dürfen und können, die seinem
ganzen geistigen Niveau entspricht. Also kein Rückschritt, keine Ver-
dammung des Neuen und Komplizierten, kein Dogma, sondern nur keine
Lüge, keine Mode, kein toter Schein!
Wichtig ist vor allen Dingen, daß jeder Mensch die Art Musik als
tägliches Brot erhält, die seinem gesamten Gefühlsleben entspricht. Die
Musik kann, wenn sie recht gepflegt wird, dann eine soziale Macht sein,
die belebend auf den ganzen Körper des Volkes einwirkt.
Wer wüßte nicht, was dem Soldaten seine Marschmusik ist, wie die
Klänge beleben, anfeuern, beglücken, das Gefühl der Gemeinsamkeit stärken?
Man sollte diese zusammenschließende und fortreißende Macht der Töne
mehr ausnützen, sollte sich der Reformationszeit erinnern und dem Volke
die Lust an der lebendigen Pflege der Kunst nicht verwehren, sondern
immer mehr erleichtern.
Eine der schönsten und wichtigsten Aufgaben fällt zur Erreichung
dieses Ziels dem Gesangunterricht in den Volksschulen zu, der die Liebe
zum Gesang nicht ertöten, sondern beleben, der den Kindern nur die
besten Volkslieder und Choräle als unveräußerliches Eigentum mit ins
Leben geben und alles streng verbannen sollte, was jetzt leider sehr oft
dem Kind als Festmusik für allerhand Schulfeiern eingedrillt wird! Man
bringe den Kindern durch die Art des Unterrichts bei, daß ihr Gesang
nur eine gesteigerte, gefühlsreichere Sprache ist, lasse sie deshalb nur
singen, was sie fühlen können und was echt gefühlt ist, also vor allen
Dingen Volkslieder und Choräle, und wecke das Gefühl dafür, daß die
ni. Die Zukunft der musikalischen Kultur. ^^q
Kunst eine Macht ist, deren ethische Kraft auch der schlichte Mensch aus
dem Volke in vielen Lebenslagen erproben kann.
Außerhalb der Schule sind alle die Bestrebungen zu fördern, die chorgesang.
dieser Art Kunstpflege gewidmet sind, also vor allen Dingen alle Chor-
vereinigungen. Denn das Wichtigste ist, daß der Mensch nicht bloß für
Geld Musik hört, sondern selbst mit hilft, künstlerisch tätig zu sein; das
aber kann er am besten im Chor. Daneben ist allem häuslichen Musi- »..nsmi.sik.
zieren, das nicht auf selbstgefälliges Sichproduzierenwollen hinausläuft,
segensreiche Pflege zu wünschen. Vor allen Dingen aber hätten die vielen
Tausende von Musiklehrern dafür zu sorgen, daß alle ihre Schüler nur
gute Musik und nur solche treiben, die ihrem geistigen Bildungsgrad ent-
spricht. Es nutzt nichts, Wagner Leuten vorzusetzen, die die inneren
Mächte, die in dieser Kunst leben, nicht verstehen, weil sie nicht die
ganze moderne Kultur in sich aufgenommen haben. Man soll überhaupt
die Massen viel weniger zum Fortschritt treiben als zur Bewahrung aller
der großen, alten Kunst, die Lebensdauer hat. In unserer raschlebigen
Zeit verlischt vieles rasch, was schön erscheint und blendet; und die Zeit,
die der Laie darauf verwendet, es kennen zu lernen, ist nutzlos verbracht.
Unsere modernen Komponisten freilich, die ja mehr auf ihren Erfolg als SensatioMsucht.
auf die Kultur des Volks bedacht sind, und die ihnen befreundeten Kri-
tiker verbreiten die falsche Lehre, die wahre moderne Kultur bestehe
darin, immer neuen Sensationen nachzugehen, d. h. jede Modetorheit mit-
zumachen. Durch diesen Irrtum ist leider ein gxites Stück deutscher
Musikkultur verloren gegangen, denn diese Modeexperimente sind nicht
Ausdruck eines allgemein -gültigen oder besonders tiefen menschlichen
Fühlens, sind keine wahre Sprache, sondern Spielereien mit gefühlsarmen
Wortscherzen; und über dem Kultus dieser Artistenkunst ist der Sinn für
die großen Wahrheiten tiefer, wenn auch schlichterer Kunstwerke bereits
vielfach verloren gegangen.
Kulturwert hat nur eine Kunst, die aus dem Leben des Volkes er- Grunjuge
wächst und diesen Nährboden nicht verläßt; Kulturwert hat nur eine Musik, Tis.hor k."^1„t'
die dem Urgründe alles Musikalischen treu bleibt, die Sprache und Aus-
druck eines wirklich Empfundenen bleibt und aus dem Bedürfnisse ge-
boren ist, diesem tief Gefühlten den einzig möglichen Ausdruck, nämlich
in Tönen, zu geben.
Möge der Weg zu dieser Art Musik und zu der mit ihr zu gewinnen-
den Höhe geistiger Kultur immer von denen gekannt werden, die dahin
Führer oder Pilger sein sollen.
Die Kultur ukr Gbgbswakt. I. i. 29
Literatur.
Die meisten allgemeinen Geschichtswerke und Musikgeschichten behandeln mehr oder
weniger ausführlich auch die Kulturbedeutung der Musik. Ebenso finden sich in den
Schriften von Philosophen ältester und neuester Zeit viele Gedanken zu diesem Thema.
Aus zeitgenössischen Briefwechseln ist auch mancherlei für die Beurteilung der musikalischen
Kultur des betreffenden Zeitabschnittes zu entnehmen.
Einzelne Schriften besonders hervorzuheben, würde bei der Allgemeinheit des Themas
und der Fülle des weitverstreuten Materials ein falsches Bild ergeben. Für eingehendere
Untersuchungen wären außer den Schriften und Briefen von Musikern auch die zahlreichen
musikalischen Zeitungen — wenn auch mit Vorsicht — als Hilfsmittel zu benützen.
DAS THEATER.
Von
Paul Schlenther.
I. Religiöse Ursprünge des Theaters. Das Theaterspiel ist ein
Kind des Gottesdienstes. Fast immer stieg im Laufe der Kulturentwick-
lung aus heiligen Handlungen die dramatische Kunstübung zu ihren steilsten
Höhen empor. Aus dem Opfertische des Bakchos entstand das attische
Schauspielhaus (Theatron). Aus dithyrambischen Chorgesängen derer, die
zu diesem Gott des Weines und der Weltlust lallten, entstanden in Athen
Komödie und Tragödie.
Ein anderes Mal war es kein weltfroher Heidengott, sondern die Unterg-ing dea
christliche Kirche selbst, die dem zerstörten 1 heaterwesen wieder einen
Grund legte. Das lebendige Kunsttheater hellenischer Größe war ver-
sunken, auch seine kümmerlichere römische Nachahmung' nahezu ver-
schollen. Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes waren ein Jahr-
tausendlang Namen ohne Begriff. Terenz, Plautus, Seneca lebten nur
durch den toten Buchstaben ihrer Handschriften in stillen Klosterzellen
fort, und es klingt wie ein Wunder, wenn man hört, daß sich im lo. Jahr-
hundert die einsame Nonne von Gandersheim theaterfromd an Nach-
bildungen der Terenzischen Muse vergnügte. Es galt als ausgemacht,
daß die wenigen aus dem Altertum erhaltenen Stücke für die Lektüre,
höchstens für die V'orlesung eines einzelnen Sprechers bestimmt waren.
Daß diese Stücke Theaterstücke waren und einer Schauspielkunst zu
dienen hatten, blieb unbeachtet. Der bühnenfeindliche, darum kunstfeind-
liche Begriff des Buchdramas, des „kielkröpfigen" Lesedramas, wie Wila-
mowitz sagt, nistete sich so fest, daß er noch heute nicht auszurotten ist.
Weitab von solchen gelahrten Exerzitien nährte sich der Menschen spiciicuir.
angeborener Spieltrieb, der Trieb zu Vortrag, Wechselrede, Verkleidung
und handelnder Bewegung. Während die alten Theaterdichter im Schutt
lagen, befriedigte fahrendes Volk diesen Trieb. Es waren die Erben spät-
römischer Gaukler. Sie rissen an den Höfen und bei städtischen Lestlich-
keiten Possen tausenderlei Art, und unter diesen Varietekünsten dürften
schauspielerische Effekte, wie Nachahmung von Personen, Charakteristik
29*
,,, Paui. Scht.knthf.r: D.is Theater.
durch Mienenspiel, Stimmenwochsel und Maske nicht gefehlt haben, aber
sie frönten der niedrigsten Schaulust und schlössen ihre Produktionen
weder durch Form noch durch Tendenz zu einem einheitlichen Ganzen
zusammen.
Gottesdienst. Erst an Gottes Altären durch Diener Gottes heiligte ein Zweck diese
volkstümlichen Mittel, Teilnahme zu erregen. Langsam ordnete sich das
Wirrsal willküriichen Schaugepränges und Marktgeschreis zu einer ge-
wissen Gesetzmäßigkeit innerhalb bestimmter Maße und Grenzen. Im litur-
gischen Dienst entwickelte sich aus der Predigt ein Wechselgesang zwischen
Priestern und Gemeinde oder zwischen zwei Gruppen der Gemeinde.
Diese Ansätze zum szenischen Dialog wurden dadurch dramatisch ge-
steigert, daß sich der dialogische Hymnus mit Prozessionen und Zere-
monieen (Grablegung) verband. Es galt nicht nur Andächtige in feierUcher
Stimmung zu halten, sondern auch Gleichgültige und Widerspenstige durch
äußere Reizmittel herbeizuzwingen, durch die Sinne auf den Glauben zu
wirken. Es war ein genialer Einfall der mittelalterUchen Kirche, die
Menge durch ihren Spieltrieb ins Gotteshaus zu rufen, die Bilder, die
an den Kirchenwänden hingen, in lebendige Bewegung zu setzen und
dadurch ihre Vorgänge anschaulicher, glaubhafter, überzeugender zu ge-
stalten. Dieser propagatorische Zweck, der den attischen Dionysosspielen
vollkommen fehlte, wurde seit dem 12. Jahrhundert überall erreicht, wo
geistliche Kultur hindrang: in Italien, in Frankreich, in England, in Deutsch-
land. Wie in Attika aus den Komois die Komödie entstanden war, so
Geistliche entstanden auch hier aus feieriichen Umzügen, dargestellt von Priestern und
Spiele. Klosterschülern, geistliche Spiele, denen man den Zauber der Seltenheit
dadurch lieh, daß man sie auf die großen Feiertage beschränkte. Die
Kirchenfeste mehrten die Macht der Kirche, weil sie nicht nur sammelten
und erbauten, sondern auch zerstreuten und erfreuten. Zunächst trat nur
das Leben des Heilands selbst in die Darstellung. Man sah um die
Weihnachtszeit das süße Jesulein im Schöße der Gebenedeiten, umgeben
von den Hirten oder von den prächtig daherwallenden drei Königen; man
sah zu Ostern den Leichnam Christi beweint von Frauen und Jüngern
und dann ihn auferstehen in seiner Macht und Herrlichkeit, die sich schon
zu kleinen Ausstattungskünsten hergab. Nicht nur die Geburt, sondern
auch das Grab des Erlösers bereitete durch diese Spiele Freude auf
Erden; denn bloße Trauerspiele, bloße Tränenwirkungen hätten auf die
Dauer versagt. Das Volk will auch jubeln. Mit der Zeit erweiterte sich
der Kreis. Des Glaubens liebstes Kind ward und blieb durchs ganze
Mittelalter das Marienmirakel. Eine bunte Fülle von Licht und LiebUch-
keit strömte vom Ewig-Weiblichen herab. Zu Christus, dem dramatischen
Haupthelden, und seiner Mutter traten die Heiligen; ihre Legenden gaben
genug Stoff, der nicht nur auf Herz und Geist wirkte, sondern auch
die Sinne reizte. Um den Eindruck zu stärken, wurde alles so augen-
fällig wie möglich vorgeführt. Mit Botenberichten, Chorbetrachtungen,
I. Rcli^ösc Ursprünge des Theaters. ^ c 5
geistigen Diskursen, wie sie das antike Drama liebte, durfte man die
GafFlust dieses Publikums nicht abspeisen. So gewannen die religiösen
Schauspiele aus ihrer Tendenz heraus eine stark realistische Farbe,
wodurch sich ihre dauerhafte Wirkung erklärt. Je breiter aber das
Publikum zuströmte, um so unzulänglicher erwies sich das Kirchen-
latcin dieser Anfangsdramatik. Für entlegenere Stoffe konnte nur die
Volkssprache das Verständnis öffnen. Je weiter sich das Stoffgebiet von
Bethlehem und Golgatha entfernte, desto freier wurden Wort, Tracht, Ge-
bärde, Handlung. Der derbe Volkswitz drängte sich zu, der mit Vorliebe
den bösen Teufel zu einem dummen oder armen Teufel umschuf und den
Judas Ischarioth antisemitisch verhöhnte. Zur Andacht trat der Übermut,
zur Feierlichkeit der Schimpf, zum Hymnus die Vagantenpoesie, zum Er-
habenen das Tächerliche, dem Unterhaltenden wich das Erbauliche. Unter
*die priesterliche Saat schien der Erzfeind, vielleicht ein Sendbote jenes
schwelgerischen Heidengotts, sein heimliches Samenkorn geworfen zu
haben. Die Kirchen wurden nicht nur zu klein für den Andrang der
Menge, sondern auch in ihrer Würde bedroht. Denn schon zeigte sich,
daß das Publikum lieber auf die Sünden als auf die Buße Marias von
Magdala einging. Schon wurde beklagt, daß diese spectacula theatrica
Teufelswerke seien und das Gotteshaus entweihten, daß sie zu Aber-
glauben und Weltlust entarteten. Die alte unerloschene Feindschaft
zwischen Theater und Mutter Kirche hub an, das Drama wurde vor die
Kirchentür gesetzt. In der frischen freien Luft konnte es erst zu selbst-
ständiger Bedeutung erstarken. Während sich der erregte Spieltrieb des
Klerus unter strenger Aufsicht aus den Kirchen in die Klöster zurückzog
und dort dem spätem Schuldrama den Boden ebnete, warf sich die
Theaterpassion der Massen auf Markt und Straße. Jetzt erst wurden die
rechten Vorbedingungen zu einer Entwicklung frei. An Stelle des
Kirchengesangs trat die freie gesprochene Rede. An Stelle des Kirchen-
latein traten die Volkssprachen, und so zeigten sich immer deutlicher
nationale Unterschiede. Aus dem allgemein mittelalterlich - mitteleuro-
päischen Drama in den Kirchen wurde ein französisches, ein deutsches,
ein italienisches, ein englisches, ein spanisches Volksdrama und Volks-
theater. Den kirchlichen Ursprung freilich konnten diese Schauspiele
während des ganzen Mittelalters nicht verleugnen. Noch immer trugen
die Darsteller priesterhches Gewand. Wieweit sie von Laien unterstützt,
oder wann sie von Laien verdrängt wurden, ist bei der Dunkelheit des
geschichtlichen Befundes nicht klar. Noch immer lieferten Bibel und
Legenden den Stoff. Er war am willkommensten, weil er dem Publi-
kum, wie den Grriechen ihre Heldensage, am geläufigsten blieb. Solange
die volkssprachlichen Dramen unter geistlicher Herrschaft standen (etwa
bis 1400), bildete sich auch für die Darstellungskunst ein Unterricht aus.
Im ältesten französisch geschriebenen Drama, einem Spiel von Adam und
Eva, finden sich schon Regeln für Vortrag und Geste. Die beiden Ver-
^-4, Paih. Schi.knthhr: Das Theater.
Iricbenen sollen mit kläglicher Gebärde auf ihr verlorenes Paradies zurück-
blicken und sich an die Brust schlagen. Wenn der Mann dem Weibe
die Schuld gibt, soll er höchst mißbilligend den Kopf schütteln. Wenn
von den Söhnen dieses Paares der Bruder den Bruder erschlägt, so soll
er auf das Opfer einen finstern Blick werfen. Diese Anweisungen
stehen im Beginn einer dramaturgischen Regiekunst, deren intimer
t'harakler durch die weitere Entwicklung des Dramas, das nach Gassen-
iind Massenwirkungen strebte, nicht gefördert wurde.
II. Spiele im Mittelalter. Im späten Mittelalter präsentierte sich das
Drama als öffentliche Festlichkeit auf öffentlichen Plätzen aufblühender
Städte. Tagelang wurde gespielt. Die Spieler zählten nach Hunderten. Be-
hörden und Bürger nahmen gleich regen Anteil. Die großen Gemeinwesen
setzten einen Stolz darein, bei diesen Gelegenheiten an Entfaltung von Macht
Myn»ri.,i. und Pracht einander zu überbieten. Für diese großen Spiele wurde von Frank-
reich her im 15. Jahrhundert der Name Mysterien (eigentlich Ministerien) ein-
geführt. Die finanzielle und darstellerische Durchführung so großer umständ-
licher Unternehmungen, die ungeheure Menschenmengen herbeilockten, fiel
immer mehr der Bürgerschaft zu. Aber als Textdichter, die aus der latei-
nischen Kirchenliteratur schöpften, und als Regisseure standen nach wie
vor an entscheidender Stelle die Geistlichen. Je mehr die Ansprüche an
derlei Schaustellungen wuchsen, desto dringender wurde das Verlangen
nach Arbeitsteilung. So kam es, daß die einzelnen Gruppen der Dar-
stellung auf Zünfte und Innungen verteilt wurden. Von unserm modernen
Theater war die Vorführung weit entfernt. Entweder waren die einzelnen
Vorgänge der dramatischen Handlung auf verschiedene Plätze verteilt, so
daß der Zuschauer, oft innerhalb einer Prozession, von Ort zu Ort wan-
dern mußte, oder das Schaugerüst war auf Räder gelegt und wurde an
den dicht gedrängten Zuschauermengen vorüber gefahren. Derlei beweg-
liche Mysterienbühnen verdienten nicht minder als die halb mythische Unter-
nehmung des antiken Ahnherrn Thespis den Namen Karren. Da die My-
sterienbühne drei Welten vorstellen und den Zuschauer vom Himmel
durch die Welt zur Hölle führen mußte, so war jene stockwerkartige Drei-
teilung geboten, die Otto Devrient bei seinen Weimarer Faustaufführungen
1875 nachzuahmen versuchte. Die Form der Bühne hing' von örtlichen
Zufällen ab. In Bourges benutzte man 1536 ein amphitheatralisches Über-
bleibsel aus der Römerzeit. In Cornwall baute man nach antikem Muster
Amphitheater aus Stein und Erde. Mit geschlossenen Räumen begnügten
sich nur die spärlichen Reste des bescheidenen Kirchenspiels älterer Art.
Da Publikum und Darsteller denselben Kreisen angehörten, war
deis Bedürfnis einer Trennung nicht vorhanden. Erst später bediente
man sich eines Vorhanges, zunächst aber nur, um während der großen
Mittagspause die einzelnen Schauplätze mit ihrem Apparat zu verschließen.
1 dieser Apparat wurde immer komplizierter. Man überbot sich im Reich-
n. Spiele im Mittelalter. 455
tum der Kostüme sogar auf Kosten der Richtigkeit: man umgab den
Landpfleger Pilatus mit majestätischem Prunk. Man unterschied immer
raffinierter den Glanz des Himmels von den Greueln der Hölle, man er-
kannte früh den Stimmungsreiz der Musik für Schauspiele. Hierin be-
währte besonders Italien seine alte Vorliebe für bunten Tand. An Aus-
stattungseffekten übertrafen die Florentiner alles Dagewesene: Donner
rollten, Blitze zuckten, Wolken jagten, Drachen spieen Feuer, und der
Engel des Herrn erschien im himmlischen Licht. Schon der Hang zum
Äußerlichen genügte, um den geistlichen Vorgang dieser Spiele immer
mehr hinter allerlei Weltlichkeiten zu verstecken. Schon die Art, wie
sie durch Herolde in Stadt und Umgegend bekannt gemacht wurden, hatte
etwas Marktschreierisches. Hierzu kam, daß sie sich mit der Zeit von
den großen Kirchenfesten lostrennten und im Fasching oder in der warmen
Jahreszeit ein besonderes Dasein führten. Endlich arbeitete ihrer morali-
schen Tendenz, durch Beispiel oder Abschreckung zu bessern oder beim
Anblick der Leiden Christi und heiliger Martern durch Mitleid zum
Glauben zu bekehren, die überwuchernde Komik entgegen, die schon längst
nicht mehr den Zweck hatte, das Böse lächerlich zu machen, sondern Spaß
des Spaßes wegen trieb und angesichts der großen Volksmassen, die ihn
bejubelten, pöbelhaft roh werden konnte, z. B. körperliche Gebresten ver-
höhnte.
Was diese Spiele und Spielereien an moralisch - religiösem Zweck
verloren, erreichten sie keineswegs durch künstlerischen Wert. In keinem
der Kulturländer ist während des Mittelalters ein Dramatiker aufgestanden,
der mit dem Ruck des Genies alle diese bunten Werdekräfte zu einer
einzigen großen dichterischen Erscheinung hätte zusammenfassen können.
Für das Theater der Gegenwart ist kein einziges dieser Spiele nennens-
wert. Die Weltherrschaft der Kirche vermochte es, Gedanken und Emp-
findungen der ganzen mittelalterlichen Menschheit uniformierend, auf der
Grundlage derselben Weltanschauung und desselben Bildungstoffs ein
europäisches Schauspiel ohne Unterschied der Völker und Länder zu
erzeugen, aber sie vermochte keinen Dante des Dramas zu schaffen.
Spuren einer dichterischen Kunst finden sich am ehesten dort, wo der
ursprüngliche Zweck des Spiels am wenigsten erreicht wurde: im komi-
schen Beiwerk. Hier kam den Autoren das dankbarste Publikum ent-
gegen, hier fanden sie die bereitwilligste Darstellung, hier durften sie aus
dem Leben schöpfen. Hier machten sich zuerst innerhalb der kirchlichen
Universalität volkstümliche Eigenheiten bemerkbar. Schon deshalb lag
hier allein der Keim zur Fortentwicklung für das lebendige Theater,
dessen konservierende Kunst die Schauspielkunst ist.
Von den Priestern, den Klosterschülem, später den Bürgern und Komik.
Handwerkern wurde die Schauspielkunst dilettantisch betrieben. Erst im
späten Mittelalter zeigen sich auch bei den Mysterien Ansätze zu einem
berufsmäßigen und geschäftlichen Kunstbetriebe. Die Behörden suchten
456
T'Aur. SiHl.ENTUKK: Diis The;>ler.
die Summen, die sie zu den Spielen beisteuerten, durch Eintrittsgelder
einzutreiben; hiervon gaben sie den Darstellern ein Trinkgeld ab, wodurch
sich die .Spieler kleinen Nebongewinn verschafften, der ihren Eifer be-
flügelte. Auch Fremdlinge bewarben sich gegen ein Geschenk um die
Mitwirkung. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese Fremden oft jene
Spielleute waren, die die mittelalterlichen anekdotischen Schwankerzäh-
lungen der dramatischen Darstellung annäherten und dann mit Hand-
werksburschen und Chorschülern, mit Studenten, Geistlichen, Rechts-
gelehrten und andern Dilettanten in Wettbewerb traten, um endlich nach
langem Ringen das aufblühende Schauspiel für sich und ihr Geschäft zu
ergattern. Das Schauspiel aber blühte durch die Komik auf. Ihre fort-
zeugende Kraft lag vor allem darin, daß sie das Schauspiel vom engen
Kreis heiligen Stoffes loslöste und — die große Errungenschaft des i6. Jahr-
hunderts — dort hineingriff, wo das volle Menschenleben am heillosesten
war. Bei den Mysterien hatte sich der Geist der Zeit nur darin geäußert,
daß man in Galiläa und Jerusalem mittelalterliche Kostüme trug; an Ver-
suchen, das ernste Schauspiel auf Profanstoffe zu übertragen, hat es
zwar nicht gefehlt: Frankreich kann eine „Zerstörung Trojas", ja sogar
mitten aus den Händeln der damaligen politischen Welt hergeholt eine
„Jungfrau von Orleans" nachweisen; aber diese vereinzelten Erscheinungen
blieben Spreu im Wind. Eine feste Grundlage gab dem weltlichen
Drama erst die derbe schwankartige Komik, wie sie sich in den Nürn-
berger Fastnachtspielen eines Folz, Rosenplüt u. a., in den Sterzinger und
Lübecker Spielen, am üppigsten und fruchtbarsten in den Pariser Farcen
der Bazoche entwickelte. Durch diese Gerichtsschreibergilden wurde
Paris zum erstenmal für das europäische Drama tonangebend; hier ent-
stand schon 1470 ein dramatisches Meisterstück derb-possenhafter Satire,
das erste mittelalterliche Theaterstück, dessen Name erwähnenswert ist,
dessen Wortwitz noch heute Flügel hat (revenons ä ces moutons), das
einen Reuchlin, dann auch einen Hans Sachs zur Nachahmung aneiferte,
das die Tradition für eine europäische Komödie begründete und noch
heutzutage hin und wieder auf einem Theater erscheint. Dieser klassi-
sche „Advocat Pathelin", unmittelbar aus den juristischen Fachsimpeleien
seiner Autoren und Darsteller hervorgegangen, in unbewußter Anlehnung
an Plautus diesem gleich, steht zwar an Kunst unerreicht da, in seiner
Art jedoch keineswegs vereinzelt. Wie hier Juristen eine juristische Satire
zur Höhe brachten, so versuchten sich anderswo Studenten und Schüler
durch komische Unterrichts- und Examenszenen; der Bürgerstand verspottete
hochmütig den Bauernstand; der Christ den Juden und auch den Türken;
der Laie den Pfaffen; schon tauchten überall die Tj^en des neuen euro-
päischen Lustspieles auf, in denen sich besonders das Familienleben
beunruhigt zeigt: der g-alante Beichtvater, die treulose Ehefrau, die Xan-
thippe, die bitterböse Schwiegermutter, Und die Autoren waren noch
immer nicht Literaten, sondern Leute, die mitten in den öffentlich ver-
III. Renaissance.
457
spotteten, heimlich bejammerten Qualen des Kleinlebens steckten, Qualen,
die sich bis auf des Leibes Nahrung und Notdurft, Notdurft oft im alier-
leiblichsten Sinn, einengten. Lange vor Hans Sachs gab es in Avignon
schon einen Schu.ster, Jean Belliete, der in drolligen Farcen zu sagen
wußte, was er und seine Nachbarschaft leiden.
Der alte Zweck der Schaubühne als moralischer Anstalt wurde durch Moraiiisico.
diese Schwanke, die nur Schadenfreude, Zotenlust und Gelächter ent-
fesselten, nicht mehr erreicht. Dazu diente eine andere, den Mysterien
entwachsene Gattung, die jenen Zweck schon im Namen deutlich ver-
kündete. Es waren die im Übergange vom Mittelalter zur Reformations-
zeit stehenden „Moralitäten", worin Laster und Tugenden allegorisch als
Personen in reichen Gewändern auftraten und einander mit Gründen
höherer oder niedrigerer Vernunft befehdeten, und die ähnlich wie die
Mysterien aufgeführt wurden, aber auch bei fürstlich-feierlichen Anlässen,
weniger durch das gesprochene Wort als durch prunkhafte Ausstattung,
zur Verherrlichung dienten und bis in die Gegenwart herein eine Tra-
dition für Festspiele und Gelegenheitsstücke einrichteten. Die Gattung
der „Moralitäten" selbst mußte sich freilich früh erschöpfen, denn sobald
die Allegorie in Mode kommt, legt sich die lebendige Poesie, von der
allein das Theater atmen kann, aufs Sterbebett. Da man aber diese
Moralitäten überaus sehenswert ausstattete (sogar Lionardo da Vinci hat
1489 in Mailand dem Apparat einer allegorischen Szenerie seine Kunst
gewidmet) und dem Auge Bedeutendes darbot, konnte, bestärkt durch
jene üppige Schwankproduktion, die „moralische Anstalt" als Schaubühne
wachsen. Während in den Studierstuben der Gelahrtheit die wirklichen
Dramatiker des Altertums ein papiernes Scheindasein führten und nur der
Moralphilosophie oder der Grammatik dienten, hielt ein derb zugreifender,
wenig wählerischer Geschmack das Haus bereit, worin die wiedergeborene
dramatische Dichtung zur dramatischen Kunst erwachen und erwachsen konnte.
IIL Renaissance. Erst durch die frühen Vertreter der Renaissance
wurden jene Fäden gesponnen, die unser modernes Drama vom antiken ab-
hängig machten. Eine ununterbrochene Kette der Entwicklung vom einen
zum andern gibt es nicht. Wenn es den Humanisten gelang, das antike
Drama wenigstens so, wie sie es begriffen oder mißverstanden, der Nachwelt
zu vermachen, so war die antike Bühne bis auf den letzten Grund unwieder-
bringlich zerstört. Mit dem modernen Theater, das sich ganz aus eigenen
Bedingungen aufbauen mußte, hat sie nur den Namen gemeinsam. Darum
muß .sich das, was wir vom attischen Drama auf unser modernes Theater
retten möchten, der Form unserer eigenen Bühne unterwerfen. Nur so
ist eine dauerhafte Wirkung der großen alten Tragiker in die Zukunft
hinaus denkbar. Alle Versuche, den antiken Theaterbau wieder nutzbar
zu machen, werden scheitern, weil sie nicht dem unmittelbaren leben-
digen Kunstbedürfnis dienen, sondern archaistischen Forschungsinteressen.
,-fi Paui, Schlenthkk: Das Theater.
Aber jene Übergangszeil vom Mittelalter zur Renaissance war auch von
den Dichtungen des Euripides, Sophokles und Aischylos, die im 15. Jahr-
hundert nur in den Handschriften italienischer Bibliotheken existierten,
noch weit entfernt. Man wußte noch immer nicht, was eine Tragödie sei!
■ir:iBö,iic. Diese gToße Entdeckung stand nicht nur dem neueren Theater, sondern
auch der neueren Literatur noch bevor. Die römischen Epigonen der
attischen Komödie waren zwar der mittelalterlichen Bühne, aber nie
der mittelalterlichen Literatur ganz entschwunden. Während sich in
Italien nach den Mustern des Terenz und Plautus eine comoedia erudita
auch die Bühne zu erobern begann, erwachte langsam in den feinsten
Geistern zunächst erst eine Sehnsucht nach den verlorenen tragischen
Schätzen. Schon zu Dantes Zeit hat der Paduaner Mussato, der Ver-
fasser der ersten neueren Tragödie, die sich von der antiken Ästhetik
berührt fühlte und zu ihr hinstrebte, es beklagt, daß er sich nur nach
den lateinischen Mustern habe richten können, nicht nach den Tragödien
des Sophokles, den er nur aus Zitaten kannte, dessen höheren Wert er
aber witterte. Dieselbe Sehnsucht nach den still geahnten tiefsten Quellen
der dramatischen Poesie empfand Petrarca. Er stellte Euripides nach
dem Wenigen, was er von ihm wußte, dicht hinter Homer; als ihm sein
griechischer Lehrer Handschriften des Sophokles und Euripides aus
Byzanz mitbringen sollte und auf der Rückfahrt in der Adria Schiffbruch
gelitten hatte, zitterte Petrarca weniger für seinen Freund als für Euri-
pides und Sophokles. Und dem er diese Sorgen anvertraute, war Boc-
caccio. Petrarcas, wohl auch Boccaccios dichterisches Genie fühlte aus
den spärlichen Überresten heraus, daß hier eine Größe lag, von der der
Allerweltklassiker Seneca kaum den Schatten gab. Das wurde allmählich
klarer, seitdem in den ersten Jahren des i ö. Jahrhunderts die ersten Buch-
ausgaben von Sophokles und Euripides erschienen und Erasmus von Rotter-
dam einige dieser Stücke in lateinischer Sprache veröffentlichte. Und doch
nannte noch der erste Herausgeber des Euripides diesen mit Geringschätzung
den Sohn eines Gemüseweibes, der seine Tragödien in einer scheußlichen
finstern Höhle schrieb, und errichtete daneben dem Seneca ein herrliches
Postament. Seneca war der einzige, der Praxis und Theorie des Trauer-
spiels aus dem Altertum übermittelt hatte. Er galt als Kanon und Norm.
Da seine Dramen sich nur zum Lesen und Vorlesen eigneten, so wurde die
ganze Gattung der Tragödie für theaterfremd gehalten. Auch Petrarca
blieb im Bann dieses unglücklichen Irrtums; auch sein Genius konnte
und wollte die verderbliche Kluft zwischen Drama und Bühne nicht über-
brücken. Das Drama stand ihm hoch, die Bühne stand ihm niedrig; die
Bühne schien ihm des ernsten Dramas nicht würdig, denn sie galt ihm
als der wüste Tummelplatz verächtlichen Gauklergesindels. Wie Dante
sah auch er in den Lustigmachern Schmarotzer, die dem ernsten und
strengen Dichter schweren Schaden zufügen, weil sie den Großen und
Reichen dieser Welt die Zeit vertreiben, den Geschmack verderben und
III. Renaissance. ^^y
ihre Gunst der hohen Literatur abspenstig machen. Wirklich war die
Lu.st am dargestellten Spaß an den Höfen und in den Palästen größer als
der Respekt vor dem ßuchdrama. Jener erheiterte, dieses ermüdete. Die
Partie stand so ungleich, daß auch die erlesensten Geister der italieni-
schen Renaissance zu diesem heiter -bösen Spiel endlich gute Miene
machten und ihr eigenes Schaffen dadurch anregen ließen. Während die
IVagödie im Staube der Gelehrtenstuben ein aschgraues Mottenleben
fristete, traten Männer wie Machiavell, Ariost, Tasse, Bruno, deren
Größe ganz anderswo lag, gelegentlich auf, um die Künste der Spaßvögel
durch Bessermachen zu bekämpfen, teils durch Schöpfung neuer Gattungen,
wie des Schäferspiels, aus dem dann die Oper hervorging, teils im Wettstreit
um die Palme des Plautus, der um die Mitte des Quattrocento auf italienisch
ins Licht trat. Der erste, der einige dieser Übersetzungen aufführen ließ,
Herkules von Este in Ferrara, wurde dafür von den Humanisten als Erneuerer
des lateinischen Theaters löblich besungen. Wenn auf diese Weise ein dem Komödie.
„Advokaten Pathelin" gleichwertiges Meisterwerk, wie die „Mandragola" des
Machiavell, gelingen konnte, so geschah es, weil sie klassizistische Bildung
durch die lebendige Tradition der mittelalterlichen Schwanke befruchten
ließ. Der Vater der Mandragola und ihrer Gefolgschaft war jener römische
Komiker, der den Liebling Hroswithas und aller mittelalterlichen Ge-
lehrtenstuben durch Saft und Kraft ausstach und den aristophanischen
Geist Machiavells sogar zum attischen Großmeister der Komödie hin-
leitete; die Mutter dieser neuen Lustspiele jedoch war der Volksschwank,
dem seit den Römerzeiten italischer Boden nie untreu geworden war.
Das italienische Lustspiel hätte sich ohne plautinische Einwirkung nicht
über die mittelalterlichen Possen erhoben, aber es hätte ohne diese
Possen nicht aus dem Mutterschoß der heimatlichen Erde jene ur-
wüchsige Kraft gesogen, die es fähig w-erden ließ, Bilder des eigenen
Weltlebens zu bieten und für die Kultur der eigenen Zeit Dokumente
zu hinterlassen. Ein großer Schritt zu diesem Ziel war die Wahl der
realistischen Prosa. Ziemlich weit vorgeschritten treffen wir auf diesem
Weg in die Zukunft den satirischen Humor Ariosts, der sich in seinen
„Suppositi" zu Plautus verhält, wie sich Plautus zu Menander mag
verhalten haben. In den Ansprachen, mit denen Ariost selbst als äußerst
tüchtiger und tätiger herzoglich ferraresischer Hofdramaturg seine Spiele
einleitete, verteidigt er die Prosa als den natürlichsten Ausdruck des mensch-
lichen Verkehrs und verherrlicht begeistert „Muttersprache, Mutterlaut",
Während das neuere europäische Lustspiel, das hier an die fröhliche
Sonne trat, im Dialog die volkstümlichen Traditionen des Mittelalters
übernahm, bildete es seine Komposition nach der klassizistischen Kunst-
technik: der Stoff wurde in fünf Akte eingeteilt tind hatte eine Verwick-
lung und eine Entwicklung nicht nur der Ereignisse, sondern auch der
handelnden Personen. Es lag im Zuge der neuen, vom antiken Geist be-
wegten Zeit, daß man auch auf der Bühne vom Allgemeinen zum Indivi-
460
Paul Schlenther: Das Thcalcr.
duellcn t'ortschritt, und innerhalb der alten Typen sich die Charaktere an-
fingen voneinander zu unterscheiden. Darin war der große Menschen-
kenner Machiavell, den in der lernbaren Technik Geringere übertrafen,
Meister. Es war ein entscheidendes Beispiel für die Kunst, lebendige
Menschen darzustellen, daß Machiavell auch eine Komödie des Plautus
in italienische Prosa übertrug und die Handlung aus dem alten Rom in
sein neues Florenz verlegte. Was ein Stück durch solche Ummodelung
an Stil verliert, gewinnt es meist an Bühnenfähigkeit. Darum werden
kluge Theaterpraktiker immer wieder ältere Muster in dieser Weise
mundgerecht machen, und nach einiger Zeit werden immer wieder
feine Kritiker diese Gewalttaten als blutige Barbarei brandmarken. Der
Vorgang wiederholt sich oft in der Theatergeschichte. Vielleicht läßt
sich mancher fremde oder entfremdete Dramatiker nur dadurch der
lebendigen Bühne zurückerobern, daß man ihn zunächst banalisiert und
popularisiert. Mancher Bühnenfrevel an der Literatur erhält aus der
Erwägung, daß auch Ballhom Eroberer w^erden kann, seine dramatur-
gische Rechtfertigung. Noch näher als sonst im Leben liegt beim
Theater, diesem gesteigerten Leben, die Teufelskralle neben dem Engels-
fittich. Auch in jener Werdezeit führte das kunstfördernde Individualitäts-
bedürfnis zum pamphletischen Mißbrauch, im bürgerlichen Lustspiel stadt-
bekannte Persönlichkeiten zu kopieren, einem Mißbrauch, der sich freihch
auf das Beispiel des Aristophanes berufen konnte. Und es dauert beim
Theater nie lange, so hat den Engelsfittich die Teufelskralle zerfedert.
Auch damals dauerte es nicht lange, so rostete und frostete die comoedia
erudita ein. Der Reiz der Neuheit schwand. Die starken Geister traten
ab, in den Händen der Macher blieb die Schablone. Es ist bezeichnend,
daß der Naturforscher Salviani seiner einzigen Komödie die geistreiche
Entschuldigung voranschickte, sie sei unliterarisch und nur für die Bühne
bestimmt, wo Messing ebenso glänze wie Gold. Dieser Schöngeistsdünkel
gegenüber der Bühnenkunst wiederholt sich immer wieder. Noch jetzt
stößt man bisweilen auf Hochgebildete, die versichern, daß ihnen ein Stück
Shakespeares bei der häuslichen Lektüre viel höhere Freuden bereite als
auf der Bühne; mich beschleicht dabei jedesmal die Mutmaßung, daß
auch zu Hause Shakespeare fein auf dem Bücherbrette bleibt. Nur ist
es bequemer, ihn im stillen Kämmerlein nicht zu lesen als drei oder
conimedia vicr Stundcu im Theater zu sitzen. Dennoch ist es nicht immer ein
Schade für die Schauspielkunst, daß zeitweise die hohe Bildung ihr
ferne bleibt. Denn nur durch Flegeljahre kann sie sich verjüngen. Es
war kein Schade, daß in Italien im Cinquecento hinter der abgebleichten
comoedia erudita mit struppigem, wohl gar etwas verlaustem Lockenhaar,
aber mit Erdbeerwangen und funkelnden Augen ein wildes Volkskind in
die Arena sprang. So sicher Können im Theater mehr zu schaffen hat
als Wissen, so sicher war die neu beginnende commedia dell' arte ein
Fortschritt über die erudita hinaus. Die erudita beschränkte sich auf ita-
deir arte.
in. Renaissance. 461
lienische Bühnen, die commedia dell' arte, eben weil sie ganz boden-
ständig und wurzelecht war, eroberte Europa.
Jetzt erst trat der Schauspieler in seine Rechte. Die „histrionische" Ruiz.mt.-.
Kunst des Roscius, die Petrarca gering schätzte, kam nun zur Herrschaft.
Der Paduaner Ruzzante hat in Venedig Bresche gelegt, ein Komiker und
ein Realist zugleich, einer, der in seinen eigenen Stücken um so besser
den Bauer darzustellen vermochte, da er selb.st Bauernarbeit geleistet hatte.
Wenn hochmütige Stadtväter im Mittelalter den Bauer verhöhnten und
verachteten, so wurde jetzt sein Leben mit liebevollem Humor betrachtet.
Vom plautinischen Vorbild konnte vmd wollte sich auch Ruzzante nicht
freimachen, der sich dem alten Komiker wohl wesensverwandt fühlte,
aber „er schnitt sich aus einem Totenkleid Jacken für die Lebendigen
zurecht". Ruzzante hat nicht mehr, wie die größeren Männer vor ihm, in
dramatischen Künsten dilettiert; er hat nicht mehr, wie die Höflinge von
Ferrara und Florenz, Liebhabertheater unterhalten, sondern er war durch-
aus Bühnenfachmann; wie vor ihm Aischylos, wie nach ihm Shakespeare,
Moli^re und Raimund, sein eigener Dichter, sein eigener Dramaturg, sein
eigener Mime.
Wenn seine nachgeborenen Kollegen immer zum fabelhaften Thespis
oder zum unkontrollierbaren Roscius schwören, so sei ihnen als Schutz-
patron lieber Ruzzante empfohlen. Ruzzante war auch der Erste und
für lange Zeit Einzige, der die Wirkung des Tragikomischen erkannte
und zu erzeugen wußte. Eins seiner Bauernspiele enthält schon George
Dandin- Stimmungen; in einem anderen Stück wirkt mitten unter drasti-
schen Effekten das Schicksal eines von der eigenen Mutter verkuppelten
jungen Mädchens ergreifend. Das war für ein realistisches Drama
ganz neuer Boden. Diesen alten Komiker rührte schon der Mensch-
heit ganzer Jammer. Ruzzantes Beispiel fand Nachfolge; bald war in
Oberitalien ein Schauspielerstand ausgebildet, der sich die Bühnenkunst
nach seinen praktischen Bedürfnissen einrichtete. Die einzelnen Schau- Di» komUchon
Spieler konzentrierten ihre Kraft auf das, worin diese Kraft hervor-
ragte; es entstanden nach bestimmten Typen des allgemein menschlichen
Wesens die heute sogenannten Rollenfächer, die nach einer besonders
bedeutsamen oder besonders gut gespielten Rolle benannt wurden und
Traditionen .schufen. So entstand 1567 der Pantalone. Nicht viel früher
oder später hüpfte in seinem buntscheckigen Kittel Harlekin hervor, der
freilich schon bei den Intermezzi der Mysterien und Moralitäten in anderer
Form sein Wesen getrieben hatte und nichts weiter war als der lustige
Servus der römischen Komödie. Neu aber war seine Begleitung, die
ihm zur Seite sprang, bald ihn prügelnd bald ihn küssend und ihn immer
betrügend, Colombine, und sie war ein wirkliches Frauenzimmer! Die
schönen Sünderinnen der alten Dilettantenbühne wurden mit vereinzelten
Ausnahmen (z. B. 1555 in Frankreich) von Mannspersonen dargestellt.
Solange Kirche und Kloster die Aufführung besorgten, war dies selbst-
462
Paui, Schi.enthkr : Das rhoatcr.
verständlich. Als das Laienelemcnt durchdrang-, mochten bürgerliche Zucht
und Sitte die Teilnahme der Frauen und Töchter guter Häuser verhindert
haben. Dem Berufsschauspieler verschlug es nicht, sein Liebchen mit
sich auf die Bühne zu nehmen und den Reiz der Vorstellung zvi erhöhen.
Damit war der Schauspielerinnenstand — wenn man so sagen darf: kon-
solidiert und dem modernen Theater sein lockendster Zauber geschenkt.
Aus dem Nicht alle diese Komödianten waren Dichter wie Ruzzante; die
wenigsten waren, wie er, gebildet. Darum verloren sie immer mehr den
Respekt vor der Literatur; die Stücke, die sie aufführten, dienten ihnen
nur als Kanevas, den sie mit ihren höchst persönlichen Spaßen und Ein-
fällen, mit den immer aufs neu erprobten Effekten ihres Rollenfaches so
durchwirkten, daß er selbst unsichtbar wurde. Je sicherer sie sich in
dieser Wirkung fühlten, desto leichter vergaßen sie den Text ihrer Rolle,
desto unbefangener machten sie ihn sich mundgerecht, desto zuversicht-
licher verließen sie sich auf ihre eigenen Improvisationen. So entstand
das Hauptmerkmal der commedia dell' arte, das Stegreifspiel. Mochten
diese Possen zotig' und kotig sein, mochte sich ein feiner Schöngeist da-
von abgestoßen fühlen und lieber aus seiner Bücherei den Terenz herbei-
holen, so haben sie doch den Fortschritt der dramatischen Kunst im ent-
scheidendsten Punkte gefördert. Immer breiter wurde die Kenntnis dessen,
was die Bühne verlangt und versagt, was auf ihr wirkt und was verpufft.
Die commedia dell' arte stärkte den Begriff, daß das Bühnenwerk nicht
zu den literis, sondern zu den artibus gehört, daß die Schriftstellerei nur
seine Basis, nicht sein Bau ist, daß ohne eine durchgebildete, ihrer Wir-
kungen sichere Schauspielkunst auch das stärkste Drama seinen eigent-
schauspipikunst. liehen Beruf verfehlt. Ein dramatisches und dramatisch wirkendes Werk,
das nie auf dem rechten Theater an die rechte Schauspielkunst gerät,
gleicht jenen jetzt so beliebten wundervollen echten Teckeln, die zeit-
lebens als Schoß- und Stubenhündchen von zarter Damenhand verhätschelt
werden, aber nie die Wonnen eines Dachsgrabens erleben durften, also
ihre Laufbahn zimmerrein und zierlich, doch zwecklos vollenden. Die
höchste Kunst des Schauspielers besteht darin, daß er das eingelernte
Dichterwort so spricht, als ob es in diesem Augenblick in seinem eigenen
Hirn oder Herzen urwüchsig entstanden wäre. Zu dieser höchsten Kunst,
ohne die es keinen Hamlet und keinen Lear gäbe, erzieht eine sichere
Improvisation; denn Reproduktion, die wie Produktion erscheinen soll,
wird am besten durch Produktion geübt. Seit Ende des 1 6. Jahrhunderts
zog auf dem Siegeswagen der Stegreifposse eine routinierte und raffi-
nierte Schauspielkunst von Italien aus in alle Welt.
IV. Shakespeare. Bei diesem Siegeszug war nicht das nationale
Element der Eroberer. Obgleich italienische Artisten nach Frankreich (seit
1579) und Spanien hinübergelangten und sich dort einnisteten, so war
das Entscheidende ihres Exempels der Sieg der schauspielerischen Künste
rV. Shakespeare. 4.63
Über die außerhalb dieser Künste liegenden Zwecke und Tendenzen dra-
matischer Literatur; es siegte und eroberte das Spiel des Spieles wegen.
Wenn eine Kunst zu lange die milchende Kuh für andere als künstle-
rische Zwecke war, so führt sie der Selbsterhaltungstrieb zur Parole:
l'art pour l'art.
Die Schauspielkunst hatte zu lange bei Priestern und Mönchen, bei Stu-
denten und Schülern, bei Bürgern und Handwerkern umherdilettierL End-
lich mußte sie ein eigenes Metier, einen eigenen Stand zeugen, um als
selbständiger Kulturfaktor zu gelten. Daß die Stunde reif war, beweist
die rasche und weite Verbreitung von Wandertruppen, deren Wirkungs-
kreis weder sprachlicher noch politischer Grenzen achtete. Wie Italiener
nach Paris zogen, so zogen englische Komödianten, unter ihnen Pickel-
häring, der anglisierte Arlechino, der aus deutschem Fleisch und Blut
unsem Hanswurst zeugte, schon im 16. Jahrhundert auf das Festland; an
deutschen P^ürstenhöfen hießen hohe Gönner sie willkommen. Das früheste
wüste Repertoire dieser Banden ist für die Bühne der Gegenwart belanglos.
Aber sie schmiedeten auch Werkzeuge für das größte dramatische Genie der
neueren Zeiten; in ihnen lag die Kraft, dem Theater Europas einen englischen
Komödianten, namens Shakespeare zu schenken, der vielleicht nie Theater-
dichter geworden wäre, wenn er nicht Schauspieler gewesen wäre. So viele
wundem sich, daß Shakespeares grenzenlose Welt ein Schauspieler beleben
und beherrschen konnte; sie wollen es nicht glauben; halten ihn für ein
untergeschobenes Kind der Muse; sie suchen den rechten Erben. Wer .
ein Werk Shakespeares mit dem Bühnenblick durchschaut, wer erkennt,
wie alle geistige Größe, alle Weisheit und Bildung darin von der Kennt-
nis dessen, was auf dem Theater wirkt, noch übertroffen ist, wer fühlt,
wie zwischen den Worten, zwischen den Zeilen des Textes diese Wir-
kungen heimlich-unheimlich bloß auf den rechten schauspielerischen Aus-
druck lauern, um mit elementarer Xaturgewalt hervorzubrechen, der würde
sich noch viel mehr wundern, wenn es eines unschönen Tages erwiesen
wäre, daß alles dies kein Bühnenmann, sondern Francis Bacon geschaffen
habe.
Diesen Standard works der dramatischen Kunst waren jene Dilet- Shakespeare.
tanten, denen Mysterien, Mirakel und Moralitäten, denen Schulkomödien
und Fastnachtspiele ausreichten, nicht mehr gewachsen. Diese ins Tiefste
der menschlichen Seele greifenden Werke brauchten eine berufene, also
berufsmäßige Schauspielkunst Nur so konnten sie entstehen, nur so konnten
.sie bleiben und herrschen über den heutigen Tag hinaus in die weiteste
Zukunft. Nicht anders als in England ging es in Spanien, dem Lande,
wo zuerst alle Blütenträume von einer großen dramatischen Kunst wieder
Wirklichkeit wurden. Lope de Vega und Calderon brauchten so gut wie
Shakespeare zur vollen Erscheinung ihrer dauernden dichterischen Größe
eine entbindende Schauspielkunst, eine ars pro arte. Wir wissen nicht,
wie Shakespeare und Calderon zu ihren Lebzeiten gespielt wurden.
464
Paul Schi.enthf.r : V>as Theater.
Shakespeare soll — ich weiß nicht warum — kein g-uter Schauspieler ge-
wesen sein. Aber er stellte durch seine Werke die höchsten Anforde-
rungfen an diese Kunst. Wie Lessing sich als Dichter unterschätzte, so
mag Shakespeare sich selbst als Schauspieler unterschätzt haben, weil er
die höchsten Ideale seiner Kunst in sich trug. Gerade dort, wo er in
Komödie und Tragödie als Dichter am höchsten steht, ist ihm seine Dich-
tung gut genug, um die Probleme der Schauspielkunst zu erörtern: im
„Sommemachtstraum" und im „Hamlet". Hier wie dort führt er Schau-
spieler vor. Dort sind es noch Dilettanten, hier sind es schon Fach-
leute. Dort sind es plumpe Handwerker, die nie den Geist zu solcher
Arbeit noch geübt hatten und deren Gedächtnis widerspenstig ist, die
ohne Einbildungskraft aber voller Einbildung es mit ihrer Mummerei und
Mimerei bitter ernst meinen und sich die Darstellung der erhabenen
Liebe zwischen Pyramus und Thisbe zumuten; die ihre Vorbereitungen
mit größter Heimlichtuerei und Umständlichkeit betreiben und dabei
schon alle kleinen närrischen Eitelkeiten und mißlichen Eigenschaften
zeigen, die man noch heute nicht nur berufsmäßigen, sondern auch dilet-
tierenden Spielern nachsagt. Neben dem Spielwütigen, der am liebsten alle
Rollen, auch die des Löwen selber geben möchte, der Jüngling, der beleidigt
ist, daß er ein Frauenzimmer spielen soll, neben dem schlechten Lerner
der Zaghafte, der dem Publikum nicht allzu Gräßliches vorsetzen möchte,
und der Unbequeme, der seine Mitspieler durch üblen Atem belästigt.
So sehr Shakespeare diese platten Polterabendgäste mit ihrem un-
künstlerischen Pseudorealismus dem Spotte preisgibt, so verzeiht er
durch den menschlich milden Mund des Theseus doch ihrem Eifer ihre
Schwäche und auch ihren Wahn, durch dieses „greiflich dumme Spiel" im
Zuschauer jene Empfindungen zu wecken, in denen auch Shakespeare die
tragische Wirkung sah: Reue und Mitleid. Weit schärfer geht er später
im „Hamlet" mit Berufsschauspielem ins Gericht, mit den bramarbasie-
renden Maulhelden, den Luftdurchsägem, den haarbuschigen Perrücken, die
eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen reißen, den prügelnswerten
Eisenfressern, den Stolzierern und Blökern, den aufdringlichen Possen-
reißern, die immer bereit sind, ernste oder wichtige Szenen zu stören, kurz
mit allen den Charlatanen ihrer Kunst, die, statt der Natur den Spiegel
vorzuhalten, die Bescheidenheit der Natur überschreiten. Ihnen einerseits
und den Matten, Dürren, Leblosen anderseits stellt er den wahren Menschen-
darsteller gegenüber, der von seinem Gegenstande selber tief ergriffen
die Seele in seine eigenen Vorstellungen so zu zwingen weiß, daß sein
Gesicht erblaßt, sein Auge tränt, seine Stimme bricht, sein ganzer Mensch
sich nach seinem Willen fügt und der Schmerz um Hekuba echt wirkt.
Für Schauspieler dieser Art fordert er gute Bewirtung durch die Achtung
der Welt; denn sie sind der Extrakt und die' knappste Chronik des
Zeitalters. Sie sind berufen, das allgemeine Ohr mit Grausen zu er-
schüttern, den Schuldigen bis zum Wahnwitz zu treiben, den Freien
IV. Shakespeare. ^^65
ZU schrecken, Unwissende zu v-cnvirren und zu betäuben. Ebenso wie
gegen die schlechten Komödianten macht Shakespeare gegen diese Un-
wissenden Front, die der Afterkunst zujubeln, gegen den Pöbel, für den
wahre Kunst Kaviar ist, gegen die hochgestellten Poloniusse, die zur Un-
zeit lachen imd gähnen, die sich nur an Possen und Zoten ergötzen, gegen
die Gründlinge im Parterre, auf die nur wüstes Geschrei oder eine ver-
worrene Pantomime wirkt. Wenn Shakespeare im „Sommernachtstraum"
die spöttisch lächelnde, flach witzelnde Hofgesellschaft noch schont, die
von echter Schauspielkunst nicht viel mehr versteht als die grotesk tragie-
renden Handwerker, so sagt er durch den Mund des geistreichen Dänen-
prinzen der Mehrheit seines Publikums die Meinung gründlicher. Was
Hamlet seinen Dänen vorwirft, durften sich die Londoner hinter die
Ohren schreiben. Ganz auf London und auf die eigene soziale Lage
ist es gemünzt, wenn Shakespeare in einer der vielen autobiographischen
Anwandlungen, aus denen seine Bemerkungen über Schauspieler und
Schauspielkunst hervorgehen, das Umherstreifen der Schauspielergesell-
schaften beklagt und ihnen einen festen Aufenthalt wünscht, der sowohl
für ihren Ruf als für ihre Einnahmen vorteilhafter sei. Die höchste Ehre
aber erweist er seinem Beruf dadurch, daß er ihm im Mittelpunkte des
großen Dramas selbst eine Mission zutraut, die man kriminalpolizeilich, die
man aber auch im höchsten Sinn ethisch nennen kann. Es ist die verräte-
rische, das böse Gewissen entlarvende Gewalt des Schauspiels, das der Sonne
gleich an den Tag bringt, was im Dunkel verbrecherischer Taten liegt.
Vielleicht war nur der Schauspieler im Dichter fähig, zum Wendepunkt
seiner tiefsten und reichsten Tragödie die sittliche Macht des Schauspiels
zu wählen. Das böse Gewissen des Todfeinds aufzurütteln, die Maske
des Mörders wegzureißen, dazu genügt Hamlets zarter Seele nicht sein
eigener Verdacht, nicht sein eigener Abscheu, nicht einmal Klage und
Anklage des ruhelos begrabenen Vaters, der ein trügerischer Geist sein
könnte. Xein! Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein
Gewissen bringe! Er hat gehört, „daß schuldige Geschöpfe, bei einem
Schauspiel sitzend, durch die Kunst der Bühne so getroffen worden sind
im innersten Gemüt, daß sie sogleich zu ihren Missetaten sich bekannten".
Weder vorher noch nachher ist der ethischen Kraft des Theaters ein be-
deutenderer Ausdruck gegeben worden als hier. Die Bühne, die vorher
und nachher so oft nur Gouvernante war, wird hier zur Eumenidc. Shake-
speares „Hamlet" hat ihre kleinbürgerlichen Moraltendenzen in den höchsten
Adelsstand erhoben. Was mit der attischen Tragödie verloren gegangen
war, ist nun endlich wieder da: die Macht der Kunst durch die Größe der
Kunst. Und wenn sich auch der romanische Geist gegen Shakespeares
Urgewalten sträubt, wenn höchstens das geborene Volk der Schau.spieler,
die Italiener, an der Aufgabe, die er ihrer Schauspielkunst bietet, nicht
vorübergehen konnte, so ist doch durch Shakespeare für alle neueren
Zeiten die Bedeutung des Theaters als eines Kulturfaktors erwiesen.
Dre Kultur dbr Gbgbnwart, I. i. 3Ü
466
Paul Schi.f.ntukr ; Das Theater.
Die französisch.- V. Frankreichs klassische Zeit. Wemi nach Shakespeares Tode
"■'8 ■«'• p^j.js (jie theatralische Weltherrschaft an sich riß und auf anderthalb Jahr-
hunderte hinaus in scheinbar andere, Shakespeare feindliche Bahnen lenkte,
so ging zwar zunächst viel von der poetischen Urkraft des britischen Genies
verloren, von der Kultur aber wurde das Theater — sei es zum Segen,
sei es zum Unheil — nur noch mehr dadurch beleckt, daß Corneille,
Racine und der Shakespearefresser Voltaire der humanistischen Galvani-
sierung des antiken Dramas im französischen Geist wohl gebaute Formen
und schön geschminkte Farben gaben.
Scheint Shakespeare nach Naturgesetzen geschaffen zu haben, die
der Raison Voltaires undurchdringlich blieben, so arbeiteten die Franzosen
feinsauber nach Kunstregeln. Jeder konnte im Boileau nachlesen, ob
Racine seine Sache gut gemacht habe. Solange große dichterische Talente
am Werke waren, hatte auch das seinen Nutzen, denn eine Kunst, die
nicht behelmt und gepanzert aus der Stirn des Genies hervorspringt,
braucht, um durch Talente fortbestehen zu können, eines sicheren Hand-
werks als Unterlage. Nur müssen die Talente stark genug sein, um
diesen Handwerksboden durch Kunst zu bebauen und dadurch zu ver-
bergen. Das vermochten die Begründer des französischen Theaters. Sie
gaben der theatralischen Kunstform eine mathematische Reinlichkeit und
Durchsichtigkeit, und indem sie ihren feinen Kunstsinn noch vor Pedanterie
bewahrten, errichteten sie eine Schule für das, was sich zur Erzeugung
bühnenfähiger Dramen lernen läßt. So kamen die Franzosen — man kann
auch sagen die Pariser — in den erblichen Besitz einer Technik des
Dramas, die durch zwei Jahrhunderte unvergleichlich war und von der
unsere deutschen mittelguten Theaterschriftsteller immer zu wenig profi-
tiert haben. Freilich konnte durch diese künstliche Kunst das Drama
hohen Stils nur so lange lebendig bleiben, als auch sonst der regelmäßige
Geschmack herrschend blieb. Als man die Allongeperücke, die wohl ein
Kahlkopf erfunden hat, vom frei flatternden Lockenhaar wegriß, als man
die französischen Gärten in englische Parks verwandelte, war auch die
Weltstellung der Pariser Sophoklesse und Euripidesse erschüttert, und nur
in Paris selbst, an der klassischen Stätte hat der französische Nationalstolz
das vieux jeu in einer so edlen und strengen Form konserviert, daß
nicht nur der historische, sondern auch der ästhetische Sinn von dieser
musterhaften Stilreinheit befriedigt wird. Man geht durch eine Toten-
kammer, aber schöne Leichen liegen schön gekleidet da.
Moiiere. Besser als der trag^die ist es auch in Frankreich der comedie ergangen.
Während sich in Shakespeares wildwachsenem Humor die Grenzlinien
zwischen Tragik und Komik, zwischen Ernst und Scherz nie geometrisch
sicher zeichnen lassen, ging der französische Klassizismus auch hier auf
die alten Muster zurück und schied sorgfältig Senecas Erben von denen
des Terenz und Plautus. Auch in dieser „niedrigem" Gattung kam den
Franzosen ihre durchgebildete Technik zugute. Noch mehr kam ihnen
V. Frankreichs klassische Zeit. 467
hier der alteingeborene Gallierwitz zug;ute, der der strengen Form einen
sprudelnden und sprühenden Inhalt gab, der hoch über den Häuptern
des hohen Stils einen Meister der Lustspiele und Possen wie Moliere
schuf. In Molieres satirischer Weltanschauung ist die Bühne nicht mehr
Eumenide, obwohl seinen Tartüflf wenigstens der Teufel der Polizei holt,
aber sie ist noch nicht ganz wieder zur Gouvernante geworden. Über dem
castigare verlor er das ridere nicht, und er besaß so viel Größe, daß er
sogar sich selbst und seine tiefsten Schmerzen auslachen konnte. Wieder
war es ein Schauspieler, der eigenhändig das Drama seiner Nation nicht
nur theatrisch sondern auch dichterisch auf die oberste Höhe führte. Ein
mächtiger König schenkte ihm seine Gunst, vielleicht weil er ihn für
einen Hofnarren hielt und über seinen Spaßen die bitteren Pfeile ver-
kannte, die sich gegen Hof und Stadt und Gesellschaft spitzten. Wieder
stand in vollendeter Kunst auf der Bühne die kondensierte Chronik des
Zeitalters, die in einem Meisterwerke der Tragikomödie prophetische Per-
spektiven bis zum Wetterleuchten der großen Revolution hin aufgestellt
hat. Unter allen Franzosen steht Moliere, dessen Witz beinahe Humor,
dessen Seele beinahe Gemüt ist, dem germanischen Wesen am nächsten.
Darum wird er in Deutschland immer wieder zum Vorschein kommen, und
wenn er, nicht anders als Shakespeare selbst, zeitweise untertaucht, so
werden sich seine bewährtesten Bühnenstücke, wie die des Briten, immer
wieder der jeweilig modernen Darstellungsweise anpassen können. Im
Wiener Burgtheater werden der „Misanthrop" und der „Tartüff" in Fuldas
deutschen Versen, beide zusammen binnen drei Stunden desselben Theater-
abends, ganz abweichend von der vortragsmäßigen Pariser Tradition wie
moderne Konversationsstücke in lebhaftem äußern und Innern Tempo
heruntergespielt und halten sich dauernd auf dem Spielplan. Dieser
histrio gallicus sine exemplo, wie ihn schon sein frühester deutscher Über-
setzer nannte, ist auch in Frankreich beispiellos geblieben, aber sein frucht- Die französische
' Komödie.
barer Geist hat reiche Nachkommenschaft erzeugt, über alle die hervor-
ragenden einst höchst bewunderten Beherrscher des französischen Reper-
toire im 18. Jahrhundert, die freilich für das Theater der Gegenwart auch
in Frankreich selb.st kaum noch etweis bedeuten, bis zu Beaumarchais,
dessen Lust.spiele wenigstens in Mozarts und Rossinis Melodiecn fortleben.
Auch Scribe, der geschickteste aller Handwerksmeister, durfte etwas von
der Mohereschen Ahnherrenkunst einer neuen Generation überliefern. Viele
verstanden in Paris ein Theaterstück brillant zu bauen, eine Idee darin
einheitlich durchzuführen, aus dieser Idee alle Motive herauszuholen, mit
dem vorhandenen Stoffe hauszuhalten, ohne fremder Flicken zu bedürfen,
den Personen eine menschenwürdige Sprache zu geben und den Schau-
spielern Rollen, in denen sie sich ausleben und entwickeln können. Alles
das verstanden auch die Marivaux und Diderot, verstanden womöglich
noch besser die Augier und Labiche, die Dumas und Sardou. Dennoch
ist der alle Histrione sine exemplo geblieben, und mit Recht belegt man
30*
.Ag Paut, Schi.rnther: Das Theater.
noch heute in Paris das altehrwürdige repräsentierende Theater, den Stolz
der Nation, nicht nur mit dem Namen Frankreichs, sondern auch mit dem
Namen Moli^res.
"Wenn sich Frankreich gegen die „barbarische Trunkenheit" Shake-
speares immer spröde gesträubt hat, so hat die germanische Welt den
großen Parisem, zumal Moliere gegenüber, durchaus nicht gleiches mit
gleichem vergolten. Im skandinavischen Norden fand Moliere seinen eben-
bürtigsten Schüler, der dem Meister seine Kunstmanier abguckte, um sie
auf das eigene Volksleben zu übertragen. Dieser zum Dänen gewordene
Holberg. Norweger Ludwig Holberg hat vor allem von Moliere gelernt, selbständig
und national zu sein. Darum erinnern seine Komödien trotz der franzö-
sischen Technik in der handfesteren, individualisierteren Charakteristik der
Personen, in ihrer germanischen volkstümlicheren Natur viel mehr an Shake-
speare, den er nur mittelbar kannte, als an Moliere, den er mit Bewußt-
sein studiert hat. Wie Molieres Größe dem Th^ätre Fran9ais eine jahrhundert-
lange Lebensdauer gab, so hat auch Holbergs Landskraft ausgereicht, der
dänischen Hauptstadt ein Nationaltheater zu schaffen, darin nicht nur sein
eigener Humor vielfältig gestaltet noch heute dramatisch wirkt und seine
Urkraft auf einen späteren Meister wie Ibsen entscheidenden Eindruck machen
konnte, sondern wo sich auch durch ihn ein realistischer Darstellungsstil
ausbildete, der jeder Generation die genügende Zahl schauspielerischer
Kräfte gab und noch heute das Kopenhagener königliche Theater zu einer
für das ganze Land maßgebenden, einheitlichen Muster- und Meisterbühne
erhebt, wie sie in Ländern deutscher Zunge niemals bestanden hat.
Zersplitterung VI. Das nouere deutsche Theater. Die Länder deutscher Zunge
""'konnten keinen einheitlichen Spiegel des Lebens erwerben, weil ihrer
Vielspältigkeit das einheitliche Leben fehlte. Es gab Länder, aber keine
Nation. Die einigende Macht des Mittelalters war die katholische Kirche
gewesen, die auch ins Schaubühnenwesen eine große, obschon starre Einheit
brachte. Die Reformation, die die Geister befreite, aber auch trennte, war
der Zusammenfassung künstlerischer Formen nicht günstig, und das dicke
Ende der Reformation, die dreißig Kriegsjahre, zerstörten vollends alle
Keime zu einem deutschen Nationaltheater, sofern überhaupt etwas der-
artiges vorhanden war. Denn weder das von Nürnberger Kirchtürmen
beherrschte Liebhabertheater der Fastnachtspiele, noch die Schultheater,
in denen Terenz auf lateinisch traktiert, allenfalls imitiert wurde, konnten
eine große, das ganze deutsche Leben umfassende Nationalbühne schaffen,
obgleich nicht nur in Hans Sachsens handlungsreicher Urwüchsigkeit,
sondern auch in der geschlossenen Form des humanistischen Schuldramas
einige Vorbedingungen dafür existiert hätten.
Denn hier wie dort überwog besonders in der schauspielerischen
Ausführung der Dilettantismus, dem höchstens jene aus England einge-
wanderten Banden hätten abhelfen können. Sie waren wirklich auf bestem
VI. Das neuere deutsche Theater
469
Wege dazu. Sie bauten eine Bühne, die sich mit ihrem erhöhten Podium
und ihren Versenkungen schon der modernen Theaterarchitektur näherte,
sie legten das Hauptgewicht auf Handlung und regten dichterische Talente
zu eigenen dramatischen Schöpfungen an, die auf Shakespearischem Wege
doch nicht die Kraft hatten, Shakespeares Ziel zu erreichen. Alle Elemente
zu einem großen deutschen Dramatiker waren vor Beginn des Dreißigjährigen
Krieges gegeben, meint Scherer. In Cassel war sogar schon ein Hof-
theater vorhanden. Was der Dreißigjährige Krieg vom verhofFten deutschen
Shakespeare übrig gelassen hatte, hieß Andreas Grj^phius. Er schrieb kon-
ventionelle Renaissancetragödien und Operetten, wetteiferte mit Shake-
speare in der Komödie vom Peter Squenz und dichtete zweihundert Jahre
vor Gerhart Hauptmann ein realistisches Bauernstück in schlesischer Mund-
art, aber er fand keine unmittelbare Fühlung zu einem festen Theater mit
festen Schauspielern und festem Publikum. Diese Gunst, die aus Shakespeare,
Moliere, Holberg, dem Niederländer Vondel, dem Italiener Goldoni alles
hervorholte, was in ihnen lag, blieb den Deutschen noch lange versagt.
Das Beispiel der englischen Gäste hatte auch deutsche Schauspieler zu
Truppen oder Banden vereinigt. Sie wurden während des Krieges von Ort
zu Ort verschlagen; nicht die saubersten Geister mischten sich ihnen bei.
Der gute Bürger mied ihren Umgang und verscharrte ihre Toten hinter der
Friedhofsmauer, aber ihre Spiele sah man auch in ernster Zeit doch gern
an; so trugen sie ihr aus aller Herren Ländern gemischtes Repertorium
in bessere Laufte herüber und überstanden mit ihren eigenhändig zusammen-
gestohlenen, auf Theatereffekt berechneten „Haupt- und Staatsaktionen" Haupt- und
nicht bloß die Schrecken des Krieges, sondern auch die Konkurrenz der
italienischen Oper, durch die ihnen Interesse und Unterstützung der Höfe
und des großstädtischen Publikums entzogen wurde. Weit weniger ge-
fährlich konnte ihnen der dilettantische Eifer werden, den noch immer
innerhalb von Schulmauem Meister und Schüler bekundeten, und der in
Deutschland ein so fruchtbares Talent für hausbackenen Realismus her-
vorrufen konnte, wie es der Rektor Weise in Zittau war, der sein Lämp-
chen schlecht und recht noch immer vom Öl der terenzischen Muse nährte,
aber mit gesundem Blick ins nächste Leben sah und es auch nicht ver-
schmähte, die eigentliche Zugkraft der wandernden Komödianten, ihren
Hanswurst, in seine sonst so zünftigen Stücke aufzunehmen. Trotz derartigen
gegenseitigen Annäherungsversuchen gingen Drama und Bühne schon viel Da* regei-
zu lange in Deutschland getrennte Wege. Die notwendige Vereinigung
der Literatur mit dem Theater, die allein eine Kunst zurückführen kann,
verkörpert sich erst durch das Bündnis, das in Leipzig ein Gelehrter mit
einer Schauspielerin schloß. Der Widerspruch, den gegen diese schön-
wissenschaftliche Reform Gottscheds und der Neuberin später der junge
Lessing erhob, traf die pedantisch-dogmatische Art, mit der Gottsched
fremde Schulbeispiele aufstellte und die Neuberin zur pathetischen Aus-
treibung des Hanswurst verleitete. Trotzdem hat Gottsched den Boden
,»Q Paul Schi.entiier: Das Theater.
geglättet, worauf Lessings hurtiger Geist hochbauen konnte. Ebenso ist
Lessing. es ein Verdienst der strengen Neuberischen Zucht, daß Lessing schon einem
Schauspieler von der Bedeutung Konrad Ekhofs begegnete.
Der große Schtiuspieler und der große Dramaturg trafen sich (1767)
in dem „gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu ver-
schaffen". Nicht in einer der zahlreichen Residenzen sollte es stehen,
sondern in Hamburg, der volks- und verkehrsreichen, zahlungskräftigen
Handelsstadt, die vom lebhaftesten Thetiterinteresse bewegt war.
Aber dieses Interesse hatte bisher fast ausschließlich der Oper gegolten.
Es in die Bahnen reinerer Kunst zu lenken, wollte nicht gelingen; das
deutsche Nationaltheater verkrachte schon nach einem Jahr, und Lessing
stand wieder, wie vorher, „müßig am Wege". Mit jenem „Lachen des
Menschenhasses", das Lessings Minna an ihrem Teilheim so sehr erschreckt,
nimmt er Abschied von dem Ideal. Er erörtert im Schlußworte seiner
Dramaturgie die Ursachen des frühen Verfalls und findet vor allem,
daß wir Deutsche noch keine Nation sind, die ihrer eigenen Kraft, darum
ihrer eigenen Art und Kunst vertrauten. Dennoch war etwas Großes
geschehen. Es waren dem deutschen Kunsttheater Wege gewiesen und
Ziele gesteckt. Lessing selbst gab den Deutschen mitten aus den Händeln
ihrer politischen und sittlichen Welt heraus ein erstes nationales Lustspiel,
worin sich alle überlieferten, platt und leer gewordenen Rollenfächer mit
neuem, frischem Leben füllten; ein Lustspiel mit lauter lebendigen Menschen,
die man sich alle in unmittelbarer Wirklichkeitsnähe des großen Königs
denken könnte, der wie ein Schutzgeist hinter die Ereignisse dieser heiter-
rührenden Komödie gestellt ist und das Seine tat, um die Deutschen
zu einer Nation zu machen; der nicht deutsche Kunst und deutsche
Künstler begünstigte, aber weit wohltätiger wirkend diesen Künstlern
Stoff und Begeisterung lieh. Lessing gab den Deutschen zweitens als
praktisches Resultat seiner kritischen Untersuchungen über die drama-
tische Kunst ein erstes Musterbeispiel der modernen Tragödie, die äußer-
lich zwar nach Italien und in die Zeit Ludwigs XIV. gelegt werden mußte,
in Wahrheit aber den kleindespotischen deutschen Zeitgenossen Friedrichs
des Großen im Sinne Shakespeares einen Spiegel vorhielt. Lessing gab
den Deutschen drittens ihr erstes Drama hohen Stils in einer Versform,
die für den deutschen Ausdruck zugleich natürlich und erhaben ist, erfüllt
von den Menschheits- und Menschlichkeitsidealen, deren Realisierung ihm
die geistige Freiheit bedeutete. Alle Wege, sagt Wilhelm Scherer, führen
bei Lessing zum Drama. Schon daß der letzte, stärkste Ausdruck alles
dessen, was ihn politisch, literarisch, theologisch und immer allgemein
menschlich bewegte, dramatische Gestalt annahm, gab der deutschen Bühne
ein Ansehen, eine Kulturkraft, die nicht mehr ganz sinken konnte, die
nur noch in Frankreich ihresgleichen findet. Erst durch Lessing wurde
Deutschland ein Kulturherd für die dramatische Kunst. Er wies als erster
den Weg, auf dem Shakespeare ein ganz deutscher Dramatiker werden
VI. Das neuere deutsche Theater. 47 I
konnte. Er befreite unsere arme gallomanische Seele von den pseudo-
aristotelischen Sklavenketten der Pariser Tragödie. Er zeigte den Schau-
spielern die Gesetze ihrer Kunst und gab ihnen zugleich das tüchtigste
Arbeitsmaterial. Die Rollen aus Minna und Emilia sind noch heute die
beste Schulung für werdende Talente, denn jedes Wort, das in diesen
Texten steht, läßt sich durch besondere Charakteristik beleben; alles braucht
einen bestimmten Ausdruck und ist doch den verschiedenartigsten Indi-
vidualitäten zugänglich. Selbst hat Lessing auch nach seinen Lebzeiten
nie viel Glück auf dem Theater gehabt. Seine drei Meisterwerke sind
immer nur selten gespielt worden. Sie liegen kühl und versteckt, wie in
einer Felsenkluft die Quellen, aus denen Ströme über das Land fluten.
Wer von der Hochflut unserer großen dramatischen Dichtung auf Lessing
zurückgeht, mag ihn nüchtern finden, obwohl ihn im Lustspiel keiner der
Späteren erreichte. Was Lessing als Pfadfinder und Schatzgxäber, als
Befruchter dem deutschen Drama bedeutete, wie dieser Bringer von Luft
und Licht auch in anderen Ländern nicht seinesgleichen hat, das erkennt
man erst, wenn man aus den urprosaischen dumpfen Niederungen der
früheren Zeit plötzlich an ihn gelangt, und nun mit einemmal alles hell
und natürlich und geistesfrisch wird. Man sollte in deutschen Landen der
Kunst kein Theater bauen, an dessen Pforten nicht Lessings Sinnbild
stände. Auch als er sich nach der Hamburger Katastrophe geflissent-
lich von Theater und Schauspielervolk fernhielt, fegte sein Geist reinigend
durch die besseren, in der Neuberischen Spur wandernden Truppen.
Oberall wirkte jener gutherzige Einfall nach, diesen Truppen feste Wohn-
sitze zu geben, sie künstlerisch und sozial zu konsolidieren, aus den Wander-
karren Tempel zu bauen. Es war die Zeit gekommen, da Goethes Wilhelm
Meister „nach einem künftigen Nationaltheater so vielfältig hatte seufzen
hören".
Wohl ß-eschah es schon früher, daß dieser oder jener Truppe irgend Prinzipal-
o schalten und
ein Mäcen längere Unterkunft gewährte, aber günstigstenfalls dauerte Nationaltheater.
es nur einige Jahre, dann schlug den Unsteten wiederum die Wander-
stunde, und die hervorragendsten, durch ganz Deutschland und über die
Grenzen hinaus berühmtesten „Prinzipale", wie Caroline Neuber und ihr
Schüler Schönemann, bei dem Ekhof begann, verendeten im Elend. Erst
seit dem Hamburger Beispiel hielt sich die Idee eines Nationaltheaters
aufrecht. In Hamburg selbst sorgte von Ekhof bis zum großen Schröder
eine Reihe starker schauspielerischer Talente dafür, daß Lessings Saat
auch ohne Lessings Mitwirkung aufging. Allmählich fanden auch die
Höfe, die bisher fast nur der Oper zugänglich gewesen waren, Geschmack
am Schauspiel. Gotha ging 1775 mit bestem Beispiele voran, begründete
das erste deutsche Hoftheater modernen Stils und stellte an seine Spitze
den Berufensten, Ekhof selbst, dem dadurch das jämmerliche Schicksal
der Neuberin und seines Lehrmeisters Schönemann erspart blieb, der als
verehrter Mann in Amt und Würden sterben durfte. In Wien griff Josef
-, Paui, Scill.KNriiKK: Das 'J'hcatcr.
4 /-
der Zweite den Gedanken auf und nahm das Burgtheater in eigene kaiser-
liche Verwaltung; er gab damit der deutschen Schauspielkunst einen
Sanimel- und Sonnenplatz, auf dem sie gedeihen konnte wie nirgends
anders. Im Zusammenhange mit l.essings Einflüssen steht es, daß auch
der junge Schiller schon 1781 in Mannheim ein Nationaltheater für seine
Erstlinge bereit fand. Kein wandernder Prinzipal hätte die „Räuber" bringen
wollen oder können. Das vermochte erst die sichere Autorität eines
Dalberg. So bildeten sich seit der Hamburgischen Entreprise die Formen
aus, die fähig waren, den mächtigen Inhalt des neuen nun aufblühenden
Dramas zu fassen, das wir Deutsche unser klassisches nennen. Die
großen Dichter selbst schufen sich in Weimar eine eigene Bühne, auf der
sie ihrem poetischen Stil ein schauspielkünstlerisches Ideal anpaßten.
Hamburg u.id Während in Hamburg die Lessingsche Tradition der in Natur zu ver-
we.mar. ^^.^^j^^gj^^jg^ Kunst durch Friedrich Ludwig Schröder, den größten Schau-
spieler der Dichterzeit, gepflegt wurde, verlangte man in Weimar eine
Verklärung der Natur, eine Steigerung des wirklichen Lebens zu höherer
Wahrheit. Gegenüber der Prosarede, in die Schröder den Shakespeare
und den Calderon klemmte, sollte in Weimar der fünffüßige lambus zu
feineren oder schwungvolleren Rechten gelangen, denn inzwischen hatte
Schillers Pathos diesen prosaähnlichen Nathanvers mit mächtigstem Odem
erfüllt. Max, Mortimer, Dunois, die feindlichen Brüder, Arnold vom
Melchthal brauchten einen erhabeneren Ton und größere Gebärden als
I^Iinnas Major und der Prinz von Guastalla. Um diesen Stil zu treffen,
mußten deutsche Schauspieler erst erzogen werden; als Erziehungs-
mittel benutzten die Weimaraner — auch ein Beispiel wellenförmiger
Entwicklung — dieselbe französische Tragödie, die Lessing einige Jahr-
zehnte früher verworfen hatte. Wer Goethes vielbespöttelte Regeln für
Schauspieler liest, möchte diese Schulmeisterei der freieren Auffassung
Lessings entgegenstellen und eine Abirrung von Lessings rechtem Wege
zur natürlichen Kunst beklagen. Aber Goethe löste mit diesen Regeln
eine ganz andere Aufgabe als Lessing mit seinen wenigen kritischen
Bemerkungen in der Dramaturgie. Während Lessing als freier Kritiker
vor die Öffentlichkeit trat, fühlte Goethe die Verpflichtung zum Ele-
mentarschulunterricht. Er schrieb für Analphabeten der Schauspielkunst,
denen körperliche Zucht und Bildung einzutrichtern war, die aus dem
rohen Naturalismus ihrer größeren oder geringeren Talente zu künst-
lerischen Formen emporzuheben waren. Wer aus praktischer Erfahrung
weiß, daß jeder dramaturgische Unterricht mit Abc und Einmaleins be-
ginnen muß, daß auf dem Theater kein Meister vom Himmel fällt, wird,
statt über Goethes Regeln zu lachen, ehrfürchtig bewundern, wie dieser
unermüdlichste und allergründlichste Erzieher seiner Nation hier die müh-
samste Pädagogik selbst auf sich nahm und einem System zuzuführen
suchte. Auch Schröder in Hamburg stellte für seine Schauspieler Er-
ziehungsgrundsätze auf, die mit den Goetheschen oft übereinstimmen.
VII. Das l'heater der Gcycnwarl. 475
Nur kannte Schröder, weil er selbst Schauspieler war, die Gefahren einer
solchen Systematik besser als Goethe, und wußte vor den Übertreibungen
der Regel zu warnen. Er ging fachmännischer vor als Goethe, der der
Unart durch Art wehren wollte und oft nicht sah, daß jenseits der Art
gleich wieder die entgegengesetzte Unart lauert.
VII. Das Theater der Gegenwart. Der Gegensatz der Hamburger
und der Weimarer Schule, der die gesamte deutsche Schauspielkunst des
ig. Jahrhunderts beherrschte, wurde von den Meistern dieser Schulen zwar
empfunden, wuchs sich aber erst später zu größerer Schroffheit aus.
Erst die Schüler übertrieben die Grundsätze der Meister und weiterten
die Kluft. Der Weimarer Stil artete in hohle Pathetik der Reden und
Gesten aus und lieh den großen Ton und die bedeutende Gebärde nicht
mehr dem tieferen Sinn, sondern deklamierte und gestikulierte ins Leere,
Der Hamburger Realismus, verleitet durch eine platte Werkeltagsschreiberei,
entartete zur Nüchternheit. Seelenlos eins wie das andere. Dennoch wirkte
der Segen jener großen Kultivierer der deutschen Theater auf die späteren
Generationen wohltätig nach. Einem Naturgenie wie I-udwig Devrient
war die Kunstbahn geebnet; seine Kugel rollte wild, aber sie rollte ans
Ziel. In Wien verschmolzen unter Schrey\'ogel beide Richtungen zu einer
höheren Einheit, die den tiefen Grund zum Laubeschen Burgtheater legte.
Auf diesem Boden konnte der Zusammenschluß großer Talente einen
Dichter vom Range Grillparzers aus dem Epigonentum zu eigener Kraft
geleiten. Auf anderen Bühnen freilich fehlte ein solcher Zusammenschluß,
und da es an großen schauspielerischen Talenten nirgends gebrach, so
mißbrauchten diese ihre Souveränität zu eigenem Nutzen.
Es entstand, den Schröderschen und Goetheschen Grundsätzen gleich virtuoscmun
entgegen, ein selbstsüchtiges und selbstgefälliges Virtuosentum, das Eduard
Devrient seinem großen Onkel Ludwig wohl mit Unrecht, seinem Bruder
Emil, dem Damenliebling, gewiß mit Recht vorwarf, das die geniale Be-
gabung Bogumil Dawisons und das Mädchenphänomen Marie- Seebachs
viel zu früh aus Laubes strenger Schule zur Wanderschaft trieb und
dem Einzelnen zwar populäre Erfolge sicherte, aber der ganzen Kunst
schadete. Denn was sich die Götter erlaubten, wollten auch die Herden-
tiere haben. Jeder Stümper, jeder Geck suchte durch abgelauschte Vir-
tuosenmätzchen aufzufallen, riß Kulissen und erging sich ohne Rücksicht
auf das Gesamtbild in übertreibenden Solowirkungen und Effekthaschereien.
Die Schauspielkunst hatte ein solches Übergewicht, daß sie sich auf Kosten
des Dramas breit machte, als wollte sie sich an der Literatur für frühere
Unbill rächen. Einem der saftigsten Genies konnte Dingelstedt den feinen
Vorwurf nicht ersparen: in Berlin spiele Döring im „zerbrochenen Krug",
in Wien werde der „zerbrochene Krug" mit La Roche gespielt. Diesen
Kultus, den Schauspieler mit sich treiben ließen und selbst trieben, för-
derten mittelmäßige Literaten durch Paradereiserollen, die sie ihnen auf
,y. Paul Schlenther: Das Theater.
die Leiber und Leibchen schrieben. Auch das Beispiel fremder Künstler,
die im Laufe des Jahrhunderts herkamen, entzündete die Mimeneitelkeit.
Welch ein Ziel, das schon im Anfang des Jahrhunderts Talma dem Ko-
mödiantenehrgeiz gesteckt hatte, als ihn in Erfurt Napoleon vor einem
Parterre von Königen spielen ließ. Später kamen die Rachel und die
Ristori, Salvini und Rossi und zeigten, wie sich in anderen Kulturstaaten
ein großer Mime durchzusetzen weiß. Wer wollte da in Wien oder
München oder Dresden ein Guter unter Guten bleiben?
Das Burg- Zur Ehre deutscher Schauspieler sei es gesagt, daß doch so mancher
diese Frage im künstlerischen Sinn beantwortete. Anschütz, La Roche,
Fichtner, Ludwig Loewe, die Rettich, die Haizinger, Luise Neumann
durften im stolzen Bewußtsein zur Ruhe gehn: nur wer im Wiener Burg-
theater war, wußte, was jeder Einzelne von ihnen und was sie alle zu-
sammen bedeuteten. Allerdings lebte auch diese Elitegarde deutscher
Schauspielkunst keineswegs nur vom großen Drama. Die Dutzendware
beherrschte das Repertoire; die Nachfolger Ifflands undKotzebues bestellten
das Haus; den Stil Schillers und Goethes scheint man auch im Burg-
theater Laubes nicht mehr so getroffen zu haben, wie einst im Burg-
theater Schreyvogels. Hatte dies der Hamburger Einschlag verschuldet?
Oder strebte die Zeit nach anderen Zielen? Auch auf den übrigen
Theatern fand sich äußerst selten eine glänzende Begabung, die dem
Weimarer Idealismus innerlich gerecht wurde. Wer diese Anerkennung
fand, wie Eugen Dettmer aus Dresden als Posa und Egmont, entging
doch nicht dem Vorwurf der Manieriertheit und Geziertheit.
Berliner Im Berliner Hoftheater, das seit Fleck und Iffland eine Fülle starker
c auspie aus. g^^g^^gpjgjgj.-gj,j^gj. Xaleute, darunter weithin ragende Vorbilder wie Seydel-
mann und Dessoir beherbergt hatte, konnte man in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts beobachten, daß auch bei Schiller die realistischen Ge-
stalten besser gelangen als die idealen Helden. Dort tüchtige Kraft, hier
affektierte Schöntuerei, die vielen schon beim wirklich schönen Emil
Devrient unerträglich war. Karl Werder, ein echter Kenner der Schau-
.spielkunst, erzählte mit Humor, wieviel vergebliche Mühe er aufwenden
mußte, um dem weibischen Hendrichs die tänzelnden Pas abzugewöhnen
und ihm Schritt und Haltung eines Columbus beizubringen. Hier scheinen
Goethes Regeln, die seine gelehrigsten Schüler, das Wolffische Ehepaar,
nach Beriin importiert hatten, zum Zerrbild geworden zu sein. Mehr Glück
oder Verstand hatte das Wiener Burgtheater, das sich in Josef Wagner
und einigen seiner Nachfolger Idealisten von lebendigstem Feuer zu schaffen
wußte. Sie stellten nicht schöne Bilder ohne Gnade hin, sondern schufen
Menschen, die das Übermenschliche realisierten. Das aber ist die Voraus-
setzung alles Idealismus, sofern er Kunst sein will. Gerade die Kultur-
arbeit der Gegenwart beweist, daß aller Idealismus, der nicht künstlerisch
realisiert werden kann, Schwindel oder Schwärmerei ist.
'^G^genwart' Vom Zeitalter Bisnmrcks, vom naturwissenschaftlich-technischen Zeit-
VII. Das Theater der Gegenwart. 475
alter darf man nicht verlangen, daß die Schauspielkunst Schiller im Stile
Weimars spiele. Als Adolf Menzel, der große Maler des modernen
Realismus, im Theater Wallenstein sah, störten ihm Maxens „Privat-
amouren" den interessanten historischen Vorgang. Das ist das Urteil der
ehrlichen Gegenwart über abgelegte Ideale. Wenn die Schauspielkunst
zugleich wahr und künstlerisch ist, so kann sie noch heute den Glauben
des Zuschauers in die weitesten Fernen der Phantasie tragen, aber nur
durch Mittel des Lebens und Erlebens. Von großer Poesie der Vergangen-
heit kann daher nur das auf die moderne Bühne gerettet werden, was
sich in Form und Inhalt nicht gegen die Bedingungen des modernen
Lebens und Erlebens sträubt. Kann Max Piccolomini nicht mehr wie ein
lebendiger Mensch in Überlebensgröße wirken, so wird man nicht an ihn
glauben, wie man an seinen Verwandten, den Prinzen von Homburg glaubt,
den erst moderne Schauspielkunst auf der Bühne offenbart hat. Jede Zeit
stellt auf ihre Postamente diejenige Unsterblichkeit, in der sie ihr eigenes
Seelenleben wiederfindet. Das läßt sich nirgends so deutlich beobachten,
wie auf dem Theater, wo auch die Großen und Größten während be-
stimmter Zeitläufte im Werte steigen und sinken und wiederum steigen.
Möglich, daß eine Zeit kommt, für die Theklas Arie vom Schönen auf der
Erde wieder das Höchste sein wird. Von der Gegenwart und der nächsten
Zukunft darf man das nicht erwarten und auch nicht verlangen.
Unsere Zeit ist wahrlich unparteiisch genug. Sie hat auf allen Bühnen vieUeitigkeü.
deutscher Sprache Schillers Gedächtnis feierlich befestigt, ohne den Be-
geisterungssturm von 1859, aber mit einem dankbaren und tief verstehen-
den Pflichtgefühl. Sie hat die Erkenntnis gebracht, daß auch Goethe ein
Dramatiker ist, aber mehr im modernen als im Weimaranischen Sinn. Sie
hat das wunderbare dramatische Genie des „Romantiker.s" Kleist erst dem
ITieater geschenkt. Sie hat an Grillparzer das Unrecht gesühnt, das
Grillparzers eigene Zeit, die nur seine Epigonenwerke anerkennen wollte,
ihm zufügte, als er selbständig wurde. Sie hat die Attiker, Shakespeare,
Moliere lebendig erhalten, teilweise erst wieder lebendig gemacht. Sie
fördert mit mäeutischem Bemühen den schweren Entbindungsprozeß ihres
eigenen Dramas, das die großen Konflikte und Katastrophen in stille Seelen
legen oder im sozialen Kampfe zeigen will. Sie sucht den Ausgleich zwischen
großen Überlieferungen der Vergangenheit und den unabweisbaren Aus-
drucksformen eines neuen veränderten Lebens. Diesen vielseitig vordringen-
den, oft einander widerstreitenden Ansprüchen kommt keine Bühne der Welt
so weit, so nachgiebig entgegen wie die deutsche Bühne, die noch immer
unbekümmert um politische Grenzverschiebungen überall, wo deutsche
Sprache aufrecht bleibt, ihres nationalen Dienstes waltet, aber zugleich
jeder fremden Erscheinung eine Gastfreundschaft entgegenbringt, die der
Gastfreund nur selten erwidert. Wenn der Jahresspielplan eines großen
deutschen Hoftheaters einmal besonders reich, vielfältig und gut geraten
sollte, so böte dieses Repertoire ein Bild der gesamten geschichtlichen
476
Vaui. Schi.enthku: Das Theater.
Entwicklung unserer gegenwärtigen dramatischen Kunst. Zur Orestie des
Aischylos, zur Sophokleischen Oidipostrilogie, zur Euripideischen „Medea"
und zu einem Konglomerat Aristophanischer Komödien träte die indische
„Sakuntala". Ein verkappter Plautus wagte sich neben einen verschleierten
Terenz. Aus dem Mittelalter käme der Advokat Pathelin mit der Mandra-
gola. Lope und Calderon lieferten mehr als ein Zeugnis ihrer Fruchtbarkeit.
Neben Shakespeares Meisterwerke drängten sich manche seiner vernach-
lässigten Stücke und auch an Shakespeares englischen Vorläufern und Zeit-
genossen würden Wiederbelebungen versucht. Moliere käme blankgeputzt
und zöge manchen der Jüngeren seiner Nation, wie Beaumarchais, nach sich.
Das Beispiel der Düse genügte, Goldonis „Locandiera" wieder einzuführen,
imd wie gern holte man den alten Holberg herbei, wenn seine komischen
Motive durch Kotzebue und andere Ausplünderer nicht verbraucht wären.
Alle diese aber wären erst Vorposten für die eigentliche Festung des
Spielplans, für unsere eigenen großen Dramatiker von Lessing bis zu
Grillparzer, an den sich spröde Hebbel und Otto Ludwig schließen. Ich
weiß aus eigenster Erfahrung nur zu wohl, daß sich dieser Idealspielplan
in Jahresfrist nicht durchführen läßt, denn, wie schon der Weimarer
Theaterdirektor Goethe einer hochgeborenen Petentin schrieb: „die ver-
schränkten Verhältnisse theatralischer Beziehungen rauben den Vorstehern
derselben fast allen freien Willen." Das Theaterjahr ist kaum ein Zehn-
monatsjahr, und ach! das Feld ist gar so weit. Das Feld wird aber noch
viel weiter durch jene Gemeinplätze, worauf alles das wuchert, was Goethe
in Weimar, Schröder in Hamburg, Iffland in Berlin, Eduard Devrient in
Karlsruhe, Laube in Wien so wenig entbehren konnten wie wir Heutigen
und was wir Heutigen als Zug- oder Kassenstücke bezeichnen.
Zug- und Wie die heutige Presse, auch die größte und beste, ihr Publikum
ohne den Feuilletonroman nicht befriedigen kann, so darf sich ein Theater,
das auf ein breites mannigfaltiges Stadtpublikum rechnet, den jeweiligen
Kotzebues oder Birch-Pfeiffers schon darum nicht verschließen, weil jedes
Theater, auch das subventionierteste Hof- oder Stadt- oder Aktientheater,
auf geschäftlicher Grundlage steht und um so bessere Geschäfte machen
muß, je höher es künstlerischen Idealen folgt. Je mehr abgearbeitete, in
ihren Nerven überreizte, von ihren Sorgen unerlöste Menschen den Schluß
des schweren Tages im Theater verbringen, desto größer wird das Be-
dürfnis nach leichter Zerstreuung, leichter Anregung, leichter Rührung
und vor allem nach dem größten Sorgenbrecher, dem lauten Gelächter.
Wenn das Kunsttheater diesem Bedürfnisse nicht entgegenkommt, so
würden es Singspielhallen, Tingeltangel und Spezialitätenbühnen vollends
verdrängen. Darum sind nicht nur unter den Schauspielern, sondern auch
Das Lustspiel, unter den Autoren leichte flotte Lustspieltalente, die in guter Form über
Geist, Geschmack und Laune verfügen, eine Wohltat. Wie in der besten
Zeit des Wiener Burgtheaters Bauernfeld diese populären Theaterbedürf-
nisse mit einer gewissen Grazie stillte, so möchte man wünschen, daß
VIT. Das Theater der Gegenwart. ^-j-j
.sich heutzutage bühnenkundige Talente vom Range Ludwig Fulda.s oder
Arthur Schnitzlers oder Max Dreyers mit dieser dankbaren und menschen-
freundlichen Mission begnügten, anstatt einerseits nach Dichterkränzen
zu langen, die allzuhoch hcängen, andererseits das Gebiet der muntern
Theaterunterhaltung handwerksmäßigen Machern zu überantworten. Nur
in Weltstädten, wie Berlin und Paris, deren Theater nicht bloß mit der Speiiaiisierune.
einheimischen Bevölkerung, sondern auch mit einem ungeheuren Fremden-
zudrang rechnen dürfen, können sich einzelne Bühnen auf ein bestimmtes
Gebiet der dramatischen Kunst einschränken. Auf diese Weise hat sich
in Berlin seit Anfang der neunziger Jahre für die psychologische Kunst
Ibsens und Hauptmanns ein Theater fast bis zur schauspielerischen Voll-
endung gebildet. Ein anderes Unternehmen versteht es, nach Londoner
Muster alljährlich ein bis zwei grosse Shakespearedramen mit allen
Raffinements moderner Techniken in Kassenstücke zu verwandeln, so daß
Dichtungen wie der „Sommernachtstraum" oder der „Kaufmann von
Venedig" an zahllosen Abenden hintereinander gegeben werden können,
wie vormals nur eine zugkräftige Posse oder Operette.
Diese Einseitigkeit des Spielplanes ist der Schauspielkunst nicht Schauspieier-
^ misere,
förderlich, denn der Schauspieler braucht Abwechslung, wie er sie in
Deutschland an den Hoftheatern und an den Haupttheatern größerer
Mittelstädte noch findet. Xur hier kann er sich unter guter Leitung vor-
teilhaft entwickeln. Leider ist in Deutschland bei der Überfülle von
Theatern das Material an brauchbaren Schauspielern viel zu gering.
Der Theateralmanach, den die Genossenschaft Deutscher Bühnen-
angehöriger, diese mustergültige Vertretung sozialer Standesinteressen, all-
jährlich herausgibt, verzeichnet die deutschen Bühnen mit ihrem Personal
auf 373 Seiten Groß-Oktav. Wollte sich der Theateralmanach auf die-
jenigen Schauspieler beschränken, die für ihre Kunst von Belang sind,
so käme er mit einem Drittel von 73 Seiten aus. Man kann sich vor-
stellen, wie schwer es unter diesen Umständen ist, schon in Städten
wie Leipzig, Mannheim oder Hamburg für ein künstlerisches Zusammen-
spiel zu sorgen und diese alten Kulturstätten dramatischer Kunst auf der
Höhe zu halten. Aber auch Altenburg, Heidelberg, Harburg wollen
daneben ihr festes Theater haben, und das eigentliche Schmierenwesen
herumziehender Truppen, dieser alte Rest früherer Prinzipalschaften, fängt
erst bei kleinsten Städten und Städtchen an.
Bei so trauriger Verzettelung der wirklichen Talente, die sich in
diesem weiten, wüsten Umhertreiben nicht zueinander finden können, die
durch schlechtes Beispiel zu verkommen drohen und dadurch das geringe
Vermögen der deutschen dramatischen Kunst noch verkleinern, liegt der
Gedanke nahe, die Zahl großer ständiger Bühnen herabzusetzen und durch
Verminderung des Quantum das Quäle zu stärken. An die alte Wander- Theater-
kraft des Schauspielerbenifes anknüpfend möchte man im Zeitalter der
Koalitionen eine größere Zahl von Xachbar.städten, von denen jetzt jede
478
Paui. Schlknther: Das Theater.
eine dürftige Bühne hat, zu einer kräftigern Bühne unitis viribus zu-
sammentun, z. B. am Niederrhein Düsseldorf, Elberfeld-Barmen, Crefeld oder
beim Mainausfluß Wiesbaden, Mainz, Darmstadt, oder in der Schweiz
Bern, Basel, Zürich, oder im Norden Schwerin, Rostock, Lübeck. Was
wieJer im 1 8. Jahrhundert dem fahrenden Volke der Schönemanns und Acker-
ruppen. ^^^^^^^^ mögUch War, die im Staub der Landstraße quer durch ganz Deutsch-
land von Straßburg bis Riga karrten, das müßte im Zeitalter des Verkehrs
Kinderspiel sein; da die meisten Theater mittlerer Städte gleichzeitig über
Oper und Schauspiel verfügen, könnten sie innerhalb der zwei Gattungen
abwechseln. Wo bisher Ansätze zu dieser Freizügigkeit versucht wurden,
hatten sie Erfolg. Schon in den siebziger und achtziger Jahren hielten
die Meininger und die Münchener Mundartspieler ihre Triumphzüge. Jetzt
finden Berliner Bühnen in Wien, Wiener Schauspieler in Berlin die freund-
lichste Aufnahme. Haupthindernis für den Zusammenschluß von Nachbar-
städten dürften die verschiedenartig^en Org^anisationen der Theater sein.
Die Höfe unterhalten noch immer ihre eigenen Theater; und zwar sind diese
größeren oder kleineren großherzoglichen und herzoglichen Bühnen noch
immer Oasen in der weiten Wüste der Provinzen, weil sie die Kunst doch
in gewisse Formen bannen und die Existenz bewährter Schauspieler sicher
stellen. Welche starke Blüte auf diesem Boden noch der Kunst gedeihen
konnte, hat Herzog Georg IL von Sachsen -Meiningen, nach Laube der
bedeutendste deutsche Theaterführer, aller Welt bewiesen. Und jetzt
sehen wir an den Beispielen Dresdens oder Stuttgarts, daß die Freiheit
der Kunst in Hoftheatem besser geborgen ist als in manchem bürgerlichen
Theater. Eine solche Hofbühne wird sich aber schwerlich mit einem ver-
pachteten Aktienunternehmen oder einem von der Stadt selbst verwalteten
Theater paaren. Die höchste Pflege der Schauspielkunst als Darstellung
menschlicher Sitten und Leidenschaften ist daher fast ausschließlich den
ganz großen Städten überlassen.
AVeitstädte. Nur in Berlin und Wien ist eine urteilsfähige Kritik zu höchsten Maß-
stäben berechtigt. So vollzieht sich auch in den Landen deutscher Zunge
ein Prozeß, der in den meisten anderen Kulturstaaten längst entschieden
ist. Das Theater Frankreichs heißt Paris, das Theater Englands heißt
London, das Theater Dänemarks heißt Kopenhagen, das Theater Nor-
wegens heißt Kristiania. Nur in Italien erhielt sich das Wandertruppen-
wesen bis auf den heutigen Tag. Die Künstler gruppieren sich hier nicht
nach festen Wohnsitzen, sondern nach umherziehenden Gesellschaften, die
meistens von einer hervorragenden Kraft, wie Novelli oder der Düse, be-
herrscht werden und bald in Venedig bald in Neapel, bald in Genua
bald in Palermo ihre Zelte aufschlagen. Die Stadt der Könige und Päpste
spielt im italienischen Theaterwesen keine größere Rolle als Mailand oder
Florenz. Die Schauspielkunst hat darunter nicht gelitten. Eines wahrhaft
künstlerischen Genies, wie es Eleonora Düse ist, kann sich kein Theater
anderer Nationalität rühmen. Auch für die, die ihre Sprache nicht ver-
VII. Das Theater der Gegenwart. 47g
Stehen, redet sie verständlich, weil sie das tiefste Geheimnis der Schau-
spielkunst offenbart, den Körper in Seele zu verwandeln. Freilich ist
auch ihr Repertoire beschränkt und ihrer großen Kunst nur selten würdig.
Das Ideal, die größten Schauspieler in größten Dramen gemeinsam zu
sehen, erscheint unerreichbar. Bisweilen glaubt man, es werde nach dem F«t.pieihaus.
Bayreuther Muster durch ein Festspielhaus in sommerlicher Muße erreicht
werden. Der Plan ist so schön, daß jeder ihn fördern sollte; auch der,
der zweifelt. Man denke sich dort, wo sich die Wege der Alpenfahrer
nach Tirol und in die Schweiz scheiden, am Zürcher See oder in dem
wundervollen, obendrein vom Theaterwetter besonders begünstigten Salz-
burg, während des Juli und August die Versammlung unserer besten
Menschcndarsteller, die nach sorgfältigsten Proben unter sachverständiger
Leitung in künstlerischer Ausstattung heuer die beiden Teile des „Faust",
übers Jahr von Shakespeare eine Tragödie und ein Lustspiel, das nächste
Mal Schiller, dann Ibsens „Brand" und „Peer Gynt" einem von Berges- und
Waldesluft erfrischten, den Sorgen des Werkeltags ferngerückten, einander
fremden und darum wenig durcheinander voreingenommenen Publikum
aufführen. Welche Anreg-ung könnte jeder Darstellende und Zuschauende
hiervon mitnehmen und dann den Samen in die heimatliche Erde pflanzen.
Bis dieser Traum Wirklichkeit wird, möge er jeden ermutigen und mahnen,
zu Hause nach dem Höchsten zu streben, das erreichbar ist. Man wird
dieses Höchste auch künftighin auf dem schmalen Pfade zwischen Schwulst
und Schwäche finden, der die Entartungen der Weimarer Schule von den
Entartungen der Hamburger Schule trennt, der der Natur gibt, was der
Natur ist, und dem Stile, was des Stiles ist, der eine Tradition nur so lange
festhält, als sie entwicklungsfähig bleibt und den Staub des Alters durch
neue Lebensbäche fortspült.
Festzustellen, was die Schauspielkunst der Zeit und der Zukunft ihren ^^J™«^^;^
Vorfahren schuldet, ist kaum möglich, da niemand sich's genau vorstellen
kann, wie vor seinen Lebzeiten gespielt worden ist. Die Schlagworte, die
wir lesen, können einen ganz andern Sinn gehabt haben, als den wir
ihnen unterlegen. Wer dem modernen Realisten unnatürlich erscheint,
mag auf den Romantiker schon zu naturalistisch gewirkt haben. Wenn wir
von Garrick oder der Seyler-Hensel sprechen, so umgaukeln uns trotz
allen genauen Schilderungen bleiche, ungreifbare Schatten, es bleibt bei dem
traurig-schönen Trivialwort: dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.
Eine Hoffnung, daß sich dies in Zukunft ändern werde, leuchtet aus den
Errungenschaften der modernen Technik auf, die wohl bald fähig sein
wird, das bewegte Bühnenbild im Zusammenhang mit dem Klang und
der Artikulation des gesprochenen Wortes täuschend festzuhalten. Bis da-
hin müssen wir uns bescheiden, „des Augenblicks geschwinde Schöpfung"
durch getrübte, von Zufallsstimmungen gelenkte Sinne zu empfangen, im
unsichern Gedächtnis zu bewahren und durch die spärlichen Adjektiva
unserer Sprache zu deuten.
Literatur.
Für den besonderen Zweck dieser Skizze, deren Niederschrift nur in spärlichen, oft
weit voneinander abgelegenen Mußestunden möglich war, konnte ich bloß zwei größere
Werke durcharbeiten. Das eine ist Eduard Devrients ,, Geschichte der deutschen Schau-
spielkunst", von der des Verfassers Enkel Hans Devrient leider keine verbesserte und bis
in die Gegenwart fortgeführte neue Auflage, sondern nur einen unveränderten Abdruck der
alten (Berlin, O. Eisner, 1905) herausgegeben hat. Das andere Werk ist Wilhelm Creize-
NACHs ,, Geschichte des neueren Dramas", von der bis jetzt (Halle, Niemeyer, 1893 — 1903)
die ersten drei Bände erschienen sind. Creizenachs ebenso gelehrtes wie aufschließendes
und anregendes Werk liegt den historischen Darlegungen des ersten Teils meiner Skizze
zugrunde. Was sich als Reminiszenz aus früherer Lektüre oder früheren eigenen Studien
hier mag eingeschlichen haben, kann ich nicht mehr unterscheiden und nachweisen.
DAS ZEITUNGSWESEN.
Von
PCarl Bücher.
I. Ursprung- und Begriff der Zeitung. Drei Entwicklungsströme Dreifacher
' . . , . l'rsprung der
der Kultur münden bei der Ausbildung des Zeitungswesens m ein gemein- Zeitung.
sames Bette, um in diesem vereint weiterzufließen. Der eine entspringt
dem Bedürfnisse staatlicher Organisation, der zweite dem des sozialen
und wirtschaftlichen Verkehrs; der dritte sucht seinen Ursprung in dem
Streben nach Erweiterung des Gesichtskreises der Individuen, in der
fortgesetzt wachsenden Teilnahme an den Schicksalen und am geistigen
Leben der gesamten Mit- und Umwelt.
Der Staat bedarf, sobald er den Kreis enger örtlicher Gemein-
schaften überschreitet und zur Aufstellung rechtsverbindlicher Regeln des
Gesellschaftslebens gelangt, eines Mittels, um den Willen der höchsten
Gewaltträger durch Gesetz und Verordnung seinen Angehörigen ohne Ver-
zug bekannt zu machen. Der soziale Verkehr entwickelt sich in gleichem
Schrittmaße mit der Ausbildung größerer wirtschaftlicher Gemeinschaften;
erst wenn über die Vorstufen der Haus- und Stadtwirtschaft hinaus das
Zeitalter der arbeitsteiligen Volkswirtschaft erreicht ist, wird die öffentliche
Bekanntgabe von Angebot und Nachfrage als Bedürfnis empfunden. Weit
früher erwacht die rein geistige Teilnahme des Individuums an den Ge-
schehnissen der Mitwelt, und wenn sie in ihrer weiteren Entwicklung durch
die zunehmende Ausdehnung der Staats- und Wirtschaftsgebiete, durch
die Entstehung von politischen und ökonomischen Beziehungen auch zu
anderen Völkern mit bedingt ist, so findet sie doch nicht an dem Be-
stehen solcher Beziehungen ihre Grenze. Vielmehr spricht sich in ihr
immer auch ein Hinausdrängen des Einzelnen über sein geistiges Sonder-
dasein, eine Verflechtung desselben in die Gattungsinteressen der Mensch-
heit aus. Damit allein kann es gerechtfertigt werden, wenn hier das
Zeitungswesen unter den ,3ildungsmitteln" behandelt wird.
Das Wort Zeitung findet sich in unserer Sprache nicht vor dem n^Kriffder
. . Zeitung.
1 5. Jahrhundert. Es bedeutete damals eine Nachricht über ein Zeitereignis,
eine Neuigkeit und heftete sich bald als technische Bezeichnung an
zuerst geschriebene, später auch gedruckte Sammlungen solcher Nach-
Db Kultur dsk Gboenwakt. Li. 3'
.g2 Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
richten. Heute verstehen wir unter Zeitung eine auf dem Wege
mechanischer Vervielfältigung hergestellte, in sich abge-
schlossene Zusammenstellung von neuen Nachrichten, welche
zum Zwecke der Veröffentlichung in kurzen Zeitfristen fort-
laufend erscheint. Der Begriff ist für uns unzertrennlich verbunden
mit den Erscheinungen des Papiers und des Druckverfahrens; ja, das
letztere steht für unser Vorstellungsvermögen so sehr im Vordergrund,
daß das Werkzeug, dessen es sich bedient, die Presse, uns als Symbol
des ganzen durch die Zeitung bezeichneten Kulturkreises dient und für
ihn den Namen abgeben muß. Aber wenn wir auf die Anfänge des
Zeitungswesens zurückgehen wollen, so werden wir uns von seiner
modernen Erscheinungsform losmachen müssen und dann den Begriff der
Zeitung überall da gegeben finden, wo Zusammenstellungen von Nach-
richten über Zeitereignisse allgemeinen Interesses regelmäßig einem un-
begrenzten Publikum zugänglich gemacht werden. Daß dies in gewerbs-
mäßiger Weise geschehe, ist durchaus nicht wesentlich; ebensowenig ist
es von Bedeutung, ob die Veröffentlichung zunächst nur einem oder
mehreren der drei oben erwähnten Zwecke dient.
Die ältesten IL GeschichtedesZcitungswesens. Die ältesten Veranstaltungen,
Zeitungen, ^^^j^j^^ ^j^ Zcitungcn iu Anspruch genommen werden müssen, finden wir
bei den Römern und den Chinesen. Beide Male sind es staatUche Publi-
kationseinrichtungen, bestimmt, einem weiteren Kreise die Maßnahmen der
Staatsleitung und Vorgänge, welche mit dieser zusammenhängen, bekannt-
zugeben. In beiden Fällen handelt es sich um Staatswesen von großer
Ausdehnung, die zahlreiche Völkerstämme zu einer gewissen Gemeinsam-
keit der Interessen verbunden haben. Die Veröffentlichungen beschränken
sich aber in beiden Fällen nicht auf das, was heute den Inhalt unserer
Gesetz- und Verordnungsblätter bildet, sondern gehen erheblich darüber
hinaus, indem sie dauernde geistige Beziehungen zwischen dem Willens-
zentrum des Staates und seinen Untertanen herzustellen und zu erhalten
suchen.
Der römische Bei den Römcm hatte sich in der letzten Zeit der Republik die Sitte
Staatsanzeiger. j^^gg.g^jj^g^^ ^^Q jjg jj^ jjg^ Proviuzen als Beamte oder Finanzpächter ver-
weilenden Angehörigen des herrschenden Standes sich in der Hauptstadt
einen dafür besonders veranlagten Sklaven oder Freigelassenen hielten,
die ihnen über die wichtigsten Tagesvorfälle regelmäßig Bericht erstatteten.
Dieser Einrichtung kam man dadurch zu Hilfe, daß eine offizielle
Zusammenstellung von Nachrichten über solche Vorgänge, insbesondere
über die Verhandlungen und Beschlüsse der Volksversammlung (acta
populi Romani, acta urbis, acta diurna) auf einer mit Gips überstrichenen
Tafel verzeichnet und so öffentlich ausgestellt wurde, einerseits, um sie
der hauptstädtischen Bevölkerung in amtlicher Form bekanntzugeben,
andererseits, damit jene Privatkorrespondenten Abschriften nehmen könnten.
n. Geschichte des Zeitnngswesens. ^82
Von Caesars erstem Konsulat (59 v. Chr.) bis auf Augustus wurde daneben
auch ein kurzes Protokoll über die Senatsverhandlungen (acta senatus)
in der gleichen Weise zur allgemeinen Kenntnis gebracht. Später scheint
der Inhalt beider Publikationen verschmolzen zu sein. In der Kaiserzeit
woirden die Acta diurna immer mehr zu einer Art Hofjournal. Neben den
kaiserlichen Dekreten, Mandaten und Edikten wurden reichlich Nach-
richten von Audienzen, Hoffestlichkeiten, Staatsprozessen, Hinrichtungen,
aber auch über Zirkusspiele, Gladiatorenkämpfe, Bauten, allerlei Natur-
ereignisse, Wunder und Prophezeiungen, Leichenbegängnisse vornehmer
Personen und sonstige Familienereignisse, ja selbst gewöhnlicher Stadt-
klatsch aufgenommen. Ob eine amtliche Ausfertigung und Verbreitung
von Abschriften in Italien und den Provinzen stattfand, wissen wir nicht;
sicher ist, daß die Acta vervielfältigt und an Abonnenten versandt wurden,
wahrscheinlich durch Privatunternehmer. Selbst bei den Truppen auf
entfernten Stationen wurden sie regelmäßig gelesen. Die Redaktion führte
ein höherer Hofbeamter (procurator Aug. ab actis urbis) mit dem nötigen
Kanzleipersonal. Die ganze Einrichtung, deren Anfangsjahr sich nicht
sicher bestimmen läßt, hat ohne Unterbrechung bis zur Verlegung der
Residenz nach Konstantinopel bestanden.
Merkwürdig ähnlich ist dieser altrömischen Einrichtung die Staats- Der staais-
zeitung der Chinesen (King-pao), welche sich bis auf das S.Jahrhundert ''"pcklnj^""
unserer Zeitrechnung zurückverfolgen läßt und seit dieser Zeit ununter-
brochen erschienen ist. Sie wird in zwei Ausgaben verbreitet, einer ge-
schriebenen und einer gedruckten, und zwar jeden Tag mit Ausnahme
der hohen Festtage. Die gedruckte Ausgabe erscheint wegen des um-
ständlichen chinesischen Plattendruckverfahrens einige Wochen später als
die geschriebene; auch ist sie ausführlicher als diese und vor allem viel
billiger. Der Inhalt zerfällt in drei Abteilungen: Hofnachrichten, kaiser-
liche Edikte und schließlich Berichte und Denkschriften der verschiedenen
Staatsbeamten an den Thron, in der Regel mit den dazu getroffenen
kaiserlichen Entschließungen. Die letzte Abteilung ist die bei weitem
umfangreichste und auch wichtigste; sie enthält nicht selten scharfe Ur-
teile über einzelne Zweige der Verwaltung, Beschwerden über bestech-
liche oder nachlässige Beamte, ja Eingaben, in denen dem Kaiser selbst
Rat erteilt wird. Bis auf die neueste Zeit ist der King-pao die einzige
Zeitung Chinas geblieben; die heute daneben noch bestehenden wenigen
Organe, welche in chinesischer Sprache nach europäischer Weise mit
beweglichen Lettern gedruckt werden, sind Unternehmungen von Aus-
ländern.
Trotz ihres langen Bestandes haben weder die Acta diurna der umcrschicic
Römer noch der King-pao der Chinesen eine Entwicklung durchgemacht; mod"i"rncn'zei-
sie sind immer reine Regierungsinstrumente gewesen und geblieben; ""'"
ihren Lesern wurde stets nur das zugänglich, was man sie wissen lassen
wollte; als Träger einer unabhängigen öffentlichen Meinung können sie
31*
^g, Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
nicht gelten. Im Unterschiede dazu hat das Zeitungswesen der modernen
Kulturstaaten einen in allen seinen Stufen noch deutlich erkennbaren
Entwicklungsprozeß durchgemacht. Derselbe fällt einerseits zusammen
mit dem staatlichen Zusammenschlüsse größerer Territorien, andererseits
mit der Organisation eines regelmäßigen Verkehrsdienstes, die sich zuerst
in fürstlichen und städtischen Botenkursen, später in Reit- und Fahr-
posten vollzog.
Die Entstehung Im Zusammenhang mit dieser Ordnung des Nachrichtenverkehrs
nen°zeitung.%ehen wir seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Knotenpunkte des
Botenlaufs wie die Mittelpunkte des Handels, der Kirche und des welt-
lichen Regiments zu Sammelstellen von Nachrichten über Zeit-
ereignisse werden. Staatsmänner, städtische Ratspersonen, Gelehrte und
Kaufleute nehmen die Sitte an, einander solche Nachrichten in Briefen
und Briefbeilagen auf Gegenseitigkeit mitzuteilen. Fürsten bestellen an
wichtigen Verkehrspunkten eigne bezahlte Berichterstatter, und diesen
folgen bald selbständige Gewerbetreibende, die in handwerksmäßiger
Form das Sammeln und Übermitteln schriftlicher Nachrichten für eine
Mehrzahl von Kunden gegen in jedem Falle besonders vereinbarten
Jahreslohn übernehmen. WahrscheinUch sind sie zuerst in italienischen
Städten aufgekommen, namentlich in Venedig und Rom, wo sie den Namen
scrittori d'avisi (auch novellanti, gazettanti) führen; in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts finden wir sie auch in verschiedenen Städten
Deutschlands unter der Bezeichnung Avisenschreiber (Zeitunger,
Novellisten); bald darnach treten sie in Paris auf als Nouvellistes und
wenig später als News writers in London. In Deutschland, Italien und
Frankreich sind es häufig die städtischen Botenmeister und die staat-
lichen Postmeister, welche dieses Geschäft übernehmen, und dies hat
im Laufe der Zeit dazu geführt, daß die Post ein ausschließliches Recht
für die Herstellung und den Vertrieb der geschriebenen und später auch
der gedruckten Zeitungen beanspruchte, wie denn auch ihr zweifellos die
Begründung eines regelmäßigen Austausches neuer Nachrichten, nicht
bloß zwischen verschiedenen Städten, sondern auch zwischen verschie-
denen Ländern zu verdanken ist. Freilich ist sie mit ihrem Monopol-
anspruche nirgends auf die Dauer durchgedrungen.
Eigentümlich- Es sind verschicdeue Sammlungen dieser geschriebenen Zeitungen
keiten derselben. .. .,_ ,, ,, .*t . vii t j'/"\
(Avisen, Nouvelles a la mam, News letters) erhalten, die uns die Organi-
sation und die Regelmäßigkeit des durch sie besorgten Nachrichten-
dienstes deuthch zu erkennen geben. Sie wurden in der Regel wöchent-
lich einmal versandt; jede Nummer läßt an den oft um eine Reihe von Tagen
auseinanderliegenden Daten der Korrespondenzen aus den verschiedenen
Sammelpunkten die Langsamkeit des Boten- und Postverkehrs, aber doch
auch die Geschlossenheit der gesamten Organisation ersehen. Der Inhalt
beschränkt sich auf tatsächliche Mitteilungen über die neuesten politischen
und sozialen Ereignisse. Abonnenten waren die Fürsten und Staats-
II. Geschichte des Zeitungswesens. 485
männer. die städtischen Räte, die kirchlichen Würdenträger, die Groß-
kaufleute, in Frankreich und England auch der Landadel, den sie mit
Hof- und Regierungsnachrichten versorgten. Es ist also ein ziemlich be-
schränkter Leserkreis, auf den sie rechnen konnten, und damit erklärt es
sich, weshalb man die Buchdruckerkunst, die zur Zeit der Entstehung der
geschriebenen Zeitungen längst bekannt und verbreitet war, für ihre Her-
stellung nicht verwendete. In neu besiedelten Kolonialländern ist bis
auf die jüngste Zeit Ähnliches beobachtet worden.
Für die große Masse hat man nur gelegentlich neue Nachrichten D'|^^^°
über einzelne dem allgemeinen Interesse und Verständnis naheliegende Zeitungen.
Ereignisse in den Druck gegeben. Es sind das jene Einzeldrucke in
kleinem Quartformat, gewöhnlich nicht unter einem halben und selten über
zwei Bogen stark, die auf Messen und Märkten verkauft wurden und
von denen fast jede größere Bibliothek in Deutschland, Italien, Spanien,
Frankreich, England Sammlungen besitzt. Die ältesten uns erhaltenen Bei-
spiele dieser Gattung sind aus den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts,
die jüngsten aus dem 18. Jahrhundert. Ein solches „fliegendes Blatt" oder
Heftchen heißt „eine Xewe Zeitung" (relatione, discours, newes); enthält
es mehrere Nachrichten über verschiedene Ereignisse „zwo (drey usw.)
newe Zeitunge". In sehr vereinzelten Fällen wurden über einen zeitlich
fortlaufenden Vorgang mehrere sich aneinander anschließende Zeitungen
veröffentlicht; aber es fehlt in der Regel noch die Numerierung.
Überhaupt entbehrt das ganze Geschäft, das von den Buchdruckern nur
nebenbei betrieben wurde, noch der Kontinuität. Neue Zeitungen er-
schienen, wenn etwas Druckenswertes sich ereignet hatte: der Einzug
eines Fürsten in eine Stadt, eine. Krönung, eine fürstliche Hochzeit oder
Leichenfeier, Schlacht oder Belagerung, Mordtat oder Hinrichtung,
eine seltene Himmelserscheinung, Seuche, Feuersbrunst u. dgl.
Im alleemeinen beschränken sich auch diese Einzeldrucke auf tat- Charakteristik
ö T> • -L derselben.
sächliche Berichte; das Urteil des Berichterstatters hält sich im Bereiche
hausbackener moralischer Nutzanwendungen. Meist sind sie mit langen
marktschreierischen Überschriften versehen. Viele von ihnen bewegen
sich ganz oder teilweise in gebundener Rede (in gesanges wise); im
ersteren Falle wird der „Ton" (die Melodie) angegeben, in dem sie zu
singen sind. So geht die gedruckte neue Zeitung in das historischeoas^hutorische
Volkslied über, das insofern über die Prosadrucke dieser Gattung hinaus-
geht, als es im 16. Jahrhundert weithin zum Träger der öffentlichen
:Meinung wird. Was die Zeit stärker bewegt, kommt hier zum Worte:
kirchliche und weltliche Parteiung, Liebe, Zorn und Haß gegen Personen
und Institutionen, Freude und Leid, Hoffnung und Klage, Lob, Rüge und
Spott. Auch das Lied beschränkt sich auf die Darstellung einer einzelnen
Begebenheit. So dürr und unerfreulich die meisten Prosazeitungen sind
mit ihrer Beschränktheit und ihrem Aberglauben, so frisch und lebendig
muten uns diese gereimten Zeitungen an; nur ;ius ihnen läßt sich ersehen,
486 Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
wie Menschen und Handlungen sich in der Auffassung der Mitlebenden
abspiegelten. Aber sie gaben nicht bloß öifentliche Meinung wieder,
sie machten sie auch ; denn sie wurden tatsächlich nach bekannten Melo-
dieen gesungen und pflanzten die Erinnerung an große Helden und Taten
späterhin von Mund zu Munde fort. Es sei an die Lieder vom Herzog Ulrich,
von Franz von Sickingen, von Georg von Frunsperg, vom Pienzenauer
erinnert. Zuweilen nennt sich in der Schlußstrophe der Dichter und
vergißt dabei selten hervorzuheben, daß er selbst an dem Ereignisse
beteiligt gewesen. Der Titel lautet: „Ein Lied", „Ein new Lied", „Zwei
schöne newe Lieder", aber auch „Newe Zeitung", „Warhaftige newe Zei-
tung" usw. Oft findet sich eine solche Zeitung in Liedform auf demselben
Blatte mit einem Volksliede lyrischen Gehalts oder einer bekannten
volkstümlichen Romanze.
Fliegende Auch allerlei Betrachtungen über religiöse und weltliche Zeitfragen,
Blätter anderer ° ° . O '
Art. Vermahnungen an das ganze Volk oder bestimmte Stände, Klagen über
Zeiterscheinungen haben die beliebte Publikationsform der Neuen Zeitung
benutzt, um den Weg ins Volk zu finden. Es ist bekannt, wie oft und
mit welchem Erfolge die Reformation sich ihrer als Kampfmittel bedient
hat; die Mächtigen der Erde und politische Fraktionen fanden sie ge-
eignet, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch hier könnte man
eine prosaische und eine poetische Spielart unterscheiden. „Leitartikel"
in gereimter Form — so sonderbar es klingen mag- — werden als flie-
gende Blätter hinausgesandt. Ludwig XIL läßt so seine getreuen Unter-
tanen über seine Händel mit dem Papste aufklären, und ein Lied, durch
welches die Opposition den in Pavia gefangen genommenen König
Franz L lächerlich zu machen suchte, hat sich bis auf den heutigen Tag
im Munde der französischen Kinder erhalten.
Weite verbrei- Was aber bcsondcrs auffällt, das ist die Tatsache, daß die gedruckte
Einzelzeitung in der Form des Flugblatts fast zu gleicher Zeit in allen
Kulturländern auftaucht; in Italien wie in Deutschland, in Holland, Eng-
land, Frankreich, Spanien ist sie fast das ganze 1 6. Jahrhundert hindurch
die herrschende Form der Publizistik und strebt sich auch zum Träger
einer oft recht kräftig wirkenden öffentlichen Meinung zu machen. Über
manche Ereignisse wie über die Schlacht bei Pavia (1525), den Seesieg
bei Lepanto (1571) haben sich gleichzeitige Lieder- und Prosazeitungen
fast in allen Kultursprachen gefunden. Nicht wenige bezeichnen sich selbst
als Übersetzungen; in anderen sind die Verfasser mit Namen genannt;
wieder andere erklären, daß sie dem Herausgeber „zugeschrieben" seien
von einem guten Freund, der selbst dabeigewesen, oder daß sie auf der Post
von Venedig, vom kaiserlichen Postmeister in Rom eingelangt seien. Hier
verrät sich ein gewisser Zusammenhang mit den geschriebenen Zeitungen,
der sich bei Blättern mit vielerlei Nachrichten auch darin zu erkennen
gibt, daß die letzteren von denselben Orten datiert sind, die uns als
Sammelpunkte von Korrespondenzen der Avisenschreiber bekannt sind.
n. Geschichte des Zeitungswesens.
487
Immerhin war von ihnen bis zu periodisch erscheinenden Preß-jahrcs-undHaiu-
, jabrszeitungea.
erzeugnissen der Weg noch ziemlich weit. Er ist auch nur schritt-
weise zurückgelegt worden. In Deutschland begann man zuerst mit
Jahresübersichten der politischen Begebenheiten in den sog. Postreutern;
ihnen folgten in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Meß-
relationen, Halbjahrsübersichten (Relationes semestrales) , welche zwei
Jahrhunderte hindurch zu den stehenden Erscheinungen der Frankfurter
Frühjahrs- und Herbstmesse gehörten. Sie haben mancherlei Nach-
ahmungen erfahren; keine von letzteren aber hat längeren Bestand gehabt.
Die Frankfurter Meßrelationen dagegen erschienen ununterbrochen bis
ins 19. Jahrhundert hinein, seit 1628 unter kaiserlichem Privilegio.
Ihre Ouellen waren hauptsächlich die geschriebenen (später auch die Charakteristik
* ^ '^ ^ der letzteren.
gedruckten) Wochenzeitungen und die Einzeldrucke; ihre Herausgeber
blieben aber auch um andere schriftliche und mündliche Nachrichten red-
lich bemüht; doch war es schwer für sie, sich dabei politischen Beein-
flussungen zu entziehen. Schon im März 1599 wurden sie vom Frank-
furter Rat konfisziert, und später lastete auf ihnen die Hand der kaiser-
lichen Bücherkommission. Sie erschienen in Quartheften, selten über
100 Blätter stark, eingeteilt in 20 (seit 1751 : 15) Haupttitul: unter
jedem war ein Land oder eine Art von „seltsamen Fällen und denk-
würdigen Begebenheiten" abgehandelt, trocken und nüchtern, Nachricht
auf Nachricht zusammengestoppelt. Aber sie trugen doch das Interesse
an den Welthändeln in weite Kreise; freilich sank im Laufe der Zeit ihr
Niveau in dem Maße, als sie in tiefere Volksschichten herabstiegen.
Die ersten gedruckten Wochenzeitungen sind nicht erheblich
jünger als die Meßrelationen. Der Streit zwischen den Nationen um die
Ehre ihrer „Erfindung" ist endgültig zugiinsten der Deutschen entschieden.
Man begreift freilich nicht recht, warum man ihn geführt hat. Denn der
Druck hat damals an dem Zustande des Zeitungswesens nichts weiter
geändert als das Vervielfältigungsverfahren. Es sind nach Form und In-
halt die alten „Ordinari-Avisen" der Postmeister und sonstigen „Zeitungs-
krämer", die jetzt auf typographischem statt auf chirographischem Wege
hergestellt werden. Die Nachrichtensammler sind die gleichen wie
früher; die Korrespondenzorte bleiben dieselben (Rom, Venedig, Lyon,
Wien, Prag, Köln, Antweq^en, Brüssel usw.); von einer Redaktion der im
wöchentlichen Posten- und Botenlauf empfangenen Nachrichten ist noch
lange nicht die Rede.
Es ist uns der Jahrgang 1609 einer in Straßburg gedruckten Wochen-
zeitung erhalten, die bis auf weiteres als die älteste gelten muß. Rasch
folgten andere deutsche Städte: Basel 16 10, Frankfurt a. M. 161 5, Berlin
161 7, Köln, Wien, Regensburg, Hildesheim um 1620. Aus den zwanziger
Jahren lassen sich in Wien, Nürnberg, München, Hamburg je drei ge-
druckte Wochenblätter nachweisen, und das lebhafte Interesse für die
Kriegsereignisse hat eine Reihe anderer deutscher Städte in die Zahl
Gedruckte
Wochen-
zcitungea.
Ausbreitung
derselben.
igg ICakl Bücher: Das Zeitungswesen.
der Zeitungsdruckorte eintreten lassen. Freilich waren die meisten so
entstandenen Preßerzeugnisse von ziemlich kurzer Lebensdauer. England
sah nichts Ähnliches vor dem Jahre 1622, Holland 1626, Frankreich 1631,
Italien 1636, Portugal 1641, Schweden 1644 und Spanien 1661. In Eng-
land brachte erst die Revolution von 1649 einen größeren Aufschwung.
In Frankreich blieb Renaudots „Gazette" (später „Gazette de France")
anderthalb Jahrhunderte hindurch die einzige in kurzen Zwischenräumen
erscheinende politische Zeitung. Dagegen erfuhr das holländische Zeitungs-
wesen in der freien Luft der Generalstaaten seit dem zweiten Drittel des
17. Jahrhunderts eine reiche Entwicklung.
Fortdauer der Nirgends aber vermochte die gedruckte Wochenzeitung die geschrie-
^"eitungenf" benc Zcltung zu verdrängen. Diese dauerte vielmehr bis zum Ende des
18. Jahrhunderts fort, trotz aller Verbote und Verfolgungen, die ihre
Verfasser trafen. Ja es kam in Deutschland wie in China vor, daß Zei-
tungen in einer gedruckten und einer ausführlicheren und teureren ge-
schriebenen Ausgabe erschienen. In England gab es Blätter, von denen
zwei Seiten bedruckt wurden und zwei leer blieben, damit sie zu hand-
schriftlichen Mitteilungen benutzt werden könnten. Die Ursache lag darin,
daß sich überall mit dem Druck auch das Verlagsprivileg für die perio-
dische Presse ausbildete und daß sich zu diesem bald die obrigkeitliche
Zensur und die Beeinflussung der Herausgeber durch die Regierungen
gesellte. In allen Ländern berichteten die gedruckten Zeitungen gerade
über das am wenigsten, was ihnen am nächsten hätte liegen sollen: die
Vorgänge und Zustände des eigenen Landes und die innere Politik; da-
gegen ließ man ihnen in der Behandlung auswärtiger Angelegenheiten
größere Freiheit, und dies führte dazu, daß das Publikum, wenn es sich
über das eigene Land unterrichten wollte und nicht eine der geschrie-
benen Zeitungen aus der Hauptstadt beziehen konnte, fremde Zeitungen
halten mußte. So gingen deutsche Zeitungen vielfach nach Frankreich;
ja in verschiedenen Städten wurden Blätter in französischer oder lateini-
scher Sprache eigens für das Ausland gedruckt. Die weiteste Verbreitung
aber und den größten Ruf erlangten die in französischer Sprache heraus-
gegebenen holländischen Zeitungen, die in der zweiten Hälfte des
17. und das ganze 18. Jahrhundert hindurch die Diplomatie immer
wieder in Bewegung setzten. Auch in England ging die freiere Ent-
wicklung, welche die politische Wochenpresse unter Oliver Cromwell
genommen hatte, bald wieder verloren, und es beginnt in der Restaura-
tionszeit eine Periode der Unterdrückung, die völlig erst nach der Mitte
des 18. Jahrhunderts überwunden wird.
Charakteristik So bieten die beiden ersten Jahrhunderte der periodischen Presse
Wochen- ein wenig erfreuliches Bild. Während in Frankreich und auch zeitweise
in England die ganze Publizität auf ein privilegiertes Organ beschränkt
war, beobachten wir in Deutschland, entsprechend seiner politischen
Zerrissenheit, eine Überfülle armseliger, auf schlechtes Papier gedruckter
II. Geschichte des Zeitungswesens. 489
Blättlein, oft an einem Orte mehrere, und über diese noch endlose Streitig-
keiten um das Privileg der Herausgabe zwischen Postmeistern und Druckern
oder Buchhändlern. Die Organisation der Xachrichtensammlung und
Übermittelung ist allmählich erstarrt; man berichtet kleinlich und leicht-
gläubig aus zweifelhaften Quellen, „wie hinten weit in der Türkei die
Völker aufeinanderschlagen", um sich am Nächstliegenden scheu vorüber-
zudrücken. Eine Tendenz kommt höchstens durch Verschweigen zum Aus-
druck; öfter noch ist es eine konfessionelle als eine politische. Der Aber-
glaube macht sich in läppischen Wunder- und Spukberichten breit. Die
Regierungen, welche ein Wochenblatt privilegierten, wandten auf dasselbe
das Handwerksprinzip des ausschließenden Gewerberechts an: die bevor-
rechtete Zeitung erhielt ein dauerndes Monopol für die Versorgung der
Stadt und Landschaft mit neuen Nachrichten; anderwärts gedruckte Blätter
und geschriebene Zeitungen sollten von der Post nicht geliefert, von den
Buchführem nicht vertrieben werden dürfen. So gelangte keine Zeitung
zu einem größeren Leserkreis. Einflußreichere Blätter entstanden nur in
den Reichsstädten, in denen die Zensur etwas milder gehandhabt wurde.
So sank die deutsche Zeitungspresse von dem relativ achtungswerten riefstand.
Stande, den sie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts rasch er-
klommen hatte, in der zweiten Hälfte dieses und im Verlauf des folgenden
Jahrhunderts immer mehr herab. Allerdings gründete man in den zahl-
reichen kleinen Residenzen noch neue Blätter, damit der spärliche, oft
noch durch Privilegientaxen geschmälerte Verdienst am „Zeitungshandel"
doch einem Landeskinde zugute komme, und diese Blättlein versetzten
den mageren Abhub der fremden Presse, den sie mit hohem Privilegio
ihren Lesern servierten, noch mit der eigentümlichen Würze der heimi-
schen Hofnachrichten. Aber gerade sie waren am gebundensten, und
selbst Friedrich IL hat sein bekanntes Wort von den Gazetten, die nicht
geniert sein dürfen, wenn sie interessant sein sollen, an den „BerUnischen
Nachrichten" am wenigsten verwirklicht. Nicht besser stand es in Wien,
der klassischen Stadt der Zensur, wo man 1722 das „Wienerische Diarium"
zur offiziellen Zeitung gemacht hatte. Auch das freisinnige Zensurpatent
Josefs n. vom 11. Juni 1781 vermochte darin keinen Wandel zu schaffen.
Immerhin sind kleine technische Fortschritte in dieser Periode ein- übcrRang zur
Tagesprcssc.
getreten. Sie bestanden zunächst in einer fortschreitenden Verkürzung
der zwischen den einzelnen Zeitungsnummern liegenden Zeit-
fristen. Schon im 17. Jahrhundert begannen einzelne deutsche Zei-
tungen zwei-, drei- oder viermal die Woche zu erscheinen, oder sie
suchten doch durch Extra-Ausgaben wichtigere Nachrichten rascher an ihre
Leser zu befördern. Die erste deutsche Zeitung, welche zu täglichem
Erscheinen überging, war die im Jahre 1660 gegründete „Leipziger Zei-
tung". Das erste englische Tageblatt war der Londoner „Daily Courant"
(von 1702 ab), das erste französische das „Journal de Paris" (von 1777 ab).
Doch blieben diese Beispiele lange Zeit vereinzelt. Der „Daily Courant"
Annoncen-
wesens.
^qo Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
war dazu ein kleines Blättchen von Y^ Bogen, der bloß auf einer
Seite bedruckt war, wie der Herausgeber sagte, „um dem Publikum die
Hälfte der Impertinenzen zu ersparen, mit denen die gewöhnlichen Zeitungen
gefüllt seien". Es bedeutete also dieser Fortschritt, der nur der größeren
Häufigkeit des Postenlaufs zu verdanken war, nicht eine innerliche Er-
starkung.
Entstehung des Wichtiger war eine zweite Neuerung: die Aufnahme des Annoncen-
wesens in die gedruckte Zeitung. Öffentliche Anzeigen für staatliche,
soziale und privatwirtschaftliche Zwecke hat es gegeben, solange es
größere soziale Gemeinschaften gibt. Das älteste Mittel dafür ist die
Stimme des Herolds oder Ausrufers, neben dem schon im Altertum in
Stein gemeißelte oder an die Wände der Häuser gemalte Inschriften
reichlich vorkommen. Am Ende des Mittelalters nach der Erfindung des
Leinenpapiers tritt dazu das geschriebene und im 15. Jahrhundert das
gedruckte Plakat. Seit dem 16. Jahrhundert werden die obrigkeitlichen
Bekanntmachungen (Mandate) in Einzeldrucken verbreitet, und es erhält
sich diese Sitte auch noch die beiden folgenden Jahrhunderte. Gewissen-
hafte Leute haben Sammlungen dieser Mandate angelegt, die sich neben
den Sammlungen anderer „Fliegender Blätter" noch in vielen Bibliotheken
finden. Für die Vermittlung des Privatverkehrs entstanden im ersten
Drittel des 17. Jahrhunderts in Paris und London, später auch in deut-
schen Städten eigene Vermittlungsstellen (Bureaux d'adresse et de
rencontre, Offices of intelligence, Adreß-Komptoire, Berichthäuser, Frag-
und Kundschafts- oder Nachricht-Ämter) als konzessionierte Privatunter-
nehmungen, bei denen Anerbietungen und Nachfragen über Kauf und
Verkauf, Pacht und Miete, verlorene und gefundene Gegenstände, Reise-
begleitung, Abgang von Kutschen und Frachtwagen u. dgl. gegen Gebühr
aufgegeben und erfahren werden konnten. Im Jahre 1633 begann das
Pariser Bureau seine Einzeichnungsregister in einem besonderen periodi-
schen Druckblatt zu veröffentlichen; bald folgte man in London und
später auch in einzelnen deutschen Städten diesem Beispiele.
Intelligenz- Mit dcn SO entstandenen Anzeigeblättern (Feuilles d'avis, petites
affiches, Intelligencers, Advertisers, Intelligenzblätter) war eine neue Gat-
tung von Zeitungen geschaffen. In Deutschland läßt sich keines der-
selben vor dem Jahre 1680 nachweisen. Besonders zahlreich wurden sie
in Preußen seit 1727 ins Leben gerufen. Das Intelligenzwesen war hier
zum Staatsinstitute erklärt worden mit Insertionszwang; seine Verwaltung
lag der Post ob. Allmählich begannen die Intelligenzblätter ihren Stoff-
bereich zu erweitern, indem sie neben den Annoncen auch Nachrichten
über Trauungen, Geburten und Sterbefälle, Ämterbesetzungen und Be-
förderungen, Fremdenhsten, Marktpreise, allerlei Stadtneuigkeiten brachten.
Annoncen in Inzwischcu hatten auch die politischen Zeitungen sich des An-
z°eitungen. noncenwcseus bemächtigt. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts finden
sich in englischen Blättern einzelne Anzeigen, die sich bald vermehren.
blätter.
n. Geschichte des Zeitungswesens. 4.gi
In Deutschland tritt Ähnliches kaum vor dem Jahre 1700 auf, und die
Sitte gewinnt auch nur langsamen Fortgang. Anfangs sind diese Privat-
anzeigen wirkliche „Inserate", d. h. sie stehen zwischen den politischen
Nachrichten und unterscheiden sich von ihnen weder durch den Druck
noch durch die sprachliche Form. Von den Anzeigenden ist immer nur
in der dritten Person die Rede. Auch ist die Inanspruchnahme dieser
Einrichtung nur auf wenige Fälle des praktischen Lebens beschränkt.
Erst allmählich überwindet das geschäftslustige Publikum seine Scheu vor
der Öffentlichkeit; die Inserenten beginnen in der ersten Person zu reden.
Immerhin spielt die hier neueröffnete Einnahmequelle bis zum Ende des
18. Jahrhunderts für die politische Presse keine erhebliche Rolle;
höchstens daß sie einer Anzahl kleiner Blätter das Leben verlängerte,
ohne zur Hebung ihres sonstigen Inhalts beitragen zu können.
Die ganze Kläglichkeit dieser reinen Nachrichtenpresso wird hin- Zeitschriften,
reichend dadurch gekennzeichnet, daß sie schon früh den Ansprüchen
politisch gebildeter Kreise nicht genügte. So kam es, daß bereits seit
der Mitte des 17. Jahrhunderts sich daneben politische Monats-
schriften entwickelten, in welchen die zeitbewegenden Fragen unter
höheren Gesichtspunkten im Zusammenhange, unter Mitteilung von Akten-
stücken und mit selbständigem Urteil behandelt werden konnten. Mit
dem Erscheinen des Journal des Savants (1665) und der Acta eruditoruni
(1682) entstand daneben ein wissenschaftlich- literarisches Zeit-
schriftenwesen, das sich bald so ausbreitete, daß kaum mehr ein Fachgebiet
der Wissenschaft, Kunst und des praktischen Lebens ohne Vertretung
blieb. Seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts bildet sich auch eine
periodische Unterhaltungsliteratur aus, die freilich mit unseren
belletristischen Zeitschriften nicht zu vergleichen ist, da sie ihr Absehen
in erster Linie auf die Erziehung der Bevölkerung zum Gemeinsinn und
überhaupt zu einem edleren Menschentum, auf die Bekämpfung von Vor-
urteil und Aberglauben gerichtet hat. Es sind die bekannten Moralischen
Wochenschriften, die mit dem „Tatler" und „Spectator" in England
beginnen und von denen Hunderte in Großbritannien, Deutschland, der
Schweiz, den Niederlanden, in Polen und selbst in Frankreich bis zum
Ende des Jahrhunderts ins Leben traten. In diesem vielfach gegliederten
Zeitschriftenwesen kommt der kritische Geist ' des Aufklärungszeitalters
in den verschiedensten Formen zur Geltung; in ihnen tritt zuerst eine
„öffentliche Meinung" zutage, und sie sind darum auch für die freiheit-
liche Gestaltung des staatlichen und sozialen Lebens weit wichtiger als
die unter dem Druck der politischen und wirtschaftlichen Gebundenheit
verkümmerte Tagespresse,
Die moderne Gestaltuncr des Zeitungswesens hat ihre Wurzel in Die neuere Em-
<=> '^ Wicklung der
Eneland. Hier hatte in den bewegten Revolutionsepochen des 1 7. Jahr- Presse, ihr cng-
* .-zj X ^ hschcs Vorbild.
hunderts die üppig emporgewucherte Presse zuerst den Boden der Dis-
kussion betreten; sie hatte sich mit den inneren Angelegenheiten des
AQo Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
Landes beschäftigt und in dem Kampfe zwischen Parlament und König-
tum Partei ergrifi"en. Milton hatte 1644 seine berühmten Flugschriften
über die Freiheit der Presse geschrieben, und wenn auch gegen diese
Forderung gerade das Parlament, dem sie am meisten zugute kam,
zähen Widerstand leistete und mit der Regierung in der Repression wett-
eiferte, so kann sie doch im Anfang des 18. Jahrhunderts als tatsäch-
lich gesichert gelten. Die Presse erlangt nun in England denjenigen
Charakter, den sie später in allen Ländern angenommen hat: sie über-
nimmt neben der Aufgabe der Nachrichtenvermittlung diejenige einer
ernsthaften Erörterung politischer Angelegenheiten, und sie wird
damit zur Stütze und Ergänzung des parlamentarischen Regimes. Ver-
gebens hat man sie seit 17 12 durch das Bleigewicht der Stempeltaxe,
d. h. durch Verteuerung niederzuhalten versucht. Man konnte so wohl
durch ein Jahrhundert ihr Eindringen in die breite Masse der Bevölkerung
hindern; aber der Geist der unabhängigen Kritik war nicht mehr zu
bannen, und als 1769 — 1772 im „Pubhc Advertiser" die Junius-B riefe er-
schienen, da feierte er einen Triumph, dessen Glanz bis in die fernsten
Zeiten leuchten wird.
Der Grandsau Überall wird seitdem die Forderung der Preßfreiheit zu einem der
wichtigsten Programmpunkte des bürgerlichen Liberalismus. Zwar wird
sie 1789 nur für kurze Zeit in Frankreich verwirklicht; aber sie stirbt
nicht mit ihrer gewaltsamen Unterdrückung durch das Direktorium und
Napoleon; nach des letzteren Vertreibung erhebt sie sich von neuem, um
in den Volksbewegungen von 1830 und 1848 allerwärts eine entscheidende
Rolle zu spielen. Die polizeistaatliche Bureaukratie hat ein ganzes
Arsenal von Waffen gegen die Presse geschmiedet: neben der Zensur
und dem Zeitungsstempel, die ihren Durchzug fast durch ganz Europa
hielten, die Konzessionspflicht der Zeitungsunternehmungen, den Kautions-
zwang, die Entziehung des Postdebits, das Verbot des Straßenhandels,
die administrative Beschlagnahme. Jede Reaktionsperiode zeugte neue
Preßplackereien. Schließlich aber ist doch die Erkenntnis durchgedrungen,
daß die freie Presse die wirksamste Garantie der bürgerlichen Freiheit,
das unentbehrliche Sicherheitsventil der staatlich geordneten Gesellschaft
sei. Ihre Anerkennung in der Gesetzgebung hängt aufs engste zusammen
mit der Ausbreitung des konstitutionellen Systems, und die meisten Ver-
fassungsurkunden, welche im 19. Jahrhundert geschaffen wurden, haben
sie in einem besonderen Artikel für alle Zeiten sicherstellen zu müssen
geglaubt. „Die Preßfreiheit", schrieb 1828 Chateaubriand, „bedeutet so
viel wie eine ganze Verfassung; Verfassungsverletzungen wollen wenig
besagen, solange wir sie haben. Wäre selbst die Verfassungsurkunde
verloren, die Preßfreiheit würde sie uns wiedergeben."
Bedeutung Wenn einmal die Geschichte der Presse im 19. Jahrhundert so ge-
"""^ ^^'schrieben wird, wie sie geschrieben werden sollte, so wird der Kampf
um die Preßfreiheit als eines der wichtigsten Vehikel der modernen
m. Das moderne Zeitungswesen. 4^3
Kulturentwicklung anerkannt werden, und man wird vielleicht die Epochen
dieser Entwicklung für die einzelnen Völker nach dem jeweiligen Zu-
stande der Preßgesetzgebung abteilen. Denn kaum steht etwas so fest
als die Tatsache, daß diese Gesetzgebung den Zustand der Presse be-
stimmt und dieser wieder je länger je mehr das gesamte geistige Massen-
leben der Völker. Gewiß sind die bemerkenswerten Umbildungen, welche
die Zeitungen im verflossenen Jahrhundert erfahren haben, in erster Linie
auf allgemeine politische, soziale und wirtschaftliche Momente zurückzu-
führen. Die formalrechtliche Anerkennung des Prinzips der Freiheit und
Gleichheit, die Umwandlung der Gesellschaft aus einer geburtsständischen
in eine berufsmässige, der Übergang von der gebundenen zur freien
Wirtschaft, von der familienhaften Bedarfs- und Kundenproduktion zur
untemehmungsweisen Warenproduktion, die Vervollkommnung der Ver-
kehrsmittel und die durch sie geförderte Verflechtung der Nationen in
die Weltwirtschaft, nicht minder aber die Ausbreitung der allgemeinen
Volksbildung bis in die untersten Schichten der Bevölkerung und ihre
Einbeziehung in den politischen Interessenkreis durch den Sozialismus —
alle diese Vorgänge haben die Daseinsbedingungen auch für die Presse
völlig verändert. Neben ihnen darf man aber den Einfluß, der von den
Schwankungen der Preßgesetzgebung und Preßpolizei ausgegangen ist,
nicht übersehen.
m. Das moderne Zeitungswesen. Versuchen wir diese Um-
bildungen in einem flüchtigen Bilde zu umreißen.
Zunächst handelt es sich um eine Veränderung in der Innern Orga- Die Tages-
, . -VT 1 • 1 schriftstellerei
nisation des Zeitungsdienstes. In der Zeit der reinen Nachrichten- au üemf.
presse konnte der Verleger einer Zeitung seine Aufgabe für erfüllt an-
sehen, wenn er die von den auswärtigen Sammelstellen durch die Post
ihm zugeführten Korrespondenzen dem Druck übergeben und an seine
Abonnenten befördert hatte. Nachdem die Zeitung zur Trägerin der
öffentlichen Meinung und zur Kampfstätte der parteipolitischen Erörterung
geworden war, bedurfte es eines eigenen Organs, um am Erscheinungs-
orte den Stoff zu bearbeiten und zur Willensbeeinflussung der Leser ge-
schickt zu machen. So entstand die Redaktion und mit ihr die Tages-
schriftstellerei als Beruf, der bald auch weitere Absenker in die Be-
völkerung hineintrieb. Es sind dies die Korrespondenten und ständigen
Mitarbeiter, welche mehr und mehr an die Stelle der früheren gelegent-
lichen Mitarbeiter treten, die zwar nicht die Journalistik, wohl aber die
Staatsgeschäfte oder irgend ein anderes Tätigkeitsgebiet berufsmäßig be-
herrscht hatten. Eine jede Zeitung verfolgt ein bestimmtes Programm,
und ihr Redaktionsstab wird normalerweise der Überzeugaing sein, mit
diesem die höchsten Interessen der Menschheit zu vertreten. Aber auch
die Kunst des Journalisten geht nach Brot, und dieses Brot reicht zu-
nächst der Zeitungsverleger, der ein mit der fortgeschrittenen Technik
j^q , Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
immer größer gewordenes Kapital in der Unternehmung angelegt hat.
Seine Interessen können in Widerstreit geraten mit der überzeugungs-
treuen Haltung der Redaktion. Wer wird als Sieger aus diesem Kon-
flikt hervorgehen? Gewiß, daß der liberale Beruf des Journalisten, als
die moderne Parteipresse entstand, meist nur von Männern ergriffen
\vurde, die bereit waren, für ihre Ideale ihre Existenz in die Schanze zu
schlagen. Mit der Zeit aber ist der Beruf zum Gewerbe geworden, das
von vielen nicht aus innerem Drang, sondern um äußerer Rücksichten
willen erwählt wird. Die politischen Richtungen haben sich vervielfältigt,
die großen prinzipiellen Gegensätze abgeschwächt oder mit der wirtschaft-
lich-sozialen Interessenvertretung verquickt. Und nun ist die Gefahr da,
daß Journalisten auftreten, die wie die Landsknechte jedem dienen, der
sie bezahlt, oder daß ihre Tätigkeit die Parteigegensätze verschärft, wo
die Parteien selbst ohne die Parteipresse sich in praktischen Fragen
leicht einigen würden, weil sich nach einem bekannten Worte Bismarcks
„die Meute nicht zurückpfeifen" läßt.
Erweiterung des So liegt in der Ausbilduug des Berufs- Joumalistentums eine nicht
geringe Gefahr. Wesentlich verschärft wird diese durch die gewaltige
Ausdehnung, die der Stoffbereich der Zeitung im Verlaufe des 19. Jahr-
hunderts erfahren hat. Gibt es doch jetzt kaum mehr ein Gebiet des
sozialen Lebens, das nicht in irgend einer Form von ihr der Publizität
dienstbar gemacht worden ist. „Wer vieles bringt wird manchem etwas
bringen" ist leitender Grundsatz geworden. Die Politik des In- und Aus-
lands, Literatur, bildende Kirnst, Theater, Musik, Rechtspflege, lokale Vor-
gänge und Interessen, Wissenschaft, Land- und Hauswirtschaft, Gewerbe
und Handel, Sport, Personalien, Unglücksfälle, Verbrechen und Skandale
— alles findet in der Tagespresse seinen Widerhall und damit wächst
der Kreis der Interessen, die sich mit derselben verknüpfen. Je mehr In-
teressenten, um so mehr Abonnenten und Inserenten. Beide bedingen
einander. Ein äußeres Kennzeichen dieser Erweiterung des Stoffbereiches
der Zeitung ist die Gliederung ihres Inhalts nach Interessengruppen:
politischer Teil, Feuilleton, Lokalnachrichten, Vermischtes, Handels- und
Börsenteil, Annoncenteil, jeder wieder mit zahlreichen Rubriken, um die
Orientierung zu erleichtern. Vielfach werden einzelne Stoffgebiete in
besondere Beiblätter verwiesen, die in längeren Perioden erscheinen:
belletristische, wissenschaftliche, landwirtschaftliche usw. Die Zeitung
bricht dadurch in den Bereich der Zeitschrift ein; ja damit nicht zufrieden,
zieht sie durch Gewährung von Romanlieferungen, Kunstbeilagen u. dgl.
auch einen Teil des Buch- und Kunstverlags an sich. Sie wird zum Uni-
versallieferanten geistiger Nahrung für ganze große Volksschichten, der
nichts anderes neben sich duldet. Politische und soziale Willensbeein-
flussung, Unterhaltung, Belehrung, wirtschaftliche Interessenförderung —
dies alles vermischt sich mit der Nachrichtenpublikation zu einer einzigen
breiten Masse des Lesestoffes, der Tag für Tag durch Tausende von
III. Das moderne Zeitungswesen. aqc
Blättern, bald in dieser bald in jener Art der Zubereitung, dem sozialen
Körper der Kulturmenschheit zugeführt wird.
Hand in Hand mit dieser Erweiterung des Stoffbereichs ging eine Technische
Andcrungcti.
Anzahl technischer Veränderungen, Zunächst solche im Format der Format.
Zeitungsblälter. Die älteren gedruckten Zeitungen schließen sich eng an
die damals gebräuchlichen Buchformate an (Quart, manchmal sogar Oktav);
im Laufe des 19. Jahrhunderts stellt sich eine DiflFerenzierung ein. Für
das Buch wird das Oktavformat zur Regel, von der nur in Ausnahme-
fällen abgewichen wird; für die Zeitungen kommen immer ausgedehntere
Blattgrößen in Aufnahme bis zu den Riesenformaten der englischen und
nordamerikanischen Blätter, die in einer Nummer so viel Schriftsatz bieten
wie ein mäßig starkes Buch. Zu der Vergrößerung der Formate treibt
einerseits die Mannigfaltigkeit der Stoffmassen, anderseits die größere
Billigkeit der Herstellung. Im Zusammenhang damit steht die zunehmende
Häufigkeit des Erscheinens. Tägliche Ausgabe wird die Regel. HäaBskcit des
fCrsclicincns
In England bildet sich daneben schon seit dem 18. Jahrhundert eine
Unterscheidung in Morgen- und Abendblätter aus, die sich als verschie-
dene Unternehmungen nebeneinander entwickeln und auch innerlich ver-
schiedene Typen des Zeitungswesens darstellen. Ahnlich in Frankreich,
Italien, den Vereinigten Staaten, während man im Deutschen Reiche und
in Österreich dazu übergegangen ist, vom gleichen Blatte täglich mehrere
Ausgaben zu veranstalten. Zwei Drittel der Wiener und die Hälfte der
Berliner politischen Tagesblätter erscheinen in je einer Morgen- und einer
Abendausgabe; ja es gibt neun Zeitungen in Deutschland, welche täglich
dreimal erscheinen — alle außerhalb der Reichshauptstadt (Bremen, Breslau,
Essen, Frankfurt, Köln, München),
In dieser starken Verkürzung der Erscheinungsfristen kommt das Aktu.-iiitäts-
Grundprinzip der Zeitung, die Aktualität des Inhalts, am meisten zur
Geltung. Ihre Voraussetzung war einerseits die immer feinere Durch-
bildung des öffentlichen Nachrichtendienstes in Post, Telegraphie und
Telephonie und die Anpassung dieser Anstalten an die Bedürfnisse der
Presse, anderseits die technische Vervollkommnung des polygraphischen
Verfahrens, wie sie durch die Erfindung der Schnellpresse und später
der Rotationsmaschine gegeben war. Beide Reihen von Fortschritten
haben erst in ihrem Zusammenwirken jene Beschleunigung der Nach-
richtenpublikation ermöglicht, die wenige Stunden nach einem Geschehnis
allen Kulturvölkern die Kunde desselben in gedruckter Form vor Augen
führt. Dagegen ist die Anwendung der Setzmaschine für die Her-
stellung der Zeitung nur insofern von Bedeutung, als sie zur Verminderung
der Kosten führen kann, während sie auf die Schnelligkeit keinen Ein-
fluß hat. Die Raschheit der Nachrichten-Beförderung und -Vervielfältigung
wirkt wieder zurück auf das Tempo der Sammlung und der redaktionellen
Bearbeitung der Nachrichten; auch für sie wird der Gesichtspunkt der
Aktualität ausschlaggebend.
pnnzip.
496
Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
Bericht-
erstattung.
Lokal-
nachrichten.
Zwar die Nachrichtensammlung scheint gegen früher kaum eine
andere Veränderung erlitten zu haben, als daß sie sich von der Post los-
gelöst hat und zu einem selbständigen Berufe geworden ist, der in arbeits-
teiliger Weise von zahlreichen „Korrespondenten" ausgeübt wird. Die
letzteren stehen bald in festem Kontraktverhältnisse zu einem einzelnen
Blatte, bald dienen sie in freier Stellung einer Mehrzahl von Blättern —
dieses namentlich dann, wenn sie sich für eine bestimmte Gattung von
Nachrichten (z. B. Börsen-, Theater-, Sportnachrichten) spezialisiert
haben. Die großen Zeitungen pflegen einen vielfältig gegliederten, über
alle Hauptplätze der Welt zerstreuten Stab solcher Berichterstatter zu
unterhalten und suchen es in der Raschheit, Vielseitigkeit und Zuverlässigkeit
der Berichterstattung einander zuvorzutun. Bei außerordentlichen Ereig-
nissen entsenden sie nach dem Schauplatze derselben, oft mit großen
Kosten, Spezialberichterstatter, und manche von diesen leisten Her-
vorragendes. Es sei an die berühmten Kriegsberichte der „Times" und
der „Daily News", an die soziale Spezialberichterstattung der „Pall-Mall-
Gazette", an die Aussendung von eigenen Forschungsreisenden durch den
„New-York-Herald" erinnert. Die Ausbildung des Berichterstatterdienstes
der englischen Presse seit dem Krimkriege ist für das Zeitungswesen der
ganzen Welt vorbildlich geworden, ohne daß sie irgendwo bis jetzt er-
reicht worden wäre. Die nordamerikanische Berichterstattung, welche die
englische an Raschheit und Findigkeit manchmal übertrifft, bleibt an Ernst
und Zuverlässigkeit hinter ihr zurück.
Neben der ständigen und gelegentlichen Nachrichtengewinnung aus
fremden Ländern hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts ein neuer
Zweig der Berichterstattung ausgebildet, der von dem eigentlichen Korre-
spondenzwesen in mehrfacher Hinsicht abweicht. Es ist die mit dem An-
wachsen der großen Städte zu einer höheren Bedeutung gelangte Lokal-
berichterstattung. Da diese sich vorzugsweise auf dem Gebiete der
kleinen sozialen Tagesereignisse bewegt, bei denen die Tendenz der ein-
zelnen Zeitung keine wesentliche Rolle spielt, so steht der Lokalbericht-
erstatter (Reporter, Penny-a-liner) in der Regel nicht im festen Kontrakt-
verhältnisse eines einzelnen Blattes, sondern bedient in freiem, oft wenig
geachtetem Gewerbebetrieb alle Blätter der Stadt, spezialisiert sich wohl
auch auf bestimmte Arten von Nachrichten und erlangt dadurch einen
um so größeren Einfluß, als Lokalnachrichten vielfach einer redaktionellen
Bearbeitung kaum unterliegen. Nur an einzelnen Orten (Paris, Wien)
haben bestimmte Arten von Lokalberichten sich eigenartig entwickelt;
im großen Durchschnitt sind sie auf dem niederen Niveau einer geist-
losen Chronistik geblieben oder bevorzugen in korrumpierender Weise
das Sensationelle. Schnelligkeit des Erfahrens und Berichtens ist für ihre
Tätigkeit noch in höherem Maße erforderlich als für die auswärtige Be-
richterstattung.
Was so die Einzelberichterstattung bei den Lokalnachrichten gewonnen
III. Das moderne Zeitungswesen. 4gy
hat ist ihr auf der anderen Seite bei der auswärtigen Korrespondenz vor- Untemchmungs.
' , weise Organisa-
loren gegangen. Hier trat an ihre Stelle eine .unt'ernehmungsweisetiondcru.-richt.
Organisation der Vermittlung von Xachrichtenstoff an die Presse,
die wieder verschiedene Formen angenommen hat, je nachdem sie sich
des Telegraphen oder der Post zur Beförderung ihrer Nachrichten be-
dient. Im ersteren Falle entstehen Depeschen-Bureaux oder Telegraphische
Agenturen, im letzteren Korrespondenz-Burcaux.
Die Teleß-raphischen Agenturen gehen in ihren Anfangen bis Toiegraphische
auf die erste Hälfte des ig. Jahrhunderts zurück. Heute sind sie in der
Regel Aktiengesellschaften, welche mittels eines ausgebreiteten Netzes
von Agenturen und Filialen Nachrichten aus aller Welt sammeln, um sie
an Zeitungen und große Geschäftshäuser in festem Abonnement weiter zu
geben. Jede Nachricht geht zunächst telegraphisch nach dem Hauptsitz
des Instituts, um auf dem gleichen Wege von da nach allen Orten ge-
leitet zu werden, wo sich Abonnenten befinden. Hier werden sie even-
tuell von Filialbureaux vervielfältigt und an die Zeitungsredaktionen ab-
gegeben, die sie in ihren Blättern zum Abdruck bringen. Fast jedes
größere Land hat mindestens eine dieser Anstalten: England das Reuter-
sche Bureau, Frankreich die Agence Havas, das Deutsche Reich das
Wolffsche Bureau, Italien die Agenzia Stefani, Österreich das Telegraphen-
Korrespondenzbureau, Rußland die Nordische Telegraphen-Agentur usw.
Alle größeren Zeitungen dieser Länder sind auf die Telegramme der be-
treffenden Agentur abonniert, und da die Agenturen untereinander wieder
im beständigen Nachrichtenaustausch stehen, so gehen täglich die telegra-
phischen Nachrichten über die wichtigeren Ereignisse fast in der gleichen
Fassung durch die Presse der ganzen Welt.
Damit ist eine Vereinfachung, Verbilligung und Beschleunigung der Charakteristik
Berichterstattung erzielt, wie sie großartiger kaum gedacht werden kann.
Aber die Sache hat für die Publizität einen Haken. Alle Depeschen-
Bureaux Europas sind abhängig einerseits von den Regierungen der be-
treffenden Länder, andererseits von ihren Eigentümern, d. h. dem Groß-
kapital der Börse. Sie empfangen direkt von Regierungen und Be-
hörden, Erwerbsgesellschaften und Instituten Mitteilungen, die man in
einer bestimmten Form verbreitet sehen will, und unterliegen für ihren
sonstigen Nachrichtenstoff der Zensur oder doch einer weitgehenden Be-
einflussung der leitenden Kreise, die ihnen dafür wieder gewisse Erleich-
terungen bei Benutzung der staatlichen Telegraphenanstalten zukommen
lassen. Nur die nordamerikanische Presse hat es verstanden, durch einen
auf genossenschaftlicher Grundlage beruhenden gemeinsamen Depeschen-
dienst sich von offiziöser Einwirkung frei zu erhalten. Allerdings legen
die größten Blätter in den meisten europäischen Ländern einen gewissen
Wert darauf, durch „Privattelegramme" das von den Bureaux gelieferte
Material zu ergänzen oder zu rektifizieren; gelingt es ihnen aber, jenen
zuvorzukommen oder eine Nachricht zu bringen, die der betreffenden
DiK Kultur der Gegenwart. I. i. 3^
derselben.
,„g Kari, Bücher: Das Zeitungswestn.
Agentur entgangen war, so wird dieselbe noch vor der Ausgabe der sie
enthaltenden Zeitungsnumtner der Agentur mitgeteilt und von dieser als Mel-
dung des betreffenden Blattes verbreitet. So kommt schließlich doch
wieder auch dieser telegraphische Spezialdienst den Bureaux zugute und
verstärkt nur ihren Einfluß.
Korrespondenz- Beschränken sich die Depeschen-Bureaux auf die bloße Nachrichten-
bureaui. ygi-mittlung, SO liefcm die Korrespondenz-Bureaux (oft auch bloß
„Korrespondenzen" genannt) bereits verarbeitetes Material, „Artikel" für
eine Mehrzahl von Zeitungen, und zwar auf einseitig bedruckten oder
autographierten Blättern, die von den Redaktionen nach Belieben und
ohne Quellenangabe wie Manuskript benutzt werden können. Sie haben
sich seit den dreißiger Jahren in den Hauptstädten aller großen Länder
festgesetzt, um die inländische Provinzialpresse und namentlich die aus-
ländischen Zeitungen mit druckfertigem Material zu versorgen. In der
Regel gingen sie von einzelnen gewandten Korrespondenten aus, die sich
mit anderen, untergeordneten Kräften verbanden, die leitenden haupt-
städtischen Organe sofort nach ihrem Erscheinen ausbeuteten, vielfach
aber auch von Regierungen und Parteileitungen Informationen bezogen
oder ganz in deren Dienste traten. Einmal vorhanden, wurden sie zu
einem bequemen Mittel, um eine bestimmte Auffassung der Politik gleich
durch eine große Zahl von Zeitungen an das Publikum zu bringen. Es
wurden offizielle, offiziöse und Parteikorrespondenzen gegründet; schließ-
lich dehnten sie ihre Wirksamkeit auf den ganzen Stoffbereich der Tages-
presse aus, und es entstand eine große Mannigfaltigkeit von Spezial-
korrespondenzen nichtpolitischer Natur: Feuilleton-, Theater-, Sport-, Ge-
richtskorrespondenzen usw. Kürschner verzeichnet für das Jahr 1901 im
Deutschen Reiche und Österreich 153 Zeitungskorrespondenzen, darunter
48 poUtische und parlamentarische, 23 örtliche, 20 für Gewerbe, Industrie,
Wissenschaft, 13 für Handel, Börse, Volkswirtschaft, 4 für Illustrationen,
8 für Rechtsprechung und Polizei, 22 für Unterhaltung (Belletristik, Feuille-
tons) und 15 für verschiedene andere Zwecke.
Charakteristik Wie schon dlcsc Zusammenstellung zeigt, setzt sich das Korrespon-
^^"^ ^e°.^en'°''' denzwesen aus sehr verschiedenartigen Elementen zusammen. Nachrichten
bringen alle, in dieser oder jener Form, und sie sind je nach ihren Be-
zugsquellen mehr oder weniger inspiriert, bald von Regierungen, bald
von Fraktionen und einzelnen Parteiführern, bald von künstlerischen oder
literarischen Kliquen, bald von Interessenverbänden und einzelnen Inter-
essenten. Das Offiziösentum geht bis hinab zu den Lokalnachrichten, die
von den Magistraten oder Polizeidirektionen abhängig sind. Manche be-
dürfen zur Stoffgewinnung eines ausgedehnten Apparates von Stenographen,
Journalisten und Expedienten, z. B. die wichtigen Parlamentskorrespon-
denzen. Die wissenschaftlichen und technischen Korrespondenzen beuten
hingegen fast allein die Fachzeitschriften aus; die belletristischen liefern
Romane, Novellen, zeitgemäße Feuilleton-Artikel, Nekrologe, Modebriefe,
m. Das moderne Zeitungswesen. <qq
Küchenrezepte, Schachaufgaben und Rätsel, schieben sich also für einen
Teil ihres Materials zwischen Schriftsteller und Redaktionen als Vermittler
ein, wobei sie die Vorsicht beobachten, immer nur einem Blatte an einem
Orte den Abdruck zu gestatten. Wieder andere versorgen die haupt-
städtischen Blätter mit Provinznachrichten oder die Provinzialpresse mit
hauptstädtischen Berichten. Die meisten aber beschränken sich nicht auf
die Nachrichtenvermittlung, sondern liefern auch Besprechungen der Zeit-
ereignisse in der Form von Leitartikeln, Wochenübersichten, Entrefilets,
Stimmungsberichten u. dgl., nehmen also den Redaktionen die eigentlich
schriftstellerische Arbeit ab und lassen nur noch die mechanische Ver-
richtung der Stoffgruppierung übrig, die auch ein intelligenter Druckerei-
faktor zur Not besorgen kann.
Die Herstellung der Zeitungen, namentlich derjenigen von bloß lokaler ihre Wirkungen.
oder provinzialer Bedeutung, wird also durch das Korrespondenzwesen in
hohem Maße mechanisiert. Neun Zehntel aller Blätter halten gar keine
eigenen Korrespondenten in fremden Ländern, ja nicht einmal fremde
Zeitungen; alles, was sie aus und über dieselben bringen, kommt ihnen
fertig zugeschnitten in den deutschen Korrespondenzen aus London,
Paris usw. zu. Das gleiche gilt von den Nachrichten und Meinungs-
äußerungen aus der Hauptstadt des eigenen Landes und den wichtigeren
Berichten aus der Provinz. Ja es haben sich sogar Unternehmungen ge-
bildet, welche den gesamten, für ein kleines Blatt nötigen Stoff aus der
Hauptstadt in Klischees druckfertig versenden (kopflose Zeitungen),
so daß die Herausgeber im Lande nur noch die Lokalnachrichten und
Annoncen hinzuzufügen haben. So wird für diesen Teil der Presse das
Maß der geistigen Befähigung, das für die Gründung und Leitung einer
Zeitung erforderlich ist, und damit auch die eigene Arbeit auf ein Mindest-
maß herabgesetzt. Gewiß eine ungeheure Kostenersparnis, die durch
dieses System der arbeitsteiligen Massenproduktion herbeigeführt wird,
zugleich aber auch eine ungeheure Gefahr. Die Hebel, welche das viel-
verzweigte, aus zahllosen und im Range mannigfach abgestuften Gliedern
sich zusammensetzende, ganze Länder überspannende Zeitungsnetz in Be-
wegung setzen, liegen an wenigen Stellen. Einer starken Hand kann es
nicht schwer fallen, sich ihrer zu bemächtigen und damit einen unberechen-
baren Einfluß auf die öffentliche Meinung zu gewinnen — je nachdem
zum Segen oder zum Fluche des Volkes. Dies um so mehr, als viele
Herausgeber kleiner Blätter das bequeme Material der ihnen billig oder
umsonst angebotenen Korrespondenzen nehmen, ohne auch nur eine
Ahnung davon zu haben, wem sie damit dienen.
Gewiß sind Gegenwirkungen nicht ausgeblieben. Als eine solche ist es ccgen-
schon anzusehen, daß neben den offiziellen und offiziösen Korrespondenzrn
fast für jede politische Partei eine Korrespondenz besteht, daß jede
Richtung in Politik, Volkswirtschaft, Kunst, Literatur sich dieses publi-
zistischen Machtmittels zu versichern bestrebt ist und daß dir- Bureaux
32 •
tQQ IsjVKX BÜCHER: Das Zeitimgswesen.
verschiedener Richtung" einander mit geistigen Waffen bekämpfen. Die
kapitalkräftigeren Provinzialblätter errichten wohl auch, um sich von den
Korrespondenzen unabhängig zu machen, in den Hauptstädten Filial-
redaktionen (Bureaux), bestehend aus einem oder mehreren tüchtigen
Korrespondenten und dem nötigen Hilfspersonal, um an Ort und Stelle
die Sammlung und erste Bearbeitung des Materials selbst bewirken zu
lassen. Auch vereinigen sich wohl mehrere Blätter zu diesem Zwecke.
Sie suchen endlich das Publikum selbst zur Mitarbeit zu veranlassen.
Freie Bei der großen Bedeutung, welche die politische Beurteilung und
Wegleitung im neueren Zeitungswesen erlangt haben, bei der Fülle des
belehrenden, unterhaltenden, geschäftlich nutzbaren Materials, das es Tag
für Tag dem Publikum zu bieten hat, ist es längst unmöglich geworden,
die rein geistige Arbeit, welche die Tagespresse erfordert, in den Re-
daktionen allein zu leisten. Es bedarf neben der Berichterstattung der
produktiv schriftstellerischen Mitarbeit zahlreicher Sachkundig-er fast für
jedes Spezialgebiet der Staatsverwaltung, Volkswirtschaft, Technik, Wissen-
schaft, Literatur und Kunst, mögen dieselben aktuelle Fragen auf Grund
ihrer besonderen Fachkenntnisse bearbeiten, mögen sie über frei gewählte
Aufgaben Beiträge liefern. Die Anforderungen, die in dieser Rich-
tung an ein größeres Blatt oft unerwartet gestellt werden, sind außer-
ordentlich vielseitige. Heute fordert ein Handelsvertrag oder ein Steuer-
gesetz fachliche Beurteilung, morgen eine neue Erfindung in der Eisen-
industrie oder ein hervorragendes wissenschaftliches Werk; übermorgen
ist eine militärische oder nautische Frage zu erörtern, eine neue Oper,
ein Schauspiel, ein Erzeugnis der bildenden Kunst zu besprechen; alle
Tage ist mannigfacher Unterhaltungsstoff zu liefern, der einer originellen
Gestaltung nicht entbehren kann. Ein Teil dieser Mitarbeit verschmilzt
mit der Tätigkeit der Korrespondenten und Berichterstatter; ein anderer
wird von Personen geleistet, die in freier Stellung spezielle Aufträge der
Redaktionen übernehmen oder noch häufiger aus eigenem Antrieb Artikel
schreiben, die sie den Redaktionen zum Abdruck anbieten.
Zwei Ereignisse sind für die Notwendigkeit und Ausbildung dieser
freien Mitarbeit der Zeitungen entscheidend geworden: die Ausbreitung
der Repräsentativverfassung auf politischem, die Einführung des Feuille-
tons auf schöngeistigem Gebiete.
Einfluß des Die Rep r äs c n tat i V V e r f as suug zieht das ganze Volk zur Mit-
mus. Wirkung bei Entscheidung der öffentlichen Angelegenheiten in Staat und
Gemeinde heran. Sie erfordert eine weitgehende Offenlegung- der Ver-
waltung durch die Regierungen gegenüber den Parlamenten: Enqueten,
Berichte, Denkschriften zur Beleuchtung von Zuständen, zur Begründung
von Gesetzentwürfen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Parlaments-
verhandlungen durch Erörterung der obschwebenden Fragen in der Presse
zu unterstützen und zugleich Aufklärung über sie in die weitesten Klreise
des Volkes zu tragen. Interessen und Gesichtspunkte, die bei Regierung
III. Das moderne Zeitungswesen. coi
und Volksvertretung übersehen oder zu kurz gekommen sind, werden in
der Presse noch zur Geltung gebracht. Durch sie werden Sachkundige
jeder Art zur freien Mitwirkung bei der Gesetzgebung und zur kritischen
Beleuchtung bestehender Einrichtungen befähigt. Kurz sie setzt das par-
lamentarische System bis tief in die Gesellschaft hinein fort, oder schafft
neben ihm eine Art Volkstribunat.
Das Feuilleton ist zuerst in Frankreich um das Jahr 1800 auf- Fcuiiipton.
gekommen. Ursprünglich bloß für Theaterberichte bestimmt, hat es all-
mählich die ganze Kunstkritik, die Novelle, durch Eugene Sue und Dumas
noch den Roman an sich gezogen, und ist seit den dreißiger Jahren auch in
die Tagespresse der meisten anderen Länder übergegangen. Dem schwer-
fälligen Ernst des politischen und wirtschaftlichen Teils stellte es ein
leichtes, unterhaltendes Element gegenüber und hat darum nicht wenig
dazu beigetragen, die Zeitungen in der Masse der Bevölkerung, nament-
lich bei den Frauen, einzubürgern. Dieser Erfolg wieder hat dazu geführt,
ihr alle nicht politischen oder geschäftlichen Stoffe zuzuführen, die sich in
selbständiger belletristischer Form und individueller Ausprägung auf
wenig Raum behandeln lassen. Dem populär-wissenschaftlichen Aufsatz,
der Charakterskizze, der Novellette und Humoreske hat es als eigenen jour-
nalistischen Stilformen zum Dasein verholfen und die Kunst knapper Dar-
stellung und graziöser, geistvoller Behandlung in hohem Maße gefördert.
Da die Formgebung im Bereiche des Feuilletons von vornherein eine Hervortreten
größere Rolle spielte als im politischen Teile, so verstand es sich von nsche/'pertön-
selbst, daß die Person des Schriftstellers dort mehr zur Geltung '"^''''^"•
kommen mußte. In der alten Xachrichtenpresse spielte sie keine Rolle;
alle Artikel erschienen anonym oder höchstens mit einer beiläufigen An-
deutung über ihre Quelle. Daran etwas zu ändern hatte man in der politi-
sierenden Presse der Neuzeit anfangs um so weniger Anlaß, als es oft
nicht ungefährlich war, eine den Machthabern mißliebige Meinung öffent-
lich zu äußern. So ist die Anonymität der Beiträge für den politischen
und volkswirtschaftlichen Teil der Zeitungen in den meisten Ländern
herrschendes Prinzip geworden und ist es bis auf den heutigen Tag ge-
blieben. Für das Feuilleton ließ sich dieser Grundsatz nicht durchführen.
Bei der Kunst- und Literaturkritik erfordern die einfachsten Anstands-
regeln den Namen des Verfassers. Bei Romanen und Novellen lag die
Nennung desselben, zumal wenn es ein Schriftsteller von Ruf war, im
Interesse des Zeitungsuntemehmens; sie wirkte als Reklame. Auch bei
kleineren belletristischen Arbeiten und Fachaufsätzen, bei denen persön-
liche Auffassung und Formgebung oft das Wichtigste sind, ließen sich
die Verfasser nicht leicht im Dunkeln halten. So ist beim französischen Frankreich.
Feuilleton die Sitte des signierten Artikels aufgekommen; sie hat manch-
mal sehr schnell talentvollen Schriftstellern zur Berühmtheit verholfen,
und sie hat sich später auch auf die übrigen Teile der Zeitungen, ins-
besondere auf alle größeren politischen Artikel ausgedehnt. Dieser Sitte
-Q2 Kari BiTHER: Das Zeitungswesen.
verdankt die französische Presse die hohe Vollendung ihrer journalisti-
schen Kleinarbeit und eine große Reihe berühmter Namen; der Besitz
eines derselben entschied oft für Jahrzehnte über den Erfolg eines Blattes.
Es braucht aus neuerer Zeit nur an Rochefort, C16menceau, Paul de
Cassagnac erinnert zu werden. Und eben weil in ihr der einzelne Mann
etwas bedeutete, hat die französische Presse die Talente angezogen.
England. England und nach seinem Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika
kennen nichts dem Ähnliches. In ihrer Presse herrscht das Prinzip der
Anonymität fast unbeschränkt; es verschwindet jedes schriftstellerische
Sonderdasein, und demgemäß ist die journalistische Kunst auf niederer
Stufe geblieben. In England wiegt die Parteipresse vor, in Nordamerika
die Geschäftspresse. Ihr ganzes Trachten ist auf das grob Tatsächliche
gerichtet, auf Raschheit und Grründlichkeit der Information, Nützlichkeit,
Sensation, Massenhaftigkeit des Lesestoffes. Die englische Presse hat in
ihrer besten Zeit viel Unerschrockenheit, Unabhängigkeitssinn, einen
natürlichen Instinkt für die großen geistigen Massenbewegungen im Volke
bewährt. Sie treibt auch heute noch die öffentlichen Dinge mit mehr
Würde und Anstand als die Yankeepresse. Aber ihre guten Traditionen
sind doch für den Zeitungsbesitzer auch nur ein Teil seines Geschäfts-
kapitals, ähnlich wie die Weltstellung seines Landes oder die Firma seines
Blattes; seine Redaktion und deren Mitarbeiter sind nur die „Hände",
welche die Ware produzieren, die er dem Publikum verkauft: alle Tage
so und so viel Quadratzoll bedruckten Papiers mit Nachrichten und Unter-
haltungsstoff. Die amerikanische Presse treibt dieses Gewerbe nur offener,
unverfrorener; sie betont vielleicht das Geschäftliche etwas mehr; ja sie
gibt unter Umständen für gute Originalartikel und wissenschaftliche Auf-
sätze bedeutende Summen aus, wenn sie sich geschäftlichen Nutzen von
ihnen verspricht. Es ist bezeichnend, daß die Geschichte des englischen
und amerikanischen Journalismus so viel von findigen Reportern und kühnen
Spezialkorrespondenten zu sagen weiß und so wenig von bedeutenden
Redakteuren und Mitarbeitern.
Kontinentales • Auch in der kontinentalen Presse bildet die Anonymität die
""■opa-i. j^gggi^ insbesondere in der deutschen. Doch erleidet diese Regel Aus-
nahmen zugunsten der Verfasser größerer selbständiger Beiträge. Die
Geschichte der Wiener Presse weist eine Anzahl Namen von überaus
geschickten Feuilletonisten auf, die in der Kunst pikanter, witziger Be-
handlung sozialer Themen der Pariser Presse nahekommen; viel seltener
sind solche Erscheinungen im Berliner Journalismus. Einzelne hervor-
stechende politisch -journalistische Talente weisen auch Rom, Madrid,
St. Petersburg auf. Im ganzen aber liegt bleiern über dem Zeitungs-
wesen dieser Länder das graue Einerlei des namenlosen Artikels, in dem
bald jede schriftstellerische Individualität verschwindet und nichts übrig
bleibt als der breite Wortstrom der Mittelmäßigkeit. Merkwürdigerweise
hat noch in neuester Zeit das Anonymitätsprinzip Fortschritte gemacht
m. Das moderne Zeitungswesen. 5O3
die geschäftlich so erfolgfreiche französische Soupresse huldigt ihm mit
seltener Ausschließlichkeit, durchaus im Widerspruche mit der Tradition
des französischen Journalismus.
Man hat zugunsten der Anonymität geltend gemacht, daß eine Zeitung Ursachen und
. , . . , / Folgen der
dem Leser als die Verkörperung emer emheithchen (jrundanschauung m Anonymität.
öffentlichen Dingen entgegentreten solle und daß der einzelne Verfasser
gegen Verfolgungen, die ihm aus der Vertretung seiner Überzeugung er-
wachsen könnten, sichergestellt werden müsse. Und in der Tat mochten
in der Zeit, wo der Kampf um die politischen Grundrechte sich abspielte,
die Redakteure und sonstigen Mitarbeiter einer Zeitung eine solche Homo-
genität der Anschauungen aufweisen, daß alle hinter dem breiten Rücken
des „verantwortlichen Redakteurs" Platz fanden. Die Fiktion, daß durch
die Zeitung eine geschlossene Gruppe, eine Partei spreche, entbehrte
wenigstens nicht einer gewissen tatsächlichen Grundlage. Seitdem aber
eine große Mannigfaltigkeit verwaltungspolitischer und volkswirtschaftlich-
sozialer Aufgaben vom Staate ihre Lösung verlangt, zu deren Behandlung
spezielle Sachkunde gehört, seitdem auch die Fragen der äußeren Politik
immer komplizierter und schwieriger geworden sind, ist keine Rede mehr
davon, daß alle Redakteure auch nur ein Verständnis für die Tragweite
dessen haben können, was der im besonderen Falle Sachkundige unter
ihnen über einen aktuellen Gegenstand schreibt. Die ganze Beweis-
führung, die literarischen Nachweisungen und Tatsachenbelege, die sti-
listische Gestaltung des Stoffes sind nicht Gemeingut, sondern geistiges
Eigentum eines bestimmten Verfassers, für den kein anderer eintreten,
dem niemand die Verantwortung der Urheberschaft abnehmen kann. Hier
muß mit Notwendigkeit die Anonymität zur oberflächlichen, kritiklosen
Behandlung führen, die über den Mangel an Sachkunde durch Schlag-
wörter hinwegzutäuschen sucht; sie öffnet einer frivolen Demagogie, einer
gewissenlosen Afterkritik, einer leichtfertigen, persönlich verletzenden
Polemik die Tore, wenn sie nicht gar die Korruption in die Reihen der-
jenigen trägt, die sich als Priester der Wahrheit, Gerechtigkeit und Un-
parteilichkeit fühlen sollen. Gerade darin, daß der begabte, unabhängige
und ehrenhafte Journalist bei Nennung seines Namens dem Publikum
bekannt wird, liegt für ihn ein Mittel zum Emporkommen, ein Schutz
gegen Herabdrückung zum bloßen „Tintenkuli".
Gewiß wird auch unter dem System der Anonymität viel tüchtige schiuSurteii.
und ehrenhafte Arbeit in der Presse geleistet, zumal in der deutschen.
Aber es wird sich nicht bestreiten lassen, daß jenes System, wo es auch
auf die individuell gestaltende literarische Leistung ausgedehnt wird, das
sittliche und intellektuelle Niveau der Zeitungen herabdrückt, daß es die
Geistesarbeit in eine hoffnungslose Abhängigkeit vom Zeitungsunter-
nehmer versetzt und daß es nicht dazu beiträgt, den Journalistenstand in
der Achtung des Publikums zu heben. Das führt dann wieder dazu,
daß diese Laufbahn gerade für hervorragend dazu befähigte Kräfte
-Qj^ Karl Bvcher: Das Zcilungswcscn.
nicht verlockend genug ist, während das Geistesproletariat massenhaft
sich ihr zudrängt.
Gegenmittel. Daß diBS auch in denjenigen Ländern empfunden wird, in denen die
Anonymität die Regel bildet, ergibt sich aus den mancherlei Versuchen
der Zeitungsleiter, Leute von anerkanntem Rufe zur Äußerung ihrer Mei-
nung über einzelne schwebende Fragen zu veranlassen. Vereinzelt sind
sogar Blätter aufgetreten, die diese Art der Artikelbeschaffung zum herr-
schenden System gemacht haben, weil sie sich des Reizes bewußt wurden,
den das mehr oder minder autoritäre persönliche Element auf die Leser
ausübt. Größerer Verbreitung erfreut sich die Umfrage (Enquete), bei
welcher eine Mehrzahl von bekannten Personen zur schriftlichen Aus-
sprache über die gleiche Streitfrage aufgefordert werden. Endlich gehört
hierher das Interview, bei dem eine gerade im Vordergrunde des all-
gemeinen Interesses stehende Persönlichkeit durch einen Journalisten
(Interviewer) zur Beantwortung bestimmter Fragen veranlaßt wird; das
Ergebnis wird dann durch den Ausfrager schriftlich fixiert. Aber das
sind doch alles nur Notbehelfe, und am guten Ende wird man doch immer
wieder auf den Ausspruch Scipio Sigheles zurückkommen: „Die Forde-
rung, daß jeder Artikel den Namen des Verfassers trage, wäre eine Schule
der Sittlichkeit und eine Bürgschaft der Intelligenz."
Annoncenteil. Wenn wir schon bei der seitherigen Besprechung der neueren Ent-
wicklung fast keinen Schritt vorwärts tun konnten, ohne auf das die
moderne Volkswirtschaft beherrschende kapitalistische Unternehmertum zu
stoßen, so gewinnt dieses letztere bei der Betrachtung derjenigen Seite
des modernen Zeitungswesens, der wir uns nun zuzuwenden haben, aus-
schlaggebende Bedeutung. Es ist kein Zweifel, daß die Sitte der öffent-
lichen Ankündigung von Angebot und Nachfrage und der öffentlichen
Bekanntmachung in privaten und allgemeinen Angelegenheiten im Laufe
des letzten Jahrhunderts immer weitere Kreise ergriffen hat. Die Ur-
sachen dieser Erscheinung liegen einerseits in der zunehmenden Kompli-
kation der sozialen Verhältnisse, anderseits in Publizität fordernden Vor-
schriften des Rechtes, endlich in dem allgemeinen Übergang von der
Kunden- zur Warenproduktion. Die Geschäftsanzeige ist der Haupthebel
der Konkurrenz; sie lehrt Angebot und Nachfrage einander finden, weckt
latenten Bedarf und regt verborgene Produktivkraft an; sie erspart unend-
lich viel Zeit und Mühe. Ohne sie wäre unsere ganze moderne Wirt-
schaftsorganisation undenkbar.
Verkettung des Da ist BS denn eine Tatsache von weitesttragender Bedeutung, daß
wesens°mirder die oben erwähnten Ansätze zu einer selbständigen Entwicklung eigener
Ta°ge'sprel$"e. Anzeigeblätter früh verdorrt sind und daß das Annoncenwesen mit der
politischen Zeitung und der belletristischen und fachlichen Zeitschrift zu
einem, wie es scheint, für absehbare Zeit untrennbaren Ganzen verwachsen
ist. Ausschließliche Annoncenblätter bestehen heute fast nur für bestimmte
Geschäftszweige, und auch diese sehen sich noch oft veranlaßt, ihren Lesern
III. Das moderne Zeitungswesen. C05
durch Aufnahme von unterhaltenden oder geschäftlich nutzbaren Mit-
teilungen den Schein vorzutäuschen, als dienten sie auch höheren Zwecken.
In der Tat ist die Zusammenkoppelung eines den edleren Interessen der
Menschheit dienenden Stoffes mit Ankündicfungen privaten Erwerbsinter-
esses der Kernpunkt der ganzen Einrichtung. Der Zeitungsunternehmer
verkauft die durch jene höheren Interessen bedingte Publikationskraft
seines Blattes an jedes zahlungsfähige Privatinteresse. Die Leser haben
nicht Grund, dem zu widersprechen; denn die Inserate ermöglichen es dem
Unternehmer vermöge ihres die Kosten der Herstellung weit übersteigen-
den Preises den Preis der Zeitungsnummem bis weit unter die Her-
stellungskosten des redaktionellen Teils zu ermäßigen. Sie haben denn
auch viel mehr zur Verbilligung der Tagespresse und damit indirekt
zu ihrer Verbreitung beigetragen als die Aufhebung der Stempelabgaben
und die technischen Erfindungen der Neuzeit. Sehr annoncenreiche Blätter
haben berechnet, daß sie nur 37 — 4o''/o ihrer gesamten Herstellungskosten
durch das Abonnement decken.
Die Anziehungskraft, welche eine Zeitung auf das inserierende Publi- KosienRcsctz
kum ausübt, wird ihrem Ansehen als politisches Organ und ihrer Ver-
breitung entsprechen. Bis zu einem gewissen Punkte wird jedes Steigen
der Abonnentenzahl eine noch stärkere Vermehrung der Annoncen hervor-
rufen. Bis dahin behält der Unternehmer das Interesse, durch vermehrte
Aufwendungen für den redaktionellen Teil die Anziehungskraft des Blattes
zu erhöhen; ist aber dieser Punkt erreicht, so vermag keine Kunst der
Welt die durch feststehende lokale und allgemein wirtschaftliche Verhält-
nisse gegebene Menge der Annoncen entsprechend zu steigern. Jeder
neue Abonnent bedeutet dann einen Verlust für den Unternehmer, und
es schwindet für ihn jedes Motiv, auf Verbesserungen noch Bedacht zu
nehmen.
Man hat die Verbindung des Annoncenwesens mit der Politik scharf Nachteile der
11 1 -n • 'i*^ 4 irt. n T*Vi 1 •• , 1 Verbindung des
getadelt, und gewiß ist nicht zu leugnen, daß sie große Ubelstande hat. Annoncen-
Zwar haben nur wenige Länder die noch in der nordamerikanischen Presse Politik,
verbreitete Sitte beibehalten, daß die Annoncen zwischen den Artikeln
der Redaktion eingereiht werden; überall hat sich sonst ein besonderer
Annoncenteil abgeschieden und für diesen sich eine eigene Satztechnik
ausgebildet Aber es ist daneben zwischen dem redaktionellen und dem
Annoncenteil die Reklame entstanden, welche ersichtlich auf Täuschung
des Publikums berechnet ist, und vollends läßt sich nicht verhindern, daß
lobende Besprechungen im redaktionellen Teile als Nebenleistung bei der
Aufgabe kostspieliger Inserate ausbedungen und gewährt werden, oder daß
reiche Annonceneinnahmen dort als Schweiggelder wirken. Daß die An-
noncenspalten mancher Blätter sich skrupellos auch verwerflichen Privat-
zwecken öffnen, ist bekannt genug. Wesentlich erhöht sind alle diese
Gefahren durch die Tatsache, daß sich für Sammlung und Vermittlung der
Annoncen eine ähnliche Organisation ausgebildet hat, wie sie für die
= o6 Kaki, Bücher: Das Zeitungswesen.
Nachrichtenvermittlung in den Korrespondenzen und Depeschenagenturen
besteht. Er sind das die Annoncenbureaux, die viele Blätter geradezu
von sich abhängig- zu machen und sie zu manchem zu zwingen vermögen,
was dem wiihren Beruf der Presse widerstreitet.
SchiuBurtcii. Es wird immer als ein unerträglicher innerer Widerspruch empfunden
werden, daß in dem Tempel, wo Gerechtigkeit und Freiheit gepredigt
werden sollen, auch Käufer und Verkäufer ihre Tische aufstellen, und daß
in Fällen, wo das Volk den unbestechlichen Priester der Wahrheit zu
vernehmen glaubt, nur die geschickt verhüllte Stimme des bezahlten Markt-
schreiers ihm entgegentönt. Man kann darum immer zugestehen, daß ohne
die reichen Hilfsquellen des Annoncenteiles die großartige Organisation
des politischen und kommerziellen Nachrichtendienstes nicht hätte ge-
schaffen werden können, daß unsere Zeitungen ohne sie weniger reich-
haltig, weniger belehrend, weniger wohlfeil und darum weniger verbreitet
sein würden. Um dies zu begreifen, genügt ein Blick auf die franzö-
sische Presse, deren Annoncenwesen unentwickelt geblieben ist, und deren
Informationsdienst darum auch weit hinter dem der annoncenreichen eng-
lischen und deutschen Presse zurückgeblieben ist. Trennen läßt sich die
historisch gewordene Verbindung von öffentlicher und privater Publizität
schwerlich wieder; denn sie hat den Vorzug ökonomischer Zweckmäßigkeit.
Stoffverteilung. Bei der großen Fülle von Materien, aus denen sich der Inhalt einer
modernen Zeitung zusammensetzt, wäre es von nicht geringem Inter-
esse, das räumliche Verhältnis festzustellen, in welchem bei verschiedenen
Völkern und bei Blättern verschiedenen Ranges die einzelnen Stoffgebiete
berücksichtigt werden. Für die 20 bedeutendsten Pariser Zeitungen ist
eine solche Feststellung auf statistischem Wege durch Henri de Noussanne
vorgenommen worden. Sie ergab, daß 30,5 "/(, des Raumes auf Politik,
-3)97o auf Inserate und offene Reklame, Jjö"/,, auf verhüllte Reklame, 10"/^,
auf Erzählungen und Romane, 14,270 auf Kunst, Theater, Sport entfielen,
und daß Unfälle, Verbrechen, Skandale einen weit größeren Raum bean-
spruchen als Wissenschaften, Entdeckungen und Werke der Menschen-
liebe. Aber die Ergebnisse lassen sich nicht verallgemeinem; sie unter-
liegen an sich schon manchen Zweifeln.
Verbreitung der Ebensowenig ist es bis jetzt gelungen, die Verbreitung der
Zeitungen innerhalb der Bevölkerung der einzelnen Länder exakt fest-
zustellen. Nicht einmal über die Zahl der Zeitungen in den einzelnen
Staaten und Sprachgebieten gibt es zuverlässige Ermittlungen. Alle be-
kannt gewordenen Ziffern leiden unter der Schwierigkeit der Unterschei-
dung zwischen Zeitungen und anderen periodischen Druckschriften; auch
enthalten sie zahlreiche Doppelzählungen. Noch unzuverlässiger sind die
Angaben über die Höhe der Auflagen. Über die Zahl der durch die Post
versandten Zeitimgsnummern weiß man zwar Genaueres; aber sie geben
nicht die ganze Verbreitung der Blätter wieder. Dazu kommt die Ver-
schiedenartigkeit des Zeitungsverschleißes (feste Abonnements und Nummern-
III. Das moderne Zeitungswesen. 507
verkauf) in den einzelnen Staaten. In manchen Ländern leidet das Zei-
tungswesen unter großer Zersplitterung (Deutschland, Schweiz, Dänemark),
die leistungsfähige Unternehmungen nur in geringer Zahl aufkommen
läßt. In Frankreich und England haben die großen hauptstädtischen
Tagesblätter eine Auflage von Hunderttausenden von Exemplaren, und
jedes von ihnen versorgt so viele Leser wie hundert und mehr kleine
deutsche Blätter. Bereits im Jahre 1881 hatte das Pariser Petit Journal
mehr Abnehmer, als alle damals vorhandenen (255) politischen Blätter der
Schweiz zusammengenommen. Die Zahl der Zeitungen in einem Lande
ist danach keineswegs ein Maßstab für die Intensität ihrer Verbreitung.
Bestände das Annoncenwesen nicht, so würde die Mehrzahl der kleinen Nachteile der
Zersplitterung
Blätter nicht existenzfähig sein. Die meisten von ihnen führen in bezug
auf den redaktionellen Teil ein Parasitenleben, bei dem sie die von den
großen Zeitungen geschaffene und unterhaltene Organisation des Nach-
richtendienstes ausbeuten. Aber auch zu einer reinen Scherenredaktion
gehört ein gewisses Maß von Intelligenz, Geschmack und Unterscheidungs-
vermögen, über das die Herausgeber der kleinen Lokal- und Provinzblätter
selten verfügen. So sinken sie intellektuell und ethisch oft auf ein niederes
Niveau, stehen jedem zahlungsfähigen Einflu.sse oder einer gewissenlosen
Demagogie offen und wirken mehr verrohend als erziehend. Wären nicht
diese Schattenseiten der Kleinpresse, so würde zwischen den Ländern mit
wenigen großen und denen mit vielen kleinen Blättern kaum ein weiterer
Unterschied sein, als daß letztere auch den lokalen Publizitätsbedürfnissen
in höherem Maße Rechnung tragen können. Für den Hauptinhalt an Nach-
richten über in- und ausländische Verhältnisse ergibt sich keine so große
Verschiedenheit, da dieser durch die der ganzen Presse gemeinsamen Institu-
tionen der Depeschen- und Korrespondenzbureaux und den internationalen
Depeschenaustausch gleichmäßig gegeben ist. Was aber sonst die großen
Landes- und Weltblätter an bedeutsamen Vorgängen und Erscheinungen
der fortschreitenden Kulturentwicklung in sich aufnehmen und zunächst
den höheren Schichten zur Kenntnis bringen, sickert nur langsam bis in
die untersten Organe der Öffentlichkeit durch. Es ist kein Zweifel, daß die
gewaltige städtische Agglomeration der letzten Menschenalter vermöge des
wachsenden lokalen Anzeigebedürfnisses vielen Zeitungen die Existenz er-
möglicht hat, die sie wegen ihres Eigengehalts nicht verdienen würden. Die
Konkurrenz unter ihnen nimmt oft sehr unschöne Formen an; sie läßt sie
der niederen Sensation und den schlechten Leidenschaften des Publi-
kums schmeicheln, und so dürfte, alles wohl erwogen, der Vergleich
schließlich doch zugunsten der Länder mit konzentriertem Zeitungswesen
sprechen.
So umfassend und vielseitig der Inhalt der modernen Presse sich Allgemeine
" -1. 1 FunkUon der
entwickelt und ausgestaltet hat, ihre Kulturwirkung ist und bleibt sekun- Press«,
därer Natur. Sie ist nach Schäffles treffender Bezeichnung ein Vermitt-
lungsglied, ein Leitorgan, durch das die geistige Strömung zwischen dem
5o8
Kakl BCcher: Das Zeitungswesen.
Presse und
öffentliche
Meinung.
Die Presse
macht nicht
öffentliche
Meinung.
Volke und .seinen führenden Geistern hin und hergeht. Auf der Stufe der
alten Staatszeitung ist ihre Wirkung eine wesentlich administrative, auf
der Stufe der gedruckten Nachrichtenpresse eine wesentlich intellektuelle
(Erweiterung des Gesichtskreises), auf der Stufe der modernen politisie-
renden Presse eine politisch und sozial hodegetische, propagandistische.
Die aktiven, leitenden Elemente, von denen jene Strömungen au.sgehen,
stehen über, nicht in der Presse. Die Redakteure und Mitarbeiter haben
keine selbständig schöpferische und leitende Rolle. Sie sind Anpassungs-
organe. Auch wo sie sich in der Opposition befinden, leiten sie nur die
in den Volksmassen entstehenden Gegenströmungen gegen Maßnahmen der
Regierenden auf diese zurück. Ihre Tätigkeit ist eine wesentlich form-
gebende. Sie prägen das Metall, welches die eigentlich schöpferische
Geistesarbeit in Politik, Wissenschaft, Kunst, Technik zutage fördert,
in kleine Münze um, machen es also zirkulationsfähig. Sie zerstreuen die
geistigen Anstöße, die von den politischen und kulturellen Zentren au.s-
gehen, in die Massen und sammeln die von diesen ausgehenden Reak-
tionen, um sie zu den Mittelpunkten der geistigen Bewegung zurück-
zuführen.
Damit ist bereits ihr Verhältnis zur öffentlichen Meinung gekenn-
zeichnet. Die öffentliche Meinung ist das stark mit Gefühls- und Willens-
momenten durchsetzte Urteil der Gesellschaft, die massenpsychologische
Reaktion, die sich zustimmend oder ablehnend gegen bestimmte Vorgänge,
Maßnahmen oder Einrichtungen wendet. Die Presse wird zum Organ der
öffentlichen Meinung, wenn sie die von den Massen ausgehenden Ideen-
strömungen aufnimmt, ihnen Gestalt und Richtung gibt, auf ihrem Grunde
Forderungen an die Staatsgewalt formuliert. Aber sie übt auch Einfluß
auf die öffentliche Meinung, indem sie das Urteil Einzelner oder ganzer
Gruppen der Masse suggeriert. Ein bekannter Kunstgriff aller Demagogie
besteht darin, subjektive Ansichten und partikulare Interessen als Volk.s-
ansichten und Volksinteressen darzustellen. Oft sind es nur kleine Frak-
tionen der oberen Schichten, die ihre Meinung durch die Presse als die
öffentliche Meinung ausgeben lassen. Dazu ist diese Meinung meist nichts
Einheitliches; das intellektuelle Moment in ihr kann auf ein Minimum re-
duziert sein; sie weist dann nur unklare Gefühlsströme auf, allgemeine
Unzufriedenheit, Gedrücktheit, Opposition, Begeistenmg, Nationalgefühl,
Chauvinismus. In diesem Zustande läßt sie sich in bestimmter Richtung
„bearbeiten", nachdem sie versuchsweise vorher betastet, sondiert worden
ist; sie läßt sich zu großen Volksbewegungen aufstacheln oder auch be-
schwichtigen. Grund genug für Machthaber und Parteien, sich des Leit-
organes der Presse zu bemächtigen, um mit der öffentlichen Meinung
Fühlung zu gewinnen und sie im eigenen Interesse zu lenken.
Es ist darum noch nicht richtig, wenn behauptet wird, daß die Presse
die öffentliche Meinung „mache" oder daß diese in jener enthalten sei.
Sonst wäre es unmöglich, daß in einem Lande wie Rußland, in welchem
III. Das moderne Zeittingswesen. cqu
Menschenalter hindurch der Druck der Zensur jede freie Erörterung innerer
Angelegenheiten in der Presse unmöglich gemacht hatte, eine große revo-
lutionäre Volksbewegung hätte entstehen können, die ohne eine ausge-
sprochen oppositionelle Grundstimmung undenkbar ist. Auch die deutsche
Arbeiterbewegung hat sich in den 60 er Jahren auf Grund einer im Gegen-
satze zur gesamten Presse stehenden, breite Schichten beherrschenden
Volksanschauung gebildet; erst später folgte die Gründung einer Partei
und einer Parteipresse. Man hat also zu unterscheiden zwischen allge-
mein verbreiteten Anschauungen und Stimmungen im Volke, die niemals
ohne Ursache entstehen, sich durch das Buch, die Rede, Vereine, die
Agitation von Mann zu Mann ausbreiten, und ihrer öffentlichen Aus-
sprache. Die Volksmeinung wird erst zur „öffentlichen Meinung", in-
dem sie in den Zeitungen verlautbart wird. Die letzteren wirken dadurch
verstärkend auf sie zurück, daß sie den im Volksbewußtsein schlummernden
Empfindungen einen adäquaten Ausdruck verleihen, sie formulieren, sie
zur Höhe klar begründeter Forderungen erheben. Eine Presse, deren
Haltung dem Volksbewußtsein widerspricht, bleibt wirkungslos, während
diejenige die größten Erfolge erzielt, welche weit\erbreiteten, aber viel-
leicht nur dunkel empfundenen Stimmungen den glücklichsten verstandes-
mäßigen Ausdruck verleiht. Irre leiten kann die Presse die „öffentliche
Meinung" nur, wenn sie jenem unklaren Volksempfinden eine unrichtige
Deutung gibt, den Tatsachen, welche das letztere hervorgerufen haben,
falsche Ursachen unterschiebt, den allgemeinen Unwillen auf falsche Ziel-
punkte hinlenkt.
Unser ganzes politisches, soziales und wirtschaftliches Leben beruht .Massenwirkung
auf Massenwirkungen. Keine Machtbestrebung kann auf die Dauer ge- " *"°°^'
lingen, wenn sie nicht die Masse hinter sich hat, d. h. ihre Empfindungen,
Anschauungen, Urteile beherrscht. Augenblicks Wirkungen auf den Geist
der Massen kann nun zwar die lebendige Menschenstimme von der Tribüne
oder der Kanzel noch in höherem Maße erzielen, als die Presse; aber der
letzteren Einfluß wirkt nachhaltiger. Tag für Tag lenkt sie die Geistes-
kräfte von Tausenden in die gleichen Gedankenbahnen, wiederholt bei
den verschiedensten Gelegenheiten und Zusammenhängen die gleichen
Ansichten, Meinungen und Urteile mit der Selbstverständlichkeit uner-
schütterlicher Wahrheiten; schließlich meint der Leser in ihr nur seine
eigenen Gedanken wiederzufinden. Hat ihn doch die alles sich unter-
werfende Macht des Aktualitätsprinzips daran gewöhnt, über jedes neue
Ereignis bereits ein fertiges Urteil in der Tagesübersicht oder dem Leitartikel
in derselben Nummer seiner Zeitung vorzufinden, die über dieses Ereignis
die erste Meldung bringt. Er behält gar nicht Zeit, sich ein eigenes Ur-
teil zu bilden und dieses dann etwa noch an fremdem Urteil zu korri-
gieren. Alles ist ihm bereits vorgedacht; in jeder Spalte, in jeder kleinen
Notiz der Zeitung ist die Nachrichtenmitteilung mit Werturteilen, An-
sichten, Empfindungen untermischt. Schließlich legt sich diese fremde
c^ I O Karl Bücher : Das Zeitungswesen.
Auffassung wie ein Bleigewicht über die eigene Urteilskraft. Mag die
aus flüchtiger Anschauung der Dinge geschöpfte Zeitungsmeinung noch
so oberflächlich sein, sie wirkt mit der Suggestivkraft des Gedruckten,
stumpft die Aufmerksamkeit ab und lähmt das selbständige Denken. Dann
wird die Anschauung, die zuerst nur ein Einzelner oder wenige in der
Presse vertraten, zur Massenanschauung, seine Moral zur Massenmoral,
sein Streben zum Massenstreben aller oder doch der allermeisten Leser.
Sich dieser Umklammerung durch das „öffentliche Urteil" zu entziehen,
ist außerordentlich schwer; wer sich ausnahmsweise in selbständigem
Denken davon abzuweichen erlaubt, erscheint als Einspänner und Sonderling.
Urteilslosigkeit Es ist Wahr, die allgemeine Bildung ist im Laufe des letzten Jahr-
hunderts unendlich gewachsen; ein weit ausgedehnteres Maß von Durch-
schnittswissen ist auch in die Massen gedrungen; der Boden ist vorbereitet,
um den breiten Saatwurf neuer Kulturelemente aufzunehmen, der täglich
durch die Presse über ihn ausgestreut wird. Aber die Masse ist nicht im-
stande, sich dem auf sie eindringenden Zeitungsurteil mit kritischem Sinne
entgegenzustemmen; sie nimmt es mit gläubigem Vertrauen auf und ist nur
zu bereit, sich willenlos führen zu lassen. Welch eine dankbare Aufgabe
für eine geistig hochstehende Tag-espresse, die sich bewußt ist, daß die
Masse dem Guten, Schönen und Edeln ebenso zugänglich ist wie dem
.Schlechten, Häßlichen und Gemeinen! Aber auch welche Gefahr der
Irreleitung und Volks Verführung; wie leicht kann die Presse zum An-
steckungsherde werden für Geistesepidemieen, die ganze soziale Schichten
ergreifen und verderben!
Geschäfts- Diesc Gefahr wird dadurch wesentlich gesteigert, daß die moderne
Zeitung so vielerlei Zwecken dient und daß sie, um diese zu erfüllen,
eines großen sachlichen Apparates und eines zahlreichen, arbeitsteilig ge-
gliederten Personals bedarf Das hat zur Folge, daß sie als wirt-
schaftliche Unternehmung organisiert sein muß, in der bedeutende
Kapitalien des Gewinnes wegen umgetrieben werden. Dieser Rücksicht
wird der Unternehmer nur zu geneigt sein, alle anderen Rücksichten
unterzuordnen. Regierungen und Parteien streben durch die Presse auf
die Massen Einfluß zu gewinnen. Was hindert den Eigentümer, sich kaufen
zu lassen? Und wenn er auch einer solchen Zumutung widersteht, wenn
auch die gesamte Redaktion im allg-emeinen Teil den höchsten Interessen
der Menschheit zu dienen sucht, wie will sie es unmöglich machen, daß
durch den Handelsteil die Geldmächte der Börse auf die Kurse ein-
wirken, daß im Annoncenteil der Unsittlichkeit oder Unredlichkeit Vor-
schub geleistet wird? Der Schleichwege gibt es zu viele für die Preß-
korruption.
Kuiturfördern- Somit kann das Urteil über die moderne Presse als Leitorgan der
der Einfluß der °
Presse. sozialcu Willensstrome nicht durchweg günstig lauten. Aber sie ist zu-
gleich auch Leitorgan eines unermeßlichen Kulturinhaltes, mit dem sie
Tag für Tag die Kenntnisse ihrer Leser bereichert und ihnen eine Er-
III. Das moderne Zeitungswesen. 5 1 1
Weiterung des Gesichtskreises ermöglicht, die nie ein Ende gewinnt.
Schon der mit erstaunlicher Präzision arbeitende, politische Nachrichten-
dienst der Presse wirkt in dieser Richtung. Er bringt die Völker mitein-
ander in Berührung und läßt sie gegenseitig teilnehmen an ihren Erleb-
nissen und Schicksalen. Die Gegensätze werden ausgeglichen; humanitären
völkerrechtlichen Ideen wird der Weg bereitet; man rückt einander näher;
es entstehen Gemeinschaftsgefühle. Noch viel mehr tritt dies hervor bei
dem eigentlich kulturellen Lesestoff. Jede neue Geistestat, die ein einzel-
ner Mensch in einem Volke vollzieht, wird durch die Presse nicht nur
Gemeingut aller Volksgenossen, sondern macht in kürzester Frist die
Runde um die Erde. Keine wissenschaftliche Wahrheit, keine Erfindung
oder Entdeckung kann verloren gehen, wenn sie einmal den Weg in die
Presse gefunden hat, was nur davon abhängen wird, ob sie sich einem
größeren Kreise von Gebildeten verständlich machen läßt. Gerade der
Umstand, daß die Zeitungen alles an sich ziehen, für das allgemeines
Interesse sich erwecken läßt, wirkt kulturerhaltend und kulturfördernd.
Aber freilich liegt auch hier neben dem Segen der Fluch. Die ^■^^^^^','^^pf"^°e^
Kenntnisse, welche die Presse vermittelt, müssen dem allgemeinen Ver- der Leser.
ständnis angepaßt werden; sie können darum nur oberflächlich sein. Im
besten Falle geben sie Einzelnen Anregungen zum tieferen Eindringen.
Auf die Masse stürmt die unübersehbare Stoffmenge ein, ohne sie tiefer zu
ergreifen; ein neuer Eindruck jagt den anderen; wenige haften. So ent-
steht ein Geschlecht, das an allem nippt und nichts mit Muße genießt,
eine allgemeine geistige Blasiertheit, die auch durch die stärksten typo-
graphischen Kunstmittel (man denke etwa an die marktschreierischen
Artikelüberschriften der amerikanischen Blätter) zu keiner Aufmerksamkeit
mehr gezwungen werden kann. Auch das Wertvolle geht in der Masse
des Gebotenen unbemerkt vorüber oder kann von dem einzelnen Inter-
essenten nur mit unverhältnismäßigen Zeitopfern gewonnen werden.
Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundem, daß auch das Zeitunpaus.
schnittburcaux.
Zeitungslesen bereits zum Geschäft geworden ist, das von Einzelnen für
viele übernommen wird. Um das Jahr 1870 wurde von einem Deutschen
namens Romeike in London ein Nachrichtenbureau eröffnet, das sich
hauptsächlich damit befaßte, Politikern die sie interessierenden Zeitungs-
artikel zu übersenden. Zehn Jahre später entstand ein gleiches Institut in
Paris, das vorzugsweise Künstlern Rezensionen ihrer Werke übermittelte.
Bald darauf wurde ein ähnliches Unternehmen in Berlin begründet, das
den neuen Geschäftszweig der Großindustrie nutzbar machte. Heute
findet sich diese „Ausschnittindustrie" in den meisten Hauptstädten Euro-
pas vertreten; sie hat ihre Wirksamkeit auf alle Interessengebiete aus-
gedehnt, für die sie zahlimgsfähige Abonnenten findet.
Man wird jedoch die Zeitung auch als allgemeines Bildungs- ^^^ "^l^^;^^„^^'
Fortbildungsmittel nicht unterschätzen dürfen. Gewiß ist, daß sie un- minei.
endUch viel nutzbare Zeit tötet, daß sie dem Buche, welches Vertiefung
ich:
Buche
-j, Kari. Bücher: Das Zeitungswesen.
fordert, eine verhängnisvolle Konkurrenz bereitet, daß ihre Stoffmasse die
Aufnahmefähigkeit auch der Gebildetsten weit übersteigt. Aber es gibt
breite Schichten der Bevölkerung, die ohne die Zeitung überhaupt nicht
zum Lesen kommen, jene zahlreichen Abonnenten der Kleinpresse, denen
durch sie immerhin eine stete, wenn auch noch so bescheidene Teilnahme
an den Gütern der Kultur ermöglicht und die in gewissem Sinne doch
auch über das graue Einerlei ihrer Tagesarbeit und die Enge ihres Da-
seins dadurch erhoben werden, daß die Zeitung ihren Bück auf die Vor-
gänge der weiten Welt richtet und ihren Gesichtskreis erweitert. Er-
hielte sie ihnen auch nur die Kunst und Übung des Lesens, so wäre
das immer ein Gewinn.
Verhältnis der Es kann jcdoch kaum einem Zweifel unterliegen, daß für die Ge-
'''"irift^und^zum bildeten das Überwuchern der Zeitungslektüre einen Verlust bedeutet,
indem es denjenigen literarischen Publikationsformen, welche einer ernst-
haften Behandlung der großen Zeitprobleme gewidmet sind, den Boden
entzieht. In erster Reihe stehen die Zeitschriften. Mag immerhin ihre
Zahl sich vermehrt, mag die Spezialisation unter ihnen Fortschritte ge-
macht haben, mit der Masse ist das Ansehen der einzelnen nicht gewachsen,
und es ist auch bei ihnen bereits insofern eine Annäherung an das
Zeitungswesen zu beobachten, als sich ihre Erscheinungsfristen verkürzen
und als sie immer mehr danach streben, dem Aktualitätsprinzip Rechnung
zu tragen. An Stelle der Vierteljahrsschrift tritt die Monatschrift, an
Stelle der Monatschrift die Wochenschrift, und dem geringeren Räume
der letzteren ensprechend wird die Behandlung der einzelnen Themata
eine kürzere, flüchtigere, gewinnt der nachrichtliche Stoff der Abhand-
lung Boden ab. Selbst die großen Revuen Englands und Frankreichs
leiden unter diesem Entwicklungsprozeß, durch den ersichtlich die gründ-
liche Behandlung politischer Zeitfragen zurückgegangen ist. Aber bereits
wirkt der journalistische Zug des Zeitschriftenwesens auch auf die Wissen-
schaft zurück, insofern als ihre literarische Betätigung der Buchform
untreu zu werden beginnt und sich in steigendem Maße der Zeitschrift
als PubUkationsmittel bedient. Sogar die wissenschaftliche Monographie
wird mehr und mehr in diesen Strom der periodischen Literatur hinein-
gezogen, indem sie nur dann auf größere Beachtung noch Aussicht hat,
wenn sie in einer, jener zeitschriftähnlichen Sammlungen erscheint, die im
letzten Menschenalter wie Pilze aufgeschossen sind. Schließlich werden
der Publikationsform des Buches nur noch der Grundriß, das Lehrbuch,
die Enzyklopädie und ähnliche Hilfsmittel der gelehrten Ausbildung und
der Berufsausübung verbleiben. Sogar in der schönen Literatur weicht
das Buch der Zeitung und Zeitschrift. Kein Verleger würde es heute
noch wagen, einen mehrbändigen Roman erscheinen zu lassen, und die
meisten einbändigen gelangen nur auf Kosten ihrer Verfasser an das
Licht der Öffentlichkeit. Zugleich wird in steigendem Maße die Zeitung
als Hebamme für die buchhändlerischen Novitäten benutzt. Es werden
III. Das moderne Zeitungswesen. cji
ihr einzelne Kapitel eines demnächst erscheinenden Ruches zum kosten-
freien Abdruck angeboten, oder wenn es erschienen ist, werden mit den
Rezensionsexemplaren Auszüge an die Presse versandt, damit sie in der-
selben Weise von ihr benutzt werden wie die Korrespondenzen. Schließ-
lich reduziert sich die Bücherkenntnis der meisten Menschen auf das, was
sie aus und über die letzten Neuerscheinungen in ihrer Zeitung gelesen
haben. Im besten Falle wird die letztere für die Bücherproduktion etwas
Ahnliches wie die Ausschnittbureaux für die Tagespresse: die Mitarbeiter
übernehmen berufsmäßig die Aufgabe, für das Publikum Bücher zu lesen
und ihm den Extrakt vorzusetzen — je kürzer, um so besser.
Schließlich darf auch die volkswirtschaftliche Rolle der Zeitung nicht ihre ncdeuiuns
unterschätzt werden. Ist sie auch in dem großen Netze der Verkehrs- " wimchaft. '"
mittel nur ein Leitorgan, so wäre doch ohne sie das Zusammenwachsen
der zahllosen Einzelwirtschaften zu dem einheitlichen Gebilde der Volks-
wirtschaft, jene allseitige Funktions- und Arbeitsteilung, die unser Dasein
so unendlich viel sicherer und reicher gemacht hat, undenkbar. Ohne
ihre Handelsnachrichten, ihre Saatenstands- und Warenmarktsberichte,
ihre Mitteilungen über den Lauf von Warenpreis und Wechselkurs, über
Angebot und Nachfrage, ihre Diskont- und Kurszettel, würde der Betrieb
zahlloser Unternehmungen der nötigen Sicherheit, die Güterversorgung
der Nationen der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit verlustig gehen.
Dazu kommt, daß das kapitalistische System eine Verzweigung der mate-
riellen Interessen her\-orgebracht hat, die über die ganze Welt reicht.
Die Kapitalanlage in den industriellen Großunternehmungen des Inlandes
wie in Bergwerken, Eisenbahnen, Versicherungs- und Industriegeschäften
des Auslandes erfordert eine stete Beobachtung nicht bloß der gesamten
wirtschaftlichen, sondern sogar der technischen, wissenschaftHchen und
nicht zuletzt der politischen Vorgänge. So findet auch in der Stärke
und Weite der materiellen Interessen die StofffüUe der Zeitungen eine
gewisse Rechtfertigung.
Und auch das darf am Ende nicht übersehen werden, daß eine gut Bedeutung der
entwickelte Tagespresse die geistigen Kräfte einer Nation entfesselt. Man J"""'-^'""''-
kann über die Tätigkeit des echten Journalisten nicht groß genug denken.
Welche Fülle von geistiger Kraft und bereitem Wissen, von Erfahrung
und politischem Takt, von Geistesgegenwart und Witz, von Gestaltungs-
gabe und Formgewandtheit täglich durch die Presse eines ganzen Landes
umgesetzt wird, ist kaum zu ermessen. Allerdings kann man sagen, daß
es eine Art Raubbau sei, der hier an der Samtbefähigung einer Nation
getrieben werde, daß gerade die talentvollen unter den Verfassern Bleiben-
deres in das geistige Vermögen ihres Volkes hätten einschießen können,
wenn sie in voller Ruhe ihre Kräfte einem größeren literarischen Werke
hätten widmen können, und es fehlt ja auch nicht an beweglichen Klagen
über diesen scheinbaren \'erlust. Aber wie viele Talente hat doch auch
der Durchgang durch die Presse vor Not und Verkümmerung geschützt,
Diu Kultur der Gegenwart. I. i, ^j
SM
Karl Bücher: Das Zeitungswesen.
für wie viele ist sie eine Schule geworden, in der ihre Kraft für größere
Aufgaben erstarkt ist! Und ist denn an sich der Beruf des Mannes,
dessen Wort durch die Zeitung täglich Zehntausende erreicht, geringer
zu schätzen, als etwa der des Predigers, dessen Worte nur Hunderte hören,
oder der des akademischen Lehrers, der vielleicht nur ein paar Dutzend
um seinen Lehrstuhl versammelt sieht? Was verschlägt es, wenn es
Alünze kleinster Stückelung ist, die er in seinen Artikeln ausgibt? Ist die
Prägung gelungen, ist ihre Währung echt, so geht sie über in den all-
gemeinen Kulturschatz der Nation, mag auch den Münzmeister niemand
kennen oder nennen.
Literatur.
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Über die Acta diurna der Römer: Leclerc, Des journaux chez les Romains
(Paris, 1838). — Lieberkühn, De diumis Romanorum actis (Vimar., 1840). — A. Schmidt,
Das Staatszeitungswesen der Römer in s. Ztschr. f. Geschichtsw. I, S. 303 ff. — Zell, Über
die Zeitungen der alten Römer und die Dodwellschen Fragmente in s. Ferienschriften
S. iff., logff. — Hübner, De senatus populique Romani actis in Fleckcisens Jhb. f. Philol.
Suppl. 111, S. 564ff. — Heinze, De spuriis diurnorum actorum fragmentis (Grcifsw., 1860).
Das Zeitungswesen in China: F. Hirth in der Üsterr. Monatsschrift für den
Orient VII (1881), S. jff., jif. (= Chinesische Studien, S. zogff.). — Tcheng-ki-tong, Les
Chinois peints par eu.\ memes (Paris, 1884), S. 97 ff. — Navarra, China und die Chinesen
(Bremen, 1901), S. 891 ff.
II. Die politischen Zeitungen der neueren Kulturstaaten.
A. Deutsches Sprachgebiet.
1. Geschriebene Zeitungen: R. Grasshoff, Die briefliche Zeitung des XVI. Jahr-
hunderts (Leipzig, 1877). — G. Steln'Hausen, Geschichte des deutschen Briefes, 2 Bde.
(Berlin, 1889/91). — CHRISTOPH Scheurls Briefbuch, herausgeg. von Sooden und Knaake
(Poudam, 1867/72). — Beriiner geschriebene Zeitungen 1713 bis 1717 und 1735, herausgeg.
von Dr. E. Friedländer (Berlin, 1901 : Sehr, des Ver. f. d. Gesch. Berlins.)
2. Gedruckte Zeitungen, a) Einzeldrucke: E. Weller, Die ersten deutschen
Zeitungen 1505— 1599 (Tübingen, 1872: Bibl. des Lit. Vereins in Stuttgart III). — O. L.
B. WOLFF, Sammlung historischer Volkslieder und Gedichte der Deutschen (Stuttg., 1830).—
Fr. L. von Soltau, Einhundert historische Volkslieder (Leipzig, 1836). Zweites Hundert,
herausg. von R. Hildebr^\nd (1856). — Ph. M. Körner, Historische Volkslieder aus dem
i6. und 17. Jahrhundert (Stuttgart, 1840). — R. von Liliencron, Die historischen Volks-
lieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde. (Leipzig, 1865/9). — F. W.
von Ditfl-RTH, Die histor.-politischen Volkslieder des dreißigjährigen Krieges (Heidelberg,
1882) und dessen andere Sammlungen.
b) Periodische. J. O. Opel, Die Anfänge der deutschen Zeitungspresse 1609—1650
(Leipzig, 1879: Archiv f. Geschichte des deutschen Buchhandels III). — Joach. von Schwarz-
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zur Staatswissenschaft CFrkf., 1795)- — Abhandlung über die Zeitungen, Intelligenzblättcr und
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Journalismus, Bd. I (nicht mehr ersch.) (Hannover, 1845). — H. WunxE, Die deutschen
Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung (Leipzig, 1866, 2. Aufl. (1875).—
F. Stieve, Über die ältesten halbjährigen Zeitungen: Abh. der k. bayerischen Akademie d.
Wiss. III. Cl. XVI, I (München, 1881). — E. Milberg, Die moralischen Wochenschriften
des 18. Jahrh. (Meißen, o. J.). — M. Kawczvnski, Studien zur Literaturgesch. des 18. Jahrh.
Moralische Zeitschriften (Leipzig, 1880). — L. Salo.mon, Geschichte des deutschen Zeitungs-
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V. Organisation und Technik. Allgemeines.
J. H. Wehle, Die Zeitung. Ihre Organisation und Technik (Wien, 1883). — R. Wrede,
Handbuch der Journalistik (Berlin, 1902). — G. Schmidt, Kauf, Gründung und Finanzierung
von Zeitungen und Zeitschriften (Leipzig, 1903). — PHILLIPS and others, The Making of a
Newspaper (Philadelphia, 1893). — Schuman, Practical Journalism (Chicago, 1904). — Dana,
The Art of Newspaper Making (New York, s. a.). — Byxbee, Establishing a Newspaper
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HOLTZER, Die Beziehungen zwischen Staat und Zeitungspresse im Deutschen Reich (Berlin,
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1879). — J. J. Obrecht, Über die öffenüiche Meinung und die Presse (Chur, 1885). —
EuG. Tavt.rnier, Du joumalisme (Paris, 1902). — R.Jacobi, Der Journalist (Hannover, 1902).
— Ch. Fonsegrive, Comment lire les joumeau.x? (Paris, 1903). — E. LÖBL, Kultur und
Presse (Leipzig, 1903). — Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (1875) I, S. 442
— 466. — „Der Zeitungs-Verlag". Fachblatt für das gesamte Zeitungswesen, hrsg. vom
Verein deutscher Zeitungsverleger (Hannover, seit 1900).
DAS BUCH.
Von
Richard Pietschmann.
Anfänge. Wesen und erste Aufgaben des Buches. Kultur erfordert
Zusammenhang der Entwicklung, Überlieferung der Errungenschaften.
Unter den Mitteln, Wissen und Erkenntnis auszubreiten und auf die
Nachwelt zu bringen, ist eins der wichtigsten das Buch geworden, wenn
es auch nicht eins der ursprünglichsten ist. Auch hier gilt: Im Anfang
war die Tat. Voraussetzung für das Buch ist das Vorhandensein einer
einigerinaßen entwickelten Schrift — Litern scripta manet — , das Vor-
handensein einer Fertigkeit im Herrichten von Schreibstoffen, aber auch
ein Besitz von Überlieferungen, denen größere Treue, längere Dauer,
bequemere Verbreitung gewünscht wird, als ihnen durch mündliche
Wiedergabe, durch die mnemotechnischen Notbehelfe — Kerbholz, Knoten-
schnur, Wampum, Zeichnung — , schließlich selbst durch die monumentale
Amerikanische Inschrift Verliehen zu werden vermag. In dem Staate des südamerika-
Völker. . „ - °
nischen Festlandes, dessen Organisation den spanischen Entdeckern die
höchste Bewundenmg abnötigte, in dem Reiche der Inka, war Schrift
und Buch etwas Unbekanntes. Der mittelamerikanische Kulturkreis der
Azteken und der Maya-Stämme war im Besitze des Buches, würde aber
wohl schwerlich so weit fortgeschritten sein ohne die Aufzeichnungen
namentlich kalendarischer Art, die im Dienste einer unsagbar grauen-
haften Religionsübung hier gemacht werden mußten. Auch bleibt selbst
in den Büchern der Maya der Text wenig mehr als eine Erläuterung zu
Reihen von Bildern voll überladener Symbolik.
Alter Orient. Gehen wir in der alten Welt zurück auf die Anfänge geschichtlichen
Buch und ° ^
Schrift. Werdens, so finden wir in jedem der drei frühsten Kulturkreise des
Morgenlandes eine besondere Schriftgattung: bei den Ägyptern die Hiero-
glyphik mit ihren verschiedenen Formveränderungen, bei den Babyloniem
die Keilschrift, die in weiten Gebieten Vorderasiens mannigfache Anwen-
dungen gefunden hat, bei den Chinesen das Schreibsystem, das mit ihrer
Gesittung im fernen Osten Asiens zur Herrschaft gelangt ist und sich
I. Wesen und erste Aufgaben des Buches. 5 I g
dort noch darin behauptet. In dem Wesen dieser Schriftgattungen wie
der Kulturen, denen sie entstammen, spiegelt ihre Entstehungsgeschichte
sich ab: erst anfangerhafte Versuche einer geschichtslosen Vorzeit, dann
eine Vervollkommnung in kleinen Fortschritten, die gleichsam nach dem
Prinzip des kleinsten Kraftmaßes geduldig und mit ängstlichem Beibe-
halten des einmal Gewonnenen einen Notbehelf an den andern anknüpfen.
Daher ein Übermaß von Zeichen, von Künsteleien, von überlieferten Un-
verständlichkeiten. Von den Werken aber, die in einer Schrift dieses
Gepräges verfaßt wurden, wie sie bei den Ostasiaten noch verfaßt werden,
gilt dasselbe, was von Kulturen dieser Gattung überhaupt gilt, die rechte
Ausbreitung und nachhaltigen Einfluß nur da gewinnen, wo sie als Ganzes
Wurzel zu fassen vermögen. Es gehört völlige Anpassung an das Chi-
nesentum dazu, wenn man, wie es die Anamiten tun, seine Studien mit
dem „Dreisilbenkanon" beginnen will, der in den Augen der Chinesen als
die Krone aller Elementarbücher dasteht. Wie zäh sich dann ein solches
Einleben bewährt, das lehrt die Bedeutung, welche noch heute in Japan
die klassischen Bücher der Chinesen besitzen. Das Ägyptertum war zu
sehr ein Erzeugnis des Niltals, als daß die Absonderlichkeiten des Toten-
buches und der Literatur des ersten thebaischen Reichs hätten weithin
Schule machen können. Soviel auch Babylonien für den Ausbau der Ge-
sittung der alten Welt beigesteuert hat. mit der Lektüre altbabylonischer
Tontafeltexte scheinen sich doch nur Völker abgemüht zu haben, die wie
die Assyrer gänzlich im Banne babylonischer Kulturwirkung lebten. Mehr-
fache Parallelen anderer Art ergeben sich für diese mit den ersten Ur-
sprüngen noch vem-achsenen Kulturen. Im Ägyptischen wie im Chine-
sischen hat die Eigenart der Schrift Stilarten erzeugt, die mehr für den
Leser als für den Hörer berechnet waren. Je mehr die Schrift ein mit
Schwierigkeiten zu handhabendes W^erkzeug bleibt, je mehr die Kenntnis
des Herkommens, die aus Schriftwerken vielfach altertümlichen Charak-
ters schöpft, zu Ansehen und Amtern verhilft, um so größer das Behagen,
mit dem der Kundige in ungemessener Verwendung von Schreibwerk sich
ergeht, weil er auf den Vorrang, den ihm seine Geschultheit verleiht,
sich etwas zugute tut, um so mehr tritt auch an die Stelle des Ver-
ständnisses vorbildlicher Bücher die gedankenlose Verehrung oder bloß
spitzfindige Auslegung. Schon auf den ältesten Szenen ägj'ptischen Land-
lebens, die uns die Denkmäler der Pyramidenzeit vorführen, ist der pro-
tokollierende Buchhalter die Mittelsperson zwischen dem vornehmen Grund-
besitzer und dem Hörigen. In dem Bilde der Schriftrolle, das allerdings
ebenso sehr das Aktenstück wie das Buch vorstellt, verkörperte sich den
Ägyptern so sehr die höchste auffassende Geistestätigkeit, daß es in
der ägyptischen Schrift Sitte geworden ist, bei allen Worten für ein
geistiges Geschehen und abstrakte Begriffe den Zeichen, mit denen das
Wort geschrieben wird, als erläuterndes Deutebild das Bild der Schrift-
rolle beizufügen. Der Schriftgelehrte Ägj^^tens, wie ihn uns die Lob-
ff,Q Richard Pietschmann: Das Buch.
preisungen kennen lehren, in denen dieser Stand sich selbst verherrlicht
hat, ist in mehr als einer Hinsicht ein Gegenstück zu dem Beamten
Chinas, der statt zum technischen Sachverständigen zum Literaten er-
zogen wird.
Buchwesen und Bei viclen Völkern hat das Buchwesen sich in engem Bunde mit dem
'"'^"'"' Religionswesen entwickelt. Beschwörungen prähistorischen Ursprungs
zum Heile des Verstorbenen sind das Älteste, was wir an altäg^-ptischen
Texten besitzen. Eine Tabelle von Wahrsagezeichen und eine Sammlung
von Liedern zur jährlichen Ahnenfeier gehören zu dem Ältesten, was aus
der chinesischen Vorzeit uns übrig geblieben ist. Was Gedächtniskraft
ununterstützt durch Schrift in der Erlernung von Opferliedern und Opfer-
sprüchen zu leisten vermag, haben die Inder gezeigt. Mit Recht aber
sondert die religionsgeschichtliche Betrachtung die Religionen, die über
schriftlich überlieferte Religionsurkunden verfügen, von den übrigen. Auf
keinem Gebiete hat sich das Buch so sehr als eine Macht erwiesen wie
auf dem der religiösen Vorstellungen, und der Wirkungsbereich des Re-
ligionsbuches geht weit hinaus über das Gebiet des rein Religiösen. Was
bedeutet das Alte Testament, was der Talmud für die Juden, was ist die
Bibel gewesen, was ist sie noch allen denen, die in ihr das Buch der
Bücher verehren? Hätte nicht den Goten, den Slawen das Verlangen er-
faßt, das höchste Gut, das Wort des Lebens ihrer Nation in einem Buche
ihrer Zunge zu erschließen, sie wären nie darauf verfallen, Zeichen für
die Laute ihrer Muttersprache zu erfinden, eine regelrechte Schrift dar-
aus zu gestalten. Wie unbegrenzt ist der Einfluß, den der Koran auf
das gesamte Leben und Denken aller Völker der mohammedanischen Welt
ausübt! Von welcher Tragweite ist allein schon der Satz geworden, mit
dem der Prophet den „Besitzern des Buches", den Juden und Christen, eine
Ausnahmestellung unter den Ungläubigen zugebilligt hat! Wie der Bibel
als der Grundlage christlicher Lehre zu danken ist, daß die Glaubensboten
des Christentums überall, wo sie den Fuß hinsetzen, zugleich als Lehrer
der Künste des Friedens auftreten mußten, wie durch die Heilige Schrift
und alles, was daran anknüpfte, zugleich der Zusammenhang mit allem
gewahrt worden ist, was von der Gesittung der Griechen und Römer den
Untergang der antiken Weltanschauung überlebt hat, so verbreitet sich
mit dem Islam die Kenntnis des Lesens und Schreibens der arabischen
Sprache und der aus dem Koran abgeleiteten mohammedanischen Rechts-
grundsätze.
Papyrus. IL Das Buch im Altertum. Zu den wertvollsten Gaben, mit denen
die Kultur der Griechen und Römer von Ägypten her bereichert worden
ist, gehörte der Schreibstoff, der aus dem Marke der Papyruspflanze ge-
fertigt wurde. Auf dem Gebrauche dieses Materials, rühmt Plinius, be-
ruhe zumeist die menschliche Gesittung, jedenfalls die geschichtliche Er-
innerung, der Menschen Unsterblichkeit. Wann dieses Erzeugnis der In-
II. Das Buch im Altertum.
521
dustrie des Delta.s zuerst in Griechenland Abnehmer fand, läßt sich nicht
feststellen. Für Herodot liegt die Zeit, in der die loner noch auf Tier-
häuten schrieben, in der Vergangenheit; ja es ist uns aus dem 11. Jahr-
hundert V. Chr. der Reisebericht eines Ägypters erhalten, in dem unter
Waren, die im Austausche für das Schiffsbauholz des Libanon den
Städten Phöniziens zugeführt wurden, auch Papyrus aufgezählt wird. Die
älteste Handschrift eines griechischen Werkes auf Papyrus, die auf uns
gekommen ist, die in Ägypten aufgefundene Rolle mit den Persern des Mi-
lesiers Timotheos, mag um die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr.
gefertigt worden sein. Alles spricht dafür, daß das Athen des Sokrates Athen.
mit Büchern schon reichlich versorgt war. Das Schulbuch in der Hand
des Lehrers, der daraus einem vor ihm stehenden wohlgekleideten Schüler
einen Dichtertext abhört, zeigt uns ein attischer Vasenmaler des 5. Jahrhun-
derts. Eine schwach verbürgte Anekdote läßt sogar Alkibiades einem Schul-
meister, bei dem er vergebens eine Ilias verlangt, eine Ohrfeige versetzen.
Die Welt der Literatur der großen Zeit Athens jedoch ist etwas anderes
als eine Welt der Bücher. Über Buch und Buchwesen ist in ihr wenig
ausgesagt. Bezeichnend ist wohl eine Auffassung, nach der eine Rede,
die gehalten worden ist, Werke, die einer Versammlung vorgetragen sind,
als veröffentlicht gelten.
Zur Verwendung kamen bei den Alten nur Papyrusrollen, die aus Dia BuchroUe.
Ägypten bezogen wurden; doch gab es in Rom eine Fabrik, die des
Fannius, die auch wenigstens eine Sorte eigens umarbeitete. Die eigent-
lich für die Schrift bestimmte Seite war die nach innen gerollte, auf der
die Fasern des Pflanzenstoffs wagerecht lagen. Parallel dem kleineren
Durchmesser der Rolle zu schreiben oder in der Längsrichtung der Rolle
ohne Unterbrechung die einzelnen Zeilen von einem Rande der Fläche
bis zum andern zu führen, hätte das Schreiben und Lesen ausgedehnter
Schriftstücke zu einer Qual gemacht. Man ließ daher die Zeilen parallel
der Längsseite verlaufen, brach sie aber ab zu Kolumnen. Die fertig ge-
schriebene Buchrolle wurde mit dem Ende an einem Stäbchen befestigt
und wurde um dieses herum zusammengerollt. Ein Anhängsel, Sillybos
genannt, nach Art einer Etikette außen befestigt, erhielt eine Aufschrift,
die den Titel des Werkes angab. Die Buchrollen lagerte man abteilungs-
weise übereinander in Gestellen wie bei uns die Rollen in einer Tapeten-
handlung liegen, oder man steckte sie senkrecht nebeneinander, wie sie
zusammengehörten, in runde Behälter, die durch einen Deckel von oben
verschließbar waren.
Wer nicht selber sich das Werk abschrieb, das zu besitzen er Ver-vcrvicinutiguog.
langen trug, oder von einem dazu angelernten Sklaven, serviis litcratus,
es abschreiben ließ, kaufte sich eine der im Handel umgehenden älteren
Abschriften oder eine der neueren, die fabrikmäßig im Dienste unterneh-
mender Verleger von Sklaven eigens für den Verkauf hergestellt wurden.
In Athen gab es wohl schon vor Piatons Zeit solche Schreibenverkstätten.
52;
Richard Pietschmann: Das Buch.
Noch mehr entwickelten sich Verlagsgeschäft und Buchhandel in Alexan-
drien, wo die kritische Gelehrtenarbeit, die Mustertexte schuf, hinzukam,
und vollends in dem Rom der Kaiserzeit. Als Verleger Ciceros finden
wir seinen Freund Atticus. Unter den Buchhändlern Roms brachten es
zu einem sprichwörtlichen Namen die Sosii. Werke viel gelesener Autoren
mögen in Auflagen von etwa looo Exemplaren und zu sehr wohlfeilen
Preisen auf den Markt gebracht worden sein. Auch für regelrechte Ver-
breitung in den Provinzen war g-esorgt. Besondere Schriften belehrten
über Bücherankauf und Bücherauswahl.
Übergang zu Ganz allmählich bereitete sich eine Umgestaltung vor. Neben Pa-
Pergament uiul ^ ,
der heutigen pyrus Waren bei schriftlichen Aufzeichnungen zweifellos von vornherein
Buchform. ^-' ° . .
auch andere Stoffe in Gebrauch gewesen, namentlich dazu hergerichtete
Holztafeln und Tierhäute. Die Täfelchen, mit oder ohne Wachsüberzug
auf der Schreibfläche, ließen sich paarweise, als Diptychon, zusammen-
fügen, ließen sich auch in größerer Anzahl aufeinander gestapelt zu einem
Codex, wie man es nannte, zusammenstellen. So dienten sie zu Beurkun-
dungen, als Notiz-, Anschreibe- und Rechnungsbücher, und zu Steuer-
registern, und sind in dieser Verwendung an einzelnen Orten zum Teil
noch über das 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung hinaus üblich ge-
blieben. Das Schreibleder war etwas längst Bekanntes, bevor es nach
dem Pergamon der büchersammelnden Attaloi die Benennung pcrgamciia
Pergament, erhielt, vou dem unser Pergament hergeleitet ist. Gleich der Holztafel
war es ein Material, das man nicht erst von weither zu beziehen hatte.
An sich ist Leder namentlich in trockenwarmer Atmosphäre weniger von
Dauer als Papyrus, wie die Funde in Ägypten lehren, aber es ist wider-
standsfähiger gegenüber der Hand, die es anfaßt. Pergament nun trat
nach und nach besonders vom 3. zum 4. Jahrhundert n. Chr. auch bei
Büchern immer mehr an die Stelle von Papyrus, und damit vollzog sich
auch eine völlige Umwandlung in der äußeren Erscheinung des Buches.
Das Pergamentfell wurde in viereckige Bogen zerschnitten, die einmal ge-
faltet, lagenweise ineinandergelegt wurden. Aus einem Aufeinander zu-
sammengehefteter Lagen ergab sich so ein Gegenstück zu dem Buche
aus Holztafeln, ergab sich statt der Rolle der ungleich handlichere Per-
codex. gament-Codex. Während für die Gesetzeshandschriften der Juden die
Lederrolle das allein Korrekte blieb, bürgert die Kodexform sich ganz
besonders ein als die der christlichen Bibelhandschrift. Codices sind aber
auch die großen Sammelwerke, in denen die mit allgemeiner Gesetzes-
kraft veröffentlichten kaiserlichen Erlasse zusammengestellt werden, der
Codex Gregorianus, Hermogenianus, Theodosianus, lustinianus. Die Aus-
stattung vervollkommnete sich. Schon Johannes Chrysostomos rügt, wo
ausnahmsweise christliche Bücher, das heißt die Bücher der Bibel,
in Häusern anzutreffen seien, lägen sie wohlverwahrt in Kästen; es
komme dem Besitzer nicht an auf den Inhalt, sondern auf die Zart-
heit der Pergamentblätter und die Schönheit der Schrift. Ähnlich tadelt
Iir. Das Buch im Mittelalter.
523
dann auch Hieronymus den Prunk der Gold- und Silberschrift auf
purpurgefärbten Membranen, die modischen Uncialbuchstaben, die un-
gefügen Formate und juwelengeschmückten Einbände. Das Vorbild der
Papyrusrolle blickt gelegentlich noch in einer Einzelheit durch, so da,
wo die Pergamentseite nicht in Zeilen von ihrer ganzen Breite, sondern
in Kolumnen beschrieben wird; Kolumne neben Kolumne, das war der
Anblick gewesen, den man in der zum Lesen aufgerollten Buchrolle vor
sich hatte.
Die Bevorzugung der Kodexform, durch die in ihr das Buch seine Schicksal der
antiken Lite-
endgültige Gestalt gewann, war von weitgehenden Folgen auch für das ratur.
Schicksal der antiken Literatur. Unmengen von Werken waren bereits
aus dem Buchhandel verschwunden, waren zugrunde gegangen. Xun
stellte sich auch noch ein handgreifliches äußeres Mißverhältnis ein zwi-
schen Altem und Xeuem. Man prüfte fortan genauer, ob es der Mühe
lohnte, eine abgenutzte Rolle durch Abschreiben auf Pergament zu er-
neuem; von diesem Gesichtspunkte aus wurde die Revision einer Bibliothek
zu einem Totengericht. Was gab es ohnehin alles zu vervielfältigen an
frischem Bücherzuwachs, seit der neue Glaube seinen heiligen Schriften
immer neue Leser warb, seit er mit der alten Weltanschauung und diese
mit ihm sich auseinanderzusetzen begonnen hatte, seit er sich in Lehre
und Leben zu einer Einheit auszugestalten versuchte. Verschiedenes selbst
aus der altchristlichen Schriftstellerei ist in morgenländischen, lateinischen,
slawischen Übersetzungen vor dem Untergange gerettet worden. Doch im
ganzen war es nicht vorteilhaft für die Erhaltung griechischer Original-
texte, daß im Osten die Volkssprachen, zuerst das Syrische und das
Koptische, sich zu Kirchen- und Literatursprachen ausbildeten, und daß
im Abendlande die Kenntnis des Griechischen zurückging. Das älteste
datierte Buch, das wir besitzen, ist eine syrische Handschrift vom Jahre
411, welche Schriften des Titus von Bostra und des Eusebius in sj^rischer
Übersetzung enthält. Als ein mißlicher Vorzug des Pergaments hat es
sich erwiesen, daß die Schrift, die darauf steht, meist ohne Schaden für
den Stoff sich durch Abschaben beseitigen läßt, ein Mittel, das allzu reich-
lich angewendet worden ist, wenn man um leeres Material in Verlegen-
heit war. Vielfach lassen noch die Spuren der ursprünglichen Schrift
unter Anwendung von Chemikalien sich auffrischen und lesen, und sie
sind meist, wenn auch nicht in allen Fällen, uns wichtiger geworden als
das, was jetzt darüber steht.
ill. Das Buch im Mittelalter. Wie die Literatur der ersten Christ- Nachwirtuns
liehen Jahrhunderte noch in mannigfachstem Zusammenhange mit dem Tradition.
Altertum bleibt, so ergibt sich vollends für das Buchwesen dieser Zeiten
wenig, was nicht sich als Fortsetzung der langen vorangegangenen Ent-
wicklung bekundete. Die Handschriften, die auf uns gelangt sind, setzen Älteste Hand-
verhältnismäßig spät ein. Noch dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. mögen
1^24 Richard Pietschmann: Das Buch.
die beiden Yergile im Vatikan angehören, die uns noch die Eigenart an-
tiker Buchillustration vor Augen führen, noch dem 5. Jahrhundert Bilder
aus einer Handschrift der Ilias, die in der Ambrosianischen Bibliothek zu
Mailand aufbewahrt werden. Am längsten, lebendigsten und am wenigsten
unterbrochen bewahrt sich ein Erbteil alter Traditionen in der Obhut von
Byzanz. Trotz der Ungunst der Verhältnisse, vor allem trotz der Betä-
tigung des Zerstörungstriebes, den der Bilderstreit entfesselte, haben wir
noch aus dem 9. und 10. Jahrhundert einige herrliche griechische Bilder-
handschriften, in denen uns Darstellungen alt- und neutestamentlichen In-
halts begegnen, wie sie nur ein Künstler hat schaffen können, der sich
noch mit voller Unbefangenheit und Sicherheit in der Auffassung und
den Ausdrucksmitteln der Schulüberlieferungen vorchristlicher Malerei
bewegte. So fällt manches lehrreiche Streiflicht von hier aus auch auf
das Altertum zurück. Und als Ganzes genommen gehört, wie man immer
mehr würdigen lernt, seit ausreichende Veröffentlichungen vorliegen, die
Handschriftenausschmückung im Mittelalter zu den Gebieten, auf denen
das Wesen und Vermögen der Kunst des einzelnen Zeitraums am besten
Tätigkeit der sich ausspricht. Wie hohen Anteil an diesem Vorgange das Mönchstum
hat, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Lag in den An-
fangen des christlichen Einsiedlerwesens etwas von einer Absage, die der
des letzten Gerichtes Heranharrende der gesamten Kulturwelt zurief, so
waren es, als diese Kultur wirklich von Barbarenhand zerschlagen wurde,
die Nachfolger dieser Weltflüchtigen, die Zugriffen, die Trümmer verlore-
ner Schöne hinüberzutragen aus dem Zusammenbruche in ein neues Da-
sein ; so sehr hatte inzwischen in geistige Ergebnisse antiker Kultur die
Kirche sich eingelebt. Schon die Mönchsregel des Pachomios, mag sie
nun von dem Heiligen herrühren oder nicht, trifft Bestimmungen über
Bücherlesen. Geradezu zur Pflicht macht es die Regel des heiligen Be-
nedikt. Hieronymus empfiehlt dem Anachoreten das Abschreiben von
Büchern. Cassiodor zieht in seinem Vivarium eine Schule dafür heran.
Bei den Cluniazensern wurden zur Fastenzeit den Brüdern Bücher zum
Lesen ausgeteilt, und wer bis zur Verteilung des nächsten Jahres sein
Buch nicht ausgelesen hatte, mußte das bekennen und um Vergebung
bitten. Der Sorge um das anvertraute Gut des Wissens hat allerdings
das Mönchswesen keineswegs gleichmäßig sich angenommen. Zeiten, wie
sie Dante meint, wenn er die Regel Benedikts mit den Blättern, auf
denen sie geschrieben steht, Schaden nehmen läßt, haben sich ständig
wiederholt. Vielfach war es selbst in der großen Zeit der Mönchsorden
ganz Sache des Vorstehers des einzelnen Klosters, wie es mit dem Ab-
schreiben und mit gelehrten Studien gehalten werden sollte. Immer wieder
wird der Argwohn laut, daß über der Beschäftigung mit diesen Dingen,
vor allem mit heidnischen Schriftstellern, die Frömmigkeit zu kurz komme.
Aber wenn das Mönchstum eine Aufgabe als geistige Kulturmacht erfüllt
hat, so geht das nicht zum kleinen Teile zurück auf die Reformer, die
III. Das Buch im Mittelalter.
525
unermüdlich ihre Untergebenen zur Arbeit in den Schreib.stuben anhielten,
die zum Ab.schreiben Bücher entliehen, woher .sie konnten, um so die
Klöster mit Bibliotheken zu versehen.
Als ein Vorbild hat im Abendlande sehr früh der Eifer gewirkt, mit Iren.
dem künstlerisches Können und weltliche Gelehrsamkeit in den irischen
Klöstern hochgehalten wurden. Schriftkundiger, Scriba, war hier ein
Ehrentitel, und vom Scriba aus wurde mancher zum Abt befördert. Die
zahlreichen Mönche, die seit dem 6. Jahrhundert ihre irische Heimat ver-
lassen, um auf dem Festlande zu wirken oder nach Rom zu pilgern, neh-
men Bücher mit auf die Wanderschaft. Alles was die irische Mönchs-
welt in ihrer räumlichen Abgeschiedenheit für sich an geistigem Besitz
aufgespeichert hat, kommt so wieder zur Verteilung. Aus Anregungen,
die noch das römische und griechische Buchwesen bot, entwickelte sich
in Irland eine Buchausschmückung von selbständiger Geschmacksrichtung,
die in der Linienführung und Farbenzusammenstellung der Ornamente
überraschend schöne Wirkungen erzielt. Von dieser Kunst beeinflußt,
aber vielseitiger in ihren Leistungen, ist die der angelsächsischen Hand- Angelsächsische
Schriften. Der angelsächsischen Initialen-Ornamentik schließt .sich zu einem
Teil auch die der karolingischen Buchmalerei an, die im übrigen mit K.aroiiogische
voller Absichtlichkeit sich der Nachbildung ihr noch zugänglicher Erzeug- ^^"'^'^^"'^''■
nisse des Altertums befleißigt. Mustergültig wird hierin die Schule von
Tours, die Alcuin begründet. Bis ins 11. Jahrhundert hinein wirken ihre
Bestrebungen nach. Doch stehen die Arbeiten aus der Zeit der Ottonen,
in der unmittelbare Beziehungen zu Byzanz neue Anregung schaffen, zu-
meist hinter den karolingischen an objektivem Wert zurück. Gegen Ende mute der Hand-
des 12. Jahrhunderts bereitet sich eine neue Blütezeit der Handschriften- "''"'"'"""''°''*'"
maierei vor, eine Kunst, die sich zunächst in einem gebundenen Stil-
charakter hält und sich dem Formempfinden der Gotik anschließt. Sie
kommt zuerst in Paris zur Geltung, das im 13. Jahrhundert ja Pflegestätte
der Wissenschaften, parens scienfiarum, ist. Im ganzen kam bis dahin
die Fürsorge, die das Buch zum Kunstwerk umschuf, nur besonderen
Prachtstücken zugute, beinahe au.sschließlich Bibeln und Teilen der Bibel,
Evangelienbüchern, Psaltern, Homilien, Sakramentarien, Meßbüchern, die
im Gottesdienste Verwendung fanden oder im Kirchen- oder Kloster-
schatze zu prangen bestimmt waren. Daneiien tauchen noch vereinzelt
Werke auf, die von einer Abschrift zur andern mit Illustrationen versehen
werden, weil die Bilder unentbehrlich erscheinen, so in einer Überlieferung
die Komödien des Terenz, die Psychomachie des christlichen Dichters
Prudentius und eine Reihe von Werken des Altertums, die einem tech-
nischen Können dienen, Arzneibücher, Sternverzeichnis.se, die Bücher der
Feldmesser. Eine Art von Enzyklopädie war der Hortus deliciarum, ein
Bilderwerk, das in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Äbtissin
Herrad von Landsberg verfaßte. Je mehr aber das städtische Leben in
Blüte kam, um so mehr bildeten sich auch Schreiber von Beruf aus, und
526
Richard Pietschmann: Das Buch.
um so weniger beschränkte sich das Bücherschreiben auf die Klöster und
die Ausschmückung auf geistliche Werke, Dante hat diese Kunsttätigkeit
sich ausgesucht, um an ihr die Nichtigkeit des Berühmtseins vorzuführen.
Er spricht im Purgatorio einen Oderisi an als „die Ehre von Agobbio
(Gubbio) und die Ehre jener Kunst, die in Paris alluminare genannt wird",
erfährt aber von dem Angeredeten, daß er nur noch einen Teil der Ehre
hat, die ganze hat inzwischen Franco Bolognese davongetragen, der es
besser heraushat, zu „pinseln", was Beifall findet. Eine wichtige Rolle
in der Weiterbildung der Handschriftenmalerei und ihrer Pflege ist man
geneigt, der Hofhaltung der Päpste in Avignon zuzuschreiben, von der
aus jedenfalls Anregung in Fülle weithin übertragen wurde. Einen Freund
fand diese Kunst auch an Johann dem Guten von Frankreich, an seinem
Sohn König Karl und den andern Fürsten seines Hauses, so dem König
Burgundische Ren6, dem Herzog Jean de Berry und an den burgundischen Herzögen.
Der Vorliebe für künstlerisch ausgeschmückte Bücher, die in dieser Fa-
milie sich forterbte, verdanken wir eine Anzahl von Handschriften, die zu
den schönsten gehören, die überhaupt vorhanden sind. In Burgund be-
reichert sich die Handschriftenmalerei aus der flämischen Kunst, ihrem
Streben nach ehrlicher Naturtreue, ihrer lebensfrischen Auffassung, und
bringt es zu einer bildmäßigen Ausgestaltung, die das Konventionelle der
früheren Stadien mehr und mehr aufgibt. Unmittelbar zu den Meister-
werken der sogenannten nordischen Renaissance, die in den Brüdern
Van Eyck ihren Höhepunkt findet, zählen die Bilder, mit denen das Bre-
viarium Grimani geziert ist. Die französische Handschriftenmalerei kommt
durch die Plantagenets nach England. Italien hat in der zweiten Hälfte
des 14. Jahrhunderts schön gemalte Ausschmückungen namentlich in
Handschriften Dekretalenhandschriftcn hervorgebracht. Unter dem Einflüsse des Hu-
der Humanisten- . . . , rz •
zeit. manismus kehrt man dort zu des Minuskelschnft des karohngischen Zeit-
raums, der Antiqtia, wie man sie nannte und wie sie deshalb noch jetzt
heißt, zurück und beginnt die Handschrift mit Ornamenten und Bildern
auszustatten, die dem im Studium der Antike gebildeten Geschmacke ent-
sprechen. Wie in den burgundischen x\rbeiten und nach dem Vorbilde
der Italiener dann auch überall, wohin der Einfluß der italienischen Kunst
sich fortpflanzt, kommen dabei vielfach Malereien zur Anwendung, in
denen das regelrecht durchgeführte Historienbild zum Buchschmuck ge-
nommen wird. Die Dynasten ItaUens, die Mediceer, Ferdinand von Ar-
ragon König von Neapel, Federigo da Montefeltro Herzog von Urbino,
„der sich geschämt haben würde, ein gedrucktes Buch zu besitzen", die
Visconti und Sforza, die Este, mehrere der Päpste, nicht minder bemittelte
Privatleute und hochgestellte Geistliche, Gilden und Bruderschaften be-
eifern sich in Aufträgen. Matthias Corvinus König von Ungarn beschäf-
tigte in Florenz Schreiber mit der Anfertigung von Handschriften, die er
zum Teil von Attavantes bewunderter Künstlerhand ausschmücken ließ.
Den Abschluß dieser Renaissancekunst in Italien bezeichnen die Arbeiten
III. Das Buch im Mittelalter. C27
von Littifredi dei Corbizzi in Siena und des Kroaten Julio Clovio. Meister-
werke in der Kunst des gemalten Buchschmucks werden noch geschaffen,
nachdem schon lange die Buchdruckerkunst im Gange ist, so in Frank-
reich das reizvolle Livre d'Heures der Königin Anne de Bretagne und
die trefflichen Arbeiten des Jean Foucquet aus Tours. Kehren wir auf Deutsche
deutsches Gebiet zurück, so wird das höfische Leben um die Wende des
14. Jahrhunderts uns sehr anschaulich vor Augen geführt in der Minne-
sängerhandschrift, die unter Kaiser Friedrich aus Paris nach Heidelberg
zurückgegeben worden ist Die Blüte der Kunst am Niederrhein und in
den Niederlanden hat uns auch mit einigen Bilderhandschriften von eigen-
artigem Werte beschenkt. Nicht geringes Interesse ferner bietet der Belli-
fortis des Konrad Kyeser von Eichstädt, ein Werk, das in einer Menge
von Abbildungen allerlei Vorkehrungen und Geräte vorführt, die im Kriege
zu brauchen sein sollen, daneben aber auch noch andere geheimnisvolle
Künste verherrlicht. Eine große Nachfrage nach illustrierten Handschriften
deutscher Dichtungen bestand zeitweilig im südwestlichen Deutschland,
bevor hier der Humanismus andere literarische Interessen mehr in den
Vordergrund schob. Es gab förmliche Handschriftenfabriken. Am sch\vung-
haftesten betrieb das Geschäft Diebolt Lauber in Hagenau um die Mitte
des 1 5. Jahrhunderts. In den besseren Arbeiten herrscht eine zwar skizzen-
hafte, aber gerade deswegen oft recht angemessene Durchführung, etwas
erfreulich Ungezwungenes, ein ausdrucksvoller Gestus. Meist wird nicht
mehr gegeben als eine angetuschte Federzeichnung. Nach Art dieser
Bücher gestaltet ist schon Ulrich von Richentals lehrreiche Schilderung
des Konstanzer Konzils. Auch Landrechtbücher, Gerichtsordnungen, Haus-
bücher werden in diesem Stile geziert. Gute Beispiele lokaler Kunst vom
Ende des 15. Jahrhunderts sind Konrad Franckendorfers Evangelienbuch
im Germanischen Museum zu Nürnberg und Georg Becks Choralbuch zu
Augsburg. In der Reformationszeit schmückt der Nürnberger Nikolas
Glockendon ein Missale und ein Gebetbuch für den Kurfürsten von Mainz
Albrecht von Brandenburg, und sein Bruder Albert Glockendon ein Gebet-
buch für Wilhelm von Bayern. Auch der Maler des „Gänsebuchs" zu
Nürnberg Jakob Eisner vertritt ein tüchtiges Können. Noch 1647 malt
dann Friedrich Brentel für seinen Gönner Herzog Wilhelm von Baden
überaus sorgfältig ausgeführte Gebetbuchminiaturen.
In diesem Überblick über die reiche Betätigung künstlerischen Sinnes, ne.ieutunj
die während des Mittelalters aus dem Handschriftenwesen sich ständig '' Miueuucr!"'
neu herausbildet, ist zugleich schon angedeutet, wie mannigfach das
geistige Leben und Schaffen, das im Buche sich verkörpert und fortpflanzt,
auch in diesem Zeitalter ist. Auf keinem Gebiete wird als Werkzeug der
Überlieferung das Buch so in Anspruch genommen wie auf dem religiösen.
Am selbständigsten tritt es daneben auf im Dienste des Rechts. Als die n« Buch \^
Germanenstämme sich heimisch einrichteten in den Provinzen des Römer- '^'"=''"*'""-
reichs, die ihr Schwert ihnen untervvorfen hatte, lernten sie sehr bald be-
,,g Richard Pietschmann: Das Buch.
greifen, daß unter diesen Verhältnissen ein bloß gewohnheitsmäßiges Her-
kommen nicht mehr ausreichte. Schon im 5. Jahrhundert wird daher der
Anfang mit der Aufzeichnung germanischer Rechtssatzungen, der so-
genannten Leges barbarorum gemacht. Wie der Glaube an den Anspruch
des römischen Kaisers auf die Herrschaft über den Erdball als Glaubens-
satz fortlebt, so umkleidet auch die Gesetzgebung Justinians der Schimmer
des für alle Länder und Zeiten gültigen Weltrechts. Nie wieder ist, um
Savignys Ausspruch hier anzuwenden, eine Handschrift mit solcher an das
Abergläubische grenzenden Verehrung behandelt worden, wie die große
Pandektenhandschrift, die wahrscheinHch noch im 7. Jahrhundert in Kon-
stantinopel geschrieben ist und im Besitze von Pisa war, bis nach Unter-
werfung der Pisaner die Florentiner sie entführten. Feierlich wie zu einer
Orakelstätte gingen vierteljährlich in Pisa Cancellare und Notare hin, sie
zu besichtigen und zu vergleichen; Vertreter der Behörden und der Gilden
hatten dabei zu sein. Nur wem gleich den Rechtslehrem von Bologna
das Corpus iuris der einzige Quell aller Rechtsweisheit war, der konnte
darin so zu Hause sein, wie es die Glossatoren gewesen sind. Ihre Aus-
legungen wiederum wurden für die nachfolgenden Generationen höchstes
Gesetz. Es sei besser, heißt es, eine Glosse für sich anführen zu können
als den Wortlaut des Corpus iuris, solcher Götzendienst werde mit der
Auslegung getrieben, „denn wie die Alten Götzen als Götter anbeteten,
so beten die Advokaten die Glossatoren als Evangelisten an". Ein ähn-
licher Geist der Hingabe an Autoritäten und an das geschriebene Wort
herrscht auf den meisten andern Gebieten. Aussprüche der Kirchenväter
werden denen der Bibel nahezu gleichgestellt. Unter dem Deckmantel
eines gefeierten Namens — Aristoteles, Dionysius Areopagita, Augustinus,
Isidorus — werden Fälschungen unbeanstandet hingenommen. Anderer-
seits erhält sich, wie kürzlich entdeckt wurde, ein ketzerisches Werk des
Iren Pelagius unverstümmelt und unversehrt, bloß weil die Abschrift nicht
angibt, wer der Verfasser ist. Meist nimmt man den Inhalt hin, ohne sich
viel mit der Person des Autors zu beschäftigen. Es kommt vor, daß für
ein und dasselbe Buch vier verschiedene Leute als der Urheber über-
liefert sind, so für den Tractatus de oculo morali. Am schlechtesten
kommen die Wissenszweige fort, die nur als eine annehmUche Bereiche-
rung der Vorstellungen gepflegt werden, wie die Erdkunde, in der zum
Beispiel der Abriß des Ethicus, als dessen Bearbeiter freilich Hieronymus
gilt, mit Vorliebe benutzt wird, obwohl schon in einem alten Kataloge
der Klosterbibliothek von St. Gallen das Buch durch den Zusatz „wert-
loses Schriftstück" hinreichend gekennzeichnet ist. Die Wertschätzung,
die das Mittelalter dem Buche als solchem erweist, findet ihren bered-
testen Ausdruck in dem Philobiblon, das nach der Schlußschrift 1345 von
Richard de BuryRichard dc Bury Bischof von Durham, Schatzmeister und Kanzler König
(i=87-.345)- £^^^,j^j.^g jjj_ verfaßt worden ist. Obenan steht ihm die Bedeutung der
Bücher, „vor denen die Armseligkeit menschlicher Unwissenheit ohne
ni. Das Buch im Mittelalter. 52Q
Beschämung sich bloßstellt", dieser Lehrmeister, die ohne Zuchtruten
und Ereifern uns unterweisen und stets uns Rede und Antwort stehen,
für die Welt der Offenbarung und des Glaubens. „Niemand kann den
Büchern dienen und dem Mammon." „Bücher", rühmt er femer, „ergötzen,
wenn es uns gut, spenden Trost, wenn es uns schlecht geht, verleihen
Kraft den Abmachungen, die Menschen schließen, und ohne sie lassen
sich wichtige Urteile nicht fällen. Auf Büchern beruhen Künste und
Wissenschaften, deren Ergebnisse kein Geist herzuzählen ausreicht. Wie
wunderwürdig ist der Bücher Macht, wenn wir durch sie die Grenzen des
Erdkreises und der Zeit erkennen und das was ist sowohl wie das was
nicht ist gleichwie in einem Spiegel der Ewigkeit anschauen. Berge er-
steigen wir, Abgrundtiefen erforschen wir, Fischarten, derengleichen der
Luftbereich in keinerlei Weise enthält, sehen wir vor uns in Handschriften;
Besonderheiten von Flüssen und Quellen verschiedener Länder werden
uns klar; in Büchern graben wir aus Metalle und Edelsteine, sowie jeg-
liche Art von Mineralstoffen, über Kräfte von Kräutern, Bäumen und
Gewächsen belehren wir uns; nach Gefallen betrachten wir alles was
hervorbringen Neptunus, Ceres und Pluto." So urteilt noch einer der am
besten unterrichteten Männer Nordeuropas, fünfzig Jahre nachdem bereits
das überlieferte stark zusammengeschrumpfte Weltbild einen Teil seiner
Ausdehnung aus Marco Polos Reisen zurückgewonnen hatte. Ein ver-
trauteres als ein so rein aus Schriftstellern erworbenes Verhältnis zur
Natur läßt sich ja zwar schon vorher bei Dante nachweisen. Doch nur
in vorsichtigem Fortschreiten tastet sich die Wissenschaft des 15. und
16. Jahrhunderts aus der Enge dieser lebensarmen Bücherweisheit heraus
an das Pleinairstudium der Erscheinungswelt.
Das Handschriftenwesen des Mittelalters brachte im allgemeinen eine verbreitunK.-
^ fahigkeit der
geringe Verbreitungsfähigkeit des Buches mit sich. Doch trat gelegent- Handschriften
lieh in erregten Tagen eine Streitschriften-Literatur hervor, so am Ende
des II. Jahrhunderts zur Rechtfertigung der Ansprüche des Papsttums,
dann in dem Zerwürfnisse zwischen Philipp dem Schönen und Bonifaz VIIL,
in dem Kampfe Ludwigs des Bayern mit Johann XXIL Sorgfältig ge-
schriebene Bücher waren sehr kostbar. Man entäußerte sich eines kost-
baren Pferdes, eines Weinbergs, um eine Handschrift zu erwerben, die
einer Kirche dargebracht werden sollte. Pergament war nicht leicht zu
haben, daher fielen auch gewöhnliche Bücher nicht wohlfeil aus, und man
gewöhnte auch des schnellem Schreibens halber sich allmählich an Men-
gen von Abkürzungen und enge Schrift. Trotzdem befindet sich am Ende
des 13. Jahrhunderts ein Schulmeister zu Augsburg, Hugo von Trimberg,
wie er in seinem Gedichte „Der Renner" anführt, im Besitze von 200
Handschriften. Wer sich einen Kaplan hielt, war in der Lage, Werke,
die er besitzen wollte, sich durch diesen abschreiben zu lassen. Die Ver-
wendung von Papier, die das Buch ungemein billiger herzustellen ge-
stattete, kam in Deutschland im 14. Jahrhundert auf Für den Bedarf der
Die Kultur der Gegenwart. I. i. 34
1-70 Richard Pietschmann: Das Buch.
Studenten an Lehrbüchern hatten auf den Universitäten des 13. Jahr-
hunderts die Stationarii zu sorgen, wie sie mit einem Namen benannt
wurden, der sich noch in dem englischen Stationer erhalten hat und von
Statio, einer sehr alten Bezeichnung für Schreiberwerkstatt, herkommt.
„Unbemittelte Scholaren", erfahren wir, „schreiben eigenhändig für sich
und andere, das für sich getreu, das für andere hübsch und eilfertig". Es
gab nach der Schilderung, die ein Predigtbuch enthält, auch in Paris
genug Leute, die gern etwas Schwarz auf Weiß besaßen, um es nach Ab-
lauf der Studienzeit daheim getrost vorweisen zu können, die „aus Kalb-
fellen mit breiten Rändern große Bücher zusammenstellten und sie hübsch
in rotes Leder binden ließen; so reisten sie zurück zu den Eltern mit
weisem Gepäck und unweisem Sinn".
IV. Das Buch in der Neuzeit. Ist auch die Kulturbewegung, die
wir Renaissance nennen, keineswegs einzig und allein geboren aus dem
Humanismus. Geiste des Humanismus, so zählt er doch zu den treibenden Kräften in
ihr. Die Humanisten sind es, die zuerst ein Schibolet ausgeben; es ist
die frohe Botschaft von der Einzigartigkeit der Kultur des Altertums, die
sie verkünden. Nicht bloß daß an dem Studium der antiken Dichter,
Denker und Geschichtschreiber der Eifer der humanistischen Propaganda
sich entfacht; dieses Studium selbst vielmehr wird getrieben als das Mittel,
sich und andere frei zu machen von jeglicher „Barbarei". Die Werke der
Alten, soweit man ihrer noch habhaft werden konnte, zusammenzutragen,
sie in Abschriften sich und den Gleichgestimmten zu sichern, war uner-
läßlich. Den ersten Schritt hierzu tat Petrarca. In seinem Sammeleifer
begegnete er sich mit seinem Zeitgenossen Richard de Bury. Aber in
der Art wie Petrarca über seine Leidenschaft für Bücher sich und andern
berichtet, wie er es als persönliches Erlebnis schildert, daß sich ihm von
Ciceros Schriften aus einer der Alten nach dem andern entdeckt, darin
zeigt sich ein tiefer Wesensunterschied; noch mehr vielleicht in der An-
wendung auf die Gegenwart, die Petrarca macht, in seinen Bemühungen,
eine Erneuerung herbeizuführen, selber in eigenem Schaffen den großen
Vorbildern es gleichzutun und so nach ihrem Vorgange Ruhm und Un-
sterblichkeit zu ernten. Bloßes Zusammenhäufen von Büchern verwirft er,
allerdings ganz ähnlich wie sich schon Seneca darüber ausgesprochen hat.
Auch bildete das Quantum antiker Werke, an dem anfangs der Humanis-
mus seine Begeisterung nährte, tatsächlich eine zwar gewählte, aber keines-
wegs besonders reichbesetzte Tafel; ohnehin blieb ihm im Abendlande
nicht viel mehr als eine letzte Nachlese übrig. Das meiste aus der latei-
nischen Literatur, dessen Untergang zu verschmerzen schwer fällt, wird
schon Jahrhunderte vordem nicht mehr als vorhanden erwähnt. Als
„Schulschriften", libri scholastici, hatte das Mittelalter eine ganze Reihe
antiker Autoren beibehalten oder doch geduldet. Nur sah man jetzt diese
mit andern Augen an, ja kehrte die Rangordnung um. Die Lust am
IV. Das Buch in der Neuzeit. 55 j
Sammeln erfaßte bald auch die Mächtigen. Eine Liviushandschrift, von
Cosimo de'Medici zur rechten Zeit als Geschenk übersandt, soll Alfons
von Aragon König von Neapel zu einem unvorteilhaften Friedenschlusse
bestimmt haben. Für die Rolle, die in diesem Zeitalter, obwohl es auch
das der „Redner" war, das Buch spielte, ist bezeichnend, daß eine Fülle
höchst wertvoller Nachrichten über die hervorragenden Persönlichkeiten
uns erhalten sind in Lebensbeschreibungen, deren Verfasser — Vespasiano
da Bisticci — zu sehr vielen dieser Männer in unmittelbaren Beziehungen
gestanden hat, weil er mit Handschriften Handel trieb und das Abschreiben-
lassen von Handschriften übernahm. Daß einmal die planmäßige Nach-
forschung nach den Überbleibseln der Literatur der Grriechen und Römer
auf die Tagesordnung kam, hat bleibenden Gewinn gezeitigt: manches
zu Unrecht Verschmähte und Vergessene ist von neuem ans Licht gezogen
worden, das Wissen um die Vergangenheit hat sich auf immer reicher
ausgestattet, wenn auch mit diesem Vorrat die Humanisten der Renais-
sance durchaus nicht in allen Fällen das Rechte anzufangen wußten. Wie
das neu erworbene Gut aus der Welt der Bücher die Geister beschäftigte,
lehrt der Ausdruck, den etwas von dieser Wiederbelebung in Raffaels
Schule von Athen gefunden hat, deren Gestalten allerdings immer nur
wenigen alles sagen werden, was in ihnen ausgesprochen ist. Im Verein
mit der Kunst erfüllte die populäre Literatur der Volkssprachen, die im
Gefolge des Humanismus einherging, Generationen hindurch die Phantasie
auch der Ungelehrten mit Vorstellungen aus der griechischen und römi-
schen Welt, denen es an Hoheit und Größe nicht mangelte. Die Bergungs-
und Rettungsarbeit kam übrigens auch zugute den Werken der Kirchen-
väter der ersten Jahrhunderte, nicht bloß, weil auch sie als Meister
der Sprache und des Stils, sondern zum Teil auch, weil sie als Muster
für die Verschmelzung von antiker Bildung mit christlicher Frömmig-
keit gelten.
Ungleich wichtiger als alle materiellen und formalen Änderungen,
die das Buch bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts erlebt hat, war für die
Zwecke, denen das Buch dient, die Neuerung in der Herstellung, die mit
Gutenbergs Erfindung des Satzes und Druckes in beweglichen Lettern Anfamt» <i<»
-.. , j -P^ _, , Buchdruck».
emgeführt wurde. Die Erfindung kam zu günstiger Zeit. Es war ein un-
abweisbares Bedürfnis geworden, eine weniger mühsame, zeitraubende und
kostspielige VervielfältigTingsart als die durch Abschreiben zur Anwendung
zu bringen. In den ersten Druckerzeugnissen spricht sich deutlich die
Absicht aus, nach dem neuen Verfahren zunächst Texte herzustellen, bei
denen auf großen Absatz zu rechnen war: deutsche Verse von volkstüm-
licher Haltung, Kalender und was dazu gehört, die Elemente der lateini-
schen Formenlehre für Anfänger, die lateinische Bibel mit bewunderungs-
würdiger Vollendung in herrlichen Missaletypen den Handschriften von
sorgfältigstem Äußern nachgeahmt, Ablaßbriefformulare. Der Ausbildung
und Verbreitung der jungen Kunst nachzugehen ist hier nicht die Auf-
34*
c ■> 2 Richard Pietschmann : Das Buch.
Erst«. Erfolgt gäbe. Ihr erschloß sich auf dem Gebiete der Kirche, des Rechts, der
" Buch"! '" Gelehrsamkeit, auf dem die universelle Herrschaft des Latein dem Ver-
trieb zu Hilfe kam, wie im Bereiche populärer Belehrung, Erbauung und
Unterhaltung ein ungemessenes Arbeitsfeld. Man hat ausgerechnet, daß
von der Menge von Drucken, die noch im 15. Jahrhundert entstanden sind,
annähernd die Hälfte auf die Bibel, die Theologie und den Gottesdienst
kommt. Noch regierte die Scholastik. Mehr als zwanzigmal ist bis 1500
das Catholicon, eine im Mönchslatein des 13. Jahrhunderts abgefaßte
grammatische und lexikalische Enzyklopädie, zum Druck gebracht worden.
Dem ausreichend vorhandenen Lesetrieb des Publikums konnte nun eine
Nahrung geboten werden, die leicht erreichbar war. Statt des ohnehin
für den Druck weniger bequem zu handhabenden Pergaments, das zwar
schönere Wirkungen abgab, kam immer mehr Papier zur Verwertung.
Lesenlemen und Lesen wurden wesentlich erleichtert, da es beim Typen-
satz ökonomisch und praktisch war, die Buchstabenverbindungen und Ab-
kürzungen, von denen die Handschriften oft geradezu wimmelten, bis auf
eine ganz kleine Auswahl in Fortfall zu bringen. Dazu kam, daß nament-
lich nach 1462 von Mainz aus die Drucker in die Ferne wanderten, dort
ihre Kunst auszuüben, und daß noch in demselben Jahrhundert neben dem
Buchdruck der Buchhandel sich zu einem selbständigen Erwerbszweige
entwickelte. Auch politische Manifeste begegnen uns bereits in dem
Förderung des Mainzer Bistumstreite. Besondern Vorteil aber hat von der neuen Er-
Humanismas.
findung die jugendlichste literarische Richtung des Tages gehabt, die
humanistische. Schon 1465 gab Peter Schöffer Ciceros Bücher „von den
Pflichten" heraus; sie fanden so viel Absatz, daß schon 1466 eine neue
Auflage notwendig wurde. Ganz überwiegend den humanistischen Be-
strebungen gewidmet war die Tätigkeit der ersten Deutschen, die in
Italien, zunächst in Subiaco, bald darauf in Rom druckten. Bei ihnen
erschien unter anderm die Streitschrift des Kardinals Bessarion „wider
die Verleumder Piatons". Der erste Drucker Venedigs beginnt mit den
Briefen Ciceros; und mit den Briefen eines italienischen Humanisten fängt
die Reihe der Pariser Drucke an.
DasBuchinder Volleuds nicht ZU denken ist die deutsche Reformation ohne die Mit-
Reformations- , .
zeit. Wirkung des gedruckten Worts, ohne die Unternehmungslust der Presse,
den geschäftigen Nachdruck, die Umsicht der „Buchführer". Seit den
Tagen von 151 7, in denen das Flugblatt mit den 95 Thesen binnen vier
Wochen nach dem Ausdruck eines der Reformatoren „schier die ganze
Christenheit" durcheilte, „als wären die Engel selbst Botenläufer", wirkt
Jahrzehnte hindurch Luthers machtvolle volkstümliche Persönlichkeit all-
gegenwärtig in seinen Schriften. Zu ihnen gesellen sich die Erzeugnisse
leidenschaftlichster Parteinahme, in der seine Gegner und Anhänger sich
überbieten. Die Zahl der deutschen Drucke wuchs in dieser Zeit von
Jahr zu Jahr bis ums achtfache. Die 4000 Exemplare der ersten Auflage
der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation" waren in wenigen
r\". Das Buch in der Neuzeit.
533
Tagen vergriffen. Mit Luthers Schriften, vornehmlich mit seiner Bibel-
übersetzung, dem Hauptbuche und lange Zeiten hindurch neben dem
Katechismus und dem Gesangbuche oft auch dem einzigen Buche des
protestantischen Hauses, haben die Deutschen eine Schriftsprache erhalten
und als die ihre bewahrt
In ihrer Tragweite genommen sind Luthers Schriften etwas Einzig- Wirkung des
artiges, sind sie weltgeschichtliche Ereignisse, mehr Ereignisse, als es je
die Schriften irgend eines andern Sterblichen gewesen sind. Angesichts
des Gesamtbildes ihres Eindrucks und Erfolges stehen wir wie vor dem
Resultate eines einmaligen Natur\*organgs von grundwegs umgestaltender
Gewalt, für dessen Beurteilung nichts vorliegt als das Unvergleichliche
der hervorgerufenen Veränderung. Vergeblich sehen wir uns nach einem
Gegenstück dazu in der ganzen Literaturentwicklung um. Alles, was da
Großes gewirkt hat und noch bleibend fortwirkt, hat andere Wirkungs-
art und begrenzteres andersartiges Gebiet. Wohl hat man von Voltaire
und von Rousseau gesagt, daß sie mit ihren Schriften die französische
Revolution geschaffen haben, sie nehmen aber, soweit diese Ansicht über-
haupt zutrifft, zu den Ereignissen keine andere Stellung ein als die vor-
bereitende, die bei der Reformation etwa die literarische Tätigkeit des
Erasmus hat. Doch wollen wir auch hier, wo es darauf ankommt, das
Buch nach seinem Kulturwert zu würdigen, noch wenigstens einiger der
Werke gedenken, die als ein Vermächtnis der Vergangenheit ihre Kraft
fort und fort bewährt haben und noch ausüben in der Gegenwart. An
den Elementen des Eukleides, an den Werken des Aristoteles, an dem
hochgesinnten Wahrheitsstreben Piatons hat immer von neuem das Denken
sich geschult und gebildet, sie enthalten Grundlagen so bleibend, wie sie
für Erkennen und Sittlichkeit nur noch Kants Arbeit wieder geschaffen
hat. Enthalten auch die Muqadamät des Ibn Khaldun Betrachtungen,
die der Geschichtsauffassung des Aristoteles nicht unebenbürtig sind, so
bleiben sie doch nichts als ein Denkmal einsamer Größe. Erst im Weiter-
geben der Fackel von einem der dem Ziele Zustrebenden zum andern
pflanzt eine Wirkung durch die Zeiten sich fort. Wohl wirkt auch das
eine und das andere Werk in seiner Vereinzelung. Mark Aureis Büchlein
der Einkehr bei sich selbst gehört für viele zu der Klasse von Büchern,
die Montaigne den „notwendigen Vorrat für die Lebensreise" nennt, noch
mehr gilt das von den Konfessionen des Augustinus, von der Iviitatio
Christi des Thomas a Kempis. Eine unvergängliche Sprache aber redet
das Buch des Dichters. Homeros, die griechischen Tragiker, die ganze
dichterische Kunst des Altertums erleben immer neue Auferstehung. Wie
die Divina commedia bald nach Dantes Tode schon die Auslegung be-
schäftigte, so gibt es noch gegenwärtig nicht nur bei uns eine Dante-
gemeinde, sondern selbst in Boston und an Hochschulen Xeuenglands.
Die Gestalten Shakespeares haben ein Leben für sich, wie es auch die
Person des sinnreichen Hidalgo Don Quijote noch weiter fortbesitzt, nach-
c-i, Richard Pietschmann: Das Ruch.
dem längst die Ritterbücher, die Cervantes abstrafen wollte, nur noch
von Literarhistorikern und Kuriositätensammlern angesehen werden; eine
eigene Daseinskraft, wie sie auch einigen von den Gebilden spanischer
Dramatiker innewohnt. Als eine Macht hat das Buch sich recht oft er-
wiesen, nicht bloß, wenn es das Werk des Genius war, wie das von Swifts
unnachahmlichen Schöpfungen, von den Lettres persanes Montesquieus,
auch wohl von den „Juniusbriefen" zu sagen ist, sondern auch nicht selten
ein nichts weniger als bedeutendes Erzeugnis, wenn es wie „Onkel Toms
Hütte" zu rechter Zeit einer hochgespannten Erregung Ausdruck lieh. In
welchem Maße hat Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, hat
Diderots Enzyklopädie die Anschauungen im großen und im einzelnen
umg-estaltet.
Zensur. Omnium malorurn antidotum, „aller Übel Gegenmittel" zu werden, er-
klärt Richard de Bury, dazu habe Gott das Buch bestimmt. Oft ist es
zu einer scharfen Waffe geworden, nicht selten auch ist es als eine
Gefahr, als ein Übel erschienen. Schon die römische Kaiserzeit kennt
die Unterdrückung mißliebiger Werke. Eine Beaufsichtigung der Ver-
öffentlichungen wurde zu einer stehenden Einrichtung bald nach Ein-
führung der Druckerpresse. Am i8. März 1479 erhält die Universität
Köln vom Papst das Recht der Zensur, am 24. März 1564 stellte das
Konzil von Trient den ersten Index verbotener Bücher auf. Ganz all-
mählich und erst in der Neuzeit hat auch ein Recht des Buches und an
dem Autor- und Verlagsrecht ein wichtiger Zweig des Urheberrechts sich
ausgebildet.
Vermehrte V. Das Buch in der Gegenwart. Schon das Altertum hatte sehr
Bedeutung des .^,,_ . t-»"i •• tt-it-
Buches in der mannigfache Kategorieen von Buchern gezeitigt. Viele Literaturgattungen
sind im Mittelalter abgestorben. Verschiedenartiger als je zuvor wurde
der Inhalt wieder seit dem Buchdruck. Die Bücherproduktion der Neu-
zeit zeigt ein zwiefaches Bestreben. Auf der einen Seite verzweigt sie
sich bis ins Einzelne. Immer tiefer aber auch immer enger werden die
Schachte, in denen die Einzelarbeit vorgeht. Aber den Antrieb und Plan
erhält sie vielfach aus der Kombination der Ergebnisse und der Methoden.
Nicht weniger als durch den Schwärm der Monographieen wird der Gang
der Entwicklung bezeichnet durch zusammenfassende Darstellungen, durch
Lehr- und Handbücher, Nachschlagewerke, Übersichten, Enzyklopädieen,
Unternehmungen, bei denen Aufgaben, die zu lösen nicht mehr in des
Einzelnen Kraft liegt, durch die vereinte planmäßig geleitete Arbeit vieler
verwirklicht werden sollen. So ist es nicht bloß im eigentlichen Bereiche
der Wissenschaft, sondern weit darüber hinaus. Unendliche Füllen von
Stoif werden alljährlich in Zeitschriften der allerverschiedensten Art nieder-
gelegt. Fast unübersehbar wird die Zahl der Veröffentlichungen auf dem
Gebiete der Schul- und Jugendschriften, auf dem der technischen und
industriellen Berufsarten. Orientierend greifen da in dieses Übermaß die
V. Das Buch in der Gegenwart. 535
kritischen Zeitschriften ein, die Fachberichte über das Ergebnis der jähr-
hch herausgekommenen Veröffentlichungen. In analogem Sinne ist überall
die Bibliographie an der Arbeit In keinem der Länder, deren Buch-
handel in Betracht kommt, fehlt es ganz an Verzeichnissen, aus denen er-
sehen werden kann, was erscheint. Daneben stehen die bibliographischen
Zusammenstellungen über die Tätigkeit auf den einzelnen Gebieten, selbst
zum Teil, wie z. B. der internationale Katalog der naturwissenschaftlichen
Literatur, Unternehmungen größten Umfanges.
Seiner höchsten Aufgabe wird das Buch gerecht, wenn es erhebt, Das Buch als
° -ITT 1- Kunstwerk.
läutert, veredelt, wenn es. Schule und Kirche ergänzend, die Weltanschauung
des Einzelnen ausgestalten und bereichern hilft. Wie von dem Bestreben
aus, den Text verständlicher zu machen, eine dem würdigen Inhalt ent-
sprechende würdige Erscheinung, eine den gebildeten Kunstsinn anspre-
chende Ausschmückung zu geben, die Handschrift eine Entwicklung nahm,
bei der sie vielfach ganz ins Kunstwerk überging, ist schon dargestellt
worden. Die ältesten Drucke sollten nur Nachbildung von Handschrift
sein und wurden anfänglich noch durch Handschrift und vielfach auch
vom Rubrikator und Illuminator ergänzt. Prachtvolle, mit höchster tj^po-
graphischer Sorgfalt in Kot und Blau gedruckte Initialen hat Schöffer
bereits 1457 und 1458 in seinem Psalter und Canon missae zur Anwen-
dung gebracht, und schon im Beginn des nächsten Jahrzehnts macht Pfister
in Bamberg den ersten Versuch, den Holzschnitt für das deutsche Volks-
buch auszunutzen. Noch vor Ablauf des Jahrhunderts entstanden Meister-
werke der Buchillustration wie die trefflichen Darstellungen in der
Lübecker Bibel von 1494, Erhard Reuwichs Bilder zu Breidenbachs
Reise, die reichillustrierte Weltchronik Hartmann Schedels, der von Jo-
hann Grüninger in Straßburg herausgegebene Virgil, in Italien Zeichnungen
von berückender Schönheit der Komposition und der Linie in der Hyp-
nerotomachia des Polyphilus. Aus dem 16. Jahrhundert nenne ich nur
die Illustrationen des Hans Schäufelein zum Theuerdank, und als da.s Fein-
fühligste und Künstlerischste, was wohl je in der Ausschmückung eines
Buches hervorgebracht worden ist, die Randzeichnungen Dürers zu dem
Gebetbuche Kaiser Maximilians. Der Holzschnitt wird im 17. Jahrhundert
und vollends im 18. vielfach durch die Radierung ersetzt, in der ja unter
andern Daniel Chodowiecki sein großes Talent betätigt. Bei uns wird
danach der Holzschnitt wieder zu Ehren gebracht vornehmlich durch Ludwig
Richter. Aus höchster künstlerischer Individualität heraus schafft dann
Adolf Menzel eine neue malerisch durchgebildete Holzschnittillustration.
Mitten in einer Bewegung, in angestrengten Versuchen zu einer Erneuerung
des gesamten künstlerischen Gepräges des Buchs befindet sich die Gegen-
wart; bei uns, in England, in den Vereinigten Staaten, überall ein reger
Wettstreit, in dem noch keine Richtung den Ausschlag gegeben hat. Alle
Mittel der mannigfachen graphischen Verfahren, alle technischen Vervoll-
kommnungen werden zuhilfe genommen. Sorgfältig werden die Leistungen
536
Richard Pietschmann: Das Buch.
früherer Jahrhunderte zu Rate gezogen, werden alle Formen, die zur Wahl
stehen, selbst die des fernsten Inselvolkes Asiens, ausgeprobt. Künstler
von großem Können leihen ihre Hand. Immer allgemeiner wird an-
erkannt, daß die Aufgabe sein wird, Papier, Tj'pe, Satz, Inhalt, Buch-
schmuck, Einband, alles auf einen Eindruck zu stimmen, um als höchstes
Erzeugnis der Buchkunst das Buch zu einer künstlerischen Einheit zu
gestalten. Das Problem ist hier dasselbe, dem unsere Kunst in allen
Lebensäußerungen gegenübergestellt ist, das Problem eines zeitgemäßen
Stils, einer uns eigensten Kunst. Möge der schöpferische Geist sich
finden, dem der große Wurf gelingt.
Literatur.
Die ganze Überfülle von Literatur über das Buch, namentlich die große Zahl von
Unterhaltungsbüchem für Bücherfreunde und Bibliomanen kann hier nicht inventarisiert
werden. Nicht uner%vähnt möchte ich lassen: Albert Cim, Le Livre, i. 2 (Paris, 1905);
wird fortgesetzt. — Octave Uzanne, Nos amis les livres, Causeries sur la littdrature an-
cienne et la librairie (Paris, 18661. — Ernest LEGOtn^, L'Art de la lecture (Paris, 1877):
erschien in 19 Auflagen, dazu ein Complement (1879). — Anton E. Schönbach, Lesen und
Bildung, Umschau und Rat, 7. Aufl. (Graz, 1905). — Gesammelte Aufsätze: E. Egger,
Histoire du livre depuis ses origines jusqu'ä nos jour, 2. 6d. (Paris, i88o). — Einen Aufsatz
Boois enthält Rau»H Waldo Emersons Society and Solitude. Die Fragen How and
IVhat to Read und IVhy to Read behandelt JOHN Ruskin in seinem Sesam and Lilies.
Auskunft über alle möglichen Stoflfe, auf denen je geschrieben worden ist, gibt das Buch
von G. F. Weihrs, Vom Papier (Halle, 1779); nebst Supplementen (1790).
Schrift und Buchwesen des Altertums: Jacobi Martorellii, de regia theca
calamaria. I (Neapoli, 1756). — S. C. G. Schwarz, de omamentis librorum et varia rei librariae
veterum suppeUectile (Leipzig, 1756). — H. Geraijd, Essai sur les livres dans l'antiquitö, parti-
culierement chez les Romains (Paris, 1840). — Th. Birt, Das antike Buchwesen in seinem
Verhältnis zur Literatur (Berlin, 1882). — K. DziATZKO, L'ntersuchungen über ausgewählte
Kapitel des antiken Buchwesens (Leipzig, 1900); dazu: Th. Birt, Zur Geschichte des antiken
Buchwesens im Zentralblatt für Bibliothekswesen, Bd. 17 (Leipzig, 1900), S. 545 — 565. —
Ges. Paou, Del papiro, specialmente considerato come materia che ha servito alla scrittura,
in den Pubblicazioni del R. Istituto di Studi superiori in Firenze, Sezione di filosofia e di
filologia 1878. In derselben Serie erschien von Paoli auch das Programm: Materie scrit-
torie e librarie (Florenz, 1894): deutsch von K. Loh.meyer (Innsbruck, 1895).
Als dem Leser bekannt vorausgesetzt und daher nicht wiederholt habe ich, was
Ulrich von Wilamowitz in der Abteilung VIII des I. Teiles der „Kultur der Gegenwart"
über Buchwesen mitteilt. — Weitere Literatur ist in dem Aufsatze „Buch" von Dziatzko in
der Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft von Pauly -Wissowa aufgezählt.
Schrift und Buchwesen des Mittelalters: W. Wattenbach, Das Schriftwesen
im Mittelalter, 3. Aufl. (Leipzig, 1896). Die beste Ausgabe des Philobiblon des Richard
de Bury ist die von Ernest C. Tho.mas (London, 1888), die eleganteste die des Grolier Club
(New- York, 1888).
Handschriften des Mittelalters und der Renaissancezeit: Die schönste Ver-
öffentlichung auf diesem Gebiete, aber sehr selten und vollständig nur in dem Exemplar der
NationalBibliothek zu Paris, ist das Werk des Comte Auguste de Bastard D'Estang, Peintures
et Omcments des Manuscrits (Paris, 1832 — 69:. — Einen Begriff von dem Eindruck, den die
Originale machen, geben auch die Abbildungen in der Paleographie universelle von J. B. SiL-
vestre (Paris, 1841); femer J. O. Westwood, FacSimiles of Miniatures und Ornaments of
AngloSaxon- and Irish-Manuscripts 'London, 1868); und George F. Warner, Illuminated
Manuscripts in the British Museum, 4 Bde. (London, [1899 — ]i903); auch die VeröfTent-
lichungen von Montecassino CPaleografia , 1882. Le Miniature nei codici Cassinesi [1887]).
Vortreffliche Veröffentlichungen sind auch die Werke: F"ac-similcs des miniatures des
plus anciens manuscrits grecs de la Bibliotheque nationale publ. p. Henry O.MONT (Paris,
538
RicHAKD Pietschmann: Das Buch.
1902). — L601'. Uelisle, Notice de douze livres royaux (Paris, 1902). — Beschreibendes
Verzeichnis der Illuminierten Handschriften in Österreich, herausgeg. von F. Wickhoff
(Leipzig, 1905); bis jetzt 2 Bde. — F. Carta, C. Cipolla e C. Frati, Monumenta Palaeo-
graphica Sacra, Atlantc paleografico-artistico (Torino, 1899). — Stephan Beissel, Vatica-
nische Miniaturen (Freiburg i. Br., 1893). — Seit 1897 erscheinen die beiden Serien: Codices
graeci et latini photographice depicti dir. Gull. Nie. Du Rieu (Leiden) und Codices e Vati-
canis selecti photographice expressi consilio et opera Curatorii Bibliothecae Vaticanae. —
Hauptsächlich aus der Hof- und Staatsbibliothek zu München entnommen ist das Werk von
Luise V. Kobell, Kunstvolle Miniaturen des 4. bis 16. Jahrhunderts (München, 1890). Ein
Verzeichnis der im Handel vorrätigen Photographieen aus Handschriften dieser Bibliothek
steht im Zentralblatt für Bibliothekswesen, Bd. 19, S. 229 — 248.
Zu erwähnen sind femer: W. G. Searle, The lUuminated Manuscripts in the Library
of the Fitzwilliam Museum (Cambridge, 1876). — Walter de Gray Birch, Early
Drawings and Illuminations, An Introduction to the Study of Illustrated Manuscripts; with
A Dictionary of subjects in the British Museum (London, 1879). — J. W. Bradley, A
Dictionary of Miniaturists, 3 Bde. (London, 1887—89). — Henri Bordier, Description des
peintures et autres Ornaments contenus dans les manuscrits grecs de la Bibliotheque natio-
nale (Paris, 1883). — Karl Lamprecht, Initial-Ornamentik des VIII. bis XIII. Jahrhunderts
(Leipzig, 1882).
Zusammenfassende Darstellungen: A. Lecov de la Marche, Les Manuscrits et la
miniature (Paris, 1884). — J. Henry Middleton, lUuminated Manuscripts inclassical and
mediaeval times, their art and their technique (Cambridge, 1892). — Molinier, Les Manu-
scrits et les miniatures (Paris, 1892). — Alphonse Labitte, Les Manuscrits et l'art de les
omer (Paris, 1893). — Malan Falconer, Books in Manuscript (London, 1893). — John
W. Bradley, lUuminated Manuscripts (London, 1905).
Eine vortreffliche Übersicht über die|lHandschrifteii-Nachbildungen gewährt das Ver-
zeichnis der National-Bibliothek zu Paris, das H. Omont im 13. Jahrgange der Revue des
bibliothfeques (1903) herausgegeben hat.
Buchdruckerkunst; J. Christ. Freyherr v. Aretin, Über die frühesten universal-
historischen Folgen der Buchdruckerkunst (München, 1808). — Zusammenfassende geschicht-
liche DarsteUungen gaben; KARL Falkenstein, Geschichte der Buchdruckerkunst (Leipzig,
1840); und Paul Dupont, Histoire de I'imprimerie, 2 Bde. (Paris, 1854). Dem heutigen
Bedürfnisse genügen beide nicht mehr ganz.
Buchillustration und Buchschmuck; Walter Crane, On the decorative iUustration
of books old and new (London, New- York, 1896). — Alfred Pollard, Early lUustrated Books
(London, 1893). — RUDOLF K.\UTZSCH, Die deutsche Illustration (Leipzig, 1904). — RICHARD
Muther, Die deutsche Bücherillustration der Gothik und Frührenaissance (1460 — 1530),
Bd. I — 2 (München — Leipzig, 1884). — Leo Baer, Die illustrierten Historienbücher des
15. Jahrhunderts (Straßburg, 1903). — Albrecht Dürers Randzeichnungen aus dem Gebet-
buche Kaiser MaximiUans (München, 1850). — Das Diurnale oder Gebetbuch Kaiser Maxi-
milian I. Von Ed. Chmelarz, im: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Aller-
höchsten Kaiserhauses, Bd. 3 (Wien, 1885). — Otto GrautOFF, Die Entwicklung der modernen
Buchkunst in Deutschland (Leipzig, 1901). — Die neue Buchkunst, Studien im In- und Aus-
land, herausgegeben von Rudolf Kautzsch (Weimar, Gesellschaft der Bibliophilen, 1902).
Buchhandel; AlbrECHT Kirchhoff, Beiträge zur Geschichte des deutschen Buch-
handels, I. 2. (Leipzig, 1851 — 53). — Friedrich Kapp, Geschichte des deutschen Buch-
handels, Bd. I. 2 (Leipzig, 1886). — Henri BaillI^RE, La Crise du, livre (Paris, 1904). —
Karl Bücher, Der deutsche Buchhandel und die deutsche Wissenschaft, 3. Aufl. (Leipzig,
1904).
DIE BIBLIOTHEKEN.
Von
Fritz Milkau.
I. Was die Bibliotheken sind. Die Stellung- der Bibliotheken
in der Reihe der Kulturfaktoren wird bestimmt durch das Maß ihrer
Leistungen für die Sammlung, Erhaltung und Nutzbarmachung der schrift-
lich niedergelegten Erzeugnisse des menschlichen Geistes.
Die Bedeutuncr der schriftlichen Überlieferung als Kulturmittels läßt BedcutunE der
* ... . schriftlichen
sich ereschichtlich so wenisj entwickeln wie die der Sprache, indem alle Überlieferung
° * ^ für die Kultur.
Kulturen, welche selbständig zu völliger Durchbildung gelangt smd, die
Kulturen Ägj'ptens, Babyloniens und Chinas, der historischen Forschung
sofort ganz und fertig und in festem Besitze der Schrift entgegentreten.
Für einen Zweifel an ihrer Größe bleibt darum kein Raum. Wir ver-
stehen das Wort, mit dem Plinius die Umständlichkeit seiner Darstellung
der Papyrusbereitung begründet: „Cum chartae usu maxime humanitas
vitae constet", d. h. weil die schriftliche Überlieferung es ist, auf der vor-
nehmlich die Kultur beruht.
Ist die lebendige Rede verhallt, so bleibt dem Hörer nur die Erinne-
rung; jedem eine andere, nach seines Geistes Kraft und Richtung. Und
wird sie weitergegeben von Mund zu Mund, wie bald wird ihre Klarheit
getrübt, ihre Prägring verwischt! Xoch haben die Lippen, denen sie ent-
strömte, sich kaum geschlossen, und Entstellung oder Vergessenheit ist
ihr Los. Unwandelbar aber und unvergänglich ist das geschriebene Wort;
äußerlich starr und tot, und doch lebenskräftiger als alles, was atmet.
Die Stürme von Jahrhunderten und Jahrtausenden gehen darüber hin,
und es spricht zu uns, wo immer wir es vernehmen wollen, so frisch,
so unmittelbar, als wäre es eben erst geboren. So hat die Schrift die
engen Schranken niedergelegt, in die die Körperlichkeit des Menschen
gebannt ist; sie hat die Macht der Zeit gebrochen, den Raum besiegt.
Ihr danken wir es, wenn aus längst versunkenen Zeiten dem forschenden
Blick sich klare, lebensvolle Bilder entrollen, wo die Augenzeugen, von
der Erscheinung geblendet und von der Unrast des eigenen Herzens ver-
wirrt, nur beschränkte Ausschnitte in irreführender Beleuchtung vor sich
340
Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
sahen; wenn Gedanken, mit denen ihrer Zeit vorausg'eeilte Geister in
schwerer Vereinsamung blieben, von uns erfaßt und dankbar genützt
werden. Jahrtausende hat sie zu unsern Lehrmeistern gemacht. Ge-
schlechter um Geschlechter zerfallen zu Staub, und mit ihnen ihrer Hände
Werk. Unvergänglich aber ist die köstlichste Frucht ihres Lebens: ihre
Mehrung des überkommenen Reichs der Ideen. Und hierin, in der Er-
haltung der Errungenschaften des Geistes von Generation zu Generation,
wie erst die Schrift sie ermöglicht hat, liegen die stärksten Wurzeln
unserer Kraft. Hierin beruht der Reichtum unseres Lebens, hierauf unsere
Hoffnung für die Zukunft.
Denn wie wir der Arbeit derer, die vor uns waren, alles Licht
schulden, das um uns ist, und alle Billigkeit, die in uns wohnt, so gibt es
keine Steigerung der erreichten Höhe ohne Anknüpfung an die Über-
lieferung. Wohl erkennen wir immer deutlicher, in wie hohem Grade
wir für allen geistigen Fortschritt unseren Großen verpflichtet sind. Aber
wir wissen auch, daß die Entwicklung unserer Erkenntnis so wenig
Sprünge macht wie die Natur. Auch für jene großen Entdeckungen, die
auf den ersten Blick jedes Zusammenhanges mit der Vergangenheit ent-
behren und die Mitstrebenden mit der Plötzlichkeit des Blitzes treffen,
gilt das Goethesche Wort, daß das Erfinden der Abschluß des Gesuchten
sei. Und die Voraussetzung alles Suchens ist die Kenntnis des Errungenen.
Nur dem, der das Ererbte erworben hat, kann die Mehrung des Erbes
gelingen. Die Überlieferung ist der Riese, zu dessen Höhe emporwachsen
muß, wer weiter zu sehen strebt als sie; emporwachsen, indem er für sich
die Entwicklung wiederholt, zu der der Riese Jahrhunderte und Jahr-
hunderte gebraucht hat. Wer sich damit begnügt, die gewonnenen Er-
kenntnisse einzusammeln, wird ein wissenschaftlicher Handwerker, nicht
mehr. Aus dem eingefahrenen Geleise findet er nicht heraus. Er gleicht
nach dem schönen Bilde Harnacks dem Gärtner, der seinen Garten mit
abgeschnittenen Blumen bepflanzt. Daher bleibt jede Arbeit, die aus
wahrem, tiefem Ernst geboren ist, in der eine Individualität sich zum
Ausdruck gebracht, etwas von ihrem Herzblut zurückgelassen hat, für die
Forschung unentbehrlich, mögen die Ergebnisse auch längst überholt oder
zurückgewiesen sein. Und so wenig Regesten die Urkunden überflüssig
machen, so wenig können Zusammenfassungen der Resultate jene Arbeiten
ersetzen. Wir sehen es täglich, wie leicht überliefertes Wissen sich trübt,
wie gern es dogmenhaft erstarrt, wie oft es als dürres Gestrüpp das Auf-
sprießen neuer Erkenntnis zurückhält. Immer wieder ist es daher not-
wendig, zu den Quellen zurückzukehren, in denen das Gewonnene sich
noch als Erlebnis darstellt, nicht als starre Tatsache. Sie sind es, die
das befreiende und befruchtende Bewußtsein des „geschichtlichen Werdens
der großen geistigen Wahrheiten" erzwingen. Sie allein bilden und
fördern. Sie allein geben den sicheren Boden unter die Füße, liefern
den rechten Maßstab, das eigne Ziel zu stecken, den eignen Erfolg zu
I. Was die Bibliotheken sind. 54 1
messen. Sie allein lehren jene Bescheidenheit, jene Achtung- vor den
Problemen, die seit jeher für eines der vornehmsten Kennzeichen und Er-
fordernisse wahrer Wissenschaftlichkeit gilt.
Wenn so die Überlieferung alle menschliche Erkenntnis sichert und
ihre Verbreitung und Mehrung gewährleistet: wer wollte sie darum geringer
achten, daß sie es andererseits ist, die dem Irrtum zu einem sonst un-
begreiflich zähen Leben verhilft, die das geistige Wachstum ganzer
Generationen, welche kraftlos sich von ihr beherrschen lassen statt sie
zu beherrschen, unterdrückt? Büßt sie darum an ihrer Bedeutung ein,
daß sie auch minder lautere Zuflüsse aufnimmt und neben dem Echten
das innerlich Unwahre eine Zeitlang fortträgt, bevor sie es sinken läßt?
Tut es ihrer Wichtigkeit Abbruch, daß sie der Kraft und Wirksamkeit
der lebendigen Rede entbehrt? Wenn Goethe erzählt, seine Freunde
behaupteten, was er spreche sei besser, als was er schreibe, so gilt das
keineswegs von ihm allein. Jeder erfährt es an sich, wie selten dem
Gedanken die Sprache restlos sich fügt und wie schwer trotz alles
Ringens bei der Festlegung durch die Schrift ein weiterer Verlust an
Klarheit, Frische, Unbefangenheit vermieden wird. Wer aber möchte
darum ein Wort der Überlieferung missen? Der Mensch sei besser als
der Dichter, so wurde weiter über Goethe geurteilt, und das, was er
lebe, besser als was er dichte. Daß wir aber imstande sind, dies Urteil
zu unserm eigenen zu machen und uns an seinem Leben als an dem
köstlichsten seiner Werke aufzuerbauen, auch das verdanken wir der
Überlieferung, die uns in den zahllosen Berichten der Zeitgenossen die
tausend Züge aufbewahrt hat, aus denen wir das strahlende Bild zu-
sammenfügen. Und nirgends vielleicht stehen wir stärker unter dem E in-
druck eines schweren Verlustes, als wo wir Persönlichkeit und Lebens-
führung eines der großen Befreier und Wohltäter der Menschheit in hoff-
nungsloses Dunkel gehüllt finden. Was könnten Plato und Aristoteles
uns sein, was Shakespeare oder Cervantes! Ersetzen kann freilich die
Überlieferung den Menschen nicht. Soweit ihn aber etwas ersetzen kann,
ist es allein sie. Als der Geist der antiken Welt, nach jahrhundertelangem
Schlummer zu neuer Blüte erwachend, das Abendland von dem Phantasie-
leben des Mittelalters befreite, da war es nicht die gewaltige Sprache der
Bauten, die dies Wunder vollbrachte, nicht die leuchtenden Marmorbilde r,
sondern die aus dem Staube der Vergessenheit hervorgezogenen Bücher.
Alle geistigen Kräfte des Menschen, sie sind lebendig und bleiben wirk-
sam im Buche. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ihm, solange es
existiert, Liebe und Haß zuteil geworden sind wie nur dem Menschen
selbst? Nur die Geschichte des Buches weiß wie die des Menschen von
Verfolgung und Verbannung, von Schandpfahl und Scheiterhaufen zu be-
richten. Aber auch nur sie von tiefer, herzlicher, ehrfürchtiger Liebe.
Und gern wird man eine Bedeutung darin sehen, daß im allerersten An-
fang dieser wechselvollen Geschichte ein Wort der Liebe steht: „Man soll
C42 Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
es bei sich tragen und man soll es lesen, gleichwie es geschrieben steht.
Besser ist es für die Seele des Menschen als alles andere, was im ganzen
Lande ist." So klingt es durch fünf Jahrtausende zu uns herab von dem
Weisheitsbuche Kagemn'es, das uns der Papyrus Prisse, „das älteste Buch
der Welt", aufbewahrt hat.
Bedeutung der DicsB Bedeutuug der schriftlichen Überlieferung für die Stetigkeit
di<."krLuanr dcr Entwicklung des menschlichen Geistes muß man vor Augen haben,
de? schriftlichen um für die Beurteilung der Bibliotheken, zunächst als bloßer Erhaltungs-
ericerung. ^j^gj^j^gj^^ jjgj^ richtigen Standpunkt zu gewinnen. Denn dem stolzen
Spruche Hrabans „Grammata sola carent fato mortemque rrpellunt"
kommt nur eine bedingte Geltung zu, selbst nachdem Gutenbergs Kunst
den Einfluß zerstörender Gewalten auf die Erhaltung des geschriebenen
Wortes so stark beschränkt hat. Und nicht die Vergänglichkeit des
Stoffes allein ist es, die seinem Leben so oft verhängnisvoll geworden ist.
Wenn die Verbrennung der Schriften des Sophisten Protagoras auf dem
Marktplatze von Athen im Jahre 411 das älteste Beispiel i.st, das uns für
die planmäßige Vernichtung von Büchern überliefert wird, so ist damit
nicht gesagt, daß dies überhaupt die erste derartige Exekution gewesen
sei. Von Nachahmungen dieses Beispiels aber, auch in größerem und
größtem Stil, zieht sich eine kaum unterbrochene Kette bis in unsere
Tage hinein. So haben religiöse Unduldsamkeit und politische Beschränkt-
heit, Machthaberwillkür und der Haß des Barbaren gegen die überlegene
Bildung sich zu den allem Menschenwerk feindlichen Wirkungen der Zeit
gesellt, um den Schatz des schriftlichen Vermächtnisses zu verringern.
Nicht immer war man dabei so gründlich wie Leo der Isaurier, von dem
eine allerdings schlecht verbürgte Nachricht meldet, er habe die ganze
Kaiserliche Bibliothek in Konstantinopel samt ihren zwölf gelehrten Vor-
stehern den Flammen überliefert. Aber darum ist der Erfolg doch traurig
genug. Kaum übersehbar sind die Verluste, die wir beklagen. Sie
wären unermeßlich größer ohne die Bibliotheken.
Nicht als ob das Buch allen Stürmen entzogen wäre, sobald es hier
seinen Platz gefunden. Nur in Trümmern ist die antike Literatur auf uns
gekommen, trotz aller Bibliotheken der alten Welt mit ihrem so oft an-
gestaunten Reichtum. Hat es doch auch die Schriften des Tacitus vor
diesem Schicksal nicht bewahren können, daß der Kaiserliche Namens-
vetter sie in der ausgesprochenen Absicht, ihre Dauer für alle Zeiten zu
sichern, von Staats wegen in allen Bibliotheken und Archiven des Reichs
aufstellen ließ. Und wie vieles uns von den Schätzen verloren ist, die
noch die mittelalterhchen Bibliotheken wohlbehütet in ihre Mauern
schlössen, darüber sind wir durch Zeugnisse aller Art gut genug unter-
richtet. Wo ist die einst vielbewunderte Klosterbibliothek von Fulda,
von der schon ihr Schöpfer, derselbe Hraban, mit demselben Stolze
rühmen konnte, daß sie alles berge, was Gott von der Feste des Himmels
in heiligen Worten verkündet und was die Weisheit der Welt im Wechsel
I. Was die Bibliotheken sind. 543
der Zeiten hervorg-ebracht? Die wenigen Stücke, welche mühselige ge-
lehrte Arbeit als dorther stammend in fremdem Besitz bisher hat nach-
weisen können, geben kaum noch eine Vorstellung von dem alten Glanz.
Und dieses Schicksal ist eher die Regel als eine Ausnahme. Waren es
nicht Flammen, Plünderung, Bilderstürmerei, so waren es Sorglosigkeit
und Unwissenheit der Hüter, die die Bestände dezimierten und so manches
wertvolle Stück der Überlieferung dem Untergang preisgaben.
Und doch sind es zuletzt die Bibliotheken, denen wir es zu danken
haben, daß so viel erhalten ist. Schon dadurch, daß sie in ihrer Existenz
unabhängig sind von Leben und Tod, entrücken sie das Buch, dem sie
Unterkunft gewährt haben, tausend Gefahren. Laune, Wechsel der Nei-
gnng und Änderung der Wertschätzung, Überdruß am Besitz und was
weiter ihm gefährlich werden kann, solange der Einzelne darüber verfügt,
das alles ist hier ausgeschaltet. Hier kann es in Ruhe abwarten, bis
seine Zeit gekommen ist. Hier ist es im Hafen; nicht vor allen Stürmen
geborgen, aber doch im Hafen. Und je mehr ihrer beisammen sind,
desto stärker wird nach geheimnisvollem Gesetz die Anziehung, die sie
auf ihresgleichen ausüben. Und desto größer zugleich wird ihre Kraft,
die Zeiten zu überdauern. Es ist fast wie mit den einzelnen Ruten und
dem Rutenbündel. Auch hier g^lt es: Vereinte Kraft macht stark. Wie-
viele von den zwanzigtausend Tontafeln aus Kujundschik, denen wir das
Beste unseres Wissens von der babylonisch - assyrischen Geschichte und
Literatur danken, hätten sich durch die Jahrtausende auf uns behauptet,
hätte sie nicht Aschurbanipal in seine Bibliothek vereinigt? Die Biblio-
theken der alten Welt haben es nicht verhindern können, daß die zahl-
losen Papyrusrollen, die ihre Gestelle füllten, spurlos zerstoben sind.
Wem anders aber als ihnen sind wir dafür verpflichtet, daß im Beginn
des Mittelalters bei jener großen Umwälzung, da der Kodex an die
Stelle der Rolle trat, noch so viel durch Übertragung von dem vergäng-
lichen Papyrus auf das zähe Pergament gerettet werden konnte? Weder
der Friede der Mauern, noch die eisernen Ketten, mit denen man die
Bücher festschloß, haben die Klosterbibliotheken vor schweren Verlusten
geschützt. Was wir aber von der klassischen Literatur und von den un-
schätzbaren ältesten Zeugnissen literarischer Tätigkeit der auf dem Boden
des Römischen Reichs erwachsenen Nationen besitzen und was heute
den wertvollsten Bestand und den eigentlichen Ruhm unserer großen Biblio-
theken ausmacht, dessen Erhaltung schulden wir wesentlich ihrer Hut.
Gewiß hat die Erfindung des Buchdrucks diese Bedeutung der Biblio-
theken stark in den Hintergrund gedrängt, und niemand zweifelt daran,
daß jene Schöpfungen, die den Reiz und die Kraft ewiger Jugend in
sich tragen, seitdem ihren Weg durch die Jahrhunderte auch ohne die
Bibliotheken gefunden hätten und finden werden. Wenn wir aber mit
einigem Recht sagen können, daß uns seitdem von den wirklich lebens-
würdigen Büchern nur verschwindend wenig verloren gegangen ist, so
r,A Fritz JTilkau: Die Bibliotheken.
danken wir auch dies den Bibliotheken, die immer weitherzig auch dem
seinen Platz gegönnt haben, wovon die Meinung des Tages wie von etwas
Überlebtem sich abgekehrt hatte. Nicht deutlicher aber läßt sich dies
Verdienst zur Anschauung bringen als negativ durch den Hinweis auf die
Tatsache, daß wir, seitdem die Kunst Gutenbergs in Übung ist, nirgends
größere Verluste festzustellen haben als bei jenen für das Bedürfnis des
Tages berechneten und in Massen verbreiteten Erzeugnissen, die wir heute
mit Gold aufwiegen, den Kalendern und Fibeln, den wahrhaftigen Historien
und den neuen Zeitungen, den neuen schönen Liedern usw., d. h. also bei
der Literatur, die die Bibliotheken erst sehr spät als Literatur erkennen
und behandeln gelernt haben.
So sind die Bibliotheken, um mit Leibniz, dem größten unter den
großen Bibliothekaren zu reden, die „Schatzkammern aller Reichtümer des
menschlichen Geistes". Nicht Schatzkammern, die ihre Pforten ängstlich
verschließen, um gierige Hände fernzuhalten, sondern Schatzkammern,
die darauf angelegt sind, ihre Schätze freigibig mitzuteilen, weil sie um
so reicher werden, je mehr aus ihnen geschöpft wird. Wo sie unter ver-
ständnisvoller Pflege emporwachsen, da glüht ein still brennendes Feuer
auf, an dem die Berufenen ihre Fackel entzünden, um das Licht in die
Dunkelheit zu tragen. Die ersten Ptolemäer vereinigen in Alexandria
alle Bücher, deren sie auf alle Weise habhaft werden können, und ihre
Schöpfung wird der Mittelpunkt großartiger wissenschaftlicher Bestre-
bungen, wird der Ausgangspunkt eines blühenden, die ganze bewohnte
Erde in seinen Kreis ziehenden Buchhandels, wird die kräftige Stütze der
Herrschaft des griechischen Geistes. Aus Orient und Okzident lassen
Cosimo und die Seinen durch Freunde und Geschäftsträger zusammen-
bringen, was um Goldgulden und Gefälligkeiten von Büchern zu erlangen
ist; in bürgerlichem Gemeinsinn und mit fürstlicher Munifizenz stellen sie
die kostbare Nahrung der unter einer neuen Sonne aufkeimenden freien
Wissenschaft zu freier Benutzung, und jetzt erst wird Florenz in vollem
Sinne das neue Rom, dessen Geist Italien und durch Italien den Erdkreis
erobert. Im Schatten der neuen Ruprechtsuniversität ersteht unter den
sorgenden Händen der pfälzischen Kurfürsten die Palatina, die „Mutter
aller Bibliotheken in Teutschland"; der ihr später so verhängnisvoll ge-
wordene Ruhm des optimtts Germaniae literatae Thesaurus zieht von allen
Seiten erleuchtete Geister an, und Heidelberg wird einer der Hauptsitze
wissenschaftlicher Bildung in Europa. Für die Bibliothek des altberühmten
Benediktinerklosters Saint-Germain-des-Pr^s in Paris beginnt um die Mitte
des 17. Jahrhunderts, wo sie ein neues Haus bezieht, ein neues Leben:
von Bibliothekaren wie Dom Luc d'Achery, dem Vater der gelehrten
Studien in der Kongregation vom heihgen Maurus, mit glühendem Eifer
ergänzt und glänzend verwaltet, wächst sie mit einer für jene Zeit bei-
spiellosen Schnelligkeit und wird in wenigen Jahrzehnten das wundervolle
Arsenal, ohne das jene für alle Zeiten staunenswerten Werke nicht hätten
I. Was die Bibliolhekcn sind.
545
entstehen können, die Gallia christiana, der Recueil des historiens des
Gaules, die Histoire litteraire de la France und wie sie weiter heißen,
Werke, die den Namen Saint-Germain-des-Pr^s verehrungswürdig machen,
solange es eine Wissenschaft gibt. Als dem Freiherm von Münchhausen
die Sicherung der Bülowschen Bibliothek gelungen ist, meldet er erfreut
nach London: „Es ist dieses eine ungemeine acquisition vor die neue
Universität, welcher dadurch ein desto größeres lustre zuwächst, als in
Teutschland keine Universität ist, welche sich rühmen kann, mit einer so
nombreusen und selecten Bibliothec in omni scibili versehen zu seyn", und
in der Tat ist es die Vortrefflichkeit der Bibliothek, der nach dem Ur-
teile keines weniger Berufenen als Wilhelm von Humboldts Göttingen
„alles" zu danken hat. Wo gäbe es solcher Beispiele ein Ende?
So sind die Bibliotheken die Bildungsanstalten, die die Freiheit und
Unbefangenheit der Lehre in einem Grade durchgeführt zeigen, wie er in
keiner Unterrichtsanstalt der Welt anzutreffen ist. Was aus lebendigem
Munde, von der Lehrkanzel verkündet, unerträglich war oder unerträglich
wäre, hier darf es geduldet werden und wird es geduldet. Hier gibt es
keine Intoleranz, hier keine Tendenz. Hier stehen die Lehrer nicht unter
dem Einfluß der Tagesrichtung; hier wird das Neue nicht einseitig ver-
folgt, nicht das Alte vergessen. Heic fnortui vivunt, muti loquuntur. Sie
drängen sich nicht auf; sie haben Zeit, weil sie ein langes Leben haben.
Aber zu jeder Stunde sind sie bereit, ihre Stimme zu erheben, und durch
ihre bloße Gegenwart hindern sie, daß überwuchernd emporwachse, was der
Tag auf den Schild erhoben, oder daß ewiger Vergessenheit verfalle, was
lediglich durch die Ungunst der Zeiten aus dem Kreis des Lebendigen
gedrängt wurde. Wie es Jahrhunderte gegeben hat, in denen Homer zu
einem Schatten verblaßt war, so gibt es Jahrhunderte, aus denen kaum
eine dunkle Kenntnis von der Existenz des Nibelungenliedes nachzuweisen
ist. Und wer vermöchte die Wirkung solcher Wiederbelebung ganz zu
ermessen? Als der große König 1784 dem Professor Myller das Dedika-
tionsexemplar seiner Nibelungenausgabe wieder zur Verfügung stellte, weil
er „dergleichen elendes Zeug" in seiner Büchersammlung nicht dulden
könne, da ahnte niemand, mit welchem Feuereifer schon nach einem
kurzen Menschenalter eine Schar begeisterter Jünger den Zeugnissen
vaterländischen Altertums in den Bibliotheken nachgehen würde, von
jedem altdeutschen Buche, wie Jakob Grimm mit einem Platonischen
Gleichnisse von sich selbst berichtet, unwiderstehlich durch das Land ge-
lockt, nicht anders wie hungerndes Vieh durch einen grünen Laubzweig,
den die Hirten ihm vorhalten; niemand, welche gewaltigen Kräfte diese
innige Versenkung in die schönere und größere Vergangenheit zur Ent-
faltung bringen sollte. Niemals aber, soweit wir zurückblicken, ist das
Vertrauen in diese stille, ausgleichende, zuletzt den Sieg des Echten und
Wahren erzwingende Wirksamkeit der geistigen Schätze bewußter und
vornehmer zugleich betätigt worden, als in unseren Tagen: als Deutsch-
Dn KuLTtm dbk Gboinwakt. I. i. 35
c ,5 Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
land sich genötigt sieht, zum Schutze seines Wesens und seiner Art gegen
fremden Einfluß an der Westgrenze und in der Ostmark seine besten Kräfte
aufzurufen, da' sind sie es, diese „stummen Lehrer", auf die hochsinnige
Männer den Blick der Nation lenken, und durch opferfreudiges Zusammen-
wirken weitester Kreise erstehen, heute bereits reich an Früchten und
reicher noch an Hoffnungen, die Bibliotheken in Straßburg und in Posen.
So nehmen die Bibliotheken im Organismus des geistigen Lebens eine
Stellung ein, deren Bedeutung um so allgemeiner und stärker empfunden
wird, je mehr die wissenschaftliche Arbeit an Umfang und Tiefe gewinnt,
je gewaltiger die Masse des Überlieferten anschwillt, und je hoffnungs-
loser demgemäß der Einzelne der Aufgabe gegenübersteht, das unentbehr-
liche Rüstzeug aus eigenen Mitteln zu beschaffen oder auch nur durch
eigene Kraft sich in der Wildnis zurechtzufinden. Und in demselben Grade
steigert sich naturgemäß das Interesse der Wissenschaft daran, wie diese
Organe arbeiten, wie sie ernährt werden und wie sie sich entwickeln.
Für das Verständnis dieser Fragen aber ist es nötig, wenigstens im Fluge
zu streifen, wie sie geworden sind.
IL Wie die Bibliotheken geworden sind. Die Geschichte der
Bibliotheken ist noch zu schreiben, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie
einmal geschrieben werden wird, verringert sich in dem Maße, als das
durch die Fülle von Einzeluntersuchungen zutage geförderte Material un-
gefüger wird. Die zahlreichen Darstellungen der Geschichte einzelner
Bibliotheken aber wie die Ansätze zur Geschichte der Bibliotheken eines
Landes zeigen mit wenigen Ausnahmen diesen Grundfehler: indem sie auf
die Feststellung der äußeren Schicksale der Sammlungen den Hauptnach-
druck legen, nicht selten bis zur Erstickung im Detail, vernachlässigen
sie die freilich ungleich schwerer zu erschließende innere Geschichte: den
Geist, der die Bibliothek beseelte, die Wirkung, die von ihr ausging, den
Einfluß, den umgekehrt die Gestaltung des wissenschaftlichen Betriebes
auf ihre Entwicklung ausübte, die Anregung, die sie aus ihrer Arbeit
heraus zur Förderung des gesamten Bibliothekswesens beisteuerte. Unter
diesen Umständen wird selbst der Versuch, auch nur in groben Strichen
den gegenwärtigen Stand der Bibliotheken aus der Vergangenheit zu ent-
wickeln, nicht ohne Schwierigkeiten sein.
Altertum und GlückHcherweise ist es dazu aber weder erforderlich, über Entstehung,
Begriff und Arten der Bibliothek die wohlbekannten Selbstverständlich-
keiten vorzutragen, noch Zahlen und Namen zu häufen, wie jedes Kon-
versationslexikon sie bereitstellt, noch endlich so weit zurückzugehen wie
Joachim Johann Maderus, weiland Professor der Historie zu Helmstedt,
der seine zuerst 1666 erschienene Sammlung von Traktaten über Biblio-
theken und Archive mit einer tiefgelehrten Abhandlung De bibliothccis
antediluvianis einleitet; und auch das Beispiel Diderots und seiner zahl-
reichen Nachfolger in der enzyklopädischen Behandlung des Gegenstandes,
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. c^t
die unfehlbar von der 'lepä BißXio9r|Kr| des dunklen Königs Osymandias in
Theben mit der schönen Aufschrift H'uxnc 'larpeiov ihren Ausgang nehmen,
zwingt sich als vorbildlich hier nicht auf. Von den Bibliotheken der alten
Welt leitet kein Faden hinüber zu denen der neuen. Man müßte ihn
denn darin erkennen, daß die Idee der öffentlichen Bibliothek, d. h. einer
Bibliothek, deren Benutzung jedem Wissensdurstigen freisteht, wie sie der
neuen Zeit in voller Klarheit zuerst bei Petrarca und, in die Wirklichkeit
übersetzt, zuerst in der 1444 durch Cosimo de' Medici als den Testaments-
vollstrecker Niccolo Niccolis begründeten jMarciana entgegentritt, doch
wohl als ein Vermächtnis der antiken Kultur aus dem alten Rom über-
nommen ist. Hier war, nachdem Asinius PoUio, glücklicher in der Aus-
führung seiner Absicht als Cäsar, im Tempel der Libertas die erste öffent-
liche Bibliothek errichtet hatte, in schneller Entwicklung eine Gründung der
andern gefolgt, und wie die Notitia für den Anfang des vierten Jahrhunderts
die Zahl der öffentlichen Bibliotheken in der einen Stadt auf nicht weniger
als achtundzwanzig angibt, so scheint es damals in den weiten Grenzen
des Imperium Romanum kaum einen größeren Ort gegeben zu haben, dem
die öffentliche Bibliothek gefehlt hätte. Aber noch bevor die Flut herein-
bricht, die das Römische Reich in Trümmer schlägt, sind die Bibliotheken
selbst in der Hauptstadt zu bloßen Scheinexistenzen herabgesunken: sepul-
crorum ritu in perpetuum clausae, wie Ammian aus dem Ende des vierten
Jahrhunderts eindrucksvoll berichtet; und wenn sich dann, was von der zer-
trümmerten Welt unvergänglich war, in den Schutz klösterlicher Mauern
geflüchtet hat, die es uns treulich gehütet haben, bis unsere Augen klar
genug geworden sind, seinen Wert zu erkennen, so kann darum doch
zwischen jenen reichen öffentlichen Anstalten, den Sammelpunkten eines
freien wissenschaftlichen' und literarischen Arbeitens und Genießens, und
den mehr zufällig entstandenen als planmäßig eingerichteten, äußerlich
wie innerlich eng gebundenen Klosterbibliotheken von einem Zusammen-
hange nicht wohl die Rede sein.
Wie in den unzähligen Kirchen und Klöstern, die mit dem Vordringen
des Christentums sich über die Länder breiten, ganz allgemein und aus
dem nächsten Bedürfnis der Kleriker heraus Bibliotheken entstehen und
aufblühen ; hier beschränkt auf die biblischen Bücher und die Väter,
dort auch die weltliche Literatur und vornehmlich die Werke der „er-
leuchteten Heiden" als Unterrichtsmaterial duldend oder in stiller Neigung
pflegend; genährt hier durch die pflichtmäßigen Gaben der Novizen und
durch Geschenke frommer Gastfreunde und Gönner, dort eifrig und plan-
voll durch Abschrift und Kauf vermehrt; in ihrem Umfang alle Stufen
aufweisend von dem Dutzend liturgischer Bücher in armen Häusern
bis zu dem Reichtum von Monte Cassino und Bobbio, von Fleury und
Corbie, von Canterbury und York, von Reichenau und St. Gallen, von
Fulda und Corvey; wie diese Bibliotheken, häufig die Stützpunkte ange-
sehener Schulen, eine um so stärkere Wirkung entfalten, als außerhalb
35*
548
Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
ihrer Mauern ein nennenswerter Bücherbesitz nur sehr selten anzutreffen
ist; und wie sie schließlich aus den Zeiten sorgsamster Pflege und höchster
Wertschätzung, wo das Claustrum sine armario quasi casirum sine arma-
ineiifiirio aufkommt, mit dem sittlichen und wissenschaftlichen Verfall der
Klerisei zu der tiefen Vernachlässigung herabsinken, die uns in den Klagen
Richards de Burj^ und Poggios so anschaulich entgegentritt und die Boc-
caccio bei seinem Besuche in Monte Cassino zu Tränen zwingt: das alles
ist für die Geschichte der Bibliotheken und ihrer Bedeutung für die Kultur
von höchstem Interesse. Vergebens aber würde man in der Verwaltimg
jener armaria, die ihre Bücher mit Ketten an die Pulte schließen und
nur ausnahmsweise, jedenfalls nicht ohne Hinterlegung eines vollwertigen
Pfandes einen Band zum Studium oder zur Abschrift ausleihen, nach
Ansätzen suchen, von technischen Dingen natürlich abgesehen, die in
ihrer Entwicklung zur modernen Bibliothek hinüberführen. Nichts wesent-
lich anderes aber läßt sich von den Bibliotheken der mittelalterlichen
Universitäten sagen, die zwar hier und da einen etwas freieren Zug
zeigen, — so wenn sie nach dem Vorgang der berühmten Stiftung Roberts
de Sorbona den geschworenen Inhabern des Schlüssels zur Bibliothek die
Einführung rechtschaffener Fremder gestatten — , in der allgemeinen Auf-
fassung ihrer Aufgabe jedoch, wie das auch bei dem damaligen Unter-
richts- und Wissenschaftsbetrieb nicht wundernehmen kann, sich über die
Kirchen- und Klosterbibliotheken kaum merklich erheben.
Humanismus und Mit dem ausgehenden Mittelalter allerdings beginnt, wenigstens so-
Reforination. . . ^ . n • k r a
weit das äußere Bild in trage kommt, eine Zeit großartigen Autschwungs.
Die Renaissance rettet, wie schon berührt, mit dem Schatz der antiken
Überlieferung den Gedanken der dem gemeinen Nutzen bestimmten Biblio-
thek, und ihre „beiden großen Passionen, Bücher und Bauten", gewinnen
dauernden Ausdruck in einer Reihe glänzender Bibliotheken, die über die
Grenzen Italiens hinaus ■ — man denke an die berühmte Schöpfung des
Königs Matthias Corvinus zu Ofen — für neue Gründungen vorbildlich
werden; die Reformation, hierin mit dem Humanismus zusammentreffend,
fordert das freie und vorurteilslose Studium der Überlieferung, und ein-
dringlich mahnt Luther, „das man fleys und koste nicht spare, gutte
librareyen odder bücherheuser, sonderlich ynn den grossen stedten, die
solichs wol vermügen, zu verschaffen"; in demselben Grade, in dem der
Klerus sich den Studien entfremdet hat, sind wissenschaftliche Bildung
und damit wissenschaftliche Bedürfnisse in die Laienkreise gedrungen; die
Erfindung des Buchdrucks hat die Möglichkeit des Erwerbens und Sam-
meins ins ungeahnte gesteigert; die Städte sind wirtschaftlich und politisch
erstarkt, Bürgerstolz und bürgerlicher Gemeinsinn sind erwacht; die Landes-
hoheit hat sich kraftvoll befestigt, und das auf diesem Fundament in den
protestantischen Territorien im Anschluß an die neue Lehre errichtete
landesherrliche Kirchenregiment zieht den gelehrten Unterricht, die Reform
der alten und die Gründung neuer Universitäten in den Kreis seiner Auf-
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. j^^g
gaben: der Bücherbesitz in den Händen Privater, so oft der Anfang und
Grundstock öffentlicher Bibliotheken, wächst gewaltig; aus den aufge-
hobenen Klöstern und Stiftern ergießt sich eine Fülle wertvoller, halb
vergessener Bücher an das Licht des Tages, und allerorten stehen ver-
lassene Ordenshäuser den neuen Herren, den Fürsten und Städten, zu
freier Verfügung: das etwa sind die Grundlagen, auf denen die lange
Reihe der heutigen Stadt-, Hof- und Universitätsbibliotheken sich er-
hebt, die ihr Dasein aus dem 15. und 16. Jahrhundert herleiten. Eine
diesem Aufschwung entsprechende Steigerung des inneren Lebens der
Bibliothek, der Erkenntnis ihrer Fähigkeiten und Aufgaben läßt sich indes,
wenn man von dem schnell verflackerten Feuer absieht, das der italienische
Humanismus entzündet hatte, nicht nachweisen. Das Gebiet, das hier in
Betracht kommt, ist freilich so schwer zu übersehen und die Fülle der
Verschiedenheiten von Ort zu Ort so groß, daß ein zusammenfassendes
Urteil auf unbeschränkte Geltung keinen Anspruch erheben kann. Unter
solchem Vorbehalt kann aber doch festgestellt werden, daß die Bibliothek
während dieser Ära der großen Gründungen im Verhältnis zu der starken
Betonung ihrer Wichtigkeit durch die geistigen Fülirer der neuen Zeit in
ihrer inneren Entwicklung auffallend geringe Fortschritte gemacht hat.
Die Bibliotheca publica begegnet jetzt allerdings oft; im allgemeinen be-
steht aber die Öffentlichkeit nur darin, daß nach dem bereits erwähnten
Brauch bestimmte Personen, deren Interessen es zu fordern scheinen, unter
bestimmten Voraussetzungen den Schlüssel zur Bibliothek erhalten, und
daß auch sonst die Benutzung, wie dies übrigens die Bibliotheken der
geistlichen Körperschaften nicht anders gehalten haben, dem durch seinen
Beruf Legitimierten nicht leicht versagt wird. Aber noch ist in der Regel
von der Hinterlegung eines Pfandes bei der Entleihung die Rede, noch
werden schwerfällige Vorsichtsmaßregeln beobachtet, und noch ist es
keine Ausnahme, wenn es in dem Marburger Statutenentwurf von 1559
heißt: Libri sint alligati catenis. Auch in dem wichtigsten Punkte, in
der Ausstattung mit regelmäßigen Einnahmen zur Erhaltung und Ver-
mehrung der Sammlung, bleibt es bei vereinzelten Bemühungen, die weder
Bestand noch Nachfolge haben und kaum als eine Fortbildung der schon
hier und da bei den mittelalterlichen Korporationsbibliotheken anzutreffen-
den Ansätze angesehen werden können. Von einer stetigen , an bestimmte
Gesetze gebundenen Verwaltung ist überall wenig zu merken, und wo im
Eifer der Gründung oder des neuen Besitzes eine unternehmende Ordnung
erlassen oder gar eine bestimmte Dotierung vorgesehen wird, da ist es in
der Regel auffallend zu beobachten, wie vieles auf dem Papier bleibe und
wie bald mit verheißendem Anlauf begonnene Neuerungen in Vergessen-
heit geraten.
Und bei diesem zögernden Gange der Entwicklung bleibt es noch ^\lh J**"'
sehr lange. So berührt es trotz der glänzenden Anfänge in der Renais-
sance kaum noch befremdlich, wenn wir im Ausgang des 16. Jahrhunderts
cco Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
sehen, wie selbst ein so gefeierter Gelehrter wie Guido Panciroli sich
über die Schwierigkeit des Zutritts zu den sogenannten öffentlichen
Bibliotheken Italiens zu beklagen hat. Und noch bezeichnender ist,
wie die Zugänglichkeit der drei großen Bibliotheken, die der Beginn
des 17. Jahrhunderts erstehen sieht, der Bodleiana in Oxford, der Ange-
lica in Rom und der Ambrosiana in Mailand, von den zeitgenössischen
Gelehrten als die Betätigung unerhörter, noch nicht dagewesener Groß-
herzigkeit gepriesen wird, zumal wenn man sich an dem Beispiel
der bedeutendsten dieser Schöpfungen klar macht, worin die Neuheit
Bodleiana in besteht. Sir Thomas Bodley hat bestimmt, daß seine Sammlung täglich,
Oxford (1602). ^ et o
wenigstens im Sommerhalbjahr, von acht bis elf und von zwei bis fünf
oifen stehen soll. Allerdings ein gewaltiger Fortschritt. Aber: „Da die
mannigfachen Beispiele früherer Zeiten", so heißt es in den Satzungen,
„bei der hiesigen Universität sowohl als an anderen Orten des Landes
allzuoft gezeigt haben, wie das häufige Ausleihen von Büchern eine Haupt-
ursache des Verfalls und der Vernichtung so mancher berühmten Bibliothek
gewesen ist, so wird hiermit angeordnet und ist als unabänderliche Be-
stimmung zu beachten, daß aus keinerlei Rücksicht, Vorwand oder Anlaß
jemals ein Band, er sei angekettet oder nicht angekettet, irgend jemand,
gleichviel welches Standes oder Berufes er sei und gleichviel welche
Bürgschaft oder Sicherheit er bieten mag', überantwortet oder geliehen
werde." Überdies wird der Zutritt beschränkt auf die Graduierten der
Universität und die Stifter, und weiter hat jeder Zugelassene jeglichen
Mißbrauch der Erlaubnis mit einem heiligen Eide zu verschwören. Man
sieht an diesem Beispiel, das gewiß in dem Bilde des damaligen Biblio-
thekswesens einen, wenn nicht den Höhepunkt bezeichnet, wie weit der
Begriff der öffentlichen Bibliothek noch von der modernen Auffassung
entfernt ist. Und wenn wir, als die Bibliothek ihr erstes Jahrhundert über-
wunden hat, den Bibliothekar klagen hören, wie das von Bodley der Uni-
versität zur Bezahlung der Beamten und zum Ankauf neuer Bücher hinter-
lassene beträchtliche Vermögen durch Unredlichkeit und Mißgeschick so
heruntergebracht sei, daß es nur eben noch die Gehälter bringe, so
haben wir, ohne uns von der Bodleiana zu entfernen, ein typisches
Beispiel für die übrigens bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein an-
dauernde Unsicherheit der materiellen Grundlagen für die Entwicklung
des Bibliothekswesens. Kaum weniger lehrreich ist das Beispiel der um
Mazarine in vierzig Jahre jüngeren Mazarine, die noch heute durch die Inschrift
Publicarum in Galita primordia daran erinnert, wem Frankreich die
erste öffentliche Bibliothek verdankt. Als Mazarin 1643 das Hotel Tubeuf
mit seiner kostbaren Sammlung wöchentlich einmal, am Donnerstag von
acht bis elf und von zwei bis fünf, öffnet und zwar ohne Einschrän-
kung ä tous ceux qui y veulent aller estudier, da wird dies als eine bis-
her vollkommen unbekannte Wohltat empfunden und gepriesen, und von
Anbeginn zählt man achtzig bis hundert Personen, die gleichzeitig von
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. s ^ I
der Erlaubnis eifrigsten Gebrauch machen. Doch schon nach wenigen
Jahren treibt die Fronde den Kardinal ins Exil; seine Bibliothek wird auf
Befehl des Parlaments in alle Winde zerstreut, und es kommt das Ende
des Jahrhunderts heran, bis] die mit ebensoviel Glück wie Mühe rekon-
struierte Sammlung wieder dem Publikum geöffnet wird. Lehrreich aber
ist dieser Fall nicht allein für die Kenntnis der Entwicklung des Begriffs
der öffentlichen Bibliothek — wobei nicht vergessen werden darf, daß der
Schauplatz der vornehmste Sitz gelehrter Studien im damaligen Europa
ist, daß Mazarin sich durch Rücksicht auf die Kosten schwerlich hat ein-
schränken lassen und daß schließlich der von ihm mit der Obhut der
Sammlung betraute Gabriel Naude einer der vortrefflichsten Bibliothekare
ist, die jemals gelebt haben — , sondern lehrreich auch insofern, als er
einen Zug zur Anschauung bringt, der in der Geschichte der Bibliotheken
bis in die jüngste Vergangenheit hinein stark hervortritt, nämlich die ver-
derbliche Rückwirkung politischer Stürme und Unruhen auf ihr Dasein
und Gedeihen.
Tatsächlich ist Mabillons „Sunt sua fata etiam bibliothecis" geeignet. Die deutschen
. . , A •! 1 1 Bibliotheken
eine unrichtige Vorstellung zu erwecken; denn der Anteil, der an dem und der
jojälirige Krieg.
allgemeinen Wechsel der Dinge den Bibliotheken beschieden gewesen ist,
geht weit über das Durchschnittsmaß hinaus. Wenngleich nicht alle Zeiten
dies so reich illustrieren wie das 17. Jahrhundert und hier wieder nicht
alle Länder so eindringlich wie Deutschland, dessen Bibliotheken vom
Dreißigjährigen Krieg viel Trauriges zu erzählen wissen. Wie die Schätze
der Palatina über die Alpen wandern — „jamais mulets ne porterent une
plus precieuse Charge" — und wie schwedische Schiffe ganze Bibliotheken
nach dem Norden entführen, das bleibt unvergessen. Trotzdem kann diese
Zeit auch für die Entwicklung der deutschen Bibliotheken nicht als durch-
aus ungünstig bezeichnet werden. Die gründliche Verschiebung, die der
Bücherbesitz erfährt, drängt zu neuer Ordnung der veränderten Ver-
hältnisse, und es ist natürlich, daß die freier gewordenen Anschauungen
der Zeit sich in der Neuordnung zum Ausdruck bringen, wobei der jetzt
überall bemerkbare starke Zug zur Büchergelehrsamkeit mit seinem ge-
steigerten Literaturbedürfnis g-ünstig mitwirkt. Auch erweist sich das
kräftige Wachstum, das die landesherrliche Gewalt aus dieser Zeit zu ver-
zeichnen hat, dem Bibliothekswesen als forderlich, indem dies die Quelle
ist, aus der die jetzt häufiger als früher bei den Regierenden anzutreffende
nachhaltige Fürsorge für die Interessen der Wissenschaft ihren Ursprung
nimmt. Es mehren sich die Versuche, Bestand und Gedeihen der Biblio-
theken durch Zuweisung bestimmter Einnahmen zu sichern, und der Begriff
der Öffentlichkeit macht merkliche Fortschritte. Aus seinem Hauptquartier Kurfürstliche
' ^ Bibliothek in
Viborg in Jütland, medios inter proeliorum strepitus, victoriarum cursum, Berlin (1661).
erläßt 165g der Große Kurfürst jene Verordnung, in der heute die größte
Bibliothek Deutschlands ihre Geburtsurkunde verehrt; die neue Auffassung
der Dinge aber kommt nicht allein darin zum Ausdruck, daß die junge
S-C.2 Frit/. Milkau: Die Bibliotheken.
Anstalt, der allgemeinen Benutzung vermutlich von Anbeginn zugänglich,
bald sogar alltäglich geöifnet wird und daß den kurfürstlichen Dienern
geistlichen und weltlichen Standes sowie anderen in der Hauptstadt ange-
sessenen und bekannten Männern ohne große Schwierigkeit Bücher nach
Hause geliehen werden, sondern auch in der Zubilligung regelmäßiger Ein-
künfte, wenn dieselben in der Hauptsache auch nur in den Gefällen be-
stehen, welche ungeduldige Brautpaare für den Dispens vom mehrmaligen
Augusta in Aufgebot ZU entrichten haben. Und nicht vergessen werden "darf das
°i644). glänzendste Beispiel aus dieser Zeit. „Inmitten der Schrecken des 30jäh-
rigen Krieges" hat mit glühendem Sammeleifer, aber auch mit einem
für alle Zeiten bewunderungswürdigen Plan und Verständnis Herzog August
in Wolfenbüttel aus dem Nichts eine Bibliothek geschaffen, die alle übrigen
der damaligen Welt an Bedeutung überragt, und als nach seinem Tode
1666 David Hanisius die Aufsicht über die Sammlung erhält, da wird be-
fohlen, die Bibliothek solle täglich von acht bis elf und von zwei bis vier
oder fünf für Einheimische und Fremde geöffnet sein.
DieUniversitäts- Solchcn Vorgängen gegenüber mutet es zunächst etwas befremdlich
an, wenn man sich z. B. in Marburg erst 1680 entschließt, auch dem
Studenten bei gehöriger Bürgschaft Bücher nach Hause zu geben; oder
wenn die Baseler Bibliotheksordnung von 1681 zwar die Neuerung einer
bestimmten Öffnungszeit bringt, sich aber trotz der verheißungsvollen
Einleitung „Ne vero thesaurus iste humi defossus lateat" nur zu wöchent-
lich zwei Stunden, am Donnerstag von eins bis drei, aufschwingen kann,
wofür dann der Studiosus noch einmalig eine bestimmte Summe zu
zahlen und überdies alljährlich zu Neujahr den Bibliothekaren ein hono-
rarium nach eigenem Ermessen zu verehren hat; oder wenn in der näm-
lichen Baseler Ordnung von der Ergänzung der Bibliothek also hoffnungs-
los gesprochen wird: „Si numerus librorum ex Bibliothecae reditibus per
emptionem augeri possit", während wiederum der Marburger Senat noch
im Anfang des 18. Jahrhunderts die der Bibliothek zum Ankauf von Büchern
zustehenden Gelder zur Aufbesserung der Professorengehälter zurücklegt
und dem alljährlich drängenden Bibliothekar jedesmal antwortet: „man
müsse zuvorderst die lebenden Bibliothequen versorgen"; oder wenn um
dieselbe Zeit die Bollandisten bei ihrer Durchforschung der Wiener Uni-
versitätsbibliothek die Bücher „schockweise übereinander liegend und unter-
schiedliche daraus halb verfaulet, andere per ipsum non usum in Staub
zerfallen" finden; oder wenn wir schließlich erfahren, daß aus der Rostocker
Universitätsbibliothek in der Zeit von 1650 — i6qo durchschnittUch nicht
mehr als siebzehn bis achtzehn Werke im ganzen Jahr zur häuslichen Be-
nutzung entliehen werden. Aber wir erinnern uns, wie jetzt, d. h. um die
Wende des 17. Jahrhunderts, die Universitäten, auf den Tiefstand ihrer
Entwicklung gesunken, immer noch im mittelalterlichen Lehrbetrieb stecken,
und finden es begreiflich, daß diese Lage in der Verwaltung ihrer Biblio-
theken zum Ausdruck kommt.
n. Wie die Bibliotheken geworden sind. 555
Es wäre indes ein Irrtum, wollte man den an sich mäßigen Fortschritt in« FiirjtUche i
. ^_^ Bibliotheken.
in der Auffassung vom Wesen der öttentlichen Bibliothek, wie er sich an
den Fürstlichen Höfen, jetzt den Stützpunkten der modernen Bildung,
bemerkbar macht, als ein sicheres, in der Anschauung der Zeit fest
beruhendes Ergebnis buchen; denn nirgends fehlt es an Perioden stark
rückläufiger Entwicklung, ohne daß die Erklärung immer in dem Zwang
der äußeren Verhältnisse gegeben wäre. Im allgemeinen nimmt die Fürst-
liche Bibliothek im Staatshaushalt noch keine andere Stelle ein als etwa
das jetzt aufkommende Münzkabinett oder die Antiquitätenkammer, wie
man denn auch nicht versäumt, die Büchersäle mit etlichen Raritäten —
so die Luftpumpe Otto von Guerickes in Berlin, die Globen des Guiliel-
mus Blaeuw in Wolfenbüttel usw. — aufzuputzen. Überaus sprechend
sind in dieser Beziehung die zahlreichen aus jener Zeit stammenden Kupfer,
welche Innenräume von Bibliotheken darstellen. Da sieht man regelmäßig
den lichten Saal, an den Wänden in hohen Gestellen die Bücher, in der
Mitte ein paar Tische mit Globen und Folianten, und, in kleine Gruppen
anmutig verteilt, zierliche Herren und Damen, die den Raum schlendernd
durchmessen, diskurierend und um sich blickend, wie man eben Sehens-
würdigkeiten genießt. Untergebracht wird die Sammlung etwa in einem
aufgegebenen Schloß oder in einer Orangerie, einem alten Marstall usw.
Ist an der maßgebenden Stelle die Passion vorhanden oder bietet sich
eine besonders günstige Gelegenheit, so gibt es einen Zuwachs durch
Kauf, sonst nicht.
Nichts aber beleuchtet diese Lage der Dinge schärfer als die Arofu- Leibnir
. T •,_ • r ■ (1646-1716)
mente, die Leibmz, i6qo für die berühmte Augusta zu Wolfenbüttel „zum ■■»'s <="'" vcr-
^ treter des
directore angenommen", den Herzögen und ihrem Minister in immer Gedankens
der modernen
wechselnden Wendungen vorträgt, um die ihm anvertraute Sammlung zu Bibliothek.
fördern: Eine Bibliothek, wie schön sie auch sei, gehöre unter die Dinge,
quae ser\'ando tantum servari non possunt; gleich dem Feuer und Leben
müsse sie ein stetes aliment und Zuwachs haben, indem sie bald herunter-
komme, wenn man die guten neuen Bücher in zulänglicher quantitate et
qualitate nachzuschaffen unterlasse; eine wohl versehene Bibliothek sei für
ein rechtes Magazin dienlicher Nachrichten zu halten; insonderheit aber
erscheine derselben Nutzen bei Administrierung der lieben Justiz, bei Be-
hauptung göttlicher Wahrheit und guter Polizei gegen allerhand Irrtümer
und barbarisches Wesen, zu welchem Zweck auch Kirchen und Schulen
gerichtet würden, denen eine vollständige Bibliothek „als eines der größten
Instrumenten, und sozusagen als ein Zierrat stummer . . . Lehrer" fürnehm-
lich die Hände biete; daher genüge es nicht, große Bibliotheken zu be-
sitzen, sondern man müsse sie auch vermehren und in gutem Stande er-
halten. Wenn Leibniz diese Anschauung wieder und wieder geltend
machen muß, und zwar, was wohl zu beachten ist, gegen Fürsten, die
schon durch die Berufung des berühmten Mannes gezeigt haben, daß ihnen
der Glanz der Sammlung am Herzen liege, so erhellt daraus, daß der Ge-
-- , Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
danke für die Zeit etwas Ungewöhnliches hat, wie er denn auch, als klare
Programmforderung, in der Tat hier zuerst auftritt. Und kaum weniger
charakteristisch als die Art, wie Leibniz seine Anträge begründet, ist der
Erfolg, den er erreicht: auf mindestens looo Taler hat er den Jahresbedarf
für Anschaffungen veranschlagt; nach zehn Jahren fortgesetzter Bemühungen
werden 200 ausgeworfen, ein Etat, der beiläufig bis 1835 unverändert bleibt;
vollständig ergebnislos dagegen sind seine gleichfalls immer von neuem
wieder aufgenommenen Bemühungen, wenigstens für ein Zimmer in der
Bibliothek Heizung und Beleuchtung durchzusetzen: „car le froid et le soir
servent de pretexte en hyver pour ne rien faire". Und auch hier ist es
interessant gleich zu erfahren, daß erst das Jahr 1833 die Erfüllung seines
Wunsches bringt.
Es füg-t sich gut zu dem Bilde, das uns Hamacks Meisterhand von
dem prophetisch die Aufgaben der Wissenschaft vorausschauenden Geiste
Leibnizens gezeichnet hat, wenn wir sehen, wie er hier mit voller Klar-
heit die Gedanken herausstellt, die der modernen Auffassung von dem
Wesen der Bibliothek zugrunde liegen: Ihr Dasein hat, nicht anders wie
Kirche und Schule, ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit in den Be-
dürfnissen des Staates und der Gesellschaft; sie erhalten heißt sie ver-
mehren; ihr Nutzen ist abhängig von ihrer Zugänglichkeit, die darum auch
durch natürliche Hindernisse wie Kälte und Dunkelheit nicht beeinträchtigt
werden darf.
Das 18. Jahr- Fast überrascht es, wenn man jetzt weiter beobachtet, wie unwirksam
zunächst diese Anregungen bleiben und wie noch reichlich anderthalb
Jahrhunderte hingehen, bis sie allgemein aufgenommen sind. Womit
indes nicht gesagt sein soll, daß diese Zeit für die Bibliotheken eine Pe-
riode des Stillstandes gewesen wäre. Im Gegenteil ist dies gerade für
diejenigen unter ihnen, die heute an der Spitze marschieren, recht eigent-
lich die Zeit der Konsolidierung: einerseits hat kein Jahrhundert, und das
gilt für Frankreich und England ebenso wie für Deutschland, solch eine
Fülle reicher Privatsammlungen entstehen und schließlich in die öffent-
lichen Bibliotheken sich ergießen sehen wie das achtzehnte — man erinnere
sich für Deutschland der Namen Bünau, Brühl, Ponickau, Uffenbach usw. — ,
und andrerseits haben die Stürme, die um die Wende des Jahrhunderts
Europa erschütterten, indem sie die Selbständigkeit einer Unmenge klei-
nerer Sammlungen von großen Herren und Städten, Klöstern und Stiftern,
Universitäten und Akademieen vernichteten, den überdauernden Bibliotheken
Lebens- und Leistungsfähigkeit bedeutend gestärkt und damit nicht un-
wesentlich die Entwicklung des Bibliothekswesens gefördert. Wobei man
freilich, soweit Frankreich in Betracht kommt, billig zweifeln darf, ob die
Konzentration der Bücherschätze der Wissenschaft durchaus zum Heile
gewesen; denn daß die zwei Millionen Bände, eine für jene Zeit ungeheure
Zahl, die damals aus den Provinzen nach Paris zusammengezogen wurden,
zu der ungesunden Zentralisierung des geistigen Lebens in diesem Lande
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. 555
das Ihrige beigetragen haben, scheint außer Frage. Und durch ein anderes
noch zeigt sich die Zeit dem Bibhotheksvvesen günstig: das ist die mit
der enzyklopädischen Richtung Hand in Hand gehende Neigfung zur
BibHographie und Gelehrtengeschichte, die gleichmäßig der Ordnung und
Sichtung des Vorhandenen wie der Sammeltätigkeit zugute kommt und
uns mit Werken beschenkt hat — man denke an die Maittaire, Georgi,
Jöcher, Panzer und wie sie alle heißen — , deren Wert unvergänglich scheint.
Nahezu unbeweglich dagegen bleibt die allgemeine Auffassung vom
Wesen der Bibliothek, wie das auf den Höhen nicht minder zu beobachten
ist wie in der Niederuner. Die Bibliotheque du Roi, der der Ruhm der Bibiiotii.^quc du
*^ * Roi in Paris
größten Bibliothek der Welt immer nur vorübergehend streitig gemacht (öffentlich 1735).
worden ist, öffnet 1735 ihre Pforten: tous les S9avans de toutes les nations
sind willkommen, aber nur Dienstags und Freitags in den Vormittags-
stunden, und dabei bleibt es bis zum Untergang des alten Regimes. Die
denkwürdige Parlamentsakte von 1753 legt den festen Grund für den ^ Biwiothek
Kolossalbau des Britischen Museums, der einzigen Bibliothek, die sich , ^'u^eums
' ° ' (eri)ffnet 1-59).
heute der von Paris zur Seite stellen darf; aber mehr als ein halbes Jahr-
hundert geht vorüber, bevor das Parlament sich entschließt, seine bis da-
hin auf Geschenke und Pflichtexemplare angewiesene Schöpfung mit einer
Bewilligung zu bedenken. Für Deutschland aber wird diese Dürftigkeit ^'ü.üoth^ken''
des Wachstums der allgemeinen Erkenntnis von den Aufgaben der Biblio-
thek noch auffälliger dadurch, daß hier zwei Ereignisse zu verzeichnen
sind, die, so sollte man annehmen, gerade in dieser Richtung auf das
günstigste hätten wirken müssen. Das ist einmal jener tiefgreifende
Wandel, den seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts der Wissenschafts-
und Lehrbetrieb an den Universitäten durch die Aufnahme der Wolffischen
Philosophie erfährt, indem an die Stelle des scholastisch gebundenen Den-
kens das unbefangene Suchen nach Wahrheit und an die Stelle des alten
trndere die Schulung zur freien Forschung tritt. Und zweitens ist es, Göuingen
'begründet 1735;
noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die Begründung und das schnelle erste modern«
. Bibliothek.
Aufblühen der Universitätsbibliothek m Gottmgen, d. h. der Bibliothek,
die von Anbeginn die das damalige Bibliothekswesen beherrschenden
Mächte, die Passivität und den Zufall, ausschließt und damit den Anspruch
auf den Ruhmestitel der ersten modernen Bibliothek der Welt gewinnt.
Von Anbeginn sorgt man für „einige beständige Zuflüsse", die durch nahezu
ebenso beständige außerordentliche Beihilfen um das Mehrfache verstärkt
werden; von Anbeginn baut man den Grundstock nach festem Plane aus,
wobei unter Verzicht auf Liebhaberei und Luxus in allen Wissenschaften
vornehmlich auf „das Nützliche" gesehen wird; von Anbeginn sieht man
den größten Vorteil der Bibliothek „in dem freyen und unbeschwerten
Gebrauch", weshalb sie täglich für jedermann geöffnet ist, sei es zum Lesen
sei es zum Entleihen; von Anbeginn oder doch nach kurzem Tasten schafft
man technische Einrichtungen, die, nach der gegenwärtigen Kenntnis der
Dinge für ihre Zeit vollkommen neu, in ihren wesentlichen Stücken noch
-c() Fritz Milk au: Die Bibliotheken.
heute nicht übertroffen sind: man stellt die Bücher in genau der Ordnung
auf, in der sie im systematischen Katalog verzeichnet sind, so daß das
sachlich Zusammengehörige beisammen steht und beisammen bleibt, und
man gibt im alphabetischen Katalog jedem Verfasser ein Blatt für sich,
wodurch bei der Möglichkeit der Einschaltung neuer Blätter seine Dauer
nahezu unbegrenzt wird; und von Anbeginn schließlich ist man sich dabei
der eigenen Ausnahmestellung vollkommen bewußt, wie auch der „unbe-
schreibliche Vortheil", der für Lehrende und Lernende aus der neuen Ord-
nung der Dinge fließt, frühzeitig hervorgehoben wird.
Frh. V. Münch- Der Mann, dem die Überlieferung einmütig das Hauptverdienst an
(i6ss— 17701 dieser glänzenden Schöpfung zuschreibt, ist der erste „Pflegevater" der
Güttinge''rBfbiio- neuen Universität, der Freiherr Gerlach Adolf von Münchhausen. Im
beeMußt?" Jahre 1 7 1 5 war er aus sächsischen Diensten als Königlich Großbritannischer
und Kurfürstlich Hannoverscher Oberappellationsrat nach Celle gekommen,
ein Jahr bevor Leibniz in Hannover aus dem Leben schied. Eine persön-
liche Berührung der beiden ist trotz des großen Altersunterschiedes keines-
wegs unwahrscheinlich. Und wie es das Amt des Bibliothekars war, das
zu übernehmen Leibniz vor vier Jahrzehnten in Hannover eingezogen
war, so war es die Bibliothek, die seine letzten Tage beschäftigte; wenig-
stens berichtet uns Eckhart, wie seine letzte Arbeit ein Entwurf über die
gute Einrichtung einer Bibliothek gewesen sei, bestimmt für den Statt-
halter von Erfurt, den Grafen Philipp Wilhelm von Boineburg, der der
Universität Erfurt seine vortreffliche Büchersammlung mit einem Fonds
zu ihrer Unterhaltung und Vermehrung geschenkt hatte. Möglich also,
daß einmal d. h. wenn wir von Leibniz so viel wissen als wir längst wissen
sollten, zwischen der Theorie Leibnizens und der Praxis Münchhausens
ein Zusammenhang festgestellt wird. Wie dem aber auch sei, das Selt-
same bleibt bestehen, daß auch das lebendige Beispiel, gegeben von der
führenden Universität, das ganze Jahrhundert hindurch eine erkennbare
Wirkung auf die übrigen Bibliotheken des Landes nicht ausübt. Bis zu
seinem 1770 erfolgten Tode, ja über den Tod hinaus sorgt Münchhausen
für die Bibliothek mit demselben unermüdlichen Eifer, man müßte sagen
mit derselben väterlichen Liebe, derart daß er nach der ansprechenden
Schilderung Johann David Michaelis' „jedem alles Gute gönnete, nur nicht,
Job. Matth. daß er etwas haben sollte, das Göttingen nicht hätte". In Gesner und Heyne,
(1691-T7611. den Erneuerern der griechischen Studien, hat er das Glück, für die junge
^Heyne ° Austalt Leiter zu finden, die als Bibliothekare immer unübertroffen dastehen
werden, und in Schlüter, dem ehemaligen Aufseher der Bülowschen Biblio-
thek, jenen einzigen Spürer und Helfer, von dem MichaeHs berichtet, „daß
er Auctionscatalogos mit der Empfindung las, mit der ein Poet Hallers
Gedichte liest". Ein halbes Jahrhundert alt, im Jahre 1787, stellt sie sich
mit ihren 120000 Bänden, ohne in Deutschland ihresgleichen zu finden,
neben die ersten Bibliotheken Europas, die sie, was Kataloge, Ordnung
der Bestände und Zugänglichkeit angeht, ausnahmslos weit übertrifft. Was
(1729 — 1812).
II. Wie die Bibliotheken geworden sind.
557
1802 von ihr mit Stolz als allgemein bekannt berichtet wird, „daß sie die
gemeinnützigste und am meisten benutzte Bibliothek auf der Welt sey",
das trifft jetzt bereits zu. Von fern und nah wird ihre Hilfe in Anspruch
genommen; Herder nennt die Göttinger Professoren die „reichen Herren
an voller Tafel", und in vielgelesenen Büchern wird ihr Ruhm ver-
kündet. — Wie aber sieht es unterdes in der Nachbarschaft aus?
Da ist zunächst Halle, die besuchteste Universität des 1 8. Jahrhunderts,
die Universität, von der im Beginn des Jahrhunderts das Licht aufgestrahlt
war, dem die deutschen Universitäten zu danken haben, daß sie geworden
sind, was sie sind. Hier finden wir 1768 die Bibliothek in drei Zimmern der
Städtischen Wage untergebracht. Zweimal in der Woche wird sie auf zwei
Stunden geöffnet. Ihre gesamte Jahreseinnahme beträgt siebzig bis achtzig
Taler. „Wie es möglich gewesen ist", schreibt 1776 Michaelis, „daß eine Uni-
versität bey diesem Mangel das hat werden können, was Halle viele Jahre
hindurch gewesen ist, könnte beynahe eine Aufgabe der Philosophie über
die Literairgeschichte seyn." Alsdann Leipzig: 1778 schlägt der Studiosus
Karl August Böttiger ein lateinisches Epigramm In bibliothecam Acade-
iniae Lipsicnsis öffentlich an: grausig sei der Tartarus, grausig Cerberus
mit seinem dreifachen Rachen; aber Tag und Nacht sei doch der Weg
zu ihnen frei; grimmiger also als der finstere Herrscher der Unterwelt sei
jener Mann, der die Pforte zum Tempel Apollos verschlossen halte, um
sie kaum einmal für eine Stunde zu öffnen. Selbst die bescheidene Zu-
gänglichkeit von zweimal zwei Stunden wöchentlich, zu der man sich 17 11
entschlossen hatte, scheint hiemach zuweilen nur auf dem Papier gestanden
zu haben. Von einer planmäßigen Vermehrung aber, ja von einer Ver-
waltung überhaupt ist kaum die Rede. Und so bleibt es bis zum Jahre
1831. In Marburg sehen wir nicht ohne Staunen die Bibliothek 1779 — 1789
von einem Manne verwaltet, der sie aus Rücksicht auf seine Gesundheit
im Winter nicht öffnet. Das sieht man sich ruhig zehn Jahre lang an, und
auch dann hätte man sich noch kaum darüber beschwert, wäre nicht aus
anderen Gründen ein Anlaß zur Beschwerde willkommen gewesen. Und wie
es in Jena um die Wende des Jahrhunderts aussieht, das berichtet uns
Goethe mit seiner ganzen Anschaulichkeit: „Zu den vor dreihundert Jahren
gestifteten Anfangen hatte sich nach und nach eine bedeutende Zahl von
einzelnen Büchersammlungen, durch Vermächtniß, Ankauf und sonstige
Contracte, nicht weniger einzelne Bücher auf mannichfaltigc Weise gehäuft,
daß sie flötzartig in dem ungünstigsten Locale bei der widerwärtig.sten,
gToßentheils zufälligen Einrichtung über- und nebeneinander gelagert standen.
Wie und wo man fein Buch finden sollte, war beinahe ein ausschließliches
Geheimniß mehr des Bibliothekdieners als der höheren Angestellten." Und
so weiter. Das alles sind nur Einzelheiten, aber doch Einzelheiten, die
ein scharfes Licht auf die Universitätsbibliothek des 1 8. Jahrhunderts werfen
und das bekannte Urteil des trefflichen Friedrich Adolf Ebert aus dem
Jahre 181 1 begreiflich machen: „Was sind die mehresten unserer akade-
Bei den anderen
Universitäts-
bibliotheken ein
EinflaB Güt-
tinjjcns nicht er-
Icennbar. —
Halle.
Leipzig.
Marburg.
Jena.
558
Fritz Mii.kau: Die Bibliotheken.
mischen Bibliotheken? Staubigte, öde und unbesuchte Säle, in denen sich
der BibUothekar wöchentlich einige Stunden von Amts wegen aufhalten
muß, um diese Zeit über — allein zu seyn. Nichts unterbricht die tiefe
Stille, als hier und da das traurige Nagen eines Bücherwurms." Mit
Lächeln nimmt man die tragische Einkleidung hin, die der damals Zwanzig-
jährige seiner Kritik gibt; an ihrer Berechtigung zu zweifeln ist darum
kein Grund.
EbeDsowcnigbei Und nicht viel besser ist es um diese Zeit mit den Fürstlichen und
den Fürstlichen ^, . . -,-... ' ,
und Städtischen Stadtischen Bibliotheken bestellt, wiewohl hier die zuweilen etwas reich-
licher fließenden Mittel und die hin und wieder anzutreffende Verwaltung
durch Berufsbibliothekare, wie wir heute 'sagen würden, d. h. durch
Männer, die die Arbeit im Dienste der Bibliothek als ihr eigentliches Amt
ansehen, das Gesamtbild etwas günstiger gestalten. Eine so glänzende
Ausnahme aber, wie sie Göttingen unter den Universitätsbibliotheken dar-
stellt, ist hier nicht zu finden, und im allgemeinen sind es auch hier noch
Zufall, Willkür, Laune, die dem Bilde die Signatur geben. Welch ein
Herzog!. Bibiio- frisches Leben z. B. in der Gothaer Bibliothek bis in die Mitte der vier-
thek in Gotha. • t i i 11 ■ r • >^ •
ziger Jahre: unter dem gelehrten und glaubenseifrigen Cyprian als
Direktor walten ihres Amtes drei Bibliothekare; nichts wird versäumt,
um die Sammlung auszubauen und ihre Schätze bekannt zu machen,
und täglich ist sie fünf Stunden lang dem Publikum geöffnet. Da rückt
nach dem Tode Cyprians 1746 der Antiquarius Schläger an seine Stelle.
Seine erste Tat ist, die Öffnung auf drei Tage mit je zwei Stunden ein-
zuschränken; bald kann er der Regierung melden, daß dem „vormaligen
übermäßigen Zulaufe bestmöglichst gesteuert worden", und in der Biblio-
theksordnung, die er 1774 entwirft, heißt es: „Wer ein Buch näher an-
sehen will, muß es sich vom Bibliothekar ausbitten, der es ihm dann vor-
Königiiche Zeigen, allenfalls auch darin zu lesen verstatten wird." Die Schöpfung
Bibliothek in /^ rt
Berlin. des Großeii Kurfürsten in Berlin, um noch dies eine besonders lehrreiche
Beispiel anzuführen, war fröhlich aufgeblüht, so daß Graevius es wagen
konnte, in der Widmung seines Lucian von 1687 zu rühmen, sie mache
Alexandria und Pergamon die Palme streitig. Aber noch ist sie nicht ein
halbes Jahrhundert alt, als ihre Entwicklung bereits gehemmt wird. Da
erlebt sie zunächst Bibliothekare, die die bescheidenen Einkünfte unter-
zubringen zu träge sind, ganze Jahre lang nichts kaufen und das Geld
thesaurieren. Und dann muß es sich fügen, daß der Soldatenkönig bei
einer Durchsicht der Rechnungen auf die Besoldungen dieser Männer
stößt. „Was seyn vor Besoldungen? Dieses weiß ich nicht" schreibt er
dazu. Die Gehälter werden gestrichen; solange er regiert, wird kein Buch
gekauft, und als 1723 sich ein auswärtiger Gelehrter bei einem der Biblio-
thekare nach einer Handschrift erkundigt, da schreibt ihm dieser zurück,
daß er nur sehr selten die Bibliothek betrete, sublato iam omni stipendio.
Auch in den ersten dreißig Jahren der Regierung Friedrichs des Großen
ruht der Bücherkauf vollständig. Was der Bibliothek von ihren regel-
II. Wie die Bibliolhelien geworden sind. ccn
mäßigen Einkünften nach allerlei kleinen Ausgaben übrig bleibt, führt sie
an den König ab, der um dringlichere Verwendung nie in Verlegenheit
ist. Dann freilich kommt wieder eine kurze Zeit des Aufschwungs ; mit
freigibiger Hand spendet der König jetzt namhafte Summen für Bücher-
ankäufe, um das Versäumte nachzuholen, zuletzt Jahr für Jahr 8000 Taler,
und im Frühjahr 1784 zeigt sie sich zum erstenmal in dem wundervollen Bau,
den er ihr errichtet hat und der ihr noch heute Unterkunft gewährt. Aber
wieder geht es bergab, als die großen Augen sich geschlossen haben.
Jahrelang wird der ihr jetzt zugemessene ordentliche Anschaffungsfonds
dazu verbraucht, um eine einheitliche Ordnung der nach ihrer Herkunft
in fünf gesonderten Sammlungen aufgestellten Bestände durchzuführen.
Immerhin gibt es indes noch ansehnliche Vermehrungen, wenngleich
wesentlich aus außerordentlichen Einnahmen. Mit dem Einbruch der un-
glücklichen Zeit aber fällt die Bibliothek in einen Zustand der Erstarrung,
aus der sie erst durch Wilhelm von Humboldt zu neuem, kraftvollerem
Leben erweckt wird. Und während desselben Zeitraums welch ein
Schwanken in der Praxis gegen die Benutzer! Die zum Beginn ohne
jede Schwerfälligkeit gehandhabte Verleihung wird 17 10 auf Klagen
der Bibliothekare über Mißbräuche auf die Wirklichen Geheime -Räte
beschränkt, zu denen im folgenden Jahre durch besondere Vergünsti-
gung noch die Mitglieder der Sozietät der Wissenschaften treten; jeder
andere hat die Erlaubnis des Kurators d. h. eines Staatsministers nach-
zusuchen, deren Erteilung überdies 1758 an die Bedingung geknüpft wird,
daß zuvor für die verlangten Bücher ausreichende Sicherheit zu stellen sei.
Diese Erlaubnis aber ist für immer verwirkt, wenn die Bücher nicht binnen
vierzehn Tagen zurückgeliefert sind. Als das neue Haus bezogen ist, be-
seitigt Friedrich der Große die Verleihung gänzlich und läßt dafür die
„Lese-Cammer" um sechs Uhr früh, im Winter um acht Uhr öffnen; in
dieser Lesekammer aber stehen, wie wir aus einer gleichzeitig^en Ver-
ordnung des Königs erfahren, acht Tische, ebensoviel Stühle und ebenso-
viele Dinte- und Sandfässer. Schon 1786 wird indes auf Betreiben der
Akademie der Wissenschaften die Verleihung wieder gestattet; aber 1790
tritt von neuem die Beschränkung auf die Prinzen des Königlichen Hauses,
die Staatsminister und die Generale ein, und die bisher tägliche Öffnung
wird auf drei Tage in der Woche herabgesetzt. Und derselbe Mangel an
Stetigkeit schließlich in der inneren Geschäftsführung: von Anbeginn sind
alphabetischer, systematischer und Standortskatalog in Aussicht genomme n ;
aber nur der alphabetische, nach den Beständen von 1666 angelegt, wird
abgeschlossen, und auch er nur mit langen Unterbrechungen und großen
UnVollständigkeiten fortgeführt. Bei den übrigen kommt man über oft
wiederholte Ansätze nicht hinaus; selbst so energische Mahnungen wie
die des ersten Königs, er werde den Bibliothekaren ihr Gehalt nehmen,
wenn sie nicht fleißiger würden, sind erfolglos. Es bleibt ein mühsames,
kümmerliches Fortwirtschaften bis ins 19. Jahrhundert hinein. Und end-
,aq Fritz Mii.kau: Die Bibliotheken.
lieh, um auch das noch zu berühren: am Anfang des 18. Jahrhunderts vier
bis fünf Bibliothekare, während der Regierung Friedrichs des Großen zwei,
am Ende des Jahrhunderts drei. Dieses bunte Auf und Nieder, so viel
bewegter als die Kurve, in der sich die Entwicklung der Wissenschaft
und der ihr dienenden Einrichtungen auch in dieser Zeit darstellt, ist so
typisch für die Bibliotheken, daß das längere Verweilen bei dieser einen
Anstalt berechtig-t schien.
Der Bibliothekar Und jetzt noch einen Blick auf den Bibliothekar des 1 8. Jahrhunderts.
^^ 'd/r«.'''""" Von dem Wesen seines Amtes hat er noch kaum eine andere Vorstellung
als seine Vorgänger. Er ist entweder, wie bei den Universitätsbibliotheken
ausnahmslos, der Professor, der nebenamtlich einen mäßigen Bruchteil
seiner Zeit der Bibliothek widmet, zuweilen unterstützt von Studenten, die
dafür den Freitisch genießen; was ihn dazu veranlaßt hat, diesen Posten
zu übernehmen, ist im besten Falle das Bedürfnis nach einer freieren Be-
nutzung der Bibliothek; zuweilen wird es die Neigung gewesen sein „zu
krahmen und sich zu divertiren", wie Gesner sich in einem Briefe an
Münchhausen wundervoll bezeichnend über einen Bewerber ausdrückt; in
der Regel aber wird er eben, nach der schönen Wendung, mit der Robert
von Mohl einen seiner Mitarbeiter an der Tübinger Bibliothek charakteri-
siert, die Stelle lediglich als eine „Veranlassung zu einem Gehalte« be-
trachtet haben, was bei dessen Höhe — in Leipzig sind es immer noch
die alten fünf Gulden und drei Groschen halbjährlich, in Marburg bis ins
19. Jahrhundert hinein zwanzig Gulden das Jahr nebst freier Wohnung —
einer milderen Beurteilung sicher ist. Oder er ist der Gelehrte oder der
Literat, der in voller Unbefangenheit die Ausnutzung der Bibliothek als
seine eigentliche Aufgabe ansieht, wie denn Lessing von Wolfenbüttel an
seinen Vater schreibt, man habe bei der Berufung mehr darauf gesehen,
daß er die Bibliothek als daß die Bibliothek ihn nutzen solle; oder auch
der Liebhaber, der eifrig sammelt und aufstapelt, aber den Überblick für
sich monopolisiert und das profanum volgus nach Möglichkeit fern hält.
Er ist nicht gerade selten gefällig und hilfsbereit; er ist häufiger treu und
fleißig bei der Ordnung und Verzeichnung der Bestände, wenngleich mei-
stens mit einem sehr auffälligen Mangel an Voraussicht oder an geschicht-
lichem Sinn, indem er, unbelehrt durch das warnende Beispiel seiner Vor-
gänger, immer wieder den Katalog so anlegt, als wäre dem Wachstum
der Sammlung eine bestimmte und zwar bald zu erreichende Grenze ge-
setzt. Aber er ist nur ganz ausnahmsweise der Mann, der mit bewußtem
Willen seine ganze Kraft einsetzt oder auch nur sie einzusetzen für seine
Pflicht hält, um die Nutzbarkeit der ihm anvertrauten Sammlung für Gegen-
wart und Zukunft auf die erreichbare Höhe zu bringen. Und was weit
■ schlimmer ist: niemand verlangt derartiges von ihm, weder seine Obrig-
keit noch seine Klientel. Seine Selbständigkeit ist zudem, besonders in
dem wichtigen Punkte der Erwerbungen, häufig derart beschränkt, daß
ein starkes Verantwortlichkeitsgefühl, dieser kräftigste Hebel aller Tüchtig-
n. Wie die Bibliotheken geworden sind. c5l
keit, sich kaum entwickeln kann. Die fähigkeit zur Verwaltung der
Bibliothek ist bei ihm als einem gebildeten Manne ohne weiteres
vorausgesetzt worden. So hat er, wie Hanslik in seiner Geschichte der
Prager Universitätsbibliothek diese seltsame Übung schlagend kennzeichnet,
den Amtseid als Meister abgelegt, um als Lehrling zu beginnen, und die
Bibliothek hat in der Regel diese „Meisters Lehrjahre" teuer zu bezahlen.
Hat er Temperament, so findet er das Bestehende leicht unerträglich, und
frischweg, mit der ganzen Sicherheit des Nichtkenners, geht er ans Um-
stürzen. Hat er aber glücklich den Augiasstall gereinigt — wie oft ist
nur dies Bild hier gebraucht worden! — , so ist er keineswegs davor sicher,
daß sein Nachfolger es hoch an der Zeit findet, der Verwahrlosung ein
Ende zu machen. In der bibliothekarischen Technik ist eben eine Eini-
gung der Anschauungen noch kaum angebahnt, und die Weisheit, daß hier
eine konsequent durchgeführte Dummheit zu hundertmal besseren Ergeb-
nissen führe als ein noch so vernünftig begründeter Wechsel, ist noch nicht
entdeckt.
Alles in allem: von der ebenso glänzenden wie einsamen Ausnahme Rückblick auf
Göttingen abgesehen, hat das i8. Jahrhundert die Bibliotheksverwaltung hundert,
in ziemlich demselben Stande hinterlassen, in dem es sie überkommen hat.
Der selige Hirsching, weiland Mitglied des Hochfürstlichen Instituts der
Moral und schönen Wissenschaften in Anspach, dem wir vom Ausgange
des Jahrhunderts einen vierbändigen Versuch einer Beschreibung der sehens-
würdigen Bibliotheken Teutschlands verdanken, nennt die Bibliotheken
„die Mausoleen, in denen der unsterbliche Nachlaß der edelsten Seelen
beysammen ruht". Es gehört keine besondere Bosheit dazu, um diese
Bezeichnung als eine im allgemeinen treffende Kritik der Bibliotheken
seiner Zeit anzusprechen. Angesichts der Tatsache vollends, daß Klagen
wissenschaftlicher Arbeiter über die Unzulänglichkeit der Bibliotheken nur
ganz vereinzelt sich hören lassen, möchte man sagen, das Jahrhundert
habe die Bibliotheken gehabt, die es verdiente oder doch, die es brauchte.
Aber wie das Schweigen der Beteiligten sehr wohl darin seine Erklärung
finden kann, daß der Begriff der Öffentlichkeit noch zu wenig ausgebildet
ist, um den heute jedermann geläufigen Gedanken von dem berechtigten
Anspruch der Allgemeinheit an die Leistungsfähigkeit der Bibliotheken
aufkommen zu lassen, so zeigt andererseits das Beispiel von Göttingen,
wo man eine auch nach dem modernen Maßstab recht ansehnliche Be-
nutzungsziffer notiert, daß das wissenschaftliche Bedürfnis wohl vorhanden,
aber nicht überall stark genug ist, um seine Befriedigung zu erzwingen.
Eingeleitet und angebahnt wird die allgemeine Wendung in der Rieh- Anbruch der
a r^ & ö neuen Zeit.
tung auf die moderne Entwicklung erst durch die Umwälzungen, die mit g^"'"" ^"' ■?*"
dem Ende des i8. Jahrhunderts über Europa hereinbrechen. Wie der ,?'*'5.''.''*='," H""
' die W ende de»
Sturm Bestand und Besitz der Bibliotheken zurechtgerüttelt, ist schon vor- •«.Jahrhunderts
hin berührt worden. In Deutschland hat er über ein Dutzend halbver-
kümmerter Universitäten weggefegt, Klöster und Stifter und reichsunmittel-
Da Kultur dsr Gbosnwart, L i. 36
-(), Fritz Milk au: Die Bibliotheken.
bare Staaten und Städte die Menge. Nicht weniger als anderthalbhundert
Büchersammlungen sind in die bayrische Hauptstadt zusammengeweht und
haben der Münchener Hof- und Staatsbibliothek jenen Reichtum an alten
Beständen zugeführt, mit dem sie stets die erste Stelle in Deutschland
einnehmen wird; ihrer siebzig und mehr aus den säkularisierten Klöstern
und Stiftern Schlesiens wachsen zu der Breslauer Universitätsbibliothek
zusammen usw. Es sind aber nicht nur die lebensunfähigen Sammlungen,
mit denen das Unwetter aufgeräumt hat, um den widerstandskräftigen
Licht und Luft zu mehren und für neue, kraftvollere Bildungen das Ma-
terial frei zu machen. Auch mancherlei lebensunfähige und überlebte
Anschauungen und Einrichtungen sind hier wie auf allen Grebieten des
öffentlichen Lebens von dem kräftigen Hauche fortgeblasen oder doch in
dem neuen Lichte als unhaltbar erkannt. Vor allem aber sehen wir jetzt
endlich den Gedanken allgemeiner rezipiert, dem allein die treibende,
vorwärts drängende Kraft innewohnt, die dazu nötig war, um das Biblio-
thekswesen aus dem bisherigen Beharrungszustand in Bewegung zu bringen:
den Gedanken, daß die Bibliothek eine öffentliche Einrichtung ist, im öffent-
lichen Interesse aus öffentlichen Mitteln zu unterhalten. Das ist der ent-
schiedene Gewinn, den das Bibliothekswesen aus dem großen Wandel der
Anschauungen, der mit den politischen Umwälzungen jener Tage Hand
in Hand ging, davongetragen hat.
Das Beispiel Zunächst ist allerdings die zugleich mit der Ruhe eingetretene Er-
wrrtsam'^drrch schöpfung ZU groß, um eine durchgreifende Anwendung der neuen Er-
^i767-''i'8^!'^' kenntnis zu gestatten. Aber überall geht man doch an eine Revision der
alten Einrichtungen; überall ist es etwas Selbstverständliches geworden,
daß zu einer Bibliothek eine feste Einnahme gehört, und soweit die Knapp-
heit der Mittel es gestattet, trägt man dem Rechnung; überall gibt es neue
Ordnungen, und in allen kommt der neue Geist in dem Bestreben, die Bestände
zu erschließen und die Benutzung zu erleichtern, zu deutlichem Ausdruck.
Bald gehören die Bibliotheken, die nicht täglich, sei es auch nur für eine Stunde
ihre Pforten öffnen, zu den Ausnahmen; fleißig wird mit den Bibliotheks-
ferien und mit der alten engherzigen Beschränkung der an den Einzelnen
zu verleihenden Bändezahl aufgeräumt, wenn hier auch noch ansehnliche
Trümmer stehen bleiben, und allerorten sind wenigstens neue Ansätze zu
durchgreifenden Ordnungs- und Katalogisierungsarbeiten zu bemerken.
Und da ist es höchst interessant zu sehen, wie endlich auch die in Göt-
tingen ausgestreute Saat aufzukeimen beginnt. Als fleißiger Student hat
Wilhelm von Humboldt in Göttingen den Segen einer reichen und plan-
voll verwalteten Bibliothek schätzen lernen und wahrscheinlich von seinem
Lehrer Heyne, dem großen Bibliothekar, zu dessen bevorzugten Schülern
er zählte, mancherlei von bibliothekarischen Dingen gehört. Sicher ist,
daß er, wie schon erwähnt wurde, den starken Anteil, der an der glän-
zenden Entwicklung der Göttinger Universität auf die Bibliothek fällt, voll
erfaßt hat. Wer möchte da den Zusammenhang verkennen, wenn er sich
n. Wie die Bibliotheken geworden sind. 563
180g, sobald die Berliner Bibliothek der eben von ihm übernommenen
Sektion des öffenthchen Unterrichts unterstellt ist, mit besonderer Liebe
ihrer annimmt? Trotz der schweren Ungunst der Zeit weiß er ihren Etat
auf 3500 Taler zu bringen, d. h. auf annähernd die doppelte Höhe, die er
vor dem Ausbruch des unglücklichen Krieges erreicht hat. Sofort betreibt
er, noch von Königsberg aus, die Ausarbeitung eines neuen Reglements,
die Reorganisation des Dienstes, nachdrücklich betonend, daß die Anstalt
zum Nutzen des ganzen Publikums bestimmt sei. Und als man im Herbst
1810 auf das Drängen der Aufsichtsbehörde — Humboldt ist inzwischen
aus dem Amte geschieden, aber die Kontinuität wird durch seinen Rat
Uhden gewahrt — mit der Herstellung eines neuen alphabetischen Kata-
logs beginnt, da ist es das Göttinger System, das zum Muster genommen
wird. So heißt es weiter in dem 18 iq erlassenen Bibliotheksreglement
für die neue Universität Bonn: „Die beiden Hauptkataloge sind in der
Art anzulegen, daß sie fortdauernd erweitert werden können, ohne je einer
Umarbeitung zu bedürfen. Für einen jeden Schriftsteller werden daher
ein Blatt oder mehrere bestimmt, und diese Blätter werden, bis die Biblio-
thek sich zu einiger Vollständigkeit erhoben haben wird, in Pappkasten
aufbewahrt. Sind sie nachmals gebunden, so können immerhin andere
Blätter eingeschoben und von Zeit zu Zeit eingeheftet werden." Wiederum
also das Vorbild von Göttingen, wobei es, zumal in Anbetracht des auch
für die damaligen Verfügringen ungewöhnlichen Eingehens auf die Einzel-
heiten nahe liegt, an die Mitwirkung Welckers zu denken, des ersten
Bibliothekars der neuen Anstalt, den man aus Göttingen für die rheinische
Hochschule gewonnen hatte. Dieselbe Vorschrift begegnet dann häufiger,
wenn auch nicht mehr mit derselben Ausführlichkeit, und zwar nicht nur
in preußischen Ordnungen; und die ganze Einrichtung von Göttingen sehen
wir adoptiert, wenn man für die neubegründete Berliner Universitäts-
bibliothek in dem Reglement von 1831 noch dazu die Anweisung gibt,
die Bücher in einer dem Realkatalog entsprechenden Ordnung aufzustellen.
Daß im übrig-en die Technik noch manches zu lernen hat, sieht man stand der Bibiio-
'^ . thekstcchnik.
z. B. aus der heute recht wunderlich anmutenden Bestimmung, die sich
in einigen Bibliotheksregleraents dieser Zeit, wie dem Breslauer von 1815
und dem Bonner von 181Q findet, wonach der alphabetische und der Real-
katalog „von Zeit zu Zeit" aus den Eintragungen im Akzessionskatalog
zu vervollständigen sind, während es heute oberster Grundsatz ist, die
Kataloge ständig auf dem Laufenden zu halten und zwar unter Vermei-
dung aller mittelbaren Quellen auf Grund der Bücher selbst. Aber die
wesentlichsten Dinge sind doch bereits erledigt, zum Teil seit Jahr-
hunderten: man weiß, daß die Bibliothek jederzeit imstande sein soll,
anzugeben, ob sie ein gesuchtes Buch besitzt, wann und unter welchen
Umständen es in ihren Besitz gelangt ist, wo es seinen Platz hat, welche
Bücher sie über einen bestimmten Gegenstand zur Verfügung stellen kann,
welche sie verliehen hat usw., und für alle diese Anforderungen ist die
36»
564
Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
beste oder doch eine brauchbare Lösung — auch hier führen mancherlei
Wege nach Rom — gefunden. Selbst das Verlegenheitsprodukt des Zettel-
katalogs, den früheren Generationen nur als eine Vorarbeit für den Band-
katalog bekannt und heute weithin als die einzige Katalogform gepriesen,
ist bereits hier und da anzutreffen, und es mehren sich die Versuche, die
Erfahrungen der Praxis auf literarischem Wege dem Anfänger zugäng-
lich zu machen und damit einer Vereinheitlichung der wichtigsten Grund-
sätze vorzuarbeiten, Bemühungen übrigens, die schwerlich darum an
ihrer Nützlichkeit etwas eingebüßt hätten, wenn man den unglückseligen
Namen BibUothekswissenschaft nicht für sie erfunden hätte.
Der Bibliothekar Sehen wir so das Bibliothekswesen endUch auf die Bahn gebracht,
'''En43i'ng.''' so ist doch das Schwergewicht des Bestehenden zu drückend, um schnelle
Schritte zu erlauben. Es ist etwas unfreundlich von Grillparzer, wenn er
aus seiner kurzen Tätigkeit an der Wiener Hofbibliothek im Jahre 1Ö13
von seinen Kollegen erzählt, sie hätten sich benommen ungefähr wie der
Hund beim Heu oder wie die Invaliden in einem Zeughause. Aber den
Bibliothekar, wie er dazumal noch stark vertreten gewesen zu sein scheint,
hat er damit nicht schlecht gekennzeichnet: Kustos im eigentlichen Sinne
des Worts; vielleicht stolz auf die Bewunderung, die die ihm anvertrauten
Schätze finden, aber leicht den Anspruch auf deren Benutzung als eine
Störung oder als einen persönlichen Angriff betrachtend und ohne eine
Ahnung davon, daß in der Förderung der Ausnutzung dieser Schätze ganz
wesentlich seine Existenzberechtigung bestehe. Und dieser Typus ist
natürlich nicht mit einem Schlage verschwunden, wie denn Rudimente jener
Bildung noch heute anzutreffen sind. Eine Erscheinung indes, die alles
Auffällige verliert, wenn man sieht, wie der Staat, der in seiner jetzt un-
gemein gesteigerten Fürsorge für die Universitäten auch den Universitäts-
bibliotheken ein sehr viel stärkeres Interesse zuwendet, seine heilsame
Reorganisation nicht auf das Beamtenmaterial erstreckt, sondern vielmehr,
wo der Erlaß neuer Reglements die Gelegenheit dazu bietet, ausdrücklich
die alte Übung sanktioniert, nach der die Bibliothek nebenamtlich von
Dozenten der Universität zu verwalten ist, uneingedenk der alten Lehre,
daß niemand zween Herren dienen kann, insonderheit nicht, wenn einem
dieser Herren, wie hier dem ursprünglich gewählten, nach der ganzen
Lage der Dinge wonicht die Liebe, so doch der Eifer nahezu ausschließ-
lich gehören muß. Ein auch bei voller Berücksichtigung des damaligen
Standes der Erfahrungen nicht ganz leicht zu verstehender und sehr ver-
hängnisvoller Fehler, dessen Wirkungen noch heute nicht überwunden sind.
Verhängnisvoll nicht allein für die betroffenen Anstalten, sondern auch für
die allgemeine Entwicklung des Bibliothekswesens, indem die fruchtbaren
Anregungen, die sich aus den ständigen Anforderungen der Universität
als einer die Wissenschaft in allen ihren Zweigen besitzenden und suchenden
Gemeinschaft für die Bibliothek ergeben, bei der Gleichgültigkeit der
Bibliothekare und ihrer Abneigung gegen alle mit gesteigerter Arbeit
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. 565
verbundenen Neuerungen auf unfruchtbaren Boden fallen und damit für
die Gesamtheit der Bibliotheken verloren gehen. Wie hier natürlich auch
das Vorbild dafür zu suchen ist, daß man ebenso bei den anderen großen
Bibliotheken zunächst weiter an der Tradition festhält, zum mindesten bei
der Besetzung der leitenden Stelle das entscheidende Gewicht auf den
Glanz des wissenschaftlichen Namens zu legen, ohne nach dem Vorhanden-
sein der für das Amt notwendigen Fähigkeiten und Neigungen sonderlich
zu fragen. Ein System, von dem sich Besseres schwerlich sagen läßt, als
daß es das Aufkommen ausgezeichneter Bibliothekare nicht hat verhindern
können. Denn wenn Robert von Mohl und Friedrich Ritschi heute jedem
Bibliothekar leuchtende Vorbilder sind, so sind sie das geworden nicht
wegen, sondern trotz des Systems, wie eben ungewöhnliche Männer Un-
gewöhnliches vermögen. Jedenfalls gewinnt man den Eindruck, daß die
bis über die Mitte des ig. Jahrhunderts hinaus andauernde Langsamkeit
der wohl eingeleiteten Vorwärtsbewegung mehr auf die Unzulänglichkeit
der Bibliothekare zurückgeführt werden muß als auf den gewöhnlich in
den Vordergrund gestellten Mangel an Mitteln, auch abgesehen davon,
daß die Mittel zweifellos reichlicher geflossen wären, wenn die Bibliothe-
kare es verstanden hätten, durch ihre Wirksamkeit ein größeres Interesse
zu erzwingen. Wie Antonio Panizzi, der Reorganisator des Britischen
Museums, so wußten auch Mohl und Ritschi verschlossene Hände zu öffnen.
Wie weit aber der Durchschnitt von solchem Heraustreten aus der Pas-
sivität entfernt gewesen sein muß, das wird beleuchtet durch die oft be-
richtete Wunderlichkeit, daß es dazumal Universitätsbibliotheken gegeben
hat, die sich aus Furcht vor Störung ihrer Bequemlichkeit gegen die Er-
höhung ihrer Mittel sträubten.
Gerechterweise darf man indes nicht außer acht lassen, daß der Biblio- ^^" •'"' «■>'-
lastet.
thekar dieser Zeit einerseits durch die Tradition, die keine erheblichen
Ansprüche an seine Leistungen stellt, und andrerseits durch das unglück-
liche System, dem er seine Anstellung verdankt, wesentlich entlastet wird.
Abgesehen vielleicht von der Organisation des Dienstes und der Ergän-
zung der Bestände setzt sich alle bibliothekarische Tätigkeit aus einer
unendlichen Fülle kleiner, einzeln schnell zu erledigender Leistungen zu-
sammen, die, wenngleich sie zum Teil eine umfassende wissenschaftliche
Bildung und immer Klarheit und Genauigkeit zur Voraussetzung haben,
doch nur ausnahmsweise zu einer nachhaltigeren Konzentration der gei-
stigen Kräfte zwingen und darum gerade auf geistig bewegliche Arbeiter
leicht abstumpfend wirken, es sei denn, daß diese ihren'^Beruf mit echter
Liebe, man möchte sagen mit Leidenschaftlichkeit umfassen und von dieser
Grrundlage aus, stets den Zweck und das Ganze im Auge behaltend, auch
die mechanischere Arbeit geistig zu beleben verstehen, wie denn im letzten
Grunde jegliche Arbeit ihren Charakter durch den Arbeiter erhält. Dazu
kommt, daß die bibliothekarische Arbeit nicht viel anders wie die Tugend
ihren Lohn in sich trägt, indem sie, ungleich den Arbeiten der anderen
566
Fritz Milkau; Die Hibliotheken.
gelehrten Berufe, in stiller Verborgenheit sich vollzieht, nur von wenigen
beachtet und noch seltener richtig gewertet, bei der Notwendigkeit einer
unverrückbaren Schablone für die meisten Zweige des Dienstes zur Ent-
faltung- individueller Kräfte nur sehr geringe Gelegenheit bietet und kaum
einen anderen Ruhm zu erwerben gestattet als den treuer Pflichterfüllung.
Diese Entsagung aber wird dadurch nicht erleichtert, daß sie angesichts
reichbesetzter Tische geübt werden muß. Wie also sollte man ins Gericht
gehen mit jenen Männern, wenn sie, die die akademische Lehr- und
Forschertätigkeit zum Lebensberuf erwählt und dann, in der Regel aus
rein äußeren Gründen, meist lediglich zur Aufbesserung ihres Einkommens
das bibliothekarische Nebenamt übernommen hatten oder hatten über-
nehmen müssen, im Widerstreit der Pflichten dem Gegenstand ihrer Nei-
gung den Vorzug gaben? Und an noch eins muß zu ihren Gunsten er-
innert werden: das ist die Kurzsichtigkeit, mit der auch die neuen Ord-
nungen aus dem Anfang des Jahrhunderts noch ziemlich regelmäßig an
der alten Übung festhalten, die zur Ergänzung der Bestände vorgesehenen
Mittel den einzelnen Fakultäten oder gar in noch heilloserer Verzettelung
den einzelnen Fachvertretem zu selbständiger Verwendung zu überweisen.
Eine Maßregel, die für die wichtigste Seite der Bibliotheksverwaltung die
Planlosigkeit zum obersten Gesetz erhebt und eigens ersonnen scheint, um
in dem Bibliothekar jedes Verantwortlichkeitsgefühl zu ersticken. Alles
in allem möchte man daher, was die Arbeit innerhalb der vier Wände der
Bibliothek angeht, mehr erstaunen darüber, daß trotz des Systems noch
so vieles geschehen ist, als über die Fülle des Versäumten. Wie z. B. die
Tatsache, daß Lobeck den Realkatalog, den „baldmöglichst" herzustellen
das Reglement von 1822 die Königsberger Bibliothek anweist, trotz seiner
langen, bis 1858 währenden Amtsführung niemals in Angriff genommen
hat, verständlicher scheint als die ungeheure Arbeit, die wir in Bonn von
Welcker und Ritschi geleistet sehen.
Die Selbständig. Bezeichnenderweise ist es ein hervorragender Universitätslehrer und
keit des biblio- -i-t-vi -k r t a j
thekarischen ausgczeichnetcr Bibliothekar zugleich, Robert von Mohl, der zuerst — es
Berufs setzt sieb t-»i'iio ij*t>
durch.- ist im Jahre 1840 — den Bruch mit dem alten System als die Kettung
(1799-1875). aus unerträglichen Zuständen empfiehlt. Die Arbeit in der Bibliothek ist
in ungeahnter Weise gewachsen. Sehr langsam zwar, aber doch stetig
sind seit dem Beginn des Jahrhunderts die Mittel zur Vermehrung der
Bestände verstärkt und die Öfl'nungszeiten ausgedehnt worden. In stei-
gendem Maße ist man gewahr worden, wie die Katalogisierungs- und
Ordnungsarbeiten in weit stärkerer Progression zunehmen als die Bestände
selbst, wie zugleich mit deren Umfang die Schwierigkeit wächst, dem
neuen Ankömmling seinen Platz anzuweisen, und wie selbst im alpha-
betischen Katalog, so mechanisch das ihn beherrschende Prinzip ist,
Tücken sich einstellen, an die niemand gedacht hat, als man sich noch
in bescheidenen Bändezahlen bewegte. Es sind elende Minutien, aber
man merkt es am eigenen Leibe, wie schwer sich ihre Vernachlässigung
II. Wie die Bibliotheken geworden sind. 567
rächt, und man sieht sich gezwungen, Stellung zu nehmen und sich Ge-
setze zu geben. Aber jeder gibt sich andere, da nur ausnahmsweise eine
Entscheidung als die gegebene sich empfiehlt, und die Freiheit des Ein-
zelnen einstweilen kaum anders als durch eine unsichere, mündlich fort-
gepflanzte Überlieferung eingeschränkt wird. Die Wirrnis wird unerträg-
lich; aber der alte Mut, mit dem man früher ohne langes Besinnen das
Unhaltbare beiseite geschoben und einen neuen Katalog in Angriff ge-
nommen, hat gegenüber den hunderttausend und mehr Titeln der Resig-
nation Platz gemacht. Die Zahl derer aber, die die Benutzung der Biblio-
thek als ihr gutes Recht in Anspruch nehmen, hat gewaltig zugenommen.
Auch für den Studenten ist es Pflicht und Übung geworden, sich mit der
Literatur seiner Disziplin bekannt zu machen; ohne ausdrückliche Pro-
grammänderung sind die Universitätsbibliotheken, zu keiner Zeit tatsächlich
und nur selten bestimmungsmäßig auf die Universität beschränkt, zugleich
Provinzialbibliotheken geworden; in stärkerem Maße als die Bevölke-
rungsziffer hat sich mit dem wachsenden Wohlstand und der steigenden
Kultur der Kreis der wissenschaftlichen Arbeiter vergrößert, während
die Zahl der Bibliotheken eine nennenswerte Vermehrung nicht erfahren
hat. Was Wunder, daß diesen mannigfach gehäuften Schwierigkeiten
die auf unendlich viel einfachere Anforderungen zugeschnittene Verwal-
tung sich von Jahr zu Jahr weniger gewachsen zeigt? Und doch geht
noch ein volles Menschenaher vorüber, bevor dies hartnäckige Über-
bleibsel einer überwundenen Entwicklungsstufe beseitigt wird. Noch 1874
kann Johann Friedrich Schulte, ohne einer Übertreibung geziehen zu wer-
den, im Reichstage das Bibliothekswesen Deutschlands als partie honteuse
bezeichnen. Aber die Zeit ist jetzt erfüllt. Mit erstaunlicher Schnellig-
keit sehen wir in den siebziger Jahren den Grundsatz von der Selbständig-
keit des bibliothekarischen Berufs aufgenommen und auf der ganzen Linie
durchgeführt, und es beginnt für die Bibliotheken ein Aufschwung, nach
dem langen Zögern und Schwanken so überraschend stark und stetig, als
wären gewaltsam niedergehaltene Kräfte plötzlich frei geworden.
Sehr kurzsichtie wäre es indes, das zeitliche Nacheinander ohne ucrAufschwuag
^ und seine Ur-
weiteres zum ursächlichen Zusammenhang zu machen. Die Neuordnung .acheo.
der Laufbahn ist eine, aber nicht die Ursache der lebhaften Aufwärts-
bewegung, in der wir jetzt stehen. In der Hauptsache sind es vielmehr
von außen kommende Kräfte, denen die Bibliothek ihr neues Leben ver-
dankt, und obenan steht hier der tiefgreifende Wandel, der seit der Mitte
des Jahrhunderts in den Zielen und Aufgaben der Wissenschaft sich zu
vollziehen beginnt, kaum weniger bedeutsam als jene von Halle ausge-
gangene Wendung vom dogmatisch gebundenen Denken zur libertas phi-
losophandi. Von der Spekulation, zu der sich das rationale Denken bald
vereinseitigt hatte, wendet sich die Wissenschaft in energischer Abkehr
zur Empirie, von der zurechtlegenden Betrachtung der hervorragenden
Erscheinungen zur schlichten, vorsichtigen, unterschiedslos achtungsvollen
i68
Fritz JIilkau: Die Bibliotheken.
Prüfung des gesamten Tatsachenmaterials; überall steigt sie, wie Harnack
den Vorgang charakterisiert, „von den Höhen der Betrachtung kompli-
zierter Ordnungen herab zu den Niederungen der primitiven Tatsachen-
gruppen"; und die nächste Wirkung dieses Wandels ist in allen Disziplinen
jene weitgehende, ebenso oft beklagte wie als notwendig anerkannte Ar-
beitsteilung und eine Steigerung des Betriebs in Breite und Tiefe, wie sie,
so schnell und so gewaltig anwachsend, in der Geschichte der Wissen-
schaften unerhört ist. Und eben diese Erscheinung ist es, auf die der
überraschende Aufschwung der Bibliotheken in erster Linie zurückzuführen
ist. Denn mit der wissenschaftlichen Arbeit und in stärkerem Verhältnis
noch als sie wachsen die Anforderungen an die Bibliotheken, da in einer
Art ständiger Wechselwirkung das Bedürfnis nach ihrer Hilfe nicht allein
mit dem Betrieb steigt, sondern auch mit der Betriebsleistung, soweit diese
wiederum Arbeitsmaterial wird. Überaus günstig trifft mit dieser Steige-
rung der Anforderungen eine Zeit großartigen wirtschaftlichen Aufschwungs
zusammen, der es gestattet, den Ansprüchen gerecht zu werden und dabei
lange Versäumtes nachzuholen. Und noch ein anderes schließlich darf
nicht unerwähnt bleiben,' wenn es sich darum handelt, die Ursachen der
FriedrichRitschi Bewegung klar zu legen: das ist die vorbildliche Tat Friedrich Ritschis
(1806-1876). .^ ^^^ Bonner Bibliothek. Nicht allein, daß er diese Anstalt in Vollendung
des von Welcker begonnenen Werks, wie dessen Biograph sich ausdrückt,
„zu einem wohlgeordneten Instrument schlagfertiger Liberalität sonder-
gleichen erzogen" hatte, damit ebensowohl zeigend, was eine Bibliothek
der Wissenschaft leisten könne, als in weiten Kreisen das Gefühl der Un-
zulänglichkeit der allgemeinen Bibliotheksverhältnisse verschärfend; er
hatte auch, was nicht weniger wert ist und nicht weniger nottat. Schule
gemacht, hatte mit der ihm auch als Bibliothekar eigenen starken An-
ziehungs- und Begeisterungskraft eine ganze Reihe vortrefflicher junger
Philologen zu freiwilligen Helfern herangebildet und damit seiner An-
schauung von den Aufgaben der Bibliothek und seiner Art, ihnen gerecht
zu werden, ein Leben über das Maß seiner Tage gesichert. Denn als
man daran geht, das System der Doppelämter zu beseitigen, da werden
diese seine Schüler als die gegebenen Männer herangezogen, um an den
wichtigsten Stellen mit ungeteilter Kraft die Lehren ihies Meisters zu be-
tätigen, und es ist kein geringer Teil der seitdem errungenen Erfolge,
den das Bibliothekswesen ihrem Wirken schuldet.
Das Haus und IIL Was erreicht ist. Ohne aus dem Auge zu verlieren, wie stark
^'"'"'tung""'' ' an dem Eindruck des schnellen Aufstiegs der Bibliotheken während der
letzten Jahrzehnte die Tiefe beteiligt ist, aus der sie sich zu erheben hatten,
und ohne einstweilen die erreichte Höhe an den allgemeinen Kulturver-
hältnissen abzumessen, registrieren wir dankbar, was erreicht ist. Kaum
wiederzuerkennen ist das Bild, so stark hat es sich verändert. Fast überall
stattliche neue Gebäude, deren Pforten nahezu den ganzen Tag offen stehen;
III. Was erreicht ist. c6n
wenigstens sind diejenigen bereits zu Ausnahmen geworden, die die alte
Scheu vor künstlicher Beleuchtung in die neue Ära übernommen haben.
Die großen eindrucksvollen Säle mit den hohen bücherbedeckten Wänden
sind verschwunden; in nüchternster Gleichmäßigkeit reiht sich in niedrigen
Speichergeschossen, deren Anordnung vom Britischen Museum aus die
Bibliothekswelt erobert hat, Gestell an Gestell, keinerlei ästhetische Freude
weckend, aber außerordentlich praktisch: die hohe schwankende Bücher-
leiter, die mehr als einem braven Bibliothekar nach dem Ausdruck Christian
Karl Reisigs zu einem „wahrhaft gelehrten Tode in den Armen der Mu-
sen" verholfen hat, ist überflüssig geworden, die Fassungskraft des Raums
ist ins mehrfache gesteigert, und die Zugänglichkeit der Bestände hat un-
gemein gewonnen. Das Lesezimmer, früher in den bescheidensten Grenzen
gehalten und bei der geringen Öffnungszeit dennoch allen Ansprüchen
genügend, ist zum geräumigen Lesesaal geworden, ausgestattet mit einer
Handbibliothek, die die vornehmsten Lexika und Enzyklopädieen, die
großen Quellensammlungen und Sammelwerke, die klassischen Bücher aus
allen Disziplinen und womöglich die Klassiker aus allen Literaturen ent-
hält, jeglichem Besucher ohne jede Förmlichkeit zugänglich und besonders
dem der Orientierung noch bedürfenden Anfänger von unvergleichlichem
Nutzen ist. Was femer früher der beneidete Vorzug einiger weniger An-
stalten war, das Journal- oder, wie man heute sag^, das Zeitschriftenzimmer,
wird kaum noch in einer größeren Bibliothek vermißt.
Und neu wie das Haus ist auch der Haushalt geworden. Die Mittel "se Mittel.
zur Vermehrung der Bestände, das aliment der Bibliothek, wie Leibniz
sagt, haben überall eine ungewöhnliche Verstärkung erfahren, und wenn
auch nicht alle Anstalten so gewaltige Schritte gemacht haben, wie einige
früher sehr kümmerlich dotierte, deren Anschaffungsfonds seit 1870 auf
das Vier- und Fünffache erhöht worden sind, so gibt es ihrer doch nur
wenige, bei denen die Steigerung seit jener Zeit unter hundert Prozent
zurückgeblieben ist. Bei den Universitätsbibliotheken ist die alte unselige
Verzettelung der Mittel durch Aufteilung an die Fakultäten oder Fach-
vertreter beseitigt, bis auf einige wenige Ausnahmen, die in dem Bilde
des modernen Bibliothekswesens stark fremdartig anmuten. Die Kom-
missionen aber, die zur Wahrung der Interessen der Universität an der
Bibliothek übrig geblieben sind, haben unter den neuen Verhältnissen
zwar nicht allgemein an Verständnis für ihre Aufgabe zugenommen, aber
doch ihre vielbeklagte Schädlichkeit verloren.
Und ein anderer Geist ist in das neue Haus eingezogen. Haupt und üie Leistung.
Glieder lassen sich in ihrem Tun und Lassen von der Überzeugung leiten,
daß sie für die Bibliothek da sind, nicht die Bibliothek für sie, und wo
das ausnahmsweise noch nicht der Fall ist, da weiß man doch genau, und
das ist der große Unterschied gegen früher, daß es so sein sollte. Die
alte Beschaulichkeit, die idyllische Ruhe von einstmals ist verschwunden
auf Nimmerwiedersehen. Vom Lesesaal abgesehen, vor dem der Lärm
--Q Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
des Tages Halt macht, erfüllt ein geschäftiges Leben die Räume, nicht
anders wie in einem Handelshause oder in einer Verkehrsanstalt. In den
Geschäftsgang ist eine vorher ungekannte Sicherheit und Schnelligkeit
gekommen. Die Kataloge, das A und O der Verwaltung, das Handwerks-
zeug, von dessen Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der ganze Betrieb ab-
hängig ist, sind vollständig erneuert oder doch auf eine neue Grundlage
gestellt: einmal hat man endlich einsehen lernen, daß nur die Eintragung
auf Grund des Buches selbst, und zwar in strengster Anlehnung an die
Fassung des Titels, die Gewähr dauernder Brauchbarkeit biete, wobei man
allerdings, wie das nur natürlich ist, zunächst in der Reaktion gegen die
alte Sorglosigkeit über das Ziel hinausgeschossen und dem Phantom der
bibliographischen Genauigkeit kostbare Opfer an Zeit und Geld gebracht
hat; alsdann aber hat man, was weit wichtiger ist, die Willkür der Ent-
scheidung gegenüber den Schwierigkeiten der alphabetischen Anordnung,
die Hauptquelle alter Wirrnisse und Störungen, durch Aufstellung fester
Regeln beseitigt; ein Fortschritt, dessen Tragweite nur der Fachmann voll
ermessen kann und für dessen wirksame Anbahnung das deutsche Biblio-
Kari Diiatzko thckswesen Karl Dziatzko, dem vor der Zeit Heimgegangenen, immer zu
(1842-19031. j^^^y. ^^e^fljchtet bleibt. Für Preußen allgemein angeordnet, scheinen
jene Regeln im Begriff, auch die übrigen deutschen Bibliotheken zu ge-
winnen, worin sie nachhaltige Unterstützung erfahren durch die KönigUche
Bibliothek in Berlin, die seit einer längeren Reihe von Jahren regelrechte
Titelaufnahmen der neuen Erwerbungen in einseitigem Druck veröffent-
licht und damit allen anderen Anstalten die Möglichkeit gibt, ihre Arbeit
unmittelbar für die eigenen Kataloge zu verwerten. Womit sie zugleich
das alte Problem der Zentralkatalogisierung, dessen Vorteile nebenbei je
länger desto maßloser überschätzt werden, kräftig angefaßt und für eine
wenigstens dem Umfang nach wichtige Literatur, die Universitäts- und
Schulschriften, die allen Bibliotheken gleichmäßig und zu gleicher Zeit
zugehen, auch einwandfrei gelöst hat. Überhaupt ist aus den letzten
Jahrzehnten als Erfolg einer gesteigerten mündlichen und schriftlichen
Aussprache eine sehr erfreuliche Annäherung der verschiedenen Auf-
fassungen über bibliothekarische Fragen aller Art zu verzeichnen. Und
Otto Hartwig undankbar wäre es, hier nicht Otto Hartwigs zu gedenken, der durch Be-
(1830—903). g^^j^^^j^g. y^jj zwanzigjährige taktvolle Leitung des Zentralblatts für Biblio-
thekswesen den Ausgleich widerstrebender Meinungen kräftig gefördert
und der Entwicklung der deutschen Bibliotheken Dienste von bleibendem
Wert geleistet hat.
Das Verhältnis Von Gruud aus verändert ist ferner das Verhältnis des Bibliothekars
'^""' krlh""' zum Benutzerkreis. Die Kustodenperiode ist überwunden, und schon be-
ginnt eine Art Wetteifer, wer die Ausnutzung der ihm anvertrauten
Schätze am wirksamsten fördere. Und das Entgegenkommen hat zudem
einen anderen Charakter gewonnen: es ist unpersönlich, sozusagen ge-
schäftsmäßig geworden, es ist in ein System gebracht. Dem Gelehrten,
m. Was erreicht ist.
571
dem Universitätslehrer, dem Freunde oder Bekannten, dem, dessen Wünsche
ihn interessierten, ihnen hat auch der Bibliothekar alten Stils seine Zeit
zur Verfügung gestellt, hingebender oft, als es heute möglich ist, wo immer
eine bestimmte Reihe von Pflichten, deren Zurückschieben die Organi-
sation des Ganzen nicht duldet, der Erledigung harrt. Zugfunsten des
Einzelnen tauchte er nieder in das Geheimnis der Kataloge und Biblio-
graphieen und Bücherreihen, unsichtbar und unerreichbar inzwischen für
alle anderen, die seiner Hilfe bedurften. Heute ist die Bedienung des
Publikums ein festgeregelter Dienstzweig, dessen Mechanismus bereits jede
Vernachlässigung des Einzelnen ausschließt, und wenn überhaupt noch
ein Unterschied gemacht wird, so geschieht dies mit den unbeholfen und
unklar vorgebrachten Wünschen der Anfänger, die mit besonderer Sorgfalt
zu erledigen allgemein gute Sitte geworden ist. Die Förmlichkeiten bei der
Verleihung aber scheinen jetzt, was allerdings seit jeher von Zeit zu Zeit
versichert worden ist, tatsächlich so weit eingeschränkt, als die wohl-
verstandene Pflicht zur Wahrung des Eigentums der Bibliothek es irgend
gestattet. Ohne Bürgschaft erhält jetzt auch der Student so viel Bücher,
als er irgend mag, und bereitwillig stellt die Verwaltung, wo die eigenen
Bestände versagen, jedem Benutzer ihre Vermittlung bei anderen Biblio-
theken zur Verfügung. Die ungemein gesteigerte Sicherheit und Schnellig-
keit des Verkehrswesens hat eine Leichtigkeit in die gegenseitige Aus-
hilfe gebracht, die von der Wissenschaft aufs angenehmste empfunden
wird und da besonders segensreich wirkt, wo ihre Vorteile, wie nament-
lich in Preußen, durch die Einrichtung eines regelmäßigen Leihverkehrs
von Bibliothek zu Bibliothek amtlich in den Dienst des Benutzers ge-
stellt und bei der rein nominellen Gebühr auch dem Unbemittelten
zugänglich gemacht sind. Einen weiteren bedeutsamen Schritt auf dem
Wege zur Erleichterung der wissenschaftlichen Arbeit stellt die im
letzten Jahre in Berlin eingerichtete Auskunftsstelle der deutschen Biblio-
theken dar, die gegen eine Gebühr, deren Erhebung nur den Miß-
brauch hindern soll, jedem, der sich an sie wendet, bereit steht zur Be-
antwortung der Frage, ob und wo ein gesuchtes Buch innerhalb ihres
Bereichs zu finden sei. Die Handschriftenverleihung, früher regelmäßig
eine Haupt- und Staatsaktion, vollzieht sich jetzt innerhalb Deutschlands
wie zwischen Deutschland und den meisten seiner Nachbarländer in den
einfachsten Formen durch unmittelbaren Verkehr von Bibliothek zu Biblio-
thek; von Jahr zu Jahr gewinnt diese auf der Grundlage der Gegenseitig-
keit aufgebaute Einrichtung mehr Boden, und wenn leider kaum erwartet
werden darf, das Britische Museum werde jemals ein Manuskript aus dem
Hause geben, so ist doch zu hoffen, daß die einstweilen zurückhaltenden
romanischen Länder über kurz oder lang gleichfalls auf die althergebrachte
Verlangsamung durch Benutzung des diplomatischen Weges verzichten
werden. Alles Errungenschaften der jüngsten Zeit, woran zu erinnern bei
der Schnelligkeit, mit der man sich ans Gute gewöhnt, nicht unangebracht
ey2 Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
sein mag. Wird es doch fast schwer, sich zu vergegenwärtigen, daß nur
wenige Jahrzehnte uns von der Zeit trennen, wo dem Studenten eine
Höchstzahl von Büchern ängstUch zugemessen wurde, wo er hier und da
noch für jeden einzelnen Empfangsschein die Unterschrift des bürgenden
Professors beibringen mußte, wo es noch nichts Auffallendes hatte, daß
bei jeder Verleihung außerhalb des Ortes die vorgesetzte Behörde oder
gar, wenn es sich um eine Handschrift handelte, die allerhöchste Stelle
in Anspruch zu nehmen war.
Die Stellung des Und endlich die Stellung des Bibliothekars, nicht unwichtig von dem
Bibliothekars.
Gesichtspunkte aus, daß fröhliche Arbeit und selbstloses Interesse an ihren
Zielen in der Regel nur da anzutreffen sind, wo die äußeren Verhältnisse
der Entwicklung eines gesunden Maßes von Zufriedenheit und Selbstgefühl
zum mindesten nicht hinderlich sind. Auch hier also sind für die letzten
Jahrzehnte mannigfache und sehr beträchtliche Verbesserungen zu buchen.
Allerdings, noch mutet es märchenhaft an, daß es eine Zeit gegeben hat,
wo dem Bibliothekar, wie das von den Alexandrinischen Kolleg'en be-
richtet wird, der Titel eines cuTTevfic toö ßaciXeiuc erreichbar war, und
auch das Gehalt von 60000 Sesterz, das uns inschriftlich für einen procu-
rator bibliothecarum aus dem Kaiserlichen Rom überliefert ist, zeigt eine
Wertschätzung bibliothekarischer Dienste, die unwiederbringlich verloren
scheint. Aber das Bild ist doch unendlich viel freundlicher geworden,
als es noch vor dreißig Jahren sich darstellte; nicht so sehr durch die
Aufbesserung der Besoldungen, obgleich auch in dieser Beziehung ent-
sprechend der inzwischen erfolgten allgemeinen Steigerung der Gehälter
bedeutende Fortschritte zu verzeichnen sind, als vielmehr durch die Be-
seitigung der Unklarheit und Unsicherheit, die die Stellung des Biblio-
thekars so lange beherrscht haben. Die Forderung bestimmter Fähig-
keiten und Leistungen als Voraussetzungen für die Annahme zum Dienst
oder für die Anstellung; die Festlegung einer bestimmten Stufenfolge, wie
sie die menschliche Schwäche im Beamtentum nun einmal unentbehrlich
macht; die Aufhebung der Abhängigkeit des Einzelnen von der zufälligen
Gestaltung der Verhältnisse an der einzelnen Anstalt — das alles sind
gleichfalls Erfolge neuesten Datums. Seitdem erst gibt es einen biblio-
thekarischen Beruf, eine bibliothekarische Laufbahn. Erst die nächste
Generation wird die volle Wirkung dieser Neuerung erfahren; über ihren
Segen aber kann jetzt bereits ein Zweifel nicht bestehen.
IV. Was zu erreichen bleibt. Es heißt nicht die Freude am Er-
reichten beeinträchtigen, wenn man die Aufmerksamkeit auf dasjenige
lenkt, was noch zu erreichen bleibt. Hat doch alle geschichtliche Be-
trachtung der Dinge zuletzt nur das eine Ziel, durch Aufdeckung des bis-
herigen Weges den Blick zu schärfen für die Richtung, die am vorteil-
haftesten eingeschlagen wird. Wie es aber bei der Kürze des Zeitraums,
während dessen die Bibliotheken sich nach jahrhundertelanger Zufalls-
IV. Was zu erreichen bleibt.
573
regierung stetiger und planmüßiger Pflege zu erfreuen haben, selbstver- Die MUiei.
ständlich ist, daß es an Desideraten aller Art nicht fehlt, so wäre es
höchst verwunderlich, wenn über Mittel und Wege zur Erreichung der
Höhe zwischen allen Beteiligten die Übereinstimmung bereits erzielt wäre.
Und sofort hebt sich hier, alle übrigen Fragen, die ihrer Beantwortung
noch harren mögen, vollständig in den Hintergrund drängend, dasjenige
Problem heraus, von dessen Lösung im gegenwärtigen Stande der Ent-
wicklung das Wohl und Wehe der Bibliotheken fast ausschließlich ab-
hängt: das ist die Bemessung der Vermehrungsfonds.
Daß die Bibliotheksverwaltung, auch im bescheidensten Verständnis ihre ausschias-
°' gebende Wirh-
des Wortes, verhältnismäßig so jungen Datums ist; daß man so merk- tigkeit.
würdig spät dahinter gekommen ist, wie es das Wesen der Bibliotheken
ist, zu wachsen, solange sie leben, und wie daher Kataloge und Ord-
nungen nur dann die Gewähr der Dauer bieten, wenn sie dieser Eigenart
Rechnung tragen; daß man so viel Zeit dazu gebraucht hat, um zu be-
greifen, wie diese Kataloge, denen es bestimmt ist, nie fertig zu werden,
bei der Verschiedenheit der von Jahr zu Jahr und von Generation zu
Generation wechselnden Arbeiter nur dann lebensfähig bleiben, wenn
jeder einzelne an die pedantische Beobachtung derselben Grundsätze ge-
bunden wird: das alles ist denen, die heute mit ihren wissenschaftlichen
Bedürfnissen auf die Bibliotheken angewiesen sind, vollkommen gleich-
gültig; denn die Unzulänglichkeiten, die sich als Zeugnisse jener Entwick-
lung bis in die neueste Zeit hinein gerettet hatten, sind überall überwunden
oder so gut wie überwunden. Worunter aber die wissenschaftliche Arbeit
heute leidet auf Schritt und Tritt, und was keine Kunst des Bibliothekars
heilen kann, das sind die Folgen der Gleichgültigkeit, der Planlosigkeit
und der wahrhaft unökonomischen Sparsamkeit, die die wichtigste Auf-
gabe der Bibliotheken, den Ausbau der Bestände, fast allenthalben so
lange beherrscht haben und zum Teil noch beherrschen. Ein Stück
Land, mag es noch so arg verwirtschaftet sein, kann mit leidlichem Geld
und frischem Blut in kurzem wieder auf die Höhe gebracht werden,
wenn eine Voraussetzung zutrifft: wenn der Boden gut ist; der zähe
Fleiß ganzer Generationen aber gehört dazu, ein Unland ertragfähig
zu machen. So ist auch aus der verkommensten Bibliothek alles zu
machen, wenn die Bücher da sind, die man nach ihrer Bestimmung in
ihrem Besitz erwarten darf, während schwere Mängel und Lücken in den
Beständen nur bei ganz unverhältnismäßig gesteigerten Mühen und Auf-
wendungen über%vunden werden können und demgemäß fast nie über-
wunden werden. Das ist das Re.sultat hundertfältiger Erfahrung und darf
die Geltung eines Axioms in Anspruch nehmen. Woraus sich für die
Aufsichtsbehörde als die bei weitem wichtigste Aufgabe die Sorge für
eine ausreichende Bemessung der Anschaffungsfonds ergibt. Eine Auf-
gabe, an deren Auffassung und Behandlung Gegenwart und Zukunft um
so stärker interessiert sind, je störender einerseits bei der ständigen
r-i Fritz Milkau: Die Bibliotheken,
o /-+
Steigerung des wissenschaftlichen Betriebs jede UnzulängUchkeit in der
Lieferung der Hilfsmittel empfunden wird, und je geringer andrerseits
die Aussicht geworden ist, in der Gegenwart begangene Fehler zukünftig
auf die bisherige Weise, d. h. durch den Zufluß ganzer Sammlungen älterer
Literatur repariert oder doch in ihren Folgen gemildert zu sehen. Wie
die frische Unbefangenheit, mit der man noch vor hundert Jahren lebens-
unfähige Sammlungen ihrer Selbständigkeit entkleidete, für immer dahin
zu sein scheint, so ist die Beweglichkeit des modernen Lebens der Bil-
dung von Privatbibliotheken höchst ungünstig, und wo sie noch auf den
Markt kommen, da erweist sich in der Regel die Konkurrenz des mächtig
entwickelten Antiquariats und amerikanischer Donatoren den staatlichen
Mitteln und der amtlichen Schnelligkeit weit überlegen. Es gilt also, das
ist eine unabweisliche Forderung, die Bibliotheken in den Stand zu setzen,
bei der Sammlung der modernen Literatur innerhalb des ihnen zugewiesenen
Kreises die Bedürfnisse der Gegenwart wie der Zukunft von vornherein
ausreichend zu berücksichtigen.
Wie sind nun die deutschen Bibliotheken für diese Aufgabe gerüstet?
Ihre gegen- Bei der großen Verschiedenheit der Dotierungen, die nur zum Teil
wärtige Unzu- ^.,.. t-, •• t i * lui.
rängiichkeit. in der Verschiedenheit der Ziele ihre Begründung hat, ist es selbstver-
ständlich, daß eine zusammenfassende Antwort nicht für alle Anstalten
dieselbe Geltung haben kann. Wie sie aber lauten muß, darüber herrscht
bei denen sowohl, die auf die Bibliotheken angewiesen sind, wie bei den
Bibliothekaren als den berufenen Kennern der Leistungsfähigkeit ihrer
Anstalten nur eine Ansicht. Sie kommt zum Ausdruck in dem Schlag-
wort vom Notstand der deutschen Bibliotheken, das, trotz der ungewöhn-
Uchen Aufbesserung der letzten Jahrzehnte vor einiger Zeit aufgetaucht,
nicht mehr aus der Erörterung der Frage verschwinden will und dem man,
soviel die Mode bei seiner Prägung mitgewirkt haben mag, unrecht täte,
wollte man es mit den politischen Schlagworten zusammenwerfen, da hier
von einem persönlichen Interesse derer, die sich darauf vereinen, nicht
die Rede sein kann. Die Beobachtungen innerhalb der vier Wände, die
theoretischen Abmessungen an der Skala des Betriebs der Wissenschaft
und der literarischen Produktion, die praktischen Berechnungen an den
Erscheinungen des Büchermarkts, alles führt zu demselben Ergebnis: die
Bibliotheken bleiben mit ihren Anschaffungen weit hinter allen billigen
Anforderungen zurück, und nur durch eine von Grund aus neue Dotierung
können sie in den Stand gesetzt werden, der ihnen innerhalb der staat-
lichen Pflege der Wissenschaft zugewiesenen Aufgabe gerecht zu werden.
Und so groß ist die Differenz zwischen der gegenwärtigen Höhe der Ver-
mehrungsetats und den Forderungen — sie gehen bis zur Verdoppelung
und darüber — , daß man zunächst unwillkürlich nach einer Erklärung
sucht, wie es bei den günstigen Finanzen, deren sich die deutschen Staaten
im ganzen erfreuen, zu einer derartigen Unterernährung der Bibliotheken
hat kommen können.
rV. Was zu erreichen bleibt. 575
Tatsächlich sind es eigenartige Verhältnisse, die hier im Spiele sind, wi« die Umu-
lilnglichkeit den
Anders als die wissenschaftlichen Institute, die aktiv der rorschung und ^-egenwärtgcn
Grad bat er-
dem Unterricht dienen, teilen die Bibliotheken aus alter Erbschaft her mit reichen können.
den wissenschaftlichen Sammlungen das Schicksal, ein wenig als Luxus-
einrichtungen angesehen zu werden, bei denen Reichtum und eine gewisse
Vollständigkeit als angenehm und vielleicht auch als forderlich anerkannt,
eine heroische Beschränkung aber noch nicht als dem Interesse der
Wissenschaft zuwiderlaufend zugegeben wird. Diese Auffassung aber
erhält eine starke Stütze in der außerordentlichen Schwierigkeit, vor der
die Bibliotheken stehen, wenn es sich darum handelt, ihre Bedürfnisse
nachzuweisen. Seitdem die literarische Produktion die Übersichtlichkeit,
die sie noch vor einem halben Jahrhundert besaß, so hoffnungslos ein-
gebüßt hat, ist es selbstverständlich, daß auch die auf breitester Grund-
lage angelegte und entsprechend dotierte Bibliothek bei der Vermehrung
ihrer Bestände nur noch an eine vernünftige Auswahl denken kann.
Und ebenso liegt es auf der Hand, daß ein Staat, der mehrere Biblio-
theken zu unterhalten hat, die mit der Sicherheit und Schnelligkeit des
Verkehrs unendlich gesteigerte Möglichkeit der Aushilfe von Bibliothek
zu Bibliothek bei der Zumessung der Mittel nicht unberücksichtigt lassen
darf. Bereits hieraus ergibt sich für die Feststellung des Bedarfs eine
verhängnisvolle Unsicherheit der Grundlage, indem einerseits der Hinweis
auf die unbefriedigten Wünsche der Benutzer als auf etwas schlechthin
Unvermeidliches wirkungslos bleiben muß, andrerseits aber weder für die
Auswahl noch für den Verzicht im Hinblick auf die Hilfe einer anderen
Anstalt sichere und allgemein anerkannte Kriterien gegeben sind. Und
während weiter andere wissenschaftliche Institute bei der Vertretung
ihrer Forderungen mit einer Handvoll Zahlen zu operieren haben, würden
die Bibliotheken, um das Mißverhältnis zwischen Mitteln und Bedürfnis
in concreto darzutun. Tausende und aber Tausende von kleinen, durchaus
individuelle Beurteilung fordernden Posten vorzuführen gezwungen sein.
Weshalb es allgemeine Übung geworden ist, bei den Klagen über die
Unzulänglichkeit der verfügbaren Mittel einerseits diejenigen Erscheinungen
zu fassen, die die Anforderungen an die Bibliotheken erhöht haben, wie
namentlich die ungeheure Zunahme der wissenschaftlichen Arbeit und der
literarischen Produktion, und andrerseits die Momente zu bestimmen, die
die Ausgiebigkeit des Geldes fortgesetzt verringern, wie die Steigerung der
Bücherpreise und der Buchbinderarbeit, um auf Grund solcher allgemeiner
Berechnungen eine entsprechende Vermehrung der Mittel zu fordern. Ein
Weg, der trotz einiger Unsicherheiten recht wohl zu brauchbaren Ergeb-
nissen hätte führen können, wenn die unentbehrliche Voraussetzung für ihn
zuträfe, d. h. wenn die Etats, deren Verstärkung man verlangt, seinerzeit
aus dem Bedürfnis heraus nach bestimmtem Plan und auf Grund sorg-
fältiger, die ungeheure Masse des Details nicht scheuender Prüfung fest-
gestellt wären. Das ist aber, wie die Entwicklung der Dotationen, das
._g Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
bald zögernde bald sprunghafte Steigen und die in den tatsächlichen Ver-
hältnissen nicht begründete Buntheit des gegenwärtigen Bildes unwider-
leglich zeigt, niemals der Fall gewesen.
Dazu kommt ein Anderes. Unleugbar ist die Verstärkung, welche
die Anschaffungsfonds in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, fast auf
der ganzen Linie außerordentlich groß; das springt sofort in die Augen;
daß dieselben indes zu einer Zeit wirtschaftlicher Enge und auf Grund
unzureichenden Verständnisses der Bibliotheken von vornherein ganz un-
zulänglich bemessen worden sind, das wird erklärlicherweise nicht ge-
nügend festgehalten; und daß andrerseits die Steigerung trotz ihrer Leb-
haftigkeit mit der gleichzeitigen Steigerung der Büchererzeugung nicht
gleichen Schritt gehalten hat, das wird, wie begreiflich, als Beweis für
die Notwendigkeit weiterer Erhöhung so lange nicht zugelassen, als nicht
mittels eines anerkannten Verfahrens für jede Bibliothek festzustellen ist,
in welchem Umfange an dieser Steigerung diejenige Literatur beteiligt
ist, welche für sie in Frage kommt.
Auch damit ist indes eine ausreichende Erklärung für diese auf-
fallende Erscheinung noch nicht gewonnen. Zum vollen Verständnis
gelangt man vielmehr erst, wenn man noch tiefer hinabsteigt und sich
vergegenwärtigt, wie die Bibliotheken im Gegensatz zu den übrigen
Avissenschaftlichen Instituten und Sammlungen von der überraschenden
Teilung und Entfaltung, die der anstaltsmäßige Wissenschaftsbetrieb in
den letzten Jahrzehnten erfahren hat, unberührt geblieben sind und heute
wie ehedem die miiversitas liferarum unverkürzt in ihr Programm
schließen. In die Aufgabe, die noch vor einem halben Jahrhundert der
einen Universitätskrankenanstalt oblag, teilen sich heute sechs, sieben und
mehr Institute. Und wie die Annahme berechtigt ist, daß für diese Auf-
gabe heute nicht entfernt die gegenwärtigen Mittel zur Verfügung ständen,
wenn sie noch von der einen Anstalt zu leisten wäre, so scheint es außer
Zweifel, daß für die Sammlung der wissenschaftUchen Produktion heute
ungleich reichere Quellen fließen würden, wenn z. B., ähnlich wie bei der
Sezession des technischen Unterrichtswesens, die wunderbare Entwicklung
der medizinischen und naturwissenschaftlichen DiszipUnen zur Begründung
medizinischer und naturwissenschaftlicher Fachbibliotheken geführt hätte.
Sicherlich wäre, wenn dies Verhältnis klar ins Auge gefaßt würde, nicht
die entmutigende Tatsache festzustellen, daß gegenüber der scheinbaren
Unersättlichkeit der Bibliotheken an den maßgebenden Stellen selbst
solche Männer ungeduldig und zurückhaltend geworden sind, die ihr Inter-
esse und ihr Verständnis für die Wissenschaft tausendfach außer Zweifel
gestellt haben. Diese Sachlage aber wird nicht günstiger dadurch, daß
die berufenen Vertreter der Wissenschaft, die im allgemeinen der Biblio-
thek gegenüber ihre eigenen Forderungen recht wohl dringlich zu machen
verstehen, in bedauerlicher Kurzsichtigkeit die Vertretung der Bibliotheks-
forderungen dem Bibliothekar allein überlassen. Mußte doch sogar Gesner
rv. Was zu erreichen bleibt.
577
und zwar einem Münchhausen gegenüber die Erfahrung' machen, daß er
als „Bibliothecarius das ist Vorsprecher eines corporis mortui", weniger
imstande war, das „Interessante" seiner Bitten augenfällig zu machen als
die Professoren, wenn sie den Kurator um die Hilfsmittel für ihre eigenen
Arbeiten angingen.
So geeignet diese Erwägungen scheinen, von der Verantwortung für den Folgen,
gegenwärtigen Zustand diejenigen in etwas zu entlasten, die berufsmäßig,
sei es als Fordernde, sei es als Gewährende, an der Zumessung der Fonds
beteiligt sind, so wenig wird dadurch die Lage erträglicher gemacht. Nach
allen Berichten ist es keine Übertreibung, wenn bereits 1765 von der jungen
Göttinger Bibliothek gerühmt wird, daß in keinem Fache die vornehmsten
Hauptbücher leicht vermißt würden, hingegen die „nur auf einige Weise
beträchtlichen Werke" gewiß größtenteils bei der Hand wären, und daß
überdies nichts versäumt \vürde, um bei jeder günstigen Gelegenheit ein-
zelne Fächer auch mit kleineren Schriften so viel möglich vollständig zu
machen. Heute gibt es in ganz Deutschland keine Bibliothek, die das
gleiche von sich sagen könnte oder der ihre Mittel es gestatteten, sich
zu einem gleich umfassenden Programm zu bekennen. Die ungeheure
Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit im 19. Jahrhundert ist in den
Beständen unserer großen Bibliotheken nicht zum Ausdruck gelangt. Ver-
gebens wäre das Bemühen, aus ihrer Zusammensetzung einen richtigen
Begriff zu gewinnen von der gewaltigen Ausdehnung, die die angewandten
Wissenschaften gewonnen haben; sie geben kein Bild von dem reichen
Leben, das die Forschung auf dem Gebiete der schönen Künste entfaltet;
nur ganz undeutlich spiegeln sie die staunenswerte Ausgestaltung der
naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen wieder, trotz der
ruinösen Größe der Quote, die die Anschaffungen aus diesen Gebieten
bei der Teuerkeit der Veröffentlichungen verschlingen; die schöne Lite-
ratur, als eine der vornehmsten Äußerungen des menschlichen Geistes
immer einer der würdigsten Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung,
ist auch mit den längst dem Urteil des Tages entzogenen Schöpfungen
nicht mehr als andeutungsweise vertreten, und selbst in den sogenannten
Geisteswissenschaften, dem einzigen Felde, das angemessen zu versorgen
die Bibliotheken in begreiflicher und durch die Tradition überdies ge-
gebener Bevorzugung des stärkeren Bedürfnisses sich haben angelegen
sein lassen können, sind sie meist traurig hinter den Leistungen in der
Zeit ihrer Armut zurückgeblieben.
Nicht überall treten die Wirkungen dieses Zustandes so deutlich zu- wirUnKen.
tage wie bei den Universitätsbibliotheken, die infolge der schärferen Um-
grenzung ihrer Aufgabe und bei der Übersichtlichkeit ihres Benutzerkreises
mehr als die Landesbibliotheken in der Lage sind zu beurteilen, in wel-
chem Grade sie ihrer Aufgabe gerecht werden. Eine der beklagens-
wertesten Erscheinungen, die hier zu beobachten sind, ist die, daß ganze
große Kreise der studierenden Jugend durch die fortgesetzten Enttäu-
DiB Kultur der Gbcenwart. I. i. 7j
578
Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
schungen, die sie mit ihren Büchergesuchen erleben, der Bibliothek
entfremdet werden. Selbstverständlich wirken hier noch andere Dinge
mit; in der Hauptsache muß es aber doch auf die Unzulänglichkeit der
Bibliothek zurückgeführt werden, wenn z. B. die Juristen sich immer mehr
daran gewöhnen, in literarischen Nöten bei Seminar-, Examens- und Promo-
tionsarbeiten statt der Bibliothek eines der bekannten buchhändlerischen
Leihinstitute in Anspruch zu nehmen, die ihnen auf die Einsendung des
Themas die zugehörige Literatur in geschäftsmäßig oberflächlicher Zu-
sammenstellung zur Verfügung stellen, oder wenn die Mediziner in ihren
angeblich wissenschaftlichen Erstlingsarbeiten, die ja für weitaus die meisten
zugleich die letzten Versuche dieser Art sind, fast allgemein diese er-
schreckende handwerksmäßige Literatur-, man möchte sagen Geschichts-
losigkeit zeigen, die noch vor einem halben Jahrhundert unerhört gewesen
wäre. Die Erfahrung, die Robert von Mohl aus seiner bibliothekarischen
Praxis heraus in die Worte kleidete: „Wo wenig da ist, da wird noch
weniger gesucht", wird in stetig zunehmendem Umfange gemacht; gibt es
doch Bibliotheken, bei denen die Benutzung seitens der Mediziner auf
sechs Prozent der bei der Fakultät Eingeschriebenen herabgesunken ist,
und ob die Chemiker, Botaniker usw., die als Angehörige der Philo-
sophischen Fakultät in der Regel nicht besonders gebucht werden, ein
größeres Vertrauen zur Bibliothek zeigen, ist nach dem allgemeinen Ein-
druck recht zweifelhaft. Es ist wichtig, dies im Auge zu behalten, wenn
man den rechten Maßstab für die Beurteilung des Prozentsatzes der
Wünsche gewinnen will, die wegen Nichtvorhandenseins des gesuchten
Werks unerfüllt bleiben müssen. Und weiter hat man dabei in Betracht
zu ziehen, daß die Statistik nur die schriftlich eingehenden Gesuche faßt,
nicht aber die mit negativem Ergebnis endenden Nachforschungen in den
Katalogen und im Magazin, die bei den Universitätsbibliotheken schwer-
lich zu hoch veranschlagt werden können, da die hier vornehmlich in
Frage kommenden Benutzer, die Dozenten, eben diejenigen sind, die die
Bibliothek am stärksten in Anspruch nehmen und überdies am ehesten
mit ihren Bedürfnissen über die landläufige Literatur hinausgehen. Wenn
trotzdem das Verhältnis der mit dem niederschlagenden „Nicht vorhanden"
bezeichneten Bestellungen bei den preußischen Universitätsbibliotheken
z. B. auf durchschnittlich fünfzehn Prozent hat ermittelt werden können,
so muß das doch auch denjenigen stutzig machen, der den Grundsatz von
der erzieherischen Wirkung der Sparsamkeit auch auf die wissenschaft-
lichen Hilfsmittel überträgt. Wieviel gute Ansätze, wieviel fruchtbare
Keime hier vernichtet werden, das läßt sich freilich nicht in statistische
Ziffern bringen. Wenn es möglich wäre, man würde über dem Ergebnis
ernst werden.
Wie nicht za Wie ist ZU helfen? Man hat die Frage jetzt lange genug gewälzt,
um ZU wissen, daß die Erleuchtung, wie der Not mit den vorhandenen
Mitteln durch bloße Änderung der Organisation zu begegnen wäre, nicht.
IV. Was zu erreichen bleibt. e^yg
mehr kommen wird. Die „Spezialisierung der Bibliotheken", d. h. die Be-
schränkung der einzelnen Anstalt auf bestimmte Fächer, in der Robert
von Mohl den einzigen allgemeinen Plan zur Herstellung eines „wenigstens
teilweise verbesserten Zustandes" erblickte, kennzeichnet sich, wie über-
dies niemand überzeugender nachweisen kann, als der Urheber selbst es
getan hat, ohne weiteres so deutlich als ein Ausweg der Verzweiflung,
daß es heute, da die Politik des Existenzminimums gegenüber den wissen-
schaftlichen Anstalten der Erinnerung angehört, niemand gibt, der diese
Idee aufnehmen möchte. Eher schon könnte ein Blick auf die Zukunft
der Instituts- und Seminarbibliotheken bei den Universitäten den Ge- instuots-
danken nahelegen, die Leistungsfähigkeit der Universitätsbibliotheken auf
Kosten dieser Sammlungen zu steigern. Es gibt ihrer dreißig bis vierzig
bei jeder Universität; alle verfügen sie im Verhältnis zur Ausdehnung des
zu pflegenden Gebietes über nicht unbeträchtliche Mittel, die in ihrer Ge-
samtheit hier und da sogar den Vermehrungsetat der Universitätsbiblio-
thek übersteigen. Ursprünglich gedacht als Handapparate zur Unter-
stützung des Unterrichts, haben sie sich im Laufe der Jahre, nicht zum
wenigsten durch Zuwendungen von Lehrern und Schülern, zu teilweise
recht ansehnlichen Fachbibliotheken entwickelt, die unterzubringen und in
Ordnung zu halten von Jahr zu Jahr größere Schwierigkeiten verursacht.
So zweifellos es indes ist, daß es auf diesem Wege nicht in infinitum
weitergeht, und so nachhaltig den Universitätsbibliotheken durch Über-
weisung dieser Sammlungen samt ihren Einkünften geholfen werden
könnte, so wird doch niemand einer solchen Maßnahme das Wort reden,
der jemals einen Einblick in ihre, segensreiche Wirksamkeit genommen
hat. Natürlich gibt es auch unter ihnen Wunderlichkeiten, Bibliotheken
in eifersüchtig verschlossenen Schränken, die treffender mit dem schönen
alten Ausdruck Bibliotaphe bezeichnet würden. Wo sie aber einigermaßen
vernünftig verwaltet werden, da zeigen sie sich mit ihrer Übersichtlich-
keit und mit der durch keinerlei lästige Aufsicht beeinträchtigten Frei-
heit, ja Behaglichkeit der Benutzung ungleich geschickter als die Univer-
sitätsbibliotheken, den seiner Ziele noch nicht sicheren Anfanger anzuziehen,
zutraulich zu machen, anzuregen und zu fördern. Ein wenig Einverneh-
men einerseits zwischen den verwandten Instituten und andererseits zwi-
schen den Instituten und der Universitätsbibliothek, zumal bei der An-
schaffung von Zeitschriften und kostspieligen Werken, strenge Beschrän-
kung auf den Studienzweck und rücksichtslose Ausscheidung aller hiemach
entbehrlichen Literatur, vielleicht fortdauernd zu gewährleisten durch das
brutale, aber voraussichtlich allein wirksame Mittel einer Maximal-Bände-
zahl: das etwa mag der Weg sein, um den in der Entwicklung dieser
Anstalten zutage tretenden Unzuträglichkeiten abzuhelfen. Für die Uni-
versitätsbibliotheken ist hier nichts zu erwarten.
Es bleibt dabei: ohne neue Mittel keine Hilfe, gleichviel welche Rieh- wie »u helfen ist.
tung man der Entwicklung der Bibliotheken geben mag. Denn ob man
37*
580 Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
bei dem geg-emvärtigen System bleibt, welches die große Mehrzahl der
Bibliotheken für die Befriedigung außergewöhnlicher Anforderungen auf
die Hilfe der wenigen, das Durchschnittsmaß stark überragenden Samm-
lungen anweist, oder ob man zur Entlastung dieser über das wünschbare
Maß hinaus in Anspruch genommenen Anstalten daneben ein weiteres
Aushilfesystem auf der Grundlage schafft, daß die übrigen Bibliotheken
in den Stand gesetzt werden, jede ein bestimmtes Fach zu besonderer
Stärke zu entwickeln: so viel steht fest, daß an eine Einschränkung der
Aufgaben nirgends gedacht werden kann. Diese neuen Mittel aber können
in angemessener Höhe jetzt und in Zukunft füglich nicht erwartet werden,
solange es nicht gelingt, den Bedürfnisnachweis auf eine sichere Grund-
lage zu stellen und damit die gegenwärtig fast unbegrenzte Bewegungs-
freiheit bei der Behandlung der bibliothekarischen Forderungen auf ein
vernünftiges Maß einzuschränken. Dies ist der springende Punkt. Auf
ihn sind alle Kräfte zu vereinen.
Und so groß die Schwierigkeiten sich erheben, unüberwindlich sind
sie nicht. Über den Weg selbst aber kann ein Zweifel nicht bestehen. Er
ist mühselig und lang; aber es ist der einzige, der zum Ziele zu führen
verspricht: der ganze alte Vorrat allgemeiner Erörterungen und Berech-
nungen, mit denen die Bibliotheken bisher die Unzulänglichkeit ihrer Mittel
darzutun pflegten, wird als ausgedient und unbewährt beiseite gelassen,
und an seine Stelle tritt als Grundlage der Verhandlung zwischen dem
Fordernden und dem Gewährenden etwas Greifbares, das Buch selbst.
Nur auf den ersten Blick scheint dieser Vorschlag ungeheuerlich.
Wie einerseits die große Masse der Erscheinungen, an den Aufgaben der
Bibliotheken gemessen, ohne weiteres ausscheidet, so ist andererseits bei
dem übrig bleibenden Rest die Grenze zwischen dem, was notwendig, und
dem, was bloß wünschbar ist, keineswegs so verschwommen, wie es dem
ungewöhnten Auge zunächst scheint. Der Standpunkt und die Bedeutung-
des Verfassers, der Gegenstand und der Umfang seines Buches, das sind
auch für den oberflächlichen Kenner des jeweiligen Standes der frag-
lichen Disziplin in neunundneunzig unter hundert Fällen vollkommen aus-
reichende Kriterien, um zu entscheiden, ob das Buch für die Bibliothek
entbehrt werden kann oder nicht. Ohne Schwierigkeit werden sich ein
Vertreter der Wissenschaft und ein Vertreter der regierenden Gewalten
binnen einer Stimde darüber einigen, was z. B. von der Literatur des
Bürgerlichen Gesetzbuchs aus einem bestimmten Jahre für die Bibliothek
des Reichsgerichts, was für die Königliche Bibliothek zu Berlin und was
schließlich für eine Universitätsbibliothek notwendig ist. Und so unüber-
sehbar ist die Masse der in Frage kommenden Erscheinungen nicht, daß
für das Ganze unmöglich sein sollte, was für einen Ausschnitt spielend
zu bewältigen ist. Freilich ist es tausendmal bequemer, mit den alten
Argumenten zu arbeiten, hinzuweisen auf die Bedeutung der Wissenschaft,
die Aufgaben der Kulturvölker, die Ehrenpflicht des Staates, die Vorbild-
IV. Was zu erreichen bleibt. 58 1
liehe Ausstattung dieser oder jener Riesenbibliothek des Auslandes usw.
Aber allen diesen Argumenten fehlt die Beweiskraft, die sich Anerkennung
erzwingt. Allgemein wie sie sind, werden sie durch ebenso allgemeine
Hinweise auf die Finanzlage, auf dringlichere Bedürfnisse, auf frühere Be-
willigungen usw. beiseite geschoben. Festen Boden bekommt die Forde-
rung erst unter die Füße, wenn sie einfach und schlicht vom Buche aus-
geht. Nur so sichert sie sich eine sachliche Behandlung. Dies ist daher
der Weg, der beschritten werden muß; der auch dann beschritten werden
müßte, wenn die Anfechtbarkeit der einzelnen Position wirklich so groß
wäre, als sie auf den ersten Blick scheint.
Selbstverständlich ist nun die Durchführung dieses Vorschlags nicht
so zu denken, daß jede Bibliothek für sich jahraus jahrein in mühseligen
Aufstellungen das Mißverhältnis zwischen Ausrüstung und Aufgabe nach-
wiese, obgleich auch bei solchem Verfahren ein endlicher Sieg nicht aus-
bleiben könnte. Sehr viel schneller und vollständiger würde vielmehr
für alle deutschen Bibliotheken die ersehnte Heilung herbeigeführt werden,
wenn die Unterrichtsvervvaltung eines Bundesstaats mit ausgedehnterem
Bibliothekswesen die ihr zur Verfügung stehenden Kräfte und Macht-
mittel daran setzte, um unter Mitwirkung der Finanzverwaltung auf dem
angedeuteten Wege an der Hand der literarischen Produktion etwa nach
dem Durchschnitt der drei letzten Jahre eine Art beweglichen Etats mit
Höchst- und Mindestbetrag für die einzelnen Disziplinen zu ermitteln und
von dieser Grundlage aus, unter sorgfältiger Berücksichtigung der aus
der Verschiedenheit der Aufgaben sich ergebenden Verschiedenheit der
Bedürfnisse die Anschaffungsfonds der einzelnen Bibliotheken festzustellen.
Die Bemessung des Zuschlags für das Binden der Bücher würde kaum
zu Differenzen führen, und auch über die Höhe der am billigsten gleich-
falls nach einem einheitlichen Prozentsatz zu bestimmenden Dispositions-
fonds zur Ausfüllung von Lücken in den älteren Beständen würde bei
dem Reichtum der vorliegenden Erfahrungen eine Einigung unschwer zu
erzielen sein. Die Steigerung des Wertes der wissenschaftlichen Pro-
duktion aber und der Buchbinderpreise gäbe dann die Skala, nach der
in dreijährigen Perioden etwa die Etats neu zu ordnen wären.
Die Arbeit wäre groß, das Ziel aber des Schweißes der Edlen wert.
Alle Welt weiß, wieviel von dem kräftigen Aufschwung, den das deutsche
Bibliothekswesen in den. letzten Jahrzehnten genommen hat, auf die Initia-
tive der preußischen Unterrichtsverwaltung zurückzuführen ist. Sie würde
ihr Werk krönen, wenn es ihr gelänge, in vorbildlichem Vorgehen diese
Frage, im eigentlichsten Sinne des Wortes die Kardinalfrage des ganzen
Bibliothekswesens, aus der Sphäre der allgemeinen Erörterungen und Be-
hauptungen auf den festen Boden der Tatsachen zu stellen und damit
den letzten Rest der uralten Auffassung der Bibliothek als einer Luxus-
einrichtung für alle Zeiten zu beseitigen.
Von so überragender Bedeutung ist gegenwärtig diese Aufgabe, daß weitere Sorgen.
[■82 Fritz Mii.kau: Die JÜbliotholccn.
davor, wie gesagt, alle sonstigen Sorgen und Wünsche, an denen es im
Bibliothekswesen so wenig fehlt wie in irgend einem anderen Kreise
menschlichen Wirkens, stark zurücktreten. Darum sind sie indes nicht
sämtlich von der Art, daß man sie getrost der Zukunft überlassen dürfte.
Auch unter ihnen gibt es vielmehr noch Frag-en, die das innerste Wesen
der Bibliothek stark berühren und ein schleuniges Eingreifen angezeigt
scheinen lassen.
Raumprobiem. Nicht hierher zu rechnen ist allerding^s das Raumproblem, das, kürz-
lich in den Vereinigten Staaten von einer hervorragenden, außerhalb der
Zunft stehenden Stelle aufgenommen und unter lebhafter Betonung seiner
Dringlichkeit vor die Bibliothekare des Landes gebracht, auch diesseits
des Ozeans einige Aufmerksamkeit erregt hat. Es ist allerdings eine
außerordentlich unbequeme Seite an den Bibliotheken, daß sie unersättlich
immer nur aufnehmen, nie abgeben. Kaum neu untergebracht, recken
und dehnen sie sich so gewaltig, daß auch das reichlich angemessene
neue Kleid ihnen bald wieder zu eng wird. Bereits hat ihr Wachstum
einen Schritt angenommen, der in sechs bis sieben Jahrzehnten, bei
einigen früher, nur bei wenigen später, zur Verdoppelung des Umfangs
führen müßte, wenn es, was leider nur zu wahrscheinlich ist, bei dieser
Gangart bliebe. Ist doch die Zahl der in Deutschland allein erschienenen
Druckwerke, die inan für 1850 auf rund 9000 berechnet hat, für 1905 auf
28886 festgestellt worden! Nichts aber berechtigt einstweilen dazu, auf
eine Verlangsamung dieses beängstigenden Tempos zu hoffen, und wenn
sich die Büchererzeugung der übrigen alten Kulturländer, nach dem bis-
herigen Gange zu urteilen, auch nicht mit derselben Schnelligkeit aufwärts
bewegen wird, so treten dafür fortgesetzt neue Völker in die Kultur ein
und beteiligen sich eifrig an der Arbeit, die Flut des Gedruckten noch
höher anschwellen zu machen. Was aber der Strom einmal in den
Bibliotheken abgelagert hat, das bleibt ihnen erhalten, solange sie be-
stehen, und deutlich sieht man die Zeit kommen, wo, von allen anderen
Nöten abgesehen, das Alte so mächtig geworden ist, daß die Benutzung
des Neuen, dem erfahrungsgemäß das Interesse sich in neunzig und mehr
unter hundert Fällen zuwendet, unerträglich erschwert wird. Wer streckte
da nicht unwillkürlich abwehrend die Hände aus? Daß man also einmal,
und zwar, soweit die Riesenbibliotheken in Betracht kommen, noch in
absehbarer Zeit zu diesem Problem wird Stellung nehmen müssen, scheint
unvermeidlich. Noch aber ist die Frage offenbar nicht reif Wenigstens
kann auch der erwägenswerteste unter den bisher aufgetauchten Vor-
schlägen — er stammt wie die Belebung des Problems selbst von dem
hochverdienten Präsidenten der Harvard-Universität — , wonach die Bücher
in lebende und tote zu sondern, die toten aber, d. h. die wenig oder gar
nicht gebrauchten auszuscheiden wären, um irgendwo in der Peripherie
möglichst gedrängt und mögliclit billig untergebracht zu werden, einst-
weilen als eine annehmbare Lösung nicht angesehen werden. Vielleicht
IV. Was zu erreichen bleibt. 583
leuchtete er ein, wenn die Verhältnisse zur Entscheidung drängten. Das
trifft aber keinesfalls in höherem Grade zu, als etwa der Ausblick auf die
in knapp fünf Jahrzehnten für Deutschland zu erwartende Steigerung der
Bevölkerungsziffer von 60 auf 120 Millionen jetzt bereits grundstürzende
Maßnahmen forderte. Die kommenden Geschlechter werden mit helleren
Augen sehen, und solange sich nicht eine weniger gewaltsame Lösung
gefunden hat, scheint es nur vorsichtig, den Ausweg aus der Schwierigkeit
ihnen zu überlassen. Der Übergang von der Rolle zum Kodex, vom Per-
gament zum Papier, von der Schrift zum Druck, vom Saal zum Magazin:
das sind klassische Beispiele dafür, wie die Raumschwierigkeit, bewußt
und unbewußt, immer wieder auf einem Wege überwunden worden ist,
den zu sehen den Vorlebenden nicht vergönnt war. Etwas Geduld scheint
also durchaus am Platze. Immerhin werden die Bibliothekare gut tun,
ernstlich darüber nachzudenken, ob nicht die Ausnutzung des Magazins
einer erheblichen Steigerung fähig ist; ob nicht gegenüber den Geschenken
etwas mehr Kritik angebracht sein möchte, als die naive Freude am
Wachstum der Bändezahl bisher hat aufkommen lassen; ob nicht der
Segen des Tauschverkehrs, der jeder der beteiligten Anstalten in Deutsch-
land Jahr für Jahr an die 8000 Dissertationen und Programme zuführt,
etwas einzudämmen sein wird; ob nicht die immer noch als heilig hinge-
stellte Pflicht, aus dem zugehörigen Bezirk bedingungslos jedwedes Er-
zeugnis der Druckerpresse der Nachwelt aufzubewahren, gegenwärtig ihre
Grundlage weniger in einem Interesse der Wissenschaft hat als in dem
etwas subalternen Vollständigkeitsbedürfnis, vor dem kein Sammler be-
wahrt bleibt, und ob es schließlich nicht an der Zeit ist, da, wo mehrere
Bibliotheken an einem Orte bestehen und drüber hinaus eine vernünftige
Teilung der Aufgaben zu vereinbaren.
Wenn hier also einstweilen vorbeugende Maßregeln ausreichen, so Der Bibliothekar
. ^ „_ und seine Arbeit.
scheint dagegen unverweiltcs Zufassen angezeigt, um nun auch die Krarte,
die aus dem Bücherhaufen erst die Bibliothek machen, den im Laufe der
letzten Jahrzehnte so stark veränderten Verhältnissen mehr als bisher an-
zupassen. Ein Punkt aber ist es hier vor allen, der dringlich Abhilfe
heischt: das ist das grobe Mißverhältnis zwischen der Vorbildung der
Arbeiter und einem erheblichen Teil der von ihnen zu leistenden Arbeit.
Nur mit starkem Befremden wird derjenige, dem die Gewöhnung noch
den Blick nicht getrübt hat, wahrnehmen, wie rein mechanische Arbeiten,
die nichts Höheres als einen zwar sicheren, aber doch recht bescheidenen
Besitz von Sprachkenntnissen voraussetzen, dauernd, d. h. nicht etwa
nur im Vorbereitungsdienst, von Leuten mit gelehrter Bildung geleistet
werden. Das war vernünftig oder doch erträglich, solange diese Ge-
schäfte sich in so mäßigen Grenzen hielten, daß sie nebenher erledigt
werden konnten; es ist unbegreiflich, seit sie an Umfang die eigentlich
gelehrte Arbeit überragen. Man braucht nicht von jenem für die Geschäfts-
verteilung in amerikanischen Bibliotheken empfohlenen Grundsatz aus-
,0^ Fritz Mii.kaii: Die Bibliotheken.
zugehen „Never do what a lower paid man can do", um es verwunderlich
zu finden, wenn ein akademisch gebildeter Mann in der Führung des
Zugangsverzeichnisses oder in der Einziehung der Pflichtexemplare auf-
geht, wenn seine Kraft dazu verbraucht wird, um den Ausleihedienst zu
versehen, den Lesesaal zu beaufsichtigen, den Buchbinder zu kontrol-
lieren usw. Denn nicht darin besteht im wesentlichen die Verkehrtheit
des Verfahrens, daß dieser oder jener Dienst teurer bezahlt wird als nötig
wäre. Das Schlimme daran ist vielmehr die beklagenswerte Wirkung,
die es auf die Entwicklung der Arbeiter ausübt. Wieviel Frische, wieviel
Arbeitsfreudigkeit, wieviel Initiative dadurch zum Schaden der Biblio-
theken niedergehalten worden ist und niedergehalten wird, das läßt sich
nicht berechnen; erkennbar aber ist es aufs deutlichste für jeden, der über
die nächste Umgebung hinaussieht und ein wenig vergleichen gelernt hat.
Es ist nicht anders: im engen Kreis verengert sich der Sinn, und nur
wenige sind es, denen es gelingt, aus der abstumpfenden Arbeit Beweg-
Dienststunden. Uchkeit des Gcistcs und Freiheit des Blicks zu retten. Und verderblich
wie die Geistlosigkeit und Gleichförmigkeit der Arbeit wirkt auf das
lebendige Interesse auch die unselige Einrichtung der Dienststunden. Als
Goethe sich in seinem temperamentvollen Vorgehen bei der Neuordnung
der Jenenser Bibliothek durch die Art der Bibliothekare auf die ver-
drießUchste Weise gehemmt sieht, da schreibt er ärgerlich an Schiller:
„Ich gebe die Bemerkung zum besten, daß das Arbeiten nach vor-
geschriebener Stunde, in einer Zeitenreihe, solche Menschen hervorbringt
und bildet, die auch nur das allernothdürftigste, stundenweis und stunden-
haft, möchte man sagen, arbeiten." Das scheint eine leicht hingeworfene
Notiz; aber, wie die Weimarer Ausgabe anmerkt, die mehrfachen Kor-
rekturen, die Goethe während des Diktats, nach dem Diktat und bei der
Redaktion der Briefe für den Druck vorgenommen hat, zeigen deutlich,
welches Gewicht er auf diese Beobachtung legte. Tatsächlich hat er hier
mit scharfem Bück eine der stärksten Wurzeln des Übels erkannt, unter
dem die Bibliotheken leiden. Wer regelmäßig, gleichviel w-elche Arbeit
vorliegt, nach so und so viel Stunden Dienst in dem guten Glauben nach
dem Hut greift, seine Pflicht getan zu haben, in dem kann sich nur
schwer das warme, nach Betätigung drängende Interesse für das Gedeihen
des ganzen Instituts entwickeln, wie es beim wissenschaftlichen Beamten
vorausgesetzt werden muß, weil es die vornehmste Quelle alles gesunden
Fortschritts ist. Wohlberechtigt zu jener Zeit, als der Bibliothekar der
Universitätslehrer war, der verpflichtet wurde, tägUch einen bestimmten
Bruchteil seiner Zeit der Berufsarbeit zugunsten der Bibliothek zu ent-
ziehen, ist die Einrichtung, seit der Bibliothekar sein Brot als Bibliothekar
verdient, zu einem Hemmnis aufstrebender Entwicklung, zu einer Schule
der Mittelmäßigkeit geworden.
MittiercBe^imte. Glücklicherwcise mehren sich die Anzeichen dafür, daß dieser Zu-
stand die längste Zeit gedauert hat. Die vor einer Reihe von Jahren in
IV. Was zu erreichen bleibt. 585
Preußen begonnene Errichtung von Expedienten.stellen kann allerdings als
ein durchaus gelungener Versuch in dieser Richtung nicht bezeichnet
werden, da man hier den entgegengesetzten Fehler gemacht hat, in den
Anforderungen an die Vorbildung zu tief hinabzusteigen. Der erste Schritt
ist indes getan, und eben der halbe Mißerfolg bietet die beste Gewähr
dafür, daß man das Ziel nun nicht mehr aus den Augen verlieren wird.
Die guten Erfahrungen aber, die man seit kurzem an der Landesbibliothek
in Stuttgart damit gemacht hat, daß man den fünf wissenschaftlich ge-
bildeten Bibliothekaren die gleiche Zahl mittlerer Beamten, Leute mit
angemessen ergänzter Volksschullehrerbildung, zur Seite gab, zeigen an
einem praktischen Beispiel, bis zu welchem Umfange man unbedenklich
bei der Zuteilung der Arbeitskräfte von der akademischen Vorbildung ab-
sehen darf. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine so eingreifende
Neuordnung nicht von heute auf morgen durchgeführt werden kann. Man
sollte sich aber gegenwärtig halten, daß sie, zumal die mehr mechanischen
Arbeiten in ungleich stärkerem Maße zunehmen als diejenigen, welche eine
gelehrte Bildung verlangen, die unumgängliche Voraussetzung für eine
volle Gesundung der Bibliotheksverhältnisse ist. Erst wenn diese Voraus- DerBibiiothck.-.r
Setzung erfüllt ist, werden die geistigen Kräfte, die in dem wissenschaft-
lichen Personal vorhanden sind, bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge
aber zu einem guten Teil brach liegen, in vollem Umfange für die Biblio-
thek frei werden. Erst dann sind die Grundlagen dafür geschaffen,
daß der Bibliothekar zur Regel wird, der jetzt die Ausnahme ist: der mit
gesimdem Ehrgeiz und starkem Verantwortlichkeitsgefühl die ihm über-
tragene Abteilung arbeitend und beaufsichtigend zur besten des Instituts
zu machen strebt, der die ganze Bibliothek mit dem Auge des Herrn,
nicht des Mietlings ansieht und ungeheißen hilft und bessert, wo die
Gelegenheit sich bietet, der nicht in die gefährliche Andacht der Quis-
quilien versinkt, sondern mit freiem Blick das Große vom Kleinen zu
scheiden weiß, der nicht an der Schablone klebt, sondern nachdenkend
und aufmerksam den Standpunkt des Kritikers auch den bestehenden
Einrichtungen gegenüber festhält, und der schließlich, wie sich das für den
Hüter und Verwalter wissenschaftlicher Schätze von selbst verstehen sollte,
Muße und Frische genug aus dem Dienste rettet, um für seinen Teil auf
bescheidenem Hausaltar die Flamme der Wissenschaft zu nähren.
Nicht aus jedem Holz werden sich solche Männer schnitzen lassen.
Es ist richtig, daß es immer hier und da einen ausgezeichneten Bibliothekar
gegeben hat, der sozusagen vom Himmel gefallen war. Aber das sind
Ausnahmen, und andererseits verzichtet man darum doch nicht auf die
Erziehung zu einem Beruf, weil das Beste dazu von Hause mitgebracht
werden muß. Daher sollte es auf die Gefahr hin, daß mit den besten
Mitteln nicht das Beste erreicht wird, mit der praktischen und theore-
tischen Schulung der Anwärter sehr viel ernster genommen werden, als
es heute im allgemeinen geschieht, und vor allem sollte die sogenannte
,Q^ Fritz Milkau: Die Bibliolhokcn.
Fachprüfung, wo sie besteht, als das behandelt werden, was sie nach Lage
der Dinge nur sein kann, d. h. als eine Einrichtung, die die Möglichkeit
gibt, als ungeeignet erkannte Kräfte abzustoßen. Die Aufsichtsbehörden
aber würden ihren mannigfachen Verdiensten um die Hebung der Biblio-
theken ein neues hinzufügen, wenn sie, wenigstens bis zur Erstarkung
der noch jungen Grundsätze, selbst den Anschein meiden wollten, als
wären sie der immer noch stark herumspukenden Auffassung zugänglich,
wonach für jedweden studierten Mann, der körperlicher oder geistiger
Unzulänglichkeiten wegen dem ursprünglich gewählten Beruf zu entsagen
gezwungen ist, als rettender Hafen zunächst der Bibliotheksdienst in
Betracht kommt.
Solche Bibliothekare werden dann auch, und damit kann die Dar-
stellung endlich zum Schluß kommen, besser als alle Instruktionen die
Gewähr dafür bieten, daß die seit der Selbständigkeit des bibliothekari-
schen Berufs hier und da zutage getretene Neigung zur Überschätzung
der Technik in vernünftigen Schranken bleibe, daß über den Minutien,
die nun einmal in der bibliothekarischen Arbeit einen großen Raum
einnehmen, die wichtigen Fragen nicht vergessen werden, und daß das
Verhältnis zum Publikum in immer steigendem Maße beherrscht werde
von dem Geiste des Entgegenkommens, des Wohlwollens, der Hilfsbereit-
schaft, von dem Gedanken, daß die Bibliotheken in erster Linie dazu da
sind, um benutzt zu werden, die Bibliothekare aber, um die Benutzung
Was vom Aus- auf alle denkbare Weise zu fördern. Denen, die bei jeder Gelegenheit
land ä^^^iernen i3g^yy^(jgj^j(l g^^f dic blendenden Erscheinungen des ausländischen Biblio-
thekswesens, auf das Britische Museum, die Bibliotheque nationale oder
auf die mit unerhörten Mitteln arbeitenden großen amerikanischen Biblio-
theken hinweisen, kann, leider nur im Vorbeigehen, gesagt werden, daß
es kein zweites Land in der Welt gibt, in dem, alles in allem genommen,
für die Bedürfnisse der Wissenschaft im Punkte der Bibliotheken so wohl
gesorgt wäre und fortgesetzt gesorgt würde wie in Deutschland. Aber
Deutschland ist das Land der wissenschaftlichen Arbeit — seines Fleißes
darf sich jedermann rühmen — , und soll es diese Stellung behaupten, so
müssen auch die Bibliotheken auf dem Platze sein, müssen wissen, daß
sie sich nie genug tun können in dem Bemühen, ihre Schlagfertigkeit zu
steigern. Ohne daher in der Ausbildung der ihnen von alters her eigen-
tümlichen Vorzüge, des systematischen Katalogs, der sachlichen Aufstellung
im Magazin, der Freiheit des Ausleihens zu ermüden, sollten sie in stär-
kerem Umfange und in schnellerem Tempo, als es bisher geschehen ist,
die offenbaren Vorzüge der ausländischen, insbesondere der englisch-
amerikanischen Bibliothekspraxis sich zu eigen machen. Noch immer sind
bei uns die Kataloge im wesentlichen nur für die Beamten da, noch immer
ist der Arbeitsplatz im Lesesaal einseitig nach dem Gesetz der Raum-
ausnützung bemessen, nicht nach den Anforderungen der Behaglichkeit,
und immer noch, das ist das Übelste, muß der Leser, nicht viel anders
IV. Was zu erreichen bleibt.
587
wie vor jenen fünfzig Jahren, sein Buch vorherbestellen und einen Tag
oder zum mindesten ein paar Stunden sich gedulden, bis es ihm zur Ver-
fügung gestellt wird: Das alles, obwohl wir seit Jahrzehnten die Abwesen-
heit dieser Mängel in den englischen und amerikanischen Bibliotheken
rückhaltslos zu preisen gewohnt sind. Xatürlich sind diese Fragen zuletzt
Geldfragen, deren Entscheidung in anderen Händen liegt. Trotzdem sind
es die Bibliothekare, die dafür verantwortlich gemacht werden müssen,
daß solche Rückständigkeiten noch zu verzeichnen sind. Gerade weil hier
bei der Eigenart der Verhältnisse das Korrektiv der Öffentlichkeit sich
so wenig geltend macht, ist es doppelt ihre Pflicht, ihrerseits unermüdlich
so lange auf die Besserungsbedürftigkeit ihrer Einrichtungen hinzuweisen,
bis der envünschte Zustand erreicht ist. Auch hier gilt es, sich von einer
Erbschaft frei zu machen, den letzten Rest der Passivität abzuschütteln,
die so lange Zeit den Grundzug im Wesen des Bibliothekars ausgemacht hat.
Mit gutem Vertrauen darf man diesen Abschluß in der Wandlung des was von der
Bibliothekars der Zukunft überlassen. Dazu ermutigt nicht allein die seit zu icrncJT'ist.
der neuen Ära verfolgte Richtung, sondern auch, und zwar in höherem
Grade noch, ein Blick auf den Siegeszug, den die Volksbibliothek, nach-
dem sie die englisch-amerikanische Welt in beispiellosem Fluge erobert,
vor einem Jahrzehnt etwa in Deutschland begonnen hat. Denn so wesent-
lich ihre Ziele von denen der alten Bibliothek verschieden sind, so bieten
doch die beiderseitigen Wege zu viel Berührungspunkte und gemeinsame
Strecken, als daß eine gegenseitige Beeinflussung ausbleiben könnte. Was
aber dem Vergleichenden an der neuen Bibliothek als die stärkste Eigen-
heit in die Augen springt, das ist ihre lebensprühende Aktivität. Sie
kümmert sich nicht um die Bedürfnisse der strengen Wissenschaft; sie
läßt die Vergangenheit ruhen und beschwert sich nicht mit der Sorge für
die Forderungen der Nachwelt. Ihre Arbeit gilt allein der Gegenwart.
Sie ist nicht exklusiv; sie wendet sich an Gebildet und Ungebildet, an
Klein und Groß. Sie will die Schule unterstützen und ergänzen. Sie will
tüchtig machen zum Kampf ums Dasein; sie will die inneren Ressourcen
stärken und mehren; sie will die Ruhe nach der Arbeit verschönen, den
Genuß veredeln; sie will von dem tödlich-einseitigen Rennen und Ringen
um die äußeren Güter hinlenken zur Erkenntnis und Verehrung der un-
vergänglichen geistigen Werte. Vor allem aber, und das ist es vornehm-
lich, was sie zu einer vollkommen neuen Erscheinung macht: sie wartet
nicht, bis man zu ihr kommt. Wenn die alte Bibliothek das Reservoir ist,
zu dem die Wissensdurstigen pilgern, um daraus zu schöpfen, so ist die
neue die moderne Wasserleitung, die den lebenspendenden Quell dem
Durstigen ins Haus trägt. Klarer und ansprechender zugleich als in
diesem Bilde Melvil Deweys läßt sich das eigentliche Wesen der Volks-
bibliothek nicht zum Ausdruck bringen. Kein Weg ist ihr zu mühselig,
kein Mittel läßt sie unversucht, um ihre Leser heranzuziehen. Sie lockt
das kleine Volk durch Prämien und Verlosungen; sie trägt dem Schüler
588
Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
von Woche zu Woche seine Lektüre in die Klasse; sie lenkt die Auf-
merksamkeit auf sich durch Anzeigen, durch Ausstellungen, durch Vor-
träge; sie errichtet Zweiganstalten in allen Vierteln, Ausleihen an allen
Straßenecken, und mit ihrem wohlausgebildeten System von Wander-
bibliotheken zieht sie auch das dünn bevölkerte Land in den Kreis ihrer
Wirksamkeit. Voll rastlosen Lebens, enthusiastisch werbend und uner-
schöpflich im Ersinnen neuer Mittel und Wege kennzeichnet sie sich auf
jedem Boden als das, was sie ist: als ein echtes Kind echten amerikanischen
Geistes.
Es ist unmöglich, daß die alte gelehrte Bibliothek auf die Dauer von
diesem neuen Leben unberührt bleiben sollte. Wem daher ihr Gedeihen
am Herzen liegt, der soll die junge Bewegung auf deutschem Boden mit
freudigem Auge begrüßen und fördern, wo er kann.
Literatur.
Geschichte. Die einzige umfangreichere, alle Länder und alle Zeiten umfassende
Darstellung ist die von Edward Edwards, Memoirs of Libraries, erschienen 1859 zu London
in zwei starken Bänden (841 u. 1 104 S.). Obgleich in zahlreichen Partieen durch Einzel-
darstellungen neueren Datums überholt, ist das vortreffliche Werk noch heute unentbehrlich
und hat anscheinend wenig Aussicht, als Ganzes ersetzt zu werden. Mit gleich umfassendem
Ziel wären nur noch enzyklopädische Übersichten zu nennen; von ihnen verdient hier erwähnt
zu werden allein der Artikel „Libraries" in der Encyclopaedia Britannica (9. Ausg. Vol. XIV,
1882, S. 509—551 von H. R. Teddkr und E. C. Thomas, ergänzt in der 10. Ausg. Vol. VI,
1902, S. 211— 221 von H. R. Teddf.r und HERBERT Putnam).
In zeitlicher Beschränkung unterrichtet über die Bibliotheken des Altertums
am besten K. DziATZKO in der RealEnzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft
(Bd. III*, 1899, Sp. 405—424). Für das Gebiet des Imperium romanum wäre noch heran-
zuziehen Otto Hirschfeld, Die kaiserlichen Ver%valtungsbeamten , 2. Aufl. (Berlin, 1905),
mit dem Kapitel: Die kaiserlichen Bibliotheken (S. 298—306), während zur Belebung des
Bildes zu empfehlen ist THEODOR BiRT, Das antike Buchwesen (Berlin, 1882; 518 S.). —
Für das Mittelalter ist das gegebene Buch Wilhelm Waitenbach, Das Schriftwesen im
Mittelalter, 3. Aufl. (Leipzig, 1896), dessen VII. Abschnitt (S. 570—641) ein sehr anschau-
liches Bild von der mittelalterlichen Bibliothek gibt, indes Theodor Gottliebs gelehrtes
Werk Über mittelalterliche Bibliotheken (Leipzig, 1890; 520 S.) das Hauptgewicht, was der
Titel nicht vermuten läßt, einseitig auf den Nachweis mittelalterlicher Bibliothekskataloge
legt. — Über die modernen Bibliotheken schließlich gibt einen kurzen, aber zur ersten
Orientierung ausreichenden Überblick K. DziATZKOs Artikel „Bibliotheken" im Handwörter-
buch der Staatswissenschaften, Bd. 11= (1899), S. 792—801.
Die Arbeiten, die in örtlicher Beschränkung die Bibliotheksverhältnisse eines
Landes oder die Schicksale einzelner Anstalten behandeln, können hier, wiewohl besonders
in den leuteren die wertvollsten Beiträge zur Geschichte der Bibliotheken zu finden sind,
auch nicht in bescheidener Auswahl genannt werden. Davon darf auch um so eher ab-
gesehen werden, als diese Literatur an mehr als einer überall zugänglichen Stelle nach-
gewiesen ist. Vornehmlich kommen in Betracht: E. G. Vogel, Literatur früherer und noch
bestehender europäischer öffentlicher und CorporationsBibliotheken (Leipzig, 1840), noch
nicht zu entbehren; A. Graesel, Handbuch der Bibliotheksichre (Leipzig, 1902), besonders
5. 9— 11; Minerva, Jahrbuch der gelehrten Welt (Straßburg, seit 189192), gibt außer der
wichtigsten Literatur auch geschichtliche Notizen und regelmäßige Auskunft über den
neuesten Stand des Budgets, der Benutzung und der Bestände; und schließlich F. Schwenkes
Adreßbuch der deutschen Bibliotheken (Leipzig, 1893), das für jede Sammlung auch einen
kurzen Abriß der Entwicklung bringt und dessen Literaturangaben in dem seit 1902 in
Leipzig erscheinenden Jahrbuch der deutschen Bibliotheken ständig fortgeführt werden. —
Nur für das deutsche Bibliothekswesen mögen hier auch die wenigen zusammenfassenden
Darstellungen genannt werden. Es sind dies: K. Dziatzko, Entwicklung und gegenwärtiger
Stand der wissenschafdichen Bibliotheken Deutschlands (Leipzig, 1893; 55 S.); G. Kohfeldt,
Zur Geschichte der Büchersammlungcn und des Bucherbesitzes in Deutschland (Zeitschrift
für Kulturgeschichte VlI, igoo, S. 325—388) und J. LAUDE, Les biblioth6ques universitaires
allemandes (Revue des bibliothi;ques X, 1900, S. 97 — 164).
CQQ Fritz Milkau: Die Bibliotheken.
Dabei ist indes, wie schon im Text ang-cdcutet wurde, nicht zu vergessen, daß ein
tieferer Einblick in die Bedingungen und Grundlagen der Bibliotheken und ihrer Entwick-
lung nur zu gewinnen ist durch Heranziehung der Geschichte der Wissenschaften und ihres
Betriebs. So wird man für das Verständnis der deutschen Bibliotheken mit größtem Nutzen
zu Rate ziehen die klassischen Bücher von Friedrich Paulsen; Geschichte des gelehrten
Unterrichts usw., 2. Aufl., in 2 Bänden (Leipzig, 1896—97) und Die deutschen Universitäten
(Berlin, 1902).
Verwaltung. Unter den immer zahlreicher werdenden Büchern, die die Technik der
Verwaltung systematisch behandeln, gibt es nur eins, das über die Grenzen des Landes, in
dem es entstanden ist, hinaussieht und einen umfassenden Überblick über den Stand der
Dinge in den Hauptkulturiändern ermöglicht: das ist das bereits angeführte Handbuch der
Bibliothekslehre von A. Graesel (Leipzig, 1902; 583 S.). Und ebenso darf das seit 1884 in
Leipzig erscheinende Zentralblatt für Bibliothekswesen, begründet von O. Hartwig und
K. Schulz und gegenwärtig geleitet von P. Schwenke, den Vorzug für sich in Anspruch
nehmen, in höherem Grade als die bibliothekarischen Zeitschriften der anderen Länder sich
von nationaler Einseitigkeit fern zu halten. Für alle weiteren Nachweise darf hier auf diese
beiden Quellen verwiesen werden. Nur auf die musterhafte Untersuchung von AdALBERT
Roquette, Die Finanzlage der deutschen Bibliotheken (Leipzig, 1902; 30 S.) sei noch be-
sonders aufmerksam gemacht.
Volksbibliotheken. Das klassische Land der Volksbibliothek sind die Vereinigten
Staaten. Wer ein lebendiges Bild davon gewinnen will, welche Kräfte dort wirksam sind
und welche Ziele dort verfolgt werden, der tut am besten, einen der letzten Jahrgänge des seit
1876 in New York erscheinenden Library Journal zu durchblättern und besonders die Conference
Number aufmerksam durchzusehen. Über die noch in den Anfängen steckende Bewegung
auf deutschem Boden orientieren ihre Hauptträger: Ed. ReyER, Entwicklung und Organisa-
tion der Volksbibhotheken (Leipzig, 1893; 116 S.) und Fortschritte der volkstümlichen Biblio-
theken (Leipzig, 1903; 180 S.); K. Noerrenberg, Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe und
ihre Reform (Kiel, 1896; 32 S.) und Die Bücher- und Lesehalle, eine Bildungsanstalt der
Zukunft (Köln, 1896; 20 S.), und Ernst Schultze, Freie öffentliche Bibliotheken (Stettin,
1900; 362 S.). Nicht zu vergessen ist ferner P. Ladewig, der an der Kruppschen Bücher-
halle in Essen bisher am einleuchtendsten durch die Tat hat nachweisen können, welcher
Leistungen die Volksbibliothek auch bei uns fähig ist. Aus diesem Grunde verdienen seine
Jahresberichte (seit 1899/1900) und seine zusammenfassende Darlegung über Die Verwaltung
und Einrichtung der Kruppschen Bücherhalle (Essen, 1905; 62 S.) besondere .Aufmerksam-
keit. Ihre ständige Vertretung schließlich hat die Bewegung in den Blättern für Volks-
bibhotheken und Lesehallen, die, von A. Graesel begründet, jetzt von E. Liesegang ge-
leitet werden und gegenwärtig (1906) im Vll. Jahrgang stehen.
DIE ORGANISATION DER WISSENSCHAFT.
Von
Hermann Diels.
Einleitung. Organisation bezieht sich im eigentlichen Sinne auf Lebe- Betriff der
wesen, deren einzelne Glieder und Teile mit Rücksicht auf den Gesamtzweck
eingerichtet und zu wechselseitiger Unterstützung befcähigt sind. Von hier
aus kann man aufwärts wie abwärts schreitend dem Ausdruck eine er-
weiterte Sphäre geben. Einmal kann man die chemischen Stoffe, aus
denen das organische Gebilde besteht, selbst als Organismen, als Zentren
der Organisation auffassen. Nicht bloß die organischen Grundstoffe, wie
Zucker, Eiweiß u. dgl., die dem Aufbau und der Erhaltung des Lebens
dienen, lassen sich als organisierte Strukturverbindungen der anorgani-
schen Elemente betrachten, sondern auch diese selbst wieder als zu be-
sonderen Wirkungen und Zwecken organisierte Differenzierungen der
konstituierenden Moleküle und Atome, die gleichfalls wieder als irgendwie
zweckmäßige Differenzierung einer einheitlichen Urmaterie aufgefaßt wer-
den können. So betrachtet steigt der Begriff des Lebens, der Organi-
sation bis in die Tiefen der erkennbaren Natur hinab, da nirgends eine
absolute Schranke sich zeigen will.
Umgekehrt können auch die Verbindungen der konkreten Lebewesen,
der Organismen im engeren Sinne, zu Gemeinschaften höherer Ordnung,
wie sie in der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt unterschieden zu werden
pflegen, als P'ormen der Organisation aufgefaßt werden. Freilich werden
diese höheren Gebilde, wie Familie, Sippe, Horde, Staat, vielfach noch als
bloße „Ideen", d. h. als Abstraktionen des Menschengeistes behandelt. Allein
da diese Verbände keineswegs eine quantitativ und qualitativ der Summe
der einzelnen Individuen entsprechende Arbeitsleistung vollbringen und
die Zwecke der Gemeinsamkeit durchaus verschieden sind von dem
Zwecke der Individuen, so ist diese Auffassung wohl nicht haltbar, ob-
gleich noch Kant hier nur Ideen, keine Wirklichkeit, nur Analogieen,
keine Entsprechung erblickte. Richtiger hat der biologisch geschulte
Positivismus, namentlich Herbert Spencers, die durchgehende Bedeutung
des Organisationsbegriffes für Natur- und Geisteswelt betont, und die soziale
OrgaDisatioa.
-Q2 Hermann Dikls: Die OrganibaUon der Wissenschaft.
Praxis der Neuzeit ist, gedrängt von der Fruchtbarkeit der immer zahl-
reicher und wichtiger werdenden Formen höherer Gemeinschaft in der
Gesellschaft wie im Handel und Verkehr, zu einer immer größer werden-
den Anerkennung dieses wichtigen Begriffes vorgeschritten. So ist es an
der Zeit, in der Reihe der großen menschlichen Organisationen auch die
Wissenschaft von diesem Standpunkte aus zu beleuchten, der allein dem
Denken Beruhigung und dem Leben Sinn zu verleihen scheint.
Wenn man also mit Recht in der Entwicklung der Natur von den
leblosen Elementarkörpern bis zu seelen- und vernunftbegabten Lebewesen
eine Stufenfolge annehmen darf, wenn wir also ein Fortschreiten vom
Niederen und Unausgebildeten zum Höheren und Leistungsfähigeren und
darum Wertvolleren zu erblicken glauben, so muß innerhalb des mensch-
lichen Organismus diejenige Tätigkeit am höchsten stehen, welche diese
ganze Entfaltung der Natur zu erkennen, diese Erkenntnis den höheren
Zwecken der höchsten Gattung nutzbar zu machen und dadurch diese selbst
höher hinauf zu entwickeln versucht.
Wenn das Tier von der Pflanze sich durch Bewußtsein, der Mensch
vom Tiere durch Selbstbewußtsein, welches Bewußtsein der Außenwelt
in sich schließt, unterscheidet, so ist die Wissenschaft, welche dieses
Selbst- und Weltbewußtsein aus dem Dämmerlichte tierischen Gefühls,
aus der Ahnung der kindlichen Menschheit zu göttlicher Klarheit zu
erheben trachtet, als die höchste, ja vielleicht als die letzte Aufgabe zu
betrachten, die der Menschheit zum Ziele gesteckt ist. Freilich ist es für
uns Menschlein, die wir noch mitten in der Entfaltung des Universums
stehen, ein kühnes Unterfangen, mit der Spanne unseres Gedächtnisses
und unserer Geisteskraft den Ewigkeitsgedanken der Schöpfung noch ein-
mal zu denken. Aber wir wollen mögen oder nicht, der Drang, die Zu-
sammenhänge der Dinge zu überschauen, ist uns, wie Aristoteles am Ein-
gang seiner Metaphysik mit Recht sagt, eingeboren. Mit dem Instinkte
der Organisation, der nach dem selben Philosophen den Menschen zum
Iwov TToXiTiKÖv geschaffen hat, ist uns auch zugleich der unstillbare Hunger
nach Wissenschaft, d. h. nach dem Begreifen der Organisationen einge-
pflianzt.
Alte Orgaaisa- Dank den großartigen Ausgrabungen des verflossenen Jahrhunderts
wisseSaft.' umfassen wir jetzt eine weit größerer Spanne menschlicher Kultur entwick-
lung und können so auch die Keime wissenschaftlicher Besinnung, Beob-
achtung, Aufzeichnung deutUcher und höher hinauf verfolgen. Die Schrift
selbst, die Trägerin wissenschaftlicher Überlieferung, ist selbst erst eine
Errungenschaft wissenschaftlicher Abstraktionskraft. Ja auch die Sprache
als Verdichtung unendlicher individueller Empfindungen, Wahrnehmungen
und Vorstellungen, Erfahrungen und Denkoperationen zu konventionellen
Lautbildern stellt gleichsam das philosophische System der Urmenschen
dar. Primitive Vorstellungen von der Bewegung der Hauptgestirne
imd die daraus sich entwickelnde Technik des Zählens, also die An-
Einleitung. eq^
fange der Mathematik und Naturwissenschaft, pflegen nur bei
wenigen unkultivierten Völkern zu fehlen, und bei einigen der ältesten
und mächtigsten Völker, wie bei den Babyloniern, hatte diese primitive
Wissenschaft einen Einfluß auf alle Kreise des Lebens, der selbst
bei den fortgeschrittensten Nationen heute noch nicht ganz wieder er-
reicht ist.
Da ist es nun wichtig, zu beobachten, wie bereits bei diesem uralten
Betrieb der Wissenschaft am Euphrat und am Nil, dessen Anfänge
schätzungsweise auf 5 — 7000 Jahre vor unserer Zeit festgestellt werden
können, die korporative Organisation eine Rolle spielt. Die
Priesterschaften erscheinen dort, soweit unsere Kunde reicht, durchaus
als die Wahrer und Vermehrer des Wissenschatzes der Nation. In
Griechenland hellt sich das Dunkel der Geschichte erst in der neuesten
Epoche, als nach Ablauf der mittelalterHchen Entwicklung, deren Nach-
klang das ionische Epos ist, sich die ionische „Forschung" (icTopiri) mit
den Problemen der Natur- und der Menschheitsgeschichte zu beschäftigen
beginnt. Schon damals aber im 7. Jahrhundert erscheint die Wissenschaft
organisiert, d. h. sie wird an einigen Zentren, vor allem in Milet, in
Schulen getrieben, in denen die Summe der Kenntnisse und Methoden
vom Lehrer auf die Schüler übergeht und Diadochieen der wissenschaft-
lichen Tradition entstehen, die sich jahrhundertelang, vereinzelte sogar
ein Jahrtausend lang, kontinuierlich erhalten haben. Wie intensiv dieser
Schulgeist schon in alter Zeit gewirkt, ersieht man aus dem Beispiel der
Pythagoreer, deren Spuren historisch viel greifbarer sind als die des
Meisters, der ihnen Organisation und Namen verlieh.
Von Anfang an sind diese wissenschaftlichen Korporationen in
Grriechenland nicht bloß nach der Analogie der religiösen Gemeinschaften
organisiert, sondern auch wie diese als Lebensgemeinschaften gedacht.
Die harmonische Struktur des hellenischen Menschen kennt keine Spaltung
des theoretischen und praktischen Lebens. Die Wissenschaft soll nicht
nur gelehrt und gelernt, sondern auch gelebt werden. Durch diesen
grundlegenden Unterschied heben sich die Akademieen Piatons und alle
nach ihrem Vorbild gegründeten Institute des Altertums und ihre Nach-
folger in der christlichen Zeit, die Klöster, von den modernen Akademieen
gleichviel welcher Nationen charakteristisch ab.
Ehe wir uns diesen zuwenden, scheint es nicht überflüssig-, zu be- innere dr^.-n.i
merken, daß man bei der Wissenschaft von der äußeren Organisation, die Wissenschaft,
in Instituten, Gebäuden, Personen konkret in die Augen springt, eine
innere, geistige, zugrundeliegende unterscheiden muß. Wie im mensch-
lichen Organismus hinter der physikalisch und chemisch faßbaren Struktur
der körperlichen Organe eine feinere nicht meß- und wägbare, in den
Einzelheiten auch dem Auge verborgene, aber darum nicht minder reale
Organisation, das Nervensystem, verborgen ist, so zeigt sich hinter den
äußeren Arbeitsräumen und den darin arbeitenden Forschem eine unsicht-
DlB KuLTt-K DER GlGBNWART. L 1. 3^
-q, Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
bare Struktur der Wissenschaft, die nicht minder zur Organisation ge-
hört, wenn sie auch nicht leicht begrenzbar und überschaubar ist.
Hierarchie der Mit diescm inneren Aufbau der Wissenschaften haben sich seit den
Anfängen philosophischer Selbstbesinnung denkende Köpfe beschäftigt.
Schon in der pythagoreischen Schule liegen Andeutungen einer Stufen-
folge der Wissenschaft vor, die bei Piaton bewul^t verfolgt und bei
Aristoteles zum System ausgestaltet werden. Dann haben in der neueren
Zeit Descartes, der zuerst von der „Hierarchie" der Wissenschaften
spricht, Bacon, Hobbes, d'Alembert, Ampere, dann Hegel, Comte, Mill,
Spencer, zuletzt Wundt den systematischen Zusammenhang der einzelnen
Fächer und ihre Verknüpfung in der Philosophie dargelegt. Da nur im
Zusammenhang einer bestimmten Weltanschauung diese Gruppierung- und
die damit zusammenhängende Methodenlehre mit Aussicht auf Erfolg ver-
sucht werden kann, da femer innerhalb der Philosophie weder über die
Grundeinteilung in Natur- und Geisteswissenschaften noch überhaupt über die
Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einfacher oder sich kreuzender Einteilungs-
prinzipien Einverständnis herrscht, so kann hier um so mehr von einem
kritischen Überblick über die vorhandenen Systeme und einem etwa not-
wendig werdenden Neuaufbau abgesehen werden, als über dergleichen an
anderen Stellen dieses Werkes gehandelt wird. Übrigens verlangt ein
wirklicher Neuaufbau ein Aristotelisches oder Leibnizisches Genie, d. h.
einen Geist, der sich nicht bloß mit Philosophie und einzelnen Fächern
vertraut gemacht hat, sondern der als bahnbrechender Entdecker zugleich
die Natur- wie die Geisteswissenschaft beherrscht. Solche Männer hat
unsere Zeit noch nicht wieder hervorgebracht, da die starke Differenzierung
der Forschung, die das wissenschaftliche Arbeiten des 19. Jahrhunderts
kennzeichnet, nicht bloß Mitarbeit, sondern sogar Verständnis der auf der
anderen Hemisphäre des globiis infelleciunlis liegenden Methoden und Ziele
gerade bei den hervorragendsten Forschern ausschloß.
Einheit der Es kommt hiuzu, daß der Inhalt der einzelnen Wissenschaften, die zu-
nächst nur nach den Objekten benannt und bestimmt sind, durch den sub-
jektiven Faktor der Methode völlig verschieden gestaltet werden kann.
So lassen sich fast alle Zweige der Natur- wie der Geisteswissenschaften
sowohl geschichtlich wie systematisch behandeln. Der im abgelaufenen
Jahrhundert, wie erwähnt, überscharf ausgeprägte Gegensatz geschicht-
licher und naturwissenschaftlicher Auffassung erscheint dadurch überbrückt,
daß die Entwicklungslehre einerseits alle Zweige der Naturwissenschaft
ergriffen und selbst in der Chemie eine evolutionistische Theorie ermög-
licht hat, in der L. Meyers und Mendelejeffs Reihen gleichsam eine Palä-
ontologie der UrstofFe ahnen lassen, andererseits naturwissenschaftlich-
mathematische Methoden in die Philologie und Historie verpflanzt werden.
So ist hier wie im Universum selbst alles Übergang, alles fließend, ein
heraklitisches biacpepö|uevov cu|Liq)€pÖMevov. Und zwar zeigt sich dieses leben-
dige Spiel der Entwicklung um so reicher entfaltet, je weiter sich die
I. Stufen der wissenschaftlichen Bildung. Elementar- und Volksbildung. jgj
Objekte der einzelnen Wissenschaften aus der starren Gebundenheit der
leblosen zur individuellen Freiheit der belebten Energie emporheben. Ge-
rade in neuester Zeit bricht sich immer mehr die Erkenntnis Bahn, daß
der Vereinzelung der wissenschaftlichen „Fächer" und ihrer stetigen Spal-
tung und Differenzierung am wirksamsten dadurch begegnet werde, daß
die Schlagbäume jener traditionell abgegrenzten Wissenschaftsgebiete mög-
lichst niedergelegt und ein freierer Verkehr hinüber und herüber eröffnet
werde. Die Wissenschaft hat ja doch in der forschenden und darstellen-
den Seele des Menschen ihre gegebene Einheit, der Stoff und die
Form des wissenschaftlichen Denkens ruht nicht außer ihr, sondern in ihr.
So ist die jetzt immer stärker werdende Unionsbewegung um so mehr zu
begrüßen, als diese gegenseitigen Berührungen und Verbindungen voraus-
sichtlich jetzt nicht mehr zu der am Anfang der neueren Wissenschafts-
geschichte verbreiteten polyhistorischen Allerweltsbetriebsamkeit zurück-
führen, sondern zu polylogischer (wenn das Wort gestattet ist) Vertiefung
emporführen dürften. Schon auf den Einzelgebieten sehen wir, wenn wir
monumentale Forschergestalten (wie Helmholtz und Mommsen) uns ver-
gegenwärtigen, daß gerade die Vielseitigkeit der Interessen, die bei jenen
Männern freilich noch keine Allseitigkeit war, sie zu den fruchtbarsten
Lösungen befähigte und begeisterte. So verstanden hat das Wort Des-
cartes' auch heute noch Wahrheit: les scienccs sont tellement liees eti-
semble qu'il est plus facile de les apprendre toutes a la fois que den de-
tacher iine seule des autres.
I. Stufen der wissenschaftlichen Bildung. Elementar- und Ausdeimungdes
Wissenschafts-
Volksbildung. Dasselbe monistische Streben, das wie eine stille Sehn- betricbcs.
sucht sich in allen Zweigen der modernen Wissenschaft regt, bekundet
sich nun auch in dem äußeren Organismus ihres Betriebes. Die von der
Gelehrtenzunft errichteten und von strengen Grenzwächtern bewachten
künstlichen Schranken fallen mehr und mehr. Man sieht ein, daß die höchsten
geistigen Güter der Nationen und der Menschheit überhaupt nicht einer
privilegierten Kaste allein übertragen bleiben dürfen, und die Privilegierten
selbst sind eifrig dabei, jene Schranken niederzureißen. Die Demokratie,
die langsam, aber unaufhaltsam die Denkart der Kulturnationen seit
hundert Jahren umgestaltet hat, vernichtet still und geräuschlos auch die
Wappen und Privilegien der bisherigen Geistesaristokratie. Das Volk,
dem man gewagt hat, das allgemeine Stimmrecht zu geben, will nicht
mehr von der Erziehung ausgeschlossen sein wie im Staate Piatons,
sondern verlangt mitzuregieren. Wenn nun nach Piatons Wort nur der
Wissende regieren kann und soll, so darf dem, der mit dem Stimmzettel
an seinem Teil bei der Regierung mitzusprechen hat, sein entsprechender
Anteil am Wissen nicht vorenthalten werden, wenn nicht der Staat in die
Hand von Wilden fallen soll.
Auch die Entwicklung unserer modernen Kultur, der Betrieb unserer
38»
t:q5 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
Industrie und Technik, die Bewältigung unseres Verkehrs usw., alles dies
fordert gebieterisch, daß die Wissenschaft nicht bloß innerhalb der ge-
heiligten akademischen Hallen gepflegt werde, sondern daß sie hinaus-
trete auf die Straßen und jeden Arbeiter belehre über die Grundkräfte
der Natur, die der moderne Mensch zur Aufrechterhaltung seiner kompli-
zierten Kultur bedarf.
Denn von Hause aus tritt der Mensch jedem Fortschritt mißtrauisch,
ja feindlich geg-enüber. Deutsche Schiffer zertrümmerten das erste Dampf-
schiff, das Papin im Jahre 1707 erbauen und von Fulda nach Minden
hatte fahren lassen. Sie raubten so Deutschland den Ruhm der Erfindung,
den hundert Jahre später Amerika davontrug. Als Charles 1783 im Auf-
trage der Pariser Akademie den ersten mit Wasserstoff gefüllten Luft-
ballon steigen ließ, wurde dieser beim Niederfallen von den unwissen-
den Landleuten als höllischer Spuk mit Heugabeln angegriffen. Jetzt
muß der ärmste Schiffer, der kleinste Landmann, der geringste Hand-
werker mit der Dampfkraft, der Elektrizität und den hundertfältigen An-
wendungen der Wissenschaften vertraut sein. Die Meteorologen dürfen
darauf rechnen, daß ihre von Zeit zu Zeit aufsteigenden Ballons, wo sie auch
niederfallen, mit Verständnis behandelt und ihre Resultate für die Wissen-
schaft gerettet werden.
Wichtiger aber als alle diese Äußerlichkeiten sind die Vorteile der
Berührung der Wissenschaft mit den breitesten Schichten des
Volkes für die Wissenschaft selbst. Die Anlage zum Gelehrten und
Künstler ist nicht an gewisse Gesellschaftsklassen gebunden und nicht
durch Vererbung mit irgendwelcher Sicherheit übertragbar. Immer und
immer wieder dringen aus den niedersten Volksschichten große Forscher
und eminente Künstler hervor. Oft liegt das Höchste in dem tiefsten
Schrein der Volksseele verborgen und steigt im Genius plötzlich empor.
Das Handwerksmäßige in Wissenschaft und Kunst kann so ziemlich jeder
erlernen: die schöpferische Weiterbildung aber liegt in den Händen
weniger gottbegnadeter Individuen, die nur Gelegenheit haben müssen,
ihrem dunklen Drange zu folgen und ihren wahren Beruf zu erkennen.
Dazu gehört vor allem, daß die Umgebung, in der solche Genies auf-
wachsen, einigermaßen imstande ist, geistige Beanlagung zu begreifen und
ihre Betätigung als wichtig anzusehen. Wie viele Keime wissenschaft-
licher Begabung gehen an der Unwissenheit der Eltern zugrunde! Je
weiter also das zunächst rein rezeptive Verhalten zur Wissenschaft sich
ausdehnt, je größer der I-Creis ist, der auch nur mit ihren Elementen be-
kannt oder vertraut wird, je mehr überall Freude und Interesse an den
Produkten der Natur und des Menschengeistes geweckt wird, um so weiter
wird der Kreis, aus dem die Jünger der Wissenschaft erstehen, um so
größer die Anzahl derer, die um die höchsten Kränze ringen. Nur durch
diese Ergänzung aus dem besten, unverbrauchten Volksmaterial kaim die
Wissenschaft vor Verknöcherung und Verbildung bewahrt werden. Nur
I. Stnfen der wissenschafUichen Bildung. Elementar- und Volksbildung. cqj
die Nation wird in dem nächsten Jahrhundert sich siegfreich an der Spitze
der Kultur halten können, die für die Wissenschaft nicht nur glänzende
Heerführer und geschulte Offiziere, sondern auch eine durchgebildete Armee
zu stellen vermag.
Mit der wissenschaftlichen Erziehung ist die Erziehimg zur Kritik
notwendig verbunden. Damit dringt selbständiges Urteil und strenger Wahr-
heitssinn in Schichten, die bisher nur gewöhnt waren, dem Trieb oder
der Autorität zu folgen. Solange diese Autorität einseitig im Sinne der
regierenden Klassen ausgeübt zu werden pflegte, war es überflüssig, das
viel schwierigere Werk der Erziehung zum Selbstdenken zu be-
ginnen. Jetzt aber, wo aus dem Volke selbst hervorgegangene Führer mit
den Mitteln einer falsch aufgefaßten Wissenschaft das Volk für ihre grob-
materiellen Ideen zu gewinnen suchen, ist die Wissenschaft genötigt, dem
Mißbrauch ihres Namens entgegenzutreten. Aber freilich dabei darf nichts
vertuscht und verkleistert werden. Das Volk ist erwacht. Es erträgt
nichts weniger als geistige Bevormundung, mag sie auch in der liebe-
vollsten und väterlichsten Weise ausgeübt werden. Die Ewigblinden, vor
denen der erschreckte Freiheitsdichter warnte, haben seitdem gelernt, ihre
Augen zu öffnen. Sie streben mit elementarem Drange nach Licht. Es
ist Pflicht der ehrlich Wissenden, ihnen die Fackel voranzutragen, die
nicht zündet und einäschert, sondern den dunklen Pfad des Lebens er-
leuchtet.
Der Wege dazu sind mancherlei. Je größer die unkultivierte Masse Eiementar-
ist, die der Bildung erschlossen werden soll, um so zahlreicher und
mannigfaltiger müssen die Wasserbäche sein, die das dürre Land berieseln
und der Kultur zugänglich machen sollen. Staat und Gemeinde über-
mitteln eine elementare Bildung, das Minimum von geistiger Kultur,
ohne das eine zivilisierte Nation überhaupt nicht mehr bestehen kann.
Der Unterricht sucht neben den ehrwürdigen Überlieferungen der Religion
auch die Grundanschauungen der Wissenschaft und die Elemente ihrer
Methoden in Lesen, Schreiben und Rechnen zur Aneignung zu bringen.
Aber diese Einwirkung ist sachlich und zeitlich nur allzusehr beschränkt.
Bei der männlichen Bevölkerung tritt allerdings durch die militärische
Erziehung eine Höherbildung ein. Denn die Ausbildung des Kriegs-
wesens bedingt eine stets größer werdende Durchdringung der mili-
tärischen Praxis mit Wissenschaft, in die auch der gemeine Soldat bis zu
einem gewissen Grade eingeführt werden muß. Auch die Handwerks-
und Fabrikausbildung führt eineh gewissen Anteil Wissenschaftlichkeit
den jungen Leuten zu. Allein in der Regel gehen die kostbarsten Jahre
dem Jünglinge der unteren Klasse für seine geistige Weiterbildung un-
genutzt und meist vergeudet vorbei.
In den großen Städten freilich setzt das Fortbildungswesen ein, Konbii.iung in
° _ den Städten.
das jungen Männern und Mädchen eine Weiterbildung über ihre Elementar-
kenntnisse hinaus ermöglicht. Sowohl die gewerblichen wie die kauf-
= g8 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenscliaft.
männischen Fortbildungsschulen haben nach dem Vorbilde Englands in
den letzten dreißig Jahren auch bei uns in Deutschland einen großen Auf-
schwung genommen. In Berlin werden z. B. jährlich über 40000 Jüng-
linge und Mädchen durch solche Schulen in ihrer Bildung weiter ge-
fördert. Wenn erst das ganze Fortbildung'swesen obligatorisch g^eworden
ist, wird in der Tat hier eine auch im wissenschaftlichen Interesse hoch-
bedeutsame Organisation vorliegen. Nur muß die elementare und fach-
liche Ausbildung- nicht so eng auf den unmittelbar praktischen Nutzen zu-
geschnitten werden. Auch diese Jugend hat Ideale, die gepflegt werden
müssen. Auch diese Jugend muß wissen, zu welchem Ziele ihre Arbeit
gefordert wird und wie sie sich in das Ganze der nationalen und Welt-
arbeit eingliedert; auch diese Jugend muß dazu vorbereitet werden, auf
Grund selbständigen politisch-sozialen Verständnisses dereinst durch Ab-
gabe des Stimmsteines zum Wohle der Gemeinde und des Staates mit-
zuwirken, aber nicht auf Grund des in den Fabriken gezüchteten Klassen-
hasses jeder vernünftigen Ordnung entgegenzuwirken. In dieser Beziehung
ist Deutschland hinter Frankreich und Amerika zurückgeblieben. Unsere
Staatsmänner scheinen den Ernst der Situation noch nicht erfaßt zu haben,
doch regt es sich in den landwirtschaftlichen Genossenschaften, z. B. in
Schleswig-Holstein, mit Macht.
Fortbildung auf Ein Hauptgrund für unsere Rückständiekeit liegt darin, daß unsere
dem Lande. '^ '^ & & '
leitenden Parteien kein Interesse an der Fortbildung haben. Das Zentrum
aus bekannter Fürsorge für das Monopol der Kirche, und die Konser-
vativen, weil diese Institution scheinbar lediglich den Städten zugute
kommt. Da wird ein Wort des Generalfeldmarschalls Grafen Haeseler
zum Nachdenken gereizt haben, der am 31. März 1906 im Herrenhaus
unter allgemeinem Beifalle folgendes vortrug: „Ich gestatte mir an die
Regierung die Anfrage, ob in Aussicht gestellt werden kann, auf gesetz-
licher Grundlage Fortbildungsschulen ins Leben zu rufen. Es gibt
zwar viele Fachschulen und Fortbildungsschulen in den Städten. Auf
dem Lande aber fehlt es der aus der Schule entlassenen Jugend an einer
Gelegenheit, eine Fortbildungsschule zu besuchen. So bringen die Jungen,
die der Schule entwachsen sind, ihre Mußestunden im Wirtshause zu, wo
die Unterhaltung bei Bier und Schnaps geführt wird. Notwendig ist es,
dieser Jugend Fortbildung"SSchulen zugänglich zu machen, die sie zu vater-
ländischer Gesinnung erziehen. Geeignete Unterrichtsfächer würden sein:
Deutsch, vaterländische Geschichte, Geographie und Heimatskunde, Rechnen,
Raumlehre, Wehrpflicht und Untertaneripflicht, Tumen und Jugendspiele,
wobei jede Soldatenspielerei unterbleiben müßte. Die Fortbildungsschulen
müßten natürlich obligatorisch gemacht werden, denn auf dem Lande ist
man allen Neuerungen abhold: Es ist immer so g'ewesen, daß die Jungen
nichts gelernt haben, warum soll es nun anders werden? Es werden viele
Schwierigkeiten zu überwinden sein, aber ich möchte doch den Minister
bitten, meine Anregungen in Erwägung zu ziehen."
I. Stufen der wsscnschafüichcn Bildung. Elementar- und Volksbildung. jgg
Es ist ZU wünschen, daß die Anrecfunef dieses genialen und patrio- voiiuhochschui-
kurse.
tischen Mannes das Mißtrauen der oberen Schichten verscheuche und die
Regierungen namentlich auch den weitergehenden Bestrebungen wohl-
wollende Unterstützungen leihen, die darauf abzielen, die bereits er-
wachsenen Männer und Frauen der Arbeiterbevölkerung weiter zu bilden
und durch die besten Kräfte in die Hauptgebiete der Wissenschaft selbst
einzuführen. Nach englischem und skandinavischem Vorbilde werden seit
etwa IG — 15 Jahren auch in Deutschland gegen ganz billiges Entgelt
Volkshochschulkurse gehalten, in denen Dozenten der Universität oder
anderer Hochschulen einzelne geeignete Abschnitte der Wissenschaft vor-
tragen und zum Teil auch in praktischen Übungen zur Aneignung zu
bringen suchen. In Berlin werden so jährlich etwa 20 Kurse für etwa
7000 Personen, größtenteils Arbeiter, gehalten. In Wien ist diese Organi-
sation noch weit wirksamer, da hier Universität und Regierung von An-
fang an sehr energisch zur Förderung des gemeinnützigen Unternehmens
zusammengewirkt haben. Es ist zu wünschen, daß die .staatliche Fürsorge,
die in Deutschland zum Gedeihen solcher Organisationen notwendig ist,
sich auch dieser Fortbildung der Erwachsenen annehmen wird. Dann
wird die Ausdehnung dieser Kurse auf das flache Land, die bisher bei
uns nur vereinzelt versucht worden ist, ohne Schwierigkeit gelingen.
Einen ähnlichen Zweck wie die Volkshochschulkurse verfolgt die Berliner
Humboldtakademie; doch ist hier das Honorar wie das Publikum etwas
höher gegriffen. Sie unterrichtete 1Q02/03 in 30g Zyklen 1 1 200 Hörer.
Ähnliche Vortragskurse sind von der Oberschulbehörde in Hamburg mit
großem Erfolge eingeführt worden und so in vielen Städten Deutschlands.
Sehr alt ist in Deutschland wie anderswo die Form der Einzel- EinzeUorträge.
vortrage. Vom Ende des 18. Jahrhunderts an ist diese freie Belehrung
Ei^vachsener bei tins in den mannigfachsten Formen ausgebildet. In
Berlin sind Fichtes, Schlegels und Schleiermachers Vorträge berühmt ge-
worden. Unzählige Vereine pflegen diese Art der geistbildenden Gesellig-
keit. Am bekanntesten sind unter diesen Veranstaltungen die Vorträge
des seit 1844 bestehenden Handwerkervereins. Er veranstaltete
z.B. IQ02 75 Vorträge, von denen 18 der Literatur und Kunst, 11 der
Volksbildung, 8 der Gesundheitspflege, 12 der Rechtspflege, 19 der Techno-
logie und Volkswirtschaft, 7 der Geschichte und Geog-raphie galten. Da-
neben gibt es eine sehr bedeutende Anzahl von Bildungs vereinen, in
denen Berufene und leider auch Unberufene einen unermeßlichen Wissens-
stoff in Vorträgen behandeln. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß auch eine
sozialdemokratische Volk.shochschule besteht, die, von Liebknecht gegründet,
zuerst einen großen Aufschwung nahm, später aber zurückgegangen zu sein
scheint
Von großer Wichtigkeit ist neben der Erziehung der breiten Volks- Kunstoniehung.
massen zur Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit die Einführung in die
Kunst Wenn man nach des Dichters Wort „nur durch das Morgentor
()QQ Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
des Schönen in der Erkenntnis Land" dringt, so wird das edler Kunst
geöffnete Auge, das guter Musik erschlossene Ohr um so williger und
geübter sein, dem verborgenen Reize der Wahrheitsforschung- sich hin-
zugeben. Das Wissen vom Objekt wird durch die Pforte der Sinne dem
menschlichen Geiste vermittelt. So ist bei allen diesen Einführungen in
die Wissenschaft die Betonung der Anschauung die Hauptsache. Die
Vervielfältigung und Vervollkommnung der Anschauungsmittel, besonders
aber die Einbürgerung der Projektionsapparate kommen diesem Bedürf-
nisse in willkommenster Weise entgegen. Auch die Demonstration der
Objekte selbst in anatomischen Kursen oder das Heranführen an die
Gegenstände der Kunst bei den sog. Museumsführungen ist von un-
leugbarem Vorteil, und mißgünstige Urteile über die Erfahrungen, die
man mit solchen Führungen bei Arbeitern gemacht hat, gehen wohl haupt-
sächlich auf solche zurück, die sich nicht von der eigenen Höhe der
Kunstanschauung auf das Niveau eines Ungebildeten herablassen können.
Und doch ist mir in dem scheinbar am Stoff klebenden Urteil manches
Arbeiters mehr Verständnis für die Ziele der wahren Kunst entgegen-
getreten als in dem überbildeten Kunstverstande manches Art-pour-l'art-
Enthusiasten. Ganz einwandfrei ist die Wirkung naturwissenschaftlicher
Führungen. Denn das verständnisvolle Eingehen auf die Demonstration
eines geschickten Führers ist sofort aus den Fragen der Teilnehmer mit
Sicherheit zu erschließen. Die Zoologischen Gärten, Aquarien, Stern-
warten der großen Städte sind für die Wißbegier und lebendige Auffassung
der untersten Schichten der Bevölkerung gute Beobachtungsstationen.
Städtische Neben dem eigentlichen Unterricht durch die lebendige Stimme und
Volksbiblio- '^ . 7 IT
theken. (jie Anschauung gebende Demonstration der Lehrer und Vortragenden
übt die stille Unterweisung durch das gedruckte Buch einen zwar
weniger unmittelbar wirksamen und faßbaren, aber um so nachhaltigeren
und weiter greifenden Einfluß aus, wovon später noch ausführlich die
Rede sein wird. In einer Groß- und Universitätsstadt wie Berlin ist
die Zahl der großen und kleinen Bibliotheken, der staatlichen und pri-
vaten, der wissenschaftlichen und belletristischen geradezu Legion. Die
offizielle Statistik der vStadt Berlin zählt für 1903 nur die größten und
wichtigsten auf. Es sind 66 mit drei Millionen Bänden. Davon wurden
zwei Millionen ausgeliehen. Die mit einer Anzahl dieser Volksbiblio-
theken verbundenen Lesehallen wurden von 771398 Personen besucht.
Viel stärker, als diese Gesamtziffer andeutet, stellt sich die Benutzung
der kleinen Volksbibliotheken. In der Halle in der Raven^straße (Norden)
wurde jedes Buch etwa zwanzigmal ausgeliehen. Interessant ist ein vom
Vorstand der Jenaer Lesehalle angestellter Vergleich, wie sich in einzelnen
deutschen Städten die Zahl der in den Volksbibliotheken ausgeliehenen
Bände zu der Bevölkerungszahl verhält. Danach kommen Bücher-
ausleihungen auf den Kopf der Bevölkerung in Remscheid 0,27, in
Bremen 0,46, in Hamburg 0,50, in Lübeck 0,53, in Bonn 0,62, in Frank-
I. Stufen der wissenschaftlichen Bildung. Elementar- und Volksbildung. 60 1
furt a. M. 0,83, in Osnabrück 1,00, in Darmstadt 1,04, in Dessau 1,35, in
Barmen 1,66, in Jena aber 3,47. Natürlich werden diese Volksbibliotheken
viel intensiver ausgenützt als die Landes- und Universitätsbibliotheken.
Die 18000 Bcände der i. und 20. Volksbibliothek zu Berlin wurden im
Jahre 1902 ebenso stark benutzt (d. h. ebensoviel Bände ausgeliehen) als
die Kgl. Bibliothek mit ihren 1207000 Bänden. Übrigens gibt es in Berlin
(wie anderswo) neben den staatlichen Bibliotheken und den Einzelbiblio-
theken der Parlamente und Gesellschaften auch noch allgemein gerichtete
Institute dieser Art, die privater Initiative entsprungen sind. So z. B. die
von der Gesellschaft für ethische Kultur eingerichtete Lesehalle, die jähr-
lich über looooo Besucher zählt, und die Heimannsche Bibliothek, die
jährlich 60000 Besucher in ihrer Lesehalle empfängt und 60000 Bände
verleiht.
Alles dies scheint in der Tat eine Unsumme von Wissenschaft dar- Stadt und Land,
zustellen, die wie ein erquickender Maienregen auf die nach Bildung
dürstenden IClassen der Bevölkerung herabträufelt. Aber, wird man
sagen, dieser Regen trifft nur die Zentren der Bildung und vor allem die
Hauptstadt, die einen Überfluß aller möglichen Bildungsorganisationen
entwickelt hat, während das flache Land nach wie vor trocken bleibt.
Dies ist richtig und oben als ein Mißstand der bisherigen Entwicklung
hervorgehoben worden. Allein für die Aufgaben, die jedem Volke inner-
halb des Reiches der Wissenschaft zugefallen sind, ist selbst diese un-
gleichmäßige Berieselung nicht gering anzuschlagen. Wenn z. B. jeder
20. Deutsche ein Berliner ist, so stellt die in dieser Stadt gebotene Möglich-
keit wissenschaftlicher Weiterbildung, selbst wenn diese noch so elementar
ist, ein immerhin unverächtliches Quantum dar, das für das Wachstum
der Wissenschaft um so mehr ins Gewicht fällt, als die Einrichtungen
der Hauptstadt vielfach vorbildlich wirken. Freilich fehlt es nicht an
aristokratisch gesinnten Fachleuten, die das Quantum für gleichgültig er-
achten, da Verstand ja stets nur bei wenigen gewesen. Hiergegen darf
man sich auf die Erfahrung berufen, daß wie die Kunst eines Landes nur
dann den höchsten Gipfel erreichte, wenn das ganze Volk künstlerisch
angeregt war, so auch die Wissenschaft nur da ihr höchstes Ziel erreichen
konnte, wo die ganze Bildung auf einem verhältnismäßig hohen Niveau
stand. Was Deutschland anbetrifft, so ist der Partikularismus, der die
politische Entwicklung hemmte, der künstlerischen und wissenschaftlichen
Dezentralisation günstig gewesen. Wie vier Akademieen von Weltruf über
unser Vaterland zerstreut sind, so ist die Zahl der kleineren Bildungs-
zentren schon jetzt außerordentlich groß und wird unzweifelhaft noch
weiter zunehmen.
Das Ziel dieser Bewegung ist, das flache Land mit einem ganzen Netz ocsciurhaft ror
, Verbrcitunjt von
von wissenschaftlichen Organisationen zu überziehen, die der Landbevol- voiksbiiaun«
kerung die geistige Anregung gibt, nach der auch sie verlangt und die,
wenn auch unbewußt vielleicht, einen großen Prozentsatz der Intelligen-
f.Q, Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
teren dem flachen Lande entzieht und dem Strudel der großen Städte zutreibt.
Wenn es nun aber wahr ist, daß die Kraft und Gesundheit der Völker
auf dem Bauernstände beruht (für Deutschland trifft dies unbedingt zu),
so muß hier energisch Hand angelegt werden, um diesen Stand mit der
Bildung zu versorgen, die zu seinem leiblichen und geistigen Wohlbefinden
notwendig ist. In dieser Beziehung ist die „Gesellschaft für Ver-
breitung von Volksbildung" zuerst mit sehr beträchtlichen Mitteln vor-
gegangen. Ihr Zweck ist einerseits, Vortragskurse durch Wanderredner
oder Ansässige einzurichten und zu vermitteln, die, mit guten Skioptikon-
apparaten versehen, gemeinverständliche Belehrung aus allen Gebieten der
Kunst und Wissenschaft bis in die kleinsten Dörfer tragen und Belehrung
in unterhaltender Form spenden, wie es auf dieser Stufe notwendig ist
Diese Tätigkeit der Gesellschaft stellt einen vorläufigen Ersatz dar für die
Wirksamkeit der University Extension, die in den skandinavischen Ländern,
in England, Amerika, auch in Österreich, das flache Land sehr stark in
Kultur genommen hat. Inzwischen bereisen die Wanderredner jener Ge-
sellschaft, mit dem Skioptikon und ansprechenden Bilderserien ausgerüstet,
die kleineren Städte und Dörfer Deutschlands. Im Jahre 1902 wurden so
248 Vorträge von 7 Rednern gehalten mit einem Aufwand von 15000 M.
Diese Vorträge der Berufsredner entwickeln über den unmittelbaren Zweck
hinaus eine sehr starke Anregung zur Abhaltung solcher Kurse durch
geeignete lokale Kräfte, die sich bald die Technik des Vortrags und der
Demonstration aneignen und, von der Zentralstelle mit stets neuem Material
von Büchern und Bildern versehen, gleichsam als Dorfprofessoren dauernd
und mit großer Freude und geistigem Gewinne wirken. Andererseits
werden sorgfältigst zusammengestellte Volksbibliotheken teils geschenkt,
teils zu billigen Preisen abgelassen, die als ständiger Besitz oder in der
Form von Wanderbibliotheken die erprobte populär-wissenschaftliche und
belletristische Literatur Deutschlands überallhin verbreiten und den harten
Boden mit den ersten Keimen idealer Bildung befruchten. Von 1892 bis
1902 sind im ganzen 5000 Bibliotheken mit 200000 Bänden neubegründet
worden. Hiervon haben allein Ost- und Westpreußen, Posen, Pommern
und Brandenburg 100 000 Bände, also die Hälfte erhalten, weil hier die
Bildung des flachen Landes am meisten zurück, und die eigene Initiative
am schwächsten ist. Leider wird die Tätigkeit dieses Vereins neuestens
durch zwei Faktoren stark gehindert. Einmal versucht der Staat direkt
durch den Oberpräsidenten und Landrat diese Bildungsfrage zu lösen,
indem auch sie mit staatlichen Mitteln Bibliotheken gründen, wobei es
nicht immer ohne Reibung abgeht. Vor allem aber hat der unglückliche
Sortimenter, der jetzt den deutschen Buchhandel mit seinen Klagen er-
schreckt hat, herausgefunden, daß das Ablassen der Bücher durch den
Verein zu billigeren Preisen sein Geschäft störe. So ist durch Druck auf
die Verleger die Ergänzung der kleineren Bibliotheken durch Rabatt-
lieferungen dem Vereine unterbunden und damit die Entwicklung dieser
I. Stufen der wissenschaftlichen Bildung. Elementar- und Volksbildung. 603
kleinen Bibliotheken zu allmählich selbständig sich erhaltenden Bildungs-
zentren gehemmt worden. Es ist möglich, daß infolgedessen das Wirken des
\'ereins allmählich aufhören wird. Jedenfalls hat er das Verdienst, das Problem
der Verbreitung von gediegener Bildung auf dem flachen Lande energisch
angeregt und namentlich die Volksschullehrer zu der neuen und dankbaren
Aufgabe, die ihnen hier erblüht, geweckt und erzogen zu haben. Sein ge-
schickt geleitetes Organ „Volksbildung", das jetzt zweimal im Monat
erscheint und bis zum 36. Jahrgang gediehen ist, stellt die Verbindung
der Zentrale mit den einzelnen Vereinen und deren Mitgliedern her und
orientiert am besten über diese Bestrebungen.
Es ist möglich, daß sich an Stelle des von der Gesellschaft für Ver- Volksbücher,
breitung von Volksbildung adoptierten Systems, die Bücher ganz oder
teilweise zu verschenken, allmählich ein anderes durchsetzen wird, das die
Bücher durch unerhört billige Preise jedwedem im Volke direkt zugänglich
machen will. Nachdem die Universalbibliothek von Reclam die Haupt-
werke aller Literaturen, Handbücher der Wissenschaft, Gesetzessamm-
lungen und dergl. zu bis dahin in Deutschland unerhörten Preisen in das
Volk geworfen und durch die Buchbinder und Papierläden bis in die
kleinsten Dörfer verbreitet hatte, sind in neuester Zeit zwei noch billigere
Massenuntemehmungen ins Leben getreten, die ebenfalls großen Erfolg
hatten. Das eine ist die vom Direktor Liesegang in Wiesbaden geleitete,
vom dortigen „Volksbildungsverein" herausgegebene Sammlung „Wies-
badener Volksbücher", die von ersten Männern der Wissenschaft einge-
leitete spottwohlfeile Ausgaben der besten Volksschriften (Gottfried Keller,
Storm, W. Raabe) enthalten.
Das andere ist ein Verlagsuntemehmen, „Die deutsche Bücherei",
herausgegeben vom Gymnasialoberlehrer A. Reimann, die monatlich etwa
zwei Bändchen zu je 25 Pf. ausgehen läßt. Sie hat den Zweck: „dem
breitesten Leserkreis für unerreicht billigen Preis einen sorgfältig ge-
wählten Lesestoff zu bieten zur Unterhaltung, zur Belehrung, zur Hebung
des geistigen Standpunktes. Mit anderen Worten, zum Anschaffen einer
eigenen kleinen, ganz billigen, aber durchaus wertv'ollen Bibliothek anzu-
regen, deren Inhalt nicht nur zu spannen, sondern auch den Geschmack
zu veredeln, den Gesichtskreis zu erweitem, Stoff zum Nachdenken, zur
inneren Verarbeitung zu geben geeignet ist Altere und neuere Schrift-
steller sollen dabei in gleichem Maße helfen, das Gefühl für deutsche
Sprache, Sitte und Eigenart zu vertiefen und ein gesundes Volkstum zu
pflegen. Dem Bildungsbedürfnis unseres Volkes zu dienen, ist die Auf-
gabe; besondere politische oder konfessionelle Tendenzen sind grundsätz-
lich ausgeschlossen. Es soll nur gebracht werden, was echt ist und dauern
wird: eine Auslese einmal der besten erzählenden Literatur, daneben
populär -wissenschaftliche Arbeiten in künstlerisch abgerundeter Form aus
der Feder hervorragender Gelehrter und Essayisten." Wissenschaftliche,
aber populär geschriebene Aufsätze von Treitschke, Er. Marcks, Max
6o4 Hermann Dif.ls: Die Organisation der Wissenschaft.
Lenz, Erich Schmidt, Fr. Paulsen u. a. sind bis jetzt in dieser Sammlung
erschienen, die eine bemerkenswerte Ergänzung der Volkshochschul-
bestrebung darstellt.
Presse. Unsere Zeit wirkt durch die Masse. Daher ist zu ihrer Erziehung und
Leitung- ein Masseninstrument nötig, die Presse. Die überall ausfliegenden,
überall hinfliegenden Zeitungen und Zeitschriften sind der treue Ausdruck
des Masseninstinkts und darum auch für den Trieb der Massen zur Bildung
vor allem charakteristisch. Bildung und Zeitungswesen steht natürlicher-
weise in direkter Proportion zueinander. Die Zahlen der Analphabeten
sind der Zahl der Zeitungen nach den statistischen Angaben umgekehrt
proportional.
Zeitaag. Die ZeituHg mit ihrem das allgemeine Interesse treffenden, mannig-
fachen, in der Regel täglich erscheinenden und auf den Tag berechneten
Inhalte, mit ihrer durch die Annoncen ermöglichten Billigkeit, ihrer leichten
Versendbarkeit und aktuellen Unmittelbarkeit dringt in alle Schichten der
Bevölkerung ein und weiß sich mit unfehlbarem Instinkte dem Bedürfhisse
ihres jeweiligen Publikums anzupassen. Daher dient nicht jede Zeitung
in gleicher Weise den Interessen der Wissenschaft, da nicht jedes Blätt-
chen Interesse dafür bei seinen Käufern voraussetzen darf. Im allg-emeinen
bietet aber die deutsche Zeitung allerbescheidensten Ranges mehr davon
als gewisse glänzende, in ganz Europa gelesene Pariser Journale. Es gibt
eine große Anzahl angesehener deutscher Zeitungen, zu denen die Männer
der Wissenschaft in gelegentlicher oder ständiger Beziehung stehen, nicht
in dem Sinne, wie es in anderen Ländern wohl üblich geworden ist, um
einen bequemeren fraeco suae virtutis zu haben, sondern um in schweben-
den Fragen die Stimme objektiver Wissenschaft gegenüber parteilicher
Tagesauffassung zur Geltung- zu bringen oder auch um wichtig-e Ent-
deckungen einem größeren Leserkreis mitzuteilen oder verständlich zu
machen. Die Redakteure sind bei uns nicht selten wissenschaftlich hoch-
gebildete Männer, und aus der oft scheel angesehenen Journalistik sind
zuweilen hervorragende Zierden unserer Universitäten hervorgeg-angen.
Die Kosten, die für den wissenschaftlichen Teil trotz der Erleichterung
der „Korrespondenzen" von manchen Zeitungen aufgewendet werden, sind
sehr beträchtlich, und die als besondere Beilagen erscheinenden wissen-
schaftlichen Abteilungen einzelner großer Blätter finden auch in der ge-
lehrten Fachwelt Beachtung. Vielleicht übertrifft die deutsche Presse
durch die Bedeutung ihres wissenschaftlichen Teiles die ausländische
ebenso sehr, wie sie in dem politischen hinter den Weltblättern anderer
Nationen leider noch immer zurücksteht.
Goethe nennt einmal, dem Sprachgebrauche seiner Zeit folgend, die
Zeitung ein „Institut". In der Tat, wenn man die Summe wissenschaft-
licher Aufsätze oder Notizen zusammenrechnet, die gfutgeleitete, gfroße
Zeitungen bei uns jährlich in Originalbeiträgen oder Reproduktionen
ihrer Lesewelt mitteilen, stellen sie nach dem Quantum gerechnet die
I. Stufen der wissenschaftlichen Bildung. Elementar- und Volksbildung;. 605
literarische Tätigkeit großer wissenschaftlicher Institute weit in Schatten.
Freilich die Genauigkeit der Berichte kann nicht immer mit der Schnellig-
keit gleichen Schritt halten. So ist es verständlich, daß sich in die Mit-
teilung wissenschaftlicher Beobachtungen oder gehaltener Vorträge Ver-
sehen, Flüchtigkeiten und Mißverständnisse einschleichen. Schlimmer als
diese Irrtümer wirkt der Übelstand, daß der gewöhnliche Zeitungsleser,
um die ungeheure, bunte Menge von Notizen aller Art in möglichst
kurzer Zeit zu bewältigen, wie mit dem Eilzug durch das Blatt fahrt und
daher die mitgeteilte wissenschaftliche Belehrung ebenso schnell wieder
vergißt wie die Mordtaten und Sensationsprozesse, mit denen er gespannt,
und die parlamentarischen Verhandlungen, mit denen er gelangweilt wird.
Aber diese Art von Lesern erzeugt vor allem die Großstadt. In kleinen
Städten und auf dem Lande nimmt man sich noch Zeit. Das Gehirn ist
noch frisch und dankbar für ernstere Anregung und Erhebung in idealere
Anschauung. Die für die Provinz arbeitenden Journalisten wissen auch
vorsichtig jede Überfütterung mit Wissenschaft zu vermeiden. So wirkt
das kleine Klreisblättchen mit seinem verdünnten Aufguß des großstädti-
schen Extraktes doch vielleicht intensiver und heilsamer auf sein Publikum
als die dickgeschwollenen Sonntagsbeilagen auf das ermüdete Gehirn des
Großstadtmenschen.
Ganz anders verhält sich die Wochen-, Halbmonats- und Monats- Periodische
Schrift. In allen Kulturländern gibt es eine Reihe von vornehmen Jour-
nalen dieser Art, die für die Literatur der betreffenden Länder maßgebend
sind und auch für die Wissenschaft neben den eigentlichen Fachjournalen
stark in Betracht kommen. Sie werden von den oberen Zehntausend ge-
lesen und vermitteln den in Handel und Industrie, in Staat oder Kom-
mune leitenden Personen den Überblick über die wichtigeren Fortschritte
der geistigen Kultur. Zugleich unterrichten sie auch die Gelehrten selbst
über das, was auf fremden Arbeitsgebieten Bedeutsames zutage tritt. Das
Feuilleton, das seit etwa hundert Jahren als Gegengewicht gegen den
ernsten politischen Teil der Zeitung abgegrenzt worden ist, wird mehr
und mehr neben der Kunst auch der Wissenschaft geöffnet. Die Form
spielt hier eine große Rolle. Die wissenschaftlichen Aufsätze müssen
ebenso unterhaltend geschrieben sein als die Kunstkritiken, die man imter
dem Strich zu finden gewohnt ist. So hat sich als übliche Form für diese
Aufsätze der Essay bewährt, der sich auch in Deutschland allmählich in
dieser Literatur Bürgerrecht erworben hat. Er wetteifert in vornehmer
Popularität mit den Vorträgen oder Vortragszyklen, in denen redegeübte
F"orscher die Resultate der SpezialWissenschaften dem gebildeten Publi-
kum in immer steigendem Maße mitzuteilen beflissen sind.
Man hat oft behauptet, namentlich zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, Konkurrenz von
,,.-,. 1 txr 1 i-r ^ . . ZcitscIiriU und
als die Zeitungen und \V ochenschriften anfingen, sich unheimlich zu ver- Huch.
mehren und zu vergrößern, das Journal werde das Buch verschlingen.
Soweit die eigentliche Publizistik in Betracht kommt, ist diese Befürch-
Presse.
f,Q5 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
tung nicht eingetroffen. Vielmehr kommt die Zeitung oft der Verbrei-
tung auch streng wissenschaftlicher Literatur zugute. Gar mancher dem
speziellen Fache femer Stehende erfährt zuerst durch seine Zeitung oder
Wochenschrift, die ja fast alle auch der Berichterstattung dienen, von
dem Erscheinen eines ihn interessierenden bedeutenden wissenschaftlichen
Werkes. Manches ernste wissenschaftliche Buch, das sonst niemals über
den engen Kreis der Fachgenossen hinausgekommen wäre, verdankt
seinen buchhändlerischen Erfolg der Resonanz, die es in den Journalen
und Tageszeitungen gefunden hatte. Für Frankreich, England und Amerika,
wo der deutsche Sortimentsvertrieb weniger entwickelt ist, hat diese Art
der Empfehlung noch mehr Bedeutung und noch mehr — Gefahr.
Wirkung der So dient die Presse, soweit sie sich in den Dienst der Wissenschaft
stellt, unendlich abgestuft wie das Publikum, dem sie dient, den großen
Kulturinteressen der Menschheit. Sie treibt das frische Blut wissenschaft-
licher Erkenntnis durch alle Adern des Volkskörpers und führt ihm da-
durch stets neue Kräfte zum Bestehen des immer schwieriger werdenden
Lebenskampfes zu. Zugleich unterhält sie die unentbehrliche Verbindung
zwischen der Masse des Volkes und seinen geistigen Führern und Be-
ratern. Von der eigentlichen gelehrten Zeitschriften- und Buchliteratur
wird noch im Kap. X ausführlich die Rede sein.
wissenschfLft Wenn heutzutage die Berührung mit der Wissenschaft für jeden
Menschen in unseren zivilisierten Ländern wünschenswert und heilsam
ist, so ist sie unerläßlich für den „gelernten" Arbeiter, der sich in mannig-
fachen Betrieben zunächst rein äußerlich in den Besitz der dazu nötigen
technischen Kenntnisse setzen muß. Es ist klar, daß seine Arbeit
um so wertvoller und seine eigene Verwendbarkeit um so größer wird,
je mehr er von einer mechanischen Herstellung seines Fabrikates, von
einer rein äußerlichen Handhabung seiner technischen Funktionen zu einer
Einsicht in das Wesen der betreffenden Prozesse und Handhabungen über-
geht. Eine solche Hebung der technischen Arbeiterschaft ist eines der
wichtigsten und schwierigsten Probleme der Zukunft. Die Volkshochschul-
kurse mit ihren zusammenfassenden Kursen, z. B. über Metalle für Metall-
arbeiter u. dergl. können nur einen Teil der Aufgabe lösen. Einen anderen
die Fachschulen und Fortbildungsschulen. Am wichtigsten wird die Selbst-
fortbildung werden, wenn es gelingt, dem Arbeiter die nötige Zeit und
Kraft nach vollendetem Tagewerk für diese geistige Hebung zu erübrigen.
Bis dieses Ziel erreicht ist, wird noch mancher Kampf, der heute nur um
materieller Dinge willen unternommen wird, ausgefochten werden müssen.
Viel Einsicht bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern wird dazu gehören,
sich hierüber zu verständigen. Allein klar ist es, daß nur diejenige In-
dustrie sich künftig auf dem Weltmarkte dauernd behaupten kann, die es
versteht, den Arbeiter mit immer größerer Intelligenz auszustatten. Nur
wer den Zusammenhang im ganzen auch nur im groben überschaut, wird
imstande sein, sich über die Dumpfheit seiner dienenden Stellung zu er-
und Technik.
II. Mittelschulbildung. 607
heben, sich nicht als Sklaven einer sinnlosen technischen Despotie, sondern
als notwendiges Glied eines lebendigen, wertvollen Organismus zu fühlen
und — zu achten.
II. Mittelschulbildung. In Deutschland ist die Technik viel zu Technische
lange vornehm unterdrückt und als rein praktische Tätigkeit von dem er-
frischenden und belebenden Hauche der Wissenschaft fern gehalten worden.
So sind hier zweierlei Vorbereitung.s- und zweierlei Hochschulen entstanden:
reale und humanistische. Während in Frankreich schon im Anfang des
19. Jahrhunderts die Bedeutung der Ingenieure erkannt und ihre enge Ver-
bindung mit der Wissenschaft gepflegt wurde, wuchs in Deutschland der
Stand der Techniker im Schatten auf. Aus dem berechtigten Gefühl der
Unterdrückung erwuchs eine erbitterte Kampfesstimmung, die, gestützt auf
die steigende Bedeutung der Industrie, ihre Forderungen auf Gleich-
berechtigung mit den älteren Instituten der Wissenschaft siegreich durch-
zusetzen wußte. So standen bis zum Jahre 1900 bei uns auf der ganzen
Linie zwei verschiedene Systeme von Organisationen einander gegenüber:
das altüberkommene Universitätssystem mit seinem natürlichen Vorbau,
dem humanistischen Gymnasium, und die technischen Hochschulen mit
ihrem Vorbau, der Oberrealschule, zwischen denen als Vermittlung das
Realgymnasium stand und steht.
Die Reform von 1 900 hat hier eine Vereinheitlichung der Vorbildung GieichstcUun;;
. der neun-
herbeigeführt, die zunächst aus speziellen Gründen (Kadettenvorbildung) kiassiRcn Mittel-
erfolgte, aber in der Nation einen lebhaften Widerhall gefunden hat.
Anstatt zu sagen, daß die humanistisch Vorgebildeten für die Technik
ebenso schlecht vorbereitet sein rhüssen wie die realistisch Vorgebildeten
für die wissenschaftlichen Fächer der Universität, sah man über diese
Differenzen der Vorbildung milde hinweg, indem man späterer Bemühung
der Studierenden die Ausfüllung etwaiger Lücken der Bildung überließ.
Die Schäden, die aus dem Zudrang ungenügend Vorgebildeter beiden
Arten von Hochschulen erwachsen, glaubt man hinreichend auszugleichen
durch die freie Konkurrenz, die nun für alle Arten von höherer Vorbil-
dung eröffnet ist. Die demokratische Tendenz unserer Zeit hat gesiegt.
Jeder, auch der ursprünglich nur für Industrie und Handel Vorbereitete,
darf jetzt durch die Fakultäten (wenn sich auch noch einige verschämt
sträuben) zu den sozial bei uns am höchsten gewerteten Staatsstellungen
hindurchdringen, und der ursprünglich für die Bureaukratie Erzogene darf
es versuchen, als Techniker oder Kaufmann sein Glück zu machen. Der
Marschallstab liegt nun im Tornister jedes Schülers, der seine neunjährige
Mittelschule absolviert.
Die Probe auf das Exempel ist noch nicht gemacht. Man wird sehen, Hum.-misiischn
ob die drei T\^en nebeneinander friedlich weiter bestehen und verschieden-
artig vorgebildete Schüler mit Erfolg auch an den nicht für sie bestimmten
Hochschulen ihre Studien betreiben und abschließen können; man wird
C^Qg Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
ferner sehen, ob nicht die verschiedenen Typen zunächst durch fakultative
Kurse sich einander nähern und schließlich tatsächlich eine Einheits-
schule schaffen werden. Was die Vorbereitung' auf die wissenschaftliche
Laufbahn anbetrifft, so gilt bis jetzt noch in den maßgebenden Kreisen
das alte humanistische Gymnasium für die normale Vorbildung. Wenn
aus realer Vorbildung heraus einzelne Genies zu hervorragenden Gelehrten
sich entwickelt haben, so sind dergleichen Fälle in der Regel auf solche
Fächer beschränkt, die, wie die Chemie, der Technik am nächsten stehen.
Sie beweisen aber überhaupt nichts, da für Genies alle Schulen wenig
bedeuten. Im allgemeinen hält man immer noch an der durch eine zwei-
tausendjährige Tradition gefestigten sprachlichen Vorbildung der huma-
nistischen Gymnasien fest, da man der Meinung ist, daß die Sprache als
Ausdruck menschlichen Fühlens, Wollens und Denkens und als Schatz-
haus der erarbeiteten Begriffe vor allem den Gegenstand eindringenden
Studiums bilden müsse. An der eigenen Sprache in ihre Gesetze und
ihre Interpretation einzudringen ist mißlich, weil sie mit uns verwachsen
ist und daher ebenso wenig gründlich und unbefangen studiert werden
kann wie der eigene Körper. Die neueren Sprachen, die an den beiden
anderen Typen der Mittelschulen in den Vordergrund treten, sind schon
geeigneter als die eigene in sprachliches Verständnis einzuführen. x\llein
plastisch klar tritt das grammatische Skelett an den beiden alten Sprachen
hervor, die unseren modernen verwaschenen Idiomen ferner und doch viel-
fach zugrunde liegen. Hierzu kommt das an sich hervorragende und
wiederum für das Verständnis der davon abhängenden modernen Literatur
und Kunst, ja der gesamten Kultur unentbehrliche antike Schrifttum,
dessen Interpretation eine unersetzliche Schulung zum Verständnis jeder
menschlichen Rede darstellt. So ist für alle sprachlich und historisch
gearteten Wissenschaften dieser Gang der Vorbildung als der normale
zu betrachten, und insofern jeder gebildete Mensch mit der Vergangen-
heit in jeder Beziehung zusammenhängt und das Bewußtsein dieser Zu-
sammenhänge zu seinem geistigen Leben unentbehrlich ist, erscheint er
überhaupt als der normale. Daneben sorgt die damit verbundene Ein-
führung in Mathematik und Naturwissenschaften dafür, die dem mathe-
matischen Kalkül und der sinnlichen Beobachtung zugänglichen Dis-
ziplinen und Methoden der Wissenschaft dem jugendlichen Geist nahe zu
bringen und das Streben nach Exaktheit ihm einzupflanzen. Je mehr die
realen Fächer überwiegen, wie bei dem Realgymnasium und der Ober-
realschule, um so mehr empfiehlt sich eine solche Vorbildung für alles,
was der Technik und den praktischen Berufen zustrebt, um so weniger
aber genügt sie den Anforderungen der Wissenschaft, die ein nicht nach
dem Nutzen fragendes, ideal gerichtetes Streben voraussetzt. Wenn daher
die nichthumanistische Vorbildung allmählich die Überhand gewinnen
sollte, indem dabei durch fakultativen Unterricht die klaffenden Lücken
.der klassischen Durchbildung notdürftig ausgefüllt werden, so würde die
UDiversität.
III. Hochschulbildung. 6oQ
ganze Wi.s.senschaft selb.st eine entschieden auf das Praktische gewendete
Richtung erhalten, etwa so, wie das gelehrte Wesen der Griechen bei den
Römern oder die europäische Kultur bei den Amerikanern umgestaltet
worden i.st. Es i.st nicht unmöglich, daß sich die Welt nicht bloß in
Deutschland, sondern überall nach dieser modernen Richtung entwickelt,
die in der Kultur der englisch redenden Völker in der Verengerung des
Begriffes Science ihren charakteristischen Ausdruck gefunden hat. Wenn
sich die allgemeine Überzeugung von der Entbehrlichkeit der historisch-
literarischen Bildung für das allgemeine Wohl etwa auch bei uns bis zu
der Höhe des Spencerschen Positivismus steigern sollte (was um so weniger
unglaublich erscheint, als ein sehr positivistisch gesinntes Volk, die Japaner,
seit kurzem in die Weltkultur eingetreten i.st), so wird bei der freien
Konkurrenz der drei Vorbildungsarten die Oberrealschule entschieden
den Sieg gewännen und schließlich eine Einheitsschule übrig bleiben, die
moderne Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften treiben und zur
Vorbereitung auf die historisch -literarischen Fächer Sonderkurse auf der
obersten Stufe einrichten wird. Facilis descensus Averno!
III. Hochschulbildung. Die Gleichberechtigung der drei Mittelschul- Universai-
typen, die durchaus die Tendenz hat, zu einer realistischen Einheitsschule zu-
sammenzuführen, treibt mit Macht auf die Vereinheitlichung auch der Hoch-
schulen hin. Gewichtige Stimmen werden laut, man solle die Universität nach
der technischen Seite hin au-sbauen und durch Angliederung der technischen,
landwirtschaftlichen, Tierarzneischulen, Berg- und Forstakademieen zu einer
wahren Universaluniversität gelangen. Zu dieser Vereinigung fehlt es
nicht an Analogieen. Nicht bloß die umfassende Organisation mancher ameri-
kanischer Universitäten, sondern auch die Einrichtung mancher deutschen
zeigt Anfänge solcher Agglutination. In der Regel spielt dabei die viel-
gestaltige philosophische Fakultät die Anschlußstelle, wie z. B. die Zahn-
arzneikunde und die Apothekerausbildung, die bei der Medizin nicht
Unterschlupf finden konnten, auf manchen Universitäten bei den Philosophen
willige Aufnahme gefunden haben. So sollen nun nach der Absicht der
Unionisten alle jene praktischen Schiden sei es der philosophischen Fa-
kultät oder irgendwie sonst der alten alma viater eingefügt werden. Die
philosophische Fakultät nun, die schon jetzt kaum mehr die einzelnen
Dauben mit gemeinsamem Reifen umspannen kann, würde durch diese
Einfügung völlig gesprengt. Vielleicht daß hier und da einige praktische
Vorteile mit solcher Union erreicht würden, der Wissenschaft aber würde
mit solcher Universaluniversität schwerlich gedient sein. Im 17., im 18.
und ig. Jahrhundert, ja selbst wieder zu Beginn des 20. sind diese Unions-
gedanken bei uns aufgetaucht, allein nirgends haben sie schließlich bei
uns Verwirklichung gefunden, und die Erfahrungen der amerikanischen
Universitäten (die als solche doch die praktischen Ziele schärfer ins Auge
fassen als wir) scheinen eher ungünstig als günstig zu lauten.
DiK Kultur dbr Gbobnwakt. I. i. iQ
5io Hermann Diels: Die Organisation der Wissenscliaft.
Wissenschaft Es ist ja voUkomiTien richtig, daß sich Wissenschaft und Praxis
gegenseitig bedingen. Man kann historisch beobachten, wie die Theorie
aus den Bedürfnissen des tägUchen Lebens herauswächst und erst verhält-
nismäßig spät selbständige Geltung gewinnt. Es ist nur auf der Höhe der
Kultur mög-lich, an die Selbständigkeit der Wissenschaft zu denken, und
dieses Denken einzelner hervorragender Köpfe gewinnt erst dann all-
gemeine Geltung, wenn man bemerkt, wie manche zunächst nur theoretisch
betriebene Wissenschaft die technisch -industrielle Praxis auf das wert-
vollste befruchtet. Als Galvani an dem Eisengitter seines Gartens die
Zuckungen des galvanisierten Froschschenkels beobachtete, ahnten weder
er noch seine Zeitgenossen die weittragenden praktischen Folgen seiner
Entdeckung. Und als H. Hertz hundert Jahre später die Wellennatur
der Elektrizität nachwies, konnte weder er noch irgend ein anderer Ge-
lehrter vermuten (ich erinnere mich sehr deutlich, wie sich Helmholtz, der
die Arbeit Hertzens der Berliner Akademie vorlegte, dazu aussprach),
welche außerordentlichen praktischen Konsequenzen diese seine Experimente
nach sich ziehen würden. An drahtlose Telegraphie wagte damals nie-
mand zu denken.
So könnte es also sehr verlockend erscheinen, durch Gründung von
ungeheuren Universaluniversitäten Praxis und Wissenschaft in die innigste
Verbindung zu bringen und durch diese Kopulierung die Fruchtbarkeit
beider ins Gigantische zu steigern.
Gegen diesen schönen Traum der Zukunft sei es gestattet einige Be-
denken geltend zu machen. Zunächst hat sich in Deutschland die Doppel-
natur der wissenschaftlichen und praktisch-technischen Hochschulen hi-
storisch überall mehr oder minder reinlich durchgesetzt. Die Regierungen
wenigstens fahren auch noch in diesem Jahrhundert fort, neue technische
Hochschulen ohne Angliederung an Universitäten zu gründen, und sie tun
meines Erachtens recht daran.
In den Universitäten hat sich (dies ist das Ergebnis der Entwicklung
im vorigen Jahrhundert) die Wissenschaft als solche die Hegemonie er-
rungen, die praktische Ausbildung hat sich immer mehr zurückgezogen
und ist in den meisten Disziplinen ganz oder teilweise in besondere, nach
Ablegung der wissenschaftlichen Prüfungen, also nach der Universitäts-
bildung, fallende praktische Kurse verlegt worden. Der Gymnasial-
lehrer, der vor fünfzig Jahren fertig zum Unterricht von der Universität
ging, muß heute eine besondere, ein- bis zweijährige praktische Probezeit
durchmachen. Der Arzt, der noch vor kurzem direkt aus dem Klinikum
in die Praxis sprang-, hat jetzt ein praktisches Jahr als Zwischenstadium
durchzumachen. Schon länger hat sich die praktische Probezeit des Re-
ferendars bewährt. Der Sinn aller dieser Einrichtungen ist doch der, den
Studierenden möglichst lange in Berührung mit der reinen Wissenschaft
zu lassen, um ihn nicht durch die Forderungen der Praxis allzufrüh von
seiner allseitigen wissenschaftlichen Ausbildung abzuziehen. Die Stärke
ni. Hochschulbildung. 5 1 1
der idealen Richtung, von der die Kraft der späteren beruflichen Wirk-
samkeit zum großen Teile abhäni'i't, soll sich in dem heranreifenden jungen
Manne schön und frei entfalten können. Die Auszüge und Abzüge der
wissenschaftlichen Ausbildung, welche die Praxis notwendigerweise ver-
langt, sollen in den Jahren des Studiums möglichst verdeckt bleiben, da-
mit keine Routiniers, sondern wirklich allseitig durchgebildete junge Ge-
lehrte die Universität verlassen.
Ganz anders bei den Technikern und Praktikern. Ihr Augenmerk
muß umgekehrt sich in erster Linie auf die Anwendungen der Wissen-
schaft richten. Für diese ist die Theorie wirklich grau und des Lebens
goldner Baum, den sie zum Teil schon vorher vorschriftsmäßig haben
kennen lernen, zieht sie immer wieder in die Praxis zurück. Freilich
wird Handel, Industrie und Mechanik immer mehr von den Entdeckungen
der Wissenschaft beeinflußt. Die Summe wissenschaftlicher Kenntnisse
vermehrt sich auch für den reinen Praktiker von Jahr zu Jahr. Vom ein-
fachen Maschinisten bis zum hochgebildeten Konstrukteur ist eine ge-
diegene wissenschaftliche Ausbildung für jeden Techniker unerläßlich.
Aber der Gesichtswinkel, mit dem dieser die Wissenschaft betrachtet, ist
doch ein ganz anderer als der des Theoretikers auf der Universität. Die
Praxis ist für ihn bereits auf der Hochschule der Wertmesser der Theorie,
und diese Praxis würde Not leiden, wenn der Schüler der technischen
Fächer ebensoviel Mühe auf die Aneignung des wissenschaftlich Wert-
vollen und der dazu führenden Forschungsmethoden verwenden wollte wie
sein Kollege von der Universität. Schon aus diesem Gruade erscheint
die in Deutschland wenigstens wie von selbst eingetretene Arbeitsteilung
zwischen Universität und Polvtechnikum, oder wie sonst die technischen
Hochschulen sich benennen, als eine organische und darum wohlberechtigte
und fruchtbare Differenzierung. Nachdem die unbegründete und törichte
Mißachtung der praktischen Hochschulen offiziell beseitigt und auch in der
Schätzung des deutschen Publikums ihre hohe Bedeutung voll anerkannt
ist, bedürfen jene Institute nicht mehr des besondern Prestiges, das die
Tradition den Universitäten verleiht. Sie sind selbständig und wollen es
sein. Der Kultur der Nation wird unstreitig mehr durch diese zweigipflige
Organisation gedient als durch die äußerlich imposante, aber innerlich
zweckwidrig gebaute Riesenpyramide einer Universaluniversität.
Übrigens fehlt es nicht an Anzeichen, daß sich die Ziele der Unio-
nisten auf anderem Wege und besser verwirklichen werden. Denn die bei-
den Gipfel des deutschen Hochschulsystems sind in ihrer Struktur gerade
jetzt in einer zeitgemäßen Umbildung begriffen. Die Wissenschaft horcht
immer mehr auf die Anregungen und Bedürfnisse der Praxis (auch der
pädagogischen), und umgekehrt wird die Technik genötigt, immer mehr
wissenschaftlich sich zu vertiefen.
Für die Universitäten liegt bei dem eminent praktischen Geiste unserer Universität als
Zeit die Gefahr nahe, darüber eine Forderung hintanzusetzen, die gerade Forschung
39*
()l'> 1 [krmann DiKLS : Die Organis;iüoii der Wissenschaft,
in Deutschland am lautesten erhoben und am entschiedensten durchgesetzt
worden ist. Diese Forderung" lautet, daß hier nicht bloß das vorhandene
Wissen mitgeteilt, sondern auch neues Wissen erarbeitet werde. Diese
Betonung der wissenschaftlichen Forschung ist ein Kind des deut-
schen klassischen Idealismus. Der heroische Schwung unseres Volkes,
das zur Zeit der tiefsten politischen Erniedrigung die Hand ausstreckte
nach den höchsten geistigen Kränzen, hat sich in der Gründung der Ber-
liner Universität ein ewiges Denkmal gesetzt: aus diesem Geiste stammt
die im vorig'jn Jahrhundert zur Geltung gekommene Anforderung an den
Universitätslehrer, daß er sich selbst in der Wissenschaft schöpferisch be-
tätigen und die Jugend zu ähnlichen Leistungen anregen müsse.
Zur Erreichung' dieses Zieles gibt es einen doppelten Weg. Einmal
muß der Dozent in zusammenhängenden Vorlesungen den wissenschaft-
lichen Gegenstand, sei es im ganzen oder in typischen Beispielen, vor-
führen, wobei die noch zu lösenden Aufgaben scharf hingestellt und Proben
eigener Lösungen gegeben werden müssen. Dies weckt die Geister und
reizt zur Nacheiferung, befähigt aber ohne weiteres nur hervorragend
selbständige Naturen zum wirklichen Fortarbeiten. Daher sind zur Er-
gänzung der Vorlesung die praktischen Arbeiten unter der Anleitung
des Lehrers oder seiner Gehilfen eingerichtet, die den Einzelnen in me-
thodisch geordneten Lehrgängen mit der Art der Forschung vertraut
machen und ihn allmählich zur Bearbeitung einer relativ selbständigen,
die Wissenschaft selbst fördernden Arbeit befähigen. Aus diesen Arbeiten
wächst dann organisch die als Abschluß des Universitätsstudiums gedachte
und aus dem alten Universitätsbetriebe in modernisierter Form über-
nommene Doktordissertation heraus.
wisseDschaft- Indem der Schüler mit dem Lehrer zusammenarbeitet, in dessen Ar-
beitsgebiet und Methode eindringt und anschließend an dies Vorbild
wissenschaftliche Aufgaben angreift und löst, bildet sich das, was man
seit alter Zeit Schule nennt. Diese Form der Schulgemeinschaft, die,
wie oben erwähnt, schon für den ältesten Betrieb der Wissenschaft charak-
teristisch ist, hat sich in der griechischen Epoche vollkommen organi-
siert. Wir sehen z. B. um Plato einen freien, um Aristoteles einen
straffer disziplinierten Kreis von Schülern und Jüngern (|uaer|Tai küi fvujpiMOi)
sich sammeln, die seitdem vollkommen vereinsmäßig konstituiert, in der
Kaiserzeit auch staatlich privilegiert und besoldet bis ans Ende der alten
Welt die Fahne der Vv'issenschaft auch unter den schwierigsten Verhält-
nissen hoch gehalten haben. Solche Gemeinschaften haben sich dann
später überall gebildet, wo bedeutende Köpfe lehrten, und namentlich in
Deutschland hat sich diese Form der Organisation so stark ausgebildet,
daß man in einzelnen Fächern geradezu von Sekten wie im Altertum
reden kann. Schließt sich eine solche Sekte mit Fanatismus ab von den
anderen Organen der Wissenschaft und erstarrt sie in dogmatischer Recht-
gläubigkeit, so ist der Nachteil für die Wissenschaft auf der Hand liegend.
in. Hochschulbildung. 5l3
Die -wohltätige Anregung des Gemeinschaftsinnes schlägt dann in solchem
Cliquenwesen in das Gegenteil um.
Der Ausgangspunkt und Mittelpunkt dieser Schulen ist bei uns die Seminare und
Praxis des Unterrichts, wie er in den Seminarien und Instituten erteilt
wird. Er geht von der Platonischen Anschauung aus, daß wissenschaft-
liche Wahrheiten nicht dogmatisch, wie in den Religionsgesellschaften,
vom Lehrer auf den Schüler übertragen, sondern in gemeinsamer Arbeit
gefunden oder wiedergefunden werden müssen. Dieses Wiederfinden be-
reits erledigter Aufgaben ist vor allem auf die Anfänger berechnet, die
auf diese anregende Weise in die ersten Elemente eingeführt werden.
So leitet man die angehenden Chemiker an, die bekannten Körper mit
den bekannten Reagentien nach den bekannten Methoden zu analysieren;
Historiker werden beauftragt, die im allgemeinen bekannten Quellenver-
hältnisse der Berichterstatter im einzelnen nachzuprüfen. Sobald aber
die Teilnehmer solcher Seminarkurse über jene Übungen am „Phantom"
hinaus sind, beginnt die eigentliche ernste wissenschaftliche Arbeit. Hier
muß das Ziel sein, daß die gemeinsame Forschung neue Resultate ge-
winnt. Jede Stunde muß als verloren betrachtet werden, wo nicht die
Wissenschaft negativ oder positiv um ein Kleines gefördert worden ist.
Dabei soll ein gegenseitiges Nehmen und Geben zwischen Lehrer und
Schülern stattfinden. Das belebt den Mut der Xeophj^ten und schlingt
unsichtbare Fäden des Vertrauens zwischen den Teilnehmern eines solchen
Thiasos.
Aus der eben erhobenen Forderung, daß die Seminararbeit das Ziel Doktor-
verfolgen muß, wissenschaftlich produktiv zu sein, ergibt sich mit Not-
wendigkeit die weitere Forderung, daß der Schluß dieser Tätigkeit und
der Abschluß der ganzen Universitätsstudien, das in der Doktordisser-
tation zu leistende Probestück, ebenfalls eine Förderung der Wissenschaft
darstelle. Der Umfang dieser Dissertationen ist bei uns in der Regel
nicht erheblich in Vergleich zu dem, was z. B. in Frankreich, Holland und
Rußland verlangt wird, allein die Qualität, auf die es doch in erster Linie
ankommt, hält im ganzen den Vergleich mit den ausländischen, oft un-
nütz breit geratenen und in Literatur schwelgenden Elaboraten aus, wenn
man die etwas entartete Dissertationsschriftstellerei der medizinischen Fa-
kultät bei.seite läßt. Doch wird auch hier als Minimum der Forderung
festgehalten, daß irgend ein Fortschritt der Wissenschaft angebahnt, irgend
etwas Neues darin mitgeteilt sei. Diese Fortschritte sind in der Regel
nur klein, aber man darf sie nicht verachten. Einer unserer Größten sagt:
„Es ist nichts groß als das Wahre, und das kleinste Wahre ist groß."
Auf alle Fälle hat diese Einreihung in die wirklich produktive Wissen-
schaft für den geistigen Entwicklungsgang des jungen Doktors die aller-
größte Bedeutung, und mancher, der später der langen Mühe kargen
Lohn überschlägt, mag sich wohl Rückerts resignierte Worte gesagt sein
lassen :
6l4 Hermann Dikls: Die Organisation der Wisscnscliaft.
Arbeiten tat ich aucli in Schachten,
Wo ich kein (lold entkernte,
Die aber mir den Nutzen brachten, i
Daß ich arbeiten lernte.
Man mag- über die emsige Arbeit der jungen Gelehrten, die damit
ad Sil Hl »tos in univcrsifatc hovores streben, urteilen wie man will: die
durch Mommsens scharfes Eingreifen vor einem Menschenalter aufgestellte
Forderung, daß jede Dissertation gedruckt und damit der öffentlichen
Zensur unterbreitet werden muß, hat die stark in Verruf gekommene
deutsche Doktorwürde wieder zu Ehren gebracht. Und überall wird jetzt
durch die damit verbundene Verpflichtung zu einer gedruckten Inaug-ural-
dissertation an unsem Universitäten, wenn auch keine welterschütternde,
so doch ehrliche Arbeit geleistet.
Doktorwürde. Das althergebrachte Recht der Universitäten, Doktoren zu kreieren,
das jetzt in etwas modifizierter Gestalt auch den technischen Hochschulen
verliehen ist, erscheint mir für die Fortpflanzung der Wissenschaft von
erheblicher Bedeutung. Mag auch der allergrößte Teil der Doktoren in
praktische Berufe übergehen, die wenig unmittelbare Berührung mit dem
Gegenstande ihrer speziellen Promotionsschrift bieten, so nehmen sie doch
einen goldnen Schimmer idealer Begeisterung mit in die trockene Praxis,
und nicht wenige auch den fortwirkenden Anreiz, sich weiter in wissen-
schaftlicher Arbeit zu betätigen, die beste Schutzwehr gegen das Ver-
sinken in Handwerkertum und Strebertum.
Fortbiidungs- Einen kräftigen Antrieb zu weiterer wissenschaftlicher Betätigung und
zeitweilige Rückkehr zu der idealen Universitätszeit geben die in neuester
Zeit auf allen Gebieten eingerichteten Ferienkurse und Fortbildungs-
kurse. Sowohl die Theologen, die auf einer Landpfarre von der Weiter-
bildung abgeschnitten sind, als die Lehrer, die im strengen Dienst der
Schule nur zu leicht ermatten und im alten Geleise müde weiter trotten,
nicht minder die Juristen und Verwaltungsbeamten, vor allem aber die
praktischen Ärzte haben dadurch die gern benutzte Gelegenheit, während
der Ferienzeit an den Universitäten, zum Teil auch sonst in eigens dafür
eingerichteten Instituten sich mit den neuesten Fortschritten der Wissen-
schaften bekannt zu machen und so deren Entdeckungen sofort in die
Praxis umzusetzen und die ganze Nation damit zu bereichern und zu
• heben.
Privatdozenteu- Ursprünglich verlieh der Doktorhut an den europäischen Universi-
täten ohne weiteres die venia legendi. Dies besagt ja auch der Name
doctor. In der Tat ist für den Übergang zur akademischen Dozenten-
tätigkeit das Doktorexamen die einzige wirkliche Prüfung. Deim für
die Habilitation verlangt man in den meisten deutschen Fakultäten nur
Vorlage einer gedruckten oder geschriebenen Arbeit, die von der Weiter-
arbeit des Habilitanden auf seinem Spezialgebiete Zeugnis ablegt, ferner
einen kurzen wissenschaftlichen Vortrag nach selbstgewähltem Thema, und
tum.
III. Hochschulbildung. 615
daran schließt sich eine freundschaftliche Besprechung mit den Vertretern
des Faches. Auf diese leichten, wie viele meinen, allzuleichten Bedingnngen
hin erhält der junge Gelehrte von den Fakultäten die Erlaubnis, in freiester
Weise und ohne jede Verpflichtung sich an dem Unterrichte der Univer-
sität zu beteiligen. Diese unverantwortlichen und nicht vom Staate be-
stellten Dozenten sind also die privilegierten Konkurrenten der staat-
lich angestellten und verantwortlichen Professoren. Die Korporation ge-
stattet und befördert aber diese Konkurrenz, auch wenn kein Lehrbedürf-
nis vorliegt, in der liberalsten Weise. Denn die Fakultäten sind es, denen
vor allen die Frage um den akademischen Nachwuchs am Herzen liegt.
Sie sind es, auf deren Vorschlag in der Regel (aber nicht immer) aus den
Reihen der bei ihnen oder anderswo habilitierten Privatdozenten bewährte
und befähigte Gelehrte zu den außerordentlichen oder ordentlichen Pro-
fessuren von der Regierung berufen werden. Daraus ergibt sich, daß es
eigentlich sinnlos ist, wenn ältere Arzte oder Beamte, die gar nicht mehr
daran denken, auf die Lehrstühle der Universitäten berufen zu werden,
oder gar bereits anderswo als Ordinarien oder Extraordinarien tätig ge-
wesene Professoren sich in die Reihe dieser jungen Noblegarde eindrängen
und den schweren Kampf ums Dasein, von dem die meisten Privat-
dozenten zu erzählen wissen, ohne rechten Nutzen für die Organisation
noch schwerer machen. Das Privatdozententum ist eine Übungsschule
für angehende Professoren und keine Arena für Pensionäre. Deshalb
gehen manche Fakultäten in neuerer Zeit, wo der Mißbrauch des Dozenten-
privilegiums stark zunimmt, mit Strenge gegen jenes Afterdozententum vor.
Man hat versucht, das echt deutsche Institut der Privatdozenten, dessen
Lichtseiten die Schattenseiten bei weitem überwiegen, auch in anderen
Ländern einzuführen. Aber da es mit unserem Korporationssystem eng
verwachsen ist, läßt es sich nicht leicht den andersartigen Organisationen
des Auslandes aufpfropfen.
Den Hauptvorzug dieses Institutes in wissenschaftlicher Hinsicht er-
blicke ich vor allem in der Jugend der Dozenten, die am wirksamsten
die Erstarrung in Dogmatismus und Autoritätsanbetung verhütet. Wo der-
gleichen in einer Fakultät oder einer Disziplin sich breit macht, wirkt die
firische und fröhliche Opposition eines tüchtigen jungen Gelehrten oft
geradezu befreiend auf die Studierenden. Ein zweiter unschätzbarer Vor-
zug besteht in der Unabhängigkeit ihrer Stellung. Abgesehen von der
Beschränkung, die durch die von ihnen selbst gewählte Fachbegrenzung
gegeben ist. lehren die Privatdozenten völlig" frei, unverantwortlich und
unkontrolliert. Diese Freiheit bildet ein wichtiges Gegengewicht gegen
die durch ihre Beamtenqualität und ihre staatliche Vokation bis zu einem
gewissen Grade gebundenen ordentlichen und außerordentlichen Professoren.
Vor allem aber bildet diese in einzelnen Fächern oft sehr zahlreiche
Phalanx jugendlicher Lehrkräfte ein heilsames Gegengewicht gegen die
vegeta senectus, die in den Fakultäten die Oberhand hat. Wenn z. B. an
f, j () Hermann Diels: Die Or^'anisation der Wissenschaft.
der Berliner Universität kein Ordinarius unter 40, viele aber über 70 tätig
sind, wenn dort das Durchschnittsalter des Ordinarius zur Zeit (1905)
58 Jahre beträgt, so wäre dieses Überwiegen der Senioren eine ernste
Gefahr für die Fortbildung der Wissenschaft und die Frische des Unter-
richts, wenn eben nicht eine viel zahlreichere, tüchtige Dozentenjugend
den Älteren zur Seite stünde.
Leider gibt es nicht allzu viele unter diesen jungen Dozenten, die
finanziell völlig unabhängig sind. Viele sind genötigt, Staatsstipendien
in Anspruch zu nehmen, was sowohl von der empfehlenden Fakultät wie
von der verleihenden Regierung abhängig macht. Allein da es notwendig
ist, auch die mittellosen Talente für die akademische Laufbahn zu ge-
winnen und zu erhalten, und da nur wenige Fächer den Dozenten, zumal
an kleineren Universitäten, ein hinreichendes Vorlesungshonorar einbringen,
so hat man bisher in Deutschland kein anderes Mittel ausfindig machen
können, sich des notwendigen Nachwuchses für die akademische Lauf-
bahn auf alle Fälle zu sichern als diese sehr liberal verwalteten Privat-
dozentenstipendien. Aber diese Einrichtung hat auch ihre große
Schattenseite. Da man eben sehr liberal verfährt, wird mancher, der
keinen wirklichen Beruf zum Forscher und Lehrer besitzt, über die Jahre
hinaus in dieser Laufbahn erhalten, in denen er noch seinen Beruf mit
Vorteil wechseln könnte. Auch hier wird aus falschem Mitleid manche
vener abilis senectus großgezogen, die mit dem eigentlichen Zwecke des
Dozenteninstituts nicht vereinbar ist. Es sollte vielmehr grundsätzlich nur
den jüngeren Dozenten von Talent verliehen werden, um ihnen die Über-
gangszeit vom Universitätsstudenten zum Universitätsprofessor möglichst
zu erleichtern, jene Zeit, wo die Knospen ansetzen, die in dem sich stets
erneuenden Lenz der Wissenschaft aufgehen sollen. In diesen zarten
Jahren alle Sorgen und Stürme von dem jungen Forscher fern zu halten,
sollte das Hauptbestreben sein. Wenn dann die Knospen aufspringen
und Früchte tragen, ist die Zukunft des Forschers von selbst gesichert.
Denn ein Übergehen fruchtbarer Talente ist im Universitätsleben ein Aus-
nahmefall. .Setzen aber die Knospen nicht an, so sollte der unfruchtbare
Baum je eher je lieber in ein anderes g-eeignetes Erdreich versetzt werden.
Die Wissenschaft wenigstens wird dabei nichts verlieren.
Da, wie gesagt, unser deutscher Privatdozent nicht ohne weiteres
übertragbar ist auf die auswärtigen Universitätsverhältnisse, so hat man
sich in den englischen Colleges und in den französischen Universitäts-
instituten in anderer und zum Teil trefflicher Weise zu helfen gesucht.
Ich kann hierauf nicht genauer eingehen, möchte aber nicht unterlassen,
auf eine verwandte Pariser Stiftung hinzuweisen, die erst neuerdings ins
Leben getreten und daher bei uns noch wenig bekannt ist.
FondationThicrs. In der schönstcn Vorstadt von Paris, Passy, nahe dem Eingange zum
Bois de Boulogne, erhebt sich in einem großen, schön gepflegten Garten
ein imposantes Schloß, das dem Vermächtnis der Witwe von Thiers und
III. Hochschulbildung. 6 1 7
deren Schwe.ster verdankt wird. Diese Fondation Thiors, 1892 gestiftet,
ist bestimmt, 15 Stipendiaten aller Wissenschaften aufzunehmen, die dort
ohne jede Verpflichtung für die Zukunft völlig sorgenfrei ihren .Studien
obliegen sollen. Jeder dieser Glücklichen verfügt über ein geräumiges
Wohn- und Schlafzimmer, daneben über schöne Eß- und Spielsäle. Eine
große Bibliothek aller Wissenschaften mit Lesesälen steht zu ihrer freien
Verfügung. Außer dem wertvollen Grundbesitz steht der Fondation Thiers
jährlich eine Rente von 120000 Frs. zu Gebote. Davon wird der gemein-
same Tisch, die Gehälter des daselbst wohnenden Direktors, des Biblio-
thekars und Schatzmeisters, ferner Bedienung, Heizung und Beleuchtung,
endlich das Taschengeld der 15 Stipendiaten (jährlich je 1200 Frs.) be-
stritten. Der Aufenthalt in diesem Elysium dauert ein Jahr, wird aber in
der Regel auf 2 und 3 Jahre verlängert. Nach dreijährigem Aufenthalte
erhält jeder noch ein Viaticum von 1800 Frs. Doch kann ihm diese
Summe auch schon früher zu Studienreisen oder zur Konstruktion von
Apparaten zur Verfügung gestellt werden. Die Verwaltung und wissen-
schaftliche Oberleitung liegt in den Händen eines angesehenen und dazu
besonders geschickten Gelehrten. Ihm steht das Kuratorium zur Seite, das
aus den Spitzen der gelehrten Institute von Paris zusammengesetzt ist.
Die Stipendiaten dürfen nicht über 26 Jahre, nicht mehr dienstpflichtig,
noch nicht verheiratet sein. Zum Ausweis ihrer wissenschaftlichen Be-
fähigung dient abgelegtes Staats- oder Doktorexamen. Auch die Lösung
einer von der Akademie gestellten Preisaufgabe legitimiert zum Eintritt
in die Stiftung. Für den Fortbezug des Stipendiums auf ein zweites oder
drittes Jahr genügt die jährliche Einreichung von Studienproben. Man
sieht, daß hier ideale äußere Bedingungen geschaffen sind, in der Stille ein
Talent zu bilden und das „große Buch" zu reifen, das die gelehrte Lauf-
bahn eröffnet und in I-Vankreich bei den zahllosen, hohen Preisen, die das
Institut de France alljährlich zu vergeben hat, auch von materiellem Er-
folge begleitet zu sein pflegt.
Die Einrichtung dieses Gelehrtenheims ist offenbar den archäologischen
Instituten nachgebildet, wie sie zuerst auf preußische Anregung hin in Rom
organisiert, dann auch in andern historischen Stätten und für andere histo-
rische Zwecke von fast allen bedeutenderen Kulturstaaten errichtet worden
sind. Der große Vorzug der Fondation Thiers vor jenen archäologischen
und historischen „Instituten" besteht darin, daß hier keine Hypertrophie
eines bestimmten Faches künstlich erzeugt wird, wie dies im archäologischen
Fache eine Zeitlang in Deutschland geschah, sondern daß möglichst gleich-
mäßig alle Hauptfächer bedacht werden. Ferner erfahren jene Stipendiaten
durch das innige Zusammenleben mit der Elite der gleichaltrigen gelehrten
Jugend unter der Leitung eines universell gebildeten Direktors und unter
bequemster Benutzung einer universellen Bibliothek die vielseitigste Be-
fruchtung, die unseren deutschen Privatdozenten nur unter besonders gün-
stigen Umständen in kleinen Universitätsstädten zuteil werden kann.
Ajg Hkkmamn DiELS: Die Organisation der Wissenschaft.
Es wäre zu wüiisrheii, daß einsichtige Millionäre bei uns mit der edlen
Witwe des französischen Staatsmannes zu wetteifern suchten, oder daß der
Staat wenigstens für Berlin, wo ein solches Institut am nötigsten wäre, in
ländlicher Gegend ein solches modernes Kloster errichtete, das für die
Förderung der Wissenschaft nicht minder wichtig und fruchtbringend sich
erweisen dürfte als alle die großartigen Institute der Einzelwissenschaften,
auf die der spezialisierenden Richtung des 19. Jahrhunderts gemäß die
Aufmerksamkeit und Gunst der Gelehrten wie der Regierungen und des
Publikums noch immer allzu einseitig gerichtet ist.
Wissenschaft- In dicseu Einzelinstituten entwickelt sich nun freilich auch eine
"""""■günstige Gelegenheit für junge Gelehrte, im Schatten der Hochschulen
ihre gelehrten Studien fortzusetzen und zur Reife zu bringen. Indem sie
als Assistenten sei es im Unterricht der Studierenden oder in der Ver-
waltung der Museen ihre Hauptkrcift dem öffentlichen Dienste widmen,
verschaffen sie sich die Möglichkeit, in ihrer freien Zeit, unterstützt durch
die Bibliotheken und Sammlungen ihrer Fachinstitute, unterstützt auch
durch den Rat und das Vorbild ihrer älteren Kollegen und Vorgesetzten
sich auf die Habilitation vorzubereiten oder als habilitierte Dozenten die
harten Jahre des Wartens ruhiger auszuhalten.
Assistententum. Von besondcrem Vorteil erweist sich dieser Anschluß für die Aus-
bildung in der Medizin und den Naturwissenschaften, aber auch für die
meisten anderen Zweige ist die gegenseitige Berührung älterer und jüngerer
Generationen dem Ausbau der Wissenschaft höchst förderlich. Wie das
imposante Wissenschaftsgebäude des Aristoteles undenkbar wäre ohne die
selbstlose Mitarbeit und die befruchtende Detailforschung seiner „Assi-
stenten" Theophrastos, Eudemos, Kallisthenes, so hat sich auch in der
modernen Zeit das Assistententum, das sich um hervorragende Meister
sammelte, für die Wissenschaft selbst wie für ihre Ausbreitung und Lehre
als höchst förderlich erwiesen.
Auch für den praktischen und theoretischen Unterricht sind die Assi-
stenten vom höchsten Werte. Sie stehen schon durch ihr Alter den
Studierenden näher und scheuchen nicht durch ihren gelehrten Nimbus
den Schüchternen zurück. So bilden sie die natürliche Brücke zwischen
Alter und Jugend, Professor und Schüler.
Fakultäten der D'c wisseuschaftUche und pädagogische Oberleitung der deutschen
umversitat. Tjj^.^.gj.g-^j^^gj^ j-^g.^ ^^j^ alters in der Hand der Fakultäten, denen bei
den technischen Hochschulen die etwas anders organisierten „Abteilungen"
entsprechen. Die Fakultäten sind in erster Linie für die Vollständigkeit
und zweckentsprechende Einrichtung des wissenschaftlichen Unterrichtes
verantwortlich. Von den vier Fakultäten, die an den meisten deutschen
Hochschulen bestehen, sind drei in engster Beziehung zu den praktischen
Berufen geblieben: die theologische, juristische und medizinische. Die
philosophische Fakultät dagegen, die sich erst im 19. Jahrhundert reicher
entwickelt hat, ist einerseits Vorbildungsanstalt für die andern Fachfakul-
III. Hochschulbildung. 6ig
täten (so speziell für die medizinische), anderseits Fachschule zur Aus-
bildung des höheren Lehrstandes. Daneben aber ist gerade in der philo-
sophischen Fakultät der eigentliche wissenschaftliche Gesichtspunkt, der
eine universelle Vertretung aller Disziplinen ohne Rücksicht auf die Praxis
und den Xutzen des Lebens fordert, mehr und mehr zur Geltung ge-
kommen. Denn weit über die Bedürfnisse der eigentlichen bürgerlichen
Berufe hinaus haben auch wissenschaftliche Fächer ohne praktische Be-
deutung wenigstens auf den größeren Universitäten ihre anerkannten Ver-
treter erhalten. So verkörpert die philosophische Fakultät am meisten
das Ideal der „Wissenschaft um der Wissenschaft" willen. Doch hat sich
nicht bloß in dieser Fakultät, sondern an der ganzen Universität bei uns
in Deutschland die Tendenz lebendig gezeigt, über die Anforderungen des
„Brotstudiums" hinaus zu wissenschaftlicher Abrundung und Vollständig-
keit vorzudringen. Es ist durch dieses hochgerichtete Streben unzweifel-
haft auf unseren Universitäten ein wissenschaftlicher Hochstand erreicht
worden, der uns mit Stolz erfüllen mag. Allein es hat doch gegen diesen
allzu akademischen Betrieb weder innerhalb der Korporationen noch außer-
halb, namentlich bei den Regierungen, die von Staats wegen das Aufsichts-
recht ausüben, an Widerspruch und Widerstand gefehlt.
Da die RecfieninEfen, auch abgesehen von dem Besetzungsrecht der wisscnschaft-
vakanten Professuren, das sie in Deutschland meist nach den Vorschlagen komraission.
der Fakultäten ausüben, die Anforderungen der Staatsprüfungen feststellen
und die Prüfungskommissionen selbständig ernennen, so sind sie leicht
in der Lage, hierdurch die allzuweit gehende Vernachlässigung der prak-
tischen Staatsbedürfnisse einzudämmen. Allein diese Korrektur der aka-
demischen Überwissenschaftlichkeit durch praktische Untervvissenschaft-
lichkeit ist nicht unbedenklich. Denn sie erzeugt in den Köpfen der
studierenden Jugend die gefährliche Vorstellung von zwei Wissenschaften,
von denen man die eine „braucht" und die andere „nicht braucht". Daher
wäre es richtiger, wenn die Universität selbst sich auf ihren Doppelzweck
besänne und in ihrem Unterricht selbst in ausreichendem Maße für die
praktischen nicht minder wie für die theoretischen Bedürfnisse der Studie-
renden sorgte. Die Universitätspädagogik, die man möglichst wenig im
Munde führen und möglichst ausgiebig zur Anwendung bringen sollte,
verlangt, daß die Studierenden in organischer Weise sich ihre Kenntnisse
aneignen und im methodischen Fortschreiten vom Leichteren zu dem
Schwereren, von den Elementen zu den Höhen der Wissenschaft empor-
steigen. Diese Stufenfolge zu organisieren, aber ohne die kostbare Studien-
freiheit irgend anzutasten oder Zwangskollegien einzuführen, sollte die
Hauptaufgabe der Fakultäten oder in der vielgespaltenen philosophischen
Fakultät der Vertreter der einzelnen Gruppen sein. Es handelt sich dabei
nicht bloß um sogenannte Studienpläne, die z. B. in den historischen Dis-
ziplinen recht farblos ausfallen müssen, sondern um sorgfältig erwogene,
auf Jahre hinaus vorbedachte Vorlesungszyklen, und vor allem um syste-
^20 Hkrmann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
matisch abg-estufte Übungskurse, die zwischen den Haupt Vertretern eines
Faches und den Vorstehern der betreffenden Fachinstitute und Seminarien
vereinbart werden müssen. Wo die Professoren -diese praktische Seite
nicht genügend ins Auge fassen, wo sich banausisches Schmarotzertum
(genannt „Einpauker") neben der staatlichen Organisation breit m.achen
kann, darf von normaler Konstitution der Universitätsverhältnisse nicht
die Rede sein.
Akademische Dic größte Verwunderung aller Ausländer erregt es, daß Deutsch-
Fr'Szügigkeit. land, das fast als das Vaterland des Polizeiregiments und der bureau-
kratischen Reglementierung erscheint, seinen Universitäten, den Professoren
sowohl wie den Studenten, so viel Freiheit läßt wie sonst nirgends auf der
Welt. Es ist leicht zu zeigen und wohl auch allgemein anerkannt, daß
diese Freiheit sich erst im abgelaufenen Jahrhundert voll entfaltet und sich
als das eigentliche Ferment der reichen Universitätsentwicklung erwiesen
hat. Für die Wissenschaft ist diese Lehrfreiheit der Professoren und
die Lernfreiheit der Studierenden in der Tat die conditio sine qua non.
Das Vertrauen, daß aller Überschwang und alle Verkehrtheit das Heilmittel
in sich selbst trägt, hat sich in der inneren Geschichte der Wissenschaften
stets bewährt. Auch in der Universitätspraxis hat sich dasselbe gezeigt.
So darf man hoffen, daß alle, die je dieser Freiheit sich erfreut, sie auch
künftig unangetastet lassen und nicht gleich nach der Polizei rufen, wenn
sonderbare Auswüchse des Wissenschaftsbetriebes sich irgendwo ent-
wickeln. Mit dieser Freiheit der deutschen Universitätsorganisation ist
die Freizügigkeit sowohl der Lehrenden wie der Lernenden mitrennbar
verbunden. Da die Ähnlichkeit der Organisation sich auch auf die
schweizerischen und österreichischen Universitäten deutscher Zunge er-
streckt, so ist auch hier ein segensreicher Austausch der Schüler und
Professoren üblich. Auch mit den stammverwandten skandinavischen und
niederländischen Universitäten hat von Zeit zu Zeit ein Austausch von
Lehrern stattgefunden. Doch ist der Anreiz für unsere Studenten, in diese
Universitäten des Auslandes zu gehen, durch die Sprachverschiedenheit
bisher gehemmt worden. Nur die französischen Universitäten der Schweiz
und Frankreichs werden zur Erlernung der „Diplomatensprache" von den
angehenden Juristen häufig'er aufgesucht.
Professoren- In ueuestcr Zeit ist zu diesem althergebrachten Wechsel der Profes-
soren und Studierenden noch ein in Amerika und Deutschland von Seiten
der Regierungen patronisierter Austausch der Dozenten auf kurze Zeit
getreten. Einige Hauptuniversitäten der Vereinigten Staaten Amerikas
sind mit unseren Hochschulen in Verbindung getreten. Hervorragende
amerikanische Dozenten haben in ihrer Muttersprache bei uns, ebenso
haben ausgezeichnete deutsche Professoren teils deutsch teils englisch in
Amerika Vorlesungen gehalten. Diese Institution ist noch zu neu, um
ein endgültiges Urteil über den Nutzen fällen zu können. Läßt man die
politische vSeite der Sache, wie billig, beiseite, so ist keine Frage, daß
austausch.
III. Hochschulbildung. 52 1
sowohl die ausgewechselten Professoren als die sie hörenden Studenten
großen Vorteil durch einen solchen Wechsel haben können, namentlich
aber die amerikanischen Professoren, die den deutschen Universitätsbetrieb
von innen kennen lernen, und die deutschen Studenten, die nicht wie ihre
amerikanischen K-ommilitonen über das große Wasser zu gehen und ihren
Horizont durch Auslandsreisen zu erweitern gewohnt sind. Es kann nicht
ausbleiben, daß durch diese intimeren Berührungen sich die Hochschulen
der zivilisierten Länder näher kommen und daß sie das Gute, das ihnen
fehlt, wechselseitig zu importieren bemüht sein werden.
Wir sehen, daß seit etwa einem Menschenalter die uralten starren universitsw-
Typen der Universitätsorganisationen in Bewegung geraten sind. Die ^^"''
mittelalterliche Einrichtung der enghschen Colleges, die von den besten
Köpfen dieses Landes als durchaus veraltet und reformbedürftig erklärt
wird, und das moderne spezialwissenschaftliche Fachschulenprinzip
Frankreichs, das ebenfalls dort nicht mehr als ausreichend erscheint, sind
scharfe Gegensätze, die in dem deutschen System ihre glückliche Aus-
gleichung gefunden zu haben scheinen. Darum wird dieses von beiden
Nationen nicht ohne Neid betrachtet und vielfach zur Nachahmung emp-
fohlen. Nun ist in Amerika ein noch modernerer Tj^pus von Hochschule
entstanden, der eine Vereinigung unserer Universität mit der Oberstufe
unserer Gymnasien und mit den technischen Hochschulen darstellt. Es
ist zweifelhaft, ob dieser Typus uns nachahmenswert erscheinen kann
(wenigstens sind die amerikanischen Hochschulen bestrebt, sich vielmehr
unserer Art anzupassen), allein bei einer so eminent praktisch begabten
Nation, wie sie die nordamerikanische Union umfaßt, ist namentlich in der
Technik (z. B. der Listitute und Bibliotheken) vieles auch für uns höchst
beachtenswert. Vermutlich wird die begonnene Assimilation der Uni-
versitäten, die bei dem immer reger werdenden internationalen Verkehr
unausbleiblich ist, die Technik des Unterrichtes mehr beeinflussen als die
der wissenschaftlichen Forschung. Doch macht sich auch hier das Be-
streben geltend, die experimentelle und statistische Methode, die in Amerika
und England als das A und O der Science betrachtet wird, auch bei uns
über den Kreis der Natur- und Sozialwissenschaften hinaus auszudehnen.
Vielleicht wird diese mit der real-demokratischen Tendenz unserer Zeit
zusammenhängende, ähnlich auch in der Mittelschulbewegung erkennbare
„exakte" Tendenz in der nächsten Zeit noch Fortschritte machen. Im
ganzen aber läßt sich vermuten, daß der Typus der deutschen Universi-
täten, wie er sich Hand in Hand mit ihren praktischen Zielen gestaltet
hat, nicht nur bestehen bleiben, sondern weitere Ausdehnung auch im Aus-
lande linden wird.
Eins freilich fehlt der deutschen wie jeder anderen Universität. Ist
sie auch noch so vortrefflich organisiert und eine wirkliche uuivcrsilas
litteraruni für die Lernenden: den Lehrenden fehlt jede wissenschaftliche
Gemeinsamkeit. Sie lehren jeder in seinem Auditorium, sie forschen jeder
^,, Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
in seiner Zelle, aber nie findet anders als in Privatgesprächen eine päda-
gogische oder wissenschaftliche Mitteilung von einem zum andern statt.
Die Sitzungen der Fakultäten und des Senats beschäftigen sich mit Prü-
fungs- und Verwaltungsgeschäften, aber nicht mit der unmittelbaren För-
derung der Wissenschaft. In diese Lücke tritt nicht an allen, aber an
einigen Universitäten die Akademie.
Akademieen der IV. Wissenschaftliche Akademieen. Der schöne Name Aka-
Wissenschaften
demie stammt bekanntlich von der Gründung Piatons, der seine
Schule im stillen Haine des Akademos {Ferngau) bei Athen gründete.
Er wird aber heutzutage verschiedenen z. T. ganz heterogenen Instituten
beigelegt. Unsere staatlich privilegierten Akademieen („Gelehrte Ge-
sellschaften") unterscheiden sich prinzipiell von allen andern wissen-
schaftlichen Veranstaltungen dadurch, daß sie weder dem Unterrichte
noch sonstigen praktischen Zwecken dienen, sondern lediglich der
Förderung der reinen Wissenschaft. Diese Beschränkung auf die theore-
tische Seite hat sich erst in der neueren Zeit durchgesetzt. Im Altertum
war die Akademie und ihre Nachfolgerinnen vielseitiger. Aber auch in
der neueren Zeit, als der Staat in Frankreich und England daran ging,
hervorragend leistungsfähige wissenschaftliche Privatvereine anzuerkennen
und als Akademieen zu organisieren, verfolgte man vor allem praktische
Zwecke. Nicht nur die alten französischen und englischen Institute dieser
Art, sondern auch noch die Leibnizsche Gründung in BerUn, sie alle haben
bis in die Mitte des i8. Jahrhunderts hauptsächlich oder ausschließlich die
Naturwissenschaft und zwar mit ganz bestimmten praktischen Zielen ge-
pflegt. Amerika steht im ganzen noch heute auf diesem Standpunkte.
Erst die höhere Anerkennung, die sich im i8. Jahrhundert die Wissen-
schaft als solche in der allgemeinen Meinung errang, die führende Stellung,
die sich die Gelehrten als Führer der Aufklärungspartei eroberten, ge-
stattete es endlich an den Ausbau der Wissenschaft ohne ängstliche Rück-
sicht auf die praktische Rentabilität zu denken. Wenn Richelieu das
Verdienst gebührt, den Wert der Akademieen überhaupt erkannt zu haben,
so verdankt die Wissenschaft als solche die hohe Stellung dem Vorgange
Friedrichs des Großen, der durch seine Teilnahme und Mitarbeit an den
Forschungen des Berliner Instituts in allen Ländern des Kontinents das
Institut der Akademie nobilitierte. Das 19. Jahrhundert hat entsprechend
der theoretischen Entwicklung, die das Universitätswesen bei uns nahm,
die rein „akademische" Auffassung der Akademie zur vollen Entwicklung,
ja vielleicht zur Überspannung getrieben. Denn die Verachtung der
Technik, die z. B. in den enghschen und französischen Instituten so nie-
mals bestanden hat, wäre für die deutschen Akademieen vielleicht ver-
hängnisvoll geworden, wenn nicht zur rechten Zeit durch äußere und
innere Einflüsse ein Wandel eingetreten wäre.
Ikademiefr Die Arbeit der Akademieen richtet sich nach verschiedenen Seiten.
IV. Wissenschaftliche Akadcmieen. 623
Da sie finanziell fast überall von den Regierungen des Landes stark ab-
hängig sind, besonders auch in Deutschland, so ist es deren gutes Recht,
diese Körperschaften zu Gutachten über wissenschaftliche Gegenstände
in erster Linie heranzuziehen. Ein nicht geringer Teil der akademischen
Arbeit bezieht sich daher auf diese gutachtliche Tätigkeit. Aber auch in
weiteren Kreisen haben sich fast überall die Akademieen das Vertrauen
der Bevölkerung erworben, so daß ihnen eine Menge von Stiftungen und
ursprünglich selbständigen Instituten allmählich angegliedert worden ist.
Hierdurch vergrößert sich wie die Arbeit so auch die Finanzkraft und der
Einfluß dieser Körperschaften von Jahr zu Jahr. Neben dieser beratenden
und verwaltenden Tätigkeit beschäftigen sich die Akademieen in ihren
Sitzungen hauptsächlich damit, neue Forschungsergebnisse auf allen
Gebieten des Wissens zu veröffentlichen. Zu diesen Zwecken werden zu-
nächst die wissenschaftlichen Aufgaben, die der einzelne Akademiker
sich selbständig gestellt und selbständig gelöst hat, in den Zusammen-
künften den sachverständigen Kollegen zur Mitteilung und Diskussion
vorgelegt. In einigen Akademieen, z. B. den fünf Parisem, die zusammen
das Institut de France bilden, ist es üblich, das Publikum zuzulassen und
eine lebhafte Debatte an die Vorträge anzuschließen. In anderen ist die
Öffentlichkeit auf einige Festsitzungen beschränkt, und eine gelehrte Er-
örterung findet auch in den nichtöffentlichen Sitzungen nicht regelmäßig
statt. Ja an manchen Orten ist es nur üblich, ein kurzes Referat über
den Hauptinhalt zu geben und die Beweise und Details der späteren
Publikation vorzubehalten. Dies abgekürzte Verfahren entspricht wohl
nicht dem Sinne der Institution. Denn wenn die Akademie bloß als Ver-
mittler zwischen Autor und Drucker dienen soll, so scheint ein so großer
Apparat nicht nötig. Vielmehr kann die Teilnahme der Kollegen dem
Vortragenden durch Zustimmung, Ergänzung und vor allem auch durch
Widerspruch nur förderlich sein und selbst die still zuhörenden Mitglieder,
wenn sie der Sache nur einigermaßen folgen können, werden dem leben-
digen Vortrage eines Mitgliedes (es braucht ja kein Vorlesen zu sein)
mehr Anregung für ihre eigenen Arbeiten, mehr Belehrung für die wei-
teren Gebiete der Wissenschaften entnehmen als den schön gedruckten
„Sitzungsberichten" und „Abhandlungen". Nicht bloß für die Uni-
versitäten, sondern auch für die Akademieen erweist sich das Geheimnis
der Viva vox als wirksam.
Unter den ordentlichen, am Orte selbst ansässigen Mitgliedern MitKUcder der
" Ak.iucmiecn,
haben die meisten Akademieen noch eine Anzahl außerordentlicher (aus-
wärtige, korrespondierende und Ehrenmitglieder). Am zahlreichsten ist
die Klasse der Korrespondenten, die ehedem, als ein großer Teil der
wissenschaftlichen Publikation sich brieflich abspielte, sich eifrig be-
teiligten, jetzt dagegen leider nur selten wissenschaftliche Mitteilungen an
ihre Akademieen richten. Es kommt dies daher, daß die Ehre, zum korre-
spondierenden Mitgliede weltberühmter Akademieen erwählt zu werden.
()2A Hekmann DiELS; Die Organisation der Wissenschaft.
wie eine hohe Ordensdekoration an die jedesmal ältesten Vertreter der
verschiedenen Nationen verteilt zu werden pflegt. Dies ist wider den
Sinn der Institution. Denn der Korrespondent sollte fleißig korrespon-
dieren und es sollten Veranstaltungen getroffen werden, auch persönliche
Berührungen der auswärtigen und der einheimischen Mitglieder bei be-
sonderen Gelegenheiten herzustellen, um das gänzlich veraltete und ent-
artete Institut des Korrespondententums neu zu beleben. Niemals kann
Ein Land und Eine Akademie in allen Zweigen der Wissenschaft stets an
der Spitze marschieren. Ja selbst eine vollständige Vertretung aller an
sich zur Totalität der Wissenschaft gehörenden Gebiete ist für ein In-
stitut, und wenn es das größte wäre, unmöglich. Wenn es nun der eigent-
liche Zweck der Akademie ist, die unendlich gespaltenen Teilwissen-
schaften zu einer Universalwissenschaft zusammenzufassen, so läßt sich
dieser Zweck nur dadurch erreichen, daß die lokalen Mitglieder die not-
wendig vorhandenen Lücken durch sorgfältig getroffene Korrespondenten-
wahlen ergänzen. Aber freilich müssen diese nun auch wirklich sich
für die Akademie einsetzen und durch schriftliche und mündliche Mit-
teilungen (der Verkehr wird ja immer leichter) den Kontakt mit ihr auf-
recht erhalten.
Mitarbeiter der GlückHchcrweise fehlt es den Akademieen nicht an anderweitigen
AUdemieen. j^jj^g^^^gj^-gj-j^^ (;^ig^ ohnc ZU wartcn, bis sie die zur Ehre des Korrespon-
dententums nötige Berühmtheit erlangt haben, ihre Mitteilungen und Ent-
decktmgen zur Prüfung einsenden. Diesen jungen Gelehrten ist es Lohn
genug, wenn ihre Arbeiten in den akademischen Schriften neben denen
der Mitglieder abgedruckt werden. Diese jugendfrische Produktion nicht
zur Akademie gehöriger Mitarbeiter ist ein unentbehrliches Gegengewicht
gegen etwaiges Überwiegen seniler Produktion innerhalb einzelner Fächer
der Akademieen. So sind manche der bedeutendsten und folgereichsten
Abhandlungen in den Akademieschriften des vorigen Jahrhunderts aus
den Reihen damals noch unberühmter junger Forscher hervorgegangen.
Dieses Supplement ist an Stelle der im ganzen versagenden Mitwirkung
der Korrespondenten zur Abrundung der wissenschaftlichen Universalität
der Akademieen hochwillkommen und unentbehrlich.
Den Zweck, den die einzelnen Landesakademieen nur teilweise er-
reichen können, eine Integration der so stark verästelten Einzelwissen-
schaften zu einem Universalkorpus darzustellen, kann auch die später zu
besprechende Assoziation der Akademieen nicht völlig verwirkUchen.
Denn ihre Tagungen sind nicht eigentlich zur Mitteilung und Diskussion
wissenschaftlicher Entdeckungen bestimmt,
bachkongresse. Hingegen ist gerade dies den wissenschaftlich differenzierten Fach-
kongressen vorbehalten, die für die rasche Verbreitung neuentdeckter
wissenschaftlicher Tatsachen oder Methoden, namentlich auf dem natur-
wissenschaftlichen Gebiete, sich überall eingebürgert haben. Sie würden
noch segensreicher wirken, wenn die Äußerlichkeiten der damit verbun-
IV. Wissenschaftliche Akadcmieen.
625
denen Repräsentation eingeschränkt und die dadurch angelockten lokalen
Schlachtenbummler ferngehalten würden.
Wie an den Universitäten, so werden auch an den Akademieen zur Prebaufnabcn.
Lösung wissenschaftlicher Arbeiten Preise ausgesetzt. Während jene
Aufgaben stellen, die den Kräften tüchtiger Studenten angepaßt sind,
zielen die akademischen Preise, die auch höher normiert sind, auf um-
fassendere und ernstere Gelehrtenarbeiten. Gegen beide Arten von Preis-
aufgaben zeigt sich in neuerer Zeit eine gewisse Opposition. Man fordert,
daß sich der tüchtige Gelehrte die seiner Individualität und seiner Kraft
entsprechende Aufgabe selbst auswählen solle. Andernfalls werde oft viel
kostbare Zeit und Anstrengung vergebens aufgewandt oder, was noch
schlimmer sei, halb genügende Arbeiten würden aus Gutmütigkeit mit
Preisen und Ehren ausgezeichnet, die das wissenschaftliche Niveau herab-
drückten, die preisverleihende Körperschaft in der allgemeinen Achtung
herabsetzten und schließlich den Preisträger selbst über seine Begabung
täuschten. Trotz dieser nicht ganz unbegründeten Opposition läßt sich nicht
leugnen, daß die Preisverteilung sowohl für Universitäten wie Akademieen
immer noch eine gewisse Bedeutung hat und sich für die Förderung der
Wissenschaft als segensreich erweist. Viele Talente sind auf diese Weise
entdeckt und gefördert worden. Manche Gelehrte sind durch geschickt ge-
stellte Aufgaben erst ihrer eigentlichen Begabung inne und durch die
ehrenvolle Belohnung mit Zuversicht erfüllt worden. Vor allem ist der
Zwang, eine umfassende Aufgabe zu einer bestimmten Zeit fertig stellen
zu müssen, für den Forscher wie für die Wissenschaft gleich heilsam.
Denn wo solcher Zwang nicht besteht, ist der Gelehrte nur allzu geneigt,
den Abschluß seiner Arbeit auf unendliche Zeit zu verschieben, da ihm
nur immer mehr be-^nißt wird, wie jede Aufgabe in das Unendliche führt
Für die Wissenschaft aber bedeutet es oft viel, daß eine bestimmte Auf-
gabe, die wie ein Felsblock den gangbaren Weg versperrt, endlich er-
ledigt werde. Eine glücklich gelöste Preisaufgabe macht die Straße für
eine große Reihe nachfolgender Forscher frei, wie wir es namentlich in
den mathematischen Fächern oft erleben. Wer die Wirkungen dieser
akademischen Preisaufgaben längere Zeit nach der persönlichen wie der
wissenschaftlichen Seite hin verfolgt hat, wird im ganzen ein goinstiges
Urteil über diesen Teil der akademischen Tätigkeit zu fällen geneigt sein.
Doch hat freilich diese ganze Art der Wissenschaftsförderung nicht mehr
die hervorragende Bedeutung wie im 18. Jahrhundert.
In Frankreich und England ist eine Hauptaufgabe der Akademieen untcrstuuung
und gelehrten Gesellschaften, anerkannt gute Bücher oder bedeutende TchcrFo/!"
Entdeckungen auf dem Gebiete der Wissenschaften durch Preise oder "'^'^^"'
Medaillen nachträglich anzuerkennen. Diese Art der Anerkennung fehlt
auch in Deutschland nicht ganz. Allein hier ist die Unterstützung der
noch nicht vollendeten Arbeiten beliebter. Und dies mit Recht.
Wer die X-Strahlen oder den Nordpol entdeckt, bedarf fürder weder der
Dm Kultur der Gegenwart. I. i.
40
52 0 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
Anerkennung noch der Unterstützung der Akademieen, namentlich nach-
dem die „Nobelstiftung" in der Lage ist, wirklich große Entdeckungen
(natürlich nur der Naturwissenschaft) auch entsprechend zu honorieren.
Aber die jungen, unerfahrenen, unbekannten Forscher in ihren entsagungs-
vollen und aufreibenden Arbeiten zu ermutigen, zu unterstützen, zu
leiten, das ist wahrlich eine schöne und dankbare Aufgabe der Aka-
demieen, die auch dann lohnt, wenn sich nicht jedesmal als Endergebnis
der unendlichen Mühsal ein Goldklumpen findet. Es scheint daher wohl-
getan, wenn die deutschen gelehrten Gesellschaften etwa die Hälfte ihrer
Einkünfte auf diese Förderung junger, hoffnungsvoller Talente verwenden.
Folgeunter- Die andere Hälfte pflegen sie (und auch hierdurch unterscheiden sie
nelimuDgen der .
Akademieen. sich vou den auslatidischen Akademieen) eigenen, wissenschaftlichen Ar-
beiten, den sogenannten Folgeunternehmungen zuzuwenden. Solche
Tätigkeit ist bereits in der aristotelischen Organisation der Akademieen
mit großem Erfolge ausgeübt w^orden. Alexandrien ist mit seiner lite-
rarisch-bibliothekarischen Tätigkeit nachgefolgt, und in neuerer Zeit sind
dergleichen Riesenarbeiten namentlich von den Benediktiner- und Jesuiten-
orden in Angriff genommen worden. Die alten Akademieen haben Ähn-
liches auf dem Gebiete der nationalen Wörterbücher unternommen [dclla
Crusca, Academie frangaisc). Die Sammelwerke der Mauriner haben nach
der Revolution die Academie des Inscriptioiis et Beiles Lcftres zu Paris
seit 1816 fortgesetzt.
Um dieselbe Zeit war es, wo das neuerstandene Preußen seine An-
sprüche auf Hegemonie zunächst auf wissenschaftlichem Gebiete zu erweisen
suchte. Die Berliner Akademie der Wissenschaften begann das Corpus
inscriptionum graccarum (Boeckh) und die Aristotelcsausgabe (Schleier-
macher). Sie beteiligte sich auch sofort an dem damals von Stein an-
geregten Plan der Mormmenta Gcrmaniae. Später und weniger energisch
folgten Naturwissenschaft und Mathematik diesem Beispiel (Bessels Stern-
karten 1825 — 1859). Erst gegen Ende des ig. Jahrhunderts sind die Fächer
der Zoologie {„das Tierreich^') und Botanik {„das Pflanzenreich") zu gleich
umfassenden Unternehmungen fortgeschritten. Die Seele dieses „Groß-
betriebes" der Wissenschaften ist in Deutschland vor allem Mommsen
gewesen, der durch sein Corpus inscriptionwn latinarum ein kaum zu über-
bietendes Muster großartiger wissenschaftlicher Organisation geschaffen
hat. Es sei gestattet, seine Worte über den Sinn dieser akademischen
Folgeunternehmungen aus dem Jahre 1882 hierherzusetzen. Er knüpfte
damals an das Aristotelesunternehmen an, das jetzt nach drei Menschen-
altern der Vollendung entgegeng-eht (182 1 bis voraussichtlich 1907): „Viel-
leicht hat die Nützlichkeit der akademischen Kontinuität sich nirgends so
glänzend bewährt wie im Gebiet der Aristotelesarbeiten. Wie das Dichten,
so ist auch das Forschen ein Übermut; und diesem Meister des Wissens
und seiner 2000jährigen Geschichte gegenüber tritt die Unzulänglichkeit
der individuellen Erforschung wohl schärfer hervor als irgendwo sonst.
IV. Wissenschaftliche Akadcmicen,
627
Aber unsere Akademie ist kein Individuum und leistet nach vielen Seiten
hin weniger, aber in gewissen Richtungen auch mehr. Hier trifft das
letztere zu. . . . Auf diesem Gebiete hat in der Tat jede reife Frucht aus
sich eine neue Blüte entwickelt, die dann wieder ihrerseits zur Frucht
geworden ist; und auch die unreife Frucht ist nicht ganz ohne Nutzen ge-
blieben. Was dem Individuum kaum je vergönnt ist, die mangelhafte
Schöpfung durch umfassenden Neubau zu ersetzen, das vermag im Wechsel
der Zeiten und Personen wohl die verständig sich leitende Körperschaft."
In der Tat die reicheren Mittel, die vorsichtigere Grundlegung im Schöße
der Kommissionen, die Kontinuität der Leitung, endlich die sich fort-
erbende und vermehrende Erfahrung der Gesamtkörperschaft, das sind die
Vorteile einer solchen Großunternehmung, die freilich alle nicht hinreichen
zum Erfolge, wenn nicht die starke Energie der leitenden Persönlichkeiten
die nie ausbleibenden inneren und äußeren Hemmungen zu überwinden
weiß.
Denn eine Schattenseite aller akademischen Wirksamkeit darf nicht
verschwiegen werden. Theoretisch betrachtet sollte eine solche Sum-
mierung von geistigen Kräften, wie sie die großen Akademieen darstellen,
eine unermeßliche Energie ergeben. Aber der wirkliche Effekt bleibt
hinter dem errechneten um ein bedeutendes zurück. Das liegt nicht bloß
daran, daß die meisten Mitglieder der Akademieen ihre Kraft nicht un-
geteilt dem Institut zur Verfügung stellen können (denn die Berührung
mit der außerakademischen Praxis trägt auch wiederum viel zur Belebung
des akademischen Lebens bei), es liegt auch nicht daran, daß bisweilen
ein gut Teil Kraft durch innere Kämpfe und Gegensätze verbraucht wird,
wovon die Geschichte der Akademieen manch trauriges Beispiel liefert,
es liegt vor allem daran, daß, wie das Dichten und Bilden, so auch das
Forschen im innersten Wesen individuell sein muß. Es gibt Beispiele,
daß Dicht- und Bildwerke von mehreren Verfassern herrühren, etwa so,
daß der eine die Landschaft malt, der andere die Stafftige zufügte, oder
daß der eine die Fabel des Lustspiels erfindet, der andere den witzigen
Dialog dazu schreibt. Ja, die moderne Welt findet es nicht barbarisch,
wenn Dichter und Komponist eines Liedes oder einer Oper fast regel-
mäßig verschiedene Personen sind. Xur Wagner hat hier wie die Antike
empfunden und lieber mittelmäßige eigene als vollendete fremde Verse in
Musik setzen wollen. So gibt es also heutzutage auf allen Gebieten der
Kunst und Literatur Zwillingswerkc und das vorliegende große Unter-
nehmen setzt wie alle Enzyklopädien hundert Hände in Bewegung. Aber
daß eine ganze Akademie oder auch nur eine ihrer Kommissionen ein
wirklich epochemachendes wissenschaftliches Werk durch gemeinsame
Arbeit zustande gebracht hätte, davon gibt es meines Wissens kein Bei-
spiel. Selbst wo geniale Forscher mit beinah unumschränkter Vollmacht
in den Akademieen schalten und walten durften: ihr Eigenstes und Bestes
haben sie nicht in den Akademieschriften oder gar in den großen Serien-
40»
A,« Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
folianten niedergelegt. Das geniale Werk liebt die Einsamkeit. Das Genie,
das ein solches Geisteskind unter dem Herzen trägt, hegt eine instinktive
Scheu davor, davon im größeren Kreise zu reden oder die hochehrbaren
Kollegen als Taufpaten dazu zu bitten. Denn das bedeutende Buch muß
revolutionär sein. Es wird fast stets verwirrend und verblüffend wirken
und ist daher nicht geeignet, wie eine Bombe in die Mitte eines fried-
lichen Kollegiums geschleudert zu werden.
Daher bleibt der Großbetrieb der Akademieen selbstverständlich auf
Unternehmungen gerichtet, deren Methode und Ziel feststeht, die aber
Ausdauer, Kenntnis und vor allem reiche materielle Mittel zur Ausführung
verlangen. Was auf diese Weise zustande kommt, ist in der Regel nicht
selbst Wissenschaft der höchsten Potenz, sondern vor allem Mittel zum
Zweck, Erleichterung und Sicherung der von hier aus weiter Strebenden,
Logarithmentafeln für die höhere Wissenschaft.
Wissenschaft- Weil dicsc Art akademischer Tätigkeit vor allem ständige, gut ein-
'■ Ak^dcmf/en^gearbeitete Mitarbeiter verlangt und bei stets wechselnden Arbeitsgenossen
viel Zeit und Kraft durch die erneute Einschulung vergeudet wird, ist
es warm zu begrüßen, daß die Berliner Akademie (in Anknüpfung an ein
früher bei der französischen Akademie und jetzt noch bei der Petersburger
bestehendes Institut der „Adjunkten") seit Anfang dieses Jahrhunderts in
den Stand gesetzt worden ist, ständige „wissenschaftliche Beamte"
für die wichtigsten Folgeuntemehmungen anzustellen. Diese Laufbahn
bietet zugleich eine geeignete Position für manche Gelehrte, deren spezielles
Fach oder individuelle Neigung von der Universitätspraxis allzuweit ab-
liegt. Man darf hoffen, daß sich allmählich das neue Institut auch nach
dieser Seite hin bewähren werde. Denn manche gxößere Universitäten
sind jetzt mit Spezialisten so überladen, daß ihre universelle Organisation
dadurch beeinträchtigt und ihr eigentlicher Lehrzweck für die Studieren-
den verdunkelt wird.
Kartell und Seit Anfang des Jahrhunderts ist auch noch eine andere wichtige
^M^iiemLi" Änderung im Betrieb unserer Akademieen eingetreten. Während der sich
lang hinziehenden Vorverhandlungen zur Begründung des Thesaurus lati-
iins tauchte der Gedanke auf, die europäischen oder wenigstens die deut-
schen Akademieen zur Ausführung dieser Riesenunternehmung zu ver-
einigen. Bei dieser Gelegenheit schlössen zunächst 1893 die Akademieen
von Göttingen, Leipzig, München und Wien einen engeren Bund, dem 1906
auch die Berliner Akademie beitrat {Kartell), und auf Anregung der Lon-
doner Royal Society, die einen großen Katalog der aktuellen, naturwissen-
schaftlichen Literatur geplant hatte, traten auf die von der Berliner Aka-
demie 1899 nach Wiesbaden ergangene Aufforderung im folgenden Jahre
igoo die wichtigsten Akademieen Europas und die National Academy 0/
Science in Washington (im ganzen 20) zu einer internationalen Asso-
ziation zusammen. Diese hat sich einen ständigen Ausschuß gegeben,
der die Geschäfte führt und die alle drei Jahre stattfindenden General-
IV. AVissenschaftliche Akademiecn. 629
Versammlungen vorbereitet. Der Vorort des Ausschusses wechselt von
Periode zu Periode zwischen den Akademieen (iqoo — 1902 Paris, 1903 bis
1905 London, 1906 — 1908 Wien). Die Assoziation hat den Zweck, um-
fassende wissenschaftliche Unternehmungen, welche die Kräfte der einzelnen
Akademieen übersteigen würden oder die zu ihrer Durchführung auf
internationale Basis gestellt werden müssen, in die Hand zu nehmen.
Welchen Nutzen diese die zivilisierte Welt umspannende Organisation
der Wissenschaft bringen wird, ist nach den wenigen Jahren des Bestehens
noch nicht mit Sicherheit abzumessen. Denn solange die Assoziation noch
nicht über ein eigenes, ihr gestiftetes Vermögen verfügt (was auch juristische
Schwierigkeiten haben würde), und solange den meisten Akademieen in
ihrer finanziellen Bewegung enge Grenzen gezogen sind, ist selbst beim
besten Willen direkt nichts Bedeutendes auszuführen. Nur dadurch, daß
es der Autorität der assoziierten Akademieen gelänge, für durchschlagende
gemeinnützige Zwecke die Unterstützungen ihrer Regierungen zu gewinnen,
könnte etwas Großes auf diesem Wege erreicht werden. Leider spielt
aber bei diesem Umweg durch die Regierungen die Politik mit hinein
und stellt sich gewiß oft dem besten Willen der verbündeten Korporationen
offen oder versteckt entgegen.
Daher ist vorläufig der indirekte Nutzen offensichtlicher, der durch
persönliche Berührung der leitenden Persönlichkeiten die Akademieen
selbst in nähere Beziehungen bringt, die fremden Einrichtungen und den
bald hier, bald dort weiter entwickelten Wissenschaftsbetrieb genauer
kennen lehrt und dadurch eine lebendige Wechselwirkung zwischen den
Kulturvölkern gerade auf dem Gebiete hervorruft, wo sich die Kultur auf
ihrer höchsten Entvvicklungsstufe zeigt. So kann es nicht ausbleiben, daß
auch hier zwischen den verschiedenen Systemen von Akademieen eine fi"ucht-
bare Endosmose und Exosmose stattfindet, und daß die besten irgendwo
erprobten Arbeitsmethoden und Einrichtungen sich rasch nach allen Seiten
hin verbreiten. Das wird voraussichtlich der nächste sichtbare Erfolg
dieses großen, wissenschaftlichen Trustes sein.
Da in der Assoziation aus Amerika nur eine, die Washingtoner. Aka- wissenschaft-
liche Institute
demie vertreten ist, die nur die Science im engeren Sinne, d. h. die Natur- Amerikas.
Wissenschaft und Mathematik vertritt, und weniger als die europäischen
durch größere Unternehmungen sich bekannt gemacht hatte, so mag es
erlaubt sein, um kein falsches Bild des amerikanischen Wissenschafts-
betriebes zu zeichnen, noch auf zwei großartige Institute hinzuweisen, die,
privater Initiative entsprungen, trotzdem eine so bedeutende Tätigkeit
entwickeln, daß sie die der meisten europäischen Akademieen in Schatten
stellen. Der Engländer James Smithson hinterließ bei seinem Tode (1829)
sein über zwei Millionen Mark betragendes Vermögen den Vereinigten
Staaten zur Gründung eines wissenschaftlichen Institutes. Dies trat 1846
in Washington als Smithsoniati Institution for the incrcase and diffu-
sion 0/ Knoxvlcdge ins Leben. Seine Tätigkeit erstreckt sich besonders
(^-.Q Hermann Diels: Die Oiganisalion der Wissenschaft.
auf Astronomie, l^rdmagnetismus und Ethnologie. 500 magnetische Sta-
tionen hat es über ganz Nordamerika verbreitet und es unterhält einen
lebhaften wissenschaftlichen Verkehr und Austausch der Publikationen mit
gelehrten Instituten und Privatleuten. Auch eine Reihe von wichtigen
ethnographischen und archäologischen Museen (Nordamerika betreffend)
sind durch dieses Institut ins Leben gerufen worden.
Noch großartiger entwickelt sich die am 28. Januar 1902 in Wa-
shington begründete „Cariiegie Institution". Der in Neuyork lebende
Schotte Andreas Carnegie hat 42 Millionen Mark hergegeben, um damit
Originaluntersuchungen auf wissenschaftlichem Gebiete (worunter natürlich
vorzugsweise Science verstanden wird) anzuregen, ungewöhnliche Forscher-
talente (exceptional men in e-very dcparfment of study) zu entdecken und
sie zur vollen Ausführung ihrer Lebensaufgabe zu befähigen, Stipendien
zur wissenschaftlichen Weiterbildung zu geben, endlich Universitäten und
anderen gelehrten Instituten zur reicheren Entfaltung wissenschaftlicher
Tätigkeit Zuschüsse zu geben, endlich schleunigste und vollendetste Ver-
öffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse zu ermöglichen.
An der Spitze der großartigen Stiftung, die jährlich über zwei Millionen
Mark zu vergeben hat (natürlich an Amerikaner) und bereits eine be-
merkenswerte Rührigkeit auf den meisten Gebieten der Sciences entfaltet
hat, stehen die jedesmaligen Spitzen der Regierung und gelehrten Insti-
tute der Union und 21 besonders ernannte Vertrauensmänner. Von dem
Yearbook der Stiftung sind bereits mehrere Jahrgänge erschienen.
Interrationale V. Internationale wissenschaftliche Institutionen. Wenn
ikhT?nsti'?ut'e. die Assoziation der Akademieen auch die bedeutendste Zusammenfassung
internationaler, wissenschaftlicher Arbeit bedeutet, so ist sie doch keines-
wegs die älteste derartige Institution. Namentlich wo die Wissenschaft
eng mit der Praxis verbunden ist, hat sich das Bedürfnis nach inter-
nationaler Regelung schon früh gezeigt. Im Jahre 1864 gelang es
dem preußischen Generalleutnant Baeyer, die leitenden Autoritäten der
Landesvermessung in den mitteleuropäischen Staaten sowie in Italien,
den skandinavischen Ländern und Rußland zur Gründung ehier perma-
nenten Kommission für „mitteleuropäische Gradmessung" zu ver-
einigen. Später traten, als der wohltätige Einfluß dieser Organisation
sich zeigte, noch Frankreich, Spanien und Portugal dem Bunde bei, so daß
nunmehr eine „Europäische Gradmessung" entstand, die sich im Jahre
1886 zur „Internationalen Erdmessung" erweiterte.
Durch den Pariser „Metervertrag" vom 20. Mai 1875 ist das „inter-
nationale Maß- und Gewichtsbureau" im Pavillon de Breteuil zu
Sevres bei Paris eingerichtet worden. Hier ist feinste wissenschaftliche
Arbeit auf internationaler Grundlage tätig, um die Konstanz des Meter-
maßes zu sichern, das, in den Stürmen der französischen Revolution geboren,
seitdem einen großen Teil der Welt erobert hat und im BegTiff steht.
V. Internationale wissenschaftliche Institutionen. 63 I
auch die noch widerstrebenden angelsächsischen Kulturländer diesseits
und jenseits des Ozeans samt ihren weltumfassenden Kolonieen zu ge-
winnen.
Eine die Erde umfassende Organisation erdmagnetischer Beobachtungen
eröffnete am Schlüsse des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts das plan-
vollere Zusammenwirken der naturwissenschaftlichen Beobachtungsinstitu-
tionen. Es waren Gauß und Alexander von Humboldt, welche, in Ver-
bindung mit den englischen Fachmännern, zunächst die sogenannten mag-
netischen Termine, nämlich völlig gleichzeitige und gleichartige erdmagne-
tische Beobachtungen, an bestimmten, gemeinsam festzusetzenden Tagen
organisierten.
Es folgte sodann auf astronomischem Gebiete das umfassend organi-
sierte Zonen-Beobachtungs-Untemehmen der im Jahre 1863 zu Heidelberg
begründeten Internationalen Astronomischen Gesellschaft, nämlich
die Verteilung der genaueren Ortsbestimmung der Fixsterne (bis zur
neunten Größenklasse inkl.) unter eine größere Anzahl von Sternwarten
der verschiedenen Länder, und zwar nach übereinstimmendem Verftihren
auf gleichartigen Grundlagen. Die Himmelsfläche wurde in Parallel-
kreiszonen von 5 oder 10 Grad Breite eingeteilt, und die einzelnen zu-
sammenwirkenden Sternwarten übernahmen es, in einer Reihe von Jahren
die Örter der sämtlichen betreffenden Sterne einer ihnen zugeteilten Zone
des Himmels zu bestimmen.
Das Unternehmen, welches zunächst nur die nördliche Himmelshalb-
kugel umfaßte, wurde allmählich und sodann immer vollständig (besonders
durch die überaus eifrige Beobachtungstätigkeit der von dem nordamerika-
nischen Astronomen Gould geleiteten Sternwarte zu Cordoba in Argentinien)
auf die südliche Himmelshalbkugel ausgedehnt.
Die definitive Berechnung und Bearbeitung der von den anderen ver-
einigten Sternwarten gelieferten Ortsbestimmungen der Fixsterne bis zur
neunten Größenklasse und noch etwas darüber hinaus wurde unter Leitung
von Professor Auwers in Berlin, im Auftrage der Astronomischen Gesell-
schaft ausgeführt.
Auf der Grundlage dieser organisierten Ortsbestimmungen fußend
wurde dann, von der Pariser Sternwarte ausgehend, ein ähnliches inter-
nationales Zusammenwirken der Sternwarten der verschiedenen Länder
zum Zwecke der Himmelsphotographie, d. h. der photographischen
Aufnahme des Fixstemhimmels zustande gebracht.
Es war mit Hilfe der Dauerphotographie gelungen, immer licht-
schwächere Sterne auf den photographischen Platten zu fixieren, und durch
den mikrometrischen Anschluß der Bilder dieser viel zahlreicheren licht-
schwächeren Sterne an die Bilder der helleren Sterne, deren Örter am
Himmel von dem erwähnten Zonenunternehmen der Astronomischen Ge-
sellschaft festgelegt waren, gelang es nun, immer vollständigere Orts-
bestimmungen auch von immer zahlreicheren lichtschwächeren Sternen zu
^32 Hermann Diels: Die ürganisaUon der Wissenschaft.
erlangen. Die photographischen Aufnahmen der Himmelsflächen waren
wieder zonenweise unter Sternwarten der verschiedenen Erdregionen ver-
teilt worden, und die Ausmessung der Lage, sowie die Helligkeitsbestim-
mung der zahllosen Sterne auf den Platten geschieht nun an gewissen
Zentralstellen, z. B. auf der Pariser, der Potsdamer, der Greenwicher
Sternwarte.
Auslands- EudUch ist im Punkte des org'anisierten Zusammenwirkens auf dem
Gebiete astronomischer Beobachtung noch zu erwähnen die seit nahe fünf
Jahren im Gange befindliche, von der Internationalen Erdmessung
an sechs Stellen eines und desselben Parallelkreises eingerichtete, unab-
lässige Bestimmung der Änderungen der Lage des Drehungspoles am
Sternhimmel gegen die Lage des Scheitelpunktes des Beobachtungsortes
und der entsprechenden Lagenänderung-en der Drehungsachse im Erd-
körper selber. Zu diesen sechs Beobachtungsstationen (Lisel Sardinien,
Taschkent, Japan, Kalifornien, Ohio, Pennsylvanien) sind neuerdings eine
Station in Australien und eine in Arg'entinien noch hinzugekommen.
Weitere Vervollständigungen werden voraussichtlich, im Interesse der Unter-
suchungen über die Bewegung des Schwerpunktes unseres Planetensystems
im Welträume, in der nächsten Zukunft noch in Wirksamkeit treten.
Eine andere Art internationaler Org-anisation sind die Auslands-
institute, die behufs Erforschung der Sprachen, Sitten, Altertümer, Gegen-
den, Faunen und Floren fremder Länder von fast allen Kultumationen
im Auslande unterhalten werden. Auch hier ist Deutschland meist voran-
gegangen. Das Archäologische Institut in Rom, das 1829 unter dem
Protektorat des Kronprinzen, späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. von
Preußen zuerst international gegründet wurde, hat eine ganze Reihe ähn-
licher nationaler Gründungen von deutscher und fremder Seite an allen
geeigneten Punkten der Erde zur Folg'e gehabt. Ebenso ist die Zoolo-
gische Station A. Dohrns in Neapel (1870 gegründet) für Deutschland
und viele andere Staaten vorbildlich geworden. Die meisten dieser Insti-
tute und Stationen werden im internationalen Sinne der Forschung jüngerer
und älterer Gelehrter aller Nationen zur Verfügung gestellt Das groß-
artigste und berühmteste Arbeitsinstitut ist der von der holländischen Re-
gierung auf Java eingerichtete Botanische Garten i^s Lands Plaiitcutnin
in Buitenzorg), wo die unerhörte Schöpferkraft der Tropennatur die Botaniker
aller Nationen zu besonderen wissenschaftlichen Arbeiten instand setzt.
Wissenschaft- VI. Wiss BUS chaf tli ch c Vereine und Kongresse. Neben den
ereme. g^^ßgj^ Staatlich Subventionierten oder wenigstens privilegierten Korpora-
tionen gibt es in allen Kulturländern eine fast unübersehbare, unendlich
verzweigte und unendlich abgestufte Reihe von wissenschaftlichen Ver-
einen, Sozietäten, Gesellschaften und wie sie sich alle benennen, die teils
mit privaten, teils mit kommunalen und provinzialen, teilweise auch mit
Staatsmitteln arbeiten. In Deutschland zählte man bereits im Jahre 1887
VI. Wissenschafüichc Vereine und Kongresse. 633
8g2 solcher Vereine und die Zahl der von ihnen herausgegebenen Schriften
und Zeitschriften ist noch größer. Es befinden sich unter diesen Vereinen
solche mit bedeutenden Geldmitteln und bedeutenden wissenschaftlichen
Leistungen sowohl in Deutschland und Frankreich, wie namentlich in
England und Amerika, wo ja auch die staatlich anerkannten Akademieen,
im Gegensatz zum Kontinent, eigentlich auf der Basis des freien Vereins-
lebens organisiert sind. Die Einkünfte einiger solcher Privatvereine,
die der Wissenschaft rein zugoite kommen, überschreiten häufig den Etat
der privilegierten Akademieen, ihre Paläste sind oft großartiger und um-
fangreicher eingerichtet als die bescheidenen Räume, in denen manche
jener ehrwürdigen Korporationen schlecht und recht untergebracht sind.
Aber es fehlt jenen Instituten meist der gelehrte Anstrich (die Mitglieder
sind in der Regel Dilettanten) und vor allem die universelle Zusammen-
fassung der eigentlichen Akademieen, die immer mehr die Tendenz zeigen,
sich zu allumfassenden Organisationen auszuwachsen.
Trotzdem ist auch diese, oft dilettantische Mitarbeit der Vereine
wichtig, ja ganz unentbehrlich für die gesunde Tätigkeit des wissenschaft-
lichen Gesamtorganismus. Wenn das leidlich gebildete Volk der unter-
sten Stände die breite, massige Grundfläche, die Universitäten dagegen
und Akademieen die schmale Spitze der Pyramide der Wissenschaft dar-
stellen, so ist die Vereinstätigkeit des wissenschaftlich angeregten Bürger-
standes das unentbehrliche Mittelstück. Rührend ist die Andacht, be-
wundernswert die Ausdauer, mit der z. B. an kleinen Orten Landschul-
lehrer oder Gärtner botanische Vereine leiten oder historisch gerichtete
Gesellschaften die Altertümer und Urkunden der Vorzeit sammeln, konser-
vieren und publizieren. Diejenigen, die oben auf der Pyramide stehen,
sehen bisweilen mit Geringschätzung auf ihre treufleißige Sammelarbeit
herab. Allein wenn auch diese Arbeit die Wissenschaft selbst nicht sehr
erheblich fördert, so fordert sie doch das Interesse für sie in dem Kreise
der Bildung, der den Nährboden für die höhere wissenschaftliche Kultur
abgfibt. Übrigens gibt es eine große Anzahl von Vereinen, in denen der
Dilettantismus längst völlig überwunden ist und allerernsteste und förder-
lichste wissenschaftliche Arbeit gedeiht. So ist die „Deutsche chemische
Gesellschaft" mit ihren immer umfangreicher werdenden ,3erichten" der
anerkannte Mittelpunkt des Faches für Deutschland.
Wie diese Vereine in der nützlichsten Weise die Kraft der Nation Nationale
wisscaschaftlicbc
in allen Stufen zusammenfassen und dadurch erst die Wissenschaft wirk- Kongresse.
lieh populär machen, so dienen sie auch wieder in ihrer periodischen
Vereinigung zu Gau-, Provinz- und Landesversammlungen der Zusammen-
fassung der einzelnen lokalen Regimenter zu einem großen Heere. Dazu
kommen noch die ohne den Hintergrund besonderer Vereine tagenden
Fach- und Berufsversammlungen. Alle diese Tagungen sind wissen-
schaftlich meist nicht so ergiebig, als es nach der Menge und Qualität
der Teilnehmer zu erwarten wäre. Gar oft bewahrheitet sich das Epi-
A,, Hermann Diels: Die Organisation dei- Wissenschaft.
gramm des Dichters, daß jeder Einzelne zwar klug und verständig sei,
aber . . . Trotzdem geben auch diese Wander-Versammlungen per-
sönliche Berührungen, vielfache Anregung, Massenbewußtsein, das den
Einzelnen im Kampf ums Dasein stärkt, und vor allem tragen diese in
den verschiedensten Gegenden abgehaltenen Versammlungen durch ihr
bloßes Dasein fruchtbare Keime höherer Anschauung und Respekt vor
den Aufgaben und Zielen der Wissenschaft in gewisse Kreise der un-
gebildeten und halbgebildeten Bevölkerung, die ihr sonst kalt und feind-
Uch gegenüber zu stehen pflegen. Das soziale Element ist auch hier nicht
zu unterschätzen,
intcmatioraic Viel wichtigcr als die lokalen und nationalen Vereinigungen der
Kongresse, -^igggjjgf^ijaften siud die internationalen Kongresse, aber auch viel
gefährlicher. Die Wissenschaft hat kein Vaterland, sagt man. Das ist
ebenso richtig wie falsch. Der pythagoreische Lehrsatz und die Kepler-
schen Gesetze sind für alle Nationen gleich wichtig und gleich verbind-
lich, also international gültig. Allein es ist doch nicht zufällig, daß
Pythagoras, der Hellene, und Kepler, der Deutsche, beide Mystiker und
Propheten, aus der Tiefe ihres nationalen Gemüts heraus diese Gesetze
gefunden haben. Die Wissenschaft hängt gerade in ihren höchsten Höhen
mit dem verborgensten Triebleben der menschlichen Seele zusammen,
und in diesem Instinktleben unterscheiden sich gerade die Nationalitäten
am schärfsten.
Es ist daher durchaus nicht schädlich für die Vertiefung der Wissen-
schaften, wenn sie sich eine Zeitlang national differenzieren, um sich
gleichsam ganz mit den unbewußten Kräften der Volksseele zu tränken.
Man denke an die Art, wie die Brüder Grimm aus unserem deutschen
Mutterboden eine neue Wissenschaft geboren haben! Andererseits aber
muß diese Sonderbildung auch wieder der allgemeinen Gelehrtenrepublik
zugute kommen und durch die Vereinigung der einzelnen nationalen
Schulen und Richtungen eine höhere Weiterbildung erstrebt werden. So
hat die Anregung der Brüder Grimm zunächst sehr stark auf England
gewirkt, und von dort aus hat die „Volkskunde", als folklore gleichsam
wie eine englische Entdeckung sich gebärdend, die ganze wissenschaft-
liche Welt erobert.
Am wichtigsten ist für die Ausbildung der Einzelwissenschaften die
philosophische Gesamtauffassung, was man heutzutage „Weltanschauung"
nennt. Diese wird stets national bestimmt sein. Im vorigen Jahrhundert
z. B. ist die Wissenschaft in Frankreich deutUch Comteisch, in England
Miliisch und in Deutschland Hegelisch gefärbt gewesen. Die Berührung
der verschiedenen Nationen auf internationalen Kongressen bringt diese
aus der Grundanschauung resonierenden Differenztöne oft in sehr deut-
licher Weise zum Erklingen. Denn da es nützlich und üblich ist, bei
solchen Gelegenheiten den Blick auf das Höhere und Allgemeinere zu
richten, so müssen diese Eigentöne der nationalen Wissenschaften stärker
VII. Wissenschaftliche Sammlungen (Gärten, Museen). 635
mitklini^en als bei Einzelfragen und konkreten Tatsächlichkeiten. Insofern
können gut vorbereitete und geleitete Kongresse zum Ausgleich und zur
Harmonisierung nationaler Gegensätze in der Wissenschaft viel beitragen.
Aber wenn solche Versammlungen zur äußeren vSchaustcIlung persönlicher
Eitelkeit oder zu politischen Demonstrationen mißbraucht, durch künst-
liche Anlockungen eines vergnügTangssüchtigen Allerweltpublikums ver-
pöbelt werden, und wenn sich dann derartige durchaus inkompetente Riesen-
versammlungen zum internationalen Areopag aufwerfen, so kann ein
solches Treiben der Würde und der Förderung der Wissenschaften nur
Abbruch tun.
\'l[. Wissenschaftliche Sammlungen (Gärten, Museen). wisscnscUaft-
1 £l1* i_ liehe Saram-
Schon früh hat sich mit den ersten Kegoingen w'issenschattlichen lungeo.
Sinnes der Trieb gezeigt, die natürlichen und künstlichen Erzeugnisse
fremder Länder zusammen mit den einheimischen zur vergleichenden
Schau in zoologischen Gärten auszustellen. Bei dem uralten Kultur-
volke der Chinesen hören wir, daß der Ahnherr der Tschen-Dynastie,
Wu-Wang (um 1150 v.Chr.) einen „Park der Intelligenz" anlegen ließ, der
noch im 4. Jahrhundert v. Chr. bestand und allerlei Säugetiere, Vögel,
Schildkröten und Fische beherbergte. Auf der assyrischen „Jagdinschrift",
die Asur-näsir-abal (884 — 860 v. Chr.) zu betreffen scheint, werden zahl-
reiche wilde Tiere erwähnt, die der König nach seiner Stadt Asur brachte.
Unter anderem heißt es da (Schrader KeiUnschr. Bibl. I 125): „Kamele
sammelte er, ließ sie gebären. Ihre Herden zeigte er den Leuten seines
Landes. Einen großen Pagutu . . . hatte der König aus Ägy^pten dahin
gesandt. Er zeigte sie den Leuten seines Landes. Von den übrigen vielen
Tieren und den geflügelten Vögeln des Himmels, der Jagd des Feldes,
den Werken seiner Hand, ließ er den Namen sowie alle übrigen zur Zeit
seiner Väter noch nicht aufgeschriebenen Tiernamen aufschreiben, ebenso
ihre Zahl."
Diesem Vorbild folgten dann die Perserkönige, deren „Paradiese" die
Grriechen mit Erstaunen sahen und später nachahmten. In Alexandrien
nahm diese orientalische Liebhaberei systematische Form an, nachdem
Aristoteles und Theophrastos die Anlage derartiger Sammlungen aus
• wissenschaftlichem Interesse begonnen hatten. Ptolemaios Philadelphos,
der eigentliche Begründer der alexandrinischen Wissenschaft, hatte einen
zoologischen Garten einrichten lassen und verschwendete Un.summen zur
Herbeischaffiing seltener Tiere und zur Akklimatisation fremder Pflanzen.
In Rom sah man wilde Tiere nur im Zirkus. Doch ist die Sitte, „Zwinger"
mit fremden Tieren zu halten, im Mittelalter über die Alpen (St. Gallen)
auch nach Deutschland vorgedrungen, wie auch der Brauch, allerlei fremde
Wurzeln, Blumen und Bäume im Klostergärtlein anzupflanzen, von dort
nordwärts sich verbreitete.
Die botanischen Gärten dienen heutzutage in erster Linie der all- Gärten."
6.S6
Hf.rmann DlF.LS: Die Organisation der Wissenschaft.
Botanische
Museen.
Zoologische
Gärten.
gemeinen Belehrung-. Es soll dem Publikum ein Überblick gegeben werden
über die gesamte lebende Pflanzenwelt und über die Erscheinungen des
Pflanzenlebens. Bei der Anordnung kann man ästhetische Gesichtspunkte
in den VordergTund stellen. Dafür hat man sich z. B. meistens in Eng-
land entschieden: der Garten von Kew bei London, der größte der Erde,
will dem Beschauer nicht nur die natürliche Vegetation zeigen, sondern
ihm auch die Errungenschaften des Gartenbaues und der Gartenkunst
vorführen. In anderen Gärten überwiegen wissenschaftliche Grundsätze
der Anordnung. Der neue botanische Garten Steglitz bei Berlin hat
diesen Modus am weitesten ausgebildet: neben der systematischen Ab-
teilung-, wo in üblicher Weise die natürliche Verwandtschaft die Grup-
pierung bestimmt, ist die geographische Anordnung der Pflanzen in um-
fangreichen Nachbildungen dargestellt worden. Hier wie dort dienen die
Gärten seit alters auch unmittelbar dem höheren Unterricht, teils für die
Gärtner, teils für die Studierenden der Naturwissenschaften. Streng wissen-
schaftlichen Aufgaben dagegen hat man sie erst neuerdings dienstbar gemacht.
Monographische Studien verlangten zuerst Hilfe von ihnen; ein berühmtes
Beispiel ist die Bearbeitung der eminent schwierigen Gattung Hicracium
durch C. v. Nägeli, für die er im Münchener Garten eine umfangreiche
Sammlung- anlegte. Gegenwärtig führt man ausgedehnte experimentelle
Untersuchungen in Gärten aus: Arbeiten über Formbildung, Hybridisation,
Vererbung und ähnliche Probleme, welche die Verwendung umfangreicher
Pflanzenbestände erfordern.
Mit den größeren botanischen Gärten ist häufig ein botanisches
Museum verbunden; es ergänzt die Zwecke des Gartens durch dauernde
Aufbewahrung pflanzlicher Objekte. Gewöhnlich wird dort auch ein Her-
barium geführt. Je reicher dies Herbarium, um so mehr steigt sein Wert
für die wissenschaftliche Arbeit. Die größten Sammlungen, wie die von
Kew, Berlin, Wien, Petersburg und Newyork, bilden geradezu die Grund-
lage für die spezielle Darstellung des Pflanzenreiches und seiner Gruppen.
Auch für gewisse allgemeine Fragen der Formbildung, Anpassung, Ver-
breitung usw. ist unschätzbar wertvolles Material in ihnen enthalten.
Schon in der Renaissance gehörten Menagerieen und „Tiergärten"
zur stehenden Einrichtung der Residenzen. Doch erst die französische
Revolution veranlaßte 1794, die in Versailles gehaltenen Tiere in den
Jardin des plan/es überzuführen und sie damit der eigentlichen wissen-
schaftlichen Forschung zugänglich zu machen. Im ig. Jahrhundert folgten
alle größeren Städte mit Einrichtung von zoologischen Gärten und
Aquarien nach, die in der Regel sich selbst erhalten und daher leider
weniger für die Wissenschaft, als für die Unterhaltung des Publikums
sorgen müssen. Die früher beliebten Menagerieen sind auf die Dörfer
gezogen, wo die Neugierde, die Mutter der Wißbegierde, in den länd-
lichen Gemütern erregt wird. In den Großstädten sorgen indes die
modernen ludi Circcnses für sensationelle Tiervorstellungen.
VIT. Wissenschaftliche Sammlungen (Gärten, Museen). 637
Neben den zoologischen Gärten, die da.s Leben der Tiere in seiner Zoologische
^ Museen.
Mannigfaltigkeit darzustellen suchen, kommen für die pädagogische wie
für die wissenschaftliche Seite vor allen Dingen die zoologischen Museen
in Betracht Früher nur als Raritätenkammern und Mirabiliensammlungen
geschätzt, sind diese Institute allmählich mit einem Stab von Fach-
gelehrten ausgestattet und zu wissenschaftlichen Zentralinstituten ge-
worden. An größeren Orten hat der Doppelzweck dieser Institute, der
wissenschaftliche und der pädagogische, zur Abtrennung besonders aus-
gewählter und aufgestellter „Schausammlungen" geführt. In diesem
Sinne wird die Zukunft noch sehr viel weiter gehen müssen, damit die
Selbstbelehrung wie die mit so großem Erfolge begonnenen „Museums-
führungen", die das Publikum in seinen verschiedenen .Schichten zur
systematischen Betrachtung der Naturobjekte anleiten wollen, ihren Zweck
um so besser erreichen. Nach ähnlichen Grundsätzen sind die Museen
der übrigen beschreibenden Naturwissenschaften angelegt, auf die hier nicht
näher eingegangen werden kann.
Auch die Kunstmuseen, die sich ähnlich wie die naturhistorischen Kunstmuseen,
erst im letzten Jahrhundert selbständig entwickelt haben, verfolgen einen
doppelten Zweck. Einmal wollen sie Archive sein aller in natura vor-
handenen Kunstobjekte, sei es des eigenen, sei es fremder Länder, sei es
der Gegenwart oder der Vergangenheit. Andererseits dienen sie dem
pädagogischen Zwecke, die Studierenden und im weiteren Sinne das ganze
Publikum mit der künstlerischen Produktion des eigenen und der fremden
Länder, der eigenen und der vergangenen Zeit vertraut zu machen. Dabei
läuft nun noch ein praktischer Zweck nebenher, der bei den naturhisto-
rischen Museen zurücktritt, den Geschmack des Publikums zu bilden und
den Künstlern Anregung und Vorbild zu geben. Diese schwierigen Fragen
der Museumspädagogik dürfen hier unerörtert bleiben.
Für die Wissenschaft, die sich der Kunst und der Kultur vergangener
Zeiten zuwendet, sind jedenfalls Sammlungen sowohl von Originalen wie
von Nachbildungen eine unbedingte Notwendigkeit. Man braucht sich
nur in die Jugend Winckelmanns zu versetzen, um den .Segen unserer
Kunstmuseen für die wissenschaftliche Ausbildung aller derer zu begreifen,
die sich mit dem Studium der vergangenen Kulturen beschäftigen. Die
Archäologie und Kunstgeschichte hat in den Museen ihren eigentlichen
Rückhalt, und von diesen Instituten, ihrer systematischen Sammelarbeit
und ihrer zu Ausgrabungen fortschreitenden Erwerbungspraxis geht seit
etwa 50 Jahren der Hauptfortschritt dieser Wissenschaften aus. Die Er-
werbung von Kunstobjekten, die noch bis zu den Zeiten Lord Elgins das
Vorrecht vornehmen Sammelsportes war, ist jetzt überall hauptsächlich in
die Hände geschulter Museumsleitungen übergegangen und damit der
Wissenschaft sicher gerettet worden.
5^8 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
Welt- Vlll. Wissenschaftliche Ausstellungen. Im Vorübergehen muß
neben den oft mit Kongressen verbundenen und oft sehr lehrreichen wissen-
schaftlichen Fachausstellungen auch der Weltausstellungen gedacht
werden, die nicht nur wegen der allmählich üblich gewordenen „retrospektiven"
Abteilungen die Beachtung der Wissenschaft verdienen. Denn die sich
in rascher Folge ablösenden Weltausstellungen haben sich einerseits zur
Anlockung des großen Publikums mit sehr zweifelhaften Reizen ausge-
schmückt, andererseits aber haben sie versucht, immer systematischer und
wissenschaftlicher sich zu exhibieren. So hat nicht nur die der Technik
zugewandte Seite der Wissenschaft großen Nutzen aus der Betrachtung
der im Wettkampf der Kulturnationen zusammengebrachten Objekte und
Veranschaulichungen der verschiedenen Disziplinen gezogen, sondern auch
anderweitige von Behörden eingesandte Sammlungen (z. B. die von dem
preußischen Kultusministerium in Chicago und St. Louis ausg-estellten
Unterrichts- und Universitätsausstellungen) haben einen bedeutenden wissen-
schaftlichen Wert und sind als solche anerkannt worden. Ferner g^eben
auch die aus den Kolonieen herbeiströmenden Proben „wilder" Bevölkerung,
primitiver Technik, ausländischer Produkte für naturwissenschaftliche, geo-
graphische, ethnographische, kulturhistorische Belehrung eine unglaubliche
Fülle von Anregung. Vorzüglich gearbeitete Kataloge halten das Bild
dieser vorüberg-ehenden Schaustellungen fest, und viele besonders be-
lehrende Sammlungen bleiben als „Museen" für die Folgezeit bestehen.
Außerdem wird der Zusammenstrom der gebildeten Menschheit aller Länder
gern auch zu internationalen Kongressen benutzt, die im Anblick eines
so ungeheuren Beobachtungsmateriales gewiß manche Anregung mit nach
Hause nehmen, wenn auch der Jahrmarktstrubel im allgemeinen der wissen-
schaftlichen Vertiefung nicht besonders zuträglich sich erweisen dürfte.
Bibliotheken. IX. Bibliotheken und Kataloge. Was man heutzutage
Museen nennt, bedeutet im Altertum soviel wie Schullokal und
deckt sich zuweilen mit dem, was wir mit dem ebenfalls bereits
im griechischen Altertum üblichen Ausdruck Bibliothek bezeichnen,
da diese seit alexandrinischer Zeit mit den „Museen" verbunden
zu sein pflegten. Das Wort laouceTov (Musenheiligtum) erinnert daran,
daß die Einführung in die Wissenschaft in den Dienst der Gottheit ge-
stellt war. Diese Auffassung- reicht in das graueste Altertum zurück und
läßt sich nicht nur bei den Ägyptern, sondern auch bei den Babyloniem
nachweisen, deren Priesterschulen die ersten Spuren wirklichen Wissen-
schaftsbetriebes aufweisen. Hier sind dank dem unverwüstlichen Materiale
der babylonischen Bücher (Ziegelsteine) Bibliotheken ausgegraben worden,
die den ältesten wissenschaftlichen Betrieb, den wir feststellen können,
in interessanter Weise beleuchten. Es ist zu hoffen, daß die amerikanischen
Ausgrabungen von Nippur, die eine schier unermeßliche Bibliothek der
uralten über das dritte Jtihrtausend v. Chr. hinaufreichenden Priesterschulen
Vni. Wissenschaftliche Ausstellungen. IX. Bibliotheken untl Kataloge. 639
an das Licht gebracht zu haben scheinen, bald der Wissenschaft voll-
ständig zugänglich gemacht werden, damit man die Einrichtung der Ele-
mentarschule, des philologischen Seminars, des astronomischen Observa-
toriums, die man aus den zahllosen Resten dieser Backstein-Bibliothek
erschlossen hat, vollständiger und zuverlässiger überblicken kann, als es
nach den bisherigen vorläufigen Mitteilungen Hilprechts möglich ist. Der
altbabylonische Tj-pus der Bibliotheksorganisation findet sich nicht nur
in der berühmten und reichhaltigen Tempelbibliothek des ASurbanipal
(7. Jahrhundert v. Chr.) wieder, die Kopieen alter historischer Dokumente,
naturhistorischer, medizinischer, astronomischer und magischer Bücher ent-
hält, sondern auch in Griechenland, wo in den uns erst im vierten vor-
christlichen Jahrhundert kenntlicher werdenden Schuleinrichtungcn Biblio-
theken und naturwissenschaftliche Museen unter den Schutz der Gottheiten
gestellt werden. Profane astronomische Observatorien lassen sich bereits
im 5. Jahrhundert an vielen Orten Griechenlands, zum Teil in Verbindung
mit astronomischen Schulen nachweisen. Die Ausgrabungen von Pergamon
haben eine Verbindung der berühmten pergamenischen Bibliothek mit
einem Heiligtum der Athene ergeben, wie die erste öffentliche Bibliothek
in Rom im Jahre 3g v. Chr. von Asinius Polio in dem Tempel der Liberias
eingerichtet wurde. Diese Sitte, die Bibliotheken an die Gotteshäuser
anzugliedern, ging auf die Christen über und hat sich durch die Kirchen-
und Klosterbibliotheken bis in die Neuzeit erhalten.
Unter allen Instituten der Wissenschaft i.st von jeher die Bibliothek
als das wichtigste und unentbehrlichste Hilfsmittel zur Sicherung, Ver-
breitung und Fortpflanzung der Gelehrsamkeit und zur Ergänzung der
schnell verhallenden viva vox der Lehrer erkannt worden. Wo daher die
Wissenschaft blüht, da gibt es große, wohleingerichtete Bibliotheken, wo
sie verblüht, verschwindet auch jene und umgekehrt. Große äußere
Katastrophen, wie der Brand der Alexandrinischen Hauptbibliothek, haben
gewiß Einfluß auf die Gestaltung der Wissenschaft ausgeübt. Ein gut
Teil der gelehrten Tätigkeit, die sich in einer Stadt, in einem Lande ent-
faltet, hängt von der Organisation dieses Institutes ab, das den Geistes-
wissenschaften den wichtigsten, den Naturwissenschaften einen unentbehr-
lichen Apparat zum Studium liefert. Während bis zur Mitte des vorigen
Jahrhunderts in vielen Ländern, auch in Deutschland, an der Spitze der
größeren Bibliotheken bedeutende Gelehrte standen, die jenes Institut im
Nebenamt verwalteten, und gelehrte Tätigkeit auch bei den Bibliothekaren
die Regel war, ist seitdem eine eigene Bibliothekswissenschaft heran-
gewachsen, die sich allmählich Selbstzweck geworden ist.
Während man mit der Entwicklung aller anderen wissenschaftlichen
Institute in Deutschland zufrieden sein kann, und viele auf der ganzen
W'elt nicht ihresgleichen finden, darf dieser Ruhm nicht in gleicher Weise
den Bibliotheken zugesprochen werden. Altfundierte Institute, wie die
Münchener, Leipziger, Göttinger und Wiener Bibliothek, oder solche, wo
5 10 HermAnn Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
hervorragende Gelehrte gewirkt haben, wie in Bonn (Welcker, Ritschi),
mögen vielleicht den Ansprüchen wenigstens der am meisten auf die
Bibliothek angewiesenen Disziplinen genügen. Viele Universitätsbiblio-
theken und vor allem die Bibliotheken der Hauptstadt Deutschlands sind
nicht in gleicher Weise mit der Entwicklung der Wissenschaft und der
Universitäten in ihrer Leistungsfähigkeit vorangeschritten. Für die Drei-
millionenstadt und den Mittelpunkt der deutschen Wissenschaft sind die
Bestände, die Räume, die Einrichtungen unzureichend. Doch ist zu
hoffen, daß die neuen Männer und die neuen Gebäude die Kgl. Bibliothek
und die damit verbundene Universitätsbibliothek in Berlin wieder zu
einem wirklich funktionierenden Organismus umgestalten werden.
In Berlin wie in ganz Deutschland herrscht das Ausleihesystem.
Wie sich in den Volksbibliotheken deutlich herausgestellt hat, hängt die
Vorliebe für das umständliche Mitnehmen der Bücher in das Heim mit
dem Volkscharakter zusammen. Der Deutsche erwärmt sich nur für ein
Buch und nützt es wirklich aus, wenn er es daheim behaglich lesen und
mit seinen sonstigen Büchern und Materialien vergleichen kann. Es wäre
daher übereilt, diese mit der Gründlichkeit der Nation zusammenhängende
Gewohnheit plötzlich ausrotten zu wollen, wie diejenigen verlangen, die
einfach zu dem in Italien, Frankreich und England von altersher üblichen
Präsenzsystem übergehen wollen. Bei Fach- und Institutsbibliotheken
hat man jedoch dieses System meist eingeführt und bewährt gefunden.
Auch der Ausweg scheint nicht richtig, dem Publikum durch kurze Aus-
leihfristen und sonstige Schikanen das Ausleihen abgewöhnen und es so
allmählich zum Präsenzsystem erziehen zu wollen. Vielmehr ist für Deutsch-
land oder wenigstens für die Hauptstadt Deutschlands m. E. das richtige,
beide Systeme nebeneinander zu entwickeln. Man sollte eine große
Präsenzbibliothek und daneben mindestens Eine große, leistungsfähige Aus-
leihbibliothek haben.
Präsenz- Eine Präsenzbibliothek ist nötig für alle dieienisren Gelehrten, die
bibliotbeken. . o j o '
eine große Zahl verschiedener Bücher oder bändereicher Werke zu
gleicher Zeit benutzen müssen, ferner für alle diejenigen, die nur einzelne
Bände oder ganze Serien von Zeitschriften durchzusehen oder kleine
Notizen aus mannigfacher, disparater Literatur auszuziehen, für die Autoren,
die für rasch zu erledigende Korrekturen kurzen Einblick in gewisse
Bücher zu nehmen, für Prüfungskandidaten, die in knapp bemessener Frist
ihre Examenarbeiten mit Benutzung zum Teil umfangreicher Literatur zu
fertigen haben, femer für Beamte, die für dringende Gutachten oder eilige
Auskünfte ein bestimmtes Buch oder mehrere unbedingt sofort einsehen
müssen, oder für Zeitungsberichterstatter, die rasche Belehrung für ihre
Zwecke dort zu erhalten suchen. Für alle diese Bedürfnisse, die in dem
Mittelpunkt der Regierung, der großen Museen und Institute, der Presse
besonders dringend sind, ist eine große und möglichst vollständige Präsenz-
bibliothek so dringend nötig, wie Wasser für die Feuerwehr.
IX. Bibliotheken und Kataloge.
641
Daneben aber besteht das Bedürfnis nach einer nicht raschen und
sofortigen, aber möglichst ausgiebigen und gründlichen Belehrung. Der
Deutsche will seine Bücher studieren und „heimisch" in ihnen werden. Das
kann er nur zu Hause. Daher müssen auch Bibliotheken da sein, welche die
Bücher zum gründlichen und länger andauernden Studium ausleihen. Die
Gründlichkeit der Forschung, die dem Deutschen eigen ist, würde in Frage
gestellt, wenn er alle Bücher, die er nicht selbst besitzt, nach drei Wochen
abliefern sollte. Freilich kostet dieses Ausleihesystem mit bequemen
Rücklieferungsfristen mehr Exemplare, als man bisher in den öffentlichen
Bibliotheken für nötig erachtet hat, anzuschaffen. Allein diese vielbegehrten
Bücher, die mehrfach bestellt werden, beschränken sich auf eine den kun-
digen Bibliothekaren ziemlich genau bekannte Anzahl. Diese kurrenten
Bücher müssen nach einem in den Leihbibliotheken bewährten Systeme
in mehreren Exemplaren vorhanden sein. Es schadet nichts, wenn solche
Werke in zwanzig Exemplaren vorhanden sind. Auch ist die Verwirk-
lichung dieses Systems weder so schwierig noch so kostspielig, wie man
sich das denkt. Jeder Gelehrte, der überhaupt Bücher sammelt, nicht als
Bibliophile, sondern um das gelehrte Handwerkszeug zur Hand zu haben,
besitzt in der Regel eben jene gangbaren Werke. Man braucht nun nur
die beim Tode von Gelehrten der verschiedenen Hauptfächer sich bietende
Gelegenheit zur Erwerbung von Handbibliotheken konsequent zu benutzen,
um in billigster und bequemster Weise fortdauernd die nötige Ausstattung
der Ausleihebibliothek mit der üblichen Literatur in ausreichenden Exem-
plaren zu enverben.
Wenn Alexandrien, eine Stadt von 300000 Einwohnern, zwei große
Bibliotheken besaß (Brucheion und Serapeion), so dürfte eine Dreimillionen-
stadt wie Großberlin, das in wissenschaftlicher Beziehung gern an der
Spitze der Nationen marschieren möchte, mindestens zwei große Biblio-
theken besitzen, eine große möglichst vollständige mit großen Lesesälen
und bequemen Katalogen ausgestattete Präsenzbibliothek, in der jedes
Buch in 5 Minuten zur Stelle ist, und eine mit der laufenden Literatur
reichlich ausgestattete Ausleihebibliothek, die leichtbeweglich den Bedürf-
nissen der Wissenschaft und des Publikums muß folgen können. Dazu
gehört, daß jährlich ein Autodafe aller veralteten Literatur veranstaltet
oder wenigstens deren Ausstoßung oder Abschiebung an andere Institute
verfügt und Platz für neues oder wertvolles, aber noch nicht vorhandenes
Büchermaterial geschaffen werde.
Zu dieser Ausscheidung wie zur Anschaffung der Bücher gehört eine
vollständige lebendige Kenntnis der Vorgänge, die sich auf den einzelnen
wissenschaftlichen Gebieten abspielen. Daher ist es durchaus nötig, daß
die eigentliche Leitung, sowohl der ganzen Bibliothek wie der einzelnen
wissenschaftlichen Abteilungen, in den Händen von bewährten Fach-
gelehrten ruhe. Diese müssen Zeit haben, neben ihrer eigentlichen
Bibliotheksarbeit der Bewegung der Wissenschaft nicht nur von weitem
DiB Kultur der Gbgbnwart. Li. 41
Ausleihe,
bibliothek.
Bibliothoki-
beamte.
f.. 2 Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
ZU folgen, sondern sich daran £iktiv zu beteiligen. Die mechanische Ar-
beit aber, die von mittleren und untergeordneten Kräften ebenso gut be-
sorgt werden kann, sollte den wissenschaftlich durchgebildeten und tätigen
Beamten möglichst abgenommen werden. Es ist eine Vergeudung von
Kraft, wenn zum Zettelausschreiben, Bücheraussuchen usw. dauernd ge-
lehrte Beamte herangezogen werden, wozu Subalterne wie in der sonstigen
Bureauverwaltung weit geeigneter sind. Auch gebildete Frauen finden
hier ein sehr geeig-netes Feld der Wirksamkeit.
Schnelligkeit Das Wichtigste bei einer Bibliothek ist, daß die gewünschten Bücher
''" ^''"''''"°"' vorhanden sind; das zweite, daß sie in der denkbar kürzesten Frist ge-
funden und bereit gestellt werden. Wenn es an großen Bibliotheken nicht
selten vorkommt, daß Bestellungen erst nach zwei, bisweilen nach drei
bis vier Tagen ausgeführt werden, darf man sagen, daß die Bibliothek
ihren Beruf verfehlt hat.
Katalog. Das dritte ist die Vollständigkeit und praktische Einrichtung der
Kataloge. Die „Berufsbibliothekare" haben großen Scharfsinn und an-
gestrengtes Nachdenken darauf verwandt, ein möglichst umständliches
Schema zur Ausarbeitung der Namen- und Fachkataloge auszuarbeiten.
Da sie aber in der Regel nur an ihren inneren Dienst denken, nicht an
die Benutzer, für die überhaupt der Katalog immer noch als ein Arkanum
angesehen zu werden scheint („Zur Einsicht des Fachkatalogs bedarf es
jedesmal der Erlaubnis des diensttuenden Beamten"), kann der Gelehrte
aus der bibliographischen Hieroglyphik dieser modernen Kataloge nicht
den Nutzen ziehen, den er möchte. Wir verlangen nicht mehr (so be-
scheiden ist der moderne Mensch geworden), was der große Gelehrte und
Bibliothekar Kallimachos (um 250 n. Chr.) in seinem 125 Bände fassenden
Kataloge der Alexandrinischen Bibliothek leistete, eine vollständige
biographisch-literarische Orientierung über die Autoren, wir verlangen
auch nicht mehr (außer Handschriften und Raritäten) die Verzeichnung des
Incipit und die Aufzählung der sonst bekannten, aber in der BibUothek
zufällig nicht vorhandenen Werke. Wir verlangen nur eine klare und
kurze Verzeichnung der vorhandenen Bücher, die zur Identifikation aus-
reicht, sowohl in systematischer wie in alphabetischer Anordnung. Die
bequemste Form und Aufstellung dieser beiden (für das wissenschaftliche
Publikum wohlgemerkt, nicht für den inneren Dienst) bestimmten Kataloge
zu ermitteln, muß der Intelligenz und vor allem dem guten Willen der
Fachleute überlassen bleiben. Der Umschwung der öffentlichen Meinung,
der nicht in den Minutien des Bibliotheksdienstes, wie er sich bei uns
durch das Walten der „Berufsbibliothekare" ausgestaltet hat, das Heil
sieht, sondern energisch verlangt, daß das Publikum, und zwar vor allem
das wissenschaftlich forschende Publikum, berücksichtigt werde, wird
hoffentlich dazu führen, unter der Ägide weitblickender und energischer
Männer die dargelegten Hauptbedürfnisse zu befriedigen. Wenn für Einzel-
institute bedeutende Summen zur Verfügung gestellt worden sind, so darf
IX. IJibliothcken und Kataloge. 64^
bei den Zentralinstituten, den Bibliotheken, weder in der Provinz noch
gar in der Hauptstadt geknausert werden. Wenn wir dann in der nächsten
Generation das Versäumte nachgeholt haben, wird der Deutsche hoffent-
lich, wenn von praktisch eingerichteten und wissenschaftlich leistungs-
fähigen Bibliotheken in der Welt die Rede sein wird, nicht mehr nötig
haben, errötend die Augen zu Boden zu senken.
Die Handschriften und älteren Drucke werden bereits seit Jahrhunderten BibiioRraphieen.
in gedruckten Katalogen verzeichnet, von denen freilich nur die wenigsten k-iuiog«.
an die wissenschaftliche Form, die z. B. die Publikationen der Kgl. Biblio-
thek zu Berlin auszeichnet, heranreichen.
Für die Druckschriften, die in den größeren preußischen Bibliotheken
sich vorfinden, gibt ein in der Entstehung begriffener, vorläufig hand-
schriftlich hergestellter „Gesamtkatalog" Aufschluß, der so zustande
kommt, daß eine Abschrift des Zettelkatalogs der Berliner Kgl. Bibliothek
den preußischen Universitätsbibliotheken zur Vervollständigung zugeschickt
wird. Mit Hilfe des bis jetzt ganz fertiggestellten Teiles des Gesamt-
kataloges (dieser Teil reichte April igo6 bis „Christ") ist es möglich, das
Vorhandensein eines Buches auf einer der beteiligten Bibliotheken fest-
zustellen. Man hat nämlich nur nötig, sich an das mit dem Gesamtkatalog
in Verbindung stehende „Auskunftsbureau« der Kgl. Bibliothek zu Berlin
zu wenden, um zu erfahren, auf welchen Bibliotheken sich das gesuchte
Werk befindet. Die geplante Ausdehnung dieses Werkes auf alle deut-
schen Hauptbibliotheken wird vermutlich an den großen Kosten und
anderen Schwierigkeiten scheitern.
Wegen der enormen Kosten des Satzes wird auch von einer weiteren
Verbreitung des Gesamtkataloges durch den Druck vorläufig wohl Abstand
genommen werden müssen. Auch ist ja dieser Katalog durch den Zuwachs
in beständiger Fortbildung begriffen. Doch wäre zu erwägen, ob eine
Vervielfältigung in einer beschränkten Zahl von Exemplaren sich nicht
ermöglichen ließe. Es ist überhaupt ein dringendes Bedürfnis der Wissen-
schaft, daß die Technik ein billiges Surrogat des unerschwinglichen Druckes
für kleine Auflagen von wissenschaftlichen Aufsätzen, Repertorien und
Nachschlagewerken ausfindig mache.
Gute Dienste für die moderne Literatur leisten inzwischen die „Ver-
zeichnisse der erschienenen und vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen
Buchhandels", die von der Hinrichsschen Buchhandlung in Leipzig all-
wöchentlich im Interesse des Verlages herausgegeben werden. Wissen-
schaftlich wertvoll sind die für die einzelnen Fächer von den ältesten
Zeiten der Buchdruckerkunst bis zur Gegenwart geführten Bibliogra-
phie en. Sie umfassen entweder die gesamte inländische und ausländische
Literatur des betreffenden Faches oder einen bestimmten zeitlich oder in-
haltlich abgegrenzten Teil derselben. .Sehr zahlreich sind die einen Autor
betreffenden bibliographischen Monographiecn. Die häufigsten und für
das Leben der Wissenschaft wichtigsten Bibliographieen sind die Jahres-
4i»
f^ , Hermann Diels: Die Organisation der Wissenschaft.
berichte der einzelnen Fächer, die teils als selbständige Unternehmungen,
teils als Anhängsel von Fachzeitschriften auftreten.
Internationaler Ein gToßartiges Unternehmen dieser Art ist der „Internationale
nat'"u!«ist" Katalog der naturwissenschaftlichen Literatur", der eine Aus-
^Litfraär gestaltung und Fortsetzung der von der I-^oj'al Society in London auf An-
regung von Prof. Heary aus Washington 1855 unternommenen Catalogue
of Scientific Paper s ist (11 Quartbände, die naturwissenschaftliche Literatur
1800 1883 umfassend, Supplemente, Sachindizes und Fortsetzungen bis
iQoi sind im Werke). Der neue Katalog ist unter den Auspizien der 1900
gestifteten „Internationalen Assoziation der Akademieen" (s. oben!) von der
Royal Society zu einem die zivilisierte Welt umspannenden Riesenunter-
nehmen ausgestaltet worden. Er beginnt mit dem Jahre 1901 und soll
für jedes Jahr die gesamte mathematisch-naturwissenschaftliche Produktion
aller Länder nach den Autoren und dem Inhalte geordnet und mit Stich-
wortregistern versehen buchen. Zu diesem Zwecke sind neben dem
„Zentralbureau" in London 29 diesem in die Hände arbeitende „Regional-
bureaux" in den einzelnen Kulturländern eingerichtet. Die Zeit muß
lehren, ob dieses gigantische Unternehmen auf die Dauer durchführbar
erscheint. Von der Riesenarbeit, die allein das deutsche Regionalbureau
in Berlin zu diesem Zwecke bewältigen muß, kann das 1900 abgeschlossene
„Verzeichnis der deutschen zu bearbeitenden Zeitschriften" eine Vorstellung
geben. Es enthält 1258 Nummern. Es gibt aber zugleich auch eine Vor-
stellung von der in der Form der „Zeitschrift« sich vollziehenden Jahres-
produktion der Wissenschaft, wenn man bedenkt, daß diese Zahl nur die
Elite der Fachzeitschriften umfaßt, wenn man ferner die in den übrigen
Kulturländern erscheinenden Zeitschriften mitrechnet, wenn man endlich
bedenkt, daß dies alles nur die eine Hemisphäre, Mathematik und Natur-
wissenschaft, betrifft, der eine gewiß nicht minder große Produktion der
„Geisteswissenschaften" gegenübersteht.
Zeitschriften. X. Zeitschriften, Buch und Buchhandel. Wahrlich, wenn
man den Ozean der wissenschaftlichen periodischen Literatur über-
blickt (von der populären gar nicht zu reden), die sich alljährlich,
ja alltäglich über die ganze Erde ergießt, kann wohl in zaghaften
Gemütern die Befürchtung aufsteigen, die Welt möchte an einer neuen
papierenen Sintflut zugrunde gehen. Wer kann denn nur das in der
eigenen Wissenschaft Geleistete noch lesen, geschweige denn prüfen?
Selbst in den Spezialgebieten ist der Strom der Literatur so ange-
schwollen, daß ihn niemand mehr durchschwimmen kann. So klagte neu-
lich ein her^-orragender Anatom, es sei unmöglich, die Erscheinungen
auch nur der Gehirnanatomie, für die er sich besonders interessiert,
einigermaßen zu verfolgen. Man hat das Gefühl des Goetheschen Zauber-
lehrlings den übermächtigen Wassern gegenüber, die aus der Zeitschriften-
Hteratur wie aus tausend beständig speienden Öffnungen uns entgegen-
X. Zeitschriften, Buch und Huchhandel.
645
sprudeln. Qitis leget haec? fragt man verzweifelnd mit dem römischen
Satiriker. Die Natur besitzt dagegen ein langsames, aber sicheres Mittel:
den Moder, der früher oder später alles vernichtet, was nicht weiter zu
leben und zu wirken vermag.
Das Buch ist ein Erzeugnis der Wissenschaft. Denn die Poesie ist Du Bach,
nicht auf die Niederschrift angewiesen. Des Dichters Lied schwingt sich
auf den Flügeln des Gesanges von einem Geschlecht zum andern, ohne
daß die schriftliche Feststellung selbst in durchaus schriftkundigen Zeiten
notwendig erschiene. Astronomische Berechnungen lassen sich nicht ohne
Tabellen und Aufzeichnungen durchführen, geographische und historische
Berichte, wenn sie nicht bloß ergötzen, sondern praktisch verwendbar sein
sollen, können der Fixierung durch die Schrift nicht entbehren. So gibt
es in Ägypten, in Babylon, in Griechenland unmittelbar nach dem Auf-
treten der Wissenschaft auch wissenschaftliche Bücher. Der Stand der
Gelehrsamkeit eines bestimmten Volkes in einer bestimmten Zeit läßt sich
an der Zahl der wissenschaftlichen Bücher wie an einem Pegel ablesen.
Freilich ist die Flut der Bücher nicht in dem außerordentlichen Maße an-
geschwollen als die der Zeitschriften. Die Klage, daß diese das ehrliche
Buch mit ihrer ephemeren Existenz überwucherten und erstickten, ist alt.
Schon Crabbe jammert in seinem Newspaper (1785)
For these unread the nablest volumes lie:
For these in sheets unsoiled the Muses die;
Unbought, unblest, the virgin copies ivait
In vain for fame, and sink, unseen, to fate.
In der Tat scheint es auch heute noch in England ebenso leicht zu
sein, in eine Zeitung oder Zeitschrift zu schreiben, als schwer, ein ernstes,
wissenschaftliches Buch auf den Markt zu bringen. Der Philosoph Spencer
fand keinen Verleger für sein System 0/ syiithefic philosophy und kam, als
er es auf eigne Kosten drucken ließ, hart an den Rand des Ruins. Nach
dem zweiten Band teilte er 1865 seinen Lesern mit, er sei wegen Teil-
nahmlosigkeit des Publikums nicht in der Lage, weiter zu arbeiten. Später
griffen Freunde ein und ermöglichten die Fortsetzung. Im 18. Jahrhundert
sind solche I-'älle auch bei uns nicht selten. Reiskes Ausgabe der grie-
chischen Redner, ein monumentales Werk, fand keinen Verleger, und als
der treffliche Mann auf eigene Kosten zu drucken anfing, blieb der Ab-
satz zu Anfang so gering, daß die Portsetzung nur dadurch gesichert wer-
den konnte, daß Frau Reiske ihre Juwelen verkaufte. Dagegen ist im
letzten Jahrhundert meines Wissens in Deutschland kein bedeutendes
wissenschaftliches Werk durch äußere Umstände am Erscheinen verhindert
worden, namentlich nicht durch die Zeitschriften. Denn diese nehmen
ihrer Bestimmung nach nur kleinere Aufsätze von i — 3 Bogen Umfang'
auf. Das Buch aber beginnt erst jenseits dieser Grenze lebensberechtigt
zu werden. In der Regel kann also das umfänglichere Buch mit der
Zeitschriften- und Broschürenliteratur gar nicht direkt in Streit kommen.
A.A Hkkmann Diei.s: Die Organisation der Wissenschaft.
Aber freilich in anderer Weise gräbt diese Zeitschriftenmasse dem Buche
das Wasser ab. Die Spaltung der Wissenschaft und damit Hand in Hand
gehend die Vermehrung der Sonderzeitschriften hat im vorigen Jahr-
hundert eine solche Ausdehnung gewonnen, daß der Markt durch diese
Überfülle periodischer Ware für das Einzelbuch immer schwieriger sich
gestaltet. Namentlich die kleineren öffentlichen Bibliotheken klagen
darüber, daß das Zeitschriftenkonto fast das ganze Jahreseinkommen
aufzehre, so daß selbst für bedeutende Bücher keine Mittel übrig
bleiben. Aber diese Zeitschriftenflut ist auch innerlich ungesund. In
jeder Abteilung der Wissenschaft gibt es wohl höchstens nur ein bis
zwei altfundierte Unternehmungen, die sich selbst erhalten. In allen an-
deren Fällen muß der Verleger oder der Verein oder der Staat, oder wer
sonst immer, zuschießen, da die Anzahl der Abnehmer die Kosten lange
nicht deckt. Die Verleger freilich haben ein großes Interesse daran, solche
Zeitschriften zu verlegen, weil sie dadurch in intime Berührung mit den
Autoren und mit den Lesern der betreffenden Fachwissenschaft kommen
und sich daher für die Erweiterung und den Absatz ihres Verlages Vor-
teil versprechen. Auch wird der Raum außerhalb des eigentlichen wissen-
schaftlichen Inhaltes zur Reklame verwendet. Diese wohl nicht ganz be-
gründete Vorliebe der Verleger für die SpezialZeitschriften legt ein gut Teil
des Betriebskapitals des Verlagsgeschäftes fest und entzieht ihn dem Ver-
trieb größerer wissenschaftlicher Werke. Auch insofern ist die Zeitschrift dem
Buche schädlich. Glücklicherweise sieht es in dieser Beziehung im deutschen
Verlagsgeschäfte noch nicht so traurig aus wie im Auslande. Bei der
notorischen Unrentabihtät der meisten streng wissenschaftlichen Werke,
sobald sie nicht Modeartikel betreffen oder enzyklopädisch angelegt sind
(Handbücherliteratur), begreift man nicht, wie es namentlich unser deutscher
Verlag zustande bringt, noch so viel schwere wissenschaftliche Literatur
auf den Markt zu bringen, zumal die Herstellung der kleinen hier be-
nötigten Auflagen von etwa 600 Exemplaren durch die von Jahr zu Jahr
rapid steigenden Satz- und Papierkosten und die ebenso bedeutend ge-
stiegenen Ansprüche des Publikums an Ausstattung immer kostspieliger
wird. Die Erklärung für dieses Rätsel liegt darin, daß der vornehme
deutsche Verlagsbuchhandel so gebildet ist, einzusehen, daß alles, was von
Enzyklopädieen, Kompendien und Scliulbüchern, d. h. an den Büchern der
großen Auflagen, verdient wird, lediglich das Produkt der ernsten Arbeit
der Wissenschaft ist. Indem er daher die eigentlichen Produzenten der
geistigen Kultur in vornehmer Weise unterstützt, ohne diese merken zu
lassen, was der Verleger bei jedem Bande gelehrter Ware aus eigener
Tasche zusetzt, sichert er sich zugleich den Verdienst aus dem Massen-
absatz der daraus gespeisten populären oder pädagogischen Literatur.
Denn ein Handbuch oder Schulbuch, das nicht den neuesten Stand der
Wissenschaft darstellt, wird unbarmherzig von der Konkurrenz erdrückt.
Es ist für das Fortbestehen der Wissenschaft, zumal in Deutschland, von
X. Zeitschriften, Buch und Buchhandel. 6^7
der größten Wichtigkeit, daß diese edle Symbiose der streng wissenschaft-
lichen und populär-praktischen Literatur in den großen Verlagshäusem
weiter gepflegt und gestärkt werde. Denn es wäre der Untergang der
Wissenschaft, wenn die Verleger bloß noch die gewinnbringenden Artikel
kultivieren wollten. Es wäre der Ruin auch der Gelehrten, wenn sie von
eigennützigen Verlegern sich verleiten ließen, bloß auf das praktische In-
teresse hinzuarbeiten oder durch populär-ästhetische^ Allüren die hehre
Wissenschaft zur Dirne erniedrigten. Die Forschung, die genötigt wäre,
um nur veröffentlicht zu werden, nicht mehr für die Fachgenossen, sondern
für die „Gebildeten weitester Kreise" zu schreiben, würde sich selbst ver-
nichten. Alle Wissenschaft ruht im Innersten auf einer dem Erwerbe ent-
gegengesetzten ethischen Grundstimmung. Sobald der I-'orscher und Ver-
leger ihr Bestes nicht mehr umsonst oder so gut wie umsonst geben, hört
der Gottesdienst, als welchen Sokrates die Forschung nach der Wahrheit
bezeichnet hat, auf und der Tanz um das goldene Kalb beginnt. Über-
lassen wir das der modernen Sophistik, die ja üppig genug emporschießt!
Mit dieser Warnung wird zugleich die heutzutage von gewissen Ver-
legern getriebene quasiwissenschaftliche Ruchmacherei getroffen, die mit
Abbildungen, die nicht erklärt werden, und mit Ausstattungskünsten, die
in einem gelehrten Buche niemand sucht, ein oberflächliches Massen-
publikum heranzuziehen sucht. Diese Art von Volkserziehung bleibe uns
fem! Damit soll aber nicht zugleich die Notwendigkeit und Verdienst-
lichkeit aller der Bestrebungen geleugnet werden, die darauf abzielen, die
Ergebnisse der Wissenschaft in ehrlicher Weise unter das Volk zu bringen.
Die gutgeleiteten deutschen, französischen und englischen Fach-Enzy- Knzykiopadicca.
klopädieen, die auf den Hauptgebieten in alphabetischer Anordnung den
Inbegriff der betreffenden Wissenschaft kurz und präzise zum Ausdruck
bringen, sind eine unentbehrliche und nicht genug zu bewundernde Ein-
richtung. Noch bewundernswürdiger sind die großen Universal-Enzy-
klopädieen (oder wie wir lächerlicherweise sagen Konversationslexika),
die von Fachmännern verfaßt und auf der Höhe der Wissenschaft gehalten
werden. Diese Organisationen sind mustergültig in der Technik ihrer
Herstellung und bei weitem das wirksamste Mittel zur Popularisierung der
gelehrten Forschungen. Sie geben in jedem Artikel den Kern der jetzt
herrschenden Kenntnis in der Regel präzis wieder und verweisen weiter
Strebende auf die beste Literatur. Einige meist gutgewählte Abbildungen
wirken auf die Anschauung und verdeutlichen das im Text Angedeutete.
Ebenso staunenswert als die Bearbeitung des unermeßlichen disparaten
Stoffes ist die kaufmännische Organisation, die es versteht, eine stattliche
Reihe dicker Bände in unzähligen Exemplaren bis in die kleinsten Dörfer
zu vertreiben.
Wenn es in der Aufgabe unserer Zeit liegt, Bildung und Wissen bis Buchhmdci.
in die äußersten Adern des Volkskörpers zu verbreiten, so spielt in dieser
Beziehung neben der Presse der Buchhandel die wichtigste Rolle. Es
A^g Hr.KMANN DlEi-S: Die Organisation der Wissenschaft.
ist keine Frage, daß, wenn in der Wissenschaft nach Höhe und Tiefe
Deutschland eine führende Stellung einnimmt, diese nicht zum kleinsten
Teile der trefflichen Organisation des deutschen Buchhandels verdankt wird.
Es mögen dabei einzelne Schäden vorhanden, einzelne Einrichtungen nicht
mehr zeitgemäß, einzelne Neuerungen unüberlegt sein, im ganzen ist der
deutsche Buchhandel seiner Kulturaufgabe gerecht geworden und wird es
bleiben, wenn er sich in den bisherigen Bahnen hält. Die Sortiments-
buchhändler, die zwischen Verleger und Publikum in der Mitte stehen,
sind ein unentbehrliches Zwischenglied in diesem Organismus. Es kann
nichts Kurzsichtigeres geben, als die Zahl dieser Makler beschränken zu
wollen. Vielmehr braucht das Volk in seiner vielgestaltigen Abstufung
der Bildung und Bedürfnisse aller Arten von Vermittlern des geistigen
Brotes: akademisch gebildeter, kaufmännisch geschulter, elementar vor-
bereiteter. Alle diese Arten von Sortimentern sind nötig, um die Bücher
zu vertreiben, wie alle Arten von Lehrern, Universitäts-, Gymnasial-, Ele-
mentarlehrer, um die Wissenschaft den verschiedenen Schichten des Volkes
zu vermitteln. Alle diese Buchhändler, vom gelehrten Spezialisten der
Hauptstädte, der nur mit der schwersten Wissenschaft arbeitet, bis zu dem
kümmerlichen Dorfbuchbinder, der einige Bände Reclam an seinem
Fensterchen stehen hat, sie alle dienen an ihrem Teile der großen
Kulturaufgabe, die belebenden und befruchtenden Fluten der Wissen-
schaft durch tausend Kanäle, Bäche und Rinnsale auf den Acker der
Menschheit zu leiten.
,. ,, Schlußbetrachtung. Denn unveräußerlich bleibt des Men-
Ziel der ^
Wissenschaft, gehen Recht und Pflicht, sich klar zu werden über sich selbst
und über das, was ihn auf der Welt umgibt. Unvertilgbar lebt
in jedem der Drang, mit der Kenntnis dessen, was unter ihm
und in ihm lebt, hinaufzudringen zu dem, was er nicht kennt, und die
zusammenhängende Linie, die er in der W^eltentwicklung bis auf das eigne
Ich wahrnimmt, über sich selbst hinaus fortzusetzen. Dieses nie ermattende
und nie zu stillende Sehnen der Menschheit nach Höherbildung, das ein
Korrelat ist zu dem in der Natur für jeden Einsichtigen erkennbaren
Entwicklungsplane, ist im Menschen verschieden ausgebildet, aber auch
in dem Schwächsten mächtig. Die Wissenschaft bietet ihm die Mittel, so
viel vom Wesen der Dinge zu erkennen, als ihr zu wissen und ihm zu
verstehen zur Zeit beschieden ist. Mag es viel oder weifig sein: wer an
seiner wissenschaftlichen Bildung ehrlich arbeitet, der arbeitet an seinem
Teile mit an der Höhenzüchtung der ganzen Gattung einem höheren und
höchsten Ziele entgegen. Wir sehen es nicht und erkennen es nicht, aber
wir ahnen es, und die wundersame Erleuchtung, die uns befällt, wenn wir
uns auch nur am kleinsten Punkte die Wahrheit erarbeiten, zeigt uns deutUch,
daß dieser Drang nach geistiger Befreiung und Höherbildung kein leerer
Wahn, sondern eine Vorahnung höherer Bestimmung ist. Einer von den
SchlnQbctrachtung. 64Q
herrlichen Männern, die den Urtrieb der Menschheit und ihren höchsten
Beruf am tiefsten empfunden und die Wissenschaft zuerst als die
wichtigste Organisation der Menschheit begriffen haben, nennt dies Dichten
und Trachten der höheren Menschen „möglichste Vergottähnlichung"
(önoiujcJi^ Geü) Karä t6 buvaiöv). Nach Piaton also vollendet die Wissen-
schaft die dunklen Ahnungen der weisesten Dichter und Propheten und
führt aus dem animalischen Dämmer des Gefühls und der Triebe zur gött-
lichen Klarheit des Wissens und Gewissens. Dies Ziel winkt aber nicht,
wie Piaton meinte, nur dem Adligen, sondern, wie wir meinen, dem Streben-
den jeglichen Standes. Wer immer von dem staubgeborenen und staub-
fressenden Geschlechte aus der unendlichen Mühsal des irdischen Lebens
auch nur auf Augenblicke den Geist emporrichtet und die brennenden
Lippen netzt an dem Trünke der Wissenschaft und sich durch sie zur
geistigen Freiheit durchringt, arbeitet mit an dem Werke der Ewigkeit.
Er weiß, daß sich der Fluch des Menschengeschlechtes nach Äonen
wissenschaftlicher und moralischer Weiterbildung für die Nachgeborenen,
Höhergeborenen in Segen wandeln muß: Erifis sicut dcus, scicntes bonum
et tnalum.
r-
Literatur.
Der vorliegende Artikel ist vor zwei Jahren niedergeschrieben worden. Es war beab-
sichtigt , diesen Entwurf nach Vollendung der einzelnen in diesem Bande vorangehenden
Teile, die sich mit dem vorliegenden Gegenstande vielfach berühren, durchzuarbeiten. Dies
ist dem Verfasser aus äußeren und inneren Gründen unmöglich gewesen. Nur einige Sätze
(darunter eine Mitteilung über astronomische Organisationen von W. Förster, Berlin), die
leicht als Zusätze kenntlich sind, traten hinzu. Da die Literatur in den vorangegangenen
Teilen bereits angegeben ist, und niemand diese Zusammenfassung wegen der Details lesen
wird, kann von Buchzitaten abgesehen werden.
REGISTER.
\'on Dr. Richard Böhme.
Bei mehrfach angeführten Namen und Stichwortea sind die Hauptstellen durch ein Sternchen bezeichnet.
A.
Abert, Hennann. 433.
Abgußsammlungen. 355.
Abiturientenexamen. 143. 149. 150. 156. 164.
— am Mädcheng>Tnnasium. 233.
Absolutismus, Aufgeklärter. 35.
Academie des arts in Paris. 408.
Accademia del cimento. 315.
Ach^r>', Uom I-uc d'. 544.
Ackerbau. 12.
Ackerbauschulen. 261.
Acta diuma. 482. 483.
— eruditorum. 491.
Adam und Eva, Spiel von. 453.
,,Adel deutscher Nation, An den christlichen".
532.
Adreß-Komptoire. 490.
Äginetische Expedition. 355.
Ägypter, Schrift der. 518.
Agassiz, Louis. 361.
Agenturen, Telegraphische. 497.
Agricola, Rudolf. 128.
Agrippa, M. \'ipsanius. 347. 350.
Aischylos. 451.
Akademie der Wissenschaften, Berliner. 315.
— — , Pariser. 314.
Akademieen. 37.
— Piatons. 593.
, — im 17. und 18. Jahrhundert. 314.
— , Wissenschaftliche, der Gegenwart. 622 ff.
^, Folgeuntcmehmungcn der. 626.
— , Kartell und Assoziation der. 628.
— , Preisaufgaben der. 625.
— , Wissenschaftliche Beamte der. 628.
Naturwissenschaftliche. 373.
Aktualitätsprinzip der Zeitungen. 495. 509.
Albert von England, Prinzgemahl. 394.
Albert, Heinrich. 439.
Albertus Magnus. 372.
Alembert,Jean Lerond d'. 315. 322. 332. 594.
Alexandria, Bibliothek von. 544. 639. 641.
— , Verlagsgcschäft und Buchhandel in. 522.
Alfons von Aragon. 531.
Algebra. 313.
Alkohol. 372.
Alkuin. 123. 124. 525.
Altenstein, Minister Karl Frhr. von Stein zum.
150.
Altertumsvereine. 357.
Althoff, Ministerialdirektor im Preuß. Kultus-
ministerium Friedrich. 167.
Ambrosiana Bibliotheca. 550.
Amerika, Entdeckung von. 34.
— , Fach- und Fortbildungsschulwesen in.
269.
— , Kultur des alten. 20.
Amerikanismus, Kirchlicher. 49.
Ampbre, Andre Marie. 322. 594.
Analyse, Mathematische, in der Physik. 322.
Analysis. 313.
Anatomie-Unterricht in der höheren Mädchen-
schule. 216.
Angelica Bibliotheca. 550.
Annoncenbureaux. 506.
Annoncenteil der Zeitungen. 504.
Annoncenwesen, Aufnahme in die gedruckte
Zeitung. 490.
Anonymität, Prinzip der, in den Zeitungen.
501.
Anpassungserscheinungen. 379.
Anschaffungsfonds der Bibliotheken. 573.
576. 581.
Anschauung, Beurteilung der, im Unterricht.
136. 137. 139. 140.
Anschütz-, Heinrich. 474.
Antikensammlungen. 348. 354.
Antiqua-Schrift. 526.
Anzeigeblätter. 490.
Apollonius i'on Perga. 313.
Araber, Arbeiten der, in der Astronomie,
Chemie, Medizin und Erdkunde. 31.
— — in der Geometrie. 313.
Arbeiterbewegung. 40. 44.
Arbeitcrbildungsschule , Sozialdemokratische.
599-
Arbeiterfürsorge. 46.
Arbeiterklasse. 44.
Arbeitsenergie. 8.
652
Register.
Arbeitsschulen , Kurpfalz - bayrischer Aller-
höchster Erlaß zur Einrichtung von. 245.
Arbeitsteclmik der Schule, 221.
— im Seminar. 238.
Arbeitszwang. 4.
Archäologie. 354. 357.
Archimedes. 27. 313.
Architektur, Gotische, 32.
— , Kunstformen der. 396.
— , Unterricht in der, an der Technischen
Hochschule. 333.
Arier. 9 f.
Ariost, Ludovico. 45g.
Aristophanes. 451. 45g.
Aristoteles. 25. 26. 27. 287. 2g8. 312. 314.
372- 533- 541- 592- 594- 635.
— -Ausgabe der Berliner Akademie. 626.
Artes liberales, Septem. 312.
Artistenfakultät. 125.
— als Vermittlerin allgemeiner Bildung und
Vorstufe der Berufsausbildung. 312.
Aschurbanipal. 543.
Assistenten tum. Wissenschaftliches. 618.
Assoziation, Internationale, der Akademieen
der Gegenwart. 628.
Assoziationsrichtung, Optische. 203.
Astronomie und Astrologie, Babylonische. 24.
— , Arabische. 31.
— , Griechische. 27.
— , Neuzeitliche. 36.
— des 19. Jahrhunderts. 41.
— -Unterricht. 62.
— -Observatorien. 316. 318.
Astronomische Gesellschaft, Internationale. 631.
Astrophysik. 41.
Asur-näsir-abal. 635.
Athen, Das Buch in. 521.
Attavante, Marco. 526.
Atticus, T. Pomponius. 522.
Aufklärung, Einwirkung der, auf die Volks-
schule. 92 f.
Aufmerksamkeit. 204.
Aufsatz, Lateinischer. 156. 159. 163.
Aufseß, Hans Freiherr von und zu. 357.
Augier, Emile. 467.
Augustinus, Aurelius. 2g. 533.
Augustkonferenz, Berliner, von Mädchen -
schullehrem. 183.
Auskunftsstelle der deutschen Bibliotheken.
571- f>43-
Auslandsinstitute, Wissenschaftliche. 632.
Ausleihebibliothek. 640. 641.
Ausstellungen, Kunst- und kunstgewerbliche.
390 ff. 407 ff.
^, Leih- und Wander-, der Kunstgewerbe-
museen. 359. 408.
— , Permanente und Wander-. 407.
— , Retrospektive. 427.
— , Sammel- und Gruppen-. 422.
Ausstellungen, Wechselnde. 362. 364.
— , Wissenschaftliche und technische. 41 2 ff.
638.
— , Einrichtung und Betrieb der. 414 ff.
— , Einteilung der. 413.
— , Entwicklung der, zu Weltausstellungen.
413-
— , Grundidee und Definition der. 412. 417.
— , Finanzielle Grundlagen der. 415.
— , Vergleich der, mit Messen und Jahr-
märkten. 427.
— , Wirkungen der, 426 ff.
Ausstellungs-Bauten. 416.
— -Kataloge und -Berichte. 415.
— -Preise. 418.
Auwers, Arthur. 631.
Avisenschreiber. 484.
Azteken. 518.
B.
Babylon, Kultur von. ig, *23.
— , Priesterschaften als Träger der Wissen-
schaft in. 593.
Babylonier, Schrift der. 518.
Bach, Johann Sebastian. 441.
Bacon, Francis, von Verulam. 37. 135. 136.
463- 594-
— , Roger. 31.
Baden, Gewerbeschulen in. 246.
Baer, Karl v. 326.
Baeyer, Generalleutnant Joseph Jakob. 630.
Bankgeschäft. 23.
Basedow, Johann Bernhard, 139. 140.
Bauernbefreiung. 44.
Bauernfeld, Eduard von, 476.
Bauernkunst. 403.
Baugewerbeschulen, 260.
Bayern, Neuordnung des höheren Knaben-
schulwesens in. 151.
— , Pädagogisch - didaktische Kurse in. 166.
Bayles, Pierre, Dictionnaire historique et cri-
tique. 534.
Bazoche, Farcen der. 456.
Beaumarchais, P.- Auguste Carron de. 467.
Beaux-Arts, Ecole des. 353.
Beck, Georg. 527.
Beecher-Stowes, Harriet, Onkel Toms Hütte.
534-
Beethoven, Ludwig van. 442 f, 444.
Bekanntmachungen, Obrigkeitliche. 490.
Belliete, Jean. 457,
Bellifortis des Konrad Kyeser von Eichstädt.
527-
Benedikts Regel. 524.
Berechtigungen der höheren Lehranstalten.
160. 161. 167. 168. 342.
Bergbau. 11.
Bergbauschulen. 247.
Berichterstattung der Zeitungen. 496.
Register.
653
Berlin, Bibliotheken in. 551. 558. 563. 640.
— , Kgl. Schauspielhaus in. 474.
— , Universität in. 31g.
Bemhcim, Ernst. 296.
Bemoulli, Johann. 314. 322.
Beruf, seine Bedeutung für den Menschen.
194.
Berufsbildung. 56.
Berufsgruppen. 65.
Berufswahl der P'rau. 195.
Berzelius, Johann Jakob Frhr. von. 321. 325.
Bessarion. 532.
Bessel, Friedrich Wilhelm. 320.
Bethmann-Hollwcg, Preuß. Staatsminister
Thcobald v. 157.
Bethnal Green -Museum in London. 366.
Betriebe, Staatliche und städtische. 46.
Bibelkritik. 299.
Bibelübersetzung Luthers. 533.
Bibliographie. 535. 643.
Bibliotheca, Ambrosiana Angelica, Bodleiana.
55°-
— Augusta in Wolfenbüttel. 14.
— Marciana. 547.
— Palatina in Heidelberg. 544.
Bibliothek, Kurfürstliche in Berlin. 551.
— , Königliche in Berlin. '558. 563.
— , Universitäts- in Berlin. 563.
— des Britischen Museums. 555. 569. 571.
— und Lesehalle, Öffenüiche, Heimannsche
in Berlin. 601.
Bibliothekar. 560. 564. 570. 572. '583.
Bibliotheken. *539ff. 600. 638.
— Bedeutung der, für die Erhaltung, und
Wirkung der schrifüichen Überlieferung
542.
— als Bildungsanstalten. 544.
Entstehung und Entwicklung der. 546 ff.
Deutsche, im 17. Jahrhundert. 551.
— im 18. Jahrhundert. 555.
— Reorganisation im 19. Jahrhundert.
562.
Aufschwung der, im 19. Jahrhundert.
567.
Öffenüiche, im Imperium Romanum. 547.
Öffentlichkeit der, im 15. und 16. Jahr-
hundert. 549.
Ausleihe- und Präsenz-. 640.
Fürstliche. 553. 558. 567.
Instituts-. 579.
Universitäts-. 552. 557.
Volks-. 587.
Wander-. 588.
Anschaffungsfonds der. 573. 576. 579.
Auskunftsstelle der. 571. 643.
Beamte der. 641.
Dienststunden der. 584.
Haushalt der, in der Gegenwart. 569.
Kataloge der. 642.
Bibliotheken, Raumproblem der. 582.
— , Zukunftsaufgaben der. 572 ff.
Bibliotheksgebäude. 568.
Bibliothekstechnik. 563.
Biblioth^que Mazarine. 550.
— du Roi in Paris. 555.
Bilderhandschriften. 524.
Bildung, Begriff der. 54 f.
— Mittel der. 60.
— , Sozialer und nationaler Charakter der. 59.
— , Ästhetische. 64.
— , — in der Volksschule. 1 10.
— , Deutsche. 211.
— , Elementar-. 597.
— , Hochschul-. 609.
— , Humanistische und reale, im Kampfe um
die Gleichberechtigung. 151.
— , Mittelschul-. 607.
— , Ritterliche. 125.
— , Zeitschrift für weibliche. 183.
Bildungsgang der höheren Mädchenschule.
188.
Bildungsstoffe der Mädchenschule. 209. 213.
Bildungsvereine. 599.
Bildungswesen, seine Faktoren. 57.
— , Öffentliches, sein schematischer Aufbau
I für gegenwärtige Kulturverhältnisse. 64.
— , seine Verselbständigung gegenüber dem
Staat. 80 f.
' Bildungsziel der höheren Mädchenschide. 177.
180.
Biologie, Bildungswert der. 62 f.
I Biologische Gruppen in den naturwissen-
schaftlichen Museen. 380.
Biot-Savartsches Gesetz. 322.
Bisticci, Vespasiano da. 531.
Blaeuw, Guilielmus. 553.
Blumenbacli, Johann Friedrich. 325.
Boccaccio, Giovanni. 458. 548.
Boden, Der, als Kulturprodukt. 3.
Bodenbeschaffenheit, ICinfluß der, auf Wirt-
schaftsleben und Kulturentwicklung. 1 1 f.
Bodleiana Bibliotheca. 550.
' Böttiger, Karl August. 557.
' Boineburg, Philipp Wilhelm Graf v. 556.
BoUandisten. 552.
Bonitz, Hermann. 156. 158. 160.
Bonn, Universität. 320.
— , Bibliothek der Universität. 568.
Borsig, August. 251.
Botanik. 41.
1 — , Universitätsunterricht in der. 325.
1 Botanische Gärten. 325. 326. 632. 635.
Brahmanismus. 22.
Brentel, Friedrich. 527.
Breslau, Bibliothek der Universität. 562.
Breviarium Grimani. 526.
British Museum, Bibliothek des. 555. 569.
571-
654
Register.
Bruno, Giordano. 36. 459.
Buch, sein Wesen und seine ersten Aufgaben.
♦518. 645.
— , seine Bedeutung für die Kultur. 541.
— , sein Verlag im Altertum. 521.
— , Das älteste erhaltene. 523.
— im Mittelalter. 523.
— im Rechtswesen. 527.
— , sein Verhältnis zur Zeitung und Zeit-
schrift. *5i2. 605. 645 f.
— , seine Rolle im Hunianistenzeitalter. 53of.
— in der Reformationszeit. 532.
— in der Gegenwart. 534.
— als Kunstwerk. 535.
Buch, Leopold v. 324.
Buchdrama. 451. 459.
Buchdruck. 34. *53i.
Bucher, Lothar. 395. 397.
Buchhandel im Altertum. 522.
— im Humanistenzeitalter. 532.
— in der Gegenwart. 647.
Buchillustration. 535.
Buchmalerei. 524. 525. 527.
Buchrolle. 521.
Buchwesen, Beziehung zur Religion. 520.
— im Mittelalter. 523.
Buddhismus. 21.
Bücher, Karl. 430.
Bücher-Ausleihung. 571.
Bücherbestellung in den Bibliotheken. 587.
,, Bücherei, Deutsche". 603.
Bücherverbrennung. 542.
Bühne, Mysterien-. 454.
— , Verhältnis von, und Drama. 457. 458.
Bülowsche Bibliothek. 545.
Bürgerschule. 67.
— , Höhere. 157. 159.
Buitenzorg, Botanischer Garten in. 632.
Bunsen, Robert Wilhelm. 321. 325.
Burgtheater, Wiener. 467. 472. 473. '474.
Bury, Richard de. 528. 530. 548.
Byzanz als Sitz der Buchillustration. 524.
c.
Calderon de la Barca, Pedro. 463.
Capella, Marcianus. 312.
Carnegie Institution. 630.
Carnot, Sadi. 323. 334.
Cassagnac, Paul de. 502.
Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius. 524.
Catholicon. 532.
Cauchy, Augustin Louis. 322.
Cauer, Minna. 188.
— , Paul. 161.
Cellini, Benvenuto. 349.
Cervantes, Miguel de. 534. 541.
Challenger-Expedition. 327.
Champs Elys^es. 399. 416.
Charakterzeichnung im Drama. 460.
Charles, Jacques Alexandre Cesar. 596.
Chateaubriand, Frangois Rend Vicomte de.
492.
Chemie. 37. 41.
— , Bildungswert der. 63.
— , Universitätsunterricht in der. 321. 336.
Chemische Industrie Deutschlands, ihre Sam-
melausstellung auf der Pariser Weltaus-
stellung 1900. 423.
Chemisches Museum zu Charlottenburg. 424.
China. 8. 21. 400.
— , Älteste Zeitung in. 483.
Chinesische Schrift. 518.
Chodowiecki, Daniel. 535.
Choral, Der evangelische. 437.
Chorgesang. 449.
Christentum. 28 f.
Chrysostomus, Johannes. 522.
Clausius, Rudolf 323. 334.
Clebsch, Rudolf Friedrich Alfred. 320.
Clemenceau, Eugene. 502.
Clovio, Julio. 527.
Cluny, Hotel de. 357.
Coeducation. 103. 190. 206. 230.
Colbert, Jean Baptiste. 351. 353.
Colleges, Englische. 621.
CoUegium Carolinuni in Braunschweig. 316.
Colombine. 461.
Columbus, Christoph. 34.
Columbus' Karavellen. 425.
Comenius, Amos. 91. *I36. 171.
commedia dell'arte. 460. 462.
comoedia erudita in Italien. 458. 460.
Comte, Auguste. 594.
Confucianismus. 21.
Conservatoire national des Arts et Metiers in
Paris. 249. 353. 359.
Corbizzi, Littifredi dei. 527.
Corneille, Pierre. 466.
Corpus inscriptionum graecarum. 626.
— — latinarum. 626.
Cours complementaires in Frankreich. 265.
Crabbe, George. 645.
Cuvier, George L^op. Chr. Frdd. Dag. Baron
de. 325. 374.
Cyprian. 558.
Cyriacus von Ancona. 348.
D.
Dänemark, Fach- und Fortbildungsschiüwesen
in. 267.
Daily Courant. 489.
Dalberg, Carl Frhr. von. 472.
Dampfmaschine, Wattsche. 34. 39.
Dante .-Mighieri. 458. 524. 526. 529. 533.
Darstellung, Erziehung zur Kunst der, in der
höheren Mädchenschule. 215.
Register.
655
Darwin, Charles. 326. 374. 378.
Dawison, Bogumil. 473.
Denken der Krau. 203.
Denkschrift, Bcrhner, des Vereins fiir höhere
Töchterschulen. 182.
— , Weimarer, über die höhere Mädchen-
schule. 177 ff.
Depeschendienst der Zeitungen. 497.
Deputationen, Wissenschaftliche, in Preußen.
149.
Desaguilier. 316. 344.
Descartes, Rene. 135. 136. 249. 313. 594. 595.
Dessoir, Ludwig. 474.
Dettmer, Eugen. 474.
Deutschland, Entwicklung der Musik in. 439.
— Gewcrbeausstellungen in. 393.
Deutschunterricht in der höheren Mädchen-
schule. 224.
— in der Volksschule, iio.
Devrient, Eduard. 473.
— , Emil. 473. 474.
— , Ludwig. 473.
— , Otto. 454.
Dewey, Melvil. 587.
„Diarium, Wienerisches". 489.
Dichtung, Nationale, am Ausgang des Mittel-
alters. 3 1 .
Diderot, Denis. 467. 534.
Dienststunden der Bibliotheken. 584.
Diestenvcg, Adolf. 97.
Differentialrechnung. 313.
Dingclstedt, Franz. 473.
Diptychon. 522.
Dirichlct, P. Lejeune. 320.
Disputationen. 298.
Dissertationen, Inaugural-. 295. 612. •613.
Döring, Theodor. 473.
Dohm, Anton. 632.
Doktordissertationen. 295. 612. •613.
Doktorwürde. 614.
Domschulen. 77. 124. 125.
Dombuschland, .Südafrikanisches. 12.
Drama, Weltliches. 456.
— , Verbindung des modernen mit dem anti-
ken, durch die Renaissance. 457.
— , Das regelmäßige, in Deutschland im 1 8. Jahr-
hundert. 469.
Dreisilbenkanon, Chinesischer. 519.
Dreyer, Max. 477.
Dürer, Albrecht. 535.
Dumas, Alexandre. 467. 501.
Dumreicher, Armand f'reiherr von. 250. 263.
Dur-Moll System. 431. 435.
Düse, Eleonora. 478.
Dziatzko, Karl. 570.
Ebert, Friedrich Adolf. 557.
Ecole des Beaux-Arts. 353.
Ecole polytechnique zu Paris. 330.
Ehe. 195. 196. 197.
Eichhorn, Prcuß. Kultusminister Johann Albert
Friedrich v. 155.
Eiffelturm. 396. 405. 416.
Eilers, Gerd. 155.
Einheitsschule. 158. 160. 169. 170. 608. 609.
Einjährigenberechtigung. 154. 158. 159. 163.
Einzeldrucke. 485.
Eisen. 40.
Eisenbahnen. 393.
Eisenbahnlinie, Erste deutsche. 251.
Ekhof, Konrad. 470. 471.
Ekkehard von St. Gallen. 125.
Elektrizitätslehre. 37. 40.
Elektroncntheorie. 323.
Elektrotechnik, Laboratorium für. 335.
Ehot, Charies William. 582.
Eisner, Jakob. 527.
Emiha Galotti. 470.
Empfindungen der Frau. 202.
Energetik. 323.
Energie, Erhaltung der. 41. 322.
England, Gestaltung der Universitäten in. 317.
— , Gewerbeschulwesen in. 249. 268.
— , Verstaatlichung von Kunstbesitz in. 352.
— , Volksschule in. 95.
— , Ausgang des modernen Zeitungswesens
von. 491.
Englisch im GjTnnasium. 167.
— als Bildungsstoff der höheren Mädchen-
schule. 211.
— in der Realschule. 154.
Enquete der Zeitungen. 504.
Entwicklung, Begriff der. 17.
— , Politische und soziale, des 19. Jahrhun-
derts. 43 f.
Entwicklungsgang der Organismen, Beispiele
vom. 380.
Enzyklopädien. 534. '647.
Erasmus von Rotterdam. 129. 458. 533.
Erdmessung, Internationale. 630. 632.
Erdrinde, Werdegang der, Darstellung vom,
im Schaumuscum. 380.
Erklärung, Heidelberger, für das Gymnasium.
162.
Emesti, Johann August. 146.
Erwerbsgeist als Kulturfaktor. 4. 8.
Erziehcrinberuf. 201.
Erziehung der Kinder im Hause. 197.
— , Gemeinsame, der Geschlechter. 103.
Essay. 605.
Este, Herkules von. 459.
Ethik, Leistungen der Griechen für die. 28.
— , Aufgabe der, im akademischen Unterricht.
291.
Ethische Kultur, Lesehalle der Deutschen
Gesellschaft für. 601.
Euklcides, Elemente des. 533.
Register.
656
Euler, Leonhard. 314- 315- 322-
Euripides. 451. 458-
Europa, Kultur von. 25.
Eusebius von Cäsarea. 523.
Exner, Adolf. 156.
Exotische Erzeugnisse. 398.
Eyck, Brüder Van. 526.
F.
Fachgruppen im Unterricht. 227.
Fachschulen. 70.
— in Österreich. 264.
— Kleingewerbliche. 248.
Fachschulwesen, Gewerbliches, in Deutschland.
*259. 276.
— Kaufmännisches, in Deutschland. 262.
— Landwirtschafdiches , in Deutschland.
261 f.
— für Mädchen in Deutschland. 263 f.
Fach- und Fortbildungsschulwesen in der
Schweiz, Dänemark, Rußland. 267 ff.
— in Amerika. 269 f.
Fakultäten der Universitäten. 291 fi". 618.
Falk, Preuß. Kultusminister Adalbert. 158.
Fallgesetze. 37.
Familie als Faktor des Bildungswesens 58.
76.
— , Stellung der, zur Volksschule. 98.
Familienleben. 196. 198. 199.
Faraday, Michael. 322. 335.
Farcen. 456.
Fastnachtspiele. 456. 468.
Felbiger, Ignaz v. 95.
Fellowship in England. 317.
Feltre, Vittorino da. 127.
Ferienkurse der Universitäten. 614.
Festspielhaus. 479.
Feudalwesen. 30.
Feuerwaften. 34.
Feuilleton der Zeitungen. 501. 605.
— , Namennennung des Verfassers im. 501.
Fibeln. 544.
Fichte, Johann Gottlieb. 42. 299.
Fichtner, Karl Albrecht. 474-
Finanzwissenschaft. 330.
Fixsternaufnahmen. 631.
Fleck, Johann Friedrich Ferdinand. 474.
„Fliegendes Blatt". 485. 486.
Florentiner, Ausstattungseffekte der Bühne
der. 455.
Florenz als Mittelpunkt der Wissenschaft. 544.
Folklore. 634.
Folz, Hans. 456.
Fondation Thiers. 617.
Forschung, Stellung der Reformation zur
freien. 36.
Forstwirtschaftsschulen. 330.
Fortbildungskurse der Universitäten. 614.
Fortbildungsschulen. 70. 80. 116. 246.
— für Mädchen. 257 ff.
— , Notwendigkeit des Ausbaus der, im Sinne
der staatsbürgerlichen Erziehung. 27g.
— , Verhältnis der, zur Meisterlehre. 274.
— in Österreich. 264.
Fortbildungsschulwesen , Gewerbliches , in
Deutschland. 252. 271.
— , Kaufmännisches, in Deutschland. 254.
— , Landwirtschafthches, in Deutschland. 255.
275.
— für Mädchen in Deutschland. »257. 272.
275.
Fortbildungswesen. 597 f.
Foucquet, Jean. 527.
Fourier, Jean Baptiste Jos. Baron. 322.
Francke, August Hermann. 139.
Franckendorfer, Konrad. 527.
Franckesche Stiftungen in Halle. 92.
Frankreich, Errichtung höherer technischer
Fachschulen in. 317.
— Gewerbeausstellungen in. 392.
— , Gewerbeschulwesen in. 249.
— , Staadiche Kunst- und Gewerbepolitik in.
351-
— , Berechtigungen der höhern Schule m.
168.
— , Klassische Tragödie und Komödie in.
466 f.
— , Volksschule in. 95.
Franz I. von Frankreich. 349.
— , Lied auf. 486.
Französisch in der Realschule. 154.
— als Bildungsstof! der höheren Mädchen-
schule. 211.
Frau, Berufe der. 200.
— , Berufswahl der. 195.
— , Betätigungsgebiete der. 195.
— , Empfindungen der. 202 f.
— , Intellektuelle Eigenart der. 202.
— , Kraft und Recht der, zur Persönlichkeit.
194.
— , Universitätsstudium der. 219.
Frauen im Bibliotheksdienst. 642.
Frauenbewegung. 186. 190. 191.
Frauenverein, Allgemeiner deutscher. 258.
Fraunhofer, Joseph von. 322. 323. 331.
Freihandel. 47.
— in Preußen. 251.
Freiheit, Akademische. 620.
Freiluftmuseen. 366.
Freizügigkeit, Akademische. 620.
Fresnel, Augustin Jean. 322.
Frick, Otto. 160. 166.
Friedrich der Große. 545. 558. 559. 622.
— , seine Stellung zur Schule. 93. 142- 244-
245.
— , — zur Berliner Akademie. 315.
— , — zur dramatischen Kunst. 470.
Register.
657
Friedrich der Große, seine Stellung zu den
Zeitungen. 489.
Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst. 551.
Friedrich Wilhelm III. 354.
Führungen in den Museen. 365. 382. 600.
637-
Fürsorge, Ausdehnung der öffentlichen, im
Erziehungswesen. 80.
Fürsorgeerziehung. 80.
Fürstliche Bibliotheken. 553.
Fulda, Klosterbibliothek von. 542. 547.
Fulda, Ludwig. 477.
„Gänsebuch". 527.
Gärten, Botanische. 325. 326. 632. 635.
— , Zoologische. 381. 635. 636.
Galilei, Galileo. 36. 37. 135. 314.
Galton, Francis. 16.
Galvani, Luigi. 610.
„Gassenhawerlin". 437.
GauB, Karl Friedrich. 318. 320. 322. 333.
337- 631.
gazettanti. 484.
Gedächtnis der Frau. 203.
Gedicke, Friedrich. 143. 153.
Gefühlsvorgänge im weiblichen Geiste. 204.
Geisteswissenschaften, Bedeutung der. 28g f.
— , Gegenstand und Methode der, und Unter-
schied von den Naturwissenschaften 284 ff.
— , Gliederung der. 286 ff.
— , Studium der, auf den deutschen Schulen
und Universitäten. 290.
— , Geschichtliche Entwicklung des Studien-
betriebs in den. 297 f.
Geistliche, ihre Beziehungen zu den Schau-
spielen. 452. 454.
Geldwirtschaft. 23. 33.
Gelehrtenschule. 79.
Gemäldegalerieen. 354.
Gemeinde, Stellung der, zur Volksschule. 99.
Gemeinschaftsleben der Kinder, Einfluß der
Volksschule auf das. 105.
General- Landschulreglement Friedrichs des
Großen. 93.
Genie, seine Isoliertheit. 16.
Geodäsie. 333.
Geographieunterricht. 62. iio. 159.
Geologie. 41.
— , Wissenschafdiche Bedeutung der. 324.
Geometrie. 26. 313.
— , Darstellende. 333.
Georg IL von Sachsen-Meiningen. 478.
Germanen als Staatengründer im Mittelalter.
30.
Gesangunterricht. Iio. 448.
Geschäftsanzeigen der Zeitungen. 490. 504.
Geschichte, Philosophie der. 299.
Geschichtsunterricht. 61. 109. 159.
DiK Kultur dbk Gkgbhwart. 1. 1.
Geschichtsunterricht in der höheren Mädchen-
schule. 225.
Geschichtsvereine. 357.
Geschichtswissenschaft. 42 f.
Gesellschaft als Faktor des Bildungswesens.
5- 57-
Gesellschaften, Gelehrte. 37.
Gesner, Conrad. 372.
— , Joh. Mathias. 145. 556. 560. 576.
Gewerbeausstellungen. 392.
Gewerbefreiheit in Preußen. 251.
Gewerbeordnung für das Deutsche Reich.
252. 253.
Gewerbeschulen in Deutschland und Öster-
reich. 247. 250. 252. 263. 331.
— in Baden und Württemberg. 246. 248.
— in Preußen. 248.
— in England. 250.
— in Frankreich. 249. 264. 265.
Gewerbevercine in Deutschland. 247.
Gewerbliche Berufe der Frau. 201.
Giocasa, La. Erziehungsanstalt. 127.
Gipssammlungen. 355.
Glockendon, Nicolas und .»Mbert. 527.
Glossatoren. 528.
Gluck, Christoph Ritter v. 441.
Glyptothek, Münchener. 355.
Gnostizismus. 29.
Gobelins, Manufacture des, in Paris. 391.
Goethe, Johann Wolfgang. 84. 147. 171.475.
541. 557- 584- 604-
— , seine Regeln für die Schauspielkunst. 472.
i Göttingen, L'niversität. 318.
! — , — Bedeutung auf dem Gebiete der an-
gewandten Mathematik und Physik. 337.
— , Bibliothek der Univ. 545. *S55. 577.
Goßler, Preuß. Kultusminister Gustav v. 158.
162.
Gotha, Herzogl. Bibliothek in. 558.
— , Hoftheater in. 471.
Gottsched, Johann Christoph. 469.
Gould, Benjamin Apthorp. 631.
Gradmessung, Europäische. 630.
Graevius, Johann Georg. 558.
Graphische Methoden. 333.
Grashoff, . Franz. 331. 334.
s'Gravesandes Physices elementa. 316.
Gravitation. 36.
I Green, George. 322.
Griechenland, W'issenschaftliche Korpora-
tionen in. 593.
Griechentum, seine Bedeutung für die Kultur.
25-
— , seine Musikkultur. 432.
. Griechische Sprache , ihre Schätzung im
j Philanthropinismus. 140.
— , Herders Urteil über die. 147.
— , Stundenzahl für die, am preußischen Gym-
I nasium. 150.
42
658
Register.
Grillparzer, Franz. 473. 475. 564.
Grimm, Jakob. 545.
— , Brüder. 634.
Grüninger, Joliann. 535.
Grundeigentum, Privates. 32.
Gruppenausstellungen. 422.
Gryphius, Andreas. 46g.
Guerike, Otto von. 316. 553.
Gutenberg, Johann. 34. 531.
Gymnasien, Griechische. 76.
Gymnasium. 68. 319.
^ Humanistisches. 608.
— — , Heidelberger Erklärung für das. 162.
— , Weltfremdheit des, zu Anfang des 19.
Jahrhunderts. 152.
— , Johann Sturms protestantisches. 131.
— , Joachimsthalsches und Friedrich -Werder-
sches. 143.
H.
Haeckel, Ernst. 83. 289.
Händel, Georg Friedrich. 440.
Haeseler, Generalfeldmarschall Gottlieb Graf.
598.
Hagedom, Friedrich v. 146.
Haizinger, Amalie. 474.
Halbbildung. 57.
Halle, Universität. 318.
— , Bibliothek der Universität. 557.
Haller, Albrecht v. 318.
Hamburg, Nationaltheater in. 470. 472.
Hamilton, Sir William Rowan. 322.
Hamlet. 464. 465.
Hammurabi. 23.
Handarbeitsunterricht, in. 228.
Handelshochschulen. 255. 265.
Handelspolitik, Merkantilistische. 35.
Handelstädte. 33.
Handschriften. 5238'.
— -Fabriken. 527.
— -Malerei. 524. 525. 526.
— , Verbreitungsfähigkeit der, im Mittelalter.
529.
Verleihung. 571.
Handwerkerverein, Berliner. 599.
Handwerksschulen, Initiative einzelner Pri-
vater, später neuer beruflicher Verbände,
zur Errichtung von. 246.
— , Staatliche, in Deutschland. 252.
— , Allgemeine, in Österreich. 264.
Hanisius, David. 552.
Hanswurst. 463. 469.
Harlekin. 461.
Harmonie. 430. 432.
Harnack, Adolf. 568.
Harnisch, Wilhelm. 97.
Hartwig, Otto. 570.
Harvey, William. 373.
Haug. 325.
Haupt- und Staatsaktionen. 469.
Hauptmann, Gerhart. 477.
Hausfrau. 196 ff.
Haushaltungs- und Kochkurse. 259.
Haushaltungsunterricht, in.
Hauslehrer. 75.
Hausmusik. 446. 449.
Haustiere. 12.
Hauswirtschaftsunterricht in der höheren
Mädchenschule. 236.
Hazehus, Artur. 367.
Hebräer, Musik der. 432.
Hecker, Johann Julius. 144. 154.
Hedwig, Herzogin, von Schwaben. 125.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 42. 299. 594.
Hegius, Alexander. 129.
Heidelberg, Universität und Bibliotheca Pala-
tina in. 544.
Heiligenlegenden als geistliches Spiel. 452.
Heliand. 124.
Helmholtz, Hermann von. 320. 322. 328. 610.
Hendrichs, Hermann. 474.
Herbarien. 636.
Herbart, Johann Friedrich. 42. 97. 171.
Herder, Johann Gottfried. 55. 145. 146. *I47.
170. 299. 557.
Heron von Alexandria. 26. 27.
Herrad von Landsberg. 525.
Hertz, Heinrich. 320. 322. 335. 610.
Heydt, Preuß. Handelsminister Aug. Frhr. von
der. 248.
Heyne, Christian Gotdob. 146. 299. 556. 562.
Hieroglyphen. 518.
Hieronymus. 523. 528.
Hilfsschulen. 67. 103. 115.
Himmelsphotographie. 631.
Hipparch. 24. 27.
Hirn, Gustav Adolf. 322. 334.
Hirsching. 561.
Historien, Wahrhaftige. 544.
Historismus. 304.
Hobbes, Thomas. 594.
Hochschulbildung. 609.
Hochschule, Vorbildung für die. 338 ff.
— , Weiterbildung nach der. 342.
Hochschulen, Technische. 69. 332. 337 f.
Hochschulkurse, Volkstümliche. 73. 343.
Höfe, Stellung der deutschen, zur Musik. 44U
Höflichkeit, Erziehung zur. in.
Hörigkeit. 32.
Hofmeister. 326.
Holberg, Ludwig. *468. 469.
Holzschnitt, seine Verwendung zum Buch-
schmuck. 535.
Homburg, Prinz von. 475.
Hornemann. 160.
Hortus deliciarum. 525.
Hrabanus Maurus. 124. 542.
Hroswitha von Gandersheim. 124. 451.
Register.
659
Humanismus. 530.
— als Weltanschauung. 63.
— als Neubeieber der Schulen. 127.
— , Bedeutung des, für die Entwicklung der
Bibliotheken. 548.
— , Förderung des, durch den Buchdruck.
532-
Humanitätsbildung. 79.
Humboldt, Alexander v. 324. 374. 631.
— , Wilhelm V. 149. 319. 354. 545. 559.
562.
— -Akademie. 599.
Hydepark. 395.
Hygiene. 328.
I.
Ibsen, Henrik. 468. 477.
Idealismus, Deutscher. 42.
Ideographisches Prinzip der Gliederung der
Wissenschaften. 288.
Iffland, August Wilhelm. 474.
Imperialismus. 48.
Inde.x librorum prohibitorum. 534.
Indien, Kultur von. 22.
Induktion, Ratkes Eintreten für, im Unter-
richt. 136.
Industrieschulen s. Gewerbeschulen.
— in Böhmen. 246.
Infinitesimalrechnung. 36. 313.
Ingenieurwissenschaften, Erste Vorlesung über.
316.
— an den Technischen Hochschulen. 334.
Inkareich. 20.
Innungen in Deutschland. 247.
Inserate in den Zeitungen. 491.
Institut de P'rance. 623.
Institute, Archäologische. 617. 632.
— , Botanische. 326.
— , Internationale wissenschaftliche. 630.
— , Physikalische. 323.
— der Universitäten. 613.
— , Wissenschaftliche Einzel-. 618.
— , Zoologische. 326.
Institutionen, Öffentliche. 3.
Institutsbibliotheken. 579.
Instrumentalmusik. 438. 439.
Integralrechnung. 313.
Intelligenzblätter. 490.
Interview. 504.
Italien, Entwicklung der Musik in. 440.
— , Bühnenausstattung in. 455.
Jacobi, Moritz Hermann v. 320.
Jaeger, Oscar. 164.
Jagd. 12.
Jahresberichte der einzelnen Wissenschaften.
643-
Jahreszeiten, Wechsel der. 11.
Jahrmärkte, verglichen mit Ausstellungen.
427-
Japan. 8. 21. 404.
Jena, Bibliothek der Universität. 557.
Jesuitenorden. 38.
Jesuitenschulen. 60. 133.
Jesus im geisüichen Spiel. 452.
Josef II. 471. 489.
Joule, James Prescott. 322. 335.
Journal de Paris. 489.
— des Savants. 491.
Journalistik als Beruf. 493.
— , Bedeutung der. 513.
Judas Ischarioth im geistlichen Spiel. 453.
Jugendschriften, Einführung der Frau in die
Literatur der. 235.
Jungfrau von Orleans, französisches Schau-
spiel. 456.
JuniusBriefe. 492. 534.
Jurisprudenz, Akademischer Unterricht in
der. 291. 293 f.
— , Systematische Stellung der, in der Wissen-
schaft. 292.
K.
Kabinette, Physikalische. 316.
Kadettenhäuser. 72.
Kästner, Abraham Gotthelf. 318.
Kaiser Friedrich-Museum in Berlin. 361.
Kalender. 544.
Kamerahvissenschaften. 330.
Kant, Immanuel. 171. 299. 318. 533. 591.
Kantoreien. 439.
Kapitalismus. 35. 45.
Karavellen des Columbus. 425.
Karl der Große. 77. 89.
— , seine Schulreform. 123.
Karl Eugen von Württemberg. 145.
Karlsschule, Hohe. 145.
Kartell der .A.kademieen der Gegenwart. 628.
Katalog, .Mphabctischer und systematischer,
der Bibliotheken. 556. 559. 563. 570. 573.
642.
— , Internationaler, der naturwissenschaft-
lichen Literatur. 535. 644.
Katechumenenunterricht. 77.
Kathedralschulcn. 124.
Keilschrift. 518.
Kelvin, Lord. 323.
Kepler, Johannes. 36. 135. 316.
Kindergärten. 80. 236.
Kindermann, Ferdinand. 246.
Kinder-Pflege und -Erziehung. 197.
— als Unterrichtsstoff der höheren Mädchen-
schule. 218. 236.
Kingpao. 483.
Kirche, Christliche, als Kulturfaktor. 5.
— , Katholische. 29. 48.
— als Schulbegründer. 76. 89.
42*
66o
Register.
Kirche als Herrin in der Schule. 122.
, Stellung der, zur Volksschule. 98 f. 107.
— , — , zur Musik. 434. 436.
— , — , zum Theater. 453.
Kirchenväter, Werke der. 531.
Kircher, Anastasius. 314.
Kirchhoff, Gustav. 320. 322. 323.
Klaproth, Martin Heinrich. 325.
Kleist, Heinrich von. 475.
Klerikerbildung. 77.
Klerus, Katholischer. 31.
Klima, sein Einfluß auf die Kultur. 10.
Klopstock, Friedrich Gottlieb. 146.
Klosterbibliotheken. 547.
Klosterschulen. 77. 124. 125.
Klöster. 593.
Koch- und Haushaltungskurse. 259.
Kode.K. *522. 543.
— , Einfluß der Bevorzugung des, auf die
Erhaltung der antiken Literatur. 523.
Köpke, G. 170.
Kohlen. 40.
Kolonialpolitik. 35.
Kolumne der Buchrolle. 521. 523.
Komik, Bedeutung der, für das Schauspiel.
456.
Komödie der Renaissance. 459.
— , Klassische französische. 466.
Kompaß. 34.
Konferenz, August-, Berliner, von Mädchen-
schullehrern. 183.
Kongregationen, Marianische. 133.
Kongresse, Wissenschaftliche. 633.
__ _, in Verbindung mit Ausstellungen.
426.
— , — Fach-. 624.
Kontrapunkt. 436.
Konzertwesen. 441.
Kopernikus, Nikolaus. 36. 313.
Korrespondenten der Zeitungen. 496.
Korrespondenz -Bureaux für Zeitungen. 498.
Korrespondenzorte der Zeitungen im 16. und
17. Jahrh. 484. 487.
Korrespondenzschulen, Amerikanische. 270.
Kraft, Gesetz von der Erhaltung der. 322.
Kreditwesen. 23.
Krieg, Dreißigjähriger, seine Bedeutung für
die Entwicklung der Volksschule. 91.
Kristallographie, Wissenschaftliche Behand-
lung der. 324.
Kristallpalast in London 395. 396. 397. 400.
413. 416.
Kronecker, Leopold. 320.
Kujundschik, Tontafeln von. 543.
Kultur, Begrift" der. i.
— , Äußere Einflüsse auf die. 10.
— , Entwicklung der. 14 f. *i().
— , Fortschritt der, durch äußere Übertragung
und Ausbreitung. 18.
Kultur, Güter und Produkte der. 3.
— , Verschiedene Seiten der. 2 ff.
— , Streben der, nach Überwindung der
Naturwiderstände. 13.
— , Triebkräfte der. 4 f. 9.
— , Vererbung der. 13 f.
— , Musikalische. 430 ff.
— , Wirtschaftliche. 32.
Kulturfähigkeit der Rassen, Verschiedene. 7. 16.
Kulturkampf. 49.
Kultus, Musik im christlichen. 434.
Kultusministerium, Selbständiges, in Preußen.
150.
Kunst, Ägyptische. 402.
— , Griechische. 28.
— , Mittelalterliche. 32.
— , Neuzeitliche. 39.
— , Orientalische. 24. 401.
— , des ig. Jahrhunderts. 43.
— , Bedeutung der, im Leben. 448.
— , Erziehung zur. 64.
— in den Arbeitervierteln der Großstadt. 365.
Kunstakademieen und Kunstschulen. 247.
Kunstausstellungen. 351. 360. 362. *39o. 407.
Kunsterziehung. 599.
— in der höheren Mädchenschule. 215.
Kunstformen der Architektur. 396.
Kunstgewerbe. 358. 360.
— , Unterricht für das, in Frankreich. 249. 266.
— — , in Österreich. 263. 264.
Kunstgewerbeausstellungen. 392.
Kunstgewerbemuseen. 358.
— , Wirkung der, auf die Industrie. 364.
Kunstgewerbeschulen. 359.
Kunstkammern. 349. 356. 358. 359.
Kunstmuseen. 637.
Kunstsammlungen. 347. 350. 351. 355.
Kunstvereine. 356 f.
Kunstwissenschaft. 348.
Kyeser, Konrad. 527.
L.
Labiche, Eugene Marie. 467.
Laboratorien, Chemische und physikalische.
321.
— , Technische. 334.
Ladenberg, Preuß. Kultusminister Adelbert
von. 155. 179.
Lagfrange, Joseph Louis. 315. 322. 332.
Lambert, Johann Heinrich. 315.
Lancaster, Ray. 382.
Landesausstellungen. 392. 407.
Landesgewerbeverein, Hessischer. 247
Landesmuseen. 368.
Landesschulrat. 81.
Landwirtschaft, beeinflußt durch den Wechsel
der Jahreszeiten. 11.
Landwirtschaftsschulen. 261. 330.
Register.
66 1
Lange, Friedrich. i6i.
— , Helene. 185.
Laplace, Pierre Simon Marquis de. 332.
La Roche, Karl v. 473. 474.
Latein als Kirchen- und Gelchrtcnsprache. 30.
— in der mittelalterlichen Schule. 90. 124.
— , Herders Urteil über das. 147.
— im Phil.anthropinismus. 140.
— , Stundenzahl für, am preußischen Gym-
nasium. 1 50.
— in der höheren Mädchenschule. 210. 219.
230.
— in der Realschule. 154.
Lateinschule. 69. 79.
Laube, Heinrich. 473. 474.
Lauber, Diebolt, in Hagenau. 527.
Lavoisier, Antoine Laurent. 37. 321.
Leeuwenhoek, .Antonius van. 373.
Leges barbarorum. 528.
Lehr- und Lemfreiheit an den Universitäten.
620.
Lehrer, Wirkung seiner Persönlichkeit. 105.
Lehrerbildung, Franckes Verdienst um die.
'39-
— im Philanlhropinimus. 141.
— unter Friedrich dem Großen. 143.
Lehrerinberuf. 201.
Lehrerinnen, Verwendung von, in der höheren
Mädchenschule. 178. 181. 183. 184. 186.
188. 190.
— , Staatliche .Ausbildungsanstalten für wissen-
schaftliche. 185. 186.
Lehrerinnenseminar. 237.
Lehrerinnenverein , .Mlgemeiner Deutscher.
189.
Lehrerprüfung. 149. 150. 165.
Lehrerstand, seine \'cr\veltlichung. 79.
— im Anfang des 19. Jahrhunderts. 149.
— der höheren Schulen, seine Vorbildung
und Stellung am Ende des 19. Jahrhunderts.
165.
— , seine Stellung zur Volksschule. 9g.
Lehrfächer der Volksschule. 104.
Lehrlingsfortbildungsschule. 274.
Lehrlingsschulcn, Gewerbliche, in Frankreich.
265.
Lehrpläne, Die VV'ieseschen. 156.
— , Die Bonitzschen. 158.
— von 1892. 163.
— von 1901. 167.
Lehrplan des preußischen Gymnasiums zu
Anfang des 19. Jahrhunderts. 150.
— des bayrischen (Gymnasiums zu /Vnfang
des 19. Jahrhunderts. 151.
— der höheren Mädchenschule. 223 f.
Lehrwerkstätten für Lehrlinge in Deutschland.
276.
— — in Frankreich. 276.
— für Gesellen und Meister. 278
36. 138. 313.
Leibniz, Gottfried Wilhelm.
315- 544- '553- 556. 569.
Leihverkehr der Bibliotheken untereinander.
571-
Leipzig, Bibliothek der Universität. 557.
Leo der Isaurier. 542.
Lese-Cammer der Königl. Bibliothek zu Berlin.
559-
Lesehallen. 600.
Leseunterricht in der X'olksschule. 108.
Lesezimmer der Bibliotheken. 569.
Lessing, Gotthold Ephraim. 299. '469. 472.
560.
Lette-Verein. 258.
Libertas, Bibliothek im Tempel der. 639.
Lichtenberg, Georg Christoph. 318.
Lichtwark, Adolf 364.
Liebig, Chemisches Unterrichtslaboratorium
von, in Gießen. 321. 328.
Lied. 439.
— s. auch Volkslied.
Lieder, Neue Schöne. 544.
Linne, Carl von. 37. 325. 373. 374.
List, Friedrich. 251.
Liszt, Franz von. 443.
Literatur, Griechische. 28.
— , Neuzeitliche. 38.
— des 19. Jahrhunderts. 43.
— , Populärwissenschafüiche, in Naturwissen-
schaft und Technik. 344.
Livre d' Heures der Anne de Bretagne. 527.
Lobeck, Christian August. 566.
Loewe, Ludwig. 474.
Logarithmentafeln. 313.
Logik. 26. 291.
Lokalmuseen. 367.
Lokalnachrichten der Zeitungen. 496.
London, Bibliothek des Britischen Museums
in. 555. 569. 571.
— , Weltausstellungen in. 249. 358. '394.
400. 413.
Lope Felix de Vega Carpio. 463.
Lorinser, Karl Ignaz. 151.
Louvre. 353.
Ludwig XII. von Frankreich. 486.
Ludwig XIV. von Frankreich. 351.
Luftballon. 596.
Lustspiel, Italienisches, der Renaissance. 459.
— , Modernes. 476.
— , Typen im europäischen, des 16. Jahr-
hunderts. 456.
Luther, .Martin. 36. 90. i29f 134. 437. 532.548.
Lyrik, Förderung der, durch die Musik. 435.
Lysippus. 348.
Lyzeen, Lehrstofl' an den französischen. 317.
M.
Mabillon, Jean. 551.
Machiavell, Niccolo. 459.
662
Register.
Madcrus, Joachim Johann. 546.
Mädchen-Gymnasium , -Realgymnasium und
-ObeiTcalschule. 230.
Mädchcnhandelsschule in München. 258.
Mädchenhort. 236.
Mädchenschule, Höhere. 175 ff.
— , Bestimmungen vom 31. Mai 1894, für die.
189.
— , Bildungsideal der. 207 f.
— , Bildungsstoffe der. 209 ff.
— , Kulturwert und Kulturaufgabe der. 190.
— , Lehrerkollegium der. 240.
— , Zahl der Schuljahre. 209.
— , \'orbildung für das häusUche Leben durch
die. 234.
— , Wissenschaftlicher Oberbau der. 229 f.
Mädchenschulen, Deutscher Verein von Diri-
genten und Lehrern der höheren. 183. 184.
magister principalis. 125.
— scholarum. 125.
Magnus, Heinrich Gustav. 324.
Major, Joh. David. 350. 373.
Malerei, Mittelalterliche. 32.
— , Neuzeitliche. 39.
Malus, E. L. 322.
Mandragola des Machiavell. 459. 460.
Manufacture des Gobelins in Paris. 391.
^ Royale des Meubles de la Couronne. 351.
353-
Marburg, Bibliothek der LTniversität. 557.
Marco Polo. 529.
Marduk. 24. 25.
Marienspiel. 452.
Marivau.x, Pierre de. 467.
Mark Aurel. 533.
Marsfeld in Paris. 392. 402.
Maschinen, Eindringen der, in die Technik.
330-
Maschinenindustrie. 39. 392.
Maschinenkonstruktion, Theorie der. 334.
Maschinenlaboratorien. 334.
Maß- und Gewichtsbureau, Internationales. 630.
Maßsystem, Babylonisches. 24.
Mathematik. 42.
— im Gymnasialunterricht. 148. 159.
— in der höheren Mädchenschule. 214. 226.
228.
— an den Universitäten. 336.
Mathematik-Unterricht. 62. 341.
Maupertuis, Pierre Louis Moreau de. 315.
Mauriner-Kongregation. 544.
Maxwell, James Clerk. 322. 323. 335.
Maya- Völker. 20. 518.
Mayer, Robert. 322. 323.
— , Tobias. 318.
Mazarine Bibliotheque. 550.
Mechanik, Technische. 26. 37.
Meckel, Johann Friedrich. 325.
Medici, Cosimo de'. 348. 531. 544. 547.
Medici, Lorenzo de'. 348.
Medizin. 42.
— , Naturwissenschaftliche Methoden in der.
327-
Mehrstimmigkeit in der Musik. 435.
Meierotto, Johann Heinrich Ludwig. 143.
Meinung Öffentliche. 491.
— — , ihr Verhältnis zur Presse. 508.
Meisterlehre. 274. 277.
Melanchthon, Philipp. 130. 134.
Melodie als Grundelement der Musik. 430.
431-
Menander. 45g.
Mendelejeff, Dimitrij. 594.
Mendelssohn-Bartholdy, Felix. 443.
Menschenrassen. 6.
Mensuralmusik. 436.
Menzel, Adolf. 535.
Mesopotamien als Sitz ältester Kultur. 19.
Messen, Kaufmännische. 390.
— , Vergleich der, mit Ausstellungen. 427.
Meßrelationen, Frankfurter. 487.
Metaphysik, Aufgabe der, im akademischen
Unterricht. 291.
Methode des Unterrichts in der höheren
Mädchenschule. 219 ff.
Methodologie der Wissenschaften. 594.
Mexiko. 20.
Meyer, L. 594.
Meyerbeer, Giacomo. 443.
Michaelis, Johann David. 556. 557.
Mikroskop. 373.
Milton, John. 136. 492.
Mineralogie , Wissenschaftliche Behandlung
der. 324.
Minna von Barnhelm. 470.
Minnesänger. 435.
Minnesängerhandschrift, Heidelberger. 527.
Mitarbeiter, Freie, der Zeitungen. 500.
Mitscherlich, Eilhard. 325.
Mittelschulbildung. 607.
Mittelschulen. 115.
— , Gleichstellung- der neunklassigen. 607.
Mittelstand, Freier bürgerlicher. 33.
Mönche als Abschreiber von Handschriften.
524-
Mohammedanismus. 22.
Mohl, Hugo v. 326.
— , Robert v. 560. 565. 566. 578. 579.
Moli^re, Jean-Baptiste Poquelin. '^467. 468.
469.
Mommsen, Theodor. 306. 614. 626.
Monatsschriften, Politische. 491.
Monge, Gaspard. 333.
Monodie. 438.
Montescjuieus Lettres persanes. 534.
Monumenta Germaniae historica. 626.
Moralitäten. 457.
Morphologie der Pflanzen. 326.
Register.
663
Morphologie der Tiere. 325.
Mozart, Wolfgang Amadeus. 441.
Müller, Johannes. 326. 328.
München, Hof- und Staatsbibliothek zu. 562.
Münchhausen, Freiherr Gerlach Adolf v. 545.
•556. 577-
Münzprägung. 23.
Muqadamat des Ibn Khaldan. 533.
Museen. 347 AT.
Wirkung der, auf die Kunst. 363.
Führungen in den. 365. 382. 600. 637.
Botanische. 636.
Freiluft-. 366.
Königliche, zu Berlin. 360.
Kunst-. 637.
Landes-. 368.
— , Bedeutung für das heranwachsende
Geschlecht. 382.
Lokal-. 367.
Naturwissenschaftliche. 372 ff.
— als Archive. 375.
— als Kortbildungsmittel. 376.
Provinzial-. 386.
Volks-. 366.
in den kleineren Städten. 355 f.
Zoologische. 637.
Museum, Der Name. 350.
Berliner. 354.
Bethnal (ircen-, in London. 366.
Das Britische. 3j2. 355.
Kaiser Friedrich-, in Berlin. 361. 362.
Pergamon-. 361.
Ruskin-, in Sheffield. 366.
South-Kcnsington-. 358. 398. 416.
Thermen-, in Rom. 361.
Chemisches, zu Charlottenburg. 424.
Museumsbeamte. 360.
musiche, nuove. 438.
Musik, Mittelalterliche. 32.
— , Neuzeitliche. 39.
— im Götterkultus. 431.
— , im christlichen Kultus. 434.
— , Weltliche. 437.
— , Entwicklung der. 432.
— , Grundlagen der. 430.
— , Metaphysik der. 431. 442.
— , Hellenische Philosophie der. 433.
— , Unterricht in der. 436.
— , Vervollkommnung der Technik der. 444.
— , Zukunft der. 445 ff.
Musikleben der Gegenwart. 441. 446.
Musiktheorie, System der griechischen. 432.
— , des Mittelalters. 435.
Mussato. 468.
Musschenbroeks Elementa physices. 3K.
316.
Mutterberuf. 196 f.
Muttersprache als Mittelpunkt des Unter-
richts. 60.
Muttersprache, Verfolgung der, durch den
Humanismus. 128.
— , Verhältnis zur, in der mittelalterlichen
Schule. 124.
— , — , in der Schule der Reformationszeit.
130-
— , Ratkes und Comenius' Eintreten für die.
136. 137-
— , Thomasius' Eintreten für die. 138.
— , Herders Ansicht über die Stellung der,
im Unterricht. 147.
— , Pflege der, in den Franckeschen Stif-
tungen. 139.
— , Unterricht in der. 108.
— , — , in der höheren Mädchenschule. 224.
— in der Komödie der Renaissance. 459.
Mysterien des Altertums. 29.
— , Mittelalterliche. 454. 456.
Mythologie, Babylonische. 24.
N.
„Nachrichten, Berlinische". 489.
Nachrichtendienst der Zeitungen. 495.
Nägeli, Karl Wilhelm von. 326. 636.
Napoleon I. 392.
Napoleon III. 399. 401.
Nathan der Weise. 470.
Nationalgefühl. 3.
Nationalität, Einfluß der, auf die Volksschule.
87.
Nationalismus, Überspannung des. 60.
Nationalmuseum, Germanisches, in Nürnberg.
357-
Nationaltheater, Deutsches, in Hamburg. 470.
— in Mannheim. 472.
Naturaliensammlungen. 349.
Naturlehre. 314.
Naturmensch in seiner Stellung zur Kultur. 8.
Naturrecht. 299. 300.
Naturwissenschaft, Exakte. 26. 40.
— , Beschreibende. 37.
Naturwissenschaften, Unterricht in den. 62.
110. 156. 159. 226. 341.
— , — , unterstützt durch naturwissenschaft-
liche Museen. 385.
— als Bildungsstoff der höheren Mädchen-
schule. 213.
Naturwissenschaftliche Museen, ihre Haupt-
typen. 383.
55'-
322- 332-
Naud^, Gabriel.
Navier, Ludwig.
Neger. 8.
Negritos. 7.
Neuber, Caroline.
Neuhumanismus.
Neumann, Franz.
— , Luise. 474.
Neuplatonismus.
469.
•145- 319-
320. 321. 322. 325.
29.
664
Register.
News writers. 484.
Newton, Isaac. 36. 37. 313. 321.
Nibelungenlied. 545.
Niccoli, Niccolo. 547.
Niethammer, Friedrich Immanuel. 151. 153.
154.
Nietzsche, Friedrich. 30x3. 301. 433. 442.
Nippur, Bibliothek von. 63S.
NischniNowgorod. 391.
Nobelstiftung. 626.
Nomenklatur, Naturwissenschaftliche. 373.
Nomiallehrplan der höheren Mädchenschule.
179. 184.
Normen des Lebens. 192.
Normwissenschaften. 287.
Nouvellistes. 4S4.
novellanti. 484.
Novellisten. 484.
o.
Oberlehrerinnen, X'orbildung der. 239.
Oberrealschule. 159. 160. 161. 164. 608. 609.
Oberschulkollegium, Preußisches. 143.
Obrigkeit, Stellung der weltlichen, zur Volks-
schule, go f.
Oerstedt, Hans Christian. 322.
Österreich, Gewerbeschulwesen in. 250.
— , Reformen des höheren Knabenschulwesens
in, im 19. Jahrhundert. 156. 160.
— , Versuche zur Hebung der technischen
Bildung im 18. Jahrhundert in. 244.
— , Volksschule in. 95.
Ohm, Georg Simon. 322. 323.
Oper. 440. 441. 459. 469. 470.
Optik. 37. 41.
Opus Palatinum. 313.
Organisation, Begriff der. 591.
Organisationspläne der Tiere. 379.
Organismen, Entwicklungsgang der, Beispiele
vom, im Schaumuseuni. 380.
Ostendorf, Julius. 160.
Pachomius. 524.
Paciuolos Summa. 313.
Pädagogik, s. Bildung, Mädchenschule, Schule,
Universitäten, Unterricht, Volksschule.
— als Unterrichtsstoff der höheren Mädchen-
schule. 218.
Palais de l'Industrie in Paris. 399. 405.
Paläontologie. 325.
Palimpsest. 523.
Panciroli, Guido. 550.
Pandektenhandschrift, Pisaner. 528.
Panizzi, Antonio. 565.
Pantalone. 461.
Papier, Verwendung von, für Handschriften
und Bücher. 529. 532.
Papin, Jean. 596.
Papsttum. 30.
Papyrus. *52o. 543.
— Prisse. 542.
,, Paradiese" der Perserkönige. 635.
Paris, Bibliotht;que Mazarine und Bibliothtique
du Roi in. 550. 555.
— , Weltausstellungen in. 399. 401. 405. 413.
— , Ausgangspunkt des europäischen Dramas
von. 456.
— , Mittelpunkt des Theaters in. 466.
Park der Intelligenz Wu-Wangs. 635.
Parlamentarismus, Einfluß des, auf die Zei-
tungen. 500.
— in England. 35.
Parodie. 437.
Pathelin, Advocat. 456. 459.
Pathologie. 328.
Paulsen, Friedrich. 161.
Paulus Diaconus. 123.
Paxton, Erbauer des Kristallpalastes. 395.
Pelagius. 528.
Pergament. *522. 529. 532. 543.
Pergamon, Bibliothek von. 639.
Pergamon-Museum, Berliner. 361.
PersönUchkeit, Streben nach und Wert der.
191. 193.
— , Kraft und Recht der Frau zur. 194.
Peruaner. 20.
Pestalozzi, Johann Heinrich. 55. 59. '96.
103. 170. 244.
Peter von Pisa. 123.
Petrarca, Francesco. 458. 530. 547.
Petrus Ramus. 313.
Pettenkofer, Max von. 328.
„Pflanzenreich, Das", Unternehmen der Ber-
liner Akademie. 626.
Pflege der Kinder im Hause. 197.
Philanthropinismus. 92 f. *I39.
Philobiblon Richards de Bury. 528.
Philologie. 43.
— Organon der Geisteswissenschaften. 284.
— , Betrieb der, an den Universitäten. 294 f.
Philosophie, Leistungen der Griechen für die.
28.
— , Neuzeitliche. 37.
— des 19. Jahrhunderts. 42.
— , Aufgaben des akademischen Unterrichts
in der. 291.
— , Aufnahme der Wolfischen, in den Lehr-
betrieb der Universitäten. 555.
— , Bildungswert der. 63.
— Interesse für die, in der Gegenwart. 308.
Philosophische Fakultät. "294. 319.
Phönizier. 23.
Phylogenie des Pflanzenreichs. 326.
Physik. 37. 40.
• — , Bildungswert der. 63.
— an den Universitäten im 18. Jahrhundert.
315-
Register.
665
Physikanden Universitäten derCegenwart. 336.
Physikalische Kabinette. 316.
Physiologie in der Medizin. 328.
— der Pflanzen. 326.
Pickelhäring. 463.
Pietismus, Einwirkung des, auf die Volksschule.
92- 93-
— , Eintreten des, für die Umwandlung des
höheren Schulwesens. 139.
Plakat. 490.
Planeten. 24. 27.
Plankton-E.\pedition Hcnsens. 327.
Plato. 433- 533- 54 >• 593- 594- 595- 622.
649.
Platter, Thomas. 131.
Plautus, T. Maccius. 451. 459. 460.
Plinius Secundus Maior, C. 520. 539.
Poggio, üian-Francesco. 548.
Poinsot, L. 322.
Politik, Allgemeine, des 19. Jahrhunderts. 47.
Pollio, C. Asinius. 547. 639.
Polyphilus' Hypnerotomachia. 535.
Poncelet, Jean Victor. 332.
Postmeister als Avisenschreiber. 484.
Postreuter. 487.
Prälektionen. 298.
Prämiierungen auf Ausstellungen. 418.
Präparandenanstalten. 97.
Präsenzbibliothek. 640.
Präzession der Nachtgleichen. 24. 27.
Preisaufgaben der Akademiecn und Universi-
• täten. 625.
Preisgerichte der Ausstellungen. 418.
Presse, Allgemeine Funktion der. 507.
— , Bedeutung der, für die Volksbildung.
604.
— , Geschäftsprinzip der. 510.
— , Kulturförderndcr Einfluß der. 510.
— , Periodische. 482. 488.
— , Verhältnis der, zur öffentlichen Meinung.
508.
Preßfreiheit. 47. •492-
Preßgesetzgebung. 493.
Priesterschaften als Träger der Wissenschaft
in Babylonien. 593.
Priesterschulen, Babylonische. 638.
Primärschule, Aufgabe der. 66.
Primaticcio, Francesco. 349.
Primitive Werkstücke. 398.
Prinzipale der Schauspieltruppen. 471.
Privatdozententum. 614.
Probandenjahr. 165.
Professorenaustausch. 620.
Proletariat. 40.
Propädeutik, Philosophische. 150. 156. 163.
167.
Protagoras. 542.
Protestantismus, Aufgabe des, in der Gegen-
wart. 49 f.
Prudentius' Psychomachie. 525.
Prüfung, Wissenschaftliche, für Lehrerinnen.
190.
Prüfungskommission, Wissenschaftliche. 619.
Prüfungsordnungen von 1892. 163.
— von 1901. 167.
Psychologie, Experimentelle. 42.
— , Aufgabe der, im akademischen Unter-
richt. 291.
— , Wissenschafüiche, im wissenschaftlichen
Oberbau der höheren Mädchenschule. 231.
— , — im Lehrerinnenseminar. 238.
Ptolemäer. 544.
Ptolemäus, Claudius. 28.
Ptolemaios Philadelphos. 635.
Pythagoreer. 593.
— , Zahlenmystik der. 433.
Quadrivium. 312.
Quellendarstellungen, Wert der, im Unter-
richt. 307.
Quellenlektüre im Geschichtsunterricht. 225.
R
Rachel, Elisa. 474.
Racine, Jean. 466.
Radierung, Verwendung der, zum Buch-
schmuck. 535.
Raritätenkammern. 34g. 412.
Rasse, Weide und gelbe. 8.
Rassenunterschiede, Körperliche und geistige.
7-
Ratke, Wolfgang. 91. 136.
Raumer, Preuß. Kultusminister Karl Otto v. 156.
— Friedrich v. 170.
Raumproblem der Bibliotheken. 582.
Ray, John. 373.
Realgymnasium. 68. 154. 164. 608.
Realhandclsakademie in Wien. 245.
Realinstitut in Bayern. 154.
Realismus, Empirischer, in Frankreich und
England. 42.
— als Weltanschauung. 63.
Realschulen. 38. 69. 140. 144. 153. 247.
— Lehr- und Prüfungsordnung für, vom
Jahre 1859. 157.
, vom Jahre 1882. 159.
— und Realgymnasien für Mädchen. 206.
Realschulmännerverein. 161.
Rdaumur, Rend Antoine Ferchault de. 373.
Rechenunterricht in der höheren Schule. 62.
— im 15. — 17. Jahrhundert. 313.
— in der höheren .Mädchenschule. 214. 228.
— in der Volksschule. 109.
Rechtswissenschaft, Akademischer Unterricht
in der. 291. 293 f
— , Systematische Stellung der, in der Wissen-
schaft. 292.
666
Register.
Reclams Universal-Bibliothek. 603.
Redaktion der Zeitung. 493. 500. 503.
Kedtcnbachcr, Jakob Ferdinand. 331. 334-
Reformation. 34. '35.
— , Dogmatische Richtung der. 298.
— , Bedeutung der Musik für die. 437.
— , Bedeutung der, für die Entwickhmg der
Bibhotheken. 548.
— , — , für die Schule. 78. 90. 129.
— , — , für das Theater in Deutschland. 468.
Regiomontanus (Johann Müller). 313.
Reichenbach, Georg von. 331.
Reichsanstalt, Physikalische. 324.
Reifeprüfung und -zeugnis. 143. i49- i5°-
156. 164.
Reinhardt, Direktor. 164.
Reisig, Christian Karl. 569.
Reiske, Johann Jakob. 645.
Reklame in den Zeitungen. 505.
Relativismus. 301.
Religion, Einfluß der, auf die Volksschule.
87.
Religionsgeschichte als Bildungsstoff der
höheren Mädchenschule. 212. 217.
Religionsunterricht. 61. 82.
— in den Jesuitenschulen. 133.
— des Philanthropinismus. 140.
— in der höheren Mädchenschule. 226.
— , seine Bedeutung in der Volksschule. 106.
Renaissance. 31. 530.
— , Dogmatische Richtung der. 298.
— , Bedeutung der, für die Tradition des
Dramas. 457.
Resewitz, Friedrich Gabriel. 144. 153.
Rettich, Julie. 474.
Reuchlin, Johann. 129. 456.
Reuleaux, Franz. 334.
Reuwich, Erhard. 535.
Revolution, Französische. 43.
, ihre Bedeutung für die ErschUeßung
der Kunst. 352.
Rhythmus als Grundelement der Musik. 430.
Richelieu, Armand Jean Duplessis, Herzog
von. 622.
Richter, Ludwig. 535.
Richental, Ulrich von. 527.
Riemann, Friedrich Bernhard. 320.
Ristori, Adelaide. 474.
Ritschi, Friedrich. 565. 566. * 568.
Ritterakademieen. 38. 72. 138. 145. 316.
Rochefort, Henri. 502.
Rochow, Eberhard von. 93. 244.
Roesel. 373.
Rollenfächer im Theater. 461.
Rom, Verlagsgeschäft und Buchhandel in.
522.
Römer, Älteste Zeitungen der. 482.
Römertum, seine Bedeutung für die Kultur.
25. *28.
Roscius, Q. 461.
Rose, Heinrich. 325.
— , Valentin. 325.
Rosenplüt, Hans. 456.
Rossi, Ernesto. 474.
Rotationsmaschine. 495.
Rousseau, Jean-Jacques. 141. 244. 533.
Ruskin-Museum in Sheffield. 366.
Rußland, Fach- und Fortbildungsschulwesen
in. 267.
Ruzzante. 461.
s.
Sachs, Hans. 456. 468.
— , Julius von. 326.
Sacrobosco. 313.
Saint-Germaindes-Pres, Benediktiner-Kloster.
544-
de Saint- Venant. 332.
Salon, Der, in Paris. 399.
Salviani. 460.
Salvini, Tommaso. 474.
Salzmann, Christian Gotthilf. 139. 140-
Salzsteppen, Russische. 12.
Sammelausstellungen. 422. 424.
Sammeleifer der Humanisten. 530.
Sammlungen von Kunstwerken, Entstehung
der. 347.
, Entwicklung der, zu Museen. *350.
355-
— , Wissenschaftliche. 635.
Sardou, Victorien. 467.
Schack, Friedrich Graf von. 363.
Schädlinge des Menschen, der Haustiere und
Kulturpflanzen. 380.
Schäferspiel. 459.
Schäufeleins, Hans, Illustrationen zum Theuer-
dank. 535.
Schausammlung. 637.
, Trennung der, von der wissenschaft-
hchen Sammlung. 361. 378. 385. 386.
Schauspiel. 453.
Schauspielerstand. 461. 477.
Schauspielhaus, Berhner. 474.
Schauspielkunst. 455. 461. *462. 475.
— , Gegensatz des Weimarer und des Ham-
burger Stils der. 473.
Scheele, Karl Wilhelm. 321.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 42.
Schießpulver. 34.
Schiff'ahrt. 34.
Schiller, Friedrich. 147. 171. 472. 475.
Schläger, Bibliothekar. 558.
Schlee, Gymnasialdirektor. 160.
Schieiden, Matthias Jakob. 326.
Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel. 1 70.
171. 286. 308.
Schlüter, Bibliothekar. 556.
Schmidt, Maximilian. 170.
Register.
667
Schmierenwesen. 477.
Schniulcr, Arthur. 477-
Schöffer, Peter. 532. 535.
Schöne, Richard. 360.
Schönemann, Johann Friedrich. 471.
schola claustri und schola canonica. 123.
— Palatina. 123.
Scholastikus. 125.
Schopenhauer, Arthur. 42. 62. 431. 433- 442-
Schott. 314-
Schreiberberuf im Mittelalter. 525.
Schreiberwerkstätten in Athen. 521.
Schreibstoff. 520.
Schreibtafel. 522.
Schreibunterricht in der Volksschule. 10g.
Schreyvogel, Josef. 473.
Schrift, Bedeutung der, für die Kultur. 539.
— , Arten der. 518.
Schriftrolle. 519.
Schriftsprache, Deutsche. 533.
Schröder, Friedrich Ludwig. 471. 472.
Schulaufsicht, X'erweUlichung der. 7g.
Schuldrama. 453. 468.
Schule. 38. 60.
— Grundformen der. 76.
— als Faktor des Bildungswesens. 59.
— , Beziehung der, zur Musik. 448.
Schulen, Anfange der germanischen. 121 f
— Protestantische, der Reformationszeit. 133.
— , Studium der Geisteswissenschaften in
seiner heutigen Gestalt auf den deutschen.
290.
— , Wissenschafdiche, im Altertum. 593.
— — _ in der Neuzeit. 612.
Schulformen des Humanismus. 129.
Schulgesetze. 96.
Schuljahre, Zahl der, der Mädchenschule.
209.
Schulkonferenz von 1849. 155.
1873. 158-
1890. 163.
— — 1900. 167.
Schulkonferenzen . 81.
Schulkurse, Drei Formen der. 65.
Schulordnungen. 91. 131. 132.
Schulpflicht, .Mlgemeine. 91.
Schulreform Kaiser Wilhelms II. 162 f
— , Verein für. 161. 162.
„Schulschriften". 530.
Schulte, Johann Friedrich. 567.
Schulunterricht, Notwendigkeit seiner sozialen
Differenzierung. 74.
Schulwesen, Öffentliches, sein schematischer
Aufbau für gegenwärtige Kulturverhältnisse.
64 ff.
— in England und Frankreich. 79 1.
Schulze, Johannes. 150. 165. 169. 170.
Schulzwang. 47. 78. 98.
Schwann, Theodor. 326.
Schweiz, Fach- und Fortbildungsschulwesen
in der. • 267.
Schwendener, Simon. 326.
Scriba. 524.
Scribe, Eugene. 467.
Scrittori d'avisi. 484.
Scrubland, Australisches. 12.
Seebach, Marie. 473.
Seebeck, T. J. 322.
Seelenleben als Bildungsstoff. 212.
Seeley, John. 308.
Segner, J. A. von. 318.
Sekundärschule. 67.
Selbsttätigkeit der Kinder, Anleitung zur. 1 1 2.
Seminar, Erstes naturwissenschafdiches , zu
Bonn. 320.
— , Mathematisch-physikalisches, zu Königs-
berg. 320.
Seminarbibliotheken. 579.
Seminare an den höheren Schulen in Preußen.
166.
— zur Ausbildung von Lehrerinnen. 181.
— der Universitäten. 613.
— für Volksschullehrer. 97.
Seminarium praeceptorum Franckes. 94.
— , Fr. Aug. Wolfs Hallenser. 148.
— , Thierschs Münchcncr. 151.
Seminarübungen an den Universitäten. 294.
295.
Semiten. 9 f
Semler, Christoph. 144.
Semper, Gottfried. 358. 362. 398.
Seneca, L. .\nnaeus. 451. 458.
servus literatus. 521.
Setzmaschine. 495.
Seydelmann, Karl. 474.
Sezession in der französischen Kunst. 408.
Shakespeare, William. 38. »463. 468. 469.
54>-
Siemens, Werner. 335.
Sighele, Scipio. 504.
Sillybos. 521.
Simultanschule. 84.
Sitte. 3.
Sittlichkeit, Beeinflussung der, durch die Volks-
schule. 105.
Sklaverei. 25. 32.
Skytte. 315.
Smithsonian Institution. 629.
Society, Royal, in London. 314.
— of Arts in London. 412.
Söldnerheere. 34.
Sommerard, Marquis von. 357.
' Sommcmachtstraum. 464.
I Sonnensystem, Heliozentrisches. 36.
Sonntagsschulen. 244.
Sophokles. 451. 458.
Sorbona, Robert de. 548.
Sosii. 522.
668
Register.
SouthKensington-iMuscum. 358. 398. 416.
Soziale Frage. 40. "44. 210.
Sozi;ilismus. 45.
Sozialpädagogik. 59.
SpcciesbegritT, Naturwissenschaftlicher. 373.
Spektralanalyse. 322. 323.
Spencer, Herbert. 591. 594. 645.
Spiele, Geistliche. 452.
— Sterzinger und Lübecker. 456.
Spielleute. 451. 456.
Spielplan des modernen deutschen Theaters.
477-
Spillekc, August Gottlob. 154. 170.
Spinnschulpatent in Österreich. 245.
Spinoza, Baruch. 286.
Spitzenklöppelei-Schule in Prag. 245.
Sprache. 3.
— , Bedeutung der Kenntnis der fremden, für
die Erkenntnis der fremden Kultur. 211.
Sprachstamm als ethnographisches Kriterium.
9-
Sprachunterricht. 61. 140.
— in der höheren Mädchenschule. 227. 229.
Sprachwissenschaft, Vergleichende. 43.
Staat als Kulturfaktor. 5.
— als Schulbegründer. 76.
— , seine Stellung zur höheren Mädchen-
schule. 240.
— , — zur Volksschule. 99.
Staatsanzeiger, Römischer. 482.
— von Peking. 483.
Staatsgewerbeschulen in Österreich. 263.
Staatslehre, Leistungen der Griechen für die.
28.
Stadt, Mittelalterliche. 33.
Stadtschulen, Mittelalterliche. 78. 90. 126.
Städte, Bedingungen der Entwicklung der. 12 f.
Station, Zoologische, in Neapel. 632.
Stationarii. 530.
Stegreifspiel. 462.
St. Gallen, Bibliothek von. 547.
Stein, Frhr. Karl von. 251.
Steinbeis, Ferdinand von. 24g. 258.
Steiner, Jakob. 320.
Steppe. 12.
Sternkarten Bessels. 626.
Sternwarten, Internationales Zusammenwirken
der. 631.
Stiefels Arithmetica integra. 313.
Stil, Konstruktiver. 396.
Stoffverteilung der Zeitungen. 506.
Stoizismus. 29.
Stokes, George Gabriel. 322.
Stoy, Volkmar. 166.
Streitschriften im Mittelalter. 529.
Studienpläne für Studierende. 619.
Studt, Preuß. Kultusminister Konrad. 167.
Sturm, Johann. 131.
Sue, Eugene. 501.
Süvern, Johann Wilhelm. 149. 154.
Suggestibilität des weiblichen Geistes. 205.
Sumerer. 23. 24.
Swammerdam, Jan. 373.
Swift, Jonathan. 534.
Syllabus. 49.
System, Altonaer und Frankfurter, im höheren
Knabenschulwesen. 164.
— , Naturwissenschaftliches. 2i72i- 37^-
Tacitus, P. Cornelius. 542.
Tagesschriftstellerei als Beruf. 493.
Tageszeitungen. 489.
Talma, Fran^ois. 474.
Tanz. 431.
Taoismus. 2 1 .
Tasso, Torquato. 459.
Technik. 23. 26. 34. 41.
— , Einfluß der, auf den Universitäts-L'nter-
richt. 336.
— , Mittelschulen und Hochschulen für. 330 f.
— , Schulen für die. 607.
— , Verhältnis von Wissenschaft und. 606.
— der Zeitungen. 495 f.
Technische Bildung, Erste Versuche zu ihrer
Hebung im 18. Jahrh. 244. 316.
— Hochschulen , ihre grundlegenden Diszi-
plinen. 332.
— — , Frage ihrer Vereinigung mit den Uni-
versitäten. *337. 609.
Technologie als älteste Form der Wissen-
schaft. 287.
Telegraphen-Agenturen. 497.
Terentius Afer, P. 451.
— , Bilderhandschriften des. 525.
Testament, Altes. 25.
Teufel, Der, im geistlichen Spiel. 453.
Theater. 451 fT.
— , Feindschaft der Kirche gegen das. 453.
— , Fehlen des Zusammenhanges zwischen
dem antiken und dem modernen. 457.
— , seine Stellung zur Musik in der Gegen-
wart. 446.
— , Modernes deutsches, sein Spielplan. 475.
477-
— , Gemeinschaftliches, für Nachbarstädte.
477-
— , Kopenhagener Königliches. 468.
Theateraufführungen für die Volksschule. 109.
Theologie, Systematische Stellung der, in der
Wissenschaft. 292.
— , Akademischer Unterricht in der. 291.
293 f-
Thermenmuseum in Rom. 361.
Thermodynamik. 323. 334.
Thesen, 95, Luthers. 532.
Thiers, Fondation. 617.
Register.
669
Thiersch, Friedrich. 151. 170. 319.
Thomas a Kempis' Nachfolge Christi. 533.
Thomasius, Christian. 138.
Thomasschule, Leipziger. 145.
Tiere, Anpassungserscheinungen der. 379.
— , Organisationspläne der. 379.
Tierkreis. 24.
,, Tierreich, Das", Unternehmen der Berliner
Akademie. 626.
Tierversuch in der Medizin. 328.
Tiervvelt. 1 2.
Titus von Bostra. 523.
Tontafcln von Kujundschik. 543.
Tontafeltexte. .-Mtbabylonische. 519.
Topographisches Prinzip der Gliederung der
Wissenschaften. 288.
Totenbuch, Äg>'ptisches. 519.
Tours, .Mönchschule von. 525.
Tractatus de oculo morali. 528.
Tragödie der Renaissance. 458.
— , Französische klassische. 466.
Trapp, Ernst Christian. 139.
Trigonometrie. 3 1 3.
Trimberg, Hugo von. 529.
Trivium. 122. 312.
Trocadero. 405. 416.
Trotzendorf, \'alentin. 131.
Türken. 23.
Turnunterricht, iii. 164.
Typen, Die komischen. 461.
u.
überbürdung im Unterricht. 151.
Überlieferung, Bedeutung der, für die Wissen-
schaft. 540 f.
Übungen als Unterrichtsform. 290.
Übungskurse für Studierende. 620.
Uhden. 563.
Umfrage der Zeitungen. 504.
Universaluniversität. 609.
Universitäten. 37. 69. 77. 79-
— , Anfange der. 125.
— , .Anteil der deutschen, an der Wendung
vom Dogmatisch -Rationalen zum Histori-
schen. 300.
— , Fakultäten der. 618.
— , Ferien- und Fortbildungskurse der. 614.
— , Gestaltung der französischen, engUschen,
deutschen. 317.
— als Institute wissenschaftlicher Forschung.
319. 611 f.
— , Physik an den, im 18. Jahrh. 315.
— , Preisaufgaben der. 625.
— , Seminare und Institute an den. 613.
— , Studium der Geisteswissenschaften in
seiner gegenwärtigen Gestalt auf den deut-
schen. 290.
— , Typen der. 621.
Universitäten, Vereinigung der, mit den
Technischen Hochschulen. '337. 609.
Universitätsbibliotheken. 552. 557. 563. 567.
569. 577.
— , Benutzung der. 578.
Universitäts-Studium der Frau. 219.
— der V'olksschullehrer. 113.
Universitätsunterricht, Naturwissenschaftlicher,
im 19. Jahrh. 318 ff.
University extension. 71. 73. 80. 343. 602.
Unterricht, Elementar-. 597.
— , Mittelschul-. 607.
— , Hochschul-. 609.
— im Lesen und Schreiben in der Volks-
schule. 108.
— in der Musik. 436.
— , seine drei Stufen. 66 ff.
Unterrichtsmethode in der höheren Mädchen-
schule. 219 ff.
Unterrichtsministerium. 81.
Unterrichtsmuseen , Natunvissenschaftliche.
385-
Unterrichtswesen. 37.
— , Kirchliches, im Mittelalter. 77.
Urkunden- und Inschriftensammlungen, Wert
der. 307.
Urwald. 1 1 .
V.
Valdivia-Expedition. 327.
Valentini, M. B. 350.
Varro, Marcus Terentius, Reatinus. 312.
Vatcrlandssinn in der Volksschule. 107.
Vaucanson, Jacques de. 353.
Verbreitung der Zeitungen. 506.
Verein, Deutscher, von Dirigenten und Lehrern
der höheren Mädchenschulen. 183. 184.
Vereine, Wissenschaftliche. 632.
Vererbung der Kultur. 13 f
Vergil, Handschriften des. 524.
Verkehr als Kulturfaktor. 18.
Verlagsgeschäft. 646.
— im .Altertum. 522.
Vermittlungsstellen für den Privatverkehr.
490.
\'emunftreligion. 299.
\'ersammlung , Weimarer, der Dirigenten,
Lehrer und Lehrerinnen deutscher höherer
Mädchenschulen. i76f
Viehzucht. 12.
Vinci, Lionardo da. 457.
Virchow, Rudolf 328.
Virtuosentum, Schauspielerisches. 473.
\'ives, Ludwig. 132.
\'ölkerfamilien. 9.
Volksbibliothcken. 587. 600.
\'olksbildung , Gesellschaft für \'erbreitung
von. 602.
Volksbücher, Wiesbadener. 603.
670
Register.
Volkshochschulen. 71 80. 343. 385.
\'olkshochschulkurse. 599.
Volkslied, Historisches. 485.
Volksmuscen. 366.
Volksschule. 67. 78. *87. 112.
— , Beschränkung des Wissensstoffes in der.
115.
— , Einfluß von Religion und Nationalität auf
die Verschiedenartigkeit der. 87 f.
— , Ergänzung der, durch die Fortbildungs-
schule. 116.
— , Gestaltungen der. loi f.
— , Innerer Betrieb der. 103 f.
— , Notwendigkeit der, für den Staat. 100.
— , Soziale Aufgaben der. 117-
_, Verhältnis der, zur Kirche. 98. 107.
— , Vermehrung der Mittel für die. 116.
Volksschullehrer, Außeramtlicher Einfluß der.
114.
— , Universitätsstudium der. 113.
Volksschullehrerbildung. 94. 112.
Volksschullehrerinnen. 113.
Volksschulwesen. 38. *87 ff.
Volks- und Staatswirtschaftspolitik am Aus-
gang des Mittelalters. 33.
Volksunterricht. 46.
Volkswirtschaftslehre. 37. 330-
— in der höheren Mädchenschule. 226. 235.
Voltaire, Fran^ois Marie Arouet de. 466. 533.
Vondel, Jan van der. 469.
Vorhang im Theater. 454.
Vorkultur. 19.
Vorlesung und Übungen, Verhältnis von, im
Studienbetrieb der Universitäten. 295.
Vorschulen. 67.
Vortrag als Unterrichtsform. 290.
Vorträge, Einzel-. 599.
w.
Wagner, Josef. 474.
— , Richard. 43 >• 433- 442. *443. 447- 627.
Wahlrecht. 46.
Wanderbibliotheken. 588. 602.
Wandertruppen, Schauspielerische. 463.
— , — aus England. 468 f.
— , — deutsche im 16.— 17. Jahrh. 469.
_, — Einführung von, für die Gegenwart in
Deutschland. 478.
— , — italienische der Gegenwart. 478.
Wätzoldt, Stephan. 190.
Weber, Wilhelm. 324.
Weddas. 7.
Weierstraß, Karl Theodor Wilhelm. 320.
Weigel, Erhard. 138.
Weimar, Theater in, zur Klassikerzeit. 472.
Weise, Christian. 469.
Weiß, Chr. 325.
Welcker, Friedrich Gottlieb. 563. 566. 568.
Weltausstellung in Chicago und St. Louis.
406. 413. 417-
— , Londoner, von 1851. 249. 358. *394.
413-
— , — , von 1862. 400.
— , Pariser, von 1855. *399. 413-
— , — , von 1867. *4oi. 413.
— , — , von 1878, 1889, 1900. »405. 413.
— , Wiener, von 1873. *404. 413.
Weltausstellungen. 390. *393. 638.
— , Einteilung der. 413.
— einzelner Zweige. 407.
Weltverkehr. 40.
Werder, Karl. 474-
Werner, Abraham Gotthelf. 324.
Wiederholungsschulen. 244.
Wiese, Ludwig. 156. 157. 158.
Wilhelms II. Schulreform. 162 f.
Winckelmann, Johann Joachim. 146. 299.
Wirbeltheorie Kelvins. 323.
Wirtschaftsführung als Unterrichtsstoff der
höheren Mädchenschule. 218.
Wissenschaft, Alte Organisationsformen der.
592 ff.
— , Einheit der. 594.
— , Mittelalterliche. 31.
— , Neuzeitliche. 36.
— , Orientalische. 24.
— , Reine, eine Schöpfung der Griechen. 26.
— , Verhältnis von Praxis und. 610.
— ^ — von Technik und. 606.
— , Ziel der. 648.
Wissenschaften, Innere Organisation der. 594.
— , Methodologie der. 594.
Wissenschaftslehre, Aufgabe der, im aka-
mischen Unterricht. 291.
Wochenschriften, Moralische. 491.
Wochenzeitungen, Gedruckte. 487. 488.
Wöhler, Friedrich. 321. 325. 328.
Wohlfahrtspflege als Frauenberuf. 200.
Wolf, Friedrich August. 143. I45- *I48. 319-
Wolfenbüttel, Bibliotheca Augusta in. 552.
Wolff, Christian. 313. 318.
Wundt, Wilhelm. 594-
Württemberg, Gewerbeschulen in. 246. 249.
— , Zentralstelle für Gewerbe und Handel in.
252.
Young, Thomas.
Y.
Z.
Zedlitz, Preuß. Kultusminister Graf von. 143.
Zeichenschulen. 246.
— , Gewerbliche, in England und Schottland.
250.
— , Provinzial-, in Frankreich. 351.
Zeichenunterricht in den Franckeschen Stif-
tungen. 139.
Register.
671
Zeichenunterricht in den höheren Knaben-
schulen. 164.
— in der Volksschule. 110.
Zeitschrift für weibliche Bildung in Schule
und Haus. 183.
Zeitschriften. 605. 646.
— , ihr Verhältnis zum Buch. 605.
— , — zur Zeitung. 512.
Zeitschriftenwesen. 491.
Zeitschriftenzimmer. 569.
Zeitung, Begriff und Ursprung der. 481.
Geschriebene. 484. 487.
„ — , Leipziger". 489.
Zeitungen als Volksbildungsmittel. 511. 604.
Älteste. 482.
Annoncen in den. 490. 504.
.Bedeutung der, fürdie\'olks\virtschaft. 513.
Berichterstattung der. 496.
Depeschendienst der. 497.
Die ersten gedruckten. 485.
Feuilleton der. 501.
Freie Mitarbeiter der. 500.
Gedruckte Wochen-. 487. 488.
Geschäftsprinzip der. 510.
Holländische geschriebene. 488.
Jahres- und Halbjahrs-. 487.
Kopflose. 499.
Korrespondenz-Bureaux für. 498.
-, Neue". 485- 544-
Prinzip der Anonymität in den. 501.
Privilegierte. 489.
Redaktion der. 493. 500. 503.
Reklame in den. 505.
StofTbereich der. 494.
Stoffverteilung der. 506.
Tages-. 489.
Technik der. 495.
Zeitungen, Verbreitung der. 506.
— , Verhältnis der, zur Zeitschrift und zum
Buche. 512.
Zeitunger. 484.
Zeitungsausschnittburcaux. 511.
Zeitungsdienst, seine Organisation. 493.
Zeitungskorrespondenten. 496.
Zeitungswesen. 38. 47. '481.
— , seine moderne Gestaltung. 491.
Zellentheorie der tierischen Gewebe. 326.
Zentralblatt für Bibliothekswesen. 570.
Zensur. 47. 488. 489- 492- 497- 534-
Zentralmuseen, Naturwissenschaftliche. 384.
Zentralmuseum, Römisch -germanisches, in
Mainz. 357.
Zentralstelle für Gewerbe und Handel in
Württemberg. 252.
Zentrumspartei. 49.
Zerstörung Trojas, französisches Schauspiel.
456.
Zettelkatalog. 563. 564.
Zcuner, Gustav Anton. 334.
Ziffernsystem, Dekadisches. 22.
Ziller, Tuiskon. 166.
Zinsverbot, Kanonisches. 33.
Zollverein, Allgemeiner deutscher. 251. 393.
Zoologie. 41.
— Universitätsunterricht in der. 325.
Zoologische Gärten. 381. 635. 636.
Zoologische Station in Neapel. 632.
Zünfte als Kulturträger. 243.
Zug- und Kassenstücke. 476.
Zukunftsaufgaben der Bibliotheken. 572 ff.
Zunftwesen. 33. 44.
Zwangsfortbildungsschule. 253.
Zwangsgenossenschaften in Österreich. 247
Zwergvölker, Afrikanische. 7.
Druck von B. G. Teubner in Leipzig.
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