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Full text of "Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart"

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ALLGEMEINEN  GRUNDLAGEN 
DER  KULTUR  DER  GEGENWART 

VON 

W.  LEXIS"  FR.PAULSEN- G.SCHÖPPA 
G.KERSCHEN5TE1NER-A.MATTKIAS-H.GAUDIG 
W.v.I^YCK-L.PALLAT'K.KRAEPELlN-J.LESSlNG 

O.W.WITT'  P.SCHLEKTHER-  G.GÖHLER 
K.BÜCHER"  R.PIETSCHMANN-F.MILKAU-H.DIELS 


DIS  KULTUR  DER 


GEGENWART   1. 1 


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DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 


IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 


HERAUSGEGEBEN    VON 


PAUL  HINNEBERG 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 

TEIL  I  ABTEILUNG  I 


rfKrf        EntWicUvnd"    ti  n  öl      ^^^^     /i^/fl 
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Teil      T  Ablei/un^     T 

DIE  ALLGEMEINEN 

GRUNDLAGEN   DER   KULTUR 

DER  GEGENWART 


VON 

WXEXIS  ■  FR.PAULSEN  ■  G.SCHÖPPA  •  A.  MATTHIAS  •  H.GAUDIG 

G.  KERSCHENSTEINER  ■  W.v.DYCK  ■  L.PALLAT  •  K.KRAEPELIN 

J. LESSING  •  O.N.WITT  •  G.GÖHLER  •  P.SCHLENTHER  •  K.BÜCHER 

R.  PIETSCKMANN  ■  F.  mLKAU  •  H.  DIELS 


1906 
BERLIN  UND  LEIPZIG 
DRUCK   UND  VERLAG  VON   B.  G.  TEUBNER 


PUBLISHED  JTJNE  lo,  1906  „t-t^.., 

PRIVILEGE    OF  COPYRIGHT    IN  THE    UNTTED   STATES 
SLmVED  UNDER  THE  ACT  APPRO VED  MARCH  3,  .905, 
BY  B.G.TEUBNER  LEU>ZIG. 

ALLE  RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN 


SEINER  MAJESTÄT  DEM  KAISER 

WILHELM  IL 

DEM  ERHABENEN  SCHIRMHERRN  DEUTSCHER  KULTURARBEIT 
EHRFURCHTSVOLL  ZUGEEIGNET 


Wie  die  Naturwissenscliafteii  im  letzten  Ziel 
den  Urgrund  alles  Seins  und  Werdens  zu  er- 
forschen trachten,  so  bleibt,  wie  es  Goethe  selbst 
ausgesprochen  hat,  „das  eigentliche,  einzige  und 
tiefste  Thema  der  Welt-  und  Menschengeschichte, 
dem  alle  übrigen  untergeordnet  sind,  der  Konflikt 
des  Unglaubens  und  Glaubens",  und  wie  in  seinem 
Sinne  hinzuzufügen  ist,  die  Betätigung  Gottes  am 
Menschengeschlecht. 

Kaiser  Wilhelm   II. 
bei    der   Zweihundertjahrfeier    der 
Akademie  der Wissenschaftenigoi. 


VORWORT. 

Wer  die  Kultur  der  Gegenwart  und  ihre  Leistungen  mit  kritischem 
Auge  überschaut,  der  muß  erkennen,  daß  die  moderne  Geistesarbeit  in 
ihrer  stetig  wachsenden  Spezialisierung  und  Komplizierung  wahrhaft  nutz- 
bringende Früchte  nur  dann  zeitigen  kann,  wenn  sie  zugleich  in  sich  die 
Kraft  zur  verknüpfenden  Zusammenfassung  des  auf  den  einzelnen  Kultur- 
gebieten Erreichten  findet.  Gerade  die  führenden  Geister  unserer  Zeit 
erheben  mit  besonderem  Nachdruck  in  dieser  Richtung  ihre  Stimme.  „Wir 
sind  es  müde",  heißt  es  so  in  der  Festschrift  zum  Zweihundertjahrsjubi- 
läum  der  Königlich  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften,  „bloß 
Stoffe  zu  sammeln,  wir  wollen  geistig  des  Materiales  Herr  werden;  wir 
wollen  hindurchdringen  durch  die  Einzelheiten  zu  dem,  was  doch  der 
Zweck  der  Wissenschaft  ist:  zu  einer  allgemeinen  großen  Weltanschau- 
ung." Und  was  hier  im  Namen  der  Wissenschaft  von  einem  ihrer 
berufensten  Vertreter  gefordert  wird,  die  Verknüpfung  der  eigenen  Arbeit 
mit  der  gesamten  Betätigung  des  menschlichen  Geistes  in  Vergangenheit 
imd  Gegenwart,  dasselbe  Verlangen  nach  Einheit  und  Vertiefung  ihrer 
Wirksamkeit  durchzieht  mehr  und  mehr  auch  alle  Gebiete  praktischen 
Schaffens. 

So  dringend  jedoch  in  der  Theorie  wie  in  der  Praxis  dieses  Bedürf- 
nis empfunden  wird,  so  sehr  fehlt  es  bisher  an  einem  Werke,  wodurch  es 
gebührend  befriedigt  würde.  Zwar  über  lexikalische  Zusammenfassungen 
der  wesentlichen  Tatsachen  und  Probleme  des  Kulturlebens  verfügen  heut 
alle  zivilisierten  Nationen.  Aber  gerade  das,  wonach  der  in  die  Tiefe 
dringende  Geist  am  meisten  verlangt,  die  Erkenntnis  der  letzten  und 
feinsten  Verbindungsfäden,  welche  die  Betätigungen  auf  den  verschiedenen 
Gebieten  menschlichen  Denkens  und  Schaffens,  in  Religion  und  Wissen- 
schaft, in  Kunst  und  Technik,  in  Staat  und  Gesellschaft,  in  Recht  und 
Wirtschaft  zur  Einheit  der  modernen  Kultur  verknüpfen,  gerade  das  ist 
mit  den  Mitteln  lexikalischer  Arbeitsweise  der  Natur  der  Sache  nach 
nicht  zu  gewinnen.    Dazu  bedarf  es  der  Zusammenfassung  in  einem  syste- 


ym  Vorwort. 

matischeu  Aufbau,  innerhalb  dessen  die  einzelnen  Kulturgebiete  ihren 
sachlich  bestimmten  Ort  einnehmen,  und  in  dem,  unter  steter  Rücksicht- 
nahme auf  den  Zusammenhang  mit  der  Gesamtkultur,  sowohl  ihr  ge- 
schichtlicher Werdegang  wie  ihre  gegenwärtigen  Aufgaben  und 
Leistungen  zur  Behandlung  kommen,  wobei  die  einzelne  Darstellung  ihre 
Spitze  jedesmal  in  der  Bestimmung  der  Ziele  erhalten  muß,  denen  die 
Weiterentwicklung  in  dem  von  ihr  behandelten  Gebiete  zustrebt. 

Wenn  ein  solches  den  Namen  einer  Enzyklopädie  erst  wieder  mit  Recht 
verdienendes  Werk  in  dem  letzten  Jahrhundert  kaum  ernstlich  versucht 
worden  ist,  so  läßt  sich  der  Grund  dafür  unschwer  auffinden.  Die  Tage, 
da  der  Kopf  eines  Denkers  noch  das  gesamte  Wissen  seiner  Zeit  um- 
spannte, sind  seit  langem  dahin;  keine  Enzyklopädie  deshalb  mehr  ohne 
Arbeitsteilung.  Aber  auch  geteilte  Arbeit  bleibt  unfruchtbar,  wenn  sie 
nicht  zugleich  organisierte  Arbeit  ist,  wenn  nicht  neben  den  Arbeitern 
ein  Führer  steht,  der  die  Sonderinteressen  des  Einzelnen  mit  der  Idee 
des  Ganzen  in  Einklang  hält. 

Freilich  hat  für  ein  Werk  wie  das  vorliegende  niemand  bisher  den 
Mut  besessen  die  Führerrolle  zu  übernehmen.  Denn  eine  Enzyklopädie 
der  modernen  Kultur  stellt  an  ihren  Leiter  drei  gleich  schwierige  Aufgaben. 
Um  die  Menge  von  Einzeldarstellungen  zur  Harmonie  eines  Systems  zu 
erheben,  muß  die  Gliederung  des  Stoffes  in  ständigem  Zusammenwirken 
des  Herausgebers  mit  den  führenden  Geistern  der  einzelnen  Kulturgebiete 
geschehen;  um  eine  inhaltlich  auf  der  Höhe  der  Zeit  stehende  Gesamt- 
leistung zu  bieten,  muß  die  Verteilung  der  Aufgaben  möglichst  an  die 
anerkannt  hervorragendsten  Vertreter  jedes  Faches  stattfinden;  endlich  um 
die  für  den  praktischen  Erfolg  des  Werkes  wesentlichste  Voraussetzung, 
Übersichtlichkeit  und  Gemeinverständlichkeit  der  Darstellung,  zu  erreichen, 
muß  die  Behandlung  des  Gegenstandes  durchgehends  peinlichste  Raum- 
ökonomie mit  volkstümlicher,  aber  künstlerisch  gewählter  Sprache  verbinden. 

Die  „Kultur  der  Gegenwart"  bildet  den  ersten,  aber,  wie  ich  hoffe, 
gelungenen  Versuch,  diese  drei  Forderungen  in  gleicher  Weise  zu  erfüllen. 
Nach  langjährigen  Vorbereitungen  auf  Grund  zahlloser  Konferenzen  und 
Korrespondenzen  mit  den  ersten  Gelehrten  und  Praktikern  unserer  Zeit 
ist  ein  Bau  zustande  gekommen,  der  an  Durchsichtigkeit  und  Folge- 
richtigkeit seiner  Gliederung  hinter  keinem  anderen  Literaturwerke  all- 
gemeinen Charakters  zurücksteht.  Und  eine  so  große  Zahl  führender 
Männer  aus  allen  Zweigen  der  Wissenschaft  und  Praxis,  wie  sie  diesem 
Werk,  ein  jeder  für  die  Bearbeitung  seines  eigensten  Fachgebietes, 
die  schaffende  Hand  geliehen  haben,  wird  schwerlich  wieder  in  einem 
literarischen  Unternehmen   irgend   eines  Landes   oder  Zeitalters  vereint  zu 


Vorwort.  IX 

finden  sein.  Daß  aber  auch  die  dritte  Aufgabe,  gemeinverständliche 
künstlerische  Darstellung  auf  knappstem  Räume,  ihre  Lösung  finden  wird, 
dafür  bürgt  wiederum  der  Umstand,  daß  es  in  jedem  Falle  erste,  den  Stoff 
souverän  beherrschende  Vertreter  ihres  Faches  sind,  die  das  Wort  nehmen. 
Durch  die  Vereinigung  dieser  Momente  glaubt  die  „Kultur  der  Gegenwart" 
einer  bedeutsamen  Aufgabe  im  geistigen  Leben  unserer  Zeit  zu  dienen 
und  sich  einen  bleibenden  Platz  in  der  Kulturentwicklung  zu  sichern. 

Aber  so  eifrig  mein  Bemühen  darauf  gerichtet  war,  dem  Werke 
die  Form  eines  fest,  in  sich  geschlossenen,  einheitlichen  Ganzen 
zu  geben:  Einstimmigkeit  des  Inhalts,  zugunsten  einer  bestimmten 
Parteiauffassung,  habe  ich  nicht  erstrebt.  Ein  Werk,  das  von  dem 
Kulturleben  der  Gegenwart  ein  getreues  Abbild  geben  will,  darf  nicht 
einseitig  konservativ  oder  liberal,  orthodox  oder  freigeistig,  klassi- 
zistisch oder  sezessionistisch  sein.  Unsere  Zeit  ist  eine  Zeit  des  Über- 
ganges, eine  Epoche  des  Suchens  und  Tastens  nach  neuen,  zeitgemäßen 
Lebensformen  und  Bildungsidealen.  Dieser  Zug  geht,  seit  länger  als  einem 
Jahrzehnt,  durch  alle  Gebiete  unserer  Kultur.  In  der  Wissenschaft  hat 
das  die  vorhergehenden  Generationen  charakterisierende  Gefühl  der  Zu- 
versicht, mit  den  Mitteln  wissenschaftlicher  Forschung  die  letzten  Rätsel 
des  Daseins  lösen  zu  können,  vielfach  einer  der  Grenzen  des  Erkennens 
sich  wieder  bewußter  werdenden  kritischen  Stimmung  Platz  gemacht. 
In  der  Religion  ist,  zugleich  mit  dem  Streben  nach  tieferem  Erfassen 
des  Wesens  und  der  Lehre  Christi,  ein  Verlangen  nach  Harmonie  zwischen 
den  überlieferten  religiösen  Geboten  und  den  sozialen  Bedürfnissen  der 
Gegenwart  erwacht,  in  dessen  Befriedigung  die  beiden  christlichen 
Kirchen  miteinander  wetteifern.  In  der  Kunst  tritt  neben  dem  wachsen- 
den Verständnis  für  die  klassischen  Schöpfungen  der  Vergangenheit 
und  ihre  Schönheitsgesetze  ein  Streben  hervor,  für  das  Suchen  und 
Sehnen  unserer  Zeit  einen  eigenen  künstlerischen  Ausdruck  zu  finden. 
Und  wie  in  der  Technik  jeder  Tag  fast  von  bedeutendsten  Fortschritten 
zu  melden  weiß,  wobei  freilich  manche  heut  gepriesene  Errungenschaft 
morgen  schon  wieder  wertlos  und  vergessen  ist,  das  liegt  vor  aller 
Augen.  Ganz  das  gleiche  Bild  des  Fließenden  aber  auch  in  allen  Zweigen 
des  öffentlichen  Lebens,  in  Staat  und  Gesellschaft,  in  Recht  und  Wirt- 
schaft! Mit  der  Erweiterung  der  auswärtigen  Politik  zu  einer  interkonti- 
nentalen Weltpolitik,  die  sich  im  Laufe  des  letzten  Jahrzehntes  vollzogen 
hat,  hebt  eine  neue  Phase  der  Universalgeschichte  an,  die  neue,  unabseh- 
bare Kulturprobleme  in  ihrem  Schöße  birgt.  In  der  inneren  Politik  aber, 
im  Rechts-  wie  im  Wirtschaftsleben  der  zivilisierten  Völker,  überwindet 
das  Streben  nach  ausgleichender  Gerechtigkeit,  das  Bemühen,  jedem  das 
Seine,  das  was  ihm  nach  dem  Maß  seiner  Leistungen  für  das  Volksganze 


X  Vorwort. 

gebührt,    zu    geben,    mehr   und   mehr   die    einseitige   Interessenvertretung 
der  einzelnen  Berufsstände. 

Ein  Zeitalter,  das  in  solchem  Umfang  auf  allen  Gebieten  der  Kultur 
die  verschiedenartigsten  Tendenzen  miteinander  im  Wettstreit  sieht,  muß 
diesen  Charakterzug  auch  in  dem  literarischen  Spiegel,  den  es  sich  vor- 
hält, zum  Ausdruck  gebracht  finden.  So  konnte  meine  wohlverstandene 
Aufgabe  gegenüber  dem  vorliegenden  Werke  nur  sein,  alle  herrschenden 
Anschauung'en  und  Richtungen  des  heutigen  Kulturlebens  zu  Worte 
kommen  zu  lassen  und  für  jede  den  berufensten  Sprecher  zu  finden.  Er- 
füllt das  Werk  diese  Aufgabe  —  und  ich  hoffe,  es  wird  sie  erfüllen  — ,  dann 
darf  es  behaupten,  ein  getreues  Abbild  unserer  Zeit  zu  sein,  dann  trägt 
es  seinen  Namen  mit  Recht:  Die  Kultur  der  Gegenwart. 

Nicht  schließen  kann  ich  diese  Zeilen  ohne  Worte  herzlichen  Dankes 
an  alle,  die  mir  bei  meiner  Herausgeberarbeit  hilfreiche  Hand  geleistet 
haben.  Es  sind  ihrer  zu  viele,  um  hier  namentlich  aufgeführt  zu  werden. 
Aber  es  ist  kaum  zuviel  gesagt,  wenn  ich  bekenne:  was  das  Werk  ist, 
das  ist  es  ihnen  schuldig. 


Paul  Hinneberg. 


INHALTSVERZEICHNIS. 


Seite 


I.  DAS  WESEN  DER  KULTUR .-53 

Von  WILHELM  LEXIS. 

1.  Die  Grundlagen  und  Beding^ungen  der  Kultur i  — 19 

II.  Entwicklung  der  Kultur 19—39 

III.  Die  Kultur  des  19.  Jahrhunderts 39—49 

Schlußbetrachtung 5° — 5' 

Literatur 5^ — 53 


II.  DAS  MODERNE  BILDUNGSWESEN    .  .  .  54-86 

Von  FRIEDRICH  PAULSEN. 

I.  Der  Begriff  der  Bildung 54 — 57 

II.  Das  Bildungswesen  und  seine  Faktoren 57 — ^ 

III.  Die  Bildungsmittel  und  ihr  Bildungswert 60—64 

IV.  Schematischer  Aufbau  eines  öffentlichen  Bildungswesens  für  gegenwärtige 
Kulturverhältnisse 64 — 75 

V.  Überblick  über  die  öffentliche  Verfassung  des  Bildungswesens  in  seiner 

geschichüichen  Entwicklung 75— 80 

VI.  Ausblick  auf  die  Zukunft 80—85 

Literatur 86 


III.  DIE  WICHTIGSTEN  BILDUNGS MITTEL. 

A.  SCHULEN  UND  HOCHSCHULEN. 

l.  DAS  VOLKSSCHULWESEN 87-119 

VON  GOTTLOB  SCHÖPPA. 

I.  Wesen  und  Begriff  der  \'olksschule 87 — 88 

II.  Geschichte  der  Volksschule 88—98 

III.  Die  Volksschule  der  Gegenwart 98 — "4 

IV.  Ausblick  auf  die  weitere  Entwicklung  der  Volksschule 114  — 118 

Literatur "9 


XII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

II.  DAS  HÖHERE  KNABENSCHULWESEN 120-174 

Von  ADOLF  MATTHIAS. 

I.  Bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters 121  — 127 

IL  Hum:inismus,  Reformation  und  Gegenreformation  (1450—1600)     .    .    .      127—135 

III.  Die  französisch -höfische  Bildung,  die  Aufklärung  (1600— 1790)  ....      135  —  145 

IV.  Der  Neuhumanismus  (1790— 1840) I45— '5i 

V.  Der  Kampf  humanistischer  und  realer  Bildung  um  Gleichberechtigung 

(1840— 1890) 151-162 

VI.  Die  Schulreform  Kaiser  Wilhelms  11.  (i8go  bis  zur  Gegenwart).    .    .    .     162—169 

VII.  Rückbhck  und  Ausblick 169—172 

Literatur. i73— '74 

III.  DAS  HÖHERE  MÄDCHENSCHULWESEN 175-242 

Von  HUGO  GAUDIG. 

I.  Der  Begriff  der  höheren  Mädchenschule I75 

II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule I75— '9° 

III.  Das  Mädchenschulwesen  der  Gegenwart 19° — 241 

1.  Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erziehungsideals  S.  ige.  — 
2.  Die  intellektuelle  Eigenart  der  Frau  S.  202.  —  3.  Das  Bildungs- 
ideal S.  207.  —  4.  Die  Bildungsstoffe  S.  210.  —  5.  Die  Methode  des 
Unterrichts  S.  219.  —  6.  Der  Lehrplan  S.  223.  —  7.  Der  wissenschaft- 
liche Oberbau  S.  229.  —  8.  Vorbildung  für  das  häusliche  Leben  S.  234. 
—  9.  Das  Lehrerinnenseminar  S.  237.  —  10.  Die  Vorbildung  der  Ober- 
lehrerinnen S.  239.  —  II.  Das  Lehrerkollegium  der  höheren  Mädchen- 
schule S.  240.  —  12.  Der  Staat  und  die  höhere  Mädchenschule  S.  240. 
Literatur 242 

IV.  DAS  FACH-  UND  FORTBILDUNGSSCHULWESEN  ........     243-283 

Von  GEORG  KERSCHENSTEINER. 

1.  Die  erste  Periode  beruflicher  Erziehung  ( —  1851) 244 — 248 

II.  Die  zweite  Periode  (—   1880) 249—252 

III.  Die  Entwicklung  der  gewerblichen  Fortbildungsschvile 252—254 

IV.  Die  Entwicklung   der   kaufmännischen   und   landwirtschafthchen   Fort- 
bildungsschule   254     257 

V.  Die  Entwicklung  der  Mädchenfortbildungs-  und  -fachschulen 257—259 

VI.  Die  dritte  Periode  der  Entwicklung  des  Fachschulwesens  (von  1880  ab)     259—263 

VII.  Die  Entwicklung  des  gewerbhchen  Erziehungswesens  in  außerdeutschen 

Staaten  im  letzten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts 263—271 

VIII.  Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerblichen  Erziehungswesens 

in  Deutschland 271-279 

Schlußbetrachtungen 279—281 

Literatur 282—283 

V.   DIE   GEISTESWISSENSCHAFTLICHE   HOCHSCHULAUSBILDUNG    284-311 

Von  FRIEDRICH  PAULSEN. 

I.  Die  Geisteswissenschaften,  ihr  Gegenstand  und  Charakter,  ihre  .Aufgabe 

und  Gliederung. 284—290 


Inhaltsverzeichnis.  XHI 

Seit« 

II.  Das  Studium  der  Geisteswissenschaften  in  seiner  gegenwärtigen  Gestalt 

auf  den  deutschen  Schulen  und  Universitäten 290—297 

III.  Der  geisteswissenschaftliche  Unterricht  in   seiner  geschichüichen  Ent- 
wicklung und  die  Schwierigkeiten  der  gegenwärtigen  Lage 297—310 

Literatur 3" 

VT.  DIE  NATURWISSENSCHAFTLICHE  HOCHSCHULAUSBILDUNG  312-346 

Von  WALTHER  VON  DYCK. 

I.  Die  Entwicklung  bis  zum   18.  Jahrhunden 312—314 

II.  Die  Entwicklung  während  des  18.  Jahrhunderts 314 — 3i8 

III.  Der  naturwissenschaftliche  Universitätsunterricht  im   19.  Jahrhundert   .  318—330 

IV.  Der  technische  Hochschulunterricht  im  19.  Jahrhundert 330—336 

V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Fordenmgen  für  die  Zukunft 336 — 345 

Literatur 346 


B.  MUSEEN. 

I.  KUNST-   UND   KUNSTGEWERBE -MUSEEN 347-371 

Von  LUDWIG  PALLAT. 

I.  Die  Entstehung  der  Sammlungen 347 — 35° 

II.  Die  Entwicklung  der  Sammlungen  zu  Museen 35°— 353 

III.  Die  Museen  im  19.  Jahrhundert 353— 360 

IV.  Die  Museen  in  der  Gegenwart.    Ausblicke 360—367 

Literatur 368—371 

t 

II.  NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE  MUSEEN 372-389 

Von  KARL  KRAEPELIN. 

I.  Die  Ent\vicklung  der  naturwissenschaftlichen  Museen 372—374 

II.  Di^  naturwissenschaftlichen  Museen  als  Bildungsmittel 374 — 383 

III.  Die  Haupttypen  der  naturwissenschaftlichen  Museen  und  deren  Aufgaben  383 — 387 
Literatur 388—389 


C.  AUSSTELLUNGEN. 

KUNST-  UND  KUNSTGEWERBE-AUSSTELLUNGEN 390-411 

Von  JULIUS  LESSING. 

I.  Wesen  und  Aufgabe  der  Ausstellungen 390 — 391 

II.  Gewerbeausstellungen 392—393 

III.  Weltausstellungen 393—406 

IV.  Landesausstellungen  seit  1875 407 

V.  Kunstausstellungen 407 — 409 

Schluß 409—410 

Literatur 411 


2JJY  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

11.   NATURWISSENSCHAFTLICH -TECHNISCHE   AUSSTELLUNGEN  412-429 

Von  OTTO  N.  WITT. 

I.  Die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Ausstellungen 412—414 

11.  Einrichtung  und  Betrieb  der  Ausstellungen 414—426 

III.  Wirkungen  und  Erfolge  der  Ausstellungen 426—428 

LiteraUir 429 


D.  DIE  MUSIK 430-450 

Von   GEORG  GÖHLER. 

I.  Die  Grundlagen  der  musikalischen  Kultur 430—432 

II.  Die  Entwicklung  der  musikalischen  Kultur 432—445 

III.  Die  Zukunft  der  musikalischen  Kultur 445—449 

Literatur 45° 


E.  DAS  THEATER 451-480 

Von  PAUL  SCHLENTHER. 

I.  Religiöse  Ursprünge  des  Theaters 45'- 454 

II.  Spiele  im  Mittelalter 454—457 

III.  Renaissance 457—402 

IV.  Shakespeare 462-465 

V.  Frankreichs  klassische  Zeit 466—468 

VI.  Das  neuere  deutsche  Theater 468—473 

VII.  Das  Theater  der  Gegenwart 473—479 

Literatur 48o 


F.  DAS  ZEITUNGSWESEN 481-517 

Von  KARL  BÜCHER. 

I.  Ursprung  und  Begriff  der  Zeitung 481—482 

II.  Geschichte  des  Zeitungswesens 482—493 

III.  Das  moderne  Zeitungswesen 493     5H 

Literatur 5i5— 517 


Ct.  das  buch 518-538 

Von  RICHARD  PIETSCHMANN. 

I.  Wesen  und  erste  Aufgaben  des  Buches 518—520 

IL  Das  Buch  im  Altertum 520—523 

III.  Das  Buch  im  Mittelalter 523— 53o 

IV.  Das  Buch  in  der  Neuzeit 53o— 536 

Literatur 537—538 


Inhaltsverzeichnis.  ^" 

Seite 

H.  DIE  BIBLIOTHEKEN 539- 59o 

Von  FRITZ  MlLK-JlU. 

1.  Was  die  Bibliotheken  sind 539—546 

II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind 546—568 

III.  Was  erreicht  ist 568—572 

IV.  Was  zu  erreichen  bleibt 572—588 

Literatur 589-590 


IV.  DIE  ORGANISATION  DER  WISSENSCHAFT.  591-650 

Von  HERMANN  DIELS. 

Einleitung •    ■   ■  591—595 

I.  Stufen  der  wissenschafüichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung  595—607 

11.  Mittelschulbildung 607—609 

III.  Hochschulbildung 609—622 

IV.  Wissenschaftliche  Akadcmieen 622—630 

V.  Internationale  wissenschaftliche  Institutionen 630—632 

VI.  Wissenschaftliche  Vereine  und  Kongresse 632—635 

VII.  Wissenschafüiche  Sammlungen  (Gärten,  Museen) 635—637 

Vlll.  Wissenschaftliche  .■\usstellungen 638 

IX.  Bibliotheken  und  Kataloge 638-644 

X.  Zeitschriften,  Buch  und  Buchhandel 644—648 

Schlußbetrachtung 648—649 

Literatur ^5° 


Register 651-671 


DAS  WESEN  DER  KULTUR. 

Von 
Wilhelm  Lexis. 


I.    Die    Grundlacfcn    und   Bedine-ung-en    der   Kultur.      Kultur    ist    Begriff  d« 

**  ö  »5  ^  _  Kultur. 

die  Krhebunsf  des  Menschen  über  den  Naturzustand  durch  die  Ausbildung  Kulturarbeit  und 

...       Kulturbesitz. 

und  Betätigfung  seiner  geistigen  und  sittlichen  Kräfte.  Sie  entsteht  durch 
da.s  Zusammenwirken  vieler  innerhalb  einer  menschlichen  Gesellschaft, 
die  sich  auch  selbst  wieder  in  Wechselwirkung  mit  der  Kultur  zu  festeren 
und  höheren  Formen  entwickelt.  Die  I-eistungen  der  einzelnen  aber  ver- 
einigen sich  nicht  einfach  zu  einer  Summe,  sondern  ihre  Wirkung  steigert 
sich  durch  ihren  gesell.schaftlichen  Zusammenhang  und  es  kommt  ein  neu- 
artiges, wertvolleres  Gesamtergebnis  zustande.  In  den  Individuen  er- 
scheint die  Kultur  nicht  nur  als  ein  ruhender  Besitz,  sondern  auch  als  ein 
Zustand  dauernder  Tätigkeit,  denn  ohne  stetige  Kulturarbeit  wird  auch 
der  erworbene  Kulturbesitz  allmählich  wieder  untergehen.  Die  Anteile 
der  einzelnen  an  Kulturbesitz  und  Kulturarbeit  sind  nach  Art  und  Größe 
sehr  mannigfaltig  abgestuft.  Nur  eine  Minderheit  befindet  sich  im  Genuß 
der  höch.sten  Errungenschaften,  während  die  große  Menge  in  weitem  Ab- 
stände von  dieser  bleibt.  Ursprünglich  war  diese  starke  Differenzierung 
der  gesellschaftlichen  Schichten  eine  notwendige  Bedingung  der  Kultur- 
entwicklung, aber  es  ist  das  Ziel  des  sozialen  Fortschritts,  die  Unterschiede 
des  Kulturbesitzes  —  die  nicht  mit  denen  des  materiellen  Besitzes  zu- 
sammenfallen —  mehr  und  mehr  auszugleichen.  Die  Teilung  der  Kultur- 
arbeit und  der  Kulturfunktionen  dagegen  wird  sich  stets  nach  dem  un- 
gleichen Maße  der  Talente  und  Kräfte  der  einzelnen  vollziehen.  Als 
Weg^veiser  und  treibende  Führer  auf  der  Bahn  des  Fortschrittes  werden 
immer  nur  wenige  auftreten,  die  Masse  aber  bildet  das  große  Behältnis, 
in  dem  die  Früchte  der  Kultur  sich  ansammeln. 

Auch  zeitlich  zeigt  sich  eine  gewisse  Teilung  der  Arbeit  in  den  Kultur- 
leistungen desselben  Volkes,  indem  die.se  sich  häufig  in  längeren  oder 
kürzeren  Perioden  vorzugsweise  nach  einer  bestimmten  Seite  richten,  z.  B. 
nach  der  wirtschaftlichen,  der  politischen,  der  wissenschaftlichen  oder  lite- 
rarischen.   Wenn  die  Nation  imstande  ist,  alles  Erreichte  auch  festzuhalten, 

Die  Kultur  der  Geoe.nwakt.    I.  i.  I 


2  Wll.HKI.M   Lkxis:   Das  Wesen  der  KiiUiir. 

SO  führt  diese  zeitweilige  Einseitigkeit  der  licstrebungen  im  ganzen  zu 
einem  höheren  Gesamtgewinn.  Und  da  die  verschiedenen  Völker  sich  die 
bevorzugten  Ziele  ihres  Fortschritts  selbständig  wählen,  so  entsteht  auch 
eine  internationale  Teilung  der  Kulturarbeit  mit  ihrer  fruchtbaren  Wir- 
kung für  die  Gesamtheit  der  gesitteten  Menschheit.  So  ist  insbesondere 
die  Geschichte  der  Wissenschaften,  wie  Goethe  sagt,  „eine  große  Fuge, 
in  der  die  Stimmen  der  Völker  nach  und  nach  zum  Vorschein  kommen". 
Geistige  Grnn.i-  Da  die  Kultur  aus  der  Entfaltung  der  menschlichen  Geistesfähigkeiten 

lagen  und  Seiteu  .  ,  ,  ,-(-,.  ..,  i-\«-  •ri»i. 

der  Kultur,  entspringt,  so  zeigt  sie  so  viele  Seiten,  wie  sich  aus  der  Mannigfaltigkeit 
dieser  Fähigkeiten  ergeben.  Sie  beruht  auf  dem  praktischen  Verstände, 
dem  wissenschaftlichen  Denken,  dem  künstlerischen  Empfinden,  dem  sitt- 
lichen Wollen.  Jedoch  lassen  sich  die  Wirkungen  dieser  Faktoren  nicht 
scharf  auseinander  halten;  sie  verbinden  und  verstärken  sich  auf  vielfache 
Art,  und  man  kann  nur  im  allgemeinen  unterscheiden,  auf  welchem  Ge- 
biete der  eine  oder  der  andere  das  Übergewicht  hat. 

Der  praktische  Verstand  ist  vor  allem  der  Schöpfer  der  wirtschaft- 
lichen Kultur,  ohne  die  eine  höhere  Gesittung  überhaupt  nicht  auf- 
kommen kann.  Auch  die  Rechts-  und  Gesellschaftsordnung  ist  ver- 
standesmäßig begründet,  soweit  sie  durch  das  Wirtschaftsleben  bestimmt 
ist,  unterliegt  aber  auch,  je  weiter  die  Entwicklung  gediehen  ist,  um  so 
mehr  dem  Einfluß  sittlicher  Ideen.  Die  technische  Kultur  ist  nichts 
anderes,  als  ein  Ausfluß  der  wirtschaftlichen  Kultur.  Einen  besonderen 
Charakter  hat  sie  erst  in  der  neueren  Zeit  durch  ihre  Verbindung  mit  der 
Wissenschaft  erhalten,  der  die  heutigen  mächtigen  Hilfsmittel  der  Produk- 
tion und  des  Verkehrs  zu  verdanken  sind.  Ihr  Zweck  aber  bleibt  ein 
praktischer  und  auf  die  Befriedigung  wirtschaftlicher  Bedürfnisse  gerichtet. 
Die  wissenschaftliche  Kultur  dagegen  ist  unabhängig  von  der  prak- 
tischen Verwertung  der  Wissenschaft.  Ihr  Wesen  liegt  in  der  um  ihrer 
selbst  willen  erworbenen,  auf  sicherer  Methode  begründeten  Erkenntnis 
der  Natur,  des  Menschen  und  der  Menschheit  und  der  auf  dieser  Grund- 
lage gewonnenen  Weltanschauung.  Als  Hüter  der  Schätze  der  Wissen- 
schaft, zu  ihrer  Pflege  und  Förderung  durch  eigene  Forschung  sind  nur 
wenige  berufen,  aber  die  wissenschaftliche  Kultur  soll  bildend  und  ver- 
edelnd das  Geistesleben  des  ganzen  Volkes  durchdringen.  Die  künst- 
lerische Kultur  geht  der  wissenschaftlichen  zeitlich  voraus  und  mündet 
unmittelbar  in  diese  ein.  Denn  die  Dichtung  ist  die  erste  Form,  in  der 
die  Weisheit,  die  Lebens-  und  Weltanschauung  führender  Geister  ihren 
Ausdruck  gefunden  haben.  Andererseits  leitet  die  Technik  durch  Hand- 
geschicklichkeit und  Kunstfertigkeit  hinüber  zur  bildenden  Kunst.  Ihrem 
Wesen  nach  aber  ist  die  Kunst  das  Erzeugnis  einer  besonderen  Anlage 
des  Menschen,  die  ihn  befähigt,  die  Idee  der  Schönheit  zu  erfassen  und 
selbstschöpferisch  zur  Erscheinung  zu  bringen.  Wenn  auch  die  Gabe  des 
.Schaffens  wieder  nur  einzelnen  Bevorzugten  verliehen  ist,  so  ist  doch  der 
künstlerischen  Empfindung  auch  der  Sinn  der  großen  Mehrheit  erschlossen 


I.    Grundlagen  und  Bedingungen  der  Kultur.  ^ 

und  sie  tritt  bei  allen  überhaupt  entwicklungsfähigen  Völkerstämmen  als 
eine  der  ersten  Regungen  höherer  Kulturbcstrebungen  zutage. 

Die  sittliche  Kultur  ist  die  Bedingung  für  den  dauernden  Bestand 
der  Kultur  überhaupt.  Sie  fordert  die  freie  Unterwerfung  des  Willens 
unter  ein  höheres  Gesetz  in  den  Beziehungen  der  einzelnen  sowohl  unter- 
einander, als  auch  zu  Staat  und  Gesellschaft.  Auch  die  Staats-  und 
Rechtsordnung  bedarf  der  sittlichen  Grundlagen,  wenn  auch  historisch 
gegebene  Herrschaftsverhältnisse  und  ökonomische  Bedingungen  großen 
Einfluß  auf  sie  ausüben;  je  höher  die  sittliche  Kultur  sich  erhebt,  um  so 
mehr  wird  sie  auf  die  öffentliche  Ordnung  zurückwirken,  um  diese  den 
Forderungen  einer  vernünftigen  sozialen  Gerechtigkeit  anzupassen. 

Die  religiöse  Kultur  hat  auf  ihren  unteren  Stufen  noch  kaum  einen 
Zusammenhang  mit  der  individuellen  Sittlichkeit.  Sie  erscheint  hier  vor 
allem  als  eine  Bedingimg  und  Stütze  der  gesellschaftlichen  Ordnung;  die 
Götter  sind  die  Schirmer  des  Stammes  oder  des  Staates,  und  wenn  der 
einzelne  sie  anruft,  so  geschieht  es,  um  Schutz  und  Hilfe  oder  irgend 
einen  Vorteil  zu  erlangen.  In  der  höhern  Entwicklung  aber  findet  die 
sittliche  Kultur  in  der  Religion  ihren  festen  Halt,  und  in  der  abend- 
ländischen Welt  hat  sie  an  der  Hand  des  Christentums  ihre  höchsten  Ideale, 
wenn  nicht  erreicht,  so  doch  erstrebt. 

Die   Kultur    stellt    sich    in    der   Geistesverfassung    der  Individuen,    in  Kulturgüter  und 

Kulturprodukte. 

ihrem  Können  und  Wissen,  ihrem  Fühlen  und  Wollen  und  in  der  Ord- 
nung ihrer  Beziehungen  untereinander  dar.  Der  auf  dieser  Grundlage 
erwachsene  immaterielle,  ideale  Besitz  bildet  die  Summe  dessen,  was  wir 
als  Kulturgüter  der  Menschheit  bezeichnen.  Da  aber  die  Kultur  nicht 
unmittelbar  in  einer  kosmopolitischen  Menschheit,  sondern  in  staatlichen 
\'olksgemeinschaften  mit  nationalen  Besonderheiten  und  eigenem  geschicht- 
lichen Leben  entstanden  ist,  so  zeigen  auch  die  Kulturgüter  im  allgemeinen 
ein  nationales  Gepräge  und  zum  Teil  auch  einen  spezifisch  nationalen 
Charakter.  Das  durch  erlebte  und  überlieferte  Geschichte  auferzogene 
Nationalgefiihl,  die  durch  eine  nationale  Literatur  ausgebildete  Sprache, 
die  dem  Volksgeist  entsprechenden  öffentlichen  Institutionen,  die  das  Leben 
frei  ordnende  Sitte  —  das  sind  Besitztümer,  die  der  Kultur  jedes  Volkes 
ihre  Eigenart  und  zugleich  der  gesamten  Kulturwelt  ihre  lebendige  Viel- 
seitigkeit verleihen. 

Die  Kultur  bekundet  sich  äußerlich  in  materiellen  Erzeugnissen ,  die 
wir  im  Unterschiede  von  den  immateriellen  Kulturgütern  Kulturprodukte 
nennen  wollen.  Es  sind  dies  zunächst  wirtschaftliche  Güter,  in  deren 
allmählicher  Vermannigfaltigung  und  \'erfeinerung  wir  die  Entwicklung 
der  Bedürfinisse  der  gesitteten  Menschheit  verfolgen  können,  während 
andererseits  die  Werkzeuge,  Maschinen  und  sonstigen  Hilfsmittel  der  Pro- 
duktion den  Fortschritt  der  technischen  Kultur  erkennen  lassen.  Das 
wichtigste  Kulturprodukt  aber  ist  der  Boden,  auf  dem  das  Volk  seine 
feste  Heimat  gefunden,  der  nicht  nur  durch  \  ielhundertjährige  Arbeit  aus 


A  WiiilFtM   I.KXIS:  Das  Wesen  ilei    Kultur. 

dem  wildpii  Naturzustände  in  ein  Kapital^ut  von  enormem  Wert  imi- 
ge wandelt,  sondern  auch  mit  der  Geschichte  und  dem  Gefühlsleben  des 
Volkes  aufs  engste  verknüpft  ist  und  dadurch  einen  idealen,  nicht  bloß 
wirtschaftlichen  Wert  erhalten  hat.  Auch  die  Werke  der  bildenden  Kunst 
sind  äußerlich  materielle  Ivulturprodukte,  sie  besitzen  aber  ebenfalls  einen 
idealen  Gehalt,  der  ihnen  einen  überwirtschaftlichen  Wert  und  sogar  eine 
über  ihre  materielle  Existenz  hinaus  sich  erhaltende  Bedeutung  verleiht. 
Individuelle  Die    Kultur    ist    das   Erzeugnis    des   Zusammenwirkens    der    einzelnen, 

Triebkräfte  der  .  f 

Kultur.  wenn  diese  auch  meistens  bei  ihrem  Handeln  nicht  allgemeine  Kultur- 
ziele im  Auge  haben,  sondern  durch  persönliche,  vielfach  rein  egoistische 
Motive  bestimmt  werden.  Die  Triebkraft  der  wirtschaftlichen  Kultur  ist 
das  Bedürfnis.  Um  seine  Bedürfnisse  zu  befriedigen,  muß  der  Mensch 
entweder  selbst  arbeiten  oder  auf  irgend  eine  Art  andere  für  sich  arbeiten 
lassen.  Im  er.steren  Falle  ersinnt  er  Hilfsmittel,  um  sich  die  Arbeit  zu 
erleichtem,  und  begxündet  dadurch  die  Technik.  Die  Bedürfnisse  selbst 
aber  entwickeln  und  vermehren  sich  mit  der  steigenden  Kultur.  Der 
Naturmensch  setzt  ihrem  Drange  seine  natürliche  Trägheit  entgegen  und 
beschränkt  seinen  Bedarf  lieber  auf  das  geringste  Maß,  als  daß  er  sich 
vermehrter  Arbeit  unterzieht.  Wohl  aber  sagt  es  ihm  zu  —  und  diese 
Neigung  besteht  auch  noch  auf  höheren  Stufen  der  Halbkultur  —  sich 
durch  Gewalt  und  Raub  die  Arbeitserzeugnisse  anderer  anzueignen.  „Sie 
halten  es  für  Faulheit,  ja  Feigheit",  sagt  Tacitus  von  den  Germanen,  „mit 
Schweiß  zu  erwerben,  was  sich  mit  Blut  gewinnen  läßt." 

Einen  Fortschritt  gegen  dieses  einfache  Raubsystem  bildet  der  gegen 
Sklaven  oder  andere  Unfreie  ausgeübte  Arbeitszwang.  Es  entsteht  da- 
durch eine  wenn  auch  sehr  unvollkommene  ständige  Produktionsordnung, 
durch  die  wenigstens  in  den  oberen  Regionen  der  Gesellschaft  die  Au.s- 
bildung  einer  höheren  Kultur  ermöglicht  wird.  Je  mehr  sich  die  auf 
Eigentum  und  Tauschverkehr  begründete  Rechtsordnung  befestigt,  um  so 
mehr  geht  der  natürliche,  meist  kriegerische  Tätigkeitsdrang  der  Men- 
schen in  wirtschaftliche  Arbeitsenergie  über,  mit  der  zugleich  der 
Erwerbsgeist  erwacht.  Dieser  wirkt  noch  fort,  selbst  wenn  alle  per- 
sönlichen Bedürfnisse  des  Erwerbenden  die  vollste  Befriedigung  gefunden 
haben.  Es  wird  dann  eben  die  Tätigkeit  selbst  oder  das  Erwerben  als 
solches  als  Bedürfnis  empfunden.  Wenn  dabei  nur  Bereicherung  des 
einen  auf  Kosten  des  anderen  stattfindet,  so  hat  eine  solche  Tätigkeit 
weder  die  Eigenschaft  einer  wirtschaftlichen  Arbeit,  noch  überhaupt  einen 
Kulturwert.  Überwiegend  aber  ist  sie  auch  mit  einem  positiven  Schaffen 
verbunden,  und  insoweit  ist  der  Erwerbsgeist  die  Kraft,  die  das  ganze 
ungeheure  Getriebe  der  modernen  Volkswirtschaft  in  Bewegung  setzt  und 
durch  große  Unternehmungen  und  Anlagen  von  dauerndem  Bestände  die 
Grundlagen  der  wirtschaftlichen  Kultur  immer  mehr  erweitert.  Auch  der 
Erfinder  neuer  Schöpfungen  der  Technik  wird  in  der  Regel  nur  durch 
sein    wirtschaftliches    Selbstinteresse    geleitet,    aber    der    gehoffte   Gewinn 


I.    firundlagen   und  Bedingungen  der  Kultur.  e 

wird  ihm  nur  zuteil,  wenn  seine  Erfindung  sich  auch  objektiv  als  eine 
nützliche  Verbesserung;  bewährt  und  demnach  auch  der  ganzen  Volks- 
wirtschaft zugute  kommt. 

Die  wissenschaftliche  und  die  künstlerische  Kultur  gehen  aus  dem 
sich  selbst  befriedigenden  Forschungstrieb  und  Schaffensdrange  ])roduk- 
tiver  Geister  hervor,  aber  die  Mitwirkung  minder  hoher  Motive,  z.  B.  der 
persönlichen  Eitelkeit,  ist  dabei  nicht  ausgeschlossen  und  auch  nicht  un- 
vereinbar mit  einem  für  das  Gesamtwohl  erwünschten  Erfolge.  So  mögen 
auch  Herrscher  und  Staatsmänner  ihrem  Ruhmbedürfnis  oder  ihrem  Ehr- 
geiz gefolgt  sein,  ohne  daß  dadurch  der  Kulturwert  ihrer  Taten  und 
Schöpfungen  geschmälert  worden  wäre.  Ideal  angelegte  N^ituren  werden 
auch  vielfach  durch  religiöse  Motive  bestimmt,  für  allgemeine  Kultur- 
zwecke, insbesondere  für  die  Verbesserung  der  Lage  und  die  sittliche 
Hebung  der  großen  Masse  der  Bevölkerung  zu  wirken. 

Die    individuellen    Kräfte    reichen    jedoch    für    sich    allein    zur    vollen  Gesellschaftliche 

T  "1    •  1  ^•  T        1  Triebkräfte. 

Bewältigung  der  notwendigen  Kulturarbeit  nicht  aus,  und  zwar  um  so 
weniger,  je  höher  die  bereits  erreichte  Stufe  ist.  Es  ist  daher  eine  Er- 
gänzung der  Einzelwirkung  durch  organisierte  Vereinigung  nötig,  vor 
allem  durch  die  organisierte  Kraft  der  Gesamtheit,  die  der  Staat  vertritt. 
Ohne  Staat  gibt  es  überhaupt  keine  Kultur;  aber  er  schafft  nicht  nur  die 
Ordnung,  in  der  die  Tätigkeit  und  Wechselwirkung  der  Individuen  statt- 
findet, sondern  er  hat  auch  aktiv  einzutreten,  um  solche  Kulturleistungen 
zu  übernehmen,  die  über  die  Kräfte  der  einzelnen  und  ihrer  freiwilligen 
Vereinigungen  hinausgehen.  Die  Art  und  Ausdehnung  dieser  Staatstätig- 
keit ist  freilich  nach  der  Geschichte,  der  politischen  Entwicklung  und  dem 
nationalen  Charakter  der  Völker  verschieden;  ihre  Notwendigkeit  aber 
muß  prinzipiell  immer  mehr  anerkannt  werden,  je  zahlreicher  und  mannig- 
faltiger neue  Kulturaufgaben  hervortreten,  allerdings  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  nicht  polizeiliche  Bevormundung,  sondern  die  in  geeigneter 
Weise  zum  Ausdruck  kommende  aufgeklärte  öffentliche  Meinung  über  die 
zu  verfolgenden  Ziele  entscheide. 

Neben  dem  Staat  hat  sich  auch  die  christliche  Kirche  als  eine  ge- 
sellschaftliche Macht  bewährt,  die  für  die  Ausbreitung  und  den  Fortschritt 
der  Kultur  mit  großartigem  Erfolge  gewirkt  hat. 

Der  mittelalterliche  Feudalstaat  hatte  nicht  die  nötige  zentralisierte 
Kraft,  um  seiner  Aufgabe  als  Kulturfaktor  voll  genügen  zu  können.  Die 
Kirche  trat  mit  ihrer  mächtigen,  über  die  Einzelstaaten  hinausgreifenden 
Organisation  ergänzend  ein  und  hat  sich  namentlich  auch  in  der  Pflege 
von  Kunst  und  Wissenschaft  hohe  —  natürlich  im  Lichte  der  Zeit  zu 
beurteilende  —  Verdienste  erworben. 

Die  Gesellschaft  erzeugt  aber  auch  ohne  besondere  Organisation 
kollektive  Triebkräfte  im  Dien.ste  der  Kultur.  Alag  der  einzelne  auch 
seinem  Egoismus  folgen,  wenn  es  sich  um  seine  eigenen  Interessen  han- 
delt:   wo   diese  nicht   im  Spiele  sind,  hat  er  meist  ein  zutreffendes  Urteil 


5  WuHKiM    l.p.xih:   Das  Wesen  der   Kultur. 

Über  das,  wtis  vernünftig,  recht  und  billig  und  für  die  Ciesanitheit  nützlich 
und  erstrebenswert  ist.  So  liefert  jeder  gewissermaßen  eine  Komponente 
zu  einer  auf  das  Gemeinwohl  und  den  Kulturfortschritt  gerichteten  Massen- 
wirkung, deren  Erfolg  immer  um  so  größer  sein  wird,  je  mehr  Mittel 
diesem  Kollektiv  willen  zur  Verfügung  stehen,  um  sich  als  öffentliche 
Meinung  durchzusetzen  und  einen  Druck  auf  die  Individuen  auszuüben. 
Art  und  Kasse.  Dlc  Kultur  setzt  Staat  und  Gesellschaft  voraus,  ihren  eigentlichen  Sitz 

aber  hat  sie  in  den  Individuen,  deren  geistiger  Zustand  von  ihr  abhängt 
und  andererseits  auch  wieder  auf  sie  zurückwirkt.  Sie  wird  daher  auch 
Verschiedenheiten  aufweisen,  die  durch  die  physischen  und  geistigen  Be- 
sonderheiten der  Völker  und  insbesondere  durch  die  Rassenunterschiede 
bedingt  sind.  Daß  die  jetzt  lebenden  Menschenrassen  derselben  Art  im 
zoologischen  Sinne  angehören,  wird  von  den  meisten  Sachkundigen  zu- 
gestanden. Der  Begriff  der  Art  ist  zwar  heute  schwankender  als  zur  Zeit 
Cuviers,  aber  die  normale  Fruchtbarkeit  nicht  nur  von  Paaren  aus  ver- 
schiedenen Varietäten,  sondern  auch  der  weiteren  Verbindungen  von 
Mischlingen  untereinander  ist  ein  allgemein  anerkanntes  Kriterium  der 
Arteinheit,  und  dieses  trifft  bei  den  Menschenrassen  zu,  wie  schon  das 
Gedeihen  der  Mestizen-  und  Mulattenbevölkerung  in  Amerika  beweist. 
Die  Gleichartigkeit  der  Geistesanlagen  aber  ergibt  sich  am  deutlichsten 
aus  der  gleichen  Sprachfähigkeit  aller  Rassen.  Auch  die  Pescherähs 
und  die  Australier  haben  nicht  nur  selbst  eine  Sprache,  sondern  sie  sind 
auch  imstande,  andere  Sprachen  zu  lernen.  Die  drei  Feuerländer,  die  auf 
dem  „Beagle"  in  ihre  Heimat  zurückgebracht  wurden,  hatten  ziemlich  gut 
Englisch  gelernt,  und  von  dem  jungen  Mädchen  unter  ihnen  sagt  Darwin 
ausdrücklich,  daß  sie  sehr  schnell  alles  lernte,  besonders  Sprachen,  wie 
sie  dadurch  bewiesen  habe,  daß  sie  in  kurzer  Zeit  in  Rio  de  Janeiro  und 
Montevideo  auch  etwas  Portugiesisch  und  Spanisch  aufgeschnappt  habe. 
Menschenrasse  ist  ein  anthropologischer,  also  ein  naturwissenschaft- 
licher Begriff.  Die  derselben  Rasse  angehörenden  Individuen  sind  durch 
gewisse  gemeinschaftliche  körperliche  Merkmale  gekennzeichnet,  die 
sich  durch  Vererbung  übertragen  und  unter  denen  die  Farbe  wohl  das 
wichtigste  ist.  Ob  drei,  fünf  oder  mehr  Rassen  zu  unterscheiden  sind,  ist 
hier  nicht  zu  untersuchen.  Im  allgemeinen  aber  ist  hervorzuheben,  daß 
der  Rassentypus  sich  in  den  einzelnen  Individuen  keineswegs  völlig  gleich- 
mäßig, sondern  mit  einem  gewissen  Spielraum  ausprägt.  Man  kann  für 
jedes  Merkmal  einen  Mittelwert  aufstellen,  in  dessen  Nähe  sich  die  Einzel- 
fälle am  meisten  zusammendrängen,  während  die  Abweichungen  nach  der 
einen  und  der  anderen  Seite  um  so  seltener  werden,  je  weiter  sie  sich 
von  dem  Mittel  entfernen.  Lassen  sich  die  Merkmale  in  bestimmten 
Zahlen  ausdrücken,  wie  die  Körpergröße  oder  der  Schädelindex,  so  stellt 
sich  bei  vielen  in  einer  großen  Zahl  von  Beobachtungen  die  Verteilung 
so  dar,  wie  es  nach  dem  Gesetz  der  zufälligen  Abweichungen  zu  er- 
warten   ist.     Die  Farbennuancen    lassen    sich    nicht   im  bestimmter  Weise 


I.    GrumUaKcn  und   Rcdinj;ungen  der   Kultur.  y 

abschätzen,  aber  es  ist  augenscheinlich ,  daß  sie  bei  derselben  Rasse  eine 
ziemlich  weite  Skala  durchlaufen.  So  findet  man  bei  der  weißen  —  oder 
sogenannten  kaukasischen  —  Rasse  alle  Abtönungen  der  Haut  vom  rein- 
sten Weiß  bis  zum  Braun,  während  auch  die  Haarfarbe  von  der  hellsten 
l'lachsfarbe  bis  zum  tiefsten  Schwarz  variiert.  Überhaupt  kann  eine  Rasse 
mit  ihren  äußersten  Ausläufern  sogar  den  mittleren  Formen  einer  anderen 
nahekommen,  wenn  auch  die  typischen  Mittel  beider  weit  voneinander 
abstehen.  Auch  unter  Europäern  findet  man  zuweilen  Neger-  und  Mon- 
golenphysiognomien, ohne  daß  diese  auf  irgend  eine  nachweisbare  Rassen- 
mischung zurückgeführt  werden  können. 

Die  Rassen  zeigen  auch  Unterschiede  in  physiologischen  Eigen- 
schaften, wie  Muskelstärke,  Schärfe  der  Sinne,  Widerstandsfähigkeit 
gegen  gewisse  Krankheiten,  jedoch  steht  keineswegs  fest,  daß  solche 
Merkmale  spezifisch  im  Rassentypus  begründet  sind  und  daß  sie  sich 
nicht  durch  Übung,  Anpassung  und  Auslese  bei  gleichen  Lebensumständen 
auch  bei  Angehörigen  anderer  Rassen  ausbilden  können. 

Hauptsächlich  aber  erhebt  sich  hier  die  Frage,  ob  mit  den  körperlichen  oeUtigcRassen- 

unttTschiedc. 

Rassenunterschieden  auch  intellektuelle  und  moralische  zusammengehen, 
woraus  sich  dann  die  weitere  ergibt,  ob  alle  Rassen  durch  ihre  geistigen 
Fähigkeiten  in  gleichem  Grade  zur  Kultur  veranlagt  sind.  Diese  letztere 
Frage  scheint  ohne  weiteres  im  verneinenden  Sinne  durch  die  Tatsache 
entschieden  zu  sein,  daß  auch  heute  noch  die  Völkerstämme  in  ihrer 
Kulturhöhe  eine  vielfach  abgestufte  Reihe  bilden  und  die  niedrigsten 
noch  nicht  über  den  Zustand  primitiver  Unkultur  hinausgekommen  sind. 
Indes  dürfen  Schlüsse  auf  die  Kulturfähigkeit  verschiedener  Stämme  aus 
den  zu  einer  gegebenen  Zeit  bestehenden  Kulturverschiedenheitcn  nur 
mit  Vorsicht  gezogen  werden.  Andernfalls  hätte  man  ja  zur  Zeit  des 
Tacitus  ein  sehr  ungünstiges  Urteil  über  die  Kulturfähigkeit  der  Ger- 
manen fällen  müssen,  denn  trotz  der  an  ihnen  gerühmten  Eigenschaften 
fehlte  ihnen  die  auf  Kunst,  Literatur  und  Wissenschaft  beruhende  geistige 
Kultur  noch  gänzlich,  und  sie  standen  darin  um  viele  Jahrhunderte  gegen 
die  Griechen  und  um  Jahrtausende  gegen  die  orientalisch-ägyptische  Welt 
zurück.  Die  Geschichte  lehrt  überhaupt,  daß  die  als  Kulturträger  er- 
scheinenden Völker  zu  verschiedenen  Zeiten  nacheinander  in  ihre  Rolle 
eingetreten  sind  und  daß  sie  einer  Auslösung  der  in  ihnen  schlummern- 
den Entwicklungskräfte  durch  die  Berührung  mit  bereits  weiter  fort- 
geschrittenen Nationen  bedurften.  Es  kommt  also  an  auf  die  Kultur- 
fähigkeit einer  Rasse  unter  dem  Einfluß  einer  höheren  Kultur,  und 
von  diesem  Gesichtspunkt  kann  nicht  bestritten  werden,  daß  einige  Rassen 
in  ihrer  natürlichen  geistigen  Ausstattung  hinter  anderen  zurückstehen. 
Die  afrikanischen  Zwerg\-ölker,  die  Weddas  in  Ceylon,  die  Negritos  auf 
den  Philippinen  befinden  sich  noch  in  einem  wilden  Naturzustande,  trotz- 
dem sie  seit  unvordenklicher  Zeit  in  der  Nachbarschaft  höher  gesitteter 
Stämme    wohnen.     Wir    sehen    auch,    daß    viele   Naturvölker  für  die   Ein- 


g  W'ii.llKi.M  Lkxis:   Das  \\'cscn   dor   Kultur. 

Wirkungen  der  europäischen  Kultur  nicht  nur  unempfänglich  bleiben, 
sondern  daran  zugrunde  gehen.  Zum  Teil  wird  dies  durch  Krankheiten 
und  durch  gewalttätige  Vernichtung  verursacht,  zu  einem  großen  Teil 
aber  auch  durch  die  Unfähigkeit  dieser  Stämme,  sich  in  die  wirtschaft- 
lichen Bedingungen  des  modernen  Kulturlebens  zu  finden.  Der  Natur- 
mensch steht  auf  seiner  niederen  Stufe  doch  in  Harmonie  mit  seinen 
äußeren  Lebensumständen;  unter  der  Herrschaft  einer  ihm  fremdartigen 
Kultur  aber  wird  er  zu  einem  zerlumpten  Proletarier  degradiert,  der  den 
Kampf  ums  Dasein  mit  der  höheren  Rasse  nicht  bestehen  kann.  Die 
Australier  werden  den  Tasmaniem  folgen,  von  den  Polynesiern  und  den 
nordamerikanischen  Indianern  wird  sich  wahrscheinlich  nur  ein  kleiner 
Rest  in  zahmer  Mittelmäßigkeit  erhalten,  in  Mexiko  und  Südamerika  wird 
sich  neben  den  indianisch -kreolischen  Mischlingen  wohl  ein  größerer 
Stock  der  Urbevölkerung  behaupten,  aber  schwerlich  jemals  zu  einem 
aktiven  Element  in  der  Kulturentwicklung  werden.  Eine  widerstands- 
und  lebenskräftige  Rasse  sind  die  Neger.  In  den  Vereinigten  Staaten 
aber  werden  sie  nur  in  einem  erheblichen  Abstände  mit  der  weißen  Rasse 
parallel  gehen  können,  und  wo  sie,  wie  in  Haiti,  mit  einem  Anflug  von 
Zivilisation  sich  selbst  überlassen  sind,  zeigt  sich  ihr  selbständiger  Kultur- 
wert in  einem  sehr  ungünstigen  Lichte. 
weiBe  und  Die    gelbe    Rasse    hat    in    China    aus    eigener    Kraft    eine    vielseitige 

gelbe  Kasse.  n  r^  *  • 

Kultur  erzeugt,  die  aber  der  der  weißen  Rasse  nicht  gleichgestellt  werden 
kann.  Daß  ihre  Entwicklung  seit  mehreren  Jahrhunderten  gestockt  hat, 
ist  kein  entscheidendes  Argument  zu  ihren  Ungunsten,  denn  auch  die 
europäische  Kultur  weist  lange  Perioden  des  Stillstands  auf.  Und  die 
Japaner  haben  gezeigt,  mit  welcher  Schnelligkeit  sie  diese  Stagnation  zu 
überwinden  und  sich  die  Errungenschaften  der  europäischen  Zivilisation 
anzueignen  vermochten.  China  wird  über  kurz  oder  lang  ebenfalls  in 
diese  neuen  Bahnen  gedrängt  werden,  und  die  Entscheidung  über  die 
Gleichwertigkeit  der  Kulturfähigkeit  der  gelben  Rasse  wird  davon  ab- 
hängen, wie  sie  auf  gemeinsamem  Boden  den  Wettlauf  mit  der  europäisch- 
amerikanischen besteht. 

Die  Verschiedenheit  der  Befähigung  der  Rassen  kann  sich  in  allen 
Eigenschaften  äußern,  die  für  die  Erzeugung  der  Kultur  von  Bedeutung 
sind.  Sehr  viel  kommt  auf  die  Arbeitsenergie  an,  die  sich  aus  Arbeits- 
kraft und  Arbeitswillen  zusammensetzt.  Nur  sehr  unvollkommen  kann 
der  Wille  durch  äußeren  Zwang,  wie  ihn  die  Sklaverei  darbietet,  ersetzt 
werden,  und  mit  den  höheren  Formen  der  wirtschaftlich-technischen  Kultur 
ist  die  Sklavenarbeit  überhaupt  unvereinbar.  In  der  Arbeitsenergie  aber 
stehen  Chinesen  und  Japaner  der  weißen  Rasse  mindestens  gleich,  und 
auch  ihr  Erwerbsgei.st  ist  nicht  weniger  lebhaft.  Die  Erfindungsgabe,  die 
Quelle  der  höheren  technischen  Kultur,  hat  sich  wenigstens  in  älterer  Zeit 
bei  den  Chinesen  in  immerhin  beachtenswertem  Grade  bekundet,  und  in 
der  künstlerischen  Technik  haben    es  die  Japaner   ohne  Zweifel  sehr  weit 


I.    Grundlagen  und   Bcdinguagcn  ilcr  Kultur.  g 

g'ebracht.  Diese  haben  auch  mit  lirfolg  angefangen,  in  naturwissenschaft- 
lichen und  medizinischen  Forschungen  den  Kuropäern  nachzueifern.  Die 
Umgestaltung  der  Staatsordnung  nach  den  Anschauungen  der  europäischen 
Kultur  scheint  sich  in  Japan  zu  bewähren  und  zu  befestigen,  in  China 
aber  wird  der  nach  unseren  Begriffen  noch  halbbarbarische  Staat  schwer- 
lich in  absehbarer  Zeit  auf  das  Niveau  der  abendländischen  Gesittung 
gebracht  werden,  und  es  wird  daher  diesem  Lande  noch  lange  ein  wich- 
tiger Hebel  des  Kulturfortschritts  fehlen. 

Im  ganzen  ist  es  also  wohl  möglich,  daß  die  Ostasiaten  in  der  utili- 
t arischen  Richtung  der  Kultur  den  \'orsprung  der  weißen  Rasse  nach 
und  nach  einholen  und  in  Zukunft  vielleicht  mit  ihr  Schritt  halten  werden. 
Daß  sie  aber  auch  den  idealen  Gehalt  des  von  dem  griechischen  Genius 
befruchteten  und  seit  fast  zwei  Jahrtausenden  in  der  Schule  des  Christen- 
tums erzogenen  abendländischen  Geistes  in  Treibhauskultur  hervorbringen 
werden,  ist  kaum  zu  erwarten,  ja  man  darf  sagen,  sie  werden  nicht  daran 
denken,  es  zu  versuchen.  Überhaupt  wird  es  sich  fragen,  in  welchem 
Maße  die  gelbe  oder  irgend  eine  andere  Rasse  die  Originalität  der 
künstlerischen,  wissenschaftlichen  und  jeder  anderen  Begabung  aufweisen 
kann,  der  die  weiße  Rasse  ihre  führende  Stellung  verdankt.  In  ihrer 
ganzen  Macht  tritt  diese  Originalität  in  den  wenigen  großen  Geistern  auf, 
mit  denen  neue  Epochen  in  der  Kultur  der  Menschheit  beginnen.  Wir 
wissen  nicht,  woher  sie  kommen,  aber  sie  sind  bisher  nur  aus  der  weißen 
Rasse  hervorgegangen.  Es  gibt  aber  auch  einen  mittleren  Typus  der 
Befähigung  zum  selbständigen  geistigen  Schaffen,  und  nach  der  bisherigen 
geschichtlichen  Erfahrung  darf  angenommen  werden,  daß  auch  dieser  bei 
der  weißen  Rasse  am  höchsten  steht,  was  aber  nicht  ausschließt,  daß  er 
in  dieser  Höhe  auch  von  bevorzugten  Angehörigen  anderer  Rassen  er- 
reicht werden  könne. 

Die  weiße  Rasse  setzt  sich,  wie  auch  die  übrieren,  aus  mehreren  vöikcrfimiiien 
Völkertamilien  zusammen,  die  auch  einige  Unterschiede  in  körperlichen  voiksstämme. 
Merkmalen  erkennen  lassen,  jedoch  nicht  in  solchem  Grade,  daß  daraus 
eine  Rassenverschiedenheit  abgeleitet  werden  könnte,  zumal  auch  ohne 
nachweisbare  Mischung  Übergänge  in  allen  Schattierungen  vorkommen. 
Ein  wichtiges  ethnographisches  Kriterium  liefert  der  Sprachstamm,  je- 
doch keineswegs  ein  völlig  sicheres,  denn  in  vielen  Fällen  hat  ein  Volks- 
stamm die  Sprache  eines  anderen  angenommen,  und  zwar  nicht  nur  der 
Besiegte  die  des  Siegers,  sondern  auch  umgekehrt  der  Sieger  die  des 
Besiegten,  wenn  diesem  eine  höhere  Kultur  zu  statten  kam. 

Die  beiden  wichtigsten  Völkerfamilien  innerhalb  der  weißen  Rasse 
sind  die  arische  und  die  semitische,  von  denen  jede  wieder  in  mehrere 
Zweige  zerlegt  ist.  Ihre  Bedeutung  für  die  allgemeine  Kulturentwicklung 
gegeneinander  abzuwägen  ist  hier  nicht  die  Aufgabe,  und  in  wirklich 
wissenschaftlichem  Sinne  läßt  sich  diese  Frage  wohl  überhaupt  nicht  be- 
antworten.    .Semiten   und  Arier  haben   seit  Jahrtausenden   zur  Ausbildung 


10  Wilhelm  Lexis:  Das  Wesen  der  Kultur. 

der  eils  oiiio  s;-(>schichtliche  Einheit  erscheinenden  orientalisch-europäischen 
Kultur  zusammengewirkt,  und  zwar  haben  die  semitis(-hen  Völker,  denen 
sich  auch  die  Ägypter  zunächst  anschließen,  zeitlich  den  Vortritt  gehabt. 
Aus  beiden  Völkergruppen  sind  große  Geister  hervorgegangen,  die  auf 
allen  Gebieten  des  Kulturlebens  dauernde  oder  sogar  epochemachende 
Wirkungen  ausgeübt  haben.  Nach  welchem  objektiven  Maßstabe  will 
man  solche  Leistungen  abschätzen  und  gegeneinander  in  Rechnung  stellen? 
Schätzungen  nach  subjektiven  Eindrücken  und  Empfindungen  sind  selbst- 
verständlich wertlos.  Ebensowenig  lassen  sich  die  typischen  Eigenschaften 
der  Völkergruppen  wie  auch  der  einzelnen  Volksstämme,  der  Germanen, 
Romanen,  Slawen,  Juden,  aus  sporadischen  und  subjektiv  aufgefaßten  Er- 
fahrungen feststellen.  Körperliche  Stammesmerkmale  lassen  sich  aller- 
dings durch  Massenbeobachtungen  exakt  ermitteln;  aber  in  bezug  auf 
Geistesanlagen  und  Charaktereigenschaften  ist  ein  solches  Verfahren 
praktisch  nicht  durchführbar.  Ohne  Zweifel  haben  sich  durch  geogra- 
phische oder  gesellschaftliche  Trennung  und  durch  die  Verschiedenheit  der 
wirtschaftlichen  Lage,  der  Erziehung  und  der  Lebensgewohnheiten  gewisse 
kulturelle  Stammesunterschiede  entwickelt,  aber  sie  sind  durch  die  mannig- 
faltigsten Übergänge  verbunden  und  verwischen  sich  rasch  bei  veränderten 
Umständen.  Die  Betrachtung  des  ganzen  Verlaufs  unserer  Kulturgeschichte 
und  insbesondere  die  Tatsache,  daß  die  verschiedenen  Völker  abwechselnd 
mit  besonderen  Leistung^en  hervorgetreten  und  dann  auch  wieder  zeit- 
weise mehr  im  Hintergrunde  geblieben  sind,  rechtfertigt  die  Annahme,  daß 
die  aktive  Kulturfähigkeit  der  Volksstämme  der  weißen  Rasse  sich  im 
wesentlichen  gleichstehe. 
Äußere  Einfliisse.  Wenn  der  menschliche  Geist  den  Boden  darstellt,  in  dem  die  Kultur 
emporwächst,  so  übt  doch  auch  die  äußere  Natur  auf  ihren  Charakter, 
die  Richtung  ihrer  Entwicklung  und  die  Größe  ihres  Wachstums  einen 
Einfluß  aus,  der  nicht  unterschätzt  werden  darf.  Die  Versuche  freilich, 
bestimmte  Naturgesetze  über  die  Einwirkungen  des  Klimas,  des  Bodens, 
der  geographischen  Lage  usw.  zu  formulieren,  sind  nicht  gelungen;  man 
muß  sich  begnügen,  tatsächliche  Gleichmäßigkeiten  in  dem  nachweisbaren 
Zusammenhang  zwischen  der  Naturgrundlage  und  der  geschichtlichen  und 
kulturellen  Entwicklung  der  Menschheit  zu  suchen.  Den  stärksten  Ein- 
fluß auf  die  Lage  der  Menschen  übt  das  Klima  aus.  Denn  nicht  die 
Bodenbeschaffenheit  ist  es,  was  die  Polarländer,  die  Steppen  Asiens,  die 
Wüsten  Afrikas  und  Australiens  wirtschaftlich  wertlos  oder  völlig  unbe- 
wohnbar macht,  sondern  der  Mangel  an  Wärme  oder  an  Regen.  Schlechter 
Boden  kann  bei  günstigen  Temperaturverhältnissen  und  genügender  Menge 
der  Niederschläge  durch  künstliche  Mittel  verbessert  und  für  den  Menschen 
nutzbar  gemacht  werden,  aber  von  einer  Verbesserung  des  klimatischen  Zu- 
standes  des  nördlichen  Sibiriens  oder  der  Sahara  wird  nie  die  Rede  sein 
können.  Das  Klima  ist  aber  auch  für  die  persönliche  Leistungsfähigkeit, 
ja    für    die   Existenzfähigkeit    des  Menschen   wesentlich  mit  entscheidend. 


I.    Grundlagen  und  Bedingungen  der  Kultur.  II 

In  der  eisigen  Polarnacht  wird  seine  Arbeitskraft  brachgelegt,  in  der 
Tropenzone  wird  sie  durch  die  erschöpfende  Treibhaushitze  gelähmt,  der 
ganze  Organismus  des  Nordländers  erschlafft  und  verliert  alle  Widerstands- 
fähigkeit gegen  die  üppig  wuchernden  giftigen  Mikroorganismen.  Es  ist 
nicht  wahrscheinlich,  daß  die  weiße  Rasse  Mittel-  und  Xordeuropas  sich 
in  der  heißen  Zone  jemals  unvermischt  so  weit  akklimatisieren  können 
werde,  daß  sie  kompakte  Bevölkerungsmassen  mit  gesicherter  Fortpflanzung 
und  Vermehrungsfähigkeit  zu  bilden  imstande  wäre. 

Von  großem  Einfluß  auf  das  Klima  und  zugleich  auf  die  Gestaltung 
des  Wirtschaftslebens  ist  der  Wechsel  der  Jahreszeiten.  Je  weiter  man 
von  der  Tropenregion  nach  Norden  vorgeht,  um  so  mehr  findet  man  die 
Landwirtschaft  und  auch  manche  andere  Zweige  der  Produktion  an  einen 
streng  periodischen  Gang  gebunden  und  zeitweise  sogar  zur  Untätigkeit 
gezwungen.  Das  mitteleuropäische  Klima  mit  Frühling  und  Herbst  als 
Übergangsjahreszeiten  gestattet  immerhin  acht  Monate  im  Jahre  die  Arbeit 
im  Freien.  In  dem  nördlichen  Drittel  der  gemäßigten  Zone  gehen  im 
Gebiet  des  Kontinentalklimas,  wie  in  Rußland,  Herbst  und  Frühling  fast 
ganz  in  den  harten  Winter  auf,  die  Feldarbeit  muß  in  einen  Zeitraum  von 
kaum  vier  Monaten  zusammengedrängt  werden,  und  während  des  größten 
Teiles  des  Jahres  hat  die  ländliche  Bevölkerung,  zumal  auch  die  Länge 
der  Nächte  störend  wirkt,  große  Schwierigkeit,  ihre  Arbeitskraft  zu  ver- 
werten, und  sieht  sich  vielfach  zum  zeitweiligen  Betrieb  einer  minder- 
wertigen Hausindustrie  genötigt. 

Sehr  mannigfach  und  entscheidend  ist  auch  die  Bedeutung  der  natür-      H'"'«»-   ,. 
liehen    Bodenbeschaffenheit    für  das  Wirtschaftsleben    und    die   Kulturent-        "«d 

Pnanzendecke. 

Wicklung.  Die  Formen  der  Oberfläche  begünstigen  oder  erschweren  An- 
siedlung  und  Verkehr,  die  chemische  und  physikalische  Zusammensetzung 
des  Bodens  hat  die  ursprüngliche  Pflanzendecke  und  die  größere  oder 
geringere  Schwierigkeit  bedingt,  diese  durch  künstlich  gezogene  Nutz- 
gewächse zu  ersetzen,  und  der  unterirdische  Gehalt  an  nutzbaren  Mineral- 
stoffen hat  in  der  neueren  Zeit  eine  immer  größere  Wichtigkeit  erlangt 
und  i.st  nicht  selten  zum  entscheidenden  Faktor  für  den  Reichtum  eines 
Landes  geworden.  So  hat  England  durch  seine  reichliche  Ausstattung 
mit  Kohlen  und  Eisenerzen  längere  Zeit  einen  weiten  Vorsprung  vor  allen 
anderen  Ländern  behauptet  und  diesen  auch  gegenwärtig  noch  nicht  gänz- 
lich verloren.  Wo  lohnender  Bergbau  möglich  ist,  schreckt  auch  das  un- 
wirtliche nordische  Klima  die  Unternehmungslust  nicht  zurück,  wie  sich 
jetzt  in  der  Eisenerzregion  des  nördlichen  Schwedens  zeigt. 

Nach  seinem  ursprünglichen  Verhältnis  zum  Pflanzemvuchs  erscheint 
der  Boden  als  Waldland,  als  Savanne  mit  oft  parkartigem  Charakter,  als 
Grasland,  als  Steppe,  als  Wüste,  im  arktischen  Gebiet  auch  als  Moos-  und 
Flechtentundra.  Diese  Naturbedingungen  haben  auf  den  Gang  der  mensch- 
lichen Kulturarbeit  stets  ihre  Nachwirkungen  ausgeübt  W^o  kräftiger  Ur- 
wald gedeihen  konnte,  war   der  Boden  auch  zu  einem  ergiebigen  Acker- 


13  Wu.iU'.i.M   I.KXis:  Diis  Wesen  der  Kultur. 

bau  geeignet,  aber  in  den  ersten  Stadien  der  Kultur  wirkten  die  Schwierig- 
keiten der  Rodung  hemmend  auf  den  Anbau.  Fruchtbares  Grasland,  wie 
die  russische  schwarze  Erde,  ist  nicht  allzusehr  verbreitet.  Die  Steppe 
leidet  an  Wassermangel  und  ist  unmittelbar  nur  für  die  Viehzucht  benutz- 
bar, kann  aber  an  Stellen,  die  der  künstlichen  Bewässerung  zugänglich 
sind,  häufig  in  sehr  fruchtbares  Ackerland  umgewandelt  werden.  Die 
Salzsteppen  im  europäischen  und  asiatischen  Rußland,  das  Dornbuschland 
in  Südafrika,  das  undurchdringliche  Scrubland  in  Australien  werden  wohl 
niemals  eine  erhebliche  Bedeutung  im  Haushalt  der  Menschheit  erlangen. 

In  den  Kulturländern  der  alten  Welt  hat  das  Vegetationsbild  durch 
eine  mehrtausendjährige  Arbeit  ein  vollständig  verändertes  Aussehen  er- 
halten. Der  Wald  ist  zum  Teil  so  weit  zurückgedrängt,  daß  ernstliche 
Nachteile,  namentlich  Gefahren  der  Überschwemmung,  Versumpfung,  Ver- 
sandung oder  Ausdörrung  größerer  Gebiete  befürchtet  werden.  Das  ganze 
für  den  Ackerbau  geeignete  I.and  wird  von  einer  verhältnismäßig  kleinen 
Zahl  von  Pflanzenarten  eingenommen,  die  dem  Menschen  zur  Ernährung 
oder  zu  sonstigen  wirtschaftlichen  Zwecken  dienen  und  die  fast  sämtlich 
durch  lange  fortgesetzte  Züchtung  und  Veredlung  bedeutende  Abänderungen 
ihrer  ursprünglichen  Eigenschaften  und  dadurch  erst  ihren  gegenwärtigen 
Grad  von  Nützlichkeit  erhalten  haben.  Die  Weiden  sind  größtenteils  durch 
künstlich  angelegte  Wiesen  ersetzt,  eine  kleine  Anzahl  von  Baumarten  ist 
veredelt  worden  imd  wird  ihrer  Früchte  wegen  gepflegt,  der  Urwald  ist 
fast  gänzlich  verschwunden  und  ein  künstlich  gezüchteter  Wald  in  ver- 
schiedenen Formen  an  seine  Stelle  getreten. 

Auch  die  Tierwelt  des  alten  Kulturgebiets  hat  große  Wandlungen  er- 
fahren. Die  gefährlichen  Tiere,  mit  denen  der  Mensch  ursprünglich  einen 
ernstlichen  Kampf  ums  Dasein  zu  führen  hatte,  sind  ausgerottet,  die  Jagd 
hat  ihre  frühere  wirtschaftliche  Bedeutung  für  die  Ernährung  der  Be- 
völkerung fast  gänzlich  verloren  und  wird  nur  noch  als  Sport  gegen  eine 
kleine  Zahl  von  Tierarten  ausgeübt,  von  denen  mehrere  zu  diesem  Zweck 
besonders  geschont  oder  gehegt  werden.  Eine  ebenfalls  nicht  große  An- 
zahl anderer  Arten  ist  durch  Züchtung  in  Haustiere  mit  beträchtlichen 
Abänderungen  ihrer  ursprünglichen  Eigenschaften  verwandelt  worden. 
Übrigens  ist  die  Viehzucht  nach  den  neueren  Ansichten  wahrscheinlich 
im  Zusammenhang  mit  dem  Ackerbau,  nicht  aber  zuerst  bei  hypothetisch 
angenommenen  nomadisierenden  Hirtenvölkern  entstanden.  Denn  ehe  die 
Steppen  Westasiens  und  Osteuropas  sich  mit  Nomaden  bevölkerten,  die 
durchaus  auf  die  Milch  ihrer  Herden  angewiesen  sind,  mußten  durch  lange 
Züchtung  Tierrassen  geschaffen  sein,  die  einen  über  das  Nahrungsbedürf- 
nis ihrer  Jungen  bedeutend  hinausgehenden  Milchertrag  lieferten. 
Geographische  Über    die  Bedeutung    der    allgemeinen    geographischen   Bedingungen 

Bedingungen.  r  •        c  "^ 

sowohl  für  die  Staatenbildung  als  auch  für  die  Verteilung  der  Ansied- 
lungen  und  Produktionszweige  und  die  Entwicklung  der  Städte  sind  viele 
geistreiche  und  auch  mehr  oder  weniger  zutreffende  Betrachtungen  ange- 


I.    Grundlagen  und  Bedingungen  der  Kultur.  13 

Stellt  worden,  auf  die  indes  hier  nicht  eingegangen  werden  kann.  Nur  in 
bezug  auf  die  Städte,  die  als  Ausgangspunkte  der  höheren  Kulturent- 
wicklung besondere  Beachtung  verdienen,  sei  bemerkt,  daß  die  natürlichen 
Bedingungen  —  unter  denen  die  Verkehrslage  wohl  die  wichtigste  ist  — , 
die  ursprünglich  ihr  Emporkommen  und  ihre  Blüte  besonders  begünstigt 
hatten,  unter  den  heutigen  \'erhältnissen  in  vielen  Fällen  ihre  frühere  Be- 
deutung eingebüßt  haben,  da  die  Verkehrsbedingungen  durch  das  Eisen- 
bahnwesen vollständig  umgestaltet  worden  sind.  Auch  hat  es  von  je  her 
nicht  an  Städten  gefehlt,  die  ihr  Wachstum  nicht  der  Gunst  ihrer  Lage, 
sondern  ihrer  politischen  Stellung  verdankten.  Daß  Berlin  in  der  Mitte 
zwischen  Oder  und  Elbe  liegt,  deren  Verbindung  durch  Havel  und  .Spree 
erleichtert  wird,  mag  dazu  beigetragen  haben,  ihm  die  Existenz  einer 
kleinen  Mittelstadt  zu  verschaffen,  aber  erst  als  Hauptstadt  des  König- 
reichs Preußen  wuchs  es  zu  einer  Großstadt  und  erst  als  Hauptstadt  des 
Deutschen  Reichs  zu  einer  Weltstadt  heran.  Wie  die  Kultur  überhaupt 
dahin  strebt,  die  Xaturwiderstände  zu  überwinden,  so  ist  es  auch  ihre 
Tendenz,  den  Menschen  wenigstens  in  seiner  individuellen  Lebenshaltung 
von  den  klimatischen  und  geographischen  Einflüssen  immer  unabhängiger 
zu  machen.  In  großem  Umfange  ist  dies  bereits  erreicht  worden.  Von 
Hammerfest  bis  Kapstadt,  von  Dawson  City  bis  Punto  Arenas  herrscht 
derselbe  Typus  des  gesitteten  Lebens,  wenn  auch  gewisse  Anpassungen 
an  die  äußere  Umgebung  unvermeidlich  sind.  Ein  bemerkenswertes  Vor- 
bild bieten  die  Engländer  dar,  die  in  allen  Zonen  mit  Zähigkeit  die  ge- 
wöhnliche Ordnung  ihres  häuslichen  Lebens  so  weit  wie  irgend  möglich 
festhalten. 

Die  Kultur  überträgt  sich  in  jedem  lebenskräftigen  Volk  von  Geschlecht  ^'"j:^^,-;"«  d« 
zu  Geschlecht  und  man  pflegt  diese  Übertragung  als  „Vererbung"  zu  be- 
zeichnen. Unter  dem  Einfluß  der  darwinistischen  Anschauungen  ist  es 
dahin  gekommen,  daß  man  bei  diesem  Wort  zuletzt  an  seine  ursprüng- 
liche und  eigentliche  Bedeutung  denkt,  nämlich  an  den  Übergang  von 
materiellem  Besitz  auf  die  Nachkommen.  Streng  genommen  und  ohne 
Bild  aber  kann  man  in  bezug  auf  die  Übertragung  der  Kultur  nur  in 
diesem  letzteren  Sinne  von  einer  Vererbung  reden,  und  zwar  betrifft  diese 
nicht  die  Kultur  selbst,  sondern  nur  ihre  materiellen  Erzeugnisse.  Die 
Nachkommen  erben  von  ihren  Vorfahren  den  durch  vielhundertjährige 
Arbeit  aus  Urwald,  Sumpf  und  Steppe  in  nutzbares  Land  umgewandelten 
Boden,  sie  erben  das  in  immer  engeren  Maschen  ausgebaute  Netz  der 
Verkehrswege  aller  Art,  den  Gebäudebestand,  den  ganzen  Apparat  der 
technischen  Produktionsmittel,  kurz  das  gesamte  stehende  Kapital  der 
Volkswirtschaft,  den  ganzen  Reichtum  an  dauernden  Gebrauchsgütern  und 
an  Kunstschätzen. 

In  einem  mehr  bildlichen  Sinne  wird  das  Wort  Vererbung  auch  auf 
die  Übertragimg  von  staatlichen,  kirchlichen  und  anderen  öff'entlichen  In- 
stitutionen,  von   Gesetz   und   Sitte   angewandt.     Es  sind  dies  Schöpfungen 


14  Wilhelm  Lexis:  Das  Wesen  der  Kultur. 

des  jiesellsohaftlichcn  Kulturlebens  von  dauerndem,  wenn  auch  nicht  un- 
veränderlichem Bestände;  jeder  neu  in  die  Gesellschaft  eintretende  ein- 
zelne findet  diese  Mächte  der  Gesamtheit  als  ein  Gegebenes  vor,  dem  er 
sich  zu  fügen  hat,  und  man  kann  vielleicht  mit  größerem  Recht  sagen, 
daß  sie  ihn  erben,  nicht  er  sie. 

Noch  weniger  zutreffend  ist  das  Bild  der  Vererbung,  wenn  es  auf  die 
Vermittlung  der  Kultur  durch  Erziehung  und  Unterricht  angewandt  wird. 
Allerdings  hat  die  Jugend  den  Kulturgehalt,  den  sie  sich  aneignen  soll, 
nicht  selbst  zu  schaffen,  sondern  er  wird  ihr  durch  andere  überliefert. 
Aber  im  Gegensatz  zur  Vererbung  ist  diese  Übertragung  kein  automa- 
*  tischer  Prozeß,  sondern  sie  ist  nur  möglich  durch  mühevolle  Mitwirkung 
der  Zöglinge.  Jeder  muß  schließlich  alles  selbst  erwerben,  um  es  zu  be- 
sitzen, er  muß  sich  von  dem  Nullpunkt  des  Wissens  emporarbeiten  und 
den  sittlichen  Kampf  mit  Selbstsucht  und  ungebändigten  Trieben  und 
Leidenschaften  selbst  aufnehmen  und  durchfechten. 

Durchaus  bildlich  endlich  ist  die  Anwendung  des  Wortes  Vererbung 
auf  die  physiologische  Übertragung  der  Eigenschaften  der  Eltern  auf  ihre 
Nachkommen,  wenn  auch  dieser  Sprachgebrauch  jetzt  allgemein  verbreitet 
ist.  In  diesem  Sinne  kann  jedoch  nur  von  einer  Vererbung,  nicht  der 
Kultur,  sondern  der  Kulturfähigkeit  die  Rede  sein,  der  Fähigkeit  des 
Nachwuchses,  die  gegebene  Kultur  der  älteren  Generation  nicht  nur 
passiv  aufzunehmen,  sondern  sie  auch  selbsttätig  zu  behaupten  und  wo- 
möglich weiter  zu  fördern.  Bei  den  einzelnen  wird  diese  Fähigkeit,  wie 
die  übrigen  Rasseneigenschaften,  in  zahlreichen  Abstufungen  um  eine 
mittlere  Größe  erscheinen;  wird  aber  der  Durchschnitt  annähernd  kon- 
stant  oder  etwa  im  positiven  Sinne  langsam  veränderlich  sein? 
Kiiiturforischritt  Die  Kultur  wird  im  allgemeinen  nicht  einfach  auf  die   folgenden  Ge- 

schlechter  übertragen,  sondern  sie  weist  in  der  Geschichte  Perioden  des 
Aufsteigens,  der  Stockung  und  des  Niederganges,  im  ganzen  aber  einen 
Fortschritt  auf.  Man  pflegt  ihn  mit  dem  durch  den  Darwinismus  beliebt 
gewordenen  Schlagwort  „Entwicklung"  zu  bezeichnen,  was  selbstverständ- 
lich nur  eine  bildliche  Redewendung  ist. 

Als  Grundbedeutung  des  Wortes  „Entwicklung"  ist,  umgekehrt  wie 
bei  der  „Vererbung",  die  physiologische  anzusehen.  Es  bedeutet  die  Aus- 
bildung von  Formen  und  Eigenschaften  eines  zusammengesetzten  Ganzen, 
die  in  dessen  ursprünglicher  Gestalt  schon  im  Keime  oder  in  der  An- 
lage vorhanden  sind.  In  diesem  Sinne  kennen  wir  erfahrungsmäßig 
streng  genommen  nur  eine  Art  der  Entwicklung,  das  embryonale  Wachsen 
der  Organismen,  die  Entwicklung  des  Hühnchens  im  Ei,  um  ein  populäres 
Beispiel  anzuführen.  Auch  das  weitere  Wachstum  der  organischen  Indi- 
viduen bis  zu  ihrem  Höhepunkt  kann  noch  unter  diesen  Begriff  gebracht 
werden,  obwohl  äußere  Einflüsse  hier  schon  stärker  mitwirken.  Die  Rück- 
bildung und  der  Verfall  in  höherem  Alter  ist  ohne  Zweifel  ebenfalls  durch 
die  ursprüngliche  Naturanlage  des  Individuums  bestimmt,  aber  man  denkt 


I.    Grundlagen  und   Bedingungen  der  Kultur.  15 

sich  die  Entwicklung  nur  als  Fortschritt  und  schließt  die  rückläufige 
Lebensphase  aus.  Der  typische  körperliche  und  geistige  Normalzustand 
einer  menschlichen  Gesamtheit  wird  also  durch  die  durchschnittliche 
Maximalhöhe  der  individuellen  Entwicklung  dargestellt.  Stellt  nun  aber 
dieser  Normalzustand  selbst  unter  einem  im  Wesen  und  der  Naturanlage 
der  Spezies  Mensch  begründeten  Entwicklungsgesetz,  das  sich  allmählich 
im  Laufe  vieler  Generationen  geltend  macht?  Soweit  unsere  sicheren 
historischen  Erfahrungen  reichen,  darf  diese  Frage  verneint  werden.  Die 
durchschnittliche  Körpergröße  und  Körperkraft  hat  seit  den  Tagen  der 
alten  Ägypter  und  der  alten  Germanen  eher  abgenommen  als  zugenom- 
men, und  es  liegt  auch  keinerlei  Grund  zu  der  Annahme  vor,  daß  die 
durchschnittlichen  Geistesanlagen  der  heutigen  Europäer  höher  ständen, 
als  die  der  Griechen  und  Römer. 

Eine    phylogenetische    Entwicklung   der  Kulturfähigkeit    einer   Rasse    Theoretische 

^  ,.,  .  „  T,Tj--,  Mcglichkeit  der 

konnte  man  sich  auf  verschiedene  Art  vorstellen.  Jedes  Individuum  ent-  Entwicklung  der 
steht  durch  die  Kombination  der  Anlagen  zweier  Keime,  die  sich  auf 
eine  uns  gänzlich  unbekannte  Art  steigern,  neutralisieren  und  schwächen 
können.  Die  Anlagen  jedes  einzelnen  Keimes  können  um  ein  individuelles 
Mittel  schwanken,  das  mit  dem  typischen  Rassenmittel  nicht  zusammen- 
fällt; aber  durch  die  Verbindung  mit  einem  andern  Keim  findet  eine  Aus- 
gleichung in  der  Art  statt,  daß  der  durchschnittliche  Rassentypus  in  den 
verschiedenen  Eigenschaften  der  Individuen,  also  auch  in  ihrer  Kultur- 
fähigkeit  im  ganzen  erhalten  bleibt.  Eine  fortschreitende  Entwicklung  wäre 
nun  denkbar  dadurch,  daß  die  die  Kulturfähigkeit  bedingenden  Anlagen 
mehr  oder  weniger  in  allen  Keimen  gesteigert  oder  daß  die  Fälle  über- 
durchschnittlicher Anlagen  allmählich  zahlreicher  würden,  wodurch  ja  auch 
eine  lirhöhung  des  Durchschnittswertes  selbst  entstände.  Dies  könnte 
man  entweder  auf  ein  unbekanntes  inneres  Entwicklungsgesetz  zurück- 
führen oder  durch  die  Annahme  erklären,  daß  die  überdurchschnittlichen 
Eigenschaften,  wenn  sie  einmal  bei  einem  Individuum  aufgetreten  sind, 
sich  leichter  vererben,  als  die  geringeren  Anlagen.  Die  darwinistische 
Auslese  könnte  hier  höchstens  hinsichtlich  der  wirtschaftlichen  Anlagen 
mit  einiger  Analogie  als  Erklärungsgrund  herangezogen  werden,  denn  die 
höheren  Seiten  der  Kulturfähigkeit,  die  wissenschaftliche,  die  künstlerische, 
die  sittliche,  stehen  mit  der  physischen  Lebenskraft  und  Fortpflanzungs- 
fähigkeit  in  keinem  Zusammenhang,  und  Männer  von  genialster  Begabung 
haben  sich  für  den  wirtschaftlichen  Kampf  ums  Dasein  oft  als  sehr  schlecht 
ausgerüstet  erwiesen. 

Wenn  also  eine  überwiegende  Vererblichkeit  höherer  Begabungen 
bestände,  so  müßte  man  einfach  annehmen,  daß  die  entsprechenden  Keim- 
anlagen eine  höhere  Kraft  der  Selbsterhaltung  besäßen,  was  aber  keine 
Erklärung,  sondern  nur  eine  andere  Wortfassung  für  den  vorausgesetzten 
Tatbestand  wäre.  .ch'^ernieKnt^ 

In    Wirklichkeit    aber    liegt    ein    solcher    Tatbestand    überhaupt    nicht  "'vere^bait'!'^ 


if)  Wii.HF.l.M   Li'.xiS:  Das  Wesen  der   Ivultui. 

vor.  Daß  sicli  die  durchschnittliche  Kulturfähigfkoit  der  weißen  Rasse  seit 
der  Zeit  des  klassischen  Altertums  gesteigert  habe,  wird  schwerlich  jemand 
behaupten  wollen.  Daß  sich  ungewöhnliche  Talente  und  Fähigkeiten 
leichter  vererben,  als  Mängel  der  Geistes-  und  Willenskraft,  ist  nicht  im 
entferntesten  bewiesen,  vielmehr  könnte  man  aus  den  täglichen  Erfah- 
rungen eher  schließen,  daß  „erbliche  Belastung"  häufiger  vorkomme,  als 
erbliche  Bevorzugung.  Die  von  Galton  und  anderen  gesammelten  Tatsachen 
beweisen  keineswegs  eine  entschiedene  und  nachhaltige  Vererblichkeit 
besonderer  Begabungen,  zumal  wenn  ihnen  die  entgegengesetzten  Erfah- 
rungen, namentlich  auch  die  Fälle  völliger  Degeneration,  gegenübergestellt 
würden.  Daß  die  Söhne  talentvoller  Väter  sich  ebenfalls,  und  vielleicht 
in  demselben  Berufe,  als  tüchtig  erweisen,  kommt  gewiß  nicht  selten  vor, 
aber  daraus  folgt  noch  nicht,  daß  die  Erblichkeit  einer  besonderen  Anlage 
dabei  entscheidend  mitwirke.  Die  Ursache  kann  auch  in  einer  allgemeinen 
galten  Veranlag'ung  liegen,  wie  sie  überhaupt  ziemlich  verbreitet  ist,  die 
bei  dem  Sohne  eines  berühmten  Mannes  durch  Erziehung,  Beispiel  und 
sonstige  Gunst  der  Umstände  in  der  durch  den  Vater  gegebenen  Richtung 
ausgebildet  worden  ist.  Die  häufig  beobachtete  Vererbung  der  musika- 
lischen Begabung  beruht  jedenfalls  wesentlich  mit  auf  der  physischen 
Vererbung  einer  besonderen  Nervenorganisation.  Im  übrigen  geht  aus 
Galtons  Zahlen  selbst  hervor,  daß  die  Vererblichkeit  des  Talents,  die  man 
zwischen  Vater  und  Sohn  vermuten  könnte,  in  den  folgenden  Generationen 
bald  gänzlich  verschwindet. 

Wenn  aber  auch  das  Talent  bei  seiner  größeren  Verbreitung  nicht 
selten  in  einem  wirklichen  oder  scheinbaren  Erblichkeitszusammenhang  auf- 
tritt, so  erscheinen  dagegen  die  großen  schöpferischen  Genies,  die  der 
Menschheit  neue  Wege  gewiesen  und  neue  Epochen  der  Geschichte  er- 
öffnet haben,  in  großartiger  Isoliertheit.  Auch  sie  sind  Kinder  ihrer  Zeit, 
aber  sie  stehen  außerhalb  jeder  erkennbaren  Entwicklung.  Ihre  durch 
Geist  und  Wille  bestimmte  Originalität  liegt  jenseits  der  Grenze  des  nor- 
malen Spielraums  der  überdurchschnittlichen  Begabungen.  Diese  alles 
gewöhnliche  Maß  überschreitenden  Geister  waren  stets  unvermittelt  da, 
ohne  daß  der  physiologische  Boden,  aus  dem  sie  erwachsen  waren,  uns 
ihre  Existenz  erklären  kann.  Weder  die  Statur  von  Goethes  Vater  noch 
die  Frohnatur  seiner  Mutter  geben  uns  irgend  einen  Anhalt,  um  die  Ent- 
stehung dieser  außerordentlichen  Persönlichkeit  zu  begreifen.  Und  wie 
das  Genie  plötzlich  erscheint,  so  verschwindet  auch  alsbald  wieder  seine 
Spur,  Keiner  jener  großen  Geister  hat  einen  Sohn  von  gleichem  Range 
hinterlassen.  In  Goethes  Familie  trat  sogar  ein  auffallend  starker  Verfall 
ein.  Wenn  dieser  auch  auf  das  weibliche  Element  zurückzuführen  ist,  so 
bleibt  doch  eben  die  Tatsache  bestehen,  daß  dieses  in  so  hohem  Grade 
das  Übergewicht  erhielt. 

Ein  Kulturfortschritt  durch  Vererbung  erworbener  geistiger  Eigen- 
schaften wäre  denkbar  in  der  Art,  daß  die  Ergebnisse  der  moralischen 


I.    Grundlagen  und  Bedingungen  der  Kultur.  f  "J 

Zucht  der  älteren  Generation  sich  physiologisch  auf  ihre  Nachkommen 
übertrügen.  Aber  nichts  beweist  die  Richtigkeit  dieser  Annahme.  Wenn 
die  wilden  Instinkte  des  Naturmenschen  im  zivilisierten  Menschen  zurück- 
gedrängt sind,  so  ist  man  keineswegs  genötigt,  dies  als  eine  ererbte  Zäh- 
mung anzusehen,  sondern  es  können  die  auf  jeden  einzelnen  von  Kind- 
heit an  wirkenden  Einflüsse  der  Erziehung,  der  Sitte,  der  staatlichen  und 
der  gesellschaftlichen  Beschränkungen  zur  Erklärung  der  Tatsache  voll- 
kommen genügen.  Wo  diese  Einwirkungen  versagen,  bricht  die  urzeitliche 
Barbarei,  Roheit  und  Grausamkeit  auch  aus  dem  Schöße  der  höchsten 
Kultur  in  einzelnen  Individuen  und  sogar  in  ganzen  Volksmassen  mit  ele- 
mentarer Macht  wieder  hervor. 

Übrigens  würde  auf  einen  durch  solche  Vererbung  entstehenden  Fort- 
schritt der  Ausdruck  „Entwicklung«  nicht  passen,  da  die  Änderungen  zum 
Besseren  ja  nicht  durch  selbständige  Ausbildung  einer  inneren  Anlage, 
sondern  durch  äußere  Einwirkungen  entständen. 

Überhaupt  ist  das  Wort  I^ntwicklung   auch  bildlich  nur   in   einem  be-  Entwicklung  im 

i  bilalicnen  Sinne. 

schränkten  Sinne  auf  den  Kulturfortschritt  anwendbar,  nämlich  nur  inso- 
fern, als  er  durch  die  großen  und  kleinen  Anstöße  verursacht  wird,  die 
innerhalb  der  Gesamtheit  der  gesitteten  Menschheit  von  den  kulturbilden- 
den Fähigkeiten  der  einzelnen  ausgehen  und  sich  in  ihren  Wirkungen 
summieren.  Gewaltige  Anstöße  mit  unabsehbarer  Nachwirkung  treten 
hervor  als  das  Werk  der  großen  Männer,  die  als  geistige  Führer  der 
Menschheit  ihren  Platz  in  der  Weltgeschichte  haben.  Ein  solches  Werk 
ist  selbst  nicht  Erzeugnis  einer  Entwicklung,  aber  mit  ihm  beginnt  im  Kultur- 
leben eine  neue  Entwicklungsreihe.  Das  Christentum  hat  sich  nicht  aus 
dem  Judentume  „entwickelt",  wenn  es  auch  ohne  das  Judentum  nicht  hätte 
entstehen  können. 

Neben  diesen  nur  selten  erscheinenden  einzigartigen  Wirkungen  außer- 
ordentlicher Kräfte  sind  fortwährend  auch  größere  und  geringere  Talente 
im  Dienste  des  Kulturfortschritts  tätig.  Ihre  Leistungen  haben  aber  keine 
langdauernden  individuellen  Nachwirkungen,  sie  kombinieren  sich  rasch 
mit  anderen,  und  so  entstehen  Kollektivwirkungen,  die  sich  unter  günstigen 
Umständen  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  ansammeln  und  dadurch  den 
Kulturstand  erhöhen. 

Es  gibt  aber  auch  Kulturanstöße,  die  von  vornherein  nicht  als  indi- 
viduelle, sondern  als  Massenwirkungen  auftreten  und  ein  spontanes  Erzeug- 
nis des  Volksgeistes  zu  sein  scheinen.  Sie  gehen  von  Ideen  aus,  die  ge- 
wissermaßen „in  der  Luft  lagen",  bei  vielen  zu  gleicher  Zeit  auftauchten 
und  überall  günstigen  Roden  für  ihre  Verbreitung  fanden.  Die  deutsche 
Einheit,  deren  Verwirklichung  auch  objektiv  als  ein  Kulturfortschritt  zu 
betrachten  ist,  wäre  nicht  zustande  gekommen,  wenn  nicht  ihre  Idee 
seit  mehr  als  einem  halben  Jahrhundert  im  Volke  lebendig  gewesen  wäre. 

Überhaupt  aber  können  auch  die  fruchtbarsten  individuellen  KulUir- 
ideen  keinen  Erfolg  haben,  wenn  es  ihnen  nicht  gelingt,  sich  auszubreiten 

Die  KiLTfR  der  Gegenwart.     I.  i.  - 


l8  WIUIF.OI  T.EXis:  Das  Wesen  der  Kultur. 

und    eine    sich    fortpti^inzendc    Bewegung    hervorzurufen.     Treten    sie    ver- 
früht   auf,    so    bleiben    sie    unbeachtet    und    verfallen    oft    der  Vergessen- 
heit, bis  die  Menschheit  zu  ihrer  Aufnahme  vorbereitet  ist. 
Kniturfortschritt  Ncbcu  den  inneren,  aus  dem  Schoß  der  Kulturwelt  selbst  entspringen- 

(lurch  äußere  ,  •• 

f'bertraKunK    deu   Antricbcn   gibt    es   auch    eme    äußere   Übertragung    der   Kultur   von 

undAusbreitinnJ.  -  ,        ^  ..  ^ 

weiter  fortgeschrittenen  Völkern  auf  noch  zurückstehende.  Sie  kann  auf 
friedlichem  Wege  stattfinden,  wie  der  Übergang  Japans  zur  europäischen 
Kultur,  oder  als  Folge  von  Krieg  und  Eroberung,  wie  einst  die  Ausbrei- 
tung der  römischen  Kultur  über  Spanien  und  Gallien.  Nicht  immer  aber 
ist  der  Sieger  mit  den  Waffen  auch  der  Träger  der  siegenden  Kultur. 
Das  besiegte  Griechenland  hat  geistig  den  römischen  Sieger  unterworfen 
und  die  siegreichen  Germanen  fügten  sich  in  Italien,  Gallien,  vSpanien  der 
Macht  der  römischen  Kultur,  der  auch  ihre  Sprache  nicht  widerstehen 
konnte.  Freilich  fehlt  es  auch  nicht  an  Fällen  dauernder  Kulturvernich- 
tung durch  barbarische  Sieger,  wie  das  Los  der  einst  am  höchsten  ste- 
henden Kulturgebiete  unter  der  Türkenherrschaft  zeigt. 

Im  ganzen  ist  die  fortschreitende  Entwicklung  der  Kultur  immer  sehr 
langsam  von  statten  gegangen  und  erst  in  den  beiden  letzten  Jahrhun- 
derten in  ein  rascheres  Tempo  getreten.  Die  inneren  Triebkräfte  sind 
eben  nicht  allein  entscheidend  für  den  Erfolg,  es  kommt  auch  auf  die 
äußeren  Bedingungen  an.  Nicht  nur  wirken  zerstörende  Kriege  und  an- 
dere Kalamitäten  hemmend  ein,  es  müssen  die  zur  Kulturförderung"  be- 
fähigten Kräfte  auch  die  Gelegenheit  und  die  geeigneten  Bedingungen 
vorfinden,  sich  fruchtbar  zu  betätigen.  Man  könnte  glauben,  daß  in  der 
heutigen  Kulturmenschheit  das  technische  Talent  mehr  verbreitet  wäre, 
als  in  den  früheren  Generationen.  In  Wirklichkeit  aber  bietet  das  Ma- 
schinenzeitalter diesem  Talent  nur  in  außerordentlich  vergrößertem  Um- 
fange Gelegenheit,  sich  geltend  zu  machen:  als  Anlage  aber  ist  es  ver- 
mutlich in  der  alten  Zeit  verhältnismäßig  nicht  seltener  gewesen,  nur 
waren  die  Umstände  seiner  Entfaltung  nicht  günstig. 

Auch  die  äußere  Ausbreitung  der  Kultur  ist  als  ein  Fortschritt  zu 
betrachten.  Sie  verschafft  nicht  nur  einer  größeren  Zahl  von  Menschen 
den  Genuß  der  Kulturgüter,  sondern  sie  vermehrt  auch  die  absolute  Zahl 
der  selbständigen  kulturfördemden  Kräfte.  Dasselbe  läßt  sich  auch  von 
der  natürlichen  Vermehrung  der  Bevölkerung  sagen.  Die  Leistung  jedes 
einzelnen  aber  erstreckt  ihre  Wirkung  um  so  rascher  und  vollständiger 
auf  die  ganze  Kulturwelt,  je  ausgedehnter  und  intensiver  in  dieser  der 
Verkehr  in  allen  seinen  Arten  entwickelt  ist.  Es  unterliegt  daher  auch 
keinem  Zweifel,  daß  die  außerordentlich  gesteigerte  Schnelligkeit  des 
Kulturfortschritts  in  der  neuesten  Zeit  zu  einem  großen  Teil  der  Wirkung 
der  modernen  Verkehrsmittel  zu  verdanken  ist.  Dazu  kommt  femer,  daß 
die  Kulturarbeit  um  so  produktiver  wird,  je  wirksamer  ihre  Hilfsmittel 
werden  und  je  mehr  die  Ansammlung  ihrer  Errungenschaften  vorschreitet. 
Der   gleiche    relati\e   Fortschritt   im  Vergleich    zu  einem  Anfangszustande 


II.    Entwicklung  der  Kulliir.  tO 

ist  absolut  um  so  größer,  je  höher  die  Ausgangsstufe  ist.  Allerdings  ent- 
steht dadurch  auch  die  Gefahr  des  übermäßigen  Auswachsens  einer  ein- 
zelnen Seite  der  Kultur,  das  die  Harmonie  ihres  Gesamtcharakters  stören 
muß,  wenn  nicht  rechtzeitig  eine  Reaktion  und  Ausgleichung  eintritt. 
Überhaupt  erhebt  sich  die  Frage,  ob  ein  unbegrenzter  Fortschritt  der 
Kultur  in  allen  Richtungen  möglich  ist  und  ob  nicht  schließlich  ein  Zu- 
stand der  Überkultur  entstehen  müßte,  in  dem  der  Mensch  ein  der  Natur 
völlig  entfremdetes  Dasein  unter  durchaus  künstlichen  Lebensbedingungen 
führen  würde.  Wir  werden  auf  diese  Frage  zurückkommen,  zunächst  aber 
hier  einen  allgemeinen  Überblick  über  den  geschichtlichen  Verlauf  der 
Kulturentwicklung  anschließen. 

II.    Entwicklung    der   Kultur.     Wir  gehen   nicht    zurück   zu   der    vorkuUur. 

^  .  ^  Kriterium  der 

Vorstufe  der  Kultur,  in  der  der  Mensch  sich  in  einem  ähnlichen  Zu-  Kultur. 
Stande  befand,  wie  wir  ihn  jetzt  noch  bei  den  Resten  der  am  niedrig- 
.sten  stehenden  Naturvölker  finden.  Diese  Vorkultur  gehört  gewisser- 
maßen zum  Naturzustände  des  Menschen;  denn  im  Unterschiede  vom 
Tiere  kann  der  Mensch  überhaupt  nicht  existieren,  wenn  er  sich  nicht 
durch  Anwendung  seiner  Geisteskräfte  gewisse  Hilfsmittel  verschafft,  um 
die  Unzulänglichkeit  seiner  natürlichen  Ausstattung  zu  ergänzen.  Die 
paläolithische  Zeit  mit  ihren  rohen  Werkzeugen,  Waffen  und  Geräten  aus 
.Stein  und  Knochen  entspricht  der  primitivsten  .Stufe  der  Vorkultur.  Die 
ihr  folgende  neolithische  Periode,  deren  Kulturstand  etwa  mit  dem  der 
Neuseeländer  zu  Cooks  Zeit  verglichen  werden  kann,  reichte  in  Mittel- 
europa noch  weit  in  die  Zeit  hinein,  in  der  wir  in  Vorderasien  und  den 
Mittelmeerländem  bereits  die  Kultur  finden,  die  die  Ausgangsphase  der 
ganzen  späteren  Entwicklung  bildet  und  mit  der  heutigen  in  unmittelbarer 
Stammesverwandtschaft  steht.  Es  gibt  ein  charakteristisches  äußeres 
Merkmal,  das  diese  Stufe  leicht  erkennbar  macht:  sie  ist  überall  da  vor- 
au.szusetzen,  wo  sich  Reste  von  Tempeln  oder  Palästen  mit  künstlerischer 
Anlage  und  Ausschmückung  und  irgend  welchen  hieroglyphischen  oder 
sonstigen  Inschriften  finden.  Solche  Werke  konnten  nur  entstehen  in 
einer  dauernd,  zum  Teil  in  Städten,  ansässigen,  sozial  gegliederten  Bevöl- 
kerung mit  fester,  wenn  auch  despotischer  Staatsordnung,  mit  einer  mit 
dem  Staate  eng  verbundenen  Kultusorganisation,  mit  einer  gewissen  wirt- 
.schaftlichen  Arbeitsteilung,  mit  einer  schon  bedeutend  entwickelten  Tech- 
nik, die  sich  auch  in  den  kunstgewerblichen  Leistungen  zeigt.  Auch  läßt 
sie,  ebenso  wie  die  bereits  benutzte,  wenn  auch  noch  unvollkommene 
Schrift,  darauf  schließen,  daß  auch  schon  die  ersten  Anfänge  einer 
wissenschaftlichen  Tätigkeit  vorhanden  waren. 

Der  älteste  .Sitz  der  so  charakterisierten  Kultur  ist,  wie  es  scheint, 
zwischen  Euphrat  und  Tigris  zu  suchen,  da  man  es  jetzt  für  wahrschein- 
lich hält,  daß  auch  die  altägyptische  Kultur  ursprünglich  \on  der  bab)'- 
lonischen  abhängig   gewesen   sei.     Wie  aber  diese  letztere  entstanden  ist, 


20  Wil.HFXM  I.F.xis:  Das  Wesen  der  Kullur. 

bleibt  ein  Rätsel.  Geschichtlich  kennen  wir  nur  Übertragfungen  der 
Kultur  von  Volk  zu  Volk,  nicht  aber  ihr  Entstehen,  und  wir  werden  an 
Goethes  Wort  erinnert:  „Was  nicht  mehr  entsteht,  können  wir  uns  als  ent- 
stehend nicht  denken."  Wenn  die  vorderasiatische  Kultur  aus  einem 
neolithischen  Stadium  hervorgegangen  ist,  weshalb  haben  Kelten  und 
Germanen  sich  trotz  ihrer  hohen  Anlagen  nicht  selbständig  auf  diese 
Stufe  emporgebracht?  Zum  Teil  mag  die  Ursache  in  den  ungünstigeren 
Naturbedingungen  des  nördlichen  Teiles  der  gemäßigten  Zone  liegen. 
Die  Winterkälte  bringt  dem  Menschen  eine  bedeutende  Verschärfung  des 
Kampfes  ums  Dasein;  sie  vermehrt  die  notwendig  zu  befriedigenden  Be- 
dürfhisse und  vermindert  daher  die  Zeit  und  Kraft,  die  für  die  Betätigung 
künstlerischer  und  wissenschaftlicher  Fähigkeiten  verwendbar  ist.  Auch 
kommt  wohl  in  Betracht,  daß  das  Temperament  der  mitteleuropäischen 
Völker  der  despotischen  Ordnung  widerstrebte,  ohne  welche  die  Schöp- 
fungen der  vorderasiatisch-ägyptischen  Kultur  nicht  denkbar  wären. 
Die  alt-  Neben   dieser  gibt  es  noch  zwei   andere  Kulturkreise,  bei   denen  das 

amerikanische 

Kuitar  oben  angeführte  Merkmal  zutrifft  und  die,  soviel  wir  wissen,  einen  selb- 
ständigen Ursprung  haben,  nämlich  der  altamerikanische  und  der  ost- 
asiatische. Da  wir  hier  nur  die  Entwicklung  der  europäischen  Kultur  im 
Auge  haben,  können  wir  uns  auf  einige  kurze  Bemerkungen  über  diese 
isolierten  Bildungen  beschränken. 

Die  altamerikanische  Kultur,  wie  Cortez  und  Pizarro  sie  vorfanden, 
bildete  keine  Einheit,  denn  ein  Zusammenhang  zwischen  dem  mexikanisch- 
zentralamerikanischen  Zweige  und  dem  südamerikanischen  ist  nicht  nach- 
weisbar. Beide  Gebiete  lagen  in  der  heißen  Zone,  in  beiden  herrschte 
ein  despotisches  .System,  das  im  Inkareich  zu  einem  eigenartigen  Staats- 
sozialismus ausgebildet  war.  Dazu  ein  mit  dem  Staatswesen  durchaus 
verwachsener,  in  Mexiko  durch  große  Grausamkeit  entstellter  Kultus. 
Auch  mit  ihren  Tempeln  und  Palästen,  ihrer  Kunst  und  Technik  kann 
diese  amerikanische  Kultur  mit  der  vorderasiatischen  wenigstens  in  die 
gleiche  Gattung  gestellt  werden,  wenn  sie  auch  im  ganzen  auf  einem 
niedrigeren  Niveau  bleibt.  Die  Peruaner  besaßen  noch  keinerlei  Art  von 
Schrift  und  begnügten  sich  mit  ihren  Quipus  (Bündeln  von  bunten  Schnüren) 
als  Gedächtnishilfsmitteln.  Bei  den  Mexikanern  jedoch  war  eine  Art 
von  Hieroglyphen  im  Gebrauch  und  die  noch  unentzifferte  Schrift  der 
Maya-Völker  scheint  schon  zu  einer  höheren  Ausbildung  gelangt  zu  sein. 
Alle  hier  in  Frage  kommenden  Völker  waren  „bekleidet",  und  das  war  das 
Merkmal,  nach  dem  die  spanischen  Eroberer  die  zivilisierten  Indianer  von 
den  wilden  unterschieden. 

Die  altamerikanische  Kultur  erscheint  als  ein  abgestorbener  Zweig 
in  der  Entwicklung  der  Menschheit.  Zu  der  europäischen  Welt  hat  sie 
keine  andere  Beziehung  gehabt,  als  daß  sie  durch  die  Berührung  mit 
dieser  vernichtet  worden  ist,  ohne  daß  sie  irgend  eine  merkliche  Nach- 
wirkung hinterlassen  hat. 


II.    Kntwicklun;;  der   Kullur.  2  I 

Die  ostasiatische  Kultur  hat  ihren  Stammsitz  in  China  und  hat  von  CMna  und  Japan. 
dort  aus  ihre  \'erz\veigungen  nach  Korea,  Japan  und  Indochina  erstreckt. 
Ihre  Wurzehi  hatte  die  chinesische  Kultur  wahrscheinlich  in  dem  nord- 
westlichen Gebiet,  ihre  eigentümliche  Entwicklung  aber  hat  sie  in  ihren 
heutigen  Sitzen  erlangt,  jedoch  keineswegs  gänzlich  unabhängig  von  äußerem 
Einfluß.  Namentlich  haben  sich  durch  die  Verbreitung  des  Buddhismus 
über  das  ganze  Reich  nähere  Beziehungen  zu  Indien  ausgebildet.  Man  ist 
nicht  berechtigt,  von  einem  seit  Jahrtausenden  dauernden  Stillstände  der 
chinesischen  Kultur  zu  sprechen.  Wichtige  Erfindungen,  wie  die  des 
Papiers,  des  Porzellans,  des  Drucks  mit  Holzplatten  und  sogar  mit  einzelnen 
Schriftzeichen,  sind  in  China  in  der  Zeit  vom  ersten  Jahrhundert  bis  zum 
Ende  des  ersten  Jahrtausends  unserer  Zeitrechnung'gemacht  worden.  Aber 
auch  in  der  Eolgezeit  bekundete  die  chinesische  Kultur  noch  ihre  Kraft 
durch  ihre  Ausbreitung  über  andere  Völker  und  durch  die  geistige  Be- 
wältigung der  zur  Herrschaft  gelangten  Mongolen  und  Mandschu.  Stabil 
jedoch  ist  die  Grundlage  der  gesellschaftlichen  Ordnung  geblieben,  die 
durch  den  festen  Zusammenhang  der  Familie  und  des  Geschlechts  und 
durch  die  Autorität  der  väterlichen  Gewalt  gegeben  ist.  Diese  gesell- 
schaftliche Organisation  ersetzt  die  Mängel  der  Staatsverfassung  und  Ver- 
waltung und  hat  es  möglich  gemacht,  daß  das  große  Reich  sich  nicht  nur 
vier  Jahrtausende  gegen  furchtbare  Stürme  behauptet  hat,  sondern  auch 
einer  enormen  Bevölkerung,  die  in  einigen  Provinzen  die  größte  in  Europa 
vorkommende  Dichtigkeit  erreicht  oder  gar  übertrifft,  Erwerb  und  Unterhalt 
darbieten  kann.  In  der  technischen  Kultur  steht  China  auf  einer  ähnlichen 
Stufe,  wie  das  europäische  Mittelalter.  Es  ist  das  Land  der  geschickten 
Handtechnik  und  des  Kleinbetriebs,  der  in  dem  Fleiß  und  der  Sparsamkeit 
des  X'olkes  eine  wertvolle  Stütze  hat;  Die  Kunst  steht  dem  Kunstgewerbe 
noch  nahe  und  ist  noch  kaum  über  das  Dekorative  hinausgekommen.  Die 
Wissenschaft  ist  bisher  nur  durch  eine  literarische  Buchgelehrsamkeit  ver- 
treten gewesen,  die  aber  in  hohem  Ansehen  steht  und  den  Zugang  zu  den 
höchsten  Stellungen  eröffnet.  In  der  Volksreligion  sind  die  ursprünglichen 
Lehren  des  Taoismus,  des  Buddhismus  und  des  Confucianismus  durch  aber- 
gläubische Auswüchse  vollständig  überwuchert.  Sehr  charakteristisch  ist 
für  China  das  Fehlen  einer  einflußreichen  priesterlichen  Hierarchie,  während 
in  dem  Schutzlande  Tibet  eine  solche  auch  die  weltliche  Herrschaft  fuhrt. 

Die  japanische  Kultur  ist  eine  Abzweigung  der  chinesischen;  ihr  be- 
sonderes Gepräge  hat  sie  namentlich  durch  die  feudale  Staatsorganisation 
erhalten,  durch  die  auch  ein  entschieden  kriegerischer  Geist  im  Volke  ge- 
nährt worden  ist. 

Die  europäische  Kultur  hat  der  ostasiatischen  unmittelbar  nichts  zu 
verdanken;  denn  daß  durch  einen  dürftigen  Handel  aus  zweiter  Hand 
Seide,  Porzellan  und  Tee  und  vielleicht  einige  Erfindungen  durch  ara- 
bische Vermittlung  nach  Europa  geführt  worden  sind,  war  kein  Verdienst 
der  Chinesen.    Dagegen  ist  der  Andrang  des  europäischen  Einflusses  gegen 


22  WiiHKi.M    l.l'.xis:  Uns  Wesen  der  KuUur. 

die  so  lange  abge.sperrten  Reiche  des  Ostens  im  letzten  Jahrhundert 
immer  mächtiger  geworden  und  hat  schließlich  in  Japan  den  merkwürdigen 
Umschwung  herbeigeführt,  t'hina  sträubt  sich  noch  gegen  die  Befolgung 
dieses  Beispiels,  weil  es  den  dünkelhaften  Glauben  an  die  Überlegenheit 
seiner  eigenen  Kultur  noch  nicht  aufgeben  will. 
Indien.  Die  indische  Kultur  hat  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  der  vorder- 

asiatischen, im  ganzen  jedoch  einen  selbständigen  Entwicklungsgang.  Die 
in  das  Pandschab  eindringenden  Arier  fanden  drawidische  Völkerschaften 
vor,  die  den  noch  im  Nomadenleben  stehenden  Ankömmlingen  in  der 
Kultur  anfangs  überlegen  waren,  da  sie  Burgen  und  feste  Wohnsitze  be- 
saßen, Handwerke  und  Handel  betrieben,  Eisen  und  Kupfer  und,  wie  es 
scheint,  auch  schon  eine  Art  von  Schrift  kannten.  Die  weitere  Entwick- 
lung der  indischen  Kultur  hat  sich  jedoch  unter  der  Herrschaft  des  arischen 
Geistes  vollzogen,  der  in  den  höheren  Kasten  seine  Träger  und  Hüter 
fand.  Daß  die  Priesterkaste,  die  Brahmanen,  die  Oberhand  über  die  Krieger- 
kaste gewann,  ist  eine  für  die  indische  Gesellschaftsordnung  besonders 
charakteristische  Tatsache.  Der  Brahmanismus  und  die  sich  daran  an- 
schließende Volksreligion  hat  sich  auch  stark  genug  erwiesen,  den  ethisch 
höher  stehenden  Buddhismus  aus  Vorderindien  wieder  zu  verdrängen  und 
selbst  gegenüber  dem  gewalttätigen  Einbruch  des  Mohammedanertums  bei 
der  großen  Mehrheit  des  Volks  seine  Stellung  zu  behaupten.  Andrerseits 
aber  hat  die  brahmanische  Philosophie,  wie  sie  im  Wedanta  und  anderen 
Systemen  ausgebildet  ist,  wie  auch  die  esoterische  Lehre  des  Buddhismus 
in  Europa  nicht  nur  als  tiefsinnige  Geistesarbeit  Anerkennung  gefunden, 
sondern  seit  Schopenhauer  auch  einen  entschiedenen  Einfluß  auf  gewisse 
Richtungen  des  abendländischen  Denkens  ausgeübt.  Im  übrigen  jedoch 
hat  Indien  nur  wenig  zu  dem  europäischen  Kulturbesitz  beigesteuert. 
Durch  Vermittlung  der  Araber  sind  einige  mathematische  Kenntnisse  und 
namentlich  das  dekadische  Ziffernsystem  herübergekommen.  Die  litera- 
rische Bedeutung  der  Verbreitung  der  indischen  Tierfabeln  nach  dem 
Westen  ist  nicht  allzu  hoch  anzuschlagen.  Die  bildende  Kunst  hat  in  In- 
dien nur  in  der  Architektur  bemerkenswerte  Leistungen  aufzuweisen,  für 
Europa  aber  ebenso  wenig  Anregungen  gebracht,  wie  die  indische  Hand- 
technik, die  in  der  neueren  Zeit  durch  die  europäische  Maschinenindustrie 
immer  mehr  zurückgedrängt  worden  ist. 

Die  Beziehungen  zwischen  der  indischen  und  der  abendländischen 
Kultur,  die  seit  dem  Zuge  Alexanders  angebahnt  waren,  würden  sich  ohne 
Zweifel  enger  und  fruchtbarer  gestaltet  haben,  wenn  nicht  durch  das  par- 
thische  und  das  ihm  folgende  Sassanidenreich  ein  die  beiden  Gebiete 
trennender  Keil  eingeschoben  worden  wäre.  Dann  aber  kam  die  Flut  der 
turkotartarischen  Stämme,  die  die  alte  Kultur  Westasiens  wegschwemmte, 
ohne  daß  bis  zur  Gegenwart  auch  nur  annähernd  ein  Ersatz  geschaffen 
worden  wäre.  Man  ist  nicht  berechtigt,  dem  Mohammedanismus  als  solchem 
die  Schuld  an  dieser  traurigen  Rückbildung  zuzuschreiben;  denn  daß  dieser 


II.    Kniwicklung  der   Kultur.  2^ 

keineswegs  an  sich  kulturwidrig  ist,  haben  die  Leistungen  der  Araber  in 
ihrer  Blütezeit  bewiesen.  Auch  fehlt  es  den  Türken  nicht  an  achtbaren 
individuellen  Eigenschaften;  aber  ihre  Rasse  ist  offenbar  nicht  imstande, 
die  Herrschaft  in  einem  Staat  /u  führen,  der  den  Anforderungen  der 
europäischen  Kultur  genügen  soll. 

Die  vorderasiatische  Kultur  reicht  mit  ihren  ältesten  Spuren  in  Baby-  nie  vordrr- 
lonien  mehr  als  4000  Jahre  v.  Chr.  zurück.  Als  ihre  ersten  'J'räger  er-  tische  Kaiiur. 
scheinen  die  rätselhaften  Sumerer,  von  denen  man  nur  sagen  kann,  daß 
sie  weder  arischen  noch  semitischen  Stammes  waren.  Aber  schon  um 
das  Jahr  3000  gab  es  in  Nordbabylonien  semitische  Stadtkönige  und  in 
dem  dann  entstehenden  größeren  Königreiche  Babylon  erlangte  das  semi- 
tische Element  infolge  lange  dauernder  Einwanderung  entschieden  das 
Übergewicht.  Über  den  vermuteten  Einfluß  der  altbabylonischen  auf  die 
Entstehung  der  ägyptischen  Kultur  wissen  wir  nichts  Bestimmtes;  daß  aber 
später  ein  solcher  Einfluß  vorhanden  war,  beweisen  die  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert v.  Chr.  stammenden  Keilschrifttafeln  von  El  Amarna.  Nahe  Be- 
ziehungen der  assyrischen,  phönizischen ,  israelitischen  Kultur  zu  der  ba- 
bylonischen sind  zweifellos. 

Man  kann  füglich  diese  orientalisch -ägyptische  Periode  mit  der  Zeit 
abschließen,  in  der  der  griechische  Geist  seine  volle  Kraft  zu  entfalten 
beginnt,  also  etwa  mit  dem  Ende  des  6.  Jahrhunderts  v.  Chr.  Der  Eort- 
schritt  der  Kultur  bestand  in  den  beiden  vorhergegangenen  Jahrtausenden 
hauptsächlich  in  ihrer  weiteren  Ausbreitung:  sie  griff  hinüber  nach  den 
griechischen  Inseln  und  dem  griechischen  Festlande  und  die  Phönizier 
schoben  ihre  Vorposten  hinaus  bis  zu  den  Säulen  des  Herkules.  Von  einer 
inneren  Kulturentwicklung  aber  ist  in  diesem  langen  Zeitraum  sowohl  in 
den  vorderasiatischen  Keichen  wie  auch  in  Ägypten  nur  wenig  zu  be- 
merken. Die  in  den  Gesetzen  Hammurabis  aufgestellte  Rechtsordnung 
blieb  auch  jenseits  der  Grenzen  Babvloniens  vorbildlich  für  die  folgenden 
Jahrhunderte,  und  die  aus  ihnen  zu  erkennenden  wirtschaftlichen  Zustände 
haben  sich  bis  zum  Ende  der  Periode  nicht  wesentlich  geändert.  Es  gab 
vmter  Hammurabi  Freie,  Sklaven  und  eine  Zwischenklasse,  die  sogenannten 
Freigelassenen.  Es  wurden  aber  auch  freie  Arbeiter  gegen  Lohn  be- 
schäftigt, dessen  Sätze  teils  in  Geld  (Silber),  teils  in  Getreide  vorgeschrieben 
sind.  Auch  bei  den  Handwerkern,  die  eine  zünftige  Organisation  hatten, 
scheint  das  „Lohnwerk"  vorherrschend  gewesen  zu  sein.  Es  bestand  be- 
reits privates  Grundeigentum,  daneben  aber  auch  Lehensbesitz  und  Pacht. 
Ehe-  und  Erbrecht  waren  genau  geregelt.  In  den  Städten  wenigstens 
hatte  sich,  wie  dies  das  Bedürfnis  des  täglichen  Verkehrs  erfordert,  bereits 
in  einem  gewissen  Umfange  die  Geld  Wirtschaft  entwickelt,  die  durch  zu- 
gewogenes Silber  in  kleinen  Barren  oder  Ringen  vermittelt  wurde.  Die 
Münzprägung  (zuerst  in  Gold)  kam  erst  im  7.  Jahrhundert  in  Kleinasien  auf. 
Das  Kreditwesen  und  das  Bankgeschäft  war  schon  in  bemerkenswertem 
Grade  ausgebildet.    Die  Technik  stand  bereits  im  Anfang  der  Periode  auf 


2^  Wii.iu  IM   Lkxi.s:   Das  Wesen  der  Kultur. 

einer  hohen  Stufe  und  machte  innerhalb  derselben  keine  großen  Fort- 
schritte, wenn  auch  den  Phöniziern  einige  Erfindungen  zugeschrieben 
werden.  Am  wichtigsten  i.st  wohl  die  allmähliche  Einführung  des  Eisens 
an  die  Stelle  des  Kupfers  und  der  Bronze.  Die  Bewältigung  der  riesigen 
Massen,  die  zu  den  ältesten  Pyramiden  aufgetürmt  wurden,  setzt  bereits 
eine  Ingenieurkunst  voraus,  die  später  nicht  übertroffen  wurde,  wenn  sie 
auch  mit  anderen  Mitteln  arbeiten  mußte,  als  die  heutige.  Die  Kultur  des 
Alltagslebens,  wie  sie  in  den  gewöhnlichen  Geräten,  Werkzeugen  und 
sonstigen  Gebrauchsgegenständen  zutage  tritt,  zeigt  in  Wandmalereien 
ägyptischer  Grabkammern  aus  sehr  alter  Zeit  schon  beinahe  denselben 
Stand,  auf  dem  wir  sie  in  der  griechisch-römischen  Periode  und  selbst  im 
Mittelalter  finden. 
Orientalische  Die  Kunst  hatte  noch   einen  überwiegend  dekorativen  Charakter,    zu 

Kunst  und  ,  .  ^  n 

\\  issenschafi.  einer  freien  W  iedergabe  des  Schönen  war  sie  auch  am  Schluß  der 
Periode  noch  nicht  vorgedrungen.  Einen  Fortschritt  innerhalb  dieses 
Zeitraums  bildete  die  allmähliche  Umgestaltung  der  Schriftzeichen  zur 
Buchstabenschrift.  Eine  nur  um  ihrer  selbst  willen,  ohne  jeden  Neben- 
zweck betriebene  Wissenschaft  scheint  es  weder  in  Babylonien  noch 
in  Ägypten  gegeben  zu  haben.  Das  sexagesimale  Maßsystem  der  Baby- 
lonier,  das  vielleicht  von  den  Sumerern  übernommen  war  und  mit 
mancherlei  Abänderungen  auf  die  ganze  westliche  Kulturwelt  übergegangen 
ist,  war  mehr  eine  praktische,  als  eine  wissenschaftliche  Erfindung.  Aller- 
dings stand  es  in  engem  Zusammenhang  mit  der  vielgerühmten  babyloni- 
schen Astronomie,  aber  auch  diese  war  nichts  weniger,  als  eine  reine 
Wissenschaft,  sondern  sie  stand  ganz  und  gar  im  Dienst  der  Astrologie 
und  einer  phantastischen,  an  die  Sternbilder  anknüpfenden  Mythologie. 
Die  babylonischen  Sterndeuter  haben  sich  den  Himmel  für  ihre  Zwecke 
zurechtgelegt  und  die  Ägypter  haben  von  ihnen,  wie  es  scheint,  die  Tier- 
kreisbilder erhalten  —  dann  aber  jedenfalls  schon  im  4.  Jahrtausend  v.  Chr. 
Die  Babylonier  waren  imstande,  Finsternisse  vorauszusagen,  aber  nur  mit 
Hilfe  empirischer  Zyklen.  Die  Bewegungen  der  Planeten  durch  eine  ma- 
thematische Theorie  zu  erklären,  haben  sie  überhaupt  nicht  versucht. 
Wenn  sie  zweitausend  Jahre  lang  ihre  astrologischen  Beobachtungen  fort- 
setzten, so  konnte  ihnen  die  Präzession  der  Nachtgleichen  nicht  entgehen, 
wie  diese  auch  für  die  Ägypter  einfach  durch  den  Unterschied  der  Tier- 
kreise von  Esneh  und  von  Denderah  augenfällig  werden  mußte.  Aber  die 
Priesterschaft  hat  diese  Verschiebung  als  ein  astrologisches  Geheimnis  be- 
handelt und  erst  Hipparch  hat  sie  wissenschaftlich  entdeckt  und  vom  geo- 
zentrischen Standpunkt  auch  richtig  erklärt. 

Die  religiöse  Mythologie  der  Babylonier  bewegt  sich  in  der  bunten, 
zügellosen  Phantastik,  die  allen  polytheistischen  Religionen  eigen  ist.  Ein 
Vergleich  des  Schöpfungsmythus  von  Marduk  und  dem  Drachen  Tiamat 
mit  der  erhabenen  Einfachheit  des  ersten  Kapitels  der  Genesis  ist  gänzlich 
ausgeschlossen.    Von  der  babylonischen  und  ägyptischen  Literatur  ist  nicht 


II.    l'-utwicklung  der  Kultur.  25 

viel  bekannt;  die  einzige  größere  Schriftensammlung,  die  aus  dem  vorder- 
asiati.schen  Kulturkrei.se  stammt,  ist  das  Alte  Testament.  Daß  auch  in 
diesem  vielfach  babylonischer  Einfluß  merkbar  ist,  kann  nicht  bestritten 
werden.  Gleichwohl  sind  diese  Schriften  von  einem  durchaus  eigenartigen 
Geiste  durchweht  und  es  ist  ihnen  auch  bei  lediglich  kritischer  Betrach- 
tung einer  der  ersten  Plätze  in  der  Weltliteratur  zuzuerkennen.  Marduk 
und  Istar  sind  in  der  Nachwelt  spurlos  verschwunden:  von  der  Jahve- 
religion  des  Alten  Testaments  aber  ist  die  größte  geistige  Umwälzung 
ausgegangen,  die  die  Menschheit  erlebt  hat. 

Als    zweite   große   Kulturperiode    fassen    wir    die    allerdings   innerlich    oriechisch- 

^  römische 

schon  mehr  differenzierte  Zeit  des  griechisch-römischen  Altertums  zu-  Periode, 
sammen.  Sic  erstreckt  sich  auf  ungefähr  ein  Jahrtausend  und  reicht  bis 
zu  dem  vollendeten  Siege  des  Christentums,  der  mit  der  letzten  Phase  des 
Verfalls  des  weströmischen  Reichs  zusammenfällt.  Es  ist  die  Entwick- 
lungsperiode der  europäischen  Kultur,  die  aus  der  Verbindung  des  grie- 
chischen Genius  mit  der  Errungenschaft  des  Orients  erzeugt  wird.  Die 
Homerischen  Gesänge  erklangen  als  Vorspiel  dieser  neuen  Zeit;  auch  hatte 
die  griechische  Kolonisation  sich  schon  kulturverbreitend  nach  Sizilien, 
Italien  und  Gallien  ausgedehnt,  als  das  Griechentum  durch  seinen  ersten 
Sieg  über  die  Perser  seine  politische  Macht  zu  entfalten  begann. 

Was  ist  nun  der  endgültige  Kulturgewinn,  den  diese  Periode  der 
Menschheit  hinterlassen  hat?  Daß  die  bei  ihrem  Anfang  nur  mit  vorge- 
schobenen Posten  besetzten  Küstenländer  des  Mittelmeeres  schließlich  zu 
vollwertigen  Gliedern  der  Kulturwelt  wurden,  war  ein  großer  Fortschritt, 
aber  unsere  Frage  bezieht  sich  auf  den  inneren  Gehalt  der  liultur,  und 
dieser  zeigt  nicht  nach  allen,  sondern  nur  nach  bestimmten  Seiten  hin 
eine  Vermehrung  und  Steigerung.  An  die  Stelle  des  Despotismus  in 
orientalischen  Großstaaten  trat  zunächst  republikanische  Freiheit  in  kleinen 
Gemeinwesen,  gestützt  auf  einen  ebenfalls  eng  lokalisierten  Patriotismus. 
Aber  diese  Freiheit  stand  doch  nur  einer  Minderheit  zu,  die  Mehrheit  be- 
stand aus  Sklaven  und  aus  Personen  minderen  Rechtes.  In  der  zweiten 
Hälfte  der  Periode  aber  sind  alle  diese  selbständigen  Staatsbildungen  von 
dem  der  Cäsarenherrschaft  unterworfenen  römischen  Weltreich  aufgesogen. 
Die  feste  Ausgestaltung  des  römischen  Rechts  war  mehr  eine  wissenschaft- 
liche, als  eine  neue  kulturelle  Leistung.  Die  Organisation  der  Verwaltung 
des  römischen  Kaiserreichs  war  vom  technischen  Standpunkt  bewunderns- 
wert, konnte  aber  doch  die  Zunahme  der  inneren  Schwäche  und  Zersetzung 
des  Reichs  nicht  verhindern. 

Die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Zustände  waren  am  Ende  der  Periode 
infolge  eines  Jahrhunderte  dauernden  Verfalls  schlimmer  als  am  Anfang. 
Schon  in  Griechenland  erlangte  die  Sklavenarbeit  als  Faktor  der  Pro- 
duktion eine  weit  größere  Bedeutung  als  im  alten  Orient.  Aristoteles  be- 
trachtet die  Sklaverei  als  eine  in  gleicher  Weise  naturgemäße  Einrichtung 
wie  die  Familie,  und  es  kann  auch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,   daß 


2  6  WiLiiKXM   l.KXis:   Das  Wesen  der  Kultur. 

sie  der  hölieron  Kulturentwickhiiisi-  in  der  von  der  schweren  wirtschaft- 
lichen Arbeit  befreiten  Bevölkorungsklasse  förderUch  gewesen  ist.  Auch 
ist  die  Sklaverei  tatsächlich  erst  endgültig  verschwunden,  als  die  von  Ari- 
stoteles gestellte  Bedingung  erfüllt  war,  „daß  die  Weberschiffchen  von 
selbst  fliegen  müßten".  Dennoch  war  sie  bestenfalls  nur  ein  notwendiges 
Übel  und  bei  der  lüitwicklung,  die  sie  im  römischen  Reich  gewonnen  hat, 
erlangten  ihre  verderblichen  Wirkungen  mehr  und  mehr  das  Übergewicht. 
Die  Verdrängung-  des  römischen  Bauernstandes,  die  Latifundienbildung  und 
der  gegen  Ende  des  Zeitraums  immer  sichtbarer  werdende  Menschenmangel 
sind  hauptsächlich  ihr  zu  Last  zu  schreiben. 

Die  wirtschaftliche  Technik  und  insbesondere  der  Handwerksbetrieb 
blieb  in  den  hergebrachten  Bahnen  und  auch  das  folgende  Jahrtausend 
des  Mittelalters  brachte  darin  kerne  wesentlichen  Änderungen.  Über  den 
Stand  der  technischen  Mechanik  um  das  Jahr  loo  v.  Chr.  geben  die  Schriften 
Hcrons  von  Alexandrien  genügende  Auskunft.  Von  ihm  selbst  rühren 
wahrscheinlich  nur  einzelne  Verbesserungen  und  Abänderungen  her,  die 
meisten  der  von  ihm  beschriebenen  Apparate  und  Vorrichtungen  aber 
stammen  aus  älterer  Zeit  und  sind  wohl  größtenteils  auf  ägj^ptische  oder 
babylonische  Ei-findungen  zurückzuführen.  Und  andererseits  ist  nicht  nur 
das  Mittelalter,  sondern  auch  die  neuere  Zeit  über  diese  Leistungen  der 
Alten  bis  zur  Erfindung  der  Dampfmaschine  kaum  hinausgekommen.  Heron 
zeigt,  wie  durch  komplizierte  Räderwerke,  durch  Wasser-,  Luft-  und  Dampf- 
druck die  mannigfaltigsten  Bewegungen  hervorgebracht  werden  können; 
er  beschreibt  eine  der  unserigen  fast  gleiche  Feuerspritze,  einen  Auto- 
maten, der  nach  Einwerfen  eines  Geldstückes  Weihwasser  verabreicht, 
und  einen  Apparat,  der  nichts  anderes  ist,  als  das  Urbild  der  Dampf- 
Reaktionsturbine.  Die  meisten  seiner  Automaten  und  Apparate  sind  nur 
.Spielereien;  manche  hatten  offenbar  den  Zweck,  in  den  Tempeln  durch 
priesterliche  Kunststücke  die  Menge  zu  verblüffen.  Aber  es  wäre  leicht 
gewesen,  die  Elemente  dieser  Konstruktionen  auch  zu  praktisch  brauch- 
baren Maschinen  zusammenzusetzen,  wenn  in  der  Zeit  der  Sklavenarbeit 
nur  Bedürfnis  nach  solchen  bestanden  hätte. 
Die  griechische  Die  technische  Mechanik  ist  als  empirische  Kunst  durch  die  Intuition 

Wissenschaft 

und  Kunst,  talentvoller  Köj^fe  im  Orient  entstanden.  Die  ersten  erfolgreichen  Ver- 
suche aber,  ihr  eine  wissenschaftliche  Grundlage  zu  geben,  haben  die 
Griechen  gemacht.  Und  hier  stoßen  wir  denn  auf  eine  der  großen  Kultur- 
leistungen, die  die  betrachtete  Periode  kennzeichnen:  die  Griechen  haben 
zuerst  die  reine,  sich  selbst  genügende  Wissenschaft  in  die  Welt  ein- 
geführt. So  haben  sie  die  Geometrie  geschaffen,  nicht  um  die  Felder  zu 
messen,  sondern  als  Muster  eines  abstrakten,  mit  strengster  Logik  aus 
wenigen  Axiomen  abgeleiteten  Lehrgebäudes.  Und  demselben  Geist  ist 
die  von  Aristoteles  begründete  formale  Logik  entsprossen.  Aber  auch 
der  exakten  Naturwissenschaft,  d.  h.  der  auf  genauen  Messungen  und  ma- 
thematischen Grundlagen  beruhenden  Darstellung  der  Naturerscheinungen, 


II.    Kniwicklung  ilcr  Kultur.  2  7 

haben  dio  Griechen  die  Bahn  eröffnet.  Allerding.s  kamen  .sie  nicht  zu  der 
vollen,  vorau.ssotzunpf.slo.son  Objekti\ität  der  Erforschung  der  Xaturvorgängc, 
wie  sie  die  induktive  Methode  \-erlangt,  sondern  sie  waren  geneigt,  \on 
gewissen  vorgefaßten  Moiiningen  auszugehen,  die  nach  der  manierierten 
Baconischen  Ausdrucksweise  als  Idola  tribus  zu  bezeichnen  wären.  So 
hielten  sie  z.  B.  a  priori  die  gleichförmige  Bewegung  in  einem  Kreise  für 
die  natürliche  und  vollkommenste.  Auch  die  moderne  Wissenschaft  geht 
häufig  von  Hypothesen  aus,  aber  sie  prüft  deren  Richtigkeit  durch  das 
Experiment  und  gibt  sie  auf,  wenn  sie  durch  dieses  nicht  bestätigt  werden. 
Die  Griechen  aber  begnügten  sich  oft  nur  zu  leicht  mit  ihren  subjektiven, 
meistens  aus  unklaren  metaphysischen  Vorstellungen  abgeleiteten  An- 
nahmen und  glaubten  dann  die  exakte  und  namentlich  die  experimentelle 
Untersuchung  der  Tatsachen  ganz  unterlassen  zu  können.  So  meint  nicht 
nur  Aristoteles  —  dem  überhaupt  die  richtige  Methode  der  Behandlung 
mechanischer  und  physikalischer  Probleme  fremd  war  — ,  sondern  auch 
Heren,  daß  große  Gewichte  rascher  fallen  als  kleine,  ein  Irrglaube,  der 
sich  bis  in  das  i6.  Jahrhundert  erhalten  hat.  Heron  behauptet  auch,  daß 
ein  Körper  mit  breiter  Grundfläche  langsamer  falle  als  ein  gleich  schwerer 
in  Kugelform,  und  er  gibt  für  diesen  falschen  Satz  einen  falschen  theo- 
retischen Grund  an,  und  zwar  mit  Zurückweisung  der  Meinung,  daß  der 
verschiedene  Widerstand  der  Luft  den  Unterschied  verursachen  könne. 

Der  zu  wissenschaftlichem  Streben  erwachte  menschliche  Geist  trat 
der  Natur  mit  einem  souveränen  Selbstgefühl  gegenüber,  und  dieses  Ver- 
trauen auf  den  Menschen  als  Maß  aller  Dinge  erschwerte  den  Griechen 
die  Anwendung   der   experimentellen  Methode.     Dennoch   aber  haben  sie 

—  und  zwar  als  die  ersten  —  auch  in  der  exakten  Naturwissenschaft 
Großes  geleistet.  Archimedes  hat  die  Eundamentalsätze  der  Statik  und  der 
Hydrostatik  gefunden;  vor  allem  aber  ist  die  wissenschaftliche,  von  astro- 
logischen Phantasien  freie  Astronomie  griechischen  Ursprungs,  und 
Hipparch  gehört  zu  ihren  größten  Vertretern  in  allen  Zeiten.  Er  war  im- 
stande, durch  die  Annahme   der  Exzentrizität  der  —  kreisförmig  gedachten 

—  Sonnen-  und  Mondbahn  und  die  Entdeckung  der  Bewegung  des  Apo- 
gäums des  Mondes  für  beide  Gestirne  Tafeln  zu  berechnen,  die  mit  ihren 
wirklichen  Bewegungen  innerhalb  der  Genauigkeit.sgrenzen  der  damaligen 
Beobachtungen  übereinstimmten.  Er  entdeckte  selbständig  die  Präzession 
der  Nachtgleichen  und  führte  sie  richtig  auf  eine  (scheinbare)  Bewegung 
des  Pols  des  Himmelsäquators  um  den  Pol  der  Ekliptik  zurück.  Zur 
exakten  Erklärung  der  auffallenden  Unregelmäßigkeilen  in  den  scheinbaren 
Bahnen  der  fünf  damals  bekannten  Planeten  besaß  Hipparch  noch  kein 
genügendes  Beobachtungsmaterial,  er  trug  aber  selbst  zur  Ausfüllung 
dieser  Lücke  wesentlich  bei.  Schon  Aristoteles  und  andere  vor  ihm  hatten 
im  allgemeinen  die  Vorstellung,  daß  die  Planeten  sich  in  Kreisen  (Epi- 
zyklen)  bewegen,  deren  Mittelpunkte  wieder  eine  kreisförmige  Bahn  um 
die  Erde   beschreiben.     Eine    genaue    mathematische   Bestimmung    der    so 


28  \\u.Hl',l..M  J.txis:   Das  W'cscM  der  Ivultiir. 

entstehenden  Bahnen  wurde  aber  erst  dreihundert  Jahre  nach  Hipparch 
von  Ptolemäus  gegeben.  Dieses  ptolemäische  System  mit  seinen  Epizyklen 
und  exzentrischen  Kreisen  leistete  in  der  Darstellung  der  Erscheinungen 
ebensoviel  wie  das  Kopemikanische  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt,  denn 
die  Epizyklen  auf  den  deferiercnden  Kreisen  waren  nichts  anderes,  als 
gleichsam  Spiegelbilder  der  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne.  Die  Idee 
dieser  letzteren  Bewegung  war  den  Griechen  keineswegs  fremd,  sie  sagte 
aber  ihren  subjektiven  Ansichten  über  den  Menschen  und  die  Erde 
nicht   zu. 

In  den  beschreibenden  Naturwissenschaften  und  in  der  Medizin  machten 
die  Griechen  einen  verdienstlichen  Anfang  mit  der  Sammlung  von  Be- 
obachtungen und  Tatsachen,  die  während  vieler  folgender  Jahrhunderte 
nur  wenig  vermehrt  worden  sind.  Um  daran  zu  erinnern,  was  sie  in  der 
Ethik,  der  Staatslehre  und  der  allgemeinen  Philosophie  geleistet  haben, 
genügt  es,  die  Namen  vSokrates,  Piaton,  Aristoteles  zu  nennen. 

Wenn  die  Griechen  in  der  Wissenschaft  den  Grund  gelegt  haben,  auf 
dem  erst  zwei  Jahrtausende  später  weiter  gebaut  wurde,  so  haben  sie  sich 
in  der  Kunst  in  raschem  Anlauf  zur  höchsten  Stufe  der  Vollendung  er- 
hoben und  unerreichte  Vorbilder  für  alle  Zeit  geschaffen.  Die  massige, 
schwerfällige  Erhabenheit  der  ägyptischen  Bauten  haben  sie  durch  die 
heitere  Harmonie  ihrer  Tempel  ersetzt;  sie  haben  nicht  nur  das  Schön- 
heitsideal der  menschlichen  Gestalt  gefunden,  sondern  diese  Gestalt  auch 
vergeistigt  und  ihr  den  lebendigen  Ausdruck  des  höchsten  Seelenlebens 
eingeprägt.  Die  griechische  Literatur  aber  ist  nach  dem  Ausspruch  eines 
hervorragenden  Kenners  „die  einzige  im  strengen  Sinne  originelle  auf  der 
Welt;  denn  die  Griechen  haben  die  literarischen  Gattungen  geschaffen". 
Rom  und  das  Die  Römer   haben    die    praktische   .Seite    der  Kultur,  namentlich  In- 

Christentura. 

genieurbaukunst  und  Rechtswissenschaft  gefördert,  in  der  reinen  Kunst 
und  den  Wissenschaften  aber  dem  von  den  Griechen  übernommenen  Erbe 
kaum  etwas  hinzugefügt.  Ihre  weltgeschichtliche  Aufgabe  war  die  Ver- 
einigung der  ganzen  orientalisch-europäischen  Kulturwelt  zu  einem  Riesen- 
reich, in  dem  die  Unterschiede  der  Kultur  sich  verwischten,  die  Kultur 
sich  allseitig  auf  einer  immer  mehr  gleichmäßigen  Höhe  verbreitete,  der 
innere  Verkehr,  begünstigt  durch  die  Vorherrschaft  von  nur  zwei  Sprachen 
und  durch  großartige  Straßenanlagen,  eine  früher  nie  dagewesene  Aus- 
dehnung gewann,  zu  einem  Reich,  das  den  Krieg  nur  noch  an  seinen 
äußersten  Grenzen  kannte.  Die  Existenz  dieses  Weltreichs  aber  war  die 
Bedingung  des  großen  Ereignisses  dieser  Periode:  der  Ausbreitung  des 
Christentums.  Die  Lehre  Jesu  war  ihrem  Wesen  nach  international;  sie 
sollte  allen  Völkern  verkündigt  werden  und  sie  kannte  nicht  Griechen 
und  nicht  Römer,  sondern  nur  Menschen  als  Söhne  Eines  Vaters.  Auch 
in  Israel  hatten  einzelne  Propheten  sich  schon  zu  einem  universalistischen 
Ideal  erhoben,  und  die  Bemühungen  der  im  ganzen  Römerreich  ver- 
breiteten Juden,  Proselyten  zu  gewinnen,  waren  nicht  ohne  Erfolg.     Aber 


n.    Entwicklung  der  Kultur.  2g 

sie  dienten  vor  allem  dazu,  dem  Christentum  den  Boden  vorzubereiten, 
denn  erst  nachdem  dieses  den  Rann  der  jüdischen  Gesetzlichkeit  g-ebrochen 
hatte,  konnte  die  monotheistische  Lehre  ungehindert  ihre  Anziehungskraft 
auf  die  vielen  Tausende  ausüben,  in  deren  Herzen  die  Empfindung  eines 
tieferen  religiösen  Bedürfnisses  schlummerte.  Dir;  antike  Volksreligion 
konnte  dieses  Bedürfnis  schon  hmge  nicht  mehr  befriedigen  und  man  suchte 
Krsatz  für  sie  in  Mysterien  und  mystischen  orientalischen  Kulten.  Wenn 
auch  diese  im  Wettbewerb  mit  dem  Christentum  unterlagen,  so  ist  das 
nicht  zum  mindesten  der  Persönlichkeit  der  Männer  zu  verdanken,  die  die 
neue  Lehre  verkündeten  und  für  sie  auch  den  Tod  nicht  scheuten.  Das 
Christentum  fand  seine  Anhänger  vor  allem  unter  den  Mühseligen  und 
Beladenen,  denen  es  seine  „frohe  Botschaft"  brachte,  aber  seine  Absicht 
war  nicht  etwa  auf  eine  soziale  Reform  gerichtet.  Es  sah  mit  Gleich- 
gültigkeit und  Verachtung  auf  die  Welt,  den  „Kosmos",  der,  wie  man 
glaubte,  einem  baldigen  Untergang  geweiht  war.  Man  dachte  nicht  daran, 
eine  neue  weltliche  Ordnung  zu  schaffen,  Reiche  und  Arme,  Herren  und 
Sklaven  sollten  bleiben,  was  sie  waren;  aber  wer  die  (jüter  dieser  Welt 
besaß,  der  durfte  seinen  Bruder  nicht  darben  sehen  und  sein  Herz  nicht 
vor  ihm  verschließen.  Die  auf  brüderliche  Liebe  gegründete  Wohltätig- 
keit erhielt  eine  gewisse  Organisation,  aber  von  einem  kommunistischen 
oder  sozialistischen  System  kann  auch  in  der  Anfangsperiode  des  Christen- 
tums nicht  die  Rede  sein.  Auch  philosophische  Zeitströmungen  kamen 
der  neuen  Religion  entgegen  und  wirkten  andererseits  auf  sie  zurück, 
indem  sie  ihren  Dogmen  vielfach  eine  spekulative  Wendung  gaben.  Die 
stoische  Philosophie  mit  ihrem  überwiegend  ethischen  Charakter  trat  mehr 
und  mehr  zurück  gegenüber  der  neuplatonischen  Theosophie,  und  eine 
dieser  gleichartige  Geistesrichtung  herrschte  in  dem  von  der  Orthodoxie 
als  Ketzerei  sich  abspaltenden  Gnostizismus.  Unter  den  Kirchenlehrern 
aber  war  der  tiefsinnigste  philosophische  Geist  Augustinus,  der  vierzehn- 
hundert Jahre  vor  Kant  die  Relativität  unserer  Zeitanschauung  richtig 
erkannte. 

Die  letzten  Jahrhunderte  des  weströmischen  Kaiserreichs  erscheinen 
als  eine  Zeit  des  Verfalls,  wenn  man  nur  das  betrachtet,  was  in  ihr  zur 
antiken  Welt  gehörte.  Diese  Welt  war  alterschwach  geworden,  ihre  Pro- 
duktivkraft erlahmte  immer  mehr  auf  allen  Gebieten,  ihre  ganze  Lebens- 
anschauung brach  zusammen.  Aber  gleichzeitig  wuchs  langsam  aber 
stetig  eine  neue  Macht  heran,  die  katholische  Kirche,  die  zwar  nicht  den 
Augustinischen  Staat  Gottes  gründete,  aber  doch  eine  neue  vom  welt- 
lichen Staat  unabhängige  Ordnung  schuf,  der  sich  auch  die  halbbarbari- 
schen Volker  unterwarfen,  die  die  staatliche  Existenz  des  westlichen 
Reiches  vernichteten. 

So  beginnt  eine  neue  Weltperiode,  die  wiederum  ungefähr  ein  Jahr-  Mittelalter, 
tausend  umfaßt  und  sich  charakterisiert  durch  die  f  lerrschaft  der  katho-  Kirch»  und 
lischen    Kirche    im    Abendlande    und    die    Aufnahme    und    Umbildung   der 


30 


Wll.liF.l.M   I.F.XIS:  Das  Wesen  cicr  Kultur. 


römischen  Kultur  durch  die  geniianischeii  Völker,  von  denen  sich  ein 
großer  Teil  mit  der  römischen  Provinzialbevölkerung  zu  neuen  Nationali- 
täten verschmolz.  Die  Periode  beginnt  mit  einer  tiefen  Depression  der 
Kultur,  wie  sie  durch  die  ausgedehnte  Zerstörung  des  materiellen  Kultur- 
kapitals und  das  Eindringen  der  neuen  naturwüchsigen,  aber  rohen  Volks- 
elemente verursacht  werden  mußte.  Im  byzantinischen  Reich,  wenigstens 
in  seinem  Hauptgebiet,  wurde  der  Zusammenhang  mit  der  alten  Kultur 
weniger  stark  durchbrochen,  aber  obwohl  es  kurze  Zeit  seine  Herrschaft 
wieder  über  den  größten  Teil  des  einstigen  Gebietes  des  weströmischen 
Reiches  auszubreiten  vermochte,  so  blieb  es  doch  ohne  nachhaltigen  Ein- 
fluß auf  die  Entwicklung  des  Abendlandes,  zumal  seine  Kräfte  mehr  und 
mehr  durch  fortwährende  Kämpfe  mit  Persem,  Arabern  und  Türken  ver- 
zehrt wurden. 

Für  die  von  den  germanischen  Eroberem  neugegründeten  Staaten  bot 
das  Feudalwesen  längere  Zeit  eine  den  Verhältnissen  im  ganzen  ent- 
sprechende Ordnung  dar.  Daß  auch  die  Bischöfe  und  Äbte  als  Vasallen 
reichlich  belehnt  wurden,  war  ursprünglich  eine  Folge  des  mächtigen 
moralischen  Einflusses,  den  die  Kirche  gewonnen  hatte;  ihre  äußere  Macht- 
stellung wurde  dadurch  in  hohem  Grade  verstärkt,  aber  die  Verweltlichung 
der  kirchlichen  Würdenträger,  die  Ablenkung  ihrer  Interessen  von  ihren 
eigentlichen  geistlichen  Aufgaben  wirkte  nachteilig  auf  das  religiös-kirch- 
liche Leben.  Andererseits  lag  darin  auch  ein  Hindernis  für  die  Politik 
des  Papsttums,  das  nach  Überwindung  einer  Periode  des  tiefsten  Verfalls 
seit  dem  1 1.  Jahrhundert  mit  energischer  Konsequenz  das  Ziel  verfolgte, 
eine  streng  einheitliche  Kirchengewalt  mit  Unterordnung  der  Bischöfe  zu 
begründen.  Nur  soweit  der  weltliche  Besitz  ein  Recht  der  Kirche  war, 
hatte  er  Wert  für  das  Papsttum  und  so  weit  konnte  er  auch  als  Handhabe 
dienen  zur  Erreichung  der  erstrebten  päpstlichen  Oberhoheit  über  die 
weltlichen  Gewalten.  Auch  diese  Herrschaftsansprüche  ergaben  sich  als 
natürliche  Folgerungen  aus  der  von  allen  abendländischen  Völkern  an- 
erkannten geistlichen  Machtstellung  des  Papstes  als  des  „Statthalters  Christi". 
Als  solcher  erschien  er  als  der  gegebene  Schiedsrichter  in  Streitigkeiten  der 
katholischen  Fürsten.  Zugleich  war  ihm  die  höchste  Entscheidung  nicht  nur 
in  Glaubenssachen,  sondern  auch  in  Fragen  der  Moral  und  damit  auch  ein 
weitgehender  Einfluß  auf  Angelegenheiten  des  bürgerlichen  Rechts,  wie  z.  B. 
auf  das  Verhältnis  von  .Schuldner  und  Gläubiger,  von  Käufer  und  Verkäufer 
zugestanden.  Wenn  die  Päpste  ihre  geistliche  Macht  für  weltlich-politische 
Herrschaftszwecke  ausgenutzt  haben,  so  ist  das  auf  Kosten  der  ersteren 
geschehen,  und  daher  war  ihr  moralischer  Einfluß  selbst  in  den  Tagen 
eines  Bonifacius  VIII.  nicht  so  groß  wie  in  der  Gegenwart.  Immerhin 
wurde  die  katholische  Völkerfamilie  Europas  —  der  Osten  sonderte  sich 
„schismatisch"  ab  —  durch  das  mittelalterliche  Papsttum  zu  einer  gewissen 
geistigen  Einheit  verbunden,  die  auch  der  gleichmäßigen  Entwicklung  der 
Kultur  zugute  kam.     Das  Latein  als  Kirchensprache  wurde  überhaupt  zur 


n.    Entwicklung  der  Kultur.  j  I 

internationalen  gelehrten  Sprache  und  zum  wichtigsten  Vermittler  höherer 
Bildung;  die  Gleichheit  der  Ivultusformen  und  der  Lehre  in  allen  1 -ändern 
erforderte  auch  eine  gleichmäßige  Ausbildung  des.  Klerus,  der  seinerseits 
wieder  die  Vorbildung  der  anderen  gelehrten  Berufsstände  in  Händen 
hatte.  Nach  Rom  kamen  Priester,  Meinche  und  Pilger  aus  allen  Ländern, 
und  so  entstand  ein  auf  geistigen  Interessen  beruhender  internationaler 
Verkehr,  der  auch  durch  die  Wanderungen  von  Kloster  zu  Kloster,  von 
Universität  zu   Universität  befördert  wurde. 

Daß    die    Wissenschaften    im    katholischen    Abendlande    nur    bei    der  Mittelalterlich» 

Wissenschaft 

Kirche  eine  Zutluchtstätte  fanden,  daß  insbesondere  die  Kloster  sich  um  und  Kunst. 
ihre  Überlieferung  und  um  die  Erhaltung  der  Schriften  des  Altertums 
große  Verdienste  erworben  haben,  ist  unbestritten.  Aber  man  begnügte 
sich,  das  überkommene  Wissen  den  gegebenen  Bedürfnissen  anzupassen, 
ohne  daß  man  imstande  war,  es  durch  selbständige  Forschung  zu  ver- 
mehren. Die  scholastische  Philosophie,  auf  deren  Ausbau  großer  Scharf- 
sinn verwendet  wurde,  blieb  doch  immer  nur  eine  Dienerin  der  Theologie. 
Tiefere  Denker,  die  sich  in  mystische  Spekulationen  versenkten,  verirrten 
sich  leicht  über  die  Grenzen  der  korrekten  Orthodoxie.  Die  Naturwissen- 
schaften waren  dem  mittelalterlichen  Geiste  nicht  sympathisch;  man  be- 
trachtete sie  mehr  als  AusHuß  einer  bedenklichen  Neugier,  die  den  Men- 
schen von  seinen  wahren,  im  Jenseits  liegenden  Zielen  ablenke.  Roger 
Bacon,  der  für  die  richtige  Methode  der  naturwissenschaftlichen  Forschung 
eintrat  und  einige  ihrer  künftigen  großen  Ergebnisse  ahnte,  wurde  ver- 
ketzert und  eingekerkert  und  blieb  gänzlich  isoliert  und  ohne  Nach- 
wirkung auf  seine  Zeit.  Der  geringe  Zuwachs  an  naturwissenschaftlichen 
Kenntnissen,  den  das  Mittelalter  aufzuweisen  hat,  stammt  hauptsächlich 
von  den  Arabern,  deren  Leistungen  aber  auch  nicht  überschätzt  werden 
dürfen.  Wenn  sie  einige  chemische  Entdeckungen  gemacht  haben,  so 
waren  das  nur  glückliche  Funde  auf  einem  falschen  Wege,  denn  ihre 
Chemie  war  eigentlich  Alchimie,  wie  die  Astronomie  als  Astrologie  be- 
gonnen hat.  Sie  wandten  ihre  chemischen  Kenntnisse  auch  auf  die  Me- 
dizin an,  ohne  indes  diese  über  ihre  ersten  empirischen  Anfänge  hinaus- 
zubringen. Größere  Verdienste  haben  sie  sich  durch  die  Erweiterung  der 
Erdkunde  erworben. 

Erst  die  Wiederbelebung  des  Studiums  der  klassischen,  namentlich 
der  griechischen  Literatur  brachte  im  Geistesleben  des  ausgehenden  Mittel- 
alters mehr  weltlichen  Sinn  zur  Herrschaft.  Es  entstand  allmählich  eine 
neue  Wissenschaft,  die  Wissenschaft  vom  klassischen  Altertum,  mit  deren 
Verbreitung  sich  eine  freiere  Bewegung  des  Denkens,  Erweiterung  des 
Gesichtskreises,  Verfeinerung  des  Geschmackes  verband.  Vor  allem  auf 
dem  Gebiete  der  Kunst  trat  diese  neue  Geistesströmung  in  lebhaften 
Wettbewerb  mit  dem  kirchlichen  Einfluß.  Am  selbständigsten  gegenüber 
der  Kirche  hatte  sich  die  nationale  Dichtung  sowohl  in  der  deutschen  und 
englischen,  wie  in  den   nunmehr  fest  ausgebildeten  romanischen  Sprachen 


32 


WiI.Hia.Jl   I.K.xis:   Das  Wesen  der  Kultur. 


entwickelt,  und  auch  die  Einwirkinig-  der  klassischen  Vorbilder,  obwohl 
tiefgehend  und  fruchtbar,  hat  die  Eigenart  der  neu  erwachsenen  Literatur 
nicht  beeinträchtigt. 

Durchaus  unter  der  Herrschaft  des  kirchlichen  Geistes  stand  die  bil- 
dende Kunst  des  Mittelalters,  und  eben  deshalb  war  sie  original  im  Ver- 
hältnis zur  Antike.  Die  gotische  Architektur  entsprach  aber  nicht  nur 
Stimmungen,  Gefühlen  und  Ahnungen,  die  dem  Altertum  fremd  waren, 
sie  hatte  auch  künstlerisch  und  technisch  ein  selbständiges  Verdienst 
durch  die  Art,  wie  sie  das  dekorative  und  das  mechanisch  -  konstruktive 
Element  in  harmonischer  Weise  vereinigte  und  die  naturgemäßen  Verhält- 
nisse von  Druck  und  Gegendruck,  Gewicht  und  Stütze  bis  in  die  Einzel- 
heiten hinein    in  künstlerischer  Form  erkennbar  machte. 

Die  Malerei  hob  sich  am  Ausgang  des  Mittelalters  auf  eine  neue 
Stufe  mit  neuer  Technik;  auch  sie  wuchs,  wie  die  mittelalterliche  Skulp- 
tur, im  Dienst  der  Kirche  auf.  Die  Gestalten,  die  beide  Künste  schufen, 
sollten  nicht  das  Ideal  der  natürlichen  vSchönheit  verwirklichen,  sondern 
sie  brachten  in  durchgeistigten  Zügen  die  der  Zeit  eigne  asketische  und 
weltflüchtige  Stimmung  zum  Ausdruck.  In  eine  ganz  neue  Phase  vollends 
trat,  ebenfalls  unter  Leitung'  der  Kirche,  durch  Anwendung  des  Kontra- 
punkts und  der  Vielstimmigkeit  die  Musik, 
wirischafdicbc  Die   wirtschaftliche   Kultur,  die  beim  Beginn  der  Periode  nach  einer 

und  soziale  *       r  i        •  ■  o        r 

Kntwirkiiing.  großcn  Zerstöruug  und  vielfach  von  einer  noch  rückständigen  Stufe  aus 
ihre  Entwicklung  neu  beginnen  mußte,  war  am  Ende  des  Zeitraums  über 
den  im  Altertum  erreichten  Stand  in  manchen  Richtungen  hinausgewachsen. 
Die  Sklaverei  war  durch  mildere  Formen  der  Unfreiheit  ersetzt  worden, 
wozu  auch  die  Kirche  mitgewirkt  hat,  indem  sie  auch  dem  vSklaven  vor 
Gott  gleichen  Wert  mit  dem  Freien  zuerkannte.  Indes  wurde  die  Skla- 
verei auch  unter  der  Herrschaft  des  Christentums  nie  vollständig  abge- 
schafft; noch  im  17.  Jahrhundert  gab  es  in  Livomo  einen  Markt  für  tür- 
kische Sklaven,  und  in  Amerika  wurde  bekanntlich  von  katholischen  und 
protestantischen  Nationen  die  Sklaverei  in  ihrer  schlimmsten  Gestalt  für 
die  Neger  wiederhergestellt.  Die  in  Europa  entstandene  Hörigkeit  hing 
eng  mit  den  Verhältnissen  des  Grundbesitzes  zusammen.  Während  bei 
den  germanischen  Stämmen  in  ihrer  Heimat,  wie  bei  allen  Völkern  auf 
der  gleichen  Kulturstufe,  der  gemeinschaftliche  Grundbesitz  der  Ge- 
schlechtsgenossen oder  ähnlicher  Verbände  bestand,  bildete  sich  nach  der 
Eroberung  der  römischen  Provinzen  für  die  freien  Volksgenossen  das 
private  Grundeigentum  aus,  wenn  auch  noch  nicht  in  der  vollen  Strenge 
des  römischen  Rechts.  Auf  den  Besitzungen  der  großen  Grundherrschaften 
erhielten  Unfreie  und  Halbfreie  Bauemstellen  oder  Hufen  zur  selbstän- 
digen Bewirtschaftung  gegen  Leistung  von  Abgaben  und  Diensten.  Aber 
auch  Vollfreie  übertrugen,  um  sich  dem  Druck  des  Kriegsdienstes  zu  ent- 
ziehen, namentlich  seit  der  Karolingerzeit,  häufig  ihren  Hof  einem  Grund- 
herrn,   um    ihn    als    bäuerliches   Lehen   mit  geringer    Belastung   zurückzu- 


II.    I'-ntwicklung  ilcr  Kullur.  33 

erhalten.  Durch  die  von  den  (irundherrschaften,  zu  denen  auch  die  Klöster 
gehörten,  veranlaßten  großen  Rodungen  wurde  das  Land  mehr  und  mehr 
in  den  Kulturzustand  übergeführt. 

Während     die    bäuerliche    Bevölkerung    größtenteils    in    mannigfaltig 
abgestuften  Hörigkeitsverhältnissen   blieb,   bildete   sich   in   den  allmählich 
anwachsenden  Städten  aus  ursprünglich  meistens  ebenfalls  hörigen  Hand- 
werkern   ein    freier    bürgerlicher    Mittelstand.     Das    Zunftwesen    gab    ihm 
einen   festen    Halt    und   neben    patrizischen    Grundbesitzern   und  größeren 
Kaufleuten    auch    mehr    oder    weniger    Anteil    am    städtischen    Regiment. 
Die  mittelalterliche  Stadt  bildete  mit  der  sie  umgebenden  Landschaft  einen 
eigentümlichen    wirtschaftlichen    Organismus,    der,   wie    auf  einer   früheren 
Stufe    die   naturale   Hauswirtschaft,    sich    im   wesentlichen    für  die   Befrie- 
digung  der   Bedürfnisse    seiner    Mitglieder    selbst    genügte.     Nur    einzelne 
Waren,  namentlich  solche  von  größerem  Wert,  bei  günstiger  Verkehrslage 
am  Meere  oder  an  schiffbaren  Flüssen  auch  Massenartikel,  wurden  durch 
den  Handel  aus  der  Fremde  eingeführt  oder  auf  ferne  Märkte  ausgeführt. 
Die  durch  die  Kreuzzüge  begünstigte  Entwicklung  des  Verkehrs  mit  dem 
Orient,  die  wirtschaftliche  Plrschließung  der  Ostseeländer  durch  die  Hansa 
und   der  lebhafte   Verkehr  mit  England   brachte    eine   Anzahl  Städte   als 
spezifische   Handelsstädte   zur  Blüte.      In    ihnen    kam    auch   die   Geldwirt- 
schaft,   die    am    Anfang    der   Periode    fast  gänzlich    zurückgedrängt    war, 
wieder  mehr  und  mehr  zur  Ausbildung  und  mit  ihr  zugleich  trotz  des  ka- 
nonischen Zinsverbotes  eine   wirksame  Kreditorganisation,   die  namentlich 
in    den    großen    Wechselmessen    zutage    trat.     Und   nun   begann    auch    die 
Ansammlung    des    mobilen    Unternehmungskapitals,    das    sich    zunächst    in 
Bank-    und    Handelsgeschäften    betätigte,    nicht    etwa   Arbeiter   in    großer 
Zahl   selbst   beschäftigte,  sondern   den    Verlag    der   Erzeugnisse    hausindu- 
strieller Handwerker,  wie  z.  B.  der  flandrischen  Weber,  übernahm.     Auch 
das  Verhältnis  des  Staates  zur  Volkswirtschaft  erfuhr  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  eine  allmähliche  Umgestaltung.    In  Frankreich, 
England,  Spanien  trat  an  die  Stelle  des  losen  Gefüges  des  Feudalstaates 
eine   straffere,  einheitliche  Verwaltung,  die  auch  anfing,  sich  in  wirtschaft- 
licher Wohlfahrtspolizei  zu  versuchen.    In  Deutschland  gingen  wenigstens 
die  größeren  Territorialfürstentümer  in  gleichem  Sinne  vor,   wie   es  auch 
die  italienischen  Stadtrepubliken  schon  früher  getan  hatten. 

Sehr  stark  war  andererseits  die  Rückwirkung,  die  auf  die  Staaten 
durch  die  Ausbreitung  der  Geldwirtschaft  ausgeübt  wurde.  Sie  mußten 
ihr  ganzes,  bis  dahin  noch  überwiegend  naturalwirtschaftliches  Haushalts- 
system umgestalten  und  sich  neuen  finanziellen  Bedingungen  der  Krieg- 
führung anpassen.  Kein  Wunder,  wenn  nunmehr  die  Heranziehung  von 
möglichst  vielem  Gold  und  Silber  als  die  Hauptaufgabe  der  Volks-  und 
Staatswirtschaftspolitik  galt. 

Trotz  der  befriedigenden  Fortschritte   der  wirtschaftlichen  Produktion  Xc-cUnik. 
war   die   Zahl   der  wirklich   neuen   technischen  Erfindungen   im  Mittelalter 

Dir  Kt'l.Tl'R  ukk  Gegenwart.     I.  i.  3 


■1  j  Wil.HKl.M  Lexis:  Das  Wesen  der  Kultur. 

nicht  groß  und  die  Technik  kam  nach  ihrem  allgemeinen  Charakter  nicht 
wesentlich  über  den  im  Altertum  erreichten  Stand  hinaus.  Der  Kompaß 
ist  keine  europäische  Erfindung;  die  merkwürdige  Eigenschaft  der  Magnet- 
nadel war  schon  den  Chinesen  bekannt.  Für  die  Schiff£ihrt  des  Mittel- 
alters hatte  übrigens  der  Kompaß  noch  nicht  seine  volle  Bedeutung; 
diese  erhielt  er  erst,  als  im  Zeitalter  der  Entdeckungen  die  große  ozea- 
nische Schiffahrt  sich  entwickelte.  Die  zufällige  Entdeckung  eines  explo- 
siven Gemisches,  wie  das  Pulver,  war  an  sich  noch  keine  erhebliche 
Erfindung;  die  Chinesen  hatten  ein  solches  Gemenge  nur  zu  Feuerwerks- 
spielereien benutzt.  Was  dem  Pulver  seine  kulturgeschichtliche  Bedeutung 
gab,  war  die  —  nur  sehr  langsam  fortschreitende  —  Ausbildung  der 
Feuerwaffen,  insbesondere  auch  der  Handfeuerwaffen.  Aber  auch  diese 
ist  nicht  einfach  als  die  Ursache  der  völligen  Umgestaltung  des  Kriegs- 
wesens anzusehen,  vielmehr  wirkten  dabei  auch  wirtschaftliche  Ursachen 
mit,  namentlich  die  mit  der  Geldwirtschaft  zusammenhängende  Entstehung 
der  Söldnerheere,  die  auch  auf  die  Art  der  Bewaffnung  zurückwirkte. 
Überhaupt  war  es  die  wirtschaftliche  Entwicklung,  die  am  Ende  des 
Mittelalters  der  praktischen  Verwendung  technischer  Vorrichtungen  weitere 
Bahnen  eröffnete.  Diese  beruhten  alle  auf  mechanischen  Kombinationen, 
die  auch  den  Alten  schon  bekannt  waren,  aber  erst  jetzt  die  Bedingungen 
einer  wirtschaftlichen  Verwertung  vorfanden.  Dies  darf  auch  von  der 
kulturgeschichtlich  wichtigsten  Erfindung  dieser  Periode  gesagt  werden, 
die  am  wirksamsten  den  Übergang  zu  der  folgenden  angebahnt  hat:  der 
Buchdruckerei.  Technisch  ist  die  Anwendung  beweglicher  Lettern  statt 
größerer  Druckplatten  keine  außerordentliche  Leistung,  zumal  die  Chinesen 
schon  ähnliches  aufzuweisen  hatten.  Aber  diese  Erfindung  kam  zur 
rechten  Zeit,  um  ein  weitverbreitetes  dringendes  Bedürfnis  zu  befriedigen, 
das  durch  das  Wiedererwachen  des  wissenschaftlichen  Geistes  und  des 
Strebens  nach  höherer  Bildung  erzeugt  war.  Fünfhundert  Jahre  früher 
wäre  dieselbe  Erfindung  wahrscheinlich  spurlos  vorübergegangen  und  in 
Vergessenheit  geraten.  Gutenberg  erscheint  auch  insofern  als  ein  mo- 
derner Erfinder,  als  er,  wenn  auch  nicht  mit  dem  verdienten  Erfolge,  be- 
strebt war,  aus  seiner  Erfindung  Gewinn  zu  ziehen. 
Kultur  der  Ein   bestimmtes   Jahr   als   Anfang    der   nunmehr  beginnenden   neuzeit- 

Neuzeit.  jjj,]^gjj  Kulturpcriode  zu  bezeichnen,  hat  etwas  WillkürUches.  Sie  wird 
eingeleitet  durch  eine  Zeitstrecke,  in  der  zwei  Ereignisse  von  unermeß- 
licher Bedeutung  ungeahnte  neue  Entwicklungsreihen  in  Gang  setzten; 
die  Entdeckung  Amerikas  und  die  Reformation.  Andrerseits  aber  reicht 
diese  Periode  noch  nicht  bis  zur  Gegenwart,  sondern  sie  ist  abzuschließen 
mit  den  letzten  Jahrzehnten  des  i8.  Jahrhunderts,  in  denen  die  Wattsche 
Dampfmaschine,  die  Gründung  der  amerikanischen  Union  und  die  franzö- 
sische Revolution  wiederum  den  Anbruch  eines  neuen  Abschnitts  der 
Kulturgeschichte  bezeichneten. 

Die  großen  überseeischen  Entdeckungen,  zu   denen  Columbus'  glück- 


n.    Entwicklung  der  Kultur.  ^5 

liehe  Fahrt  den  Anstoß  gab,  wirkten  vor  allem  mächtig  auf  das  ganze 
Wirtschaftsleben  der  Kultunvelt  ein.  Jetzt  erst  entstand  ein  wirklicher, 
die  Erde  umspannender  Welthandel,  eine  große  Schiffahrt,  ein  stetiges 
Anwachsen  der  von  dieser  bewegten  Warenmassen  und  der  Summe  des 
aus  dem  Handel  fließenden  Geldgewinns.  Das  aber  führte  zur  vollen  Aus- 
bildung der  Geldwirtschaft,  zumal  die  Einfuhr  aus  Amerika  länger  als  ein 
Jahrhundert  fast  ausschließlich  aus  Silber  und  Gold  bestand.  Große  Unter- 
nehmungen aber  auf  Grundlage  der  Geldwirtschaft  und  der  dadurch  be- 
dingten strengen  Rechnungsnormen  bilden  den  Kapitalismus.  Die  An- 
fange desselben  in  Bank-  und  Handelsgeschäften  zeigen  sich  zwar  schon 
in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters,  aber  erst  in  der  neuen  Pe- 
riode steigt  er  allmählich  zu  seiner  Herrschaftsstellung  in  der  Volkswirt- 
schaft empor. 

Große  Begünstigung  erhielt  der  Kapitalismus  auch  durch  die  fort- 
schreitende geldwirtschaftliche  Umgestaltung  der  Finanzwirtschaft  der 
Staaten  und  die  damit  verbundene  Steigerung  des  staatlichen  Kredit- 
bedürfnisses. Die  Staaten  selbst  aber  wurden  durch  ihr  Geldbedürfnis  zur 
merkantilistischen  Handelspolitik  geführt,  der  sich  bei  den  Seemächten 
eine  prohibitive  Kolonialpolitik  anschloß.  Immer  mehr  griff  die  Staats- 
tätigkeit nun  auch  in  das  innere  Wirtschaftsleben  ein.  Die  mittelalter- 
liche Stadtwirtschaft  wurde  durch  eine  Volkswirtschaftspolitik  verdrängt, 
die  den  Staat  als  eine  geschlossene,  im  Wettbewerb  mit  anderen  stehende 
Individualität  auffaßte  und  das  wirtschaftUche  Wohl  des  Ganzen,  so  gut 
sie  es  verstand,  und  daher  auch  oft  mit  ungeeigneten  Mitteln  zu  fördern 
suchte.  In  den  meisten  Staaten  kam  der  aufgeklärte  Absolutismus  zur  Herr- 
schaft; in  England  dagegen  entwickelte  sich  unter  besonderen  Umständen 
als  ein  neues  bedeutsames  Erzeugnis  der  politischen  Kultur,  wenn  auch 
zunächst  noch  in  aristokratischer  Beschränkung,  der  Parlamentarismus. 

Das  zweite  srroße  Ereignis  am  Eingange  der  betrachteten  Periode  war        Die 

=■  *  ö        O  iir    -1        1  i       •         Reformation. 

die  Reformation.  Nächst  der  Verchristlichung  der  alten  Welt  hat  kern 
geschichtlicher  Vorgang  eine  gleich  große  Bedeutung  für  die  geistige 
Kultur  der  Menschheit  gehabt,  wie  sie,  ganz  abgesehen  von  ihren  weit- 
tragenden Folgen  für  die  politische  Geschichte,  die  anderthalb  Jahrhun- 
hunderte  lang  unter  dem  Einfluß  der  Religionspolitik  stand.  Die  theolo- 
gischen Streitfragen  über  Wirkung  der  Erbsünde,  Rechtfertigung,  Gnade, 
Willensfreiheit  dürften  heute  nur  noch  in  einem  sehr  beschränkten  Kreise 
Interesse  finden  und  für  die  Lehre,  daß  der  Mensch  in  Sachen  seines 
Seelenheils  instar  statuae  salis  sei,  oder  daß  durch  ein  aetemum  dei  de- 
cretum  die  einen  zur  ewigen  Seligkeit,  die  andern  zur  ewigen  Verdamm- 
nis prädestiniert  seien,  werden  sich  wohl  nicht  allzu  viele  Lutheraner  und 
Reformierte  noch  erwärmen.  Die  religiöse  Bedeutung  der  Reformation 
lag  nicht  in  der  neuen  Formulierung  von  Dogmen,  ihrem  Wesen  nach 
war  sie  eine  Reaktion  des  individuellen  religiösen  Bewußtseins  gegen  den 
in  der  katholischen  Kirche   zur  Herrschaft  gelangten  Geist  der  Venvelt- 

3» 


Xb  AVil  MKi.M   I.KXis:  Das  Wesen  der  Kultui. 

lichungf  und  Veräußerlichimg'  und  gegen  die  gedankenlose  Werkheiligkeit, 
die  zwar  nicht  der  theoretischen  Lehre  entsprach,  aber  tatsächlich  in  einer 
das  tiefere  sittliche  Gefühl  verletzenden  Weise  in  Übung  war.  Daher 
sollte  eine  unsichtbare  Kirche  geschaffen  werden,  eine  Gemeinschaft  der 
nur  Gott  bekannten  Heiligen,  jede  priesterliche  Vermittlung  zurückgewiesen 
und  der  Mensch  Gott  allein  gegenübergestellt  werden,  freilich  als  ein  aus 
sich  selbst  zu  nichts  Gutem  fähiges  Geschöpf. 

Von  dem  Gedanken  der  „freien  Forschung"  im  heutigen  Sinne  waren 
die  Refonnatoren  selbst  noch  sehr  weit  entfernt.  Sie  verstanden  darunter 
nur  die  Freiheit,  die  Schrift  unabhängig  von  der  kirchlichen  Autorität 
aufzufassen  und  auszulegen,  indem  sie  annahmen,  daß  der  Gläubige  dabei 
nicht  irre  gehen  könne,  weil  er,  wie  Futher  sagt,  innerlich  von  Gott  selbst 
belehrt  werde.  Auch  die  katholische  Kirche  sah  sich  zu  durchgreifenden 
Reformen  gedrängt:  sie  gab  vielen  ihrer  Dogmen  festere  Formen,  faßte 
ihre  Kräfte  energisch  zusammen  und  erlangte  bald  eine  mehr  und  mehr 
zunehmende  Widerstandskraft.  Immerhin  aber  war  eine  breite  Bresche 
in  die  mächtigste  Feste  der  traditionellen  Autorität  gelegt  und  das  bereits 
erwachte  Streben  nach  Befreiung  des  menschlichen  Denkens  und  For- 
schens  von  allen  Schranken  kirchlicher  oder  gelehrter  Dogmen  erhielt 
dadurch  die  kräftigste  Unterstützung.  Neben  den  humanistischen  Wissen- 
schaften erhoben  sich  nun  auch  die  Naturwissenschaften  nach  mehr  als 
tausendjähriger  Stockung  zu  einem  kühnen  Vordringen,  das  sie  seitdem 
unausgesetzt  zu  immer  glänzenderen  Errungenschaften  geführt  hat. 
Die  Den  Anfang  machte   die  Astronomie   mit   der  Aufstellung   des   helio- 

zentrischen  Sonnensystems.  Das  war  weit  mehr,  als  eine  neue  Erklärung 
der  beobachteten  Bewegungen  der  Planeten,  es  war  die  Verkündigung 
einer  neuen  Weltanschauung,  nach  der  die  alten  Vorstellungen  von 
Himmel  und  Erde  fallen  müssen  und  die  Erde  zu  einem  verschwindenden 
Atom  in  dem  unermeßlichen  All  herabgedrückt  wird.  Kopemikus  selbst 
freilich  zog  nicht  solche  Folgerungen  aus  seiner  Lehre;  er  begnügte  sich 
damit,  zu  zeigen,  daß  seine  „Hypothese"  die  Erscheinungen  ebensogut 
erkläre,  wie  die  Ptolemäische  und  daß  sie  vor  dieser  den  Vorzug  weit 
größerer  Einfachheit  und  Anschaulichkeit  habe.  Giordano  Bruno  war  der 
Erste,  der  die  Kopemikanische  Theorie  unter  einen  allgemeinen  kosmo- 
logischen  Gesichtspunkt  brachte  und  der  Sonne  selbst  mit  ihrem  Planeten- 
system ihren  Platz  in  der  endlosen  Fixstemwelt  anwies.  Galileis  Femrohr 
lieferte  wertvolle  Beweisgründe  für  das  Kopemikanische  System,  Kepler 
entdeckte  die  wahre  Form  der  Bahnen  der  Planeten  und  die  Gesetze 
ihrer  Bewegungen,  und  Newton  endlich  führte  die  Keplerschen  Gesetze 
auf  das  eine  weltbeherrschende  Gesetz  der  Gravitation  zurück.  Die  Er- 
findung der  Infinitesimalrechnung  durch  Newton  und  Leibniz  eröffnete 
nicht  nur  eine  neue  Epoche  für  die  reine  Mathematik,  sondern  sie  gab 
auch  der  mathematischen  Naturwissenschaft  ein  Hilfsmittel  von  bewun- 
dernswerter   Leistungsfähigkeit.   —   In    der   theoretischen  Mechanik    waren 


II.    Kntwicklun"  der  Kultur. 


37 


die  Alten  nicht  über  die  Anfang.'^gründe  der  .Statik  hinau.';gekommen,  von 
den  wahren  Gesetzen  der  Bewegung  und  der  Dynamik  aber  hatten  .sie 
noch  keine  Ahnung.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte,  des  i6.  Jahrhunderts 
setzt  auch  in  dieser  Wissenschaft  der  Fortschritt  ein  und  Galilei  endlich 
entdeckte  die  Fallgesetze  und  überhaupt  die  allgomoinen  Grundlagen  der 
Dynamik.  Newton  begründete  die  Mechanik  des  Himmels  und  die  großen 
Mathematiker  des  18.  Jahrhunderts  brachten  die  anah'tische  Mechanik 
nach  allen  Seiten  hin  auf  eine  hohe  Stufe  der  Vollendung.  Von  dm  ver- 
schiedenen Zweigen  der  Physik  machte  seit  der  Erfindung  der  Fernrohre 
im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  die  Optik  die  bemerkenswertesten  Fort- 
schritte. Die  Elektrizitätslehre  trat  erst  irn  18.  Jahrhundert  mehr  hervor. 
Der  Vorrat  der  chemischen  Kenntnisse  vergrößerte  sich  mehr  und  mehr, 
jedoch  führt  Kant  noch  immer  die  Chemie  als  Beispiel  einer  Kunst  im 
Gegensatz  zur  Wissenschaft  an  und  sie  erhielt  in  der  Tat  ihre  sicheren 
wissenschaftlichen  Grundlagen  erst  am  Ende  der  Periode  durch  die  Ar- 
beiten Lavoisiers.  Die  beschreibenden  Naturwissenschaften  erhielten  ihre 
moderne  Richtung  und  Gestaltung  durch  Linn6. 

Wie  die  Naturwissenschaft,  so  machte  sich  auch  die  Philosophie  un- 
abhängig von  Aristoteles  und  zugleich  von  der  theologischen  Führung. 
Von  den  beiden  Strömungen,  die  miteinander  parallel  liefen,  ging  die  erste 
von  Baco  von  Verulam  aus,  der  die  richtigen  Grundsätze  der  induktiven 
Methode  aufstellte,  wenn  auch  seine  eigenen  Versuche,  sie  anzuwenden, 
sehr  unglücklich  ausfielen.  Der  Geist  der  Baconischen  Philosophie  ist  die 
Quelle  sowohl  des  englischen  Empirismus  und  Sensualismus,  wie  der  fran- 
zösischen Aufklänmgsphilosophie  und  des  Humeschen  Skeptizismus.  Dieser 
aber  führte  hinüber  zu  Kant,  der  andrerseits  den  von  Descartes  ausge- 
gangenen und  von  Spinoza  und  Leibniz  weiter  entwickelten  metaphy- 
sischen Dogmatismus  überwand. 

In  engem  Zusammenhang  mit  den  neuen  Weltanschauungen  entstand 
auch  eine  neue  Wissenschaft  von  Staat  und  Gesellschaft  und  im  Anschluß 
an  diese  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  eine  rationalistische,  auf 
naturrechtlichen  Voraussetzungen  gegründete  Volkswirtschaftslehre. 

Mit  der  selbständigen  wissenschaftlichen  Forschung  entwickelte  sich  Unterrichis- 
auch  der  wissenschaftliche  Unterricht.  Die  Universitäten,  ursprünglich 
ganz  unter  kirchlicher  Herrschaft  stehend,  wurden  nach  der  Reformation 
in  den  protestantischen  Gebieten  Deutschlands  zu  Staatsanstalten.  Bis  in 
das  18.  Jahrhundert  hinein  erscheinen  sie  jedoch  wesentlich  als  Schulen 
zur  Vorbereitung  für  die  gelehrten  Berufe  und  nicht  frei  von  pedantischen 
und  scholastischen  Auswüchsen.  Unter  ihren  Professoren  fehlte  es  nicht 
an  tüchtigen  Gelehrten,  aber  die  großen  Führer  der  Wissenschaft  gingen 
nicht  aus  ihnen  hervor  und  ein  Leibniz  z.  B.  trug  kein  Verlangen  nach 
einem  Lehrstuhl.  Als  Träger  der  wissenschaftlichen  Forschung  galten 
mehr  die  seit  dem  Fnde  des  17.  Jahrhunderts  in  größerer  Zahl  gegrün- 
deten  Akademieen   und  gelehrten   Gesellschaften.     Erst    seit    der    zweiten 


38 


WlTIiKIM    I.F.XIS:    Das  Wesen   der  KuUiir. 


Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  betrachteten  wenigstens  die  deutschen  Uni- 
versitäten mehr  und  mehr  neben  dem  Unterricht  auch  die  Forschung  als 
ihre  Aufgabe,  und  dadurch  erst  sind  sie  zu  der  hohen  wissenschaftlichen 
Stellung  emporgestiegen,  die  sie  heute  einnehmen. 

Die  für  die  Universität  vorbereitenden  Mittelschulen  hatten  als  Vor- 
läufer die  mittelalterlichen  Kloster-,  Dom-  und  Stadtschulen.  In  den  pro- 
testantischen .Staaten  wurden  sie  verweltlicht  und  allmählich  in  ihre  mo- 
derne Gestalt  gebracht.  In  den  katholischen  Ländern  aber  kamen  sie 
größtenteils  unter  die  Leitung  des  Jesuitenordens,  der  in  seiner  Art  be- 
deutende Lehrerfolge  erzielte.  Ursprünglich  beruhte  der  Unterricht  in 
den  höheren  Schulen  durchaus  auf  humanistischer  Grundlage;  seit  dem  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  aber  nahmen  manche  Anstalten,  wie  die  Ritteraka- 
demieen,  auch  die  neueren  Sprachen  und  die  sogenannten  „galanten" 
Wissenschaften  in  ihren  Lehrplan  auf,  und  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  treten  bereits  Realschulen  auf  mit  dem  Zweck,  den 
bürgerlichen  Ständen  eine  höhere  Bildung  zu  verschaffen. 

Das  eigentliche  Volksschulwesen  datiert  erst  seit  dem  Zeitalter  der 
Reformation.  Im  18.  Jahrhundert  begann  man  in  den  größeren  protestan- 
tischen Staaten  mit  der  Durchführung  des  Schulzwanges,  in  den  katho- 
lischen Ländern  aber  blieb  die  Schulbildung  der  Masse  des  Volkes  noch 
lange  unbefriedigend. 
Literatur  und  Die   zunehmeude  Verbreitung   eines  höheren  Unterrichts  bewirkte   in 

den  Kulturländern  vor  allem  eine  Steigerung  des  Einflusses  ihrer  natio- 
nalen Literatur,  in  der  das  moderne  Denken  nicht  weniger  zum  Ausdruck 
kam,  als  in  der  Wissenschaft.  Dem  erstaunlichen  Genie  Shakespeares 
merkt  man  nur  in  Nebendingen  an,  daß  es  noch  dem  16.  Jahrhundert  an- 
gehört. Die  eigentliche  moderne  literarische  Periode  beginnt  indes  in  Eng- 
land wie  in  Frankreich  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts, 
in  Deutschland  aber  ein  Jahrhundert  später.  Freilich  beschränkte  die 
Literatur  sich  nicht  darauf,  im  Gewände  der  Dichtung  die  tiefsten  Empfin- 
dungen des  Menschenherzens  offenzulegen  und  die  höchsten  Ideale  des 
Schönen  und  Guten  zu  versinnbildlichen;  es  kamen  auch  Zeiten,  von  denen 
gesagt  werden  konnte,  daß  „man  ästhetische  Werke  bloß  schreibt,  um  zu 
gefallen,  und  bloß  liest,  um  sich  ein  Vergnügen  zu  machen".  Der  Buch- 
druck befriedigte  auch  mit  Leichtigkeit  die  zunehmende  Nachfrage  nach 
bloßer  Unterhaltungsliteratur,  die  auf  Kunstwert  keinen  Anspruch  hat, 
immerhin  aber  zur  Erhöhung  der  geistigen  Regsamkeit  in  weiteren  Kreisen 
beiträgt.  Noch  stärker  entwickelte  sich  mit  Hilfe  der  Druckerpresse  das 
Bedürfnis  nach  raschem  Nachrichtenverkehr  und  öffentlicher  Erörterung 
aller  Tagesfragen.  An  die  Stelle  der  vereinzelten  Flugblätter  des  16.  Jahr- 
hunderts traten  Wochenschriften  und  andere  regelmäßig  erscheinende 
Blätter,  und  im  18.  Jahrhundert  große  Tageszeitungen,  die  zu  leitenden 
Organen  der  öffentlichen  Meinung  wurden.  Es  war  zunächst  England,  wo 
die   Presse,   begünstigt   durch    die    ihr  gewährte  Freiheit,   zu    einer   bedeu- 


III.   Die   Kultur  des    19.  Jahrhunderts.  ig 

tenden  Machtstollung  omporsticg;  auf  dem  Kontinont  aber  war  sie,  wenn 
PS  auch  manchen  ihrer  Organe,  wie  /..  B.  dem  Schlozerschen  Briefwechsel, 
nicht  an  Einfluß  fehlte,  durch  das  herrschende  polizeiliche  System  zu  vor- 
sichtiger Beschränkung  genötigt.  Um  so  mehr  galt  auch  hier  die  Preß- 
freiheit als  das  vor  allem  zu  erstrebende  Ziel,  wie  denn  auch  Kant  in  der 
„Freiheit  der  Federn"  eine  notwendige  Bedingung  für  den  Bestand  eines 
wirklichen  Rechtstaates  sah. 

Während  die  Naturwissenschaften  und  die  Philosophie  in  der  betrach- 
teten Periode  auf  neu  eröffneten  Wegen  fortschrittcn,  führten  die  huma- 
nistischen Studien  zu  einer  wissenschaftlichen  W^iederbelebung  des  klas- 
sischen Altertums,  dessen  Geist  in  der  Zeit  der  sogenannten  Renaissance 
auch  in  den  bildenden  Künsten  die  Herrschaft  führte.  Allmählich  aber 
behaupteten  auch  hier  ein  modemer  Geschmack  und  subjektiveres  Emp- 
finden ihre  Rechte,  so  wenig  auch  Barock  und  Rokoko  dem  klassischen 
Schönheitsideale  entsprechen  mochten.  Als  neue  Kunst,  die  die  Leistungen 
der  Alten,  soweit  uns  diese  aus  den  erhaltenen  \Verken  bekannt  sind, 
zu  übertreffen  vermochte,  erhob  sich  die  Malerei.  Die  Mu.sik  eroberte 
sich,  unterstützt  durch  die  Vermehrung  und  Verbesserung  der  Instrumente, 
ein  neues  weites  Gebiet  als  weltliche  Kunst,  wobei  sie  freilich  ebenso 
wenig,  wie  die  Literatur,  es  vermeiden  konnte,  daß  ein  großer  Teil  ihrer 
Leistungen  lediglich  dem  Vergnügen  und  der  Unterhaltung  dienstbar  wurde 
und  jede  höhere  künstlerische  Bedeutung  verlor. 

IIT.  Die  Kultur  des  19.  Jahrhunderts.  Die  im  obigen  betrachtete  Kuiturperiod« 
Periode  mundet  aus  m  eme  machtige  Bewegung,  die  mit  einer  früher  nie 
gekannten  Schnelligkeit  die  Kultur  in  eine  neue  Phase  führte  und  ihr  das 
für  die  Gegenwart  charakteristische  Gepräge  gab.  Man  erhält  den  Ein- 
druck, als  hätten  sich  in  dem  Streben  der  Wissenschaft  und  der  Technik 
Kräfte  angesammelt,  die  in  der  neuen  Periode  gleichsam  zu  einer  explo- 
siven Wirkung  kamen.  In  engem  Zusammenhang  mit  der  neuen  Technik 
stand  die  nunmehr  rasch  fortschreitende  Entwicklung  der  kapitalistischen 
Produktionsweise  in  ihrer  modernen  Gestalt  mit  ihren  sozialen  Folge- 
erscheinungen. Dazu  kam  das  auch  in  den  Massen  erwachte  politische 
Leben  und  das  nachhaltige  Vordringen  einer  neuen  Weltanschauung  im 
Kampf  mit  der  alten. 

Die  Wattsche  Dampfmaschine  ist  oben  als  die  charakteristische  Ver- 
treterin der  im  letzten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts  in  England  entstehen- 
den Maschinenindustrie  genannt  worden.  Wie  schon  bemerkt,  bleiben 
Erfindungen  unfruchtbar,  wenn  die  Bedingungen  für  ihre  wirtschaftliche 
Ausnützung  noch  nicht  gegeben  sind.  Zu  jener  Zeit  aber  war  der  Boden 
für  sie  genügend  vorbereitet,  da  das  Bedürfnis  nach  arbeitsparenden  Ma- 
schinen in  der  kapitalistischen  Unternehmung  mehr  und  mehr  empfunden 
wurde.  In  der  Technik  machte  die  Wattsche  Dampfmaschine  Epoche, 
weil   sie,    abgesehen   von   unvollkommenen   Vorgängerinnen,    seit   Jahrtau- 


.-,  Wii.iiKi.M   I.KMS:   Das  Wesen   ilei   Kultur. 

senden  die  erste  lirtindung  in  der  technischen  Mechanik  war,  die  auf  einem 
neuen  Prinzip  beruhte. 

Die  auf  immer  weitere  Gebiete  übergreifende  Maschinentechnik  führte 
zu    einer    tiefgehenden    Umgestaltung    der    wirtschaftlichen    und    sozialen 
Grundlagen  der  ganzen  Kulturvvelt     Die  Anwendung  von  Maschinen  setzt 
ein  großes  Kapital  voraus   und  bewirkt   andrerseits   auch  wieder    eine  zu- 
nehmende  Kapitalansammlung   aus   dem    Gewinn.     Viele    Arbeiter   werden 
durch  die  Konkurrenz   der  Maschine   zunächst  „frei  gesetzt",   und   um  so 
leichter  wird  die   dauernde   Abhängigkeit   der  industriellen   Arbeiter  vom 
Kapital    hergestellt.     Es    entsteht    das    moderne   Proletariat,    die    moderne 
Arbeiterbewegung  und  die  moderne  soziale  Frage.     Von  nicht  geringerer 
Bedeutung,  als  die  Maschinenarbeit  in  der  Fabrikation,   war   die  Verwen- 
dung  der  Dampfkraft   im   Dienst   des   Transports  der  Güter  und   der  Per- 
sonen.   Die  Intensität  des  Weltverkehrs  wurde  dadurch  in  ihrer  Art  noch 
weit  stärker  gesteigert,  als  einst  seine  Extensität  im   16.  Jahrhundert.    Die 
fortwährende    Erleichterung    und    Verbilligung    der    Produktion    und    des 
Transports  durch   wirksamere    technische  Hilfsmittel  führte  zu   einer  groß- 
artigen Vermehrung  der  Gütererzeugung,  mit  der  in  den  meisten  Ländern 
auch    eine    beträchtliche   Zunahme   der   Bevölkerung    zusammenging.     Die 
letztere   Tatsache    hat    sich   allerdings    der   Arbeiterklasse    in    ungünstigen 
Zeiten  durch  einen  größeren  Druck  des  Arbeitsangebots  fühlbar  gemacht, 
dennoch  aber  ist  im  ganzen  eine  wachsende  Bevölkerung  unter  den  heu- 
tigen Kulturbedingungen  als  ein  Symptom  nationaler  Gesundheit  und  so- 
zialen Fortschritts  anzuerkennen. 

Kohlen  und  Eisen  waren  die  Grundlagen  der  neuen  technischen  Ent- 
wicklung. So  wurden  die  Steinkohlen,  die  noch  im  18.  Jahrhundert  auf 
dem  europäischen  Kontinent  als  Brennmaterial  verachtet  und  für  gesund- 
heitsgefährlich gehalten  wurden,  zu  einem  der  wichtigsten  Bestandteile 
des  Naturreichtums  der  verschiedenen  Länder,  zumal  sie  nun  auch  im 
Eisenhüttenbetrieb  an  die  Stelle  der  Holzkohlen  traten,  nachdem  im  Laufe 
des  18.  Jahrhunderts  in  England  zuerst  ihre  Verwendbarkeit  bei  der  Dar- 
stellung des  Roheisens  und  später  der  Puddelprozeß  erfunden  worden  war, 
Natur-  Die   weitere   Entwicklung   der  Technik  im    19.  Jahrhundert  geht   aufs 

,issenschaften.  ^^^^^^  Haud  in  Hand  mit  der  der  Physik  und  der  Chemie.  Für  diese 
Wissenschaften  aber  war  nunmehr  ein  wahres  Zeitalter  der  Entdeckungen 
angebrochen,  in  dem  sie  ungleich  weiter  vorwärts  kamen,  als  in  der  ge- 
samten vorhergegangenen  Zeit.  Wie  dürftig  war  es  um  die  Lehre  von 
der  Elektrizität  und  dem  Magnetismus  bestellt,  als  Galvani  zuerst  die  elek- 
trischen Zuckungen  eines  Paares  Froschschenkel  zufällig  bemerkte,  und 
welch  ein  Abstand  zwischen  diesem  ersten  Versuch,  der  nur  ein  physio- 
logisches Interesse  zu  haben  schien,  und  dem  elektrischen  Strom  der 
Akkumulatorenbatterieen,  dem  Elektromagnetismus,  den  Hertzschen  Wellen, 
den  Kathoden-  und  Röntgenstrahlen.  Und  diesen  wissenschaftlichen  Ent- 
deckungen schlössen  sich  unmittelbar  technische  Erfindungen  an,  die  schon 


III.    Die   Kultur  des    19.  Jahrhunderts.  ^I 

der  nächstvorhergegangenen  Generation  völlig  unbegreiflich  hätten  .schei- 
nen mü.sscn  —  die  Dvnamoma.schine,  die  elektrische  Eisenbahn,  die  elek- 
trische Beleiichtmig,  das  Telephon,  die  drahtlose  Telegraphie!  Das  waren 
alles  absolut  neue  Erfindungen  auf  Grund  neuer  Prinzipien,  die  selbst  erst 
aus  neuen  wissenschaftlichen  Quellen  abgeleitet  waren. 

Auch  die  Chemie  stand  am  Anfang  des  Jahrhunderts  noch  in  den 
Kinderschuhen  und  sie  erhielt  damals  erst  ihre  theoretische  Grundlage 
durch  das  Gesetz  der  Verbindungen  nach  Atomgewichten.  Gegenwärtig 
ist  sie  eine  exakte  Wissenschaft,  die  imstande  war,  die  Existenzfähigkeit 
von  tausenden  von  Verbindungen  vorherzusagen,  die  dann  auch  wirklich 
dargestellt  wurden.  Nicht  minder  großartig  entwickelte  sich  die  chemische 
Industrie,  und  zwar  nicht  durch  empirisches  Probieren,  sondern  unter  der 
sicheren  Leitung  der  Wissenschaft.  Als  besonders  fruchtbar  erwies  sich 
das  Zusammenarbeiten  von  Physik  und  Chemie  auf  ihren  Grenzgebieten. 
Es  sei  nur  an  die  Spektralanalyse,  die  Elektrochemie  und  die  Entdeckung 
der  rätselhaften  radioaktiven  Körper  erinnert.  Auch  hier  wurde  die 
Wissenschaft  für  die  Technik  nutzbar  gemacht,  z.  B.  in  der  Photographie 
und  in  der  metallurgischen  Verwendung  des  elektrischen  Ofens. 

In  der  Lehre  vom  Licht  ist  die  ganze  Theorie  des  Äthers  ein  Werk 
des  19.  Jahrhunderts.  In  der  neuesten  Zeit  aber  sind  Erscheinungen  ent- 
deckt worden,  die  auf  einen  ungeahnten  Zusammenhang  zwischen  Äther 
und  Elektrizität  schließen  lassen  und  zu  einer  elektrischen  Lichttheorie 
geführt  haben.  Zugleich  gaben  diese  Beobachtungen  in  Verbindung  mit 
den  Tatsachen  der  Radioaktivität  Veranlassung  zu  veränderten  Vorstel- 
lungen von  der  Konstitution  der  Materie.  An  den  wichtigsten  Fortschritt 
in  der  Wärmelehre,  die  Entdeckung  des  mechanischen  Wärmeäquivalents, 
schloß  sich  die  Aufstellung  des  allgemeinen  Satzes  von  der  Erhaltung  der 
Energie  im  Weltall,  ein  Gesetz,  auf  dessen  Erkenntnis  der  menschliche 
Geist  nicht  minder  stolz  sein  darf,  wie  auf  die  des  Newtonschen  Gravi- 
tationsgesetzes. 

Die  Astronomie  feierte  einen  Triumph  in  der  Entdeckung  des  Neptun, 
und  in  der  Astrophysik  wurde  ihr  ein  ganz  neuer  Forschungszweig  an- 
gegliedert. Mit  Hilfe  der  Spektralanalyse  und  der  Photographie  erhielt 
sie  Aufschluß  über  die  physische  und  chemische  Beschaffenheit  der  fern- 
sten Fixsterne  und  entdeckte  Weltkörper,  die  mit  dem  Fernrohr  allein  nie 
gefunden  worden  wären.  Auch  die  Vorstellungen  über  die  geologische 
Entwicklung  der  Erde  erhielten  festere  Grundlagen;  noch  wichtiger  aber 
war  die  mit  der  geographischen  Erschließung  aller  Weltteile  zusammen- 
gehende Erforschung  des  gegebenen  geologischen  Baues  der  Erdrinde 
und  ihrer  fossilen  Einschlüsse.  In  der  Botanik  und  Zoologie  wurde  die 
äußere  Kenntnis  der  organischen  Welt  außerordentlich  erweitert  und  mit 
Hilfe  des  Mikroskops  genaue  Einsicht  in  die  innerste  Struktur  und  die 
Entwicklung  der  Organismen  überhaupt  erst  gewonnen.  In  der  neueren 
Zeit   wurden   die    Forschungen    der    letzteren   Art   und   die   allgemein    bio- 


<2  W'ii-iiKl.M   I.KXis:   Das  Wesen  ilrr  Iviiltiii. 

logischen,  dir  in  drr  Doszendenzlehre  ein(Mi  thcorrlischcn  Loittadon  erhalten 
hatten,  im  ganzen  v(ir  den  systematischen  bevorzugt.  Die  Medizin  erhielt 
in  Anatomie  und  Physiologie  exakt  naturwissenschaftliche  Grundlagen  und 
lernte  auch  in  Diagnostik  und  Pathologie  die  naturwissenschaftliche  Me- 
thode mit  großem  Erfolge  anwenden.  Die  Entdeckung  der  mikrobischen 
Krankheitserreger  und  die  daraus  abgeleiteten  Methoden  der  inneren 
Therapie  wie  auch  die  aseptische  Wundbehandlung  sind  die  größten 
Fortschritte,  die  die  Geschichte  der  Medizin  überhaupt  bisher  zu  ver- 
zeichnen hat. 
Geistes-  Auch    auf  dem   Gebiete    der  Geisteswissenschaften    herrschte    überall 

""reges  Leben  und  erfolgreiches  Streben.  In  der  reinen  Mathematik  hatten 
alle  Kulturvölker  Männer  ersten  Ranges  aufzuweisen,  unter  deren  Führung 
diese  Wissenschaft  nach  verschiedenen  Richtungen  zu  den  abstraktesten 
Höhen  vordrang.  In  der  Philosophie  bildeten  Fichte,  Schelling  und  Hegel 
einen  über  Kant  hinausstrebenden  Idealismus  aus,  der  unter  der  Annahme 
der  Identität  von  Sein  und  Denken,  von  Objektivem  und  Subjektivem  zu 
einer  neuen  Art  von  Metaphysik  führte,  die  in  anderer  Auffassung  auch 
wieder  bei  Schopenhauer  und  Herbart  erscheint.  Von  naturwissenschaft- 
licher Seite  trat  dagegen  eine  materialistische  Reaktion  auf,  nachdem  vorher 
der  Einfluß  der  Schellingschen  Naturphilosophie  auf  die  Entwicklung  der 
Naturwissenschaften  in  Deutschland  eine  Zeitlang  einen  unzweifelhaft 
schädlichen  Einfluß  ausgeübt  hatte.  In  der  neueren  Zeit  sind  an  die  Stelle 
der  Metaphysik  Versuche  getreten,  unsere  Weltanschauung  durch  wahr- 
scheinliche, den  Ergebnissen  der  Naturwissenschaft  möglichst  angepaßte 
Hypothesen  über  die  Grenzen  der  unmittelbaren  Erfahrung  hinauszu- 
führen. In  England  und  Frankreich  bleibt  ein  empirischer  Realismus  vor- 
herrschend. Als  wertvollste  Errungenschaft  der  neuesten  Zeit  auf  diesem 
Gebiete  ist  die  experimentelle  Psychologie  zu  bezeichnen,  die  allerdings 
eher  einen  Zweig  der  Naturwissenschaft,  als  der  Philosophie  im  herkömm- 
lichen Sinne  darstellt. 

Die  Geschichtschreibung,  die  früher  mehr  einen  literarischen  als 
eigentlich  wissenschaftlichen  Charakter  hatte,  wurde  durch  exakte  kritische 
Methode  und  Zurückgehen  auf  das  Urmaterial  der  Quellen  in  die  Reihe 
der  strengen  Wissenschaften  gestellt.  Durch  Ausgrabungen  und  anti- 
quarische Forschungen  wurde  der  Anfang  der  historischen  Zeit  weit  zu- 
rückgeschoben und  auch  die  prähistorische  Existenz  des  Menschenge- 
schlechts bis  in  die  Quartärperiode  hinein  verfolgt.  Zugleich  wurden 
Rechts-  und  Wirtschaftswissenschaft,  überhaupt  die  Wissenschaften  von 
der  menschlichen  Gesellschaft  unter  den  historischen  Gesichtspunkt  ge- 
bracht, indem  man  die  Gegenwart  aus  der  geschichtlichen  Entwicklung  zu 
begreifen  suchte  und  die  Vergangenheit  nach  den  für  sie  geltenden  ge- 
schichtlichen Bedingungen  beurteilen  lernte;  die  vergleichende  Beobach- 
tung der  in  der  Gegenwart  unter  verschiedenen  Bedingungen  und  Formen 
auftretenden  Erscheinungen  des  Gesellschaftslebens  bildete  die  notwendige 


III.  Die   Kultur  des    19.  Jahrhunderts.  43 

Ergänzung  der  historischen  Methode,  mit  der  sich  auch  so  weit  wie  mög- 
lich zahlenmäßige  Feststellungen  durch  die  Statistik  verbanden.  Eine 
neue  Schöpfung  des  iq.  Jahrhunderts  war  die  vergleichende  Sprachwissen- 
schaft, die  besonders  durch  das  ebenfalls  in  diesem  Zeitraum  emporkom- 
mende Studium  des  Sanskrit  ins  Leben  gerufen  wurde.  Eine  ebenfalls 
neue  Errungenschaft  ist  die  Entzifferung  der  ägyptischen  Hieroglyphen 
und  der  babylonischen  Keilschrift.  Die  klassische  Philologie  wurde  in  der 
Erfüllung  ihrer  Aufgabe  der  wissenschaftlichen  Reproduktion  des  klas- 
sischen Altertums  durch  wertvolle  literarische  Entdeckungen  und  archäo- 
logische Funde  in  unerwarteter  Weise  gefördert.  Auch  die  neueren 
Sprachen  wurden  Gegenstände  einer  wissenschaftUch- philologischen  Be- 
handlung, die  sich  sowohl  nach  der  sprachgeschichtlich-grammatischen,  wie 
nach  der  literaturgeschichtlichen  Seite  betätigte. 

In  der  schönen  Literatur  ist  eine  klassische  Periode,  wie  sie  in  Deutsch-  Litentur  und 

.        ,      .  Kunst. 

land  mit  dem  Tode  Goethes  zum  Abschluß  kam,  m  der  bolgezeit  bei 
keinem  Volke  zu  finden;  die  allgemeine  kulturelle  Bedeutung  der  Literatur 
ist  darum  nicht  geringer  geworden.  Sie  hat  sich  in  die  Breite  entwickelt 
und  die  Zahl  der  Talente,  die  in  ihrem  Dienste  stehen,  ist  wohl  bei  allen 
Nationen  größer,  als  je  zuvor.  Aber  weit  verbreitet  zeigt  sich  eine  ge- 
wisse Überspannung  des  literarischen  Strebens,  und  im  Drama  wie  im 
Roman  stellt  man  sich  mit  Vorliebe  Probleme,  die  auf  einen  bereits  über- 
reizten Geschmack  berechnet  sind.  Andrerseits  aber  ist  die  leichte,  jedes 
höheren  Interesses  ermangelnde  Unterhaltungsliteratur  ins  Maßlose  ange- 
schwollen, wozu  die  Einbürgerung  des  sogenannten  Feuilletons  in  der 
Tagespresse  —  das  aus  Frankreich  und  dem  Anfang  der  vierziger  Jahre 
des  vorigen  Jahrhunderts  stammt  —  und  die  Unzahl  der  in  der  neueren 
Zeit  entstandenen  illustrierten  Wochenschriften  sehr  wesentlich  beigetragen 
hat.  Immerhin  ist  auch  diese  Art  des  Unterhaltungsbcdürfnisses  ein 
Symptom  eines  hohen  Kulturstandes,  wenn  auch  an  sich  kein  Kultur- 
fortschritt. 

Auch  in  der  Kunst  der  Neuzeit  fehlt  klassische  Ruhe  und  einheitliche 
Richtung.  Zeitweilig  vorherrschende  Strömungen  werden  bald  von  anderen 
abgelöst,  und  Naturalismus,  Symbolismus  und  Mystizismus  machen  sich 
das  Feld  streitig.  Überall  jedoch  zeigt  sich  auch  hier  geistige  Regsam- 
keit und  ernstes  Streben,  und  Sinn  und  Verständnis  für  Kunst  breitet 
sich  in  immer  weiteren  Kreisen  aus. 

Die    politische    und    soziale    Entwicklung    Europas    erhielt    durch    die  Politisch«  und 
^  Ol  ^         soziale  Entwick- 

französische  Revolution   einen   Anstoß,   dessen  Folgen   über  die    unmittel-        lung. 

bare    Wirkung    der    Ereignisse    in    Frankreich    selbst    weit    hinausgingen. 

Welchen    Eindruck   sie    auf  die  größten  Denker  unter  ihren  Zeitgenossen 

machte,  zeigen   die  Worte  Goethes,   der  am  Tage  von  Valmy  sagte,  mit 

diesem  Zeitpunkt  beginne  eine  neue  Periode   in   der  Weltgeschichte;   und 

Kant,  der  in  der  Revolution  nicht  eine  solche,  sondern  die  Evolution  einer 

naturrechtlichen  Verfassung  sah,  sagte   von   ihr;    „Ein   solches   Phänomen 


44 


Wilhelm   Lkxis:   Das  Wesen  der  Kultur. 


in  der  Mcnschcngeschichte  vergißt  sich  nicht  mehr,  weil  es  eine  Anlage 
und  ein  Vermögen  in  der  menschlichen  Natur  zum  Besseren  aufgedeckt 
hat,  dergleichen  kein  Politiker  aus  dem  bisherigen  Lauf  der  Dinge  her- 
ausgoklügelt  hätte."  Frankreichs  Vorgehen  löste  dieses  Vermögen  auch 
bei  den  übrigen  Völkern  aus,  ohne  daß  sie  in  die  blutigen  Greuel  der 
Revolution  hineing"ezogen  wurden.  Die  Gründung  und  das  Gedeihen 
der  Vereinigten  Staaten  auf  der  Basis  einer  nach  den  modernen  An- 
schauungen konstruierten  Verfassung"  trug  zur  Förderung  dieser  Entwick- 
lung auch  im  alten  Europa  bei.  Sie  vollzog  sich  nicht  rasch,  aber  sie 
ließ  sich  nicht  zurückdrängen;  die  sie  antreibenden  Ideen  blieben  eben 
unvergessen.  Die  Bauernbefreiung,  die  in  Preußen  von  1807  datierte, 
drang  in  wenig  mehr  als  fünfzig  Jahren  sogar  bis  Rußland  vor.  Nach 
längerer  Verzögerung  traten  auch  Preußen  und  Osterreich  in  die  Reihe 
der  konstitutionellen  Staaten  ein.  Die  letzten  Reste  des  alten  Zunftwesens 
wurden  in  Deutschland  durch  die  Gewerbeordnung  von  1869  beseitigt. 
Die  Reichsgesetzgebung  führte  allerdings  in  dem  neuen  Innungswesen 
wieder  gewisse  Rückbildungen  herbei,  die  man  in  Frankreich,  England 
und  vollends  Amerika  nicht  kennt.  Auf  die  Dauer  werden  sie  jedoch 
nicht  verhindern  können,  daß  minderwertige  Formen  des  Gewerbe-  und 
Handelsbetriebs  durch  solche,  die  der  modernen  Produktions-  und  Ver- 
kehrstechnik entsprechen,  verdrängt  werden.  Immer  mehr  erweitert  sich 
das  Gebiet,  auf  dem  nur  durch  den  Großbetrieb  die  höchstmögliche  Stei- 
gerung der  Produktivität  der  Arbeit  erreicht  werden  kann;  diese  aber  ist 
volkswirtschaftlich  das  an  erster  Stelle  zu  erstrebende  Ziel.  Denn  wenn 
der  Anteil  der  einzelnen  an  dem  Erzeugnis  der  nationalen  Produktion 
erhöht  w^erden  soll,  muß  vor  allem  mit  derselben  Summe  menschlicher 
Arbeit  eine  größere  Gütermenge  geschaffen  werden.  Man  kann  nicht 
mehr  verteilen,  wenn  nicht  mehr  vorhanden  ist;  erst  nach  Erfüllung  dieser 
Bedingung  erhebt  sich  die  Frage,  wie  die  gesellschaftliche  Ordnung  der 
Verteilung  verbessert  werden  könne. 
Soziale  Frage.  Diese   Frage   ist   der  Kern   des  großen  Problems   des  gegenwärtigen 

Zeitalters,  der  sozialen  Frage.  Sie  ist  in  dieser  Form  etwas  durchaus 
Neues,  denn  sie  geht  nicht  hervor  aus  dem  Gegensatz  von  arm  und  reich 
oder  von  Sklaven  und  Herren,  sondern  aus  dem  durch  die  kapitalistische 
Produktionsweise  erzeugten  Verhältnis  zwischen  Kapital  und  Arbeit.  Die 
erste  Bedingung  des  sozialen  Fortschritts,  die  Ermöglichung  einer  unbe- 
rechenbar gesteigerten  Produktivität  der  Arbeit  ist  durch  Großbetrieb  und 
moderne  Technik  prinzipiell  erfüllt;  aber  diese  Produktionsweise  ist  nur 
möglich  geworden  unter  der  Herrschaft  des  konzentrierten  Kapitals,  dem 
die  Arbeit  als  eine  nach  dem  Marktpreise  zu  bezahlende  Ware  gegen- 
übersteht. Die  von  dem  Kapital  beschäftigten  Arbeiter  aber  sind  zu  einer 
neuen  Gesellschaftsklasse  geworden,  deren  Zahl  immer  mehr  anwächst, 
während  die  der  selbständigen  Kleingewerbetreibenden  relativ  immer  mehr 
abnimmt.    Die  Verteilung  des  Produktionsertrags  unter  diesen  Bedingungen 


in.  Die   Kultur  des    19.  Jahrhunderts.  ac. 

ist  nun  zum  Gegen.stand  eines  Klassenkampfes  geworden,  der  vielleicht 
niemals  zu  einem  endgültigen  Abschluß  kommen  wird,  im  ganzen  aber 
einen  für  den  Arbeiter  günstigen  Verlauf  genommen  hat,  der  sich,  wenn 
auch  nicht  ohne  Hemmungen,  auch  in  der  Zukunft  noch  fortsetzen  wird. 
Daß  die  Bestrebungen  der  Arbeiterklasse  teilweise  unter  dem  Einfluß  ut<i- 
pistischer  Phantasieen  stehen,  die  sich  einen  von  Grund  aus  neuen  Aufbau 
der  Gesellschaft  ausmalen,  ist  eine  nebensächliche  Erscheinung,  die,  wie 
so  viele  andere  Illusionen,  anregend  und  ermutigend  auf  die  Gemüter 
wirken  mag,  aber  durchaus  nicht  als  Ursache  und  noch  weniger  als  die 
eigentliche  Triebkraft  der  sozialen  Bewegung  zu  betrachten  ist.  Auch 
sind  diese  Utopieen  ursprünglich  nicht  von  Arbeitern  oder  politischen 
Arbeiterführern,  sondern  von  „bürgerlichen"  Gesellschaftskritikern  und 
grübelnden  Theoretikern  ersonnen  und  sie  fanden  ihre  Verbreitung  in  den 
Arbeiterkreisen  zu  einer  Zeit,  als  der  moderne  Kapitalismus  im  Vergleich 
mit  der  Gegenwart  noch  in  seinen  Anfängen  stand.  Die  deutsche  Sozial- 
demokratie behält  ihre  dogmatischen  Zukunftsideale  nur  noch  dem  Namen 
nach  bei,  für  ihr  praktisches  Parteiprogramm  aber  sind  sie  bedeutungslos. 
In  Frankreich  hat  der  Sozialismus  seine  politische  Bedeutung  nur  durch 
die  Verbindung  mit  dem  bürgerlichen  Radikalismus  erhalten.  In  England 
haben  die  sozialistischen  Theorieen  immer  nur  wenig  Boden  gefunden;  die 
Arbeiterbewegfung  steht  unter  der  Führung  der  Gewerkvereine  und  diese 
betreiben  ihre  Sache  geschäftsmäßig,  im  Grunde  in  demselben  Gei.ste,  wie 
die  bürgerlichen  »/r//  of  hisiness.  Dasselbe  gilt  von  Amerika,  wo  die 
Entwicklung  in  gewisser  Beziehung'  der  europäischen  schon  vorau.sgeeilt 
ist.  Die  Kapitalkonzentrierung  hat  sich  dort  in  (inem  riesenhaften  Maß- 
stabe vollzogen,  sowohl  in  den  Händen  einzelner  Übermillionäre,  als  auch 
in  der  Form  von  Trusts  und  Riesenuntemehmungen,  die  die  Monopolisie- 
rung ganzer  Produktionszweige  erstreben.  Ebenso  aber  schließen  sich  die 
Arbeiter  immer  fester  zu  mächtigen  Organisationen  zusammen,  und  beide 
Parteien  stehen  sich  in  strengster  Interessenpolitik  gegenüber.  Wohlfahrts- 
einrichtungen der  Arbeitgeber  kommen  so  gut  wie  gar  nicht  vor,  werden 
aber  von  den  auf  ihre  eigene  Kraft  vertrauenden  Arbeitern  auch  gar  nicht 
verlangt.  Wohl  aber  werden  oft  von  reich  gewordenen  Untemehmeni  — 
zuweilen  allerdings  um  dunkle  Seiten  ihrer  Vergangenheit  in  Vergessen- 
heit zu  bringen  —  enorme  Summen  der  Förderung  allgemeiner  Bildungs- 
und Kulturzwecke  zugewandt.  Es  hat  sich  sogar  eine  besondere  soziale 
Theorie  in  dem  Sinne  gebildet,  daß  die  für  den  wirtschaftlichen  Wett- 
bewerb besonders  Befähigten  ihre  Überlegenheit  mit  aller  Energie  und 
Rücksichtslosigkeit  ausnützen,  den  erworbenen  Reichtum  aber  im  Interesse 
des  Gemeinwohls  verwenden  sollen.  Auch  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
wird  aber  nicht  sowohl  an  den  Schutz  der  „wirtschaftlich  Schwachen", 
als  vielmehr  daran  gedacht,  daß  allen  begabteren  Elementen  der  Arbeiter- 
bevölkerung die  Mittel  geboten  werden  sollen,  sich  durch  Erwerbung  von 
Kenntnissen    und    Bildung    emporzuarbeiten.      In    Amerika    wird    also    die 


^6  WiLllKLM  Lkxis:  Das  Wesen  der  Kultur. 

Hcrstolluiigf  des  sozialen  Gleichgewichts  von  dem  freien  Spiel  der  Kräfte 
erwartet,  und  wenn  es  auch  an  schweren  Zusammenstößen  und  Erschütte- 
rungen nicht  fehlen  wird,  so  mag  der  Erfolg  doch  im  ganzen  günstig  sein. 
Aber  ein  Schluß  auf  Europa  wäre  daraus  nicht  zu  ziehen;  denn  die  Ver- 
einigten Staaten  besitzen  im  Vergleich  mit  ihrer  noch  dünnen  Bevölkerung 
einen  großartigen  Naturreichtum,  und  wenn  ihre  Volksdichte  auch  rasch 
zunehmen  wird,  so  wachsen  alle  Gesellschaftsklassen  unter  steter  gegen- 
seitiger Anpassung  in  die  sich  bildenden  Verhältnisse  hinein.  In  den 
europäischen  Staaten  dagegen  fehlt  die  amerikanische  Voraussetzungs- 
losigkeit;  die  Bevölkerung  ist  bereits  äußerst  eng  zusammengedrängt,  ihre 
sehr  verwickelten  Zustände  sind  historisch  bedingt,  und  diese  historisch 
gegebene  Ordnung  ist  unvergleichlich  viel  fester  und  mächtiger,  als  es  die 
sozialistische  Schulweisheit  sich  träumen  läßt.  Jeder  Versuch  einer  ge- 
waltsamen Umwälzung  würde  scheitern;  er  könnte  wohl  zeitweilig  das 
ganze  Getriebe  der  Volkswirtschaft  und  damit  zugleich  die  ganze  Güter- 
versorgung zum  Stillstand  bringen,  aber  die  eiserne  Notwendigkeit  würde 
bald  die  alte  Wirtschaftsordnung  wieder  in  Gang  setzen.  Auch  in  Europa 
ist  die  Organisation  der  Arbeiter  die  Bedingung  des  Fortschritts,  aber 
dieser  muß  durch  den  Staat  als  Vermittler  zwischen  den  Klassengegen- 
sätzen in  geregelten  Bahnen  erreicht  werden.  Aus  dieser  Vermittlung  ist 
die  Arbeiterschutzgesetzgebung  und  die  gesetzliche  Arbeiterfürsorge  durch 
Wohlfahrtseinrichtungen  hervorg'egangen,  unter  denen  die  deutsche  Arbeiter- 
versicherung den  ersten  Platz  einnimmt.  Die  Verstaatlichung  und  daneben 
auch  die  Verstadtlichung  gewisser  Produktions-  und  Verkehrsbetriebe,  die 
schon  in  beträchtlichem  Umfange  stattgefunden  hat,  wird  sich  auf  den  da- 
für geeigneten  Gebieten  noch  weiter  ausbreiten  und  die  öffentlichen  Unter- 
nehmungen werden  in  der  Regelung  des  Verhältnisses  zu  ihren  Arbeitern 
vorbildlich  wirken  können. 
Hebung  der  Die    politischc    Entwicklung    ist    im    letzten    Jahrhundert    ganz    über- 

Unterrkht'und  wiegend  der  Arbeiterklasse  zugute  gekommen.  Die  französische  Revo- 
lution ging  vom  dritten  Stande  aus,  der  nach  dem  Si6yes'schen  Programm 
„alles"  werden  wollte.  Die  Masse  leistete  ihm  Gefolgschaft,  verlangte 
dann  aber  auch  ihren  Anteil,  der  ihr  nur  mit  langer  Verzögerung  gewährt 
wurde.  Der  bürgerliche  Liberalismus  und  das  Proletariat  forderten  ver- 
mehrte politische  Rechte  in  ihrem  Klasseninteresse,  und  so  mußte  ein 
sich  allmählich  verschärfender  Gegensatz  entstehen,  der  sogar  einen  großen 
Teil  des  Bürgertums,  wie  namentlich  in  Frankreich  unter  dem  zweiten 
Kaisertum,  zu  einer  Wendung  nach  rückwärts  bewog.  Trotz  solcher  Wider- 
stände erlangte  die  Arbeiterklasse  in  fast  allen  Ländern  ein  erweitertes 
Wahlrecht  und  in  Frankreich  und  im  Deutschen  Reich  das  —  in  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Anfang  an  geltende  —  allgemeine  direkte  Stimm- 
recht, dem  auch  England  ziemlich  nahe  gerückt  ist.  Freilich  muß  als  Vor- 
aussetzung für  dieses  Wahlrecht  eine  genügende  Reife  und  Bildung  des 
Volkes  gefordert  werden,  und  daher  bildet  der  allgemeine  Volksunterricht 


in.  Die  Kultur  des   19.  Jahrhunderts.  ^.y 

sein  unabwei.sbares  Korrelat.  In  Preußen  und  den  übrigen  deutschen  Staaten 
ist  diese  Bedingung  schon  in  früheren  Zeiten  durch  Einführung  des  .Schul- 
zwanges erfüllt  worden.  In  Frankreich  hat  erst  das  Gesetz  von  1882  den 
Volksschulunterricht  für  obligatorisch  erklärt,  nachdem  im  Jahre  vorher 
seine  Unentgeltlichkeit  in  allen  öffentlichen  Schulen  festgesetzt  worden 
war.  In  England  erhielten  die  Lokalbehürden  1870  das  Recht,  den  Schul- 
zwang einzuführen;  verallgemeinert  wurde  er  durch  Gesetze  von  1876 
und  1880,  jedoch  wird  seine  Wirkung  noch  immer  durch  die  zu  niedrige 
Altersgrenze  für  die  gewerbliche  Kinderarbeit  beeinträchtigt.  In  der  ameri- 
kanischen Union  besteht  er  in  den  meisten,  jedoch  nicht  in  allen  .Staaten. 

Mit  den  politischen  Rechten  und  der  besseren  Bildung  der  Massen 
steigerte  sich  auch  immer  mehr  die  Ausbreitung  und  die  Macht  der  Presse 
als  des  wichtigsten  Organs  des  öffentlichen  Lebens.  Die  Zensur  wurde 
durch  die  Bewegung  von  1848  in  den  Staaten,  in  denen  sie  noch  bestand, 
mit  Ausnahme  Rußlands,  weggeräumt  und  auch  die  an  ihre  Stelle  treten- 
den Preßpolizeigesetze  mußten  mehr  und  mehr  gemildert  werden.  Aller- 
dings fördert  die  Preßfreiheit  in  dem  Maße,  wie  sie  jetzt  in  Frankreich, 
England,  Amerika  und  anderen  Ländern  besteht,  viele  Lügen  und  andere 
verächtliche  und  abstoßende  Erscheinungen  zutage,  dennoch  aber  ent- 
wickelt sich  der  politische  Volkscharakter  in  dieser  scharfen  Luft  selb- 
ständiger und  fester,  als  unter  polizeilicher  Bevormundung. 

Die  politische  Emanzipation  erst  des  Bürgertums,  dann  der  Massen  .\iigomeint 
hat  auch  auf  die  allgemeine  und  die  auswärtige  Politik  der  Kulturstaaten 
einen  starken  Einfluß  ausgeübt.  .Statt  der  Haus-  und  Kabinettspolitik  ist 
für  Fürsten  imd  Regierungen  die  nationale  Politik  die  leitende  Norm  ge- 
worden. Das  von  Napoleon  III.  proklamierte  Nationalitätsprinzip  hat 
Früchte  gebracht,  die  sein  Verkündiger  nicht  gewünscht  und  nicht  er- 
wartet hatte.  Nach  der  Einheit  Italiens  erstand  das  Deutsche  Reich,  und 
dadurch  ist  nicht  nur  die  politische  Macht,  sondern  auch  die  Bedeutung 
des  deutschen  Volkes  als  Kulturträger  nach  allen  .Seiten  hin  in  ungeahntem 
Maße  gesteigert  worden.  Es  konnte  nicht  fehlen,  daß  der  neue  Mitbewerb 
vielfach  nationale  Eifersucht  hervorrief,  die  denn  auch  ihren  Einfluß  auf 
die  Beziehungen  der  Staaten  untereinander  ausübte.  Nach  dem  durch  den 
französisch-englischen  Vertrag  von  1860  bezeichneten  Wendepunkt  in  der 
europäischen  Handelspolitik  schien  dem  Freihandel  der  Weg  gebahnt,  auf 
dem  er,  wie  man  annehmen  zu  können  glaubte,  in  wenigen  Jahrzehnten 
in  der  ganzen  Kulturwelt  seinen  Einzug  halten  würde.  Mußte  man  ihn 
ja  als  die  naturgemäße  Folge  der  stets  fortschreitenden  technischen  Ver- 
kehrserleichterung betrachten,  durch  die  die  Staaten  sich  jetzt  wirtschaft- 
lich näher  gerückt  sind,  als  früher  die  einzelnen  Provinzen  desselben 
Landes.  Aber  es  kam  anders.  Eine  langdauemde  industrielle  Depression 
traf  in  den  siebziger  Jahren  mit  der  sich  rasch  entwickelnden  Konkurrenz 
des  überseeischen  Getreides  zusammen,  durch  die  —  allerdings  nur  als 
historische   Episode  —  eine    Herabdrückung    der    Rente    und    des    Markt- 


^8  Wn.llKIM    I.KXIS:    Das  Wesen   der  Kullur. 

wertes  des  landwirtschaftlichen  Bodens  in  Europa  bewirkt  wurde.  So  ent- 
stand ein  Umschwung,  der  schließlich  selbst  in  England  sogar  die  ersten 
Axiome  der  Freihandelspolitik  wieder  in  Frage  stellte.  Mit  dem  Programm 
des  Freihandels  trat  das  des  Imperialismus  in  Wettbewerb,  das  auf  Welt- 
reiche mit  freiem  innerem  Verkehr  und  Zollschranken  nach  außen  hinaus- 
läuft. Das  russische  Reich  verwirklicht  schon  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  die  Idee  einer  solchen  Rieseneinheit;  mehr  noch  gilt  dies  von  den 
Vereinigten  Staaten,  die  auf  ihrer  besseren  Naturgrundlage  ein  höheres 
Maß  von  „Autarkie"  erreichen  können.  Noch  günstiger  würde  in  dieser 
Hinsicht  das  britische  Weltreich  bei  einer  zollpolitischen  Einigung  stehen, 
gegen  die  sich  allerdings  die  vorherrschenden  Interessen  in  den  einzelnen 
Gliedern  des  Reiches  kaum  weniger  sträuben,  als  wenn  es  sich  um  selb- 
ständige Staaten  handelte.  Sollten  aber  die  Chamberlainschen  Pläne 
vollen  Erfolg  haben,  so  würde  das  außerrussische  kontinentale  Europa  sehr 
wahrscheinlich  durch  den  Drang  der  Umstände  über  kurz  oder  lang  ge- 
zwungen werden,  sich  ebenfalls  zu  einer  größeren  wirtschaftlichen  Einheit 
durch  Wegräumung  der  Verkehrsschranken  zusammenzuschließen. 

Der  moderne  Imperialismus  hat  jedoch  nicht  nur  eine  wirtschaftspoli- 
tische Bedeutung,  sondern  schließt  auch  eine  Tendenz  zur  Macht-  und  Er- 
oberungspolitik ein,  die  insbesondere  in  den  Vereinigten  Staaten  seit  ihrem 
Kriege  mit  Spanien  die  frühere  Tradition  zurückgedrängt  zu  haben  scheint. 
Zugleich  hat  sich  gezeigt,  daß  nationale  Selbstsucht  und  Leidenschaft  auch 
bei  den  modernsten  Völkern  noch  stark  genug  sind,  um  die  Aussichten  auf 
ewigen  Frieden  in  unabsehbare  Feme  hinauszuschieben. 
Kirchliche  Neben   dem  weltlichen  Imperialismus   hat   sich   der  geistliche   der   ka- 

tholischen Kirche  ausgebreitet  und  befestigt.  Ihre  Macht  ist  intensiver 
geworden,  als  jemals,  weil  sie  nur  in  ihrer  geistigen  Herrschaft  begründet 
ist  und  ihre  weltlichen  Stützen  verloren  hat.  Wer  sich  auf  den  Stand- 
punkt des  modernen  strengen  Katholizismus  stellt,  wird  urteilen  müssen, 
daß  in  den  Jahrzehnten  unmittelbar  vor  und  nach  der  französischen  Revo- 
lution die  katholische  Lehre  stark  von  dem  Geiste  der  Aufklärung  beein- 
flußt und  das  kirchliche  Leben  nach  den  heute  herrschenden  Anschauungen 
in  hohem  Grade  erschlafft  war.  Der  Papst  hatte  den  Jesuitenorden  auf- 
gehoben, in  Frankreich  herrschte  der  Gallikanismus,  in  Deutschland  lehrte 
der  Weihbischof  eines  geistlichen  Kurfürsten  den  Febronianismus,  dem  ein 
anderer  geistlicher  Kurfürst  in  der  neuen  Universität  Bonn  eine  Pflege- 
stätte eröffnete.  Die  Revolution  schien  dem  Katholizismus  in  Frankreich 
den  Todesstoß  zu  geben;  unter  dem  Staatskirchentum  Napoleons  konnte 
er  nur  vegetieren,  und  in  Deutschland  erscheint  er  noch  zur  Zeit  eines 
Wessenberg  und  Erzbischofs  von  Spiegel  nach  ultramontanem  Maßstab  als 
schwächlich  und  mattherzig.  Was  brachte  nun  der  katholischen  Kirche 
ihre  neue  Erstarkung?  Vor  allem  der  Kampf  um  die  Behauptung  und  Er- 
weiterung ihrer  Rechte,  den  sie  jetzt  auf  dem  Boden  des  modernen  Ver- 
fassungslebens und  unabhängig  von  den  Rücksichten  und  Beschränkungen 


Verhältnisse. 


III.   Die   Rullur  (los    ig.  Jahrhunderts.  4g 

führen  konnte,  die  ihr  früher  durch  einen  engeren  Zusammenhang  mit 
staatlichen  Einrichtungen  und  materiellen  Interessen  auferlegt  waren.  In 
Frankreich  begann  dieser  Kampf  bald  nach  der  Julirevolution.  In  Preußen 
wurde  das  katholische  Gefühl  zuerst  durch  die  sogenannten  Kölner  Wirren 
und  die  N'erhaftung  des  Erzbischofs  stark  erregt,  und  diese  Erinnerung 
blieb  auch  unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  trotz  vieler  Zugeständnisse  an  die 
katholische  Kirche  lebendig.  Die  katholische  Fraktion  der  preußischen 
zweiten  Kammer  war  die  Vorläuferin  des  Zentrums  im  Abgeordnetenhause 
und  im  Reichstag,  das  durch  den  „Kulturkampf"  der  siebziger  Jahre  zur 
zeitweilig  stärksten  und  noch  immer  ausschlaggebenden  Partei  geworden 
ist.  Die  Partei  ist  eine  politische,  sofern  es  ihr  Ziel  ist,  die  Verfügung 
über  den  weltlichen  Ann  zu  erlangen,  um  Staat  und  Gesellschaft  nach 
dem  kirchlichen  Ideal  zu  modeln,  wie  es  einst  in  bezug  auf  Unterrichts- 
wesen, Presse,  Eherecht  usw.  durch  das  österreichische  Konkordat  an- 
nähernd gelungen  zu  sein  schien.  Aber  von  einem  solchen  kirchlich- 
polizeilichen Programm  will  der  moderne  Geist  nichts  wissen,  und  so 
stoßen  auch  auf  diesem  Gebiet  die  Weltanschauungen  nicht  weniger  heftig 
zusammen  als  auf  dem  religiös -wissenschaftlichen.  Wenn  der  Protestan- 
tismus die  katholische  Kirche  mit  der  Dogmatik  des  Reformationszeitalters 
bekämpfen  wollte,  so  würde  er  seine  Kräfte  vergebens  aufreiben.  Ebenso 
wenig  Erfolg  werden  die  katholischen  Reformfreunde  haben,  die  der  An- 
sicht sind,  „der  römische  Papst  könne  und  solle  sich  mit  dem  Fortschritt, 
mit  dem  Liberalismus  und  mit  der  modernen  Bildung  versöhnen  und  ver- 
ständigen". Der  Sj-llabus  von  1864  hat  diesen  Satz  verdammt,  denn  die 
Kirche  ist  überzeugt,  daß  die  absolute  Starrheit  ihres  Lehrsystems  die 
beste  Bürgschaft  für  seine  Festigkeit  sei.  Nur  gegen  den  „Amerikanismus" 
in  Amerika  —  nicht  gegen  den  nach  Europa  übertragenen  —  hat  sie  eine 
gewisse  Nachgiebigkeit  gezeigt  und  wird  sich  dazu  auch  noch  ferner  ent- 
schließen müssen.  Denn  der  amerikanische  Katholizismus  hat  sich  unter 
geschichtlichen,  politischen  und  sozialen  Bedingimgen  entwickelt,  die  von 
den  in  der  alten  Welt  herkömmlichen  durchaus  verschieden  sind;  er  hat 
sich  zu  einem  besonderen  Typus  ausgebildet  und  auch  Typen  von  Kar- 
dinälen und  Erzbischöfen  erzeugt,  die  in  Europa  sehr  fremdartig  anmuten. 
Dem  Protestantismus  aber  bleibt  die  schwere  Aufgabe  vorbehalten, 
die  Sache  der  im  Syllabus  verworfenen  modernen  Bildung,  der  geistigen 
und  sittlichen  Freiheit  und  der  wissenschaftlichen  Objektivität  zu  vertreten 
und  zugleich  das  Wesen  des  historischen  Christentums  und  den  christ- 
lichen Charakter  unserer  Kultur  aufrecht  zu  erhalten,  also  seinen  Platz  zu 
behaupten  zwischen  dem  katholischen  Dogmatismus  und  dem  wissenschaft- 
lichen Naturalismus.  Da  es  sich  um  Geistesrichtungen  handelt,  die  im 
Wesen  des  Menschen  begründet  sind,  so  ist  ein  entschiedener  Sieg  der 
einen  oder  der  anderen  wohl  nie  zu  erwarten,  und  Macaulays  Neusee- 
länder auf  den  Trümmern  der  Paulskirche  würde  wohl  noch  dieselben 
Gegensätze  vorfinden,  die  gegenwärtig  bestehen. 

Dlt    KlLTUR    DKK   GeOESWART.      I.    1.  4 


«0  W'n  iii'i-M   I.EXis:   Das  Wesen  der  Kultur. 

zukunfts-  IV.  Schlußbetrachtung.  Überhaupt  führt  die  Kulturentwicklung  nicht 

zu  einem  Zeitalter  des  Friedens  und  des  allgemeinen  Glücks.  Der  zunehmen- 
den Leistungsfähigkeit  der  Technik  stehen  die  zunehmenden  Schwierig- 
keiten g-egenüber,  die  bei  einer  fortwährend  wachsenden  Bevölkerung  durch 
den  fortwährenden  Verbrauch  imersetzlicher  Naturstoffe  und  überhaupt  durch 
die  Beschränktheit  der  Naturgrundlage  des  Wirtschaftslebens  entstehen. 
Die  Steinkohlen,  die  der  heutigen  Industrie  als  wichtigster  Nährstoff  dienen, 
werden  bei  Fortdauer  des  gegenwärtigen  Zunahmeverhältnisses  ihres  Ver- 
brauchs in  einigen  Jahrhunderten  so  weit  aufgezehrt  sein,  daß  der  Rest 
wirtschaftlich  nicht  mehr  in  Betracht  kommt.  Man  wird  ohne  Zweifel  die 
Wasserfälle,  die  Flutwelle  und  die  Sonnenwärme  ausgiebiger  als  Kraft- 
quellen verwerten,  aber  die  elektrische  Zuleitung  der  gewonnenen  Energie 
in  der  nötigen  Ausbreitung  würde  sehr  schwierig  sein  vmd  große  Kosten 
verursachen.  Dazu  kommt,  daß  die  Lager  der  Kupfer-,  Blei-  und  Zinkerze 
bei  dem  jetzigen  Fortschreiten  ihres  Abbaues  wohl  noch  weniger  lange 
vorhalten  werden  als  die  Steinkohlenflöze.  Selbst  die  Eisenerze,  die  als 
wirtschaftlich  verwendbar  in  Betracht  kommen,  sind  nicht  in  unerschöpf- 
licher Menge  verfügbar.  Es  geht  allerdings  auf  der  Erde  kein  Atom 
verloren,  aber  die  Metalle  werden  durch  Oxydierung,  Abreibung  und  Zer- 
stäubung in  Zustände  übergeführt,  aus  denen  sie  nicht  mehr  zurück- 
gewonnen werden  können.  Was  die  Schwierigkeit  der  Beschaffung  der 
Nahrungsmittel  betrifft,  so  sind  Befürchtimgen  im  Sinne  Malthus'  noch  auf 
Jahrhunderte  unbegründet.  Aber  bei  einer  unausgesetzt  in  der  jetzigen 
Progression  wachsenden  Bevölkerung  der  Kulturwelt  muß  doch  schließlich 
mit  Notwendigkeit  ein  Mißverhältnis  zwischen  der  Menschenzahl  und  der 
überhaupt  verfügbaren  Bodenfläche  entstehen,  zumal  diese  Fläche  nicht 
nur  für  die  Erzeugung  von  Nahrungsmitteln,  sondern  auch  für  andere  un- 
abweisbare Zwecke  in  Anspruch  genommen  wird.  Allerdings  wäre  es 
möglich,  daß  mit  der  Zeit  eine  automatische  Hemmung  der  Volksvermeh- 
rung einträte,  indem  durch  die  überfeinerte  Kultur  selbst  eine  Degenera- 
tion bewirkt  würde,  von  der  man  in  der  großstädtischen  Bevölkerung 
schon  Anzeichen  zu  bemerken  glaubt.  Allein  ein  solcher  Hemmungsprozeß 
wäre  nicht  weniger  ein  Übel  als  irgend  einer  der  repressive  chccks,  von 
denen  Malthus  redet.  Aber  auch  wenn  es  nach  gewissen  optimistischen 
Rechnungen  gelänge,  durch  eine  über  die  ganze  Erde  verbreitete  Treib- 
hauskultur für  das  Hundert-  oder  Zweihundertfache  der  jetzigen  Menschen- 
zahl die  Unterhaltungsmittel  zu  schaffen,  so  wäre  ein  solcher  Zustand 
wieder  an  sich  ein  großes  Übel,  weil  der  Mensch  in  ihm  selbst  zu  einem 
Treibhausprodukt  würde  und  durch  die  völlige  Entfremdung  von  der 
Natur  ein  Teil  seines  Wesens  verkümmern  müßte.  Denn  wenn  die  Kultur 
die  Überwindung  des  Naturzustandes  des  Menschen  bedeutet,  so  soll  er 
doch  weder  geistig  noch  körperlich  aus  dem  Zusammenhang  mit  der 
Natur  losgelöst  werden,  und  wenn  dies  schon  jetzt  bei  einem  großen  Teil 
der   Bevölkerung    in    unerwünschtem   Grade    der  Fall   ist,   so    ist   das  eine 


IV.  Schlußbetrachlung.  5  I 

bedauerliche  I'olge  unserer  gesellschaftlichen  Zustände.  Die  UnvoU- 
kommenheit  aller  menschlichen  Dinge  hat  ihre  eigene  Dialektik.  Fort- 
schritt und  Verbesserung  erzeugen  aus  sich  selbst  wieder  Gegensätze  und 
Widerstände,  und  die  Menschheit  ist  zu  steter  Erneuerung  ihrer  An- 
strengungen genötigt,  wenn  sie  nicht  rückwärts  gedrängt  werden  soll. 
Wie  weit  aber  ein  Kulturfortschritt  erreicht  sei,  kann  nur  durch  das 
Werturteil  der  objektiven,  die  materiellen  und  geistigen  Gesamtinteressen 
der  Menschheit  abwägenden  Vernunft  entschieden  werden.  Denn  nicht 
alle  Begleiterscheinungen  der  Kulturentwicklung  haben  selbst  Kulturwert, 
und  manche,  wie  übertriebener  Luxus  der  Reichen  und  Verbreitung  von 
unnützem  Tand  bei  den  Massen,  sind  schädliche  Ausartungen.  Gewiß 
aber  ist  es  ein  Fortschritt,  wenn  die  wirklichen  Kulturgüter  immer  mehr 
auch  unter  denen  verbreitet  werden,  die  bisher  nur  einen  ungenügenden 
Anteil  daran  haben.  Dies  auf  dem  wirtschaftlichen  Gebiete  zu  erreichen, 
ist  die  Hauptaufgabe  der  sozialen  Reformen  und  der  mit  der  Wissenschaft 
verbundenen  Technik.  Auch  die  Kunst  soll  der  Masse  zugute  kommen, 
nicht  nur  zur  Verschönerung  ihres  Lebens,  sondern  auch  zur  Veredlung 
ihrer  Empfindungen.  Vor  allem  aber  wird  die  Zukunft  der  Kultur  von 
dem  Maße  abhängen,  in  dem  die  sittliche  Idee  der  Gerechtigkeit  in 
der  menschlichen  Gesellschaft  zur  Herrschaft  gelangt,  jener  Gerechtigkeit, 
die  nicht  durch  schematische  Rechtssatzungen  bedingt  ist,  auch  selbst- 
gefälliges Wohltun  verschmäht,  aber  fordert,  daß  jeder  bei  seinem  Han- 
deln in  jedem  anderen  die  gleichberechtigte  Persönlichkeit  anerkenne  und 
achte.  Menschliche  Leidenschaft,  Selbstsucht  und  Bösartigkeit  werden 
freilich  der  Erfüllung  dieser  Forderung  stets  im  Wege  stehen;  aber  sie 
stellt  ein  ideales  Ziel  auf  und  eröffnet  der  sittlichen  Kultur  die  Möglich- 
keit eines  unendlichen  Fortschrittes,  während  für  die  materielle  Kultur- 
entwicklung eine  Grenze  denkbar  ist,  jenseits  der  sie  die  Lebenszustände 
der  Menschheit  zwar  noch  ändern,  aber  nach  dem  Maßstabe  der  objek- 
tiven Vernunft  nicht  mehr  verbessern  kann,  wobei  dann  auch  die  Übel, 
die  den  Menschen  drücken,  vielleicht  ihre  Form,  nicht  aber  ihre  Schwere 
ändern. 


Literatur. 

Wegen  der  speziellen  Literaturangaben  über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  staat- 
lichen und  gesellschaftlichen  Einrichtungen,  der  Religionen,  der  Wirtschaft  und  Technik, 
der  Wissenschaften  und  Künste  muß  auf  die  entsprechenden  besonderen  Abhandlungen  ver- 
wiesen werden.  Hier  fuhren  wir  nur  einige  allgemeine  kulturgeschichtliche,  geschichts-  und 
gesellschaftsphilosophische  Werke  an,  die  übrigens  für  den  Standpunkt  der  vorstehenden 
Skizze  nicht  bestimmend  gewesen  sind. 

1.    Anfänge    der    Geschichts-    und    Gesellschaftsphilosophie    im 

i8.  Jahrhundert. 

G.  B.  ViCO,  Principj  di  una  scienza  nuova  d'intorno  alla  commune  natura  delle  na- 
zioni.     Zuerst   1725. 

Montesquieu,  L'esprit  des  Lois.     Zuerst  1748. 

Ferguson,  Essay  on  the  history  of  civil  society.  Zuerst  1767,  deutsch  von  \".  Dorn, 
Jena  1904. 

Herder,  Ideen  zur  Geschichte  der  Menschheit.     Zuerst  1784  ff. 

CONDORCET,  Esquisse  dun  tableau  historique  des  progr^s  de  l'esprit  humain.  Tosthum 
erschienen   1795. 

II.  Betrachtung   der   Geschichte    unter  dem   Einfluß    der  geographischen  \er- 

hältnisse  und  der  äußeren  Natur. 
K.  Ritter,   Erdkunde    im   Verhältnis   zur  Natur    und    zur  Geschichte    des   Menschen. 
Zuerst  1817  —  18;  2.  Aufl.   1822— 1859. 

F.  Ratzel,  Anthropogeographie,   1891;  2.  Aufl.   1899. 

Th.  Buckle,  History  of  civilisation  in  England,  zuerst  1857  ff.,  deutsch  von  Rüge, 
6.  Aufl.  1881.  (Nimmt  eine  gewissermaßen  mechanische  Naturgesetzlichkeit  in  der  Kultur- 
entwicklung an.) 

III.  Allgemeine  Werke    zur  Theorie    und    Geschichte    der    Kulturentwicklung. 

H.  Spencer,  Principles  of  sociology  1870 ff.  Deutsch  von  Vetter,  1877  ff.  (Begründer 
der  biologisch -evolutionistischen  Gesellschaftslehre.) 

G.  SiMMEL,  Die  Probleme  der  Geschichtsphilosophie.     1892. 

B.  KiDD,  Soziale  Evolution.  Deutsch  von  E.  Pfleiderer,  1895.  ;  Betont  besonders  die 
soziologische  Bedeutung  der  Religion.) 

G.  Tarde,  Les  lois  de  l'imitation,  2.  6d.  1898.     (Selbständige  Theorie.) 

J.  Kohler,  Grundbegrift'e  einer  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit.  (Einleitung 
zu  der  ,, Weltgeschichte"  von  H.  Helmolt,  I.  Bd.  1899.) 

W.  WUNDT,  Völkerpsychologie.     Bd.  1   und  2.     1900. 

H.  St.  Chamberlain,  Die  Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts,  3.  Aufl.  1901.  (Ent- 
schiedener \'ertreter  der  Rassentheorie.) 


Literatur.  53 

IV.    Kritische  Schriften. 
\V.  Dll.TllF.v,  Einleitung  in  die  Ceisteswissenschaften.     Versuch  einer  C.rundlegung  für 
das  Studium  der  ( '.espllschaft  und  der  (beschichte.     1883. 

r.  R.XRTli.  Die  Philosophie  der  C.eschichte  als  Sociologie.     1897. 

V.    Primitive  Kultur. 
H.  Morgan,  Systems  of  consanguinity  and  affinity  of  the  human  family.     1870. 
H.  ScHURTZ,  Urgeschichte  der  Kultur.     1900. 

Ed.  Hahn,    Die   Haustiere   und   ihre   Beziehung   zur  Wirtschaft   der  Menschen.     1896. 
Behandelt    die   Priorität    des  Ackerbaus  —  in    der   Form    des   Hackbaus   —  vor  der  Vieh 
2ucht.> 

Derselbe,  Das  .Mter  der  wirtschaftlichen  Kultur  der  .Menschheit.     Ein  Rückblick  und 
ein  .■\usblick.     1905. 

VI.    Kulturhistorische  Übersichten. 
Wheweli.,   History  of  the   inductive  sciences  from   the   earliest  to  the  present  times. 
3  vol.     3  cd.   1857. 

|.  1-iPPERT,  Kulturgeschichte  der  Menschheit.     1886—87. 


DAS  MODERNE  BILDUNGSWESEN. 

Von 
Friedrich  Paulsen. 


Bf  griff  I.    Der    Begriff   der    Bildung.     Wenn    man    die   Leistung   und  Be- 

deutung der  Erziehung  und  Bildung  vom  allgemein  geschichtlichen  oder 
anthropologischen  Standpunkt  betrachtet,  so  kann  man  sie  mit  der  Formel 
bestimmen:  durch  Erziehung  und  Unterricht  vollzieht  sich  die  Übertragung 
des  gesamten  Kulturbesitzes  der  elterlichen  Generation  auf  ihre  Nach- 
folgerin; oder  genauer:  die  Hineinbildung  aller  Kultur  erzeugenden  und 
erhaltenden  Kräfte  und  Fähigkeiten  in  die  nachwachsende  Jugend.  Alle 
technisch-wirtschaftlichen  Künste  und  Fertigkeiten,  wodurch  die  mate- 
riellen Kulturgüter  hervorgebracht  werden,  alle  geistig-sittlichen  Kräfte, 
auf  denen  die  ideelle  Kultur  beruht,  werden  durch  die  gemeinsame  Tätig- 
keit der  beiden  sich  die  Hände  reichenden  Geschlechter  im  Wechsel  der 
Generationen  erhalten  und  fortgepflanzt. 

Den  Erfolg  können  wir  auch  so  aussprechen:  durch  Erziehung  und 
Unterricht  findet  die  Erhaltung  des  geschichtlichen  Arttypus  statt.  Was 
im  animalischen  Leben  durch  den  bloßen  Naturprozeß  der  organischen 
Vererbung  sich  vollzieht,  die  Erhaltung  und  Fortpflanzung  der  Art,  das 
erfordert  im  menschlich-geschichtlichen  Leben  bewußte  Zwecktätigkeit. 
Zwar  findet  auch  beim  Menschen  die  Vererbung  des  psycho-physischen 
Arttypus  auf  organischem  Wege  statt,  aber  das  eigentlich  geschichtliche 
Leben,  der  menschliche  Kulturbesitz,  wird  nicht  durch  einen  Naturvorgang, 
sondern  durch  bewußte  und  gewollte  Zwecktätigkeit  fortgepflanzt;  so  daß 
auch  hierin  der  spezifische  Charakter  des  Menschen  als  aniiiial  rationale 
sich  offenbart.  Geschichtliches  Leben  ist  nirgend  ein  bloßer  Naturprozeß, 
sondern  freie  Tat  der  sich  selbst  verwirklichenden  Vernunft 

So  stellt  sich  die  Bedeutung  der  Erziehung  vom  Standpunkt  der  Gat- 
tung gesehen  dar. 

Betrachten  wir  sie  nun  vom  Standpunkt  des  Individuums,  so  werden 
wir  sie  mit  der  Formel  bestimmen  können:  sie  bedeutet  seine  Hinein- 
stellung in  das  geschichtliche  Leben,  seine  Erhebung  aus  dem  bloß  natür- 
lichen Leben  in  die  Sphäre  der  menschlichen  Kultur.  Der  einzelne 
empfängt    in   der  Erziehung  die    Ausstattung'    mit  all    den    Kräften,  Ein- 


I.   Der  Bugiiir  der   Hilclunf;.  ce 

sichten  und  Tüchtigkeiten,  worauf  seine  Teihiahme  an  dem  geistig-geschicht- 
lichen Leben  des  sozialen  Ganzen  beruht,  aus  dem  er  als  Xaturwesen  ge- 
boren ist.  Damit  ist  zugleich  gegeben,  daß  er  der  Erziehung  die  Ent- 
wicklung der  allgemeinen  natürlichen  Anlagen,  die  er  durch  Vererbung 
überkommen  hat,  zu  jenen  bestimmt  ausgeprägten  lebendigen  Kräften 
verdankt,  in  deren  Betätigung  er  seine  indi\iduelle  Persönlichkeit  aus- 
wirkt. 

Eühren  wir  nun  tür  das,  was  dem  einzelnen  durch  die  Erziehung  ver- 
mittelt wird,  den  Ausdruck  Bildung  ein,  so  wäre  damit  also  ein  Doppeltes 
bezeichnet:  i)  die  besondere  Ausgestaltung  des  inneren  Menschen;  2)  die 
I'ähigkeit,  im  geschichtlichen  Leben  des  sozialen  Ganzen  als  ein  mit- 
wirkendes Glied  sich  zu  betätigen. 

Was  das  Erste  anlangt,  so  können  wir  es  als  persönliche  Bildung  Pcrs<miici.e 
bezeichnen.  Bildung  in  diesem  Sinne  bedeutet  die  volle  Entfaltung  und  ' '  ""^' 
Ausgestaltung  der  ererbten  unbestimmten  Naturanlage  zu  einer  individuell 
ausgeprägten  Persönlichkeit.  Sie  geht  auf  alle  Seiten  des  menschlichen 
Wesens,  des  leiblichen  wie  des  geistigen,  und  hier  wieder  gleicherweise 
auf  Intelligenz,  Wille  und  Gemüt.  Und  zwar  wird  das  Wort  im  präg- 
nanten Sinn  gebraucht  für  die  vollkommene,  die  der  Idee  oder  der  In- 
tention der  Natur  entsprechende  Gestalt:  Bildung  die  Wohlgestalt  des 
ganzen  Wesens  (formositas). 

Auf  eine  derartige  Bedeutung  des  Wortes  Bildung  weisen  auch  die 
Etymologie  und  die  Geschichte  hin.  Als  die  ursprüngliche  Bedeutung 
der  Wurzel  bil  (erhalten  auch  in  Beil)  wird  angegeben:  durch  behauen 
formen.  Von  Bild  oder  Bildwerk  kommt  dann  die  Bildung  als  organische 
Gestaltung,  die  Auswirkung  gleichsam  des  inneren  Bildes;  endlich  ist  es 
auf  den  inneren  Menschen  und  s.eine  Eormung  übertragen.  In  diesem 
Sinne  ist  es  in  der  zweiten  Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  in  den  allgemeinen 
Sprachgebrauch  übergegangen.  Es  ist  ein  Lieblingswort  Herders  und  der 
neuhumanistischen  Pädagogik:  Bildung  zur  Humanität  das  Ziel  aller  Er- 
ziehung; dann  auch  Pestalozzis  und  seiner  Jünger:  sie  setzen  die  formale 
Bildung  oder  die  harmonische  Ausbildung  aller  Anlagen  und  Kräfte  als 
das  Stichwort  der  neuen  Erziehung  der  alten  Abrichtung  und  Gedächtnis- 
dressur entgegen. 

Gebildet  wäre  hiernach,  wer  alle  natürlichen  Anlagen  zu  menschlicher 
\ollkommenheit  entwickelt  hat,  den  Leib  zum  lebenden  Werkzeug  und 
Symbol  des  Geistes,  die  .Sinne  und  den  Verstand  zu  sicherer  und  freier  Er- 
fassung des  Wirklichen  und  Wahren,  den  Willen  zum  festen,  sich  selbst 
treuen,  auf  das  Gute  gerichteten  Charakter,  das  Gemüt  zur  verständnis- 
vollen I-reude  an  allem,  was  schön  und  groß  ist.  Die  ruhige  Geschlossen- 
heit des  Daseins,  der  sichere  Selbstbesitz,  die  Unabhängigkeit  von  fremdem 
Meinen  und  Reden  wäre  nicht  der  kleinste  Gewinn,  den  wahre  Bildung 
dem  Wesen  bringt. 

Was    das    Zweite     anlangt,    die    Ausbildung    zur    Eähigkeit    tätiger  ncrufsbiidung 


56 


l'Kn'liKU  u    l'Ml.SKN;    U;>s   nnvclrriK-   Hikhinf;s« t-son. 


Teilnahnu-  an  cU-ni  Kulturleben  der  Gesamtheit,  so  winl  sie,  wenigstens 
in  unseren  Verhältnissen,  ihren  Mittelpunkt  im  Beruf  haben.  Der 
]ieruf  ist  die  Form,  wodurch  der  einzelne  der  Gesellschaft  eingeglie- 
dert ist.  Durch  den  Beruf,  gleichsam  die  durch  die  Gesellschaft  erteilte 
Vokation,  wird  ihm  seine  Aufgabe  innerhalb  des  Ganzen  der  sozialen 
Lebensbetätigung  gestellt,  die  Arbeitsleistung  bezeichnet,  die  sie  von  ihm 
erwartet.  Durch  den  Beruf  empfängt  aber  weit  über  das  Gebiet  der 
eigentlichen  Berufsarbeit  hinaus  das  Leben  seine  Bestimmung;  Familien- 
leben und  geselliger  Verkehr,  die  Teilnahme  am  öffentlichen  und  geistigen 
Leben,  der  ganze  geistige  und  soziale  Horizont  stehen  unter  dem  Einfluß 
des  Berufs.  Nennen  wir  daher  die  Bildung  des  einzelnen  als  sozialen 
Wesens  a  potior!  Berufsbildung,  so  würde  diese  also  die  Gesamtheit 
der  Fertigkeiten  und  Einsichten  umfassen,  wodurch  ihr  Inhaber  zur  voll- 
kommenen Lösung  aller  Lebensaufgaben  befähigt  wird,  die  aus  seiner 
beruflich-sozialen  Lebensstellung  fließen. 

Das  wäre  der  Begriff  der  Bildung  in  seiner  ursprünglichen  und  eigent- 
lichen Bedeutung.  Wozu  denn  noch  zu  bemerken  ist,  daß  seine  Bedeu- 
tung sich  mehr  und  mehr  nach  der  Seite  hin  verschoben  hat,  daß  der 
Schwerpunkt  in  die  intellektuelle  Ausbildung  fällt:  der  Ausbau  einer 
reich  entwickelten  geistigen  Innenwelt  das  Hauptstück  der  Bildung.  Vor 
allem  ist  in  Deutschland  der  Begriff  nach  dieser  Seite  gewendet,  oft  so, 
daß  die  Entwicklung  der  Willens-  und  Gemütsseite  daneben  ganz  zurücktritt. 
Folgerungen.  Mit  unscrcm  Begriff  der  Bildung  sind   einige   Folgerungen  gegeben, 

die  ich  andeute. 

i)  Bildung  kann  nicht  von  außen  gemacht  werden,  sie  wächst  von 
innen  heraus.  So  wenig  als  der  Leib  durch  mechanische  Einwirkung-  von 
außen  Gestalt  erhalten  kann,  so  wenig  der  innere  Mensch.  Nur  durch 
Betätigung  des  inneren  Formprinzips  erwächst,  wie  organische  Form, 
so  geistige  Bildung.  Alles  was  von  außen  kommt,  dient  bloß  als  An- 
regung und  Material  für  die  spontane  Tätigkeit. 

2)  Bildung  besteht  nicht  in  dem  Besitz  von  Kenntnissen,  sondern  in 
dem  Besitz  lebendiger  Kräfte  des  Erkennens  und  Wirkens,  worin  sich  die 
innere  Lebensform  betätigt.  Unser  Sprachgebrauch  neigt  zu  jenem  Miß- 
verständnis, als  ob  ein  bestimmter  Besitz  von  Kenntnissen  die  Bildung 
ausmache  und  der  Nichtbesitz  von  ihr  ausschließe.  Wird  doch  überall 
in  Prüfungen,  die  der  Natur  der  Sache  nach  wesentlich  auf  gedächtnis- 
mäßig besessene  Kenntnisse  gehen,  der  Besitz  dieser  oder  jener  all- 
gemeinen oder  besonderen  Bildung  festgestellt  und  in  Zeugnissen  beschei- 
nigt, z.  B.  daß  jemand  die  „allgemeine  Bildung"  in  der  Philosophie  oder 
der  Religion,  der  Geschichte  oder  der  Literatur  nachgewiesen  habe.  Da- 
gegen wird  zu  sagen  sein:  Kenntnisse  haben  für  die  Bildung  nur  als 
Material  Bedeutung;  sie  dienen  der  lUldung  des  inneren  Menschen  nur 
insoweit,  als  sie  in  lebendige  Form  und  Kraft  umgesetzt  sind.  Nicht  auf 
das  Viel  oder  Wenig  kommt   es   an,  sondern  auf  die  innere  Verarbeitung 


II.   Das  BiUlungswescn  und  seine   Faktoren.  57 

und  die  Kraft  der  Verwertung.     Es  kann  jemand  selbst  ohne  die  Wissen- 
schaft der  Orthographie  ein  gebildeter  Mensch  sein. 

3)  Es  gibt  keine  allgemeine  Bildung,  sondern  nur  eine  besondere  und 
l)(Ts('>iiliche.  Und  darum  geht  die  Meinung  in  die  Irre,  welche  die  Bil- 
dung als  eine  .\rt  geistiger  Montur  ansieht,  die  man  in  h()heren  Schulen 
oder  anderen  Bildungsfabriken  nach  festem  Zuschnitt  für  jeden  herstellen 
lassen  kann.  Machte  das  bloße  Wissen  die  Bildung  aus,  so  möchte  es  so 
sein;  denn  ein  bestimmtes  Maß  von  Wissen  läßt  sich  durch  Nachdruck 
und  Beharrlichkeit  zuletzt  jedem  beibringen  und  aufnötigen.  Aber  solches 
aufgenötigtes  Wissen  hat  an  sich  keinen  Bildungswert;  den  gewinnt  es 
erst  durch  die  lebendige  Teilnahme  für  die  Sache,  die  zu  liebevoller 
Beschäftigung  und  Vertiefung  führt.  Und  diese  können  nicht  erzwungen 
werden;  sie  hangen  in  der  Hauptsache  von  der  ursprünglichen  Xatur- 
ausstattung  und  der  besonderen  Richtung  der  Begabung  ab.  Wird  ohne 
Rücksicht  hierauf  ein  kanonisches  Maß  kanonischer  Kenntnisse  eingetrieben, 
so  ist  die  Gefahr,  daß  der  innere  Mensch  dabei  formlos  oder  verbildet 
wird. 

4)  Was  man  „Halbbildung"  nennt,  das  ist  im  Grunde  nichts  anderes, 
als  jene  „allgemeine  Bildung"  selbst,  die  aus  lauter  Bruchstücken  auf- 
genötigter Kenntnisse  besteht.  Widerwilligen  immer  wieder  vorgesagt 
und  abgefragt,  liegen  sie  ihnen  als  eine  schwere  und  unverdaute  Last  im 
Gedächtnis.  Halbbildung  ist  Aufnahme  von  „Bildungsstoffen"  ohne  die 
Kraft  und  den  Willen  zu  innerer  Aneignung  und  Assimilation.  Ihre  Wirkung 
ist:  Schwächung  der  Auffassungskraft  und  des  Urteils.  Es  ist  ein  wahres 
Wort :  Dummheit  //,  non  nascitur.  Und  mit  der  Schwächung  der  Urteils- 
kraft geht  Hand  in  Hand  eine  Steigerung  der  Einbildung;  jener  spezifische 
„Bildungshochmut",  wie  er  durch  die  Formel:  nichts  können,  nichts  lernen 
wollen  und  sich  breit  machen,  beschrieben  wird,  das  ist  die  der  Halb- 
bildung anhangende  Charakterverbildung.  Natürlich,  Dinge  die  keinen 
wirklichen  Gebrauchswert  haben,  dienen  zur  Aufzeigung  und  zum  Prunk; 
sie  erhalten  für  ihren  Inhaber  einen  Wert  eigentlich  nur  dadurch,  daß 
andere  sie  nicht  haben. 

11.  Das  Bildungswesen  und  seine  Faktoren.  Träger  des  Bi^"  ,;;fj'„'°^^^,t^J,. 
dungswesens  im  allgemeinen  Sinne  des  Wortes  ist  die  Gesellschaft.  Die 
Gesellschaft  als  Kulturgemeinschaft  ist  die  Inhaberin  des  Kulturbesitzes, 
um  dessen  Erhaltung  und  Steigerung  durch  Einbildung  in  die  folgende 
Generation  es  sich  bei  aller  Bildung  handelt.  In  letzter  Absicht  ist  es 
die  Menschheit  selbst,  die  alli-  ihr  neu  zuwachsenden  Glieder  in  die  große 
Gemeinschaft  ihres  geistig-geschichtlichen  Lebens  hinein  erzieht:  ist  doch 
kein  \'olk,  was  es  ist,  allein  aus  sich  selbst  geworden,  sondern  hat  in 
tausendfältiger  Berührung  mit  seiner  geschichtlichen  Umgebung  seinen 
Lebensinhalt  geschaffen.  Die  beiden  großen  sozialen  F^ormationen,  worin 
die  Gesellschaft  die  Aufgabe  der  Erziehung  und  Bildung  des  Nachwuchses 


=  g  FkikukK'H   Paui.skn:    Das   moilcrno    r>ililunf;s\vcsen. 

löst,  sind  die  Familie  und  die  wScliulc.  Es  sind  nicht  die  einzigen:  außer 
durch  die  häusliche  Erziehung  und  den  schulmäßigen  Unterricht  wirkt  die 
Gesellschaft  durch  tausend  Mittel  und  Wege  formend  und  bildend  auf  das 
sich  entwickelnde  Leben  der  Jugend  ein.  .Straße  und  .Spielplatz,  Werk- 
statt und  ^Virtshaus,  Zeitungen  und  Bücher,  Theater  und  .Schaustellungen, 
(jeselLschaften  und  Vereine,  Kirche  und  Predigt,  alles  was  auf  die  öffent- 
liche Meinung  und  durch  sie  wirkt,  formt  von  frühester  Jugend  an  die 
Empfindung  und  das  Urteil,  die  Anschauungen  und  den  Willen.  Und  zu- 
letzt übt  noch  die  Erziehung  der  männlichen  Jugend  für  das  Heer  und 
durch  das  Heer  einen  höchst  bedeutsamen  Einfluß.  Indessen  finden  alle 
diese  Einwirkungen,  abgesehen  von  der  militärischen  Erziehung,  die  aber 
wieder,  wenigstens  in  unseren  Verhältnissen,  außerhalb  des  Rahmens  der 
eigentlichen  Jugendbildung  liegt,  mehr  zufällig  und  gelegentlich  statt. 
Und  so  bleiben  die  eigentlichen  Träger  der  Erziehung  das  Haus  und  die 
Schule. 

Die  Familie,  die  erste,  auf  stärkste  Naturtriebe  und  Naturbande  ge- 
gründete menschliche  Lebensgemeinschaft,  der  natürliche  Ort  für  die 
physische  Fortpflanzung  der  Gattung,  ist  zugleich  der  von  der  Natur  selbst 
bestimmte  Ort  für  die  erste  Pflege  und  Erziehung  des  Nachwuchses.  Es 
ist  das  erste  Recht  und  die  erste  Pflicht  der  Eltern,  für  das  leibliche  und 
geistige  Gedeihen  der  ihnen  geschenkten  Kinder  Sorge  zu  tragen.  Vom 
Gesichtspunkt  des  Gesamtlebens  aus  kann  man  die  Familie  geradezu  als 
die  ursprünglich  mit  der  Erhaltung  des  geschichtlichen  Lebens  der  Nation 
beauftragte  Organisation  bezeichnen.  Und  es  wird  für  ein  Volk,  das  Leben 
und  Zukunft  haben  will,  keine  wichtigere  Aufgabe  geben,  als  die:  die 
Familie  in  ökonomischer,  physischer  und  sittlicher  Hinsicht  für  diese  ihr 
anvertraute  Funktion  leistungsfähig  zu  erhalten. 

Gehen  wir  den  Leistungen  der  Familie  näher  nach,  so  finden  wir, 
daß  ihr,  außer  der  leiblichen  Pflege  und  Aufzucht,  vor  allem  auch  die 
erste  Entwicklung  des  geistigen  und  sittlichen  Lebens  zufällt.  Von  der 
Mutter  lernt  das  Kind  die  Sprache  des  Volks;  die  tiefsten,  jenseits  alles 
Bewußtseins  liegenden  Wurzeln  des  Zusammenhangs  mit  dem  nationalen 
Leben  und  Empfinden  werden  hierdurch  in  seine  Seele  gesenkt.  Zugleich 
findet  die  Einfügung  in  die  Sitte  und  die  sittliche  Denkart  des  Volkes 
durch  tausend  tägliche  Winke  und  Mahnungen,  Äußerungen  und  Forde- 
rungen statt.  Endlich  ist  auch  heute  noch,  trotz  der  Schwächung  des 
religiösen  Bewußtseins,  der  erste  Aufblick  zum  Göttlichen  im  Kinde  regel- 
mäßig an  das  Wort  der  Mutter  geknüpft.  Zu  diesen  für  das  geistige 
Leben  des  Kindes  grundlegenden  Bildungselementen  kommt  sodann  auch 
die  erste  Entwicklung-  der  wirtschaftlichen  Kräfte.  Zuerst  im  Spiel, 
das,  vielfach  die  elterliche  Tätigkeit  nachahmend,  so  wirksam  den  künf- 
tigen Gebrauch  der  Kräfte  vorbereitet;  sodann  in  der  hilfreichen  Hand- 
reichung, die  den  Eltern  bei  der  Arbeit  geleistet  wird.  In  einfachen  Ver- 
hältnissen,  vor  allem  im  bäuerlichen  Leben,   bildet  dieses  Hineinwachsen 


11.  Das  Bil<lun;;swcscn  und   seine   Faktoren. 


59 


der  Kinder  in  die  Arbeitsgemeinschaft  mit  den  Kitern  ein  überaus  be- 
deutsames Stück  der  erziehenden  Kraft  des  Elternhauses,  ein  Stück  jenes 
Haussegens,  von  dem  Pestalozzi  spricht.  Daß  es  in  den  großstädtischen 
und  großindustriellen  Verhältnissen  mehr  und  mehr  verloren  geht,  ist  nicht 
der  kleinste  unter  den  Verlusten,  mit  denen  diese  Wandlung  unser  Leben 
bedroht. 

Zu  der  häuslichen  Erziehung  tritt  mit  steigender  Kultur  und  wachsen-  schuie. 
der  Komplikation  aller  Verhältnisse  als  eine  notwendige  Ergänzung  die 
Schule.  Eine  direkte  Veranstaltung  der  Gesellschaft,  ist  sie  überall  aus 
einem  gefühlten  Bedürfnis  der  Gesellschaft  her^•orgegangen,  vor  allem 
also  dem  Bedürfnis,  für  das,  was  wir  oben  die  berufliche  Bildung  nannten, 
Fürsorge  zu  treffen.  Es  handelt  sich  dabei  in  erster  Linie  stets  um  die 
Ausstattung  mit  den  Kräften,  Fertigkeiten  und  Einsichten,  auf  denen  die 
sichere  Lösung  der  durch  Beruf  und  gesellschaftliche  Lebensstellung  ge- 
gebenen Aufgaben  beruht.  Daher  die  ersten  Schulen  meist  als  Berufs- 
und Standesschulen  entstanden  sind.  Was  der  einzelne  oder  für  ihn  die 
Eltern  von  der  Schule  erwarten,  das  ist  vor  allem  auch  eine  Steigerung 
seiner  gesellschaftlichen  Leistungsfähigkeit,  damit  auch  eine  Hebung  seiner 
sozialen  Stellung.  In  dem  Maße,  als  sich  das  Schulwesen  zu  einem  natio- 
nalen Bildungswesen  auswächst,  gewinnen  allgemeinere  Gesichtspunkte 
Raum,  die  Weitung  und  Vertiefung  des  geistigen  Lebens  wird  als  Selbst- 
zweck anerkannt.  Doch  bleibt  jenes  Moment  wirksam,  sichtbar  z.  B.  in 
dem  Zudrang  zu  den  „höheren"  Schulen.  Und  allgemein  bleibt  der  Grund- 
zug, daß  die  Schule  in  erster  Linie  auf  die  Ausstattung  mit  Kenntnissen 
und  Fertigkeiten  aller  Art  gerichtet  ist;  die  sittliche  Bildung  steht  an  zweiter 
Stelle,  sie  bleibt  der  Familie  als  die  ihr  besonders  befohlene  Aufgabe. 
Was  denn  übrigens  auch  mit  der  begrenzten  Leistungsfähigkeit  der  Schule 
in  dieser  Absicht,  mit  der  größeren  Kraft  und  Innigkeit  der  häuslichen 
Gemeinschaft  zusammenhängt. 

Gegeben  ist,  das  will  ich  noch  anmerken,  mit  dem  allen,  daß  alle  Er-  Sozialer  und 
Ziehung  und  Bildung  sozialen  und  nationalen  Charakter  hat.    Es  ist  in  cha^ra'kt*r"er 
jüngster  Zeit  viel  von  Sozialpädagogik  die  Rede.    Eine  andere  Erziehung        '  ""^' 
und  Bildung   als  eine  soziale,  Bildung  durch   die  Gesellschaft  und  für  die 
Gesellschaft,   hat   es   zu  keiner  Zeit   gegeben,   und   .so  scheint  die  Freude 
an    der    Entdeckung   der   „Sozialpädagogik"  ein  wenig    der  Freude   jenes 
Trefflichen   zu  gleichen,   der  eines  Tages   entdeckte,  daß  er  Prosa,  wirk- 
liche  Prosa   rede.     Höch.stens   mag  man  sagen,  daß  der  Akzent,  mit  dem 
das:  für  die  Gesellschaft,  betont  wird,  nicht  immer  die  gleiche  Stärke  hat. 
Aber  tatsächlich  war  es  immer  und   überall  die   Gesellschaft,  die   erzog, 
durch    die    Eltern,     soweit    sie    am    Kulturbe.sitz    der    Gesamtheit    Anteil 
hatten,  durch  die  Lehrer,  die  für  diesen  Beruf  eine  besondere  Ausstattung 
mit  der  Geisteskultur  der  Zeit  empfangen.     Und  ebenso  wurde  für  die  Ge- 
sellschaft   erzogen:    auf    irgend   eine    Wei.se   war    das   ausdrückliche    oder 
stillschweigends    vorausgesetzte    Ziel    immer,    daß    der  Zögling  durch    die 


6o 


Kkikiikuh    l'Ari.sKN:   Das  niodi-iiir   Hil(hinf;s\vcsen. 


Kr/.i(>huiig-    auch    an    l'ähi.efkcit    und    Geschick    jrewinne,    in    der    J^-bens- 
stellung,  für  die   er  beslimnit  war,  zu   wirken  und  sich  durchzusetzen. 

Nicht  ebenso  selbstverständlich  als  das  soziale  Moment  ist  das  natio- 
nale.    Ja    man    kann    sagen,    daß    es    erst  in  der  jüngsten  Vergangenheit, 
erst  im    lo.  Jahrhundert   mit  stärkerem  Nachdrucke  betont  wird.     Den  Je- 
suitcnscluilen    ])tlegt   ihr    un-    oder   anti-nationaler   Charakter  zum  Vorwurf 
genuicht  zu  werden.    Im  tirunde  haben  sie  nur  mit  Bewußtsein  festgehalten, 
was   bis   ins    i8.  Jahrhundert    hinein   allgemeine    Übung   war.     Die    älteren 
Schulen,  vor  allem  die  höheren  Schulen,  gingen  nicht  auf  die  Begründung 
einer   nationalen,   sondern    einer   kirchlich-konfessionellen    und  einer  allge- 
mein-humanistischen Bildung  aus.     Sie  sahen  es  als  ihre  Aufgabe  an,  die 
Schüler  aus  der  beschränkten  Sphäre  der  Nationalität,  in  der  die  Familien- 
erziehung bleibt,  in  die  erweiterte  Lebensgemeinschaft  des  größeren  Kultur- 
kreises zu    erheben,   der   die    gegenwärtige  Kulturwelt   mit   der    der    alten 
Welt   zur  Einheit    zusammenschließt.     Und    ich    möchte   sie   nicht  in  jeder 
Absicht  darum   tadeln.     War  dort    die    Gefahr   einer   Unterschätzung  des 
nationalen    Lebens    nicht    ausgeschlossen,    so    ist    die    Überspannung    des 
Nationalismus    eine    Gefahr,    die    uns    jetzt    bedroht.      Fehlt   es    doch    bei 
keinem  europäischen  Volk  an  Kreisen,  die,  auf  eine  niedere  und  mit  dem 
Christentum  definitiv  überwundene  Stufe  zurücksinkend,    das  Fremde  dem 
p>indlichen  gleich   zu   setzen   und  die   heidnische  Vergottung  des  eigenen 
Volkes  und  Staates  wieder  aufzunehmen  sich  nicht  scheuen. 

Die  einzelnen  IIL  D 1  c    B 11  d utt gsmitt cl    Und    ihr   Bildungswert.     Ein  paar  An- 

Biidnngsn,iitei.  ^j^^^^^^^j^  ^^gj.  ^jg  Mittel  der  Geistesbildung,  wie  sie  dem  Schulunterricht 
zur  Verfügung  stehen,  und  ihren  Bildungswert  mögen  sich  an  das  übliche 
Schema  der  Einteilung  der  Wissenschaften  in  Natur-  und  Geisteswissen- 
schaften anschließen:  es  entspricht  einigermaßen  dem  üblichen  Unterschied 
realistischer  und  humanistischer  Disziplinen.  Dazu  kommen  die  formalen 
Disziplinen,  die  mathematischen  als  das  Organon  vor  allem  der  Natur- 
wissenschaften, die  philologischen  als  das  der  Geisteswissenschaften. 

Daß  für  die  allgemeine  Geistesbildung  die  humanistischen  Fächer  mit 
Einschluß  des  Sprachunterrichts  die  erste  Stelle  einnehmen,  kann  bei  un- 
serer Auffassung  des  Wesens  der  Bildung  als  der  Erhebung  des  Indivi- 
duums in  die  geschichtliche  Welt  oder  der  Hineinbildung  des  geistigen 
Lebens  der  Gesamtheit  in  das  Individuum  nicht  zweifelhaft  sein.  Freilich 
bildet  die  Eroberung  der  Natur  durch  den  Menschen,  die  praktische  und 
die  theoretische  Eroberung,  ein  Hauptstück  der  Geschichte  seiner  Kultur, 
und  so  lassen  sich  denn  die  beiden  Gebiete  auf  keine  Weise  auseinander 
reißen. 

Mu.ie.sprachc.  Im    Mittelpunkt    des    Unterrichts    wird    überall    die    Muttersprache 

stehen;  durch  sie  ist  jeder  zuerst  mit  dem  Leben  des  allgemeinen  Geistes 
verknüpft.  Mit  Recht  gilt  daher  Sicherheit  und  Reinheit  in  ihrem  Ge- 
brauch,  in   der  Rede    und    in    der  Schrift,   für   das  erste  Stück  der  Schul- 


in.  Die  Bildungsmittcl  und  ihr  Bildungswert. 


6i 


bildung.  Die  grammatische  Anlayse  dient  zugleich  als  elementarer  Unter- 
richt in  der  Logik;  und  Proben  poetischer  und  prosaischer  Darstellung 
führen  zuerst  in  die  literarische  Welt,  in  das  Verständnis  der  literarischen 
Formen  und  der  sprachlichen  Wirkungen  ein.  Auf  höherer  Stufe  wird 
ein  Einblick  in  das  geschichtliche  Leben  der  Sprache  und  das  Werden 
der  geistigen  Schätze  eines  Volkes  in  dem  Wachstum  seiner  Literatur  ein 
wichtiges  Mittel  für  die  \'ertiefung  des  \'erhältnisses  zum  geistigen  Leben 
des  eigenen  Volkes.  Und  andererseits  wird  fortgesetzte  Übung  in  klei- 
neren und  größeren  Ausarbeitungen  darstellender  und  untersuchender  Art 
die  produktiven  Kräfte  hervorlocken  und  nach  der  logischen  wie  der 
stilistisch-rhetorischen  Seite  schulen  und  formen. 

Mit  dem  Unterricht  in  der  Muttersprache  zusammen  bilden  der  Reli- 
gions-  und  Geschichtsunterricht  eine  engere  Gruppe.  Dem  Unterricht  in 
der  Geschichte  wird  als  Ziel  gesetzt  sein  eine  übersichtliche  Orientierung 
über  den  bisherigen  Verlauf  der  Geschichte  des  eigenen  Volks  in  seinen 
Beziehungen  zu  der  umfassenden  Völker-  und  Kulturgemeinschaft,  deren 
Glied  es  ist.  Die  großen  und  bedeutenden  Momente  und  die  starken 
Persönlichkeiten  hervorzuheben,  die  Zeiten  geringerer  Kraft  und  Produk- 
tivität zurücktreten  zu  lassen,  sie  nur,  mit  Oskar  Jägers  Ausdruck,  zu 
punktieren,  wird  das  Recht  pädagogischer  Didaktik  sein;  selbstverständlich 
ohne  das  erste  Gebot  aller  Geschichte,  das  Gebot  der  Wahrhaftigkeit  zu 
vergessen. 

Die  Aufgabe  des  Religionsunterrichts  ist:  in  der  Jugend  das 
Verständnis  für  die  tiefsten  Erlebnisse  der  Menschenseele,  der  ein- 
zelnen Seele  und  des  Gesamtgeistes  vorzubereiten;  lebendige  Religion 
ist  die  eigentliche  geistig-sittliche  Substanz  des  Volkslebens.  Zugleich 
führt  der  Religionsunterricht  mit  Notwendigkeit  über  die  Beschränktheit 
des  nationalen  Daseins  hinaus;  die  großen  menschheitlichen  Bezieh- 
ungen des  Volkslebens  treten  zugleich  mit  den  höchsten  Beziehungen  des 
einzelnen,  den  Beziehungen  zum  Göttlichen,  in  den  Gesichtskreis.  Kann 
so  der  Religionsunterricht  als  der  erste  und  wichtigste  Unterricht  über- 
haupt erscheinen,  wie  er  denn  auch  zeitlich  der  Ausgangspunkt  des  all- 
gemeinen Schulunterrichts  gewesen  ist,  so  wird  man  darüber  einschränkende 
Momente  nicht  vergessen.  Zunächst:  hier  am  wenigsten  ist  es  möglich 
alles  zu  sagen;  es  ist  mit  der  Fassungskraft  der  Jugend  zu  rechnen,  dem 
Mangel  an  den  ernstesten  und  tiefsten  Erfahnmgen  des  Lebens.  Außer- 
dem wird  der  Unterricht  bedrängt  durch  die  mit  so  viel  greifbareren  und 
wuchtigeren  Forderungen  und  Versprechungen  auftretenden  anderen  Fächer. 
Kommt  dazu,  daß  der  Lehrer  kein  persönliches  Verhältnis  zu  der  Sache 
hat  oder  daß  durch  die  Forderung  äußerer  Korrektheit  die  Persönlichkeit 
des  Lehrers  bei  diesem  allerzartesten  und  allerpersönlichsten  Unterricht 
ausgeschaltet  wird,  so  kann,  was  das  Lebendigste  und  Wirksamste  für  die 
geistige  Bildung  sein  sollte,  zum  Ödesten  und  Totesten  werden. 

In  den  höheren  Schulen  nimmt  der  Unterricht  in  fremden  Sprachen, 


clu»'h*.< 


Religions- 
untenicbt. 


Fremde 
Sprachen. 


62  FRiFDRrcH  Pait.rf.n:  Das  moilcine  iiililungswesen. 

was  die  für  sie  gfcforderte  Zeit  und  Kraft  anlangt,  überall  den  ersten 
Platz  ein.  Seine  Bedeutung  für  die  geistige  Bildung  wird  vor  allem  in 
die  Weitung  des  Blicks  für  menschliche  Dinge  zu  setzen  sein.  Wer  die 
Sprache  eines  fremden  Volks  beherrscht,  hat  damit  die  Möglichkeit  ge- 
wonnen, die  eigene  Sprache  und  die  eigene  geistige  Welt  objektiv  zu 
sehen,  sie  mit  jenem  „Blick  der  Entfremdung"  zu  betrachten,  von  dem 
Schopenhauer  spricht.  In  besonderem  Maß  gilt  das  von  den  alten  Sprachen : 
wer  lateinisch  und  griechisch  liest,  ist  wie  in  eine  andere  Kulturzone  ver- 
setzt, wo  jedes  Wort  und  jeder  Begriff  fremdartige  Bildung  zeigt.  Ist  das 
Sicheinarbeiten  in  diese  fremde  Welt  an  sich  eine  treffliche  Gymnastik 
aller  Geisteskräfte,  so  belohnt  es  zug'leich  mit  dem  vertieften  geschicht- 
lichen Verständnis  des  Lebens  der  Gegenwart,  dessen  tiefere  Wurzeln 
überall  bis  in  den  Boden  des  Altertums  hinabgehen. 
Mathcmaiik  Das    wären    die    humanistischen   Disziplinen.      Neben    ihnen    wird    in 

und  Natur- 

wissensriiaft.  jedcui  Bildungsgang  die  Gruppe  der  realistischen  Disziplinen,  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaft,  unentbehrlich  sein.  Schon  darum,  weil 
sie  der  Form  nach  die  vollendetsten  Wissenschaften  sind;  es  kann  keine 
Bildungsanstalt  auf  die  Schulung  der  Anschauung  und  der  Verstandes- 
kräfte durch  einen  elementaren  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Unterricht  verzichten  wollen.  Und  ebenso  sind  beide  durch  ihre  praktische 
Bedeutung  eines  Platzes  in  jeder  Schule  gewiß.  Das  gilt  vor  allem  vom 
Rechnen  und  der  Raumlehre,  für  die  jeder  Tag  in  jedem  Beruf  Verwen- 
dung gibt.  Aber  auch  einige  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  wird  mit 
jedem  Jahr,  mit  jedem  Fortschritt  unseres  wirtschaftlichen  Lebens  zu  einer 
unentbehrlicheren  Ausstattung  für  jedermann;  an  keinem  Pimkt  will  alte 
wissenschaftslose  Praktik  mehr  ausreichen. 

Zu  diesen  Notwendigkeiten  kommt  aber  die  andere:  die  Natur  ist  der 
Boden,  auf  dem  sich  das  geschichtliche  Leben  entwickelt,  sie  bildet  die 
Lebensumgebung  und  das  Arbeitsfeld  des  Menschen;  und  darum  setzt  das 
Leben  des  Geistes  auf  Erden  für  sein  Verständnis  die  Orientienmg  in  der 
Natur  voraus.  Dies  gilt  für  alle  Zweige  der  Naturwissenschaft.  Astro- 
nomie und  Geographie  zeigen  die  tellurisch-kosmischen  Beziehungen 
des  Menschen  in  anschaulicher  Gestalt.  Die  Geographie  ist  unmittelbar 
wichtig  als  das  verbindende  Zwischenglied  zwischen  Natur  und  Geschichte. 
Die  Astronomie,  welche  die  Erde  in  ihren  kosmischen  Zusammenhang 
einordnet,  führt  zugleich  den  Blick  über  die  Erde  hinaus  in  die  sichtbare 
Unendlichkeit,  sie  gibt  damit  dem  Empfinden  und  Denken  stärkste  An- 
triebe zur  Erkenntnis  der  eigenen  Beschränktheit  und  Nichtigkeit,  zur 
Anerkennung  eines  Jenseits  alles  menschlichen  Wissens  und  Denkens.  Die 
biologischen  Wissenschaften  stehen  wieder  in  beziehungsreicher  Mitte 
zwischen  Natur  und  Geist;  ihr  Gegenstand  ist  das  Leben  in  seinen  un- 
zähligen Formen,  als  deren  eine  sich  auch  das  natürliche  Leben  darstellt, 
das  zum  Unterbau  des  Geisteslebens  auf  Erden  geworden  ist.  Durch 
tausend    Fäden    innigster   Wechselwirkung    mit    dem    physischen    Lebens- 


III.  Die  Bildungsmittel  und   ilii    Rildungswert.  63 

prozeß  verknüpft,  wird  dieses  Leben  zum  Ausjrangspunkt  für  jede  meta- 
physische Deutung  der  Natur  überhaupt.  So  bilden  die  biologischen 
Wissenschaften  zusammen  mit  den  kosmologischen  die  wesentlichste  Unter- 
lage jeder  Weltanschauung. 

Ist  der  unmittelbare  Ertrag  der  Physik  und  Chemie  in  dieser  Ab- 
sicht geringer,  so  sind  sie  dadurch,  daß  sie  die  Konstruktions-  und  Er- 
klärungsprinzipien an  die  Hand  geben,  wodurch  jene  beschreibenden 
Wissenschaften  allein  möglich  sind,  für  die  Entwicklung  der  Naturerkenntnis 
von  absoluter  und  grundlegender  Bedeutung.  Und  dasselbe  gilt  von  den 
mathematischen  Wissenschaften;  vermehren  sie  nicht  unmittelbar  unsere 
Erkenntnis  der  Wirklichkeit,  so  haben  sie  indirekt  die  größte  Wichtigkeit; 
ohne  ihre  Hilfe  vermögen  die  physischen  Wissenschaften  nicht  einen 
Schritt  zu  tun. 

Seinen  Abschluß  aber  und  seine  Einheit  wird  ein  auf  allgemeine  puiiüäopiiie. 
Geistesbildung  abzielender  Unterricht  in  der  Philosophie  finden.  Auf 
das  Letzte  und  Allgemeine  gerichtet,  zieht  sie  Verbindungsfäden  zwischen 
all  den  zerstreuten  Erkenntnissen,  die  durch  die  Arbeit  der  einzelnen 
Wissenschaften  gewonnen  werden,  vor  allem  zwischen  dem  Universum 
in  uns  und  dem  Universum  draußen,  und  erneuert  so  beständig  den  Ver- 
such, in  einem  einheitlichen  Gedankensystem  die  ganze  Wirklichkeit  zur 
Einheit  zu  führen. 

Genug,  um  wenigstens  andeutungsweise  die  Stellung  der  einzelnen 
Disziplinen  im  Ganzer  der  Bildungsmittel  ersichtlich  zu  machen;  genug 
auch,  um  den  eifersüchtigen  Hader  zwischen  den  Vertretern  der  großen 
Gruppen  als  Ausfluß  jener  Beschränktheit  erkennen  zu  lassen,  die  nur 
das  Eigene  sieht  und  darum  es  für  das  absolut  oder  einzig  Wichtige  hält 
und  gehalten  wissen  will.  Wie  Geistes-  und  Naturwissenschaften  überall 
aufeinander  angewiesen  sind,  so  wird  jede  echte  und  umfassende  Geistes- 
bildung auf  beide  gegründet  sein  müssen.  Hat  der  Humanismus  recht, 
daß  die  geistig-geschichtliche  Welt  die  eigentliche  Heimat  des  Geistes 
und  in  ihr  heimisch  werden  demnach  für  die  allgemeine  Geistesbildung 
von  elementarster  Wichtigkeit  ist,  so  ist  andererseits  jede  Erkenntnis  dieser 
Welt  an  die  anschauliche  Erfaissung  dessen,  was  in  Raum  und  Zeit  als 
Erscheinung  gegeben  ist,  also  an  Naturerkenntnis  geknüpft.  Umgekehrt, 
hat  der  Realismus  recht,  daß  Naturwissenschaft  die  Unterlage  für  jede 
wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  ist,  so  beruht  andererseits 
alle  Bedeutung  der  Wirklichkeit  für  uns  auf  dem,  was  der  Geist  in  der 
Geschichte  an  Lebensinhalt  und  Lebensgütern  schafft. 

Für  den  einzelnen  aber,  ich  wiederhole  es,  hat  den  größten  Bildungs- 
wert die  Beschäftigung  mit  dem,  wozu  ihn  T,ust  und  Liebe  ziehen.  Das 
kleinste  Stück  in  spontaner  Arbeit  erworbener  Einsicht,  es  mag  sein  auf 
welchem  Gebiet  es  will,  bedeutet  für  die  Bildung  des  inneren  Menschen, 
für  die  Entwicklung  der  geistigen  Kräfte  mehr,  als  eine  ganze  Last  posi- 
tiven Wissens,  das  einem  widerwillig  durch  alle  Wissenschaften  Gehetzten 


64 


FRii'.DRirH  Paui.skn:  Das  modcrm-  r.ililimf;s\vcscn. 


Ästhetische 

ItildiinK. 


aufgeladen  ist.     Kin   Universalisnius  in  diesem  Sinne,  der  die  freie  Betäti- 
gung nach  individueller  Neigung  erdrückt,  ist  der  Tod  wahrer  Bildung. 

Noch  berühre  ich  zum  »Schluß  mit  einem  Wort  die  ästhetische  Bil- 
dung oder,  mit  jüngstem  Schlagwort,  die  Erziehung  zur  Kunst.  Sie  ist 
zu  aller  Zeit  als  ein  nicht  unwichtiges  Stück  der  Jugendbildung  betrachtet 
worden,  vor  allem  Gesang  und  Musik;  sie  machten,  wie  in  der  griechischen, 
so  in  der  auf  kirchlichem  Grunde  ruhenden  Bildung  ein  Hauptstück  aus. 
Mit  ihnen  steht  die  x-Vusbildung  der  Empfänglichkeit  für  die  Dichtung  in 
ursprünglichem  Zusammenhang.  Eür  die  Erziehung  des  Auges  und  der 
Hand  zur  Auffassung  und  Nachbildung  der  Form,  die  dei  Unterricht 
später  aufgenommen  hat,  ist  in  jüngster  Zeit  ein  lebhafter  Eifer  erwacht. 
Daß  man  hier  an  die  natürlichen  Kunsttriebe  des  Kindes  Anknüpfung  zu 
suchen  begonnen  hat,  wird  Lust  und  Liebe  und  also  auch  den  Erfolg 
steigern.  Jeder  Erfolg  aber  in  dieser  Richtung  darf  als  ein  bedeutsamer 
Gewinn  für  die  persönliche  Bildimg  des  einzelnen  und  für  die  Entwicklung 
der  Künste  selbst  angesehen  werden.  Freude  am  Schönen  ist  nach  alter 
Einsicht  ein  starkes  Gegenmittel  gegen  die  Lust  am  Gemeinen,  sie  be- 
reitet der  Freude  am  Guten  den  Boden.  Und  allgemeine  Empfänglichkeit 
für  die  Werke  der  Kunst  ist  der  Boden,  in  dem  alle  Künste  gedeihen. 
Vielleicht  ist  die  Hoffnung  nicht  ungegründet,  daß  auf  eine  überwiegend 
intellektualistische  Epoche  ein  kunst-  und  formfreudigeres  Zeitalter  zu 
folgen  im  Begriff  steht. 


Aufbau  des 
Scliuhvesf'ii? 


IV.  Schematischer  Aufbau  eines  öffentlichen  Bildungswesens 
für  gegenwärtige  Kulturverhältnisse.  Indem  wir  uns  nun  zur  ge- 
naueren Betrachtung  der  wichtigsten  unter  den  Veranstaltungen  wenden, 
durch  die  gegenwärtig  die  Gesellschaft  die  Erhaltung-  ihres  Kulturbesitzes 
im  Wechsel  der  Generationen  sichert,  des  öffentlichen  Bildungswesens, 
bezeichne  ich  zunächst  die  Aufgabe:  es  ist  ein  System  von  Anstalten  zu 
schaffen,  worin  einerseits  für  die  verschieden  gearteten  persönlichen  An- 
lagen, andererseits  auch  für  die  mannigfaltig  gestalteten  Berufsarten  und 
Lebensstellungen  die  für  jede  geeigneten  Bildungswege  und  Bildungsmittel 
bereit  stehen.  Die  Idealverfassung  hätte  das  Bildungswesen  eines  Volks 
dann  erreicht,  wenn  jedem  einzelnen  der  Weg  zu  der  seinen  persönlichen 
und  beruflichen  Bedürfnissen  entsprechenden  Ausbildung  seiner  Kräfte 
offen  stände  und  erreichbar  wäre.  Ein  Volk,  das  sein  Erziehungswesen 
bis  zu  dieser  Vollkommenheit  entwickelt  hätte,  wäre  der  höchsten  ihm 
überhaupt  erreichbaren  Kultur  sicher. 

Die  tatsächliche  Gestalt  des  Bildungswesens  wird  in  der  Hauptsache 
überall  durch  die  Gestalt  der  Gesellschaft  und  ihre  Gliederung  bestimmt. 
Das  gesellschaftliche  Bedürfnis,  für  alle  Aufgaben  des  Gesamtlebens  aus- 
gebildete Kräfte  zur  Verfügung  zu  haben,  ist  der  Antrieb  zur  Errichtung 
von  Unterrichtsanstalten,  der  Besitzstand  an  Kulturmitteln  aller  Art  be- 
zeichnet Maß  und  Grenze  des  möglichen  x\ufwands  für  die  Lösung  dieser 


IV.  Schemalischcr  Aufbau  eines  Öffcntl.  Bildungswesens  Tür  gegcnwarligc  Kullurvoihältnissc.      65 

gesellschaftlichen  Aufgaben.  In  der  Gestalt  des  öffentlichen  Bildungs- 
wesens spiegelt  sich  allemal  der  Zustand  der  Gesellschaft,  die  es  hervor- 
gebracht hat. 

Die  Gesellschaft  zeigt  überall  eine  doppelte  Gliederung:  die  Gliede- 
rung nach  der  Form  der  gesellschaftlichen  Arbeitsleistung;-  und  nach  den 
Besitzverhältnissen.  Die  erste  Gliederung  gibt  die  Teilung  in  die  Be- 
rufsstände; aus  der  Verschiedenheit  des  Besitzes  entspringt  die  Teilung  in 
Gesellschaftsklassen.  Beide  üben  auf  das  Bildungswesen  Einfluß;  durch 
die  großen  Formen  gesellschaftlicher  Arbeitsleistung  und  beruflicher  Lebens- 
stellung werden  im  großen  die  Arten  der  Unterrichtskurse  bestimmt;  durch 
die  Klassenzugehörigkeit  oder  den  Besitzstand  der  Familien  wird  in  er- 
heblichem Maß  die  Zuteilung  der  Jugend  an  die  verschiedenen  Schulkurse 
beeinflußt. 

In   drei   große  Berufsgruppen    kann   man,   mit   ungefährem   Anschlag,   Dm  n«ufs- 
die    moderne    Gesellschaft     aus     dem     ersten    Gesichtspunkt,    der    Rück- 
sicht   auf   die    Form    der    gesellschaftlichen    Arbeitsleistung,    einteilen:    sie 
bedarf  und  besitzt  motorische,   disponierende    und    geistig  schaffende  und 
leitende  Funktionen  und  Organe.    Die  erste  Gruppe  umfaßt  alle  diejenigen, 
deren   Arbeitsleistung  im    wesentlichen    Körperkräfte    und    Handgeschick 
fordert:    hierher   wären    die   industriellen  Arbeiter    und   Handwerker    aller 
Art,  die  ländlichen  Arbeiter  und  Kleinbauern,  endlich  die  im  Handel  und 
Verkehr  als  letzte  ausfuhrende  Organe  Beschäftigten  zu  stellen.    Die  zweite 
Gruppe  umfaßt  diejenigen,  deren  berufliche  Arbeit  wesentlich  in  der  Lei- 
tung des  gesellschaftlichen  Arbeitsprozesses  und  der  Anweisung  und  Lei- 
tung von  Handarbeitern  besteht;  hier  wären  die  Fabrikanten  und  Techniker, 
die  Leiter  größerer  landwirtschaftlicher  Betriebe,   die  Kaufleute  und  Ban- 
kiers, die  höheren  Angestellten  im  Handel  und  Verkehr,    ebenso  auch  die 
Subalternbeamten  im  Staats-  und  Gemeindedienst  einzuordnen.     Die  dritte 
Gruppe    endlich  umfaßt   die  Berufe,    die   man    mit   dem    Namen    der  „ge- 
lehrten"   zusammenzufassen     pflegt,    Berufe,    deren    Ausübung    die     selb- 
ständige Erfassung  und  Weiterbildung  wissenschaftlicher  Erkenntnis  fordert; 
es  werden  dahin  gehören  die  Forscher  und  Erfinder,   dann  aber  auch  die 
Inhaber    der   höheren  Stellen    im  Zivil-    und  Militärdienst,    in   Kirche    und 
Schule,    ferner    die    Ärzte,    die    Techniker    in    den    leitenden    Stellen    usw. 
Wobei  denn  auch   hier  der  Vorbehalt  gilt,  daß   die  Xatur  keine  Sprünge 
macht,  daß  auch  hier  Übergänge   und  Mittelglieder  die  begrifflichen  Tei- 
lungen überall  verwischen.     Und  der  fernere,  daß  die  Einteilung  niclit  zu- 
gleich   eine    Abstufung    der  Wichtigkeit    bedeutet:    ein    großer    Kaufmann 
oder  Industrieller  übt  eine  soziale  Funktion,  die  an  Wichtigkeit  der  eines 
Amtsrichters  oder  Offiziers  unermeßlich  überlegen  sein  mag. 

Diesen  drei  großen,  durch  die  Form  der  gesellschaftlichen  Arbeits- 
leistung unterschiedenen  Berufsgruppen  entsprechen  drei  große  l-ormen 
von  Schulkursen;  sie  können  heißen:  der  Kursus  der  allgemeinen  Volks- 
bildung, der  bürgerlichen  und  der  gelehrten  Bildung.    Sie  sind  unter- 

1)IB    KlLTl'R    UKR    GbOBSWART.      I.    I.  5 


66 


l'iunmicii   I'aui.sen:   Das  moileinc  BiUunjjswescii. 


Drei  Stufen  de; 
Uuterrichts. 


schieden  durch  die  Unterrichtsg-egenständc,  durch  die  Form  des  Unter- 
richts und  die  dadurch  bedingte  Dauer  des  Kursus. 

Mit  dieser  DreiteiUmg  kreuzt  sich  eine  andere  Dreiteilung,  die  aus 
der  Natur  des  Unterrichts  selbst  entspringt,  die  Teilung  des  Kursus  in 
Unter-,  Mittel-  und  Oberstufe.  Wir  können  die  drei  Stufen  benennen: 
Primärschule,  Sekundärschule,  Hochschule.  Sie  kehren  in  jeder 
der  drei  Kursusformen  wieder.  Die  Aufgabe  der  ersten  wird  vor  allem 
die  Einübung  der  elementaren  Fertigkeiten  sein,  die  der  zweiten  der  Auf- 
bau der  allg"emeinen  und  grundlegenden  Kenntnisse,  etwa  das,  was  man 
„allgemeine  Bildung"  zu  nennen  pflegt,  die  der  dritten  die  eigentliche  Be- 
rufsvorbildung, die  Fachbildung  im  Unterschied  von  der  allgemeinen  Bildung. 

Wir  kommen  so  auf  ein  neungliedriges  Einteilungsschema,  das  sich 
in  folgender  Weise  übersichtlich  darstellen  läßt;  ich  setze  gleich  die  bei 
uns  üblichen  Benennungen  der  Schulformen  ein: 


1.  Berufs gruppc. 
[Handarbeit.) 

2.  Berufsgruppe. 
[Disponierende  Berufe.) 

3.  Berufsgruppe. 
{Gelehrte  Berufe.) 

I.  Stufe 

Primärschule : 
Elementarunterricht. 

Primärschule : 
Elementarunterricht. 

Primärschule : 
Elementarunterricht. 

2.  Stufe 

Sekundärschule : 
Überstufe  der  Volksschule. 

Sekundärschule:                        Sekundärschule: 
Höhere  Bürgerschule.                       Gymnasium. 

3.  Stufe 

Hochschule: 
Gewerbliche   Fortbildungs- 
schule. 

Hochschule : 
Mittlere  Fachschule,    Tech- 
nikum,   Handelsschule  etc. 

Hochschule : 

Universität    u.  Technische 

Hochschule. 

Ich  füge   über  die  einzelnen  Schularten,  ihre  Aufgaben  und  ihre  Dar- 
stellung in  dem  tatsächlichen  Bildungswesen  der  Gegenwart  das  Folgende 
hinzu: 
t)  Unterstufe.  Der  Untcrricht  der  Primärschule,  der  Unterstufe  aller  drei  Kurse, 

hat  zur  Hauptaufgabe  die  Einübung  der  elementaren  Fertigkeiten,  die 
Voraussetzung  für  jeden  nachfolgenden  Unterricht  sind,  des  Lesens,  Schrei- 
bens und  Rechnens.  Daneben  wird  im  Anschauungsunterricht  erste  Er- 
weiterung der  Sachkunde  und  Entwicklung  der  Fähigkeit  des  Sehens, 
Aufmerkens,  Beobachtens  und  Sprechens  stattfinden.  Das  Ziel  wird  er- 
fahrungsmäßig in  einem  etwa  3-  bis  4jährigen  Kursus  erreicht,  so  daß 
also,  den  Beginn  mit  dem  Anfang  des  7.  Lebensjahrs  vorausgesetzt,  der 
Abschluß  der  Primärschule  etwa  in  das  10.  Lebensjahr  fiele.  Da  Gegen- 
stände und  Methode  des  Unterrichts  auf  dieser  Stufe  für  alle  Schüler 
dieselben  sind,  so  kann  der  Natur  der  Sache  nach  die  Primärschule  für 
die  gesamte  Jugend  des  Volkes  gemeinsam  sein.  Die  Trennung,  wie  sie 
in  Norddeutschland  in  den  sogenannten  „Vorschulen"  an  den  Gymnasien 
sich  durchgesetzt  hat,  ist  nicht  aus  einer  sachlichen  Notwendigkeit,  son- 
dern wesentlich  aus  der  Separationsneigung  der  oberen  Schichten  der  Ge- 
sellschaft entsprungen.     Sie  wirkt  im  Sinne  der  Herabdrückung  der  allge- 


IV.  Schematischer  Aufbau  eines  offentl.  Bildungswesens  Cär  gegenwärtige  KuUurverhältnisse.     67 

meinen  Volkschule,  indem  sie  ihr  die  Kinder  und  damit  zugleich  ein  großes 
Stück  der  persönlichen  Teilnahme  der  besser  gestellten  und  gebildeten 
Familien  entzieht.  .Sie  trägt  zugleich  zur  Überfüllung  der  höheren  Schulen 
bei.  Die  Unterrichtsverwaltung  wird  daher,  wenn  sie  auch  der  Errichtung 
von  Privatschulen  für  den  Klementarunterrirht  keine  Hindemisse  in  den 
Weg  legen  wird,  keine  Ursache  haben,  die  Entstehung  besonderer  Vor- 
schulen zu  fordern.  Dagegen  wird  e.s  eine  Aufgabe  der  Zukunft  sein,  für 
abnorm  angelegte  und  sittlich  verwahrloste  Kinder  in  weiterem  Umfang 
besondere  Erziehungsanstalten  zu  errichten. 

Auf  den  Elcmentarkursus  folgt  die  Mittelstufe,  die  Sekundär-  2) -Mittelstufe. 
.schule.  Hier  tritt  nun  die  Notwendigkeit  einer  Differenzierung  hervor; 
Unterrichtskurse  mit  verschiedenem  Ziel  und  verschiedener  Dauer  fordern 
eine  verschiedene  Anlage  schon  auf  der  Mittelstufe.  Wir  nennen  die  drei  den 
großen  Berufsgruppen  entsprechenden  Formen  der  Sekundärschule  mit  den 
uns  geläufigen  Xamen:  Volksschule,  höhere  Bürgerschule,  Gymnasium.  Ihre 
Aufgabe  wird  sein:  die  grundlegende  „allgemeine"  Bildung  so  weit  zu 
fördern,  als  es  die  nachfolgende  I-'achbildung  verlangt  und  der  mit  dem 
künftigen  Beruf  gegebenen  Lebensstellung  entspricht. 

Die  Aufgabe  der  Volksschule  wird  diesem  Prinzip  gemäß  mit  der  Volksschule. 
l'Ormel  umschrieben  werden  können:  ihre  .Schüler  in  der  geistigen  und 
natürlichen  Umgebung  heimisch  zu  machen,  der  sie  im  Leben  angehören 
werden,  und  sie  mit  den  allgemeinen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  auszu- 
statten, welche  die  nachfolgende  Stufe  der  „Hochschule"  voraussetzt  und 
für  die  in  der  künftigen  Berufs-  und  Lebensstellung  die  Möglichkeit  der 
Verwendung  sich  bietet  Das  Ziel  wird  zu  erreichen  sein  in  einem  4-  bis 
5 jährigen  Kursus,  so  daß  der  Abschluß  in  das  15.  Lebensjahr  fiele,  eine 
Zeit,  wo  der  Abschluß  auch  aus  anderer  Rücksicht  notwendig  wird:  die 
unbemittelte  Familie  kann  den  Aufwand  für  die  Erziehung  der  Kinder 
über  diese  Zeit  hinaus  nicht  tragen.  Als  Unterrichtsfächer  ergeben  sich 
von  hier  aus:  die  Muttersprache  und  ihre  Literatur,  soweit  sie  in  diesem 
Lebensalter  überhaupt  behandelt  werden  kann;  das  Ziel  wäre:  die  Fähig- 
keit verständnisvollen  Le.sens  und  einige  Fertigkeit  im  schriftlichen  Ge- 
brauch der  .Sprache.  Der  Orientierung  in  der  geistigen  Lebensumgebung 
dient  der  Religions-  und  der  Geschichtsunterricht;  in  das  Verständnis  der 
natürlichen  Lebensumgebung  führt  die  Erd-  und  Himmelskunde,  verbunden 
mit  der  Naturkunde,  ein;  und  notwendige  Voraussetzungen  hierfür,  nicht 
minder  aber  auch  für  die  künftige  Berufstätigkeit,  gibt  der  Rechenunter- 
richt und  ein  elementarer  Unterricht  in  der  Mathematik.  Endlich  hätten 
Gesang-  und  Zeichenunterricht  nebst  dem  Schönschreiben  die  Aufgabe, 
die  vorhandenen  Kunsttriebe  zu  wecken  und  zu  entwickeln. 

Der  Kursus    der    höheren   Bürgerschule    wird    um    ein    paar   Jahre   Bürgerschule, 
ausgedehnter    sein    mü.ssen    und  können,    also  etwa  bis  zum   Abschluß  des 
16.  Leben.sjahrs  reichen.     Zu  den  Unterrichtsgegenständen,  die  er  mit  der 
Oberstufe    der    Volksschule    gemein    hat,    nur    daß    das  Ziel    bei    längerer 

5* 


AO  FRlKDiurii    I'ai'I.skn:    Das   nuHlrino   RililunRS\v<-sen. 

Dauer  etwas  höher  g-esteckt  werden  kann,  treten  hier  vor  allem  die  neueren 
Si>rachen.  Der  immer  mehr  sich  ausdehnende  und  steigernde  Verkehr  mit 
den  Nachbarvölkern  macht  für  die  Inhaber  der  „bürgerlichen"  Berufe  einige 
Bekanntschaft  mit  ihrer  Sprache  unentbehrlich.  Zugleich  dient  die  Er- 
lernung einer  fremden  Sprache  der  Erweiterung  des  geistigen  Horizonts, 
der  Schmeidigung  des  Denkens  und  Sprechens  überhaupt.  Auch  der 
mathematische  und  naturwissenschaftliche  Unterricht  wird  eine  Erweite- 
rung erfahren  können,  wie  sie  denn  auch  durch  die  beruflichen  Erforder- 
nisse als  notwendig  bezeichnet  wird. 
Gymnasium.  Die   Sekundärschulc    für    die    „gelehrten«   Berufe,    das   Gymnasium, 

wird  dadurch  seinen  allgemeinen  Charakter  erhalten,  daß  es  für  ein  nach- 
folgendes eigentlich  wissenschaftliches  Studium  die  Vorschule  ist.  Der 
Unterricht  wird  also  hier,  namentlich  auf  der  Oberstufe,  sich  als  eine  Vor- 
übung für  eigentlich  wissenschaftliches  Arbeiten  gestalten  müssen,  wie  es 
auch  das  Eebcnsalter  der  Schüler  zuläßt  und  fordert.  Da  die  wissen- 
schaftlichen Studien  in  zwei  große  Zweige  sich  spalten,  in  philologisch- 
historische und  mathematisch-naturwissenschaftliche,  so  wird  diese  Spaltung 
schon  auf  die  Vorstufe  zurückwirken;  ein  „humanistisches"  Gymnasium 
wird  für  alle  Studien  überwiegend  historischen  Charakters,  d.  h.  für  alle 
Zweige  der  Geisteswissenschaften,  ein  „realistisches"  für  die  auf  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaft  gegründeten  Studien  die  angemessene  Vor- 
bereitung bieten.  Neben  einem  breiten  Gemeinbesitz,  der  ihnen  übrigens 
auch  mit  der  Volks-  und  Bürgerschule  gemeinsam  ist,  wird  auf  dem  huma- 
nistischen Gymnasium  die  Erlernung  der  alten  Sprachen  als  das  besondere 
Hauptstück  hervortreten;  sie  wird  gefordert  durch  den  innigen  geschicht- 
lichen Zusammenhang,  in  dem  die  moderne  Geisteskultur,  unsere  Religion 
und  unser  Recht,  unsere  Literatur  und  unsere  Wissenschaft,  mit  dem 
griechisch-römischen  Altertum  steht.  Im  „Realgymnasium"  werden  die 
Grundlagen  der  exakten  Wissenschaften  breiteren  Raum  einnehmen;  da- 
neben wird  das  Studium  der  modernen  Sprachen  und  Literaturen  den  er- 
weiterten historischen  Horizont  geben.  Die  moderne  Kultur  als  eine  von 
den  führenden  Völkern  Europas  im  Verlauf  der  letzten  Jahrhunderte  er- 
worbenes Gemeingut  zu  verstehen,  das  wäre  das  Ziel.  Sodann  wird  einige 
Kenntnis  der  lateinischen  Sprache  als  ein  zur  Zeit  unentbehrlicher  Schlüssel 
zum  Verständnis  der  älteren,  lateinisch  redenden  Geschichte  und  Wissen- 
schaft den  Schülern  mitgegeben  werden  müssen;  wie  sie  denn  auch 
durch  die  Rücksicht  auf  die  Abstammung  der  modernen  Fremdsprachen 
und  die  Herkunft  eines  großen  Teils  der  unentbehrlichen  Fremdwörter 
unserer  Sprache  aus  der  lateinischen  empfohlen  wird.  Zugleich  wird  die 
Erwerbung  dadurch  so  erleichtert,  daß  ein  mit  bescheidenen  Zielen  rech- 
nender Unterricht  keine  über  das  Maß  des  Möglichen  herausgehenden 
Anstrengungen  fordert. 

Ich  schalte  hier   die  Bemerkung   ein;    für   die   tatsächliche  Gestaltung 
des  deutschen  Gymnasialwesens   ist   es   bezeichnend,    daß  das  Gymnasium 


IV.  Srhematischer  Anflniii   eines  öflTenll.  Bildungswesens  für  gcgenwürli^jc   Knlturvcrhältnisse.      6q 

in  weitem  Umfang  zugleich  als  höhere  Bürgersrhulc  dient.  Wie  schon 
die  alte  Lateinschule  vom  i6.  bis  i8.  Jahrhundert  nicht  bloß  (ielehrten-, 
sondern  zugleich  Bürgerschule  war,  so  ist  es  das  Gymnasium  im  uj.  Jahr- 
hundert geblieben;  seine  unteren  und  mittleren  Klassen  werden  über- 
wiegend von  Knaben  besucht,  die  nicht  für  wissenschaftliche  Studien 
bestimmt  sind  und  deren  Schulkursus  etwa  mit  dem  i6.  Lebensjahr  ab- 
schließt. Die  Lntwicklung  des  Berechtigungswesens,  besonders  zum  ein- 
jährigen Militärdienst,  hat  die  alte  Gewohnheit  neu  befestigt.  Und  schwerlich 
wird  es  den  neuen  „Realschulen"  gelingen,  sie  zu  beseitigen;  die  äußere 
Unmöglichkeit,  in  kleineren  Städten  mehrere  Formen  höherer  Schulen  zu 
erhalten,  noch  mehr  das  Verlangen,  an  der  sozialen  Distinktion  teil  zu 
haben,  die  das  Gymnasium  verleiht,  wird  die  alte  Vermischung  erhalten, 
sowenig  sie  an  sich  wünschenswert  ist:  die  Schüler  haben  einen  in  der 
Mitte  abbrechenden  Kursus,  die  Gymnasien  gedoppelte  und  mit  ungeeig- 
neten Elementen  überfüllte  Unter-  und  Mittelklassen,  wodurch  zugleich 
der  Zuschnitt  und  die  Leistungsfähigkeit  der  Anstalten  und  die  Stellung 
der  Gelchrtenschullehrer  eine  Herabsetzung  erleidet. 

Auf  den  Abschluß  der  Mittelstufe  folgt  die  Oberstufe,  die  Hoch-  j)  Oberstufe, 
schule,  und  zwar  für  alle  drei  Kurse.  Ihre  Aufgabe  ist:  ihre  Schüler 
auf  Grund  der  auf  den  beiden  ersten  Stufen  gewonnenen  elementaren 
und  allgemeinen  Bildung  mit  den  besonderen  Einsichten  und  Fertigkeiten 
auszustatten,  die  der  Beruf  und  die  durch  ihn  bestimmte  Lebensstellung 
fordert.  Hier  wird  daher  die  Differenzierung  noch  entschiedener  als  auf 
der  zweiten  Stufe  hervortreten. 

Am  frühesten  und  bestimmtesten  ist  die  Oberstufe  für  die  „gelehrten"  Universitäten 
Berufe  ausgebildet  worden;  sie  hat  daher  den  Namen  der  „Hochschule"  "HochscbS." 
für  sich  allein  in  Beschlag  genommen.  Hier  treten  nun  so  viel  Hoch- 
schulen hervor  als  Formen  des  Berufs.  Die  ältesten  sind  die  vier  Fakultäten 
unserer  Universitäten.  Es  sind  in  Wahrheit  so  viel  wissenschaftliche  Fach- 
schulen für  die  Berufe  des  Geistlichen,  des  Juristen,  des  Arztes,  des 
Lehrers;  sie  sind  in  der  Universität  zu  einem  korporativen  Verband  zu- 
sammengeschlossen, dessen  innere  Einheit  jetzt  freilich  mehr  auf  geschicht- 
licher als  auf  sachlicher  Notwendigkeit  beruht,  so  große  Ursache  im 
übrigen  das  deutsche  Volk  hat,  sich  zu  beglückwünschen,  daß  seine  Uni- 
versitäten den  alten  Zusammenhang  festgehalten  haben  und  nicht  in  iso- 
lierte Fachschulen,  wie  die  französischen,  zersplittert  worden  sind.  Zu 
diesen  ersten  wissenschaftlichen  Fachschulen  hat  das  ig.  Jahrhundert  eine 
Fülle  neuer  hervorgebracht,  vor  allem  die  „Technischen  Hochschulen", 
deren  „Abteilungen"  den  Fakultäten  entsprechen.  Ferner  die  „Akademien" 
aller  Art:  für  I'orst-  und  Bergwissenschaften,  für  Kriegs-  und  Handels- 
wissenschaften. Daneben  stehen  auch  die  Akademien  für  die  verschiedenen 
Künste. 

Die   Oberstufe   für   die  beiden   andern   Berufsgruppen   ist   später   ent-  Die  miuicren 
wickelt,     oder    vielmehr    ist    überall    erst    in    der    Entwicklung    begriffen.      Schulen.' 


scbule 


.,Q  Krikukich  Paulsen:    Das   iiiudemc   Uildungswcsen. 

Das  allgomrino  Cicsotz,  daß  die  Bildung  von  oben  nach  unten  sich  aus- 
breitet, gilt  auch  hier.  Die  Notwendigkeit  einer  schulmäßigen  Vorbildung 
für  den  Beruf  ist  hier  erst  im  k).  Jahrhundert  fühlbarer  geworden,  früher 
wurden  die  nötigen  Berufskenntnisse  im  Beruf  selbst,  in  den  man  als 
Lehrling  eintrat,  gelernt.  Die  jüngste  Entwicklung  des  technisch -wirt- 
schaftlichen Lebens  hat  überall  zu  einem  tieferen  Eindringen  der  Wissen- 
schaft in  die  Praxis  geführt;  der  Besitz  nur  schulmcäßig  zu  erlernender 
Kenntnisse  hat  damit  an  Wichtigkeit  für  die  Arbeitsleistung  beständig 
gewonnen.  Aus  diesem  Bedürfnis  sind  die  zahlreichen  Eormen  der  „Each- 
schulen"  hervorgegangen,  die  dem  Unterrichtswesen  der  zweiten  Hälfte 
des  verflossenen  Jahrhunderts  das  Gepräge  geben,  die  Gewerbe-,  Industrie-, 
Handels-,  Landwirtschaftsschulen  aller  Art,  die  für  die  höheren  bürger- 
lichen Berufe  die  fachmäßige  Ausstattung  geben.  Die  deutschen  Länder 
haben  diese  Notwendigkeit  am  ersten  begriffen;  sie  verdanken  es  nicht  am 
wenigsten  dieser  Erkenntnis,  daß  sie  den  gewaltigen  Vorsprung  auf  fast 
allen  Gebieten  der  wirtschaftlichen  Produktion,  den  die  westlichen  Völker 
am  Anfang  des  Jahrhunderts  vor  ihnen  voraus  hatten,  in  so  kurzer  Zeit 
wettzumachen  imstande  gewesen  sind. 
Fortbiidungs-  Am  Weitesten   ist  die  Oberstufe  für  die  dritte  Berufsgruppe ,  für   die 

Berufe  der  Handarbeit,  davon  entfernt,  gesicherten  Bestand,  oder  auch  nur 
sichere  prinzipielle  Stellung  gewonnen  zu  haben.  Ja  man  kann  sagen,  sie 
hat  erst  eben  begonnen,  als  eine  eigentümliche  und  notwendige  Aufgabe 
der  Gesellschaft  erfaßt  zu  werden.  Die  alte  „Fortbildungsschule",  die  auf 
den  Abschluß  der  Volksschule  hie  und  da  folgte,  war  vielfach  nicht  mehr 
als  ein  dürftiger  Anhang  dieser,  ohne  festen  Bestand  und  ohne  festes  Ziel, 
ihre  Absicht  oft  auf  nichts  anderes  gerichtet,  als  die  in  der  Volksschule 
erworbenen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  in  der  nachfolgenden  schullosen 
Zeit  ein  w-enig  aufzufrischen  und  vor  völligem  Vergessen  zu  bewahren. 
Erst  in  jüngster  Zeit  ist,  im  Zusammenhang  mit  dem  Durchdringen  des 
sozialen  Gedankens,  die  hier  \orliegende  Aufgabe  bestimmter  in  den  Ge- 
sichtskreis getreten.  Es  handelt  sich  darum,  auch  an  die  Volksschule  eine 
Oberstufe,  den  „Hochschulkursus",  anzugliedern  mit  der  Bestimmung,  die 
dort  erworbenen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  zu  entwickeln  und  fruchtbar 
zu  machen  für  die  Lösung  der  mannigfachen  besonderen  Aufgaben,  die 
Beruf  und  Lebensstellung  einem  jeden  bringen.  Auch  für  den  einfachen 
Handwerker  und  Industriearbeiter,  für  den  Bauer  und  selbst  den  ländlichen 
Arbeiter  werden  die  Aufgaben,  die  das  wirtschaftliche  und  gesellschaft- 
liche Leben  stellt,  immer  mannigfaltiger  und  verwickelter;  er  bedarf,  um 
seine  Arbeitsfähigkeit  voll  zu  entwickeln,  andererseits  um  sich  als  ein 
selbständiges  Glied  der  Gesellschaft  durchsetzen  zu  können,  einer  Fülle 
von  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  die  ihm  die  Volksschule  nicht  zu 
geben  vermag.  Man  denke  nur  an  die  neuen  technischen  Arbeitsformen 
und  Arbeitsmittel,  die  überall  zur  Verwendung  kommen,  oder  an  das  so 
erstaunlich   rasch    entwickelte   Genossenschaftswesen  und   die  neuen  Auf- 


IV.  Schematischcr  Aufbau  eines  öffentl.  Bildungswesens  für  gegenwärtige  Kulturverhältnissc.     7  i 

gaben,  die  hier  in  der  Organisation  und  Verwaltung  gemeinsamer  Ange- 
Icgonhoiton  gestellt  sind;  endlich  auch  an  die  neue  Stellung  im  politischen 
Leben,  die  von  den  Massen  im  letzten  Menschenalter  erobert  worden  ist. 
Und  auch  die  volle  militärische  Brauchbarkeit  setzt  in  immer  steigendem 
Maße  eine  erweiterte  Schulbildung  voraus. 

Es  wird  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  der  mit  dem  14.  Lebensjahr  ihre  Aufgübfn 
abschließende  Unterricht  der  Volksschule  diesen  unermeßlich  gesteigerten 
Anforderungen  nicht  mehr  genügen  kann.  Ein  nach  den  Berufen  differen- 
zierter gewerblicher  Unterricht,  der  natürlich  nicht  auf  bloßes  Buchwissen 
sich  beschränkt,  sondern  vor  allem  nui  Fertigkeiten  und  praktisches 
Können  sich  richtet,  an  Auge  und  Hand  sich  wendet,  der  andererseits 
auch  die  notwendigsten  Elemente  kaufmännischen  Wissens  in  sich  auf- 
nimmt, femer  ein  staatsbürgerlicher  Unterricht,  der  über  Rechte  und 
Pflichten  des  Staatsbürgers,  über  Aufgaben  und  Mittel  des  Staats  und 
seiner  Tätigkeit  nach  innen  und  nach  außen,  über  die  ersten  Grundzüge 
des  bürgerlichen  und  des  .Strafrechts  sowie  des  Rechtsverfahrens  die  heran- 
wachsende Generation  belehrt,  sind  zu  einer  Notwendigkeit  geworden. 
Vielfach  wird  auch  schon  einige  Kenntnis  einer  Nachbar.sprache  zu  den 
envünschten  oder  nicht  entbehrlichen  Dingen  gezählt  werden  müssen.  Alle 
diese  Dinge  sind  aber  erst  in  einem  fortgeschritteneren  Lebensalter  mög- 
lich, als  es  in  der  Volksschule  erreicht  wird;  vielleicht  kann  ein  solcher 
Unterricht  überhaupt  erst  dann  recht  fruchtbar  werden,  wenn  das  Leben 
in  wirkliche  Berührung  mit  den  Aufgaben  bringt,  für  die  der  Unterricht 
Voraussetzungen  und  Hilfen  zu  bieten  hat;  das  Interesse  wird  erst  dann 
recht  lebendig,  wenn  die  Anwendung  in  den  Gesichtskreis  tritt.  Die  Er- 
füllung aber  dieses  Bedürfnisses  wird  in  mannigfaltiger  Gestalt,  ent- 
sprechend den  Verhältnissen  der  einzelnen  Berufe  und  den  örtlichen  Mög- 
lichkeiten, geschehen  können:  in  eigentlichen  „Fortbildungsschulen",  aber 
auch  in  besonderen  Kursen  oder  in  „Volkshochschulen"  nach  dem  Vor- 
bild der  Anstalten,  die  bei  den  nördlichen  Nachbarvölkern  sich  so  glück- 
lich entwickelt  haben. 

Übrigens  ergabt  sich  die  Notwendigkeit  eines  solchen  auf  die  Volks- ihre  NotwcndiK- 
schule  folgenden  „Hochschulunterrichts"  auch  aus  einem  andern  Gesichts- 
punkt. Die  erziehende  Kraft  des  Hauses  und  der  engeren  gesellschaftlichen 
Kreise,  der  Lehr-  und  Dienstherrschaft,  ist  unter  dem  Einfluß  der  neuen 
großindustriellen  und  großstädtischen  Lebensformen  im  Abnehmen,  wie 
denn  die  alten,  dauernden  Abhängigkeits-  und  Autoritätsverhältnisso  überall 
in  der  Auflockerung  begriffen  sind.  Vielfach  tritt  die  Jugend  mit  der 
Entlassung  aus  der  Volksschule  in  eine  Zeit  absoluter  Ungebundenheit 
ein,  die  bei  der  Unberatenheit  und  Hilflosigkeit  des  einzelnen  leicht  zur 
Zucht-  und  Zügellosigkeit  wird.  Die  kritischen  Jahre,  die  zwischen  der 
Schulzeit  und  der  militärischen  Dienstzeit  liegen,  sind,  namentlich  in  der 
Großstadt,  von  allem,  was  bindet  und  hält  und  aufrichtet,  am  mei.sten  ent- 
blößt, Jahre  leerer  Freiheit,  in  denen,  was  in  den  vorangegangenen  Schul- 


»,  Fkikdruh    1'aii.skn:    Das  nioilpinc   HiUlTiiifjswoscn. 

jähren  mit  Mühe  ;iufgebaut  wurde,  verwüstenden  Einflüssen  von  allen 
Seiten  her  ausgesetzt  ist.  Auf  der  andern  Seite  sind  aber  diese  Jahre 
eine  Zeit  größter  Empfänglichkeit;  die  intellektuellen  Triebe,  die  bisher 
mit  dem  bloßen  Lernen  befriedigt  waren,  gehen  jetzt  auf  freiere  und 
selbsl;indiger(>  Betätigung;  die  praktischen  Aufgaben,  vor  die  das  Leben 
stellt,  lassen  den  Wert  der  Kenntnisse  in  neuem  Lichte  erscheinen;  auch 
die  Neigung  zum  Nachdenken  über  Welt  und  Leben  beginnt  sich  zu 
regen:  es  gibt  keine  dankbarere  Aufgabe,  als  diesen  Trieben  Nahrung 
zuzuführen  und  die  schwankenden  Versuche  eigener  Gedankenbildung  mit 
leise  leitender  Hand  zum  rechten  Ziel  zu  führen. 

Freilich  sind  die  Schwierigkeiten,  die  es  hier  zu  überwinden  gilt, 
nicht  gering.  Nicht  nur,  daß  guter  Wille  nicht  überall  vorausgesetzt 
werden  kann,  auch  die  Einengung  durch  die  Berufsarbeit  maclit  sich 
geltend;  denn  der  Beginn  der  beruflichen  Lehrzeit  wird  allerdings,  aus 
äußeren,  aber  auch  aus  inneren  Gründen  nicht  weiter  hinausgeschoben 
werden  können.  Die  „Fortbildungsschule"  wird  also  mit  starken  Hem- 
mungen, die  aus  Ermüdung  und  Freiheitsbedürfnis  ihrer  Schüler,  aus  Be- 
quemlichkeit und  auch  wohl  aus  Unverstand  und  Rücksichtslosigkeit  der 
Arbeitgeber  fließen,  zu  rechnen  haben;  ohne  gesetzliche  Verpflichtung 
werden  diese  Widerstände  nicht  zu  überwinden  sein.  Und  die  notwendigen 
Mittel  und  Kräfte  zu  beschaffen,  wird  auch  nicht  überall  eine  leichte  Auf- 
gabe sein.  Dennoch  zweifle  ich  nicht  daran,  daß  die  Sache  kommen 
wird.  Die  Vernunft,  die  in  den  Dingen  ist,  wird  das  Notwendige  auch 
hier  herbeiführen.  Haben  die  beiden  vorigen  Jahrhunderte  mit  großer 
und  rühmlicher  Anstrengung  die  zweite  Stufe,  die  allgemeine  Volksschule 
ausgebaut,  so  werden  die  folgenden  die  Aufgabe  nicht  ablehnen  können, 
die  abschließende  Stufe  hinzuzufügen. 
Zeugnis  der  Man  könnte  die   ganze  bisherige   Entwicklung  zum   Zeugnis  für  diese 

Voraussicht  anrufen.  Die  Geschichte  des  Bildungswesens  zeigt  überall 
denselben  Verlauf:  Durchdringen  der  Bildung  und  der  Bildungseinrich- 
tungen von  den  oberen  Gesellschaftsschichten  zu  den  unteren.  War  im 
Mittelalter  bloß  für  die  Berufsbildung  eines  Standes,  des  geistlichen,  durch 
öffentliche  Anstalten  gesorgt  und  hatte  dementsprechend  das  Bildungs- 
wesen und  das  Bildungsideal  einen  klerikalen  Charakter,  so  hat  die  Neu- 
zeit auch  für  den  zweiten  und  dritten  Stand,  für  den  weltlichen  Herren- 
stand und  für  die  bürgerlichen  Berufe,  Fachbildungsanstalten  mit  modern- 
weltlichem Zuschnitt  geschaffen:  ich  denke  an  die  „Ritterakademien"  und 
Kadettenhäuser,  an  die  moderne  juristische  Fakultät,  die  seit  dem  17.  Jahr- 
hundert zur  Berufsbildungsanstalt  für  den  Herrenstand  wurde  und  dem- 
gemäß ein  höfisches  und  kavaliermäßiges  Wesen  annahm.  Daran  schließt 
sich  dann  die  Entwicklung  im  19.  Jahrhundert;  sie  zeigt  eine  ausgeprägt 
,bürgerliche"  Tendenz,  wie  im  öffentlichen  Leben  überhaupt,  so  auch  im 
Bildungswesen:  die  Neugestaltung  der  Universität  und  der  Gelehrtenschule, 
die    Entwicklung  der  Realschule    und    des    „technischen"  Bildungswesens, 


IV.  Schcmatischer  Aufbau  eines  öffend.  Bildungswesens  für  gegenwärtij;''   Kulinrvi-ihäUnissc.     yj 

alles  weist  in  dieselbe  Richtung:  zunehmende  Bedeutung  des  dritten 
Standes,  wachsende  Ausbreitung  der  Hochschulkurse  für  die  Gesamtheit 
der  bürgerlichen  Berufe,  fortschreitendes  Durchdringen  eines  „bürger- 
lichen" Bildungsideals.  Ist  eine  Konsequenz  in  den  Dingen,  so  würde 
darnach  zu  erwarten  sein,  daß  die  Entwicklung  in  derselben  Richtung 
weiter  verlaufend  in  der  Zukunft  den  „vierten  Stand"  erreichen  wird.  Daß 
dieser  im  Aufsteigen  ist,  daß  er  an  Bedeutung  für  unser  gesellschaftliches 
Leben  gewinnt,  ist  ja  eine  zweifellose  Tatsache.  Die  Folge  wird  sein, 
daß  er  auch  an  der  geistigen  Bildung  in  steigendem  Maße  Anteil  gewinnt. 
Es  wird  eine  fortschreitende  Annäherung  der  Bildungsstufen,  eine  Aus- 
gleichung der  Bildungsunterschiede  stattfinden,  nicht  durch  Herabdrückung 
der  höheren,  sondern  durch  Emporbildung  der  niederen  Stufen  zu  immer 
vollerer  Teilnahme  an  dem  gesamten  geistigen  Leben.  Der  Verbreiterung 
und  Vertiefung  der  allgemeinen  Volksbildung  wird  allerdings  von  oben 
entgegenkommen  die  fortschreitende  Nationalisierung  und  Modernisierung 
der  „höheren"  Bildung,  wie  sie  die  Entwicklung  des  G3mnasialwesens 
im  letzten  Menschcnalter  beherrscht.  Auch  auf  die  steigende  Bedeutung 
des  Realistischen  und  Technischen  im  höheren  Unterricht  wäre  hinzu- 
weisen; und  die  Zunahme  von  Sport  und  Spiel  und  Leibesübungen  weisen 
in  dieselbe  Richtung;  die  in  sich  versunkene  Buchgelehrsamkeit  der  alten 
Gelehrtenschule  weicht  überall  einem  neuen  Tj^pus.  Als  Ziel  der  Be- 
wegung stellt  sich  von  hier  gesehen  dar:  eine  einheitliche  Volksbildung 
auf  modern-nationaler  Grundlage,  an  der  alle  Glieder  des  Volkes,  wenn 
auch  mit  verschiedener  Kraft  und  in  verschiedenem  Maß,  Anteil  haben. 
Die  jüngste  Ausgestaltung  der  Seminare  für  Volksschullehrer,  die  fort- 
schreitende Vertiefung  der  wissenschaftlichen  Ausbildung  der  Lehrer,  die 
Annäherung  an  die  Universitätsbildung  ist  ein  höchst  bemerkenswertes 
Moment  in  dieser  Bewegung.  Auch  in  den  überall  hervortretenden  Be- 
strebungen zur  Ausbreitung  der  Universitätsbildung  durch  das  Angebot 
„volkstümlicher  Hochschulkurse"  und  in  der  Aufnahme,  die  das  Ange- 
bot findet,  sehen  wir  von  beiden  Seiten  ausgestreckte  Hände  sich  be- 
gegnen. 

Was  hier  in  unserer  Betrachtung  unter  einer  „Volkshochschule«  ver- 
standen wird,  ist  allerdings  etwas  anderes  als  solche  gelegentlichen  Be- 
lehrungen durch  Vorträge.  Es  wird  sich  vor  allem  und  zunächst  um 
einen  wirklichen,  systematischen  und  schulmäßigen  Unterricht  handeln. 
Und  der  Charakter  dieses  Unterrichts  müßte  ein  praktisch -realistischer 
sein.  Nicht  um  bloße  Erweiterung  der  allgemeinen  Bildung,  oder  um 
eine  halb  spielende  Unterhaltung  wird  es  sich  handeln,  obwohl  auch 
diesen  Dingen  ihr  Recht  nicht  bestritten  werden  soll,  sondern  um  „reelles" 
Wissen,  ein  Wissen,  das  dem  Können  dient.  An  „papiernem"  Wissen 
haben  wir  vielleicht  ohnehin  schon  da  und  dort  ein  Übermaß:  an  Wissen, 
das  im  Können  sich  bewährt  und  zugleich  vertieft,  kann  niemand  zu  viel 
haben.     Und  von   hier  aus  wird   nun    auch   die   Form   des  Unterrichts   auf 


•JA  l'RlKi^KKH   I'aulskn:    Das  niodeinc  RildunKswescn. 

dieser  Stufe  bestimmt  .sein:  die  selbsttätig'e  Lösung  von  Aufgaben  wird 
die  Form  des  Lernens,  das  Finden  und  Stellen  solcher  Aufgaben,  das 
Ermutigen  und  Anleiten  bei  ihrer  Lösung  die  Form  des  Lehrens  sein. 
Ein  Wort  Goethes,  dessen  Gedanken  über  Erziehung  ganz  im  Sinne 
eines  solchen  praktischen  Realismus  sich  bewegen,  ist  der  „Volkshoch- 
schule" besonders  gesagt:  das  Geheimnis  des  Unterrichts  sei:  Probleme 
in  Postulate  zu  verwandeln. 

Das  wäre  das  Schema  eines  Bildungswesens,  wie  es  durch  die  gegen- 
wärtigen Kulturverhältnisse  zugleich  gefordert  und  ermöglicht  zu  werden 
scheint. 
Notwcidigkeit  Ich  füge  noch  eine  Anmerkung  hinzu.    In  der  vorstehenden  Betrach- 

sozialer  Diffe- 
renzierung des  tung-  ist  vorausgesetzt,  daß  sich  die  Ausbildung  des  einzelnen  auch  seiner 

Schulunterrichts.  , 

künftigen  Berufstätigkeit  und  gesellschaftlichen  Lebensstellung  anpassen 
müsse.  Es  gibt  eine  Ansicht,  die  diese  Rücksichtnahme  im  Prinzip  ver- 
wirft; man  begegnet  ihr  wohl  in  den  Kreisen  eines  verstiegenen  Ideali.s- 
mus  oder  auch  eines  demokratischen  Radikalismus.  Sie  fordert  gleiche 
Bildung  für  alle,  ohne  Rücksicht  auf  soziale  und  berufliche  Unterschiede; 
die  Erziehung  habe  es  mit  dem  Menschen,  nicht  mit  künftigen  Professio- 
nisten  oder  mit  Angehörigen  sozialer  Klassen  zu  tun;  die  Natur  wisse 
nichts  von  solchen  Unterschieden,  sie  statte  die  Menschenkinder  mit 
gleichen  Gaben  aus  und  habe  sie  zu  gleicher  Vollkommenheit  geistig- 
sittlicher Bildung  bestimmt. 

Demgegenüber  wäre  zu  erwidern:  die  Gleichheit  der  Bestimmung 
in  Ehren,  aber  sie  kann  nicht  Gleichförmigkeit  der  geistigen  Bildung  be- 
deuten. Und  die  Lehre  von  der  natürlichen  Gleichheit  ist  eine  willkür- 
liche und  falsche  Annahme;  daß  höchst  bedeutsame  Unterschiede  in  der 
Begabung  und  den  Neigungen  stattfinden,  darüber  kann  sich  nur  täuschen, 
wer  die  Augen  einem  Dogma  zulieb  vor  der  Wirklichkeit  verschließt. 
Sind  aber  derartige  Unterschiede  vorhanden  und  werden  sie,  soviel  uns 
vorauszusehen  gestattet  ist,  durch  keine  weitere  Entwicklung-,  etwa  der 
gesellschaftlichen  Verfassung,  ausgelöscht  werden  (die  natürliche  Ent- 
wicklung weist  vielmehr  überall  auf  zunehmende  Differenzierung  hin),  so 
werden  auch  Bildungsmittel  und  Bildungsgang  diesen  Unterschieden  der 
Naturausstattung  soviel  als  möglich  anzupassen  sein:  gleiche  Ausbildung 
von  Natur  Ungleicher  muß  auf  der  einen  oder  der  andern  vSeite  zur  Verbil- 
dung,  zur  Überbildung,  zur  Halbbildung  führen. 

Kann  hierüber  nicht  füglich  Meinungsverschiedenheit  stattfinden,  so 
kann  es  dagegen  als  fraglich  erscheinen,  ob  auch  die  sozialen  Unterschiede 
ein  Recht  haben,  Verschiedenheit  der  Bildungswege  zu  begründen.  Daß 
sie  es  tun,  daß  sie  in  Wirklichkeit  vielfach  die  ausschlaggebende  Stimme 
bei  der  Wahl  des  Bildungskursus  haben,  ist  gewiß;  aber  sollte  es  nicht 
anders  sein?  sollten  nicht  allein  die  natürlichen  und  individuellen  Unter- 
schiede hier  entscheiden?  —  Ich  würde  doch  sagen:  solange  die  sozialen 
Unterschiede  vorhanden  sind,  werden  sie  nicht  nur,  sondern   müssen   sie 


V.  Überblick  üb.  d.  öffcnll.  Verfassung  des  Bildungswesens  in  seiner  geschichtl.  Kntwicklung.        75 

auch  einen  Einfluß  auf  die  Erziehung  und  Bildung  der  einzehien  aus- 
üben. Für  jemand,  der  in  der  Folge  durch  die  sozialen  Verhältnisse  in 
Beruf  und  Lebensstellung  eines  Handarbeiters  festgehalten  wird,  wäre  es 
auf  ki'inc  Weise  ein  Gewinn,  wenn  er  die  Schulbildung  eines  Gelehrten 
empfangen  hätte:  sie  würde  sein  Leben  nicht  heben,  sondern  erschweren; 
nur  wenn  es  mciglich  wäre,  ihn  einem  Beruf  zuzuführen,  der  für  die  er- 
worbenen Kenntnisse  und  Fertigkeiten  Gelegenheit  zur  Verwendung  böte, 
bedeuteten  sie  für  ihn  einen  wertvollen  Besitz.  Also,  nur  in  dem  Maße, 
als  die  Berufswahl  von  der  sozialen  Herkunft  unabhängig  wird,  wird  auch 
die  Ausbildung  des  einzelnen,  unabhängig  von  der  Lage  der  Familie,  aus 
der  er  stammt,  allein  nach  seinen  persönlichen  Anlagen  bestimmt  werden 
können.  Daß  die  Gesellschaft  im  ganzen,  trotz  zeitlicher  Schwankungen, 
in  der  Richtung  sich  bewegt,  daß  die  Abhängigkeit  der  Berufs-  und 
Lebensstellung  von  der  Herkunft  abnimmt  und  dagegen  die  Bedeutung 
persönlicher  Begabung  und  Willensenergie  zunimmt,  erscheint  mir  als 
eine  glaubliche  Ansicht.  Auf  jeden  F'all  wird  es  zu  wünschen  sein.  Denn 
das  ist  nicht  zu  verkennen:  die  Alleinherrschaft  des  sozialen  Prinzips  in 
der  Bestimmung  des  Bildungsweges,  die  Vernachlässigung  des  persönlichen 
Moments  führt  vielfach  zu  Verkümmerung  und  Vorbildung.  Auf  der 
einen  Seite  gehen  Talente  aus  Mangel  an  Ausbildung  sich  selber  und 
dem  Ganzen  verloren,  auf  der  andern  werden  Individuen,  die  von  der 
Natur  für  einfache  Handarbeit  bestimmt  waren  und  darin  vollkommene 
Befriedigung  gefunden  hätten,  zu  ihrer  eigenen  und  aller  Welt  Plage 
durch  die  höhere  Schule  getrieben,  um  dann  ihr  Leben  lang  in  falscher 
Stellung  zu  sein  und  sich  zu  fühlen.  Freilich  wird  man  nicht  erwarten 
dürfen,  daß  jemals  du-  Aufgabe  der  rechten  Wahl  des  Bildungsganges 
für  den  einzelnen  ohne  Rest  aufgehen  wird;  sie  würde  es  auch  dann 
nicht,  wenn  einmal  soziale  Hemmungen  und  Vorurteile  gar  nicht  mehr 
sich  geltend  machen  sollten,  schon  um  der  Unmöglichkeit  willen,  die  An- 
lagen auch  nur  mit  einiger  Zuverlässigkeit  gleich  am  Anfang  zu  be- 
stimmen, oder  gegen  nachfolgende  Wandlungen  in  den  Neigungen  und 
Befähigungen  Sicherheit  zu  geben. 

V.  Überblick  über  die   öffentliche  Verfassung  des  Bildungs-    Familie  und 

°  bchulc. 

Wesens  in  seiner  geschichtlichen  Entwicklung.  Ich  gehe  aus  von 
dem  Entwurf  eines  Schemas  des  Möglichen.  Eine  .Schule  kann  man  er- 
klären als  eine  Anstalt,  worin  eine  Vielheit  von  Lernenden  durch  einen 
Lehrer  oder  ein  Kollegium  von  Lehrern  in  systematischem  Stufengang  zu 
einem  bestimmten  Bildungsziel  geführt  wird.  Der  Unterricht  hat  nicht  not- 
wendig diese  F'orm;  er  kann  auch  in  der  F'orm  des  Einzelunterrichts  stattfin- 
den, wie  es  in  der  F'amilie  durch  die  Eltern  oder  einen  „Hauslehrer"  ge- 
schieht. Die  Schule  wird  hervorgebracht  durch  die  Gleichartigkeit  des  Be- 
dürfinisses  und  die  Vorteile  gemeinsamer  Befriedigung:  einerseits  Arbeits-  und 
Kostenerspcirnis,  andererseits  Belebung  des  Interesses  in  der  Gemeinschaft. 


r()  l'Kii' DKK  II    Tailskn:     Das  moilevnc    Hilcluti),'swcscn. 

Dif  Scluilo  kann  nun  mit  Hinsicht  aut  ihre  \\  irlschaftHch-gpspllsc-haft- 
Hche  \'crfassung  zwei  Grundformen  haben:  sie  k£inn  entweder  als  Privat- 
unternehmung" von  einzahlen  ins  Leben  gerufen  oder  als  öffentliche  Ver- 
anstaltung von  einer  öffentlichen  Körperschaft  gegründet  werden.  Im 
ersten  hall  kann  sie  wieder  entweder  als  wirtschaftliche  Unternehmung 
eines  Lehrers,  der  auf  eigenes  Risiko  eine  Schule  auftut,  oder  als  Unter- 
nehmung einer  Vereinigung  oder  einer  Körperschaft,  die  Lehrer  annimmt, 
vielleicht  unterstützt  durch  Stiftungen,  entstehen.  In  diesem  Fall  kommen 
in  unserer  geschichtlichen  ^Vclt  im  wesentlichen  drei  öffentliche  Körper- 
schaften in  Betracht:  Gemeinde,  Staat  und  Kirche. 

So  das  Schema.  Seine  Erfüllung  mag  nun  die  geschichtliche  Über- 
sicht zeigen. 

Die  Aufziehung  des  Nachwuchses  liegt  ursprünglich  in  der  Hand  der 
Lamilie;  die  Kinder  wachsen  durch  die  Familie  in  das  Leben  der  Gesamt- 
heit hinein.  Demgemäß  setzten  wir  oben  die  Bedeutung  der  Familie  für 
das  Volksleben  eben  darein,  daß  die  Erhaltung  des  nationalen  Art- 
t3'pus  nicht  bloß  in  physischer,  sondern  vor  allem  in  geistiger  Hinsicht 
ihr  anvertraut  ist;  die  physische  Fortpflanzung  wäre  auch  ohne  sie  mög- 
lich, die  Fortpflanzung  von  Sitte,  Sprache  und  geistiger  Art  wird  erst 
durch  das  dauernde  Gemeinschaftsleben  der  Familie  gesichert. 
Der  Staat.  Bei  aufsteigender  Kulturentwicklung  wird    eine  Ergänzung-  der  Kräfte 

der  Familie  für  diesen  Zweck  mehr  und  mehr  zur  Notwendigkeit.  In 
erster  Linie  ist  es  die  kriegerische  Ausbildung  der  männlichen  Jugend, 
die  eine  solche  fordert.  So  ist  auf  dem  Boden  der  griechischen  Welt  in 
den  vom  Staat  geschaffenen  und  unterhaltenen  Gymnasien  in  großem 
Stil  für  die  Heranbildung  der  Jugend  zu  männlicher  Kraft  und  Tüchtigkeit 
öffentliche  Fürsorge  getrolTen.  Bei  höherer  Entwicklung  des  geistigen 
und  wirtschaftlichen  Lebens  wird  auch  ein  systematischer  Unterricht  un- 
entbehrlich, den  die  Familie  mit  den  eigenen  Kräften  zu  bestreiten  in 
der  Regel  nicht  in  der  Lage  ist:  so  entsteht  die  Schule.  In  der  alten 
Welt  blieb  sie  im  wesentlichen  der  Privatuntemehmung  überlassen, 
wenigstens  der  Elementarunterricht;  für  den  höheren  Unterricht,  in  der 
Beredsamkeit  und  Philosophie,  wurden  in  späterer  Zeit  öffentliche  Lehrer 
von  der  Stadt  oder  dem  Staat  bestellt. 
Die  Kirche.  Seit  der  Überwindung  der    alten    Welt  durch    das   Christentum   tritt 

eine  neue  Form  organisierten  Gemeinschaftslebens  auf  den  Plan:  die 
Kirche.  Sie  hat  seitdem  in  Konkurrenz  und  oft  im  Kampf  mit  dem 
Staat  das  geschichtliche  Leben  bestimmt.  Besonders  nahe  berühren  sich 
die  beiden  Gewalten  im  Gebiet  des  Erziehungswesens.  Zunächst  nahm  die 
Kirche,  die  Inhaberin  der  geistlichen  Gewalt  und  der  Lehre,  die  Erziehung 
als  ein  Stück  der  ihr  befohlenen  cura  ajiünaruiu  in  Anspruch,  und  der 
mittelalterliche  Staat,  der  sich  in  der  Hauptsache  auf  das  Gebiet  der 
kriegerischen  Selbsterhaltung  nach  außen  und  der  F'riedensbewahrung 
nach    innen    beschränkte,    hatte    weder    die    Fähigkeit    noch    den    Willen, 


V.  Überblick  üb.  d.  öfTfntl.  Verfassung  des  Bildungswesens  in  seiner  geschichtl.  F.nlwicUhing.        n-j 

diesen  Anspruch,  oder  vielmehr  dieses  Angebot  abzulehnen.  Als  aber  in 
der  Neuzeit  der  Staat  sich  zu  der  alle  Kulturaufg-aben  umfassenden  Form 
des  Gemeinschaftslebens  ausbildete,  wurde  es  ihm  mehr  und  mehr  unmög- 
lich, das  Erziehungs-  und  Bildungswesen  der  Kirche  zu  überlassen;  er 
konnte  die  Ertullung  so  bedeutender,  für  alle  T.ebensgebiete,  auch  das 
wirtschaftliche  und  militärische  Gebiet,  wichtiger  Aufgaben  nicht  mehr 
von  der  Einsicht  und  dem  freien  guten  Willen  einer  fremden  Macht  ab- 
hangen lassen.  Kann  gar  das  Verhältnis  zu  dieser  fremden  Macht  ein 
gespanntes  oder  feindliches  werden,  so  wäre  es  für  den  Staat  selbst- 
mörderischer Leichtsinn,  ihr  die  Erziehung  zu  überlassen;  eine  in  der 
Jugend  begründete  Entfremdung  der  Seelen  gegen  sein  Wesen  und  seinen 
Zweck  würde  seine  Existenz  untergraben. 

Der  Gang  der  Entwicklung  ist  nun  näher  der  folgende  gewesen.  Kirchliches 
Ein  kirchliches  Unterrichtswesen  setzte  an  zwei  Punkten  ein:  dem  Kate-  imTihiciXer!" 
chumenenunterricht  und  der  Klerikerbildung.  Jener  führte,  als  die  Welt 
christlich  geworden  war  und  durch  die  Kindertaufe  schon  die  Jugend  in 
die  Kirche  aufgenommen  wurde,  zu  der  Anerkennung,  daß  eine  nachträg- 
liche Unterweisung  der  heranwachsenden  Jugend  in  der  christlichen  Lehre 
eine  Pflicht  der  Kirche  und  ihrer  Diener  sei.  Damit  war  in  der  Idee  die 
allgemeine  Volksschule  gegeben,  oder  gefordert,  denn  die  Verwirklichung 
der  Idee  ließ  freilich  auf  sich  warten,  ja  die  Kirche  verlernte  wohl  mehr 
und  mehr,  die  Angelegenheit  als  eine  dringliche  anzusehen:  Beichtunterricht 
und  Predigt  schienen  für  die  Belehrung  des  Laientums  auszureichen.  Ein 
wirkliches  Schulwesen  ist  von  dem  andern  Punkt  ausgegangen:  die  Not- 
wendigkeit, dem  Klerus  eine  für  seinen  hohen  und  umfassenden  Beruf 
befähigende  Vorbildung  zu  geben,  führte  zur  Begründung  eigentlicher 
kirchlicher  Unterrichtsanstalten:  es  sind  die  Kloster-  und  Dom  schulen 
des  Mittelalters.  In  ihnen  erhielt  der  geistliche  Stand  die  Ausstattung 
mit  allen  den  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  die  für  die  Verwaltung  des 
Kirchendienstes  und  der  Predigt,  des  Kirchenrechts  und  der  Kirchenzucht 
für  erforderlich  geachtet  wurden,  worunter  denn  die  Erlernung  der  Kirchen- 
sprache natürlich  das  Erste  war.  Die  weltliche  Gewalt  ließ  der  Kirche 
völlig  freie  Hand,  oder  wenn  sie  sich  einmischte,  wie  es  Karl  d.  Gr.  durch 
eine  Reihe  von  Verordnungen  tat,  so  geschah  es  nicht  im  Gegensatz  zur 
Kirche,  sondern  kraft  der  Vollmacht,  die  dem  Kaiser  als  Schirmvogt  der 
Kirche  zuzustehen  schien,  und  durch  die  kirchlichen  Organe,  Synoden  und 
Bischöfe.  Das  ganze  Mittelalter  hindurch  gilt  die  Anschauung  unbestritten, 
daß  alle  Lehre  und  aller  Unterricht  von  der  geistlichen  Gewalt  ausgeht 
und  ihrer  Herrschaft  untersteht.  Daran  ist  auch  durch  die  Universitäten, 
die  seit  dem  \2.  Jahrhundert  zunächst  in  der  Form  privilegierter  privater 
Korporationen,  dann  auch  als  Gründungen  der  geistlichen  und  weltlichen 
Gewalt  entstanden,  nichts  Wesentliches  geändert  worden;  als  Lehranstalt 
(Studium  generale)  wurden  sie  von  der  Kirche  errichtet  und  beaufsichtigt, 
wenn  sie  auch    im  übrigen    nicht    dem  Gebiet    der  kirchlichen   X'erwaltung 


y8  I'Kii'riRicii    I'.M'iskn:    I);is  modorne   BiUlungswcscn. 

aiig-ohörten.  Und  dasselbe  gilt  von  den  Stadtschulen,  die  mit  dem 
Wachstum  des  Städtewesens  seit  dem  13.  Jahrhundert  in  großer  Zahl  ent- 
standen. Wenn  auch  ein  allmähliches  Erstarken  des  weltlichen  Wesens  an 
beiden  Punkten  sich  ankündigte,  so  behielten  doch  Unterricht  und  T.ebens- 
ordnungen  kirchlichen  Zuschnitt.  Freilich  gab  es  neben  diesem  klerikalen 
Bildungswesen  des  Mittelalters  auch  eine  rein  weltliche  Erziehung,  die 
ritterliche,  für  den  Herren-  und  Kriegerstand.  Doch  hat  sie  es  nicht  zu 
öffentlichen  Anstalten  gebracht.  Und  ebenso  ist,  was  von  deutschen  Lese- 
und  Schreibschulen  in  den  Städten  vorhanden  ist,  meist  bloße  Privat- 
untemehmung. 
Neuzeit.  Einen    entscheidenden    Wendepunkt    auch    in    der    Entwicklung     des 

ßildungswesens  brachte  das  16.  Jahrhundert,  das  große  Revolutions- 
jahrhundert, in  dem  sich  mit  der  Renaissance  und  der  Reformation  die 
Neuzeit  vom  Mittelalter  loslöste.  Der  moderne  Staat  befestigte  sich 
als  selbständige  Lebensform  unabhängig  von  der  Gesellschaft  und  der 
Kirche;  in  den  protestantischen  Gebieten  übernahm  er  auch  das  Kirchen- 
regiment und  damit  fiel  ihm  von  selber  das  Schulregiment  in  die  Hände. 
In  dem  Maße,  als  er  sich  zur  umfassenden  Form  alles  Gemeinschaftslebens 
ausbildete,  wurde  die  Fürsorge  für  die  Erziehung  und  Bildung  der  Jugend 
zu  einer  immer  wichtigeren  Aufgabe.  Die  fortschreitende  Verstaatlichung 
der  Verwaltung  und  die  zunehmende  Verweltlichung  der  Bildungsziele 
und  Bildungsmittel,  das  sind  die  herrschenden  Züge  in  der  Geschichte  des 
Bildungswesens  der  Neuzeit. 
Staatliche  Volks-         Das   tritt  in  allen  Formen   und  Stufen   des  Unterrichtswesens  zutage. 

schule,  _.,         .  *-•         . 

So  im  Gebiet  der  allgemeinen  Volksschule,  deren  Geschichte  eigentlich 
doch  erst  mit  dem  16.  Jahrhundert  beginnt.  Der  erste  Anstoß  zur  Ver- 
wirklichung der  Idee  eines  allgemeinen  Unterrichts  ist  freilich  auch  jetzt 
von  religiös -kirchlichen  Antrieben  ausgegangen.  Die  Reformation  mit 
ihrer  Betonung  der  Lehre  statt  des  Kults  und  ihrer  Idee  des  allgemeinen 
Priestertums  nötigte,  mit  der  immer  anerkannten  Pflicht  einer  allgemeinen 
Christenlehre  der  Jugend  Ernst  zu  machen;  und  ihr  Vorangang  führte  hier 
wie  an  anderen  Punkten  zur  Nachfolge  der  katholischen  Welt.  Aber 
schon  im  16.  Jahrhundert  sind  die  allgemeinen  Schulordnungen  von  der 
weltlichen  Gewalt  erlassen.  Und  im  17.  Jahrhundert  haben  zuerst  einige 
kleine  mitteldeutsche  Territorien  das  Prinzip  der  allgemeinen  staatsbürger- 
lichen Schulpflicht  durchgeführt:  Schulerhaltungspflicht  für  die  Gemeinden, 
Schulbesuchspflicht  für  die  Familien.  Im  Verlauf  des  18.  Jahrhunderts 
sind  die  größeren  protestantischen  Staaten  mit  der  Durchführung  des 
Prinzips  des  Schulzwangs  gefolgt  und  im  Zeitalter  der  Aufklärung 
schlössen  sich  auch  die  katholischen  .Staaten  Deutschlands  an.  Im  19.  Jahr- 
hundert endlich  hat  das  Prinzip  seinen  Siegeslauf  durch  alle  Länder  der 
europäischen  Zivilisation  vollendet;  es  wird  jetzt  überall  als  eine  Pflicht 
der  staatsbürgerlichen  Gesellschaft  anerkannt,  einerseits  für  das  Angebot 
eines  elementaren  Unterrichts  aus  staatlichen  und  Gemeindemitteln  Sorge 


V.  Überblick  üb.  d.  öflcnll.  Verfassung  des  Bildungswesens  in  seiner  geschieht!.  Kniwicklung.      -jq 

ZU  tragen,  andererseits  seine  Benutzung  seitens  der  gesamten  männlichen 
und  weiblichen  Jugend  zu  überwachen  und  zu  erzwingen.  Selbst  das 
gegen  den  staatlichen  Zwang  so  spröde  England  hat  sich  dem  Zug  der 
Zeit  nicht  verschließen  können. 

Gleichzeitig  hat  eine  innere  Entwicklung  in  dem  Sinne  stattgefunden, 
daß  an  die  Stelle  des  kirchlich-konfessionellen  Bildungsideals:  Bindung  des 
Individuums  durch  Kirchenlehrc  und  Kirchenzucht,  mehr  und  mehr  das 
Ideal  freier  Entwicklung  der  menschlichen  Persönlichkeit  und  aller  ihrer 
geistig-sittlichen  Kräfte,  das  Ideal  der  „Humanitätsbildung"  durchgedrungen 
ist.  Die  Pädagogik  der  Aufklärung  hat  in  diesen  Dingen,  trotz  mancher 
Schwankungen  und  Rückfälle,  den  Sieg  davongetragen.  Auch  die  Durch- 
führung g^-mnastischer  Übungen  als  eines  Teils  der  öffentlichen  Erziehung 
liegt  in  dieser  Richtung.  Mit  der  inneren  Wandlung  geht  Hand  in  Hand 
die  fortschreitende  Verweltlichung  des  Lehrerstandes  und  der  Schulauf- 
sicht Seit  der  allmählichen  Durchführung  einer  besonderen  Berufsbildung 
der  Volksschullehrer  auf  den  Seminaren,  deren  Begründung  von  der  Mitte 
des  i8.  Jahrhunderts  ab  ebenfalls  eine  Frucht  der  Aufklärung  ist,  hat  der 
Lehrenstand  mehr  und  mehr  aufgehört,  zu  den  „niederen  Kirchendienern" 
zu  zählen.  Andererseits  hat  der  Geistliche  aufgehört,  die  Schulaufsicht 
als  einen  Teil  des  Kirchenamts  zu  besitzen,  er  übt  sie,  soweit  es  der  Fall 
ist,  im  Staatsauftrag;  und  auf  den  oberen  Stufen  ist  sie  durchweg  in  die 
Hand  von  weltlichen,  in  der  Regel  aus  dem  Schuldienst  hervorgehenden 
Berufsbeamten  gelegt  worden. 

Ich  will  auf  die  Entwicklung  des  gelehrten  Schulwesens  nicht Gekhrtenscimir. 
näher  eingehen,  sie  ist  im  großen  denselben  Weg  gegangen:  weltliche 
Lehrer,  weltliche  Wissenschaften  und  weltliche  Verwaltung  haben  den 
theologisch-kirchlichen  Zuschnitt  der  alten  Lateinschulen  beinahe  vollstän- 
dig verwischt.  Und  von  den  Universitäten  gilt  dasselbe.  Oder  viel- 
mehr, sie  haben  zuerst  den  Charakter  von  reinen  Staatsanstalten  ange- 
nommen und  zuerst  und  am  vollständigsten  die  kirchliche  Gebundenheit 
der  Lehre  abgestreift,  ohne  jedoch  dafür  eine  staatliche  Bindung  einzu- 
tauschen: sie  sind  seit  dem  i8.  Jahrhundert  im  ganzen  auf  das  Prinzip  der 
Freiheit  oder  der  Selbstregulierung  der  Wissenschaft  und  des  wissen- 
schaftlichen Unterrichts  gestellt.  Auch  hierin  ist  Deutschland  voran- 
gegangen. 

Das  wäre  in  großen  Zügen  der  Entwicklungsgang  des  deutschen 
Bildungswesens.  Im  ganzen  zeigen  die  Nachbarländer  ein  ähnliches  Bild, 
wenn  auch  nicht  ohne  beträchtliche  Besonderheiten.  In  England,  wo  die 
Suatsverwaltung  so  viel  später  und  so  viel  unvollkommener  sich  entwickelt 
hat,  ist  der  Einfluß  der  Religionsgemeinschaften  auf  das  Erziehungswesen 
größer,  besonders  im  Gebiet  der  Volksschule;  und  das  Mittelschul wesen 
ist,  außer  einigen  alten  Stiftungsschulen,  auch  heute  noch  in  weitem  Um- 
fang der  Privatunternehmung  überlassen.  In  Frankreich  aber  besteht, 
oder   kann   man   jetzt   sagen   be.stand?   .seit  der  großen   Revolution   neben 


8o  FkiI'DRK  M    I'ai'i.skn:    V>:is  modniir   BiUlimsswpsPii. 

einem  rein  staatlichen,  büreaukratisch  verwalteten  Unterrichtswesen  ein 
„freies",  d.  h.  von  der  Kirche  und  den  kirchlichen  Orden  geleitetes  Schul- 
wesen, bis  hinauf  zur  „freien"  Universität. 

VI.  Ausblick  auf  die  Zukunft.  Wenn  es  zum  Schluß  gestattet 
ist,  einer  auf  die  Beachtung  des  zurückgelegten  Weges  gestützten  Ver- 
mutung über  die  künftige  Entwicklung  des  Bildungswesens  Raum  zu 
geben,  so  sehe  ich  zweierlei  voraus.  Das  erste  ist:  fortschreitende  Aus- 
dehnung der  gesellschaftlichen  Fürsorge,  das  andere:  zunehmende  Verselb- 
ständigung des  Bildungswesens  innerhalb  des  Rahmens  der  allgemeinen 
Staats\erwaltung. 
Weiu-reZunahme  Zum  crsten  bemerke  ich:  Die  öffentliche  Fürsorge,  die  im  letzten 
'sorge  für  die  Er  Jahrhundert  so  erstaunliche  Fortschritte  gemacht  hat,  Zeugnis  dessen  der 
Staats-  und  Gemeindehaushalt  in  allen  Kulturländern,  wird  an  Ausdehnung 
weiter  gewinnen,  vor  allem  im  Gebiet  der  allgemeinen  Volkserziehung, 
und  zw'ar  nach  unten  und  nach  oben.  Nach  unten  durch  die  Fürsorge  für 
die  ersten  Jugendjahre:  das  großstädtische  und  großindustrielle  Leben  mit 
seiner  Beeinträchtigung  des  häuslichen  Lebens,  man  denke  an  die  Woh- 
nungsverhältnisse der  Massen  und  die  Verwendung"  der  Frau  zur  Arbeit 
außer  dem  Hause,  macht  den  Ersatz  durch  gesellschaftliche  Fürsorge 
mehr  und  mehr  zur  Notwendigkeit;  die  „Kindergärten",  die  in  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  sich  über  die  ganze  Erde  ausgebreitet 
haben,  zeigen  den  Weg.  Nach  oben  durch  die  früher  besprochene  Weiter- 
bildung der  Anfänge  der  Fortbildungsschule  zu  einer  allgemeinen  „Volks- 
hochschule". Und  auch  nach  der  Richtung  mag  die  öffentliche  Fürsorge 
sich  erweitern,  daß  für  die  Ausbildung  hervorragend  begabter  Kinder 
unbemittelter  Familien  notwendige  Mittel  in  weiterem  Umfang  zur  Ver- 
fügung gestellt  werden:  Talente  sind  der  kostbarste  Schatz,  den  ein  Volk 
besitzt.  Endlich  noch  in  der  Richtung,  daß  bei  vollständigem  Versagen 
der  Familienerziehung  rechtzeitig  öffentliche  Ei-ziehung  eintritt;  das 
preußische  Fürsorgeerziehungsgesetz  vom  Jahre  1901  eröffnet  hier  der 
Entwicklung  weiten  Spielraum.  An  eine  allgemeine  Ersetzung  und  Ver- 
drängung der  Familienerziehung  durch  gesellschaftliche  Einrichtungen, 
wovon  utopische  Gesellschaftsreformer  träumen,  wird  allerdings  nicht  zu 
denken  sein.  Das  hieße  der  Familie  ihr  erstes  Recht  und  ihre  erste 
Pflicht  nehmen  und  sie  in  der  Wurzel  zerstören;  das  Eintreten  öffentlicher 
Erziehung  muß  als  eine  Minderung  des  Elternrechts  und  der  Familienehre 
empfunden  werden. 
Autonome  Zum   Zweiten   bemerke    ich:    ich   halte    es   für   nicht    unwahrscheinlich, 

2ieh"uo|sn°e''sei!s  daß  die  Loslösung  der  Schule  von  der  Kirche,  die  Sonderung  des  Lehrer- 
standes vom  geistlichen  als  selbständiger  Berufsstand,  ihre  Fortsetzung 
finden  wird  in  einer  entsprechenden  Herauslösung  des  Lehrerstandes  aus 
dem  Staatsbeamtentum,  und  einer,  nicht  Lösung,  aber  doch  Lockerung  des 
Verhältnisses  der  Schule  zum  politischen  Gemeinwesen.    Oder  mit  anderen 


VI.  Ausblick  auf  die  Zukunft.  8l 

Worten:  als  das  Ziel  der  Bewegung  erscheint  mir  eine  relative  Autonomie 
des  Bildungswesens  im  Rahmen  der  allgemeinen  Staatsverwaltung. 

Am  weitesten  vorgeschritten  ist  in  dieser  Richtung  die  Universität; 
sie  hat  im  1 9.  Jahrhundert,  was  ihre  eigentliche  Wirksamkeit,  die  Forschung 
und  Lehre,  anlangt,  dies  Ziel  so  gut  als  erreicht.  Aber  auch  das  niedere 
Schulwesen  bewegt  sich  in  dieser  Richtung;  vor  allem  ist  eins  sichtbar: 
die  Leitung  und  Aufsicht  im  Gebiet  des  Schulwesens  ist  immer  mehr  aus 
der  Hand  von  Theologen  und  Juristen  in  die  Hände  von  Pädagogen,  von 
Fachleuten  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  übergegangen.  Das  gilt 
im  Gebiet  der  höheren  Schulen  wie  der  \'olksschule:  eine  Art  Selbst- 
bestimmung und  Selbstregulierung  des  Bildungswesens  in  Absicht  auf  die 
inneren  Angelegenheiten  scheint  sich  darin  als  das  Ziel  der  Bewegung 
anzukündigen. 

Zunächst  wird  angenommen  werden  dürfen,  daß  das  neue  Jahrhundert 
nicht  zu  Ende  gehen  wird,  ohne  die  Schulaufsicht,  trotz  widerstrebender 
Tendenzen,  auch  trotz  bestehender  innerer  Bedenken,  ganz  in  die  Hände 
von  pädagogischen  Fachmännern  gebracht  zu  haben.  Die  Ausübung  der 
Schulaufsicht  durch  Kirchenbeamte,  soweit  sie  im  Gebiet  der  Volksschule 
noch  vorhanden  ist,  wird  sich  immer  mehr  als  sachlich  unzulänglich  er- 
weisen, und  von  dem  Lehrerstande  wird  sie  als  herabdrückende  Fremd- 
herrschaft empfunden.  Die  Entwicklung  des  höheren  Schulwesens  zeigt 
hier  den  Weg. 

Ein  weiterer  wichtiger  Schritt  auf  dem  Wege  zur  Verselbständigung 
des  Bildungswesens  wäre  die  Errichtung  eines  besonderen  Unterrichts- 
ministeriums. Die  Loslösung  vom  Kultusministerium,  einem  im  streng.sten 
Sinne  politischen  Ministerium,  würde  der  Verwaltung  des  Erziehungswesens 
einen  bedeutsamen  Zuwachs  an  .Selbständigkeit  und  Stabilität  geben;  die 
Erschütterungen,  denen  es  ausgesetzt  ist,  .stammen  immer  aus  der  Sphäre 
der  Kirchenpolitik.  Und  ein  fernerer  Schritt  wäre  die  Errichtung  eines 
ständigen  Landesschulrats  an  .Stelle  der  von  Fall  zu  Fall  berufenen  Schul- 
konferenzen. Aus  dem  Lehrkörper  aller  Stufen  und  aus  berufenen  Ver- 
trauensmännern hervorgehend,  würde  er,  als  beratende  Instanz  der  aus- 
führenden Verwaltung  beigegeben,  die  politischen  Körperschaften  in 
einigem  Maße  von  den  nicht  immer  sachlichen  und  fruchtbaren  .Schul- 
debatten entlasten  kimnen;  wären  auch  in  diesem  Erziehungsrat  politische 
und  kirchliche  Motive  nicht  überhaupt  ausgeschaltet,  so  würden  sie  doch 
nicht  in  dem  Maße  über  die  pädagogischen  das  Übergewicht  haben,  als 
in  den  politischen  Versammlungen. 

Hätte  endlich  die  Erfüllung  dieser  beiden  schon  oft  ausgesprochenen  Lo»i»siing  von 
Erwartungen  die  weitere  Folge,  daß  der  Abstand  des  Lehrerstandes  vom 
eigentlich  politischen  Beamtentum  etwas  größer  würde,  daß  der  Einfluß 
politischer  und  kirchenpolitischer  Parteitendenzen  mehr  und  mehr  aus 
diesem  Gebiet  zurückwiche,  daß  auch  die  bureaukratischen  Formen  des 
Gebietens    und  Reglementierens,   der   Inspektion    und   Kontrolle    in  immer 

DlV.    Kl'LTI'R    DER    GBOE:fWART.      I.    I.  <" 


82  Frikdrich   I'aiu.skn:    Das  moderne  BiUlungswesen. 

weiterem  Maße  durch  sachkundige  Leitung  und  pädagogische  Beratung 
gemildert  würden,  so  würde  der  Lehrerstand  die  große  und  wichtige  Aut- 
gabe, die  im  Leben  des  Volks  ihm  obliegt,  mit  mehr  Freiheit  und  Freude, 
mit  mehr  Ruhe  und  Frieden  erfüllen.  Erziehung  und  Bildung  der  Jugend 
ist  kein  Schablonenwerk;  alle  tiefere  Wirksamkeit  beruht  hier  auf  der 
freien  Betätigung  höchst  persönlicher  Kraft.  Und  auch  das  ist  mit  Recht 
gesagt  worden:  die  Erziehung  ist  nicht  eine  Sache  der  Politiker;  die  Auf- 
gabe des  Politikers  und  des  politischen  Beamten  liegt  in  der  Gegenwart, 
er  muß  tun,  was  der  Augenblick  fordert;  die  Aufgabe  des  Erziehers  liegt 
in  der  Zukunft,  er  blickt  auf  das,  was  kommen  will,  auf  die  Idee  des 
Vollkommenen.  Wenn  es  wahr  wäre,  jenes  Wort,  daß,  wer  die  Schule  hat, 
die  Zukunft  hat,  dann  dürfte  die  Schule  am  wenigsten  den  Politikern  aus- 
geantwortet werden. 
Notwendige  Neu-  Noch  eine  notwendige  Wandlung  würde  durch  die  Verselbständigung- 
ReiigioDsunter-  des  Erziehungsweseus  erleichtert:  die  Neugestaltung  des  Religionsunter- 
richts. Der  schulmäßige  Religionsunterricht  ist  ein  Werk  der  Reformation, 
dessen  sie  sich  rühmt:  die  alte  Kirche  habe  gar  keinen  Unterricht  der 
Jugend  im  Christentum.  Die  neue  Kirche  legte  auf  die  „reine  Lehre"  das 
entscheidende  Gewicht  und  sah  darum  schon  die  Unterweisung  und  Be- 
festigung der  Jugend  in  Katechismus  und  Schrift  für  eine  notwendige 
Aufgabe  an. 

Dieser  altprotestantische  Religionsunterricht,  und  ebenso  der  nach 
seinem  Vorbild  eingerichtete  katholische,  hat  drei  Dinge  zur  Voraus- 
setzung: daß  die  Schulen  in  erster  Linie  semiiiaria  ccclesiac  sind;  daß  die 
Lehrer  ihrem  Wesen  nach  zu  den  Kirchendienern  gehören,  wenn  sie  auch 
nicht  im  eigentlichen,  höheren  Kirchendienst  stehen;  endlich  daß  das  Be- 
kenntnis der  Kirche  Ausdruck  des  wirklichen,  persönlichen  Glaubens  der 
Lehrer  und  der  Eltern  ist. 

Keine  dieser  drei  Voraussetzungen  trifft  für  die  Gegenwart  noch  zu. 
Die  Schulen  sind  heute  Anstalten  des  Staats  und  der  weltlichen  Gemeinde, 
die  Schulordnungen  sind  nicht  mehr,  wie  im  i6.  Jahrhundert,  ein  Stück 
der  Kirchenordnung.  Ferner,  die  Lehrer  haben  aufgehört,  Kirchendiener 
zu  sein,  sie  bilden  einen  Berufsstand  mit  eigener,  in  Staatsanstalten  er- 
worbener Berufsbildung.  Endlich,  das  Bekenntnis  ist  nicht  mehr  der 
spontane  Ausdruck  der  persönlichen  Überzeugung  aller  oder  auch  nur  der 
Mehrzahl  derer,  die  als  Angehörige  der  katholischen  oder  evangelischen 
Kirche  in  die  Listen  eingetragen  werden.  Das  gilt  eingestandenermaßen 
von  sehr  zahlreichen  Gliedern  der  evangelischen,  uneingestandenermaßen 
auch  der  katholischen  Kirche.  Lehrer  und  Eltern  stehen  nicht  mehr  auf 
dem  Boden  der  Welt-  und  Lebensanschauung,  auf  dem  die  Bekenntnis- 
formeln des  i6.  Jahrhunderts  erwachsen  sind.  Im  besonderen  die  Lehrer, 
auch  die  Lehrer  der  Volksschule;  sie  wissen  zu  viel  von  all  den  Dingen, 
die  sich  seit  dreihundert  Jahren  im  Gebiet  der  Naturwissenschaften  und 
der  geschichtlichen  Kritik  zugetragen  haben,  um  zur  Schrift  und  zum  Be- 


VI.  Ausblick   auf  die  Zukunft.  83 

kenntnis  noch  dieselbe  Stellung  einnehmen  zu  können,  wie  ihre  Vorgänger 
vor  zweihundert  oder  dreihundert  Jahren.  Und  dasselbe  gilt  von  den 
Eltern,  wobei  man  noch  gar  nicht  einmal  an  die  durch  die  sozialdemo- 
kratische Massenliteratur  beeinflußten  zu  denken  braucht. 

Nur  der  Religionsunterricht  ist  von  allen  diesen  Wandlungen  in  der 
Hauptsache  unberührt  geblieben.  Er  fährt  fort  das  Bekenntnis  in  allen 
seinen  Bestandteilen  als  die  gewisseste  Wahrheit,  die  Schrift  als  das 
untrüglichste  Beweismittel,  die  Befestigung  in  der  reinen  Lehre  als  das 
Ziel  zu  behandeln.  Die  Folge  ist,  daß  zwischen  dem,  was  im  Religions- 
unterricht gelehrt  und  gelernt,  gesagft  und  bekannt  wird,  und  den  wirk- 
lichen Anschauungen  und  Überzeugungen  der  Lehrer  und  auch  schon  der 
Schüler  ein  klaffender  Zwiespalt  ist.  Die  weitere  Folge  ist  bei  einigen 
eine  wirkliche  Gewissensnot,  bei  vielen  eine  Abstumpfung  des  Wahrheits- 
sinnes, bis  zur  vollkommenen  Gleichgültigkeit,  vielleicht  bei  noch  mehreren 
eine  wirkliche  Feindschaft  gegen  die  Kirche  und  gegen  die  Religion. 
Haeckels  Welträtsel,  die  in  kurzem  ihren  Weg  durch  die  Hände  der  Lehrer, 
der  Eltern  und  vielfach  auch  schon  der  Schüler  unserer  Schulen  gemacht 
haben  werden,  sie  sind  die  Antwort  darauf,  daß  unser  Religionsunterricht 
fortfährt  die  Tatsache  zu  ignorieren,  daß  wir  nicht  im  16.,  sondern  im 
20.  Jahrhundert  leben. 

Der  längst  notwendigen,  viel  zu  lange  hinausgeschobenen  Neugestal- 
tung des  Religionsunterrichts  würde  durch  die  angedeutete  Verselbständi- 
gung des  Bildungswesens,  durch  die  Lockerung  des  Verhältnisses  der 
Schule  zur  Politik,  vor  allem  zur  Kirchenpolitik  der  Weg  geebnet  werden. 
Unter  rein  pädagogischen  Beratern  der  Schule  dürfte  sich  bald  Überein- 
stimmung darüber  ergeben,  daß  die  vorhandene  Ordnung  des  Religions- 
unterrichts den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  nicht  mehr  angemessen,  daß 
seine  Fortdauer  gefährlicli  für  die  Religion  und  für  den  Wahrheitssinn 
sei.  Eben.so  aber  auch  darüber,  daß  es  nicht  möglich  sei,  den  Religions- 
unterricht überhaupt  aus  der  Schule  zu  beseitigen,  wie  es  in  den  west- 
lichen Ländern  meist  geschehen  ist  und  wie  es  von  radikalen  Politikern 
auch  uns  empfohlen  wird.  Das  Christentum  ist  ein  zu  großes  Stück  un- 
seres geschichtlichen  Lebens,  als  daß  ein  Unterricht,  der  die  Bestimmung 
hat,  in  das  Verständnis  des  geistigen  Lebens  der  Gegenwart  einzuführen,  an 
ihm  vorübergehen  dürfte;  es  gibt  in  der  Geschichte  der  Literatur,  der 
Malerei  und  Bildnerei,  der  Architektur,  der  Musik,  der  Philosophie,  der 
Wissenschaft,  der  Sitten  keinen  Punkt,  groß  genug,  den  Finger  darauf  zu 
setzen,  ohne  daß  man  die  Spuren  jener  großen  geschichtlichen  Lebens- 
macht berührt,  die  wir  das  Christentum  nennen.  Es  kann  sich  also  nur 
um  eine  Wandlung  in  der  F'orm  des  Religionsunterrichts  handeln,  oder 
vielmehr  um  die  Vollendung  der  Wandlung,  die  sich  doch  schon  anzu- 
bahnen begonnen  hat:  die  Aufgebung  des  eigentlich  konfessionell-dogma- 
tischen Unterrichts  und  .seine  Ersetzung  durch  einen  historisch-exegetischen, 
durch  „Christentumslehre",  wie  im  Norden  sinnreich  der  Religionsunterricht 


8d  Frikdrich  Paui-skn:    Das  moderne  Hildungswesen. 

genannt  wird.  Wir  müssen  das  Christentum  in  der  Schule  behandehi  als 
das,  was  es  unzweifelhaft  ist:  ein  unermeßlich  wichtiges  Stück  unseres 
geschichtlichen  Lebens,  und  aufhören  es  zu  behandeln  als  das,  was  es  nicht 
ist,  wenigstens  ursprünglich  nicht  ist,  und  was  es  auch  für  uns  nicht  mehr 
sein  kann:  ein  dogmatisches  Lehrgebäude.  Die  Aufgabe  des  Unterrichts 
wird  also  keine  andere  sein  als  die:  mit  den  großen  Denkmälern  dieses 
religiösen  Lebens,  wie  sie  vor  allem  im  Neuen  und  auch  im  Alten  Testa- 
ment gesammelt  sind,  die  Jugend  bekannt  zu  machen  und  in  lebendige 
Berührung  zu  bringen.  Je  unbefangener  wir  die  Dinge  hier,  wie  in  jedem 
andern  literarischen  Unterricht,  durch  sich  selbst  wirken  lassen,  je  mehr 
wir  vor  zudringlichem  Auf-  und  Einreden,  ebenso  aber  auch  vor  Ver- 
frühung  und  dadurch  herbeigeführter  Abstumpfung  uns  in  acht  nehmen, 
desto  eher  wird  auch  eine  Einwirkung  auf  das  religiöse  Empfinden  der 
Jugend  erwartet  werden  dürfen.  Was  hier  wirkt  und  immer  gewirkt  hat, 
ist  doch  nicht  die  Formel,  sondern  die  Anschauung  wahrhaft  religiösen 
Lebens  in  konkreter,  persönlicher  Gestalt.  Die  Formel  bindet,  der  Buch- 
stabe tötet,  der  Geist  macht  lebendig.  Oder  ist  es  nicht  so,  daß  gegen- 
wärtig die  Inspirationstheorie  die  heiligen  Schriften,  die  Theorie  von  der 
„Gottheit"  Christi  und  was  daran  hängt  die  Person  Jesu  in  weitesten 
Kreisen  um  ihre  Wirkung  bringt?  Nicht  der  Person  und  nicht  der  Schrift 
gilt  eigentlich  jene  Abneigung,  sondern  der  Formel, 

Goethe  hat  auch  hier  alles    gesagt:    Mir    ist  klar,    heißt    es    in    den 
Sprüchen  in  Prosa:    schaden  wird   die  Bibel,    wie  bisher,  dogmatisch  und 
phantastisch  gebraucht;  nützen,  wie  bisher,  didaktisch  und  gefühlvoll  auf- 
genommen. 
Konfession  und  Durch  eine  solche  Wandlung  würde  aber  ferner  vorbereitet,  was  auch 

einmal  kommen  muß:  ein  unbefangenes  Verhältnis  der  Schule  zum  Unter- 
schied der  Konfessionen.  Gewiß  ist  mit  Dörpfeld  zu  sagen:  das  Natür- 
liche und  an  sich  Erwünschte  ist  die  Einheit  der  Konfession.  Die  Mischung 
der  Konfessionen  in  der  Schule  bringt  notwendig  Hemmungen  und  Rei- 
bungen mit  sich,  Hemmungen,  die  sich  doch  auch  in  andern  Fächern,  in 
der  Geschichte  z.  B.  und  im  sprachlich-literarischen  Unterricht  geltend 
machen.  Und  gewiß  ist  es  nicht  weise,  einer  widerwilligen  Bevölkerung 
ohne  Not  die  Simultanschule  aufzuzwingen.  Auf  der  andern  Seite  darf 
man  aber  die  Schonung  konfessioneller  Empfindlickeit  oder  die  Duldung- 
kirchlicher Unduldsamkeit,  denn  der  Widerstand  wird  fast  immer  nicht 
von  den  Laien,  sondern  von  Geistlichen  ausgehen,  nicht  zu  einem  uner- 
träglichen Hemmnis  gesunder  Entwicklung  des  Bildungswesens  werden 
lassen.  Und  gewisse  Hemmungen,  die  aus  der  Anwesenheit  „Anders- 
gläubiger" dem  Unterricht  erwachsen,  wird  man  weder  in  pädagogischer 
noch  in  nationaler  Absicht  als  ein  Unglück  ansehen  dürfen:  wird  es  da- 
durch unmöglich,  im  Geschichtsunterricht  Luther  als  den  Auswurf  der 
Menschheit,  wie  er  jüngst  noch  wieder  von  Denifle  geschildert  worden 
ist,  oder  umgekehrt  den  Papst  als  den  Antichrist  darzustellen,   so  ist  das 


VI.  Ausblick  auf  die  Zukunft.  gc 

kein  \'crlust.  Ein  Staat  mit  durchgängig  gemischter  Bevölkerung  kann 
die  reinliche  .Scheidung  der  Konfessionen  in  der  Staatsschule  doch  nicht 
wohl  als  das  an  sich  zu  erstrebende  Ziel  ansehen;  er  wird  vielmehr  im 
Interesse  des  inneren  Friedens,  wie  die  Mischung  der  Bevölkerung,  so 
auch  die  Berührung  der  Jugend  in  der  Schule  als  wünschenswert  zu  be- 
trachten nicht  umhin  können. 

Aber,  wird  man  sagen,  die  Kirchen  würden  dabei  den  letzten  Einfluß 
auf  die  Erziehung  verlieren.  —  Ich  meine:  nicht  notwendig;  das  Beispiel 
Amerikas  zeigt  es.  Sie  könnten,  was  sie  an  äußerer  Macht  einbüßten,  an 
innerem  Einfluß  wieder  einbringen.  Ist  die  Kirche  im  geistig-sittlichen 
Leben  des  Volkes  eine  Macht,  so  wird  sie  auch  auf  die  Erziehung  indirekt 
einen  sehr  starken  Einfluß  haben,  während  das  Festhalten  einer  bloß  äußer- 
lichen Machtstellung  jenes  innere  Widerstreben  hervorruft.  Das  gilt 
wenigstens  für  die  protestantische  Kirche:  jeder  politische  Druck  zu  ihren 
Gunsten  entfremdet  ihr  die  Seelen.  Für  die  katholische  Kirche  liegen 
die  Verhältnisse  etwas  anders;  sie  hat  den  Vorteil,  daß  sie  in  die  Lage 
kommen  kann,  verfolgt  zu  werden  und  „Märtyrer"  zu  haben. 


Literatur. 

I.  Nachschlagewerke. 

K.  A.  ScHMll),  Enzyklopädie  des  gesamten  Erziehungs  und  Unterrichtswesens,  lo  Bde., 
2.  Aufl.  (1876  fr.),  fortgeführt  von  W.  Schrader. 

\V.  Rein,  Enzyklopädisches  Handbuch  der  Pädagogik.  7  Bde.  (1895  {(.).  2.  Aufl.  im 
Erscheinen. 

(Das  erste  Werk  behält  seinen  Wert  vor  allem  durch  die  historischen  Artikel,  das 
zweite  steht  der  Gegenwart  näher  und  orientiert  über  alle  jüngsten  Bestrebungen  in  der 
Theorie  und  Praxis.) 

II.  Geschichtliche  Darstellungen. 

K.  A.  SCHMID  und  G.  SCHMID,  Geschichte  der  Erziehung  vom  Anfang  bis  auf  unsere 
Zeit.  5  Bde.  in  zahlreichen  Abteilungen  (1884 — 1902).  (Eine  reichhaltige  Sammlung  von 
Monographien ,   doch   ungleichen  Werts  und  ohne   durchgreifende  Organisation  des  Ganzen.) 

K.  V.  R.\UMKR,  (jeschichte  der  Pädagogik  seit  dem  Wiederaufblühen  klassischer  Studien 
bis  auf  unsere  Zeit.  4  Bde.,  3.  (letzte  vom  Verf.  besorgte)  Auflage  (1857).  (Die  beiden  ersten 
Bände  enthalten  eine  frische,  aus  den  Quellen  geschöpfte  Darstellung  der  führenden  Männer 
in  der  Geschichte  des  Bildungswesens  der  Neuzeit  bis  auf  Pestalozzi.) 

Friedrich  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  auf  den  deutschen  Schulen 
und  Universitäten ,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  klassischen  Unterricht.  2  Bde., 
2.  Aufl.  (1896). 

III.  Darstellungen  der  Verfassung  und  Verwaltung  des  Unterrichtswesens. 

Lorenz  V.  Stein,  Die  Verwaltungslehre.  V.Teil:  Das  Bildungswesen.  1.  Aufl.  1868, 
2.  Aufl.  3  Bde.  1883/4.  (Die  Übersicht  der  i.  Auflage  über  die  verwaltungsrechtliche  Ge- 
staltung des  Bildungswesens  in  den  verschiedenen  Ländern  hat  durch  die  breite  und  un- 
fundierte historische  Darstellung  der  2.  Aufl.  nicht  gewonnen.) 

A.  Baumeister,  Die  Einrichtung  und  Verwaltung  des  höheren  Schulwesens  in  den 
Kulturländern  von  Europa  und  Nordamerika  (1897).  (Das  vortrefTliche,  von  zahlreichen  Mit- 
arbeitern aus  allen  Ländern  geschaffene  Werk  bildet  die  2.  Abt.  des  I.  Bandes  von  A.  Bau- 
meisters Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  höhere  Schulen.) 

R.  Sendler  und  O.  Kobel,  Übersichtliche  Darstellung  des  Volkserziehungswesens  der 
europäischen  und  außereuropäischen  Kulturvölker.  2  Bde.  (1900/1).  (Gibt  die  jüngste  orien- 
tierende Übersicht  über  das  geltende  Recht  für  das  Gebiet  der  Volksschule  in  den  Haupt- 
ländern.) 

IV.  Pädagogische  Werke. 

Theodor  Waitz,  Allgemeine  Pädagogik,  i.  Aufl.  1852,  4.  Ajfl.  1899.  Herausgegeben 
von  O.  Willmann.     (Ein  Werk,  das  seine  Stellung  noch  gegenwärtig  behauptet.) 

Otto  Willmann,  Didaktik  als  Bildungslehre  nach  ihren  Beziehungen  zur  Sozialforschung 
und  zur  Geschichte  der  Bildung.     3.  Aufl.  (1903).     (Grundanschauung  katholisch-kirchlich.) 

W.  Rein,  Pädagogik  in  systematischer  Darstellung.  I.  Bd.  (1902):  Die  Lehre  vom 
Bildungswesen. 

A.  Baumeister,  Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  höhere  Schulen, 
in  vier  Bänden;  das  Standard  Work  der  Gymnasialpädagogik.  Unter  den  zahlreichen  Ab- 
teilungen, die  von  verschiedenen  Autoren  durchweg  vortretTlich  bearbeitet  sind,  hebe  ich 
hier  hervor:  A.  MATTHIAS,   Praktische  Pädagogik,  2.  Aufl.  (1905). 


DAS  VOLKSSCHULWESEN. 

Von 
Gottlob  Schöppa. 

I.  Wesen  und  Begriff  der  Volksschule.  Schulen,  in  welchen  den 
Kindern  auch  seiner  unteren  Schichten  Elemente  des  Wissens  gelehrt 
werden,  besitzt  heute  jedes  zivilisierte  Volk  der  Erde.  In  Korea  wie  in 
den  westlichen  Staaten  Nordamerikas,  in  den  entlegenen  Gegenden  Kamt- 
schatkas wie  bei  den  Beduinen  Xordafrikas  sind  sie  zu  finden.  So  ver- 
schieden die  Völker  und  so  mannigfaltig  die  Verhältnisse,  unter  denen 
sie  leben,  so  verschieden  und  mannigfaltig  die  Einrichtung  dieser  Schulen. 
Es  gehört  Einbildungskraft  dazu,  in  der  „springenden  Schule"  der  Nord- 
länder Europas,  in  denen  ein  Wanderlehrer  nur  einige  Monate  des  Jahres 
Kinder  einer  Familie  unterrichtet,  in  der  Zeltschule  Nordafrikas,  die  mit 
dem  nomadisierenden  Stamm  sich  niederläßt,  um  nach  kurzer  Zeit  wieder 
aufzubrechen,  Schwestern  der  großstädtischen,  vielgliedrigen,  in  gewtiltigen 
Bauten  untergebrachten  Volksschulen  unserer  Kulturvölker  zu   sehen. 

Zwar  das  Gemeinsame  haben  sie,  soweit  es  nachweisbar  ist,  alle,  daß     lünfluß  von 

Religion    und 

sie   auf  religiöse  Grundlage  zurückzuführen  sind.     Indes  schon  daraus   er-  Nationalität  auf 
geben   sich  die   verschiedenartigsten   treibenden  Kräfte   für  ihre  Entwick-  schiedenartii?- 

°  °  .  keil  der  Volks- 

lung,  die  durch  nationale  Eigentümlichkeiten  noch  erheblich  vermehrt  schule. 
werden.  Weit  voraus  den  Schulen  der  übrigen  Länder  der  Erde  stehen  ent- 
sprechend ihrer  Kultur  im  allgemeinen  die  Schulen  christlicher  Völker. 
Einzelne  in  der  Bibel  überlieferte  Worte  Jesu,  wie  das:  „Lasset  die  Kind- 
lein zu  mir  kommen!",  führten  mit  Notwendigkeit  bald  zur  Errichtung  von 
Schulen  für  alle  Bevölkerungskreise,  wenn  auch  vornehmlich  zu  solchen 
mit  religiösem  Unterrichte.  Von  Amerika  ist  gesagt  worden:  es  war  die 
Religion,  die  dort  zur  Aufklärung,  und  es  war  der  Gehorsam  gegen  die 
göttlichen  Gesetze,  der  die  Menschen  zur  Freiheit  führte;  doch  hat  dies  Wort 
seine  Geltung  von  den  christlichen  Völkern  überhaupt.  Gerade  bei  den  angel- 
sächsischen Völkern  tritt  auch  die  nationale  Beeinflussung  der  Volksschule 
sehr  deutlich  hervor.  Ihr  eigentümlicher  Freiheitsdrang  ließ  es  bei  Ein- 
richtung der  Schule  bis  jetzt  zu  keiner  Einheitlichkeit  kommen.    Ungestörte 


gg  Gottlob  Schöi'I-a  :  Das  Volksschuhvcspn. 

ßctätigung  der  l'.igcnart  brachte  es  vielmehr  zu  außerordentlich  vielartigen 
Gestaltungen  der  Volksschule;  demgemäß  aber  auch  zu  stärksten  Unter- 
schieden ihres  Erfolges.  England  lenkt  erst  jüngst  in  richtiger  Erkenntnis 
von  der  Überlegenheit  des  Verfahrens  bei  den  kontinentalen  Stammes- 
vettern mehr  auf  deren  Bahn  der  Verstaatlichung  und  damit  auf  die  Ver- 
einheitlichung des  Schulunterrichts  ein.  Den  Schulen  der  Angelsachsen 
hat  auch  der  stärker  auf  Erwerb  gerichtete  Sinn  seinen  Charakter  ebenso 
unverkennbar  aufgedrückt,  wie  den  Schulen  Frankreichs  dessen  sehr  aus- 
gebildetes Nationalbewußtsein,  oder  den  Schulen  Italiens  das  durch  die 
Tradition  seiner  Bevölkerung  anerzogene  ästhetische  Gefühl.  Gleichartig 
sind  die  Volksschulen  der  genannten  Völker  darin,  daß  sie  sich  von  ihrer 
Religion  losgelöst  haben.  Was  bei  den  Angelsachsen  indes  mehr  durch 
den  Drang  nach  voller  Freiheit  der  Bewegung  bewirkt  ist,  das  hat  bei 
den  Romanen  vornehmlich  die  scharf  gegensätzliche  Stellung  zur  Kirche 
herbeigeführt,  die  sie  in  Gegensatz  zur  Religion  überhaupt  führte. 
Vorbildlichkeit  Auch    die    Schulen    der   Deutschen    und    Nordgermanen    können    die 

Schulen,  volkstümliche  Eigenart  nicht  verleugnen.  Nirgend  sind  die  Schulfragen 
so  eingehend  praktisch  und  theoretisch  erörtert  worden,  wie  bei  ihnen 
entsprechend  ihrer  nachdenklichen,  auf  die  Gründe  gehenden  Volksart. 
Daraus  erklärt  es  sich,  daß  die  Volksschule  als  eine  Einrichtung  zur  Ver- 
mittlung eines  Mindestmaßes  von  Kenntnissen,  zu  deren  Benutzung  jeder 
verpflichtet  ist  und  erforderlichenfalls  auch  gezwungen  wird,  wenn  er  nicht 
einen  gleichwertigen  Ersatz  nachweist,  bei  den  germanischen  Völkern  ent- 
standen ist  und  bei  ihnen  sich  auch  am  einheitlichsten  entwickelt  hat. 
Bei  ihnen  ist  darum  ein  Mindestmaß  von  Kenntnissen  tatsächlich  ganz 
allgemein  vorhanden,  wie  dies  die  fast  völlig  verschwundene  Zahl  der 
Analphabeten  unter  den  Rekruten  beweist.  Wohl  haben  andere  Völker 
einzelne  Seiten  der  Volksschule  kräftiger  entwickelt,  aber  so  allgemein 
umfassend,  so  einheitlich  in  ihrem  Ziel  hat  sich  diese  sonst  nirgend  ge- 
staltet. In  Deutschland  ist  der  Gedanke  der  Volksschule  als  einer  Er- 
ziehungsanstalt am  energischsten  erfaßt  und  seine  Realisierung  am  kon- 
sequentesten versucht  und  teilweis  auch  verwirklicht  worden.  Bis  heute 
suchen  daher  Lehrer  aus  allen  Ländern  der  Erde  Deutschland  auf,  um  an 
seinen  Schulen  sich  ein  Vorbild  für  die  Einrichtungen  der  eigenen  Heimat 
zu  nehmen. 

Wenn  es  infolge  der  unvereinbaren  nationalen  und  sozialen  Verschie- 
denheiten unmöglich  ist,  die  Volksschule  aller  Völker  als  ein  gemeinsames 
Ganzes  zu  betrachten,  so  wird  doch  ihr  Wesen,  ihre  Struktur  am  ehesten 
deutlich  werden  durch  Betrachtung  des  historischen  Entwicklungsganges 
der  deutschen  Volksschule. 

Rein  kirchliche  II.    Gcschichtc    der   Volksschule.      Auch    in  Deutschland    ist    die 

Reformation.    Volksschule   Verhältnismäßig    jung.     Man    hat    lange    ihre   Entstehung    mit 

der  deutschen  Kirchenreformation  in  Zusammenhang  gebracht  und  sie  als 


II.  Geschichte  der  Volksschule.  8q 

deren  unmittelbare  Folge  hingestellt.  Schon  vor  diesem  Zeitpunkt  indes 
haben  vielfach  Einrichtungen  existiert,  in  denen  Kinder  der  verschieden- 
sten Bevölkerungsschichten  Unterricht  empfingen;  solche  sind  bis  in  das 
frühe  Mittelalter  nachzuweisen,  aber  es  waren  freilich  nicht  Volksschulen 
in  unserem  heutigen  Sinne. 

Die  nach  der  Völkerwandenmg  einsetzende  Kultivierung  der  mittel- 
und  westeuropäischen  Völker  stand  unter  dem  überwiegenden  EinHusse 
der  mit  christlichen  Elementen  durchsetzten  hellenistisch-römischen  Bil- 
dung. Die  wandernden  Stämme  der  Germanen  fanden  sie  in  den  weiten 
Gebieten  vor,  in  denen  sie  seßhaft  wurden.  Ihre  eigene  niedrigere  Kultur 
veränderte  sich,  falls  sie  nicht  ganz  unterging,  wenigstens  stark  durch  sie. 
Vermittler  der  neuen  Kultur  wurden  in  erster  Linie  die  Glieder  der  Kirche, 
die  das  Bestreben  hatte  und  mit  Erfolg  durchführte,  die  heidnischen  Ger- 
manen zu  Christen  und  zu  Gliedern  der  Kirche  zu  machen.  Vornehmlich 
der  von  Rom  abhängigen  Kirche  gebührt  das  Verdienst,  Schulen  in 
Deutschland  eingerichtet  zu  haben.  Die  Bildung,  die  sie  vermittelten, 
war  demgemäß  eine  ausgesprochen  kirchliche.  Sie  zielte  auch  weniger 
auf  eine  allgemeine  geistige  Hebung  des  Volkes  ab,  als  auf  die  Aneig- 
nung der  einfachsten  christlichen  Grundlehren  und,  falls  ihre  Ziele  weiter 
gingen,  auf  die  Gewinnung  geeigneter  Kleriker. 

In  der  Richtung  der  Volksschule  bewegten  sich,  analog  seiner 
Pflege  fränkischer  Volksart,  die  Erlasse  Karls  des  Großen  über  den  Unter- 
richt der  Kinder  des  A'olkes  durch  Geistliche,  aber  infolge  des  schnellen 
Abbruchs  dieser  Bestrebungen  unter  Karls  Nachfolgern  kam  es  zu  eigent- 
lichen Volksschulen  auch  dadurch  nicht.  Es  ist  bei  diesen  Einrichtungen 
des  Mittelalters  zu  beachten,  daß  den  Geistlichen  als  Lehrern  bei  dem 
Unterrichte  der  Kinder  aus  den  Volkskreisen,  die  das  altgermanische 
Heidentum  ganz  und  gar  noch  nicht  völlig  abgestreift  hatten,  nicht  so  an 
einer  volkstümlichen  als  an  einer  nach  Rom  zielenden  Bildung  gelegen 
sein  konnte.  Je  mehr  die  Bevölkerung  sich  verdichtete,  je  mehr  Klöster 
gegründet  wurden,  je  mehr  Kirchspiele  entstanden,  desto  mehr  Unter- 
richtsgelegenheiten bildeten  sich.  Die  Kirche  des  Mittelalters  als  die 
weitaus  mächtigste  Trägerin  der  Gesamtkultur  ihrer  Zeit  hat  durch  ihre 
Arbeit  den  Gedanken  einer  allgemeinen  Schule,  wenigstens  für  die  Knabem 
in  ausgedehntem  Maße  realisiert  und  ihn  so  gewissermaßen  volkstümlich 
gemacht.  Der  Begriff  der  Schule  als  einer  für  das  ganze  Volk  erwünschten 
Einrichtung  war  nach  seinem  Umfange  da,  wenn  ihm  auch  die  Bestim- 
mung seines  Inhalts  als  Volksschule  fehlte. 

In    dem   Maße,    als   neben   der  Kirche   andre  Kreise  als  Kulturträger     weuiiciie 
auftraten,  als  volkstümliches  Wesen  auch  in  der  Kultur  sich  stärker  geltend    Strömungen. 
machte,    hatte    sich    in    diesem   Zustande   auch   schon  während  des  Mittel- 
alters   eine   Unterströmung    gebildet.     Ganz   allmählich   trat  sie  in  die  Er- 
scheinung,   als    die   Spannung   zwischen   einer  neuen   nichtkirchlichen  und 
der  alten  kirchlichen  Kultur  nach    den  Kreuzzügen   stärker  wurde,  als  es 


go  Gottlob  Schöppa:  Das  Volksschulwcscn. 

den  solbstbowußten  städtischen  Geschlechtern  nicht  mehr  /.usagte,  für  den 
Unterricht  ihrer  Kinder  lediglich  auf  die  kirchlichen  Schuleinrichtungen 
angewiesen  zu  sein.  Handel  und  Gewerbe,  im  Inlande  betrieben,  forderten 
Fertigkeit  im  Lesen  und  Schreiben  der  Muttersprache  sowie  im  Rechnen. 
Da  gründeten  Rat  und  Bürgerschaft  vieler  vStädte,  oft  in  hartem  Kampfe 
mit  der  Kirche,  die  für  sich  das  Privilegium  der  Schule  beanspruchte, 
selbst  Schulen.  Indes  auch  in  ihnen  unterrichtete  man  meist  nach  Art 
der  kirchlichen  Lateinschulen.  Nur  in  einzelnen  Fällen  ist  es  geschicht- 
lich verbürgt,  daß  ihr  Unterricht  auf  das  Lesen  und  Schreiben  deutscher 
Schriften  beschränkt  war,  weil  der  Rat  der  Stadt  von  der  Geistlichkeit 
genötigt  wurde,  streng  auf  diese  Beschränkung  zu  halten.  Die  Volks- 
schule als  eine  allgemeine  Einrichtung  hatte  man  auch  mit  diesen  Schulen 
noch  nicht.  Willmann  sagt  mit  Recht,  daß  es  dem  Mittelalter  fremd  war, 
Religion,  Schreiben,  Lesen  usw.  als  ein  besonderes  Lehrgebiet  anzusehen, 
dem  eine  besondere  Schulgattung  entspräche.  Wo  der  Unterricht  über 
die  christlich-religiöse  Kinderlehre  hinausgegangen  sei,  habe  er  dem  La- 
teinischen zugestrebt,  ohne  das  man  eine  eigentliche  rechte  Schule  nicht 
gedacht  habe. 
Einfluß  der  Dleseu   Zustaud  fand   die    deutsche   Kirchenreformation    vor,    und   sie 

die  Volksschule,  hat  an  ihm  unmittelbar  nichts  geändert,  soweit  die  Volksschule  in  Betracht 
kommt.  Man  hat  den  Brief  Luthers:  „An  die  Ratsherren  aller  Städte 
deutschen  Landes,  daß  sie  christliche  Schulen  aufrichten  und  halten  sollen" 
als  den  Stiftungsbrief  der  Volksschule  bezeichnet.  Doch  trifft  das  nur 
mit  Einschränkung  zu.  Luther  lehnte  sich  durchaus  an  die  Schuleinrich- 
tungen an,  die  vor  ihm  da  waren.  Die  Erlernung  der  Sprachen  betonte 
er,  und  ebenso  drängte  er  auf  Grund  der  traurigen  Erfahrungen  bei  den 
großen  Visitationen  in  Sachsen  darauf,  daß  die  Küster  die  Kinder  besser 
in  den  religiösen  Elementen  unterrichteten.  Aber  Luther  machte  durch 
seinen  genannten  Brief  an  Stelle  der  Geistlichen  die  Bürgermeister  und 
Ratsherren  für  die  Gründung  von  Schulen  verantwortlich.  Er  setzte  neben 
die  kirchlichen  Zwecke  der  Schule  mit  vollster  Entschiedenheit  auch  die 
weltlichen  als  gleichberechtigt.  Er  führte  den  Unterricht  der  Jugend,  der 
Knaben  und  Mädchen,  auf  Gottes  Gebot  zurück.  Er  schuf  in  dem  kleinen 
Katechismus  ein  geeignetes  Lernmittel  für  die  Unterweisung  in  der  christ- 
lichen Lehre.  Er  nötigte  durch  seine  Bibelübersetzung  dazu,  aus  ihr 
selbst  zu  schöpfen  und  dazu  sich  Lesefertigkeit  anzueignen.  So  gab  er, 
abgesehen  von  der  durch  ihn  hervorgerufenen  geistigen  Aufrüttelung 
überhaupt,  den  kräftigen  Anstoß  zu  einer  unaufhaltsamen  Bewegung,  welche 
in  der  Errichtung  von  Schulen,  die  wir  als  Volksschulen  bezeichnen,  aus- 
mündete. 

Die  weitliche  Dic  Schule  war  durch  Luther  dem  starken  Arm   der  Obrigkeit  zuge- 

Obrigkeit  und  .  ,        .    .  ,,.. 

die  Volksschule.  Wiesen;  bald  sahen  sich  die  evangelischen  Inirsten  als  ihre  legitimen  tor- 
derer  an.  Die  von  ihnen  als  obersten  Bischöfen  ihrer  Länder  gegebenen 
Kirchenordnungen  erhielten  Abschnitte,  die  von  dem  Schulwesen  handelten. 


n.  Geschichte  der  Volksschule.  gl 

und  zwar  eine  Anzahl  ausdrücklich  auch  von  Schuleinrichtungen,  die  als 
Volksschulen  anzusehen  sind.  Diese  kräftigen  Bemühungen  konnten  auch 
in  den  altgläubigen  Landschaften  nicht  ohne  Wirkung  bleiben.  Die  Obrig- 
keiten aller  Gebiete  Deutschlands  sahen  sich  zuletzt  genötigt,  wollten  sie 
nicht  ganz  zurückgedrängt  werden,  eifriger  für  allgemeine  Schulen,  für 
Volksschulen  zu  sorgen.  Waren  so  der  Staat  und  seine  Herrscher  einge- 
treten in  den  Kreis  der  Förderer  der  Schulen,  so  geschah  die  Arbeit 
doch  auch  jetzt  noch  an  ihnen  zum  größten  Teil  durch  Glieder  des  geist- 
lichen Standes,  weil  andere  geeignete  Kräfte  dafür  nicht  da  waren. 
Manche  grünende  Saat  schoß  empor,  um  leider  bald  in  den  Schrecknissen 
des  dreißisriährigfen  Krieges  zertreten  zu  werden.    Aber  doch  erwuchs  der  Günstige  Folgen 

P>J  Q  o  des  Drcißlg- 

Volksschule    aus    diesem  Kriege    und    aus    den  Zeiten    des  Niederganges,  jährigen  Krieges 

*-*  für    uu"     V  olks- 

dessen  Tiefpunkt  er  bildete,  ein  Segen.  Das  Elend,  das  er  herbeiführte,  schul.-. 
die  unsägliche  Armut,  die  er  zurückließ,  die  Roheit  der  Bevölkerung,  die 
er  erzeugt  hatte,  zwangen  die  Regierenden  unwiderstehlich,  Mittel  zur 
BeseitigTjng  dieser  unhaltbaren  Zustände,  zur  Hebung  der  allgemeinen 
Wohlfahrt  au.sfindig  zu  machen.  Der  augenfällige  Parallelismus,  in  dem 
die  Not  und  die  Unwissenheit  des  Volkes  sich  zeigten,  führte  von  selbst 
auf  den  Zusammenhang  beider  und  auf  Beseitigung  der  Unwissenheit  als 
das  Mittel  zur  Hebung  der  Not  und  so  zur  Errichtung  von  Schulen  auch 
für  die  untersten  Volkskreise.  Das  Vorgehen  in  erster  Linie  evangelischer 
Fürsten  auf  diesem  Gebiete  wurde  durch  die  geistige  Bewegung  unter- 
stützt, die,  von  französischen  and  englischen  Philosophen  stammend,  be- 
sonders durch  zwei  Männer  Eingang  fand,  durch  Ratke  und  Comenius 
(s.  über  sie  auch  S.  136  f.).  Sie  übertrugen  die  neuen  Gedanken  dieses 
Realismus  auf  die  Pädagogik.  Sowohl  die  Weimarsche  Schulordnung  von 
161 9  wie  der  Gothaische  Schulmethodus  Herzog  Ernst  des  Frommen  von 
1642  stehen  auf  dem  Boden  der  Ideen  der  genannten  beiden  Schulmänner. 
Freilich  kann  der  Schulmethodus  in  seinen  Anordnungen  für  die  Volks- 
schule es  nicht  verleugnen,  daß  er  aus  Bestimmungen  über  den  Unter- 
richt in  den  unteren  Klassen  des  Gymnasiums  hervorgegangen  ist.  Von 
ihm  als  dem  Urahnen  vieler  späteren  staatlichen  Schulordnungen  für 
Volksschulen  ist  ein  Zug  der  Ähnlichkeit  mit  den  Ordnungen  für  höhere 
Schulen  auf  seine  Nachkommen  bis  in  die  neueste  Zeit  vererbt. 

Den  weltlichen  Dingen  wird  in  den  neuen  .Schulordnungen  eine  selb- 
ständigere Stellung  eingeräumt.  Es  handelt  sich  für  die  Landesfürsten 
um  die  Erziehung  nicht  mehr  ausschließlich  zu  guten  GHedern  der  Kirche, 
sondern  auch  zu  verständigen  Untertanen,  die  durch  Vorwertung  ihrer 
geistigen  Kräfte  beitragen  könnten,  die  vorhandene  Dürftigkeit  zu  be- 
seitieen   und  die  Macht   des  Staates   zu   heben.     Die   notwendige  Voraus-    Aiigonieinc 

o  ^  ^        _  Schulpflicht. 

Setzung  des  Gelingens  war  „die  allgemeine  Schulpflicht",  deren  Einführung 
einen  außerordentlichen  Fortschritt  für  die  Volksschule  bedeutete.  Wohl 
fehlte  viel,  daß  sie  sofort  voll  durchgeführt  wurde,  aber  im  Prinzip  war 
sie    vorhanden,    und   soweit  die  Staatsgewalt  reichte,    wurde   „der  Schul- 


9^ 


Gorxr.OB  Schöppa:   Das  Volksschulwespii. 


zwang"  gegon  das  heftige  Widerstroben  der  beloiliglen  Bevölkerungs- 
kreise durchgeführt.  Bemerkenswert  ist  es,  daß  auch  in  den  Staaten 
Nordamerikas  das  17,  Jahrhundert  Volksschulen  aus  denselben  Motiven 
hervorbrachte.  Die  Kinder  lernten  hauptsächlich  lesen  zum  Verständnis 
der  Heiligen  Schrift.  Wie  in  den  Staaten  Deutschlands  kam  man  unter 
den  ersten  Ansiedlern  zu  einer  Art  Schulpflicht.  Gleichzeitig  etwa  mit 
dem  .Schulmethodus  Ernst  des  Frommen  sagt  das  Gesetz  von  Massachusets: 
„Keiner  der  Brüder  darf  dulden,  daß  es  in  einer  Familie  so  viel  Barbarei 
gebe,  daß  die  Kinder  nicht  mindestens  fließend  lesen  lernen."  Und  ähn- 
lich lautet  es  in  dem  Gesetz  von  Connecticut  aus  der  gleichen  Zeit:  „Ge- 
denket, daß  der  Satan,  der  Feind  des  Menschengeschlechts,  in  der  Un- 
wissenheit der  Menschen  die  gewaltigsten  Waffen  findet  . .  .  W^isset,  daß 
die  Erziehung  der  Kinder  eine  der  ersten  Interessen  des  Staates  ist." 
Religiöse  und  staatliche  Beweggründe  erwiesen  sich  hier  ebenfalls  als  die 
treibenden  Kräfte  für  die  Errichtung"  von  Volksschulen.  Unverkennbar 
wirkten  in  Nordamerika  wie  in  Deutschland  die  Triebkräfte  der  Kirchen- 
reformation nach, 
Pietismus  und  Die  ncucn  pädagogischen  Gedanken  nahm  der  Pietismus  auf  und  ent- 

Volksschule. 

wickelte  sie  weiter.  Da  er  der  Gunst  vieler  mächtigen  Persönlichkeiten 
sich  erfreute,  so  kamen  seine  Ideen  auch  in  die  Volksschulen  der  betref- 
fenden Staaten.  Besonders  in  die  Länder  des  der  Volksschule  wohlge- 
neigten Königs  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preußen  fanden  sie  Eingang. 
Neben  der  Heranziehung  zahlreicher  Einwanderer  war  ihm  die  Errichtung 
von  über  1000  Volksschulen  das  Mittel  zur  Hebung  der  durch  Kriege 
und  Seuchen  ruinierten  Provinz  Ostpreußen.  Mit  der  Ausdehnung  des 
Pietismus  auf  außerdeutsche  Länder  begann  die  deutsche  Pädagogik,  wie 
sie  in  den  Franckeschen  Stiftungen  zu  Halle  in  vielgestaltiger,  auch  auf 
die  Volksschule  sich  erstreckender  und  bei  allen  Schwächen  doch  groß- 
artiger Weise  sich  entfaltete,  vorbildlich  auch  für  fremde  Völker  zu 
werden.  Die  große  Zahl  derer,  die  als  Studenten  die  Stiftungen  kennen 
gelernt,  als  Informatoren  wohl  gar  an  ihnen  mitgearbeitet  hatten,  wurden 
ihre  Apostel  in  allen  evangelischen  Ländern  der  alten  und  der  neuen 
Welt.  Bewußte  Ausbildung  der  Methoden  für  die  Unterrichtserteilung, 
Herstellung  g'eeigneter  Lehr-  und  Lembücher,  starke,  daher  oft  ungesunde 
und  entgegengesetzte  Erfolge  erzielende  Betonung  der  religiösen  Unter- 
weisung, daneben  Pflege  der  Realien,  soweit  das  vorhandene  Lehrer- 
material sie  auszuüben  vermochte,  waren  die  Wirkungen  dieser  Epoche 
auch  für  die  Volksschule. 
Zeit  der  Die    den   Pietismus   ablösende   Aufklärung  gewann   in   der  Pädagogik 

Aufklärung.  \g  ^  ._ 

Deutschlands  namentlich  durch  die  Wirkung  Jean  Jacques  Rousseaus  als 
Philanthropismus  Einfluß.  Auf  die  Volksschule  hat  er  sich  unmittelbar 
weniger  erstreckt.  Seine  Vertreter  hatten  sich  der  Erziehung  von  Söhnen 
aus  Familien  besserer  Kreise  gewidmet.  Ihre  Ansichten  stimmten  daher 
zu  wenig  zu  den  Erfordernissen  fester  Zucht  in  den  Volksschulen.    Schon 


n.  Geschichte  der  Volksschule.  g3 

der  Gedanke,  daß  der  Mensch  zur  Glückseligkeit  in  diesem  Leben  ge- 
boren sei,  konnte  sich  nicht  in  die  damaligen  Grundanschauungen  der 
Kreise,  welche  auf  die  Volksschule  angewiesen  waren,  eingliedern.  Die 
in  ihr  maßgebende  Geistlichkeit  stand  zum  großen  Teile  der  religiösen 
Richtung  der  Philanthropen  ablehnend  gegenüber.  So  blieb  zunächst  der 
Pietismus  am  Ruder;  das  berühmte  General  -  Landschulreglement,  das 
Friedrich  der  Große  gleich  im  Anschluß  an  die  Beendigung  des  Sieben- 
jährigen Krieges  erließ,  damit  „der  so  höchst  schädlichen  und  dem  Christen- 
tum unanständigen  Unwissenheit  vorgebeugt  und  abgeholfen  werde,  um 
auf  die  folgende  Zeit  in  den  Schulen  geschicktere  und  bessere  Untertanen 
bilden  und  erziehen  zu  können",  zeigt  noch  voll  das  Erziehungsziel  des 
Pietismus:  wahre  Gottseligkeit  und  christliche  Klugheit.  Es  ist  nicht 
etwa  durch  die  Glückseligkeit  des  Philanthropismus  ergänzt,  wohl  aber 
geht  etwas  hindurch  von  der  Untertanenpflicht  im  Sinne  der  absoluten 
Monarchie. 

Was   der  Philanthropismus   an   brauchbaren  Elementen  für  die  Volks-  Bestrebungen 

'  .  des  treiherrn 

schule  enthielt,    hat  der  Freiherr  von  Rochow    auf  Rekahn  ihr  vermittelt,     v.  Roehow 

,  (1734  — 1805). 

insonderheit  der  Dorfschule.  Der  fragend  -  entwickelnde  Unterricht  war 
ihm  das  Mittel,  in  dem  Kinde  Kenntnisse  zu  erzeugen,  alles  Denken 
und  Urteilen  schloß  sich  an  sinnliche  Wahrnehmungen.  Neben  die  Reli- 
gion als  Mittelpunkt  trat  der  Unterricht  in  allem,  was  „im  gemeinen  Leben 
vorfällt  und  den  Kindern  einst  in  jedem  Lebensberufe  nützlich  sein  kann". 
Anschauungsübungen,  gemeinnützige  Kenntnisse,  weibliche  Handarbeiten 
bildeten  Erweiterungen  des  Lehrplans  der  Volksschule.  Das  Lesebuch 
hielt  seinen  Einzug  in  sie,  um  sie  nicht  mehr  zu  verlassen.  Roher  Bar- 
barismus der  Zucht  wurde  entfernt,  ohne  daß  Schlaffheit  der  Ordnung  an 
ihre  .Stelle  trat.  Rochow  verlangte  auch  energisch,  daß  mit  Handwerkern 
und  unwissenden  Bedienten  keine  Schule  mehr  besetzt  werde,  sondern 
womöglich  mit  Kandidaten  der  Theologie,  oder  doch  mit  geschickten, 
fleißigen  jungen  Leuten,  die  mit  der  Lehrart  vertraut  gemacht  seien.  Für 
die  Schulstellen  forderte  er  ein  auskömmliches  Gehalt,  der  Unterricht 
aber  sollte  unentgeltlich  sein.  Selbst  für  die  Schulgebäude  hatte  er  weit- 
gehende Wünsche:  Vorzüge  vor  den  übrigen  Gebäuden,  Helligkeit  der 
Zimmer,  Schmuck  an  zweckmäßigen  Bildern,  Sachen  und  Modellen.  Es 
ist  das  Ideal  der  Volksschule,  das  hier  auf  lange  Zeit  im  voraus  festgelegt 
wird.  Stand  und  hohe  Verbindungen  Rochows  sicherten  ihm  die  Reali- 
sierung, wenn  auch  sehr  langsam,  teilweis  durch  die  damals  vorhandenen 
zahlreichen  Garnisonschulen. 

Die  Volksschule  um  die  Wende  des  18.  und  ly.  Jahrhunderts,  in  der 
die  Gedanken  Rochows  lebendig  geworden  und  in  Taten  umgesetzt  waren, 
hat  trotz  der  geringen  Ausdehnung  ihrer  Wissensstoffe  ihre  Wirkung 
nicht  verfehlt.  Das  durch  sie  hindurch  gegangene  Geschlecht  war  der 
Einführung  der  Städteordnung,  der  Befreiung  von  der  Erbuntertänigkeit 
und   kurz  darauf  der  Erhebung  von   181 3   fähig.    Es  braucht  den  Vergleich 


g^  Gottlob  Schöppa:  Das  Volksschulwescn. 

mit  der  Generation  nicht  zu  scheuen,  die  um  die  Wende  des  iq.  und 
20.  Jahrhunderts  zum  Wettstreit  der  Industrien  kühn  in  die  Schranken 
getreten  ist. 

Im  18.  Jahrhundert  besonders  dehnte  sich  mit  dem  starken  Eindringen 
der  Aufklärung  in  die  katholischen  Länder  und  an  die  Höfe  gerade  der 
geistlichen  Landesfürsten  die  Volksschule  auch  auf  die  katholischen  Ge- 
biete Deutschlands  aus;  Österreich,  Bayern  und  geistliche  Länder  gingen 
bedeutend  vorwärts  in  ihrem  Volksschulwescn,  wenn  es  auch  in  einem  Teil 
der  letzteren  infolge  der  geringeren  Kraft  des  Staatsgedankens  gegenüber 
der  Kirche  nicht  so  emporzublühen  vermochte,  wie  in  den  evangelischen 
Gebieten. 
Anrange  der  Einen   Sehr   wichtigen  Fortschritt   hatte    das    1 8.  Jahrhundert   noch  ge- 

Lehrerbildung, 

bracht.  Mit  der  Errichtung  der  Volksschulen  hatte  sich  sofort  der  Mangel 
an  geeigneten  Lehrern  eingestellt.  Handwerker  meist  sitzender  Lebensart, 
Hirten,  Höker  u.  dgl.,  die  zunächst  aushalfen,  erwiesen  sich,  zumal  sie 
meist  ihrem  eigentlichen  Berufe  zu  ihrem  Unterhalte  obliegen  mußten,  bald 
als  nicht  brauchbar.  Invaliden,  zu  denen  man  in  der  Verlegenheit  griff, 
konnten  dauernd  nicht  genügen;  sie  hatten  zu  wenig  gelernt  und  waren 
dabei  nicht  selten  roh,  wohl  gar  unsittlich.  Man  mußte  eigene  Lehrer 
der  Volksschule  heranbilden.  Hatte  grundsätzlich  auch  schon  Ernst  der 
Fromme  von  Gotha  diese  Notwendigkeit  erkannt,  so  lehnten  sich  die 
ersten  erfolgreichen  praktischen  Versuche  der  gesonderten  Vorbildung  von 
Volksschullehrem  doch  an  Franckes  seminarium  praeceptorum  an.  Es  ent- 
standen auch  einzelne  Seminare  für  Volksschullehrer;  daneben  gab  es 
Einzelbildung  durch  geschickte  Geistliche  oder  durch  die  Schulmeister, 
die  junge  Leute  wie  Lehrlinge  unterwiesen.  Im  ganzen  kam  es  dabei 
über  Aneignung  methodischer  Kunstgriffe  namentlich  beim  Lesenlehren 
nicht  viel  hinaus;  das  Allgemeinwissen  wurde  auf  andere  Weise  angeeignet, 
etwa  durch  Besuch  einiger  Klassen  höherer  Schulen.  Wie  natürlich  fand 
viel  Tasten  im  Dunkeln  statt. 
Die  Volksschule  Gewaltig  war    der  Aufschwung  der  Volksschule    im    19.  Jahrhundert. 

hundert.  Zunüchst  ihre  ungeahnte  Ausdehnung  bei  allen  zivilisierten  Völkern.  Dies 
nicht  zuletzt  durch  das  Beispiel  Preußens.  Im  Anfang  des  Jahrhunderts 
scheinbar  vernichtet,  hatte  es  sich  schon  nach  wenigen  Jahren  wieder 
machtvoll  erhoben.  Die  lange  Ruhe  nach  den  Befreiungskriegen  wurde 
auch  für  die  Volksschule  eine  Zeit  innerer  Erstarkung  durch  Wiederher- 
stellung des  Zerstörten  und  Ausbau  der  vorhandenen  Einrichtungen.  Die 
glänzenden  Erfolge  Preußens  im  Jahre  1866  lenkten  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  tieferen  Gründe  solch  überraschenden  Gelingens.  Es  entstand  das 
Wort  von  dem  preußischen  Schulmeister  als  Sieger  von  Königgrätz,  dem 
die  richtige  Erkenntnis  zugrunde  lag,  daß  Pre\ißen  seine  großen  Erfolge 
nicht  seinen  verhältnismäßig  geringen  äußeren  Machtmitteln,  sondern  der 
inneren  Kräftigung  durch  Mehrung  der  geistigen  Güter  bis  in  die  unter- 
sten Volkskreise  verdankte.     Das  Jahr   1870  verstärkte  den  Eindruck,  und 


n.  Geschichte  der  Volksschule. 


95 


nur  zu  erklärlich  war  es,  daß  die  Unterlegenen  den  Vorteil  besserer  all- 
gemeiner Volksbildung  zu  erlangen  suchten. 

Österreich,  das  bereits  1774  den  Abt  Ignaz  v.  Felbiger,  den  Verfasser 
des  Preußischen  General-Landschulreglements  für  die  Römisch-Katholischen 
in  Schlesien,  zur  Abfassung  einer  allgemeinen  Schulordnung  berufen  hatte, 
erließ  drei  Jahre  nach  seinem  unglücklichen  Kriege  von  1866  das  Reichs- 
Volksschulgesetz,  nachdem  im  Jahre  vorher  durch  ein  Reichsgesetz 
die  Volksschule  unter  die  Leitung  und  Aufsicht  des  Staates  gestellt 
worden  war. 

In  Frankreich  hatten  sich  allgemeine  Schulen  als  kirchliche  Schulen 
unter  den  Königen  einer  teilweisen  Blüte  erfreut;  die  Revolutionszeiten 
fegften  sie  als  Kirchschulen  hinweg,  ohne  genügende  neue  Einrichtungen 
an  die  Stelle  setzen  zu  können.  Die  Zeiten  der  Restauration  und  des 
zweiten  Kaiserreichs  hatten  die  Volksschule  wenig  gefördert,  bis  die  dritte 
Republik  bald  nach  den  Niederlagen  des  Krieges  gegen  Deutschland  mit 
Tatkraft  ihre  Ausgestaltung  in  die  Hand  nahm.  Sie  erzielte  dabei  sehr 
liedeutsame  Ergebnisse,  so  daß  die  französische  Volksschule  mit  in  erster 
Reihe  steht. 

Auch  durch  die  jüngste  Bewegung  in  England  für  die  staatliche 
Volksschule  zieht  sich  die  Beobachtung,  daß  in  dem  schweren  Kampfe 
der  Industrie  und  des  Verkehrs  Deutschlands  Aufschwung  ohne  die  Volks- 
schule nicht  wohl  denkbar  wäre. 

Den  Hauptimpuls  für  die  Gründung   von  Volksschulen  gab   indes   die  Poiuiäche  und 

--,  •     ,   .  1  .     .,.    .  \r-ii  ",  -11  T    1  wirtschaftliche 

gesamte  l'.ntwicklung  der  zivilisierten  Volker  wahrend  des  ly.  Jahr-  Kinflüsse. 
Imnderts.  Nachdem  mit  den  Gedanken  der  französischen  Revolution  die 
Lehre  \'on  der  Gleichheit  aller  Menschen  wenigstens  theoretisch  sich  überall- 
hin verbreitet  hatte  und  allmählich  konstitutionelle  Staatseinrichtungen 
getroffen  worden  waren,  brachten  sich  die  bis  dahin  mehr  zurückgetretenen 
Stände  der  Bauern,  der  Handwerker,  der  sonstigen  Gewerbetreibenden  und  der 
Arbeiter  stärker  zur  Geltung  und  verlangten  ihren  Anteil  an  dem  geistigen 
Besitze  des  Volkes.  Die  Nachwirkung  philanthropischer  Gesinnung  in 
den  bis  dahin  herrschenden  Kreisen  kam  dem  Verlangen  auf  halbem 
Wege  entgegen.  Weiter  machte  die  starke  Vennehrung  der  Bevölkerung 
sowie  andrerseits  das  Streben  nach  mehr  Verdienst,  um  eine  bessere,  be- 
quemere Lebensführung  zu  erlangen,  in  schnell  zunehmendem  Maße  die 
Benutzung  neuer  Enverbswege  nötig.  Das  Interesse  des  Staates  ging 
ebenfalls  auf  Vermehrung  des  Volkswohlstandes  hinaus,  der  ledig^lich  durch 
die  Roherzeugnisse  wenigstens  der  alten  Kulturländer  nicht  wohl  zu 
erzielen  war;  ihm  mußte  daher  das  Anwachsen  der  Industrie,  welche  den 
Wert  der  aus  dem  eigenen  oder  aus  einem  fremden  Lande  bezogenen 
Rollerzeugnisse  außerordentlich  erhöhte,  sehr  willkommen  sein.  Braucht 
der  Staat  die  Kraft  vornehmlich  der  Landbevölkerung  zur  Verjüngung  der 
Gesamtbevölkerung  und  zur  Verteidigung,  so  kann  er  doch  der  industriellen 
Bevölkerung  nicht   entbehren,   welche   ihm    die   Geldmittel   verschafft,   die 


Qh 


Gon I.OB  SCHÖPPA  :  Das  Volksschulwcsen. 


Gesetzliche 
Unterlage. 


Pestalozzi 

(1746— 1827I. 


er  für  seine  umta.ssendcn  Aufgaben  nötig  iiat.  Zu  gleicher  Einsicht  ge- 
langten auch  die  kommunalen  Obrigkeiten,  denen  industrielle  Anlagen  bald 
höchst  erwünscht  waren,  und  die  daher  auch  in  steigendem  Maße  der 
Volksschule  sich  annahmen,  während  sie  früher  den  ent.sprechenden  Unter- 
richt vorwiegend  der  Privattätigkeit  überlassen  hatten.  Die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  kamen  der  ganzen  Entwicklung  zu  statten.  Mit  dem 
Eindringen  in  die  Natur  wuchs  die  Herrschaft  über  sie  und  die  fast  unbe- 
grenzt gesteigerte  Möglichkeit  ihrer  Benutzung  in  mannigfaltigster  Arbeit. 
Je  stärker  der  menschliche  Geist  den  Rohstoff  umgestaltet,  um  ihn  da- 
durch brauchbarer  für  die  Menschen  zu  machen,  desto  höher  steigert  er 
dessen  Wert.  Die  Arbeit  solcher  Umgestaltung  setzt  aber  erhöhte  Bil- 
dung nicht  nur  der  Arbeitsleiter,  sondern  auch  der  Arbeiter  voraus.  Dem 
vereinten  Drängen  so  verschiedener  Gründe  für  Vermehrung  und  Hebung 
der  Volksschulen  ist  es  zuzuschreiben,  daß  diese  in  dichtem  Netze  heute 
die  Länder  aller  zivilisierten  Völker  überziehen. 

Die  gewaltige  Vermehrung  führte  wieder  die  Änderung  der  Gesamt- 
stellung der  Volksschule  herbei.  Der  Staat  des  18.  Jahrhunderts  hatte  sie 
zu  einer  alle  verpflichtenden,  allen  dienenden  Einrichtung  gemacht.  Er 
ordnete  im  ig.  Jahrhundert  ihre  gesetzliche  Unterlage.  In  der  Mehrzahl 
der  Staaten  entstanden  Schulgesetze.  Meist  nur  da,  wo  dem  Staate  eine 
nach  Macht  strebende  Kirche  seine  Rechte  bestritt,  kamen  solche  nicht 
zustande.  Die  Kosten  des  Streites  aber  trägt  das  umstrittene  Gebiet. 
Wie  stark  die  gesetzliche  Regelung  auch  nur  der  äußern  .Schulverhält- 
nisse in  den  gesamten  Zustand  der  Volksschule  einzugreifen  vermag,  zeigt 
die  Entwicklung  des  preußischen  Volksschulwesens  seit  dem  Erlaß  der 
Gesetze  über  die  Erleichterung  der  Volksschullasten.  Der  Begriff  der 
Volksschule  ist  seitdem  eingeengt  auf  die  .Schulen  für  die  untersten  Bevölke- 
rungsklassen. Für  die  Schulen  der  mittleren  Kreise  in  .Stadt  und  Land 
ist  kein  Raum  mehr  da,  sie  sind  seitdem  verkümmert  oder  haben  wenig- 
stens nicht  den  Aufschwung  genommen  wie  die  Volksschulen  der  unter- 
sten Schichten. 

Schularbeit  hat  glücklicherweise  ein  Schulgesetz  nicht  zur  unumgäng- 
lich notwendigen  Voraussetzung.  Sie  geht  ihren  Weg  auch  ohne  .staatliches 
Gesetz.  Pfadfinder  hatte  die  Volksschule  des  19.  Jahrhunderts.  Pestalozzi 
gab  ihr  die  treibende  Kraft:  die  Liebe  zum  Volke.  Er  setzte  der  Bildung 
auch  der  niedrigsten  Menschen  den  höchsten  Zweck:  allgemeine  Empor- 
bildung der  inneren  Kraft  der  Menschennatur  zu  reiner  Menschenweisheit. 
Er  zeigte  die  Methode  der  wahren  Menschenbildung:  die  Bahn  der  Natur. 
.Sie  enthüllt  alle  Kräfte  der  Menschheit  durch  Übung,  und  ihr  Wachstum 
gründet  sich  auf  Gebrauch.  .Sie  geht  überall  von  der  Anschauung  aus, 
und  sie  schreitet  ungezwungen,  allseitig,  stetig,  lückenlos  fort.  Was  um 
das  Wohl  ihrer  Landeskinder  besorgte  Fürsten  aus  praktischen  Erwägun- 
gen ins  Werk  gesetzt  hatten,  dem  war  durch  Pestalozzi  ein  tiefer  gegrün- 
detes Fundament  gegeben.     Am  lautesten  fanden  seine  Worte  im  Norden 


II.  Geschichte  der  Volksschule.  gj 

Deutschlands  ein  Echo.  Fichte  wollte,  daß  die  neue  Nationalerziehung 
an  Pestalozzis  Unterrichtsgang  anknüpfte.  In  der  Zeit  der  tiefsten  Er- 
niedrigung ihres  Volkes  hätte  die  Königin  Luise  so  gern  den  Schweizer 
aufgesucht,  „um  ihm  mit  Tränen  in  den  Augen  und  mit  einem  Hände- 
druck zu  danken".  Selbst  Stein  erhoffte  die  Entwicklung  der  Kräfte  des 
folgenden  Geschlechtes  von  der  Anwendung  der  Pestalozzischen  Methode. 
Auf  deren  Grundgedanken  fußend  bauten  Diesterweg  und  Harnisch  die 
Methode    der  Volkschule    weiter   aus.     Herbart  aber  vornehmlich  verband      Herbart 

(1776 — 184I). 

.sie  mit  der  Wissenschaft,  indem  er  sie  hineinstellte  zwischen  die  Ethik, 
die  das  Ziel  der  Erziehung  bestimmt,  und  die  Psychologie,  welche  die  im 
Menschen  liegenden  Mittel  zur  Erreichung  des  Zieles  aufzeigte.  Durch 
Aufstellung  fester  Formen  für  den  erziehenden  Unterricht  schuf  er  ge- 
wissermaßen eine  pädagogische  Kunstlehre,  an  deren  Vervollkommnung 
namentlich  in  den  Kreisen  der  Lehrer  der  Volkschule  noch  jetzt  rüstig 
weiter  gearbeitet  wird. 

\'on    der  Erstarkung   der  Volksschulpädagogik   zogen   besonders  auch  weiterbiMung 

^  i.  o     o  r  r  '^*-'^    Seminare. 

die  Lehrerbildungsanstalten  Gewinn.  Dem  wachsenden  Bedarf  an  Lehrern 
der  Volksschule  entsprechend  wurden  neue  Seminare,  allmählich  fast  aus- 
nahmslos als  Staatseinrichtungen,  gegründet.  In  den  Kreis  der  Arbeit 
wurde  in  verstärktem  Maße  die  Aneignung  des  Wissens  gezogen.  Neben 
die  Fächer  der  Volksschule  trat  die  fremde  Sprache,  da  man  einerseits 
dem  angehenden  Lehrer  die  gei.stige  Förderung  nicht  vorenthalten  konnte, 
die  der  Unterricht  in  ihr  gewährt,  andrerseits  aber  auch  ihn  näher  an 
die  durch  höhere  Schulen  hindurchgegangenen  Bevölkerungsschichten  her- 
anrücken wollte.  Dazu  wurde  die  Zahl  der  Klassen  vermehrt,  oder  es 
entstanden  besondere  Vorbereitungsan.stalten. 

Eng  an  die  geistigen  Strömungen,  an  die  politische  und  Wirtschaft-  Rückblick. 
liehe  Entwicklung  der  Völker  hat  sich  der  Weg  der  Volksschule  ange- 
schlossen. Aus  rein  kirchlichen  vereinzelten  Anfängen  erwachsen,  ist  sie 
unter  Anregung  der  Kirchenreformation  durch  eingreifende  Arbeit  der 
Landesfürsten  und  ihrer  Ratgeber  zu  der  allgemeinen  sozialen  Staatsein- 
richtung geworden,  wie  sie  heute  dasteht.  F'reilich  blieben  auch  nach 
dem  Eintritt  des  Staates  in  die  Stellung  des  Schulherm  die  Geistlichen 
und  ihre  Gehilfen  zunächst  noch  in  der  das  einzelne  au.sführenden  Arbeit 
an  der  Volksschule,  allerdings  in  allmählich  abnehmendem  Maße,  da  mehr 
und  mehr  eigens  für  ihren  Beruf  vorgebildete  Lehrer  sie  in  ihrer  Tätig- 
keit ablösten,  so  daß  ihre  Arbeit  zurzeit  fast  ausschließlich  nur  noch 
beaufsichtigend  ist.  Auch  darin  bringen  sich  aber  naturgemäß  in  schnelle- 
rem oder  langsamerem  Fortschritte  Fachleute  zur  Geltung.  Daß  dies  in 
nicht  .stärkerem  Grade  bi.sher  ge.schehen  ist,  erklärt  sich  aus  der  Unent- 
behrlichkeit  des  Einflu.sses,  den  der  Gei.stliche  in  der  Schulgemeinde  für 
die  Entwicklung  der  Volksschule  besitzt,  und  dann  aus  der  weit  verbrei- 
teten Ansicht,  daß  nur  der  Geistliche  Vertreter  wahrer  Religiosität  sein 
könne. 

Da  KuLTi'R  DUR  Gbobnwart.     I.  I.  7 


qg  Gottlob  Schöppa:  Das  Volksschulwesen. 

Das  eine  zeigt  die  Geschichte  der  Volksschule  unwiderleglich:  sie 
ist  in  ihrer  jetzigen  Gestaltung  durch  die  Macht  des  Staates  entstanden. 
Je  stärker  er  zum  umfassendsten  Kulturträger  wurde,  desto  mehr  trat  der 
liintUiß  der  an  der  Volksschule  beteiligten  anderen  Faktoren,  insonderheit 
der  Kirche,  zurück.  So  ist  er  der  v^oniehmste  Pfleger  der  Schule  ge- 
worden, und  es  ist  daher  grundsätzlich  falsch,  seinen  bestimmenden  Ein- 
fluß auf  die  Volksschule  einschränken  zu  wollen.  Fürsten  und  Obrigkeiten 
handelten  bei  ihren  Bestrebungen  zur  Einrichtung  und  Hebung  von  Volks- 
schulen ganz  und  gar  nicht  aus  sentimentaler  Liebhaberei  für  gebildete 
Untertanen,  sondern  dem  harten  Drucke  nachgebend,  welchen  der  Nieder- 
gang ihrer  Länder  durch  die  Depravation  ihrer  Bevölkerung  auf  sie  aus- 
übte. Rechte  Christen,  doch  auch  geschicktere,  bessere  Untertanen  wollten 
sie  sich  erziehen.  Darum  traten  sie  in  den  Kampf  mit  dem  oft  gewaltig 
sich  sträubenden  Volke.  Es  frei  zu  machen  von  den  Ketten  geistiger 
Gebundenheit  war  das  Ziel,  zu  dessen  Erreichung  sie  auch  den  Zwang 
nicht  scheuten. 

Herrschaft  über  IIL  Die  Volksschule  der  Gegenwart.    Die  moderne  Volksschule 

'  ist  als  allgemeine  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalt  nicht  denkbar  ohne 
vSchulzwang,  da  immer  kulturell  besonders  tief  stehende  Kreise  des  Volkes 
vorhanden  sein  werden,  die  geistige  Bildung  als  etwas  Überflüssiges  an- 
sehen. In  Landschaften  mit  fest  ansässiger  Bevölkerung  fehlen  allerdings 
solche  Elemente  gänzlich.  Schulzwang  aber  vermag-  nur  der  Staat  einzu- 
führen und  auszuüben,  weil  nur  er  die  nötigenfalls  erforderliche  Macht  und 
Gewalt  dafür  besitzt.  In  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Volksschule 
ist  es  begründet,  daß  an  ihr  neben  dem  Staate,  dem  meist  schon  in  seiner 
Verfassung  die  Schulherrschaft  zugesprochen  ist,  noch  verschiedene,  ein- 
ander teilweise  widerstrebende  Kräfte  sich  zu  betätigen  suchen. 

Familie.  Das  Stärkste  Interesse  an  der  Volksschule  hat  oder  sollte  wenigstens 

der  engste  Kreis  haben,  in  den  das  Kind  hineingeboren  wird,  die  Familie. 
Sie  ist  die  natürliche  Erzieherin  und  Lehrerin  ihrer  Kinder;  aber  sie  ver- 
mag in  unterrichtlicher  Hinsicht  nicht  mehr  alle  Ansprüche  zu  befriedigen, 
welche  die  neue  Zeit  an  jeden  stellt.  Darum  tritt  der  Lehrer  für  Vater 
und  Mutter  ein.  Die  Familie  kann  meist  durch  die  geordnete  Vertretung 
der  Gemeinde  ihren  Einfluß  auf  die  Schule  geltend  machen,  leider  aber 
erweist  sie  sich  durch  ihre  Teilnahmlosigkeit  und  durch  ihr  Widerstreben 
gegen  die  Schularbeit  öfter  hinderlich  als  förderlich.  Noch  sind  die  Fälle 
sehr  vereinzelt,  in  denen  Vater  oder  Mutter  sich  als  Herren  der  Schule 
fühlend  in  ihren  Betrieb  einzugreifen  versuchen.  Viel  schwerwiegender 
sind  die  Versuche,  die  in  dieser  Richtung  von  anderer  Seite  her  unter- 
nommen werden. 

Kirche.  Kirchliche    Kreise    wollen    der   Kirche    möglichsten    Einfluß    sichern, 

wenn  auch  in  verschiedener  Ausdehnung.  Die  einen  beanspruchen,  daß 
sie  nicht  im  Auftrage  des  Staates,  sondern  aus  eigener  Machtvollkommen- 


IJl.    Die  Volksschule  der  Gegenwart.  QQ 

heit  die  Leitung  und  Beaufsichtigung  der  Schularbeit  überhaupt  habe, 
wobei  des  Staates  starker  dienender  Arm  verlangt  wird,  während  andere 
die  Beauftragung  dazu  durch  den  Staat  voll  anerkennen  und  noch  andere 
sich  mit  der  Stellung  des  Geistlichen  als  Pflegers  der  Volksschule  be- 
gnügen. Die  Kirche  hat  sich  ganz  von  selbst  mehr  und  mehr  zur  Pflegerin 
eines  Spezialgebietes,  eines  für  die  Erziehung  allerdings  besonders  bedeut- 
samen, in  alle  anderen  eindringenden,  des  religiösen,  entwickelt.  Die 
Volksschule  bedarf  aber  außer  der  Religion  einer  Reihe  von  weiteren 
Bildungselementen,  zu  deren  Vermittlung  die  Kirche  durchaus  nicht  am 
besten  geeignet  ist.  Auch  hier  hat  die  geschichtliche  Erfahrung  das  letzte 
Wort.  Sie  bezeugt  aber,  daß  die  unter  dem  besonderen  Einfluß  der  Kirche 
befindlichen  Volksschulen  stark  hinter  denen  rein  staatlicher  Territorien 
zurückstanden,  und  zwar  nicht  nur  im  Wissen. 

Stark  streben  auch  die  Gemeinden  als  Schulunterhaltungspflichtige,  Gemeinde. 
ihre  Interessen  in  der  Volksschule  zur  Geltung  zu  bringen.  Verhängnis- 
voll dabei  ist  der  Umstand,  daß  die,  welche  am  meisten  für  sie  zu  leisten 
verpflichtet  sind,  ihre  Kinder  fast  ausnahmslos  nicht  der  Volksschule  an- 
zuvertrauen pflegen.  Daher  finden  sich  bei  ihnen  auch  leicht  fremdartige 
Gesichtspunkte  für  die  Beurteilung  ihrer  Aufgaben.  Nicht  lediglich  die 
Gesittung  der  die  Volksschule  besuchenden  Kinder  an  sich,  nicht  deren 
bessere  Befähigung  zu  späterer  praktisch-beruflicher  Tätigkeit  sind  ihnen 
der  auschlaggebende  Faktor  für  ihre  Einrichtungen,  sondern  nicht  selten 
rein  wirtschaftliche  oder  gar  politische  Gesichtspunkte. 

Dazu  hat  sich  neuerdings  als  weitere  Interessentengruppe  der  orga-  Lihrersiand. 
nisierte  Stand  der  in  der  Volksschule  Arbeitenden,  der  Volksschullehrer, 
gesellt.  Man  muß  den  großen  Idealismus  vieler,  man  darf  sagen,  der 
meisten  seiner  Glieder  anerkennen,  vermag  sich  aber  doch  nicht  der  Ein- 
sicht zu  verschließen,  daß  hier  die  Standesinteressen,  die  materiellen  wie 
ideellen,  einen  mächtigen  Einfluß  auf  die  Beurteilung  der  Schulfragen  aus- 
üben. Das  ist  zwar  erklärlich,  dient  aber  nicht  zur  gesunden  Entwicklung 
der  Volksschule,  die  einmal  nicht  identisch  ist  mit  dem  Stande  ihrer  Lehrer. 

Hart  werden  so  von  den  verschiedensten  Seiten  die  verfassungs-  Staat. 
mäßigen  Rechte  des  Staates  angefochten;  die  geordnete  Teilnahme  des 
\'olkes  an  der  Gesetzgebung  gibt  dafür  die  Möglichkeit.  Daß  wer  die 
Jugend  hat,  die  Zukunft  habe,  wissen  alle  und  handeln  demgemäß.  Die 
Volksschule  aber  leidet  darunter,  daß  sie  der  Spielball  der  scharf  gegen- 
einander angehenden  Parteien  ist,  daß  die  einen  ihre  Rückschraubung  auf 
den  Zustand  vergangener  Zeiten,  die  andern  ihre  N'orwärtsbewegung  bis 
zum  Bruch  mit  der  seitherigen  Entwicklung  als  nötig  ansehen,  während 
ihr  Gedeihen  doch  nur  dadurch  gewährleistet  wird,  daß  der  Staat  mit  tat- 
kräftiger Hand  eng  anknüpfend  an  das  bisher  Erreichte  sie  stetig  zeitgemäß 
weiter  ausbaut  zu  einem  Hauptmittel  der  Hebung  des  sittlich -religiösen 
Charakters,  der  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  der  unteren  Bevölkerungs- 
klassen.    Dabei  ist  es  selbstverständlich,   daß  den  Ansprüchen  der  in  Be- 


lOO  GoTTLon  Schöppa:  Das  Volksschulwcsen. 

tracht  kommenden  Interessenten  an  der  Volksschule  möglichst  gesetzlich 
zu  ordnende  Rechnung  getragen  wird.  Selbstverständlich  muß  es  aber  auch 
sein,  daß  der  Staat  als  Herr  der  Volksschule  sich  seiner  Pflichten  gegen 
sie  bewußt  bleibt.  Die  Volksschule  ist  nicht  lediglich  um  des  Staates 
willen  vorhanden,  sondern  um  den  einzelnen  wie  das  ganze  Volk  seiner 
Eigenart  gemäß  zur  sittlichen  Freiheit  emporzubilden.  Im  Staate  existierend 
und  durch  ihn  Gestalt  und  Bestand  erhaltend,  kann  sie  niemals  Gegnerin 
des  Staates  sein,  doch  darf  der  Staat  sie  nicht  um  äußerer  Erfolge  willen 
halten,  sondern  um  die  Jugend  für  den  letzten  und  höchsten  Zweck  des 
Menschentums  vorzubereiten.  Der  Staat  darf  daher  die  Volksschule  nicht 
nur  unter  dem  Gesichtspunkt  des  äußeren  Rechtsverhältnisses  auffassen, 
er  muß  Verständnis  betätigen  für  die  feinen  und  doch  unwiderstehlichen 
Triebe,  durch  die  das  Volks-  und  Menschentum  zur  Verwirklichung  seiner 
Idee  gelangen  will.  Sie  vertragen  nicht  Behinderung  ihres  Wachstums 
durch  eine  nach  Augenblicksbedürfnissen  geformte  gesetzliche  Behandlung. 
Wo  aber  Staat  und  Volksschule  nur  gesunde  Ziele  verfolgen,  da  dient  der 
Staat  in  Verfolgung  seiner  eigenen  Interessen  durch  die  Schule  nicht  allein 
sich  selbst,  sondern  auch  dem  einzelnen. 
Notwendigkeit  Die  Mehrzahl   der  Staaten   lebt   infolge  Verdichtung   und   dadurch  er- 

für  den  Staat,  schwerter  Erhaltung  ihrer  Bevölkerung  in  der  Bewegung  vom  Ackerbau 
hin  zur  Industrie.  Der  Ackerbau  ist  allein  nicht  imstande,  einer  dauernd 
sich  stark  mehrenden  Bevölkerung  ausreichende  Arbeit  und  damit  aus- 
reichenden Verdienst  zu  geben.  Länder,  in  denen  er  überwiegt,  sind  ge- 
zwungen, hohe  Prozentsätze  ihrer  Bevölkerung  an  weniger  dicht  besiedelte 
oder  höher  industrielle  Gegenden  abzugeben.  Irland,  auch  Deutschland  bis 
vor  wenigen  Jahren,  die  östlichen  Länder  unseres  Erdteils  sind,  wenn  man 
von  minder  kräftigen  Auswanderungsgründen  absieht,  der  Beweis  dafür. 
Insonderheit  Deutschland  hat  als  vorwiegend  Ackerbau  treibendes  Land 
im  vergangenen  Jahrhundert  Millionen  seiner  Bewohner  ans  Ausland  ver- 
loren, wo  ihre  geistige  Kraft  sich  so  vermehrt  hat,  daß  sie  dem  alten 
Vaterlande  eine  starke  Konkurrenz  bereitet.  Dem  Staate  muß  daran 
liegen,  seine  Bevölkerungsvermehrung-  zu  behalten  und  dadurch  an  Macht 
zu  wachsen.  Das  ist  aber  nur  möglich,  wenn  er  für  ihre  Bildung  so  sorgt, 
daß  sie  durch  verfeinerte,  verbesserte  Arbeit  die  Mittel  für  ihren  Lebens- 
unterhalt zu  gewinnen  vermag.  Ein  Blick  auf  manchen  der  kleinen  deutschen 
Staaten,  wie  namentlich  Sachsen,  und  auf  die  rheinisch-westfälischen  In- 
dustriegebiete zeigt  deutlich  jedem  diese  Entwicklung.  Friedrich  Wilhelm  III. 
hat  nach  dem  großen  Zusammenbruch  des  Staates  1807  gesagt,  daß  Preußen 
durch  größte  Aufmerksamkeit  auf  den  Volksunterricht  an  innerer  Macht 
und  innerem  Glanz  gewinnen  muß,  was  es  an  äußerer  Macht  und  äußerem 
Glanz  verloren  hat,  und  sein  Sohn,  der  große  Kaiser,  hat  es  1858  als 
Regent  ausgesprochen,  daß  Preußen  durch  seine  Schulen  die  verschiedenen 
Klassen  über  ihre  Sphären  heben  müsse.  Beide  Worte  geben  sichere 
Direktiven  für  die  Stellung'  dieses  Staates  zur  \'olksschule,  der  seinen  Platz 


III.    Die   V^olksschulc  der  Gegenwart.  jqI 

nur  behaupten  kann,  wenn  er  sorgt  das  zu  bleiben,  als  was  Viktor  Cousin 
ihn  1835  bezeichnet  haben  soll:  „das  klassische  Land  der  Schulen  und  der 
Kasernen"  Die  Stellung-  und  Bedeutung  der  Volksschule  Preußens  ist  aber 
typisch  für  die  Stellung  und  Bedeutung  der  Volksschule  überhaupt. 

Die  Wirklichkeit  scheint  allerdings  vielfach  der  dargelegten  Auffassung 
von  der  Bedeutung  der  Volksschule  für  den  Staat  ganz  direkt  zu  wider- 
sprechen. Zwar  ohne  die  Verallgemeinerung  und  Steigerung  der  Volks- 
bildung wäre  der  fast  einzigartig  dastehende  wirtschaftliche  Aufschwung 
des  Deutschen  Reiches  nicht  möglich  gewesen  und  ohne  sie  auch  nicht  die 
Aufstellung  eines  so  kampfeslüchtigen  Heeres.  Aber  ohne  sie,  läßt  sich 
dem  entgegenhalten,  gäbe  es  auch  nicht  die  Feindschaft  gegen  Staat  und 
Kirche  in  der  Ausdehnung  und  Schärfe,  wie  sie  heute  besteht.  Nicht  als  ob 
die  Volk.sschule  diesen  Einrichtungen  feindselige  Lehren  verbreitete.  Was 
in  ihr  gelehrt  wird,  ist  davon  weit  entfernt.  Aber  wer  in  seiner  Jugend  mit 
dem  Lesen  auch  denken  gelernt  hat,  der  hört  auf,  ein  leicht  gefügiges 
Werkzeug  der  Herren  zu  sein,  die  nach  Luthers  Erklärung  des  vierten 
Gebotes  neben  den  Eltern  zu  achten  sind;  die  alten  patriarchalischen  Zu- 
stände schwinden,  wenn  der  Bildungsstand  steigt,  das  gilt  in  sozialer  und 
in  religiöser  Hinsicht.  Wo  neue  Ideen  in  der  Menschheit  sich  durchsetzen, 
da  fallt  ganz  von  selbst  viel  Altes.  Ihre  Kraft  haben  diese  großen  Be- 
wegungen aber  nicht  in  dem  Wissen,  sondern  in  dem  Gefühl,  welches  das 
Wissen  oft  zu  den  schwersten  Irrtümern  verleitet.  Die  Volksschule  kann 
dagegen  in  erster  Linie  zur  Erfüllung  der  eigenen  Pflicht  als  dem  sicher- 
sten Fundament  des  Glückes  erziehen  und  im  Unterrichte  die  überzeugte 
Erkenntnis  anstreben  von  dem,  was  wahr,  was  wirklich  und  was  in  der 
Welt  möglich  ist,  damit  sie  allmählich  Herr  werde  über  falsche  Gefühle 
und  den  Willen  vernünftig  beeintlusse.  Doch  vergesse  man  dabei  nicht, 
daß  ein  vierzehnjähriges  Kind  nicht  ohne  Schädigung  über  die  Gedanken 
belehrt  werden  kann,   die  den  Zwanzig-  und  Mehrjährigen   bewegen. 

Die  Erörterung  und  Darstellung  der  Mittel  zur  Hebung  und  Förderung 
der  Volksschule  bildet  ein  im  allgemeinen  zwar  viel,  aber  doch  nicht  ent- 
sprechend ertragreich  bebautes  Gebiet,  auf  dem  hauptsächlich  die  sich  be- 
tätigen, welche  in  der  Volksschule  und  an  ihr  arbeiten,  während  die  Vertreter 
aller  an  der  Volks.schule  Beteiligten,  insonderheit  des  Staates,  als  des 
Schulherm,  darlegen  und  beurteilen  sollten,  was  die  Volksschule  leisten 
soll  und  leisten  kann,  auf  welche  Ziele  sie  hinzuarbeiten  hat,  welche 
Mittel  für  sie  aufzubringen  sind,  damit  sie  ihre  Aufgaben  erfülle.  Am 
kräftigsten  und  nutzbringendsten  ist  sie  vorwärts  gekommen,  als  l-'ürsten 
wie  Ernst  von  Gotha,  F'riedrich  Wilhelm  I.  und  Friedrich  der  Große,  die 
pädagogischen  Gedanken  ihrer  Zeit  in  sich  aufnehmend,  mit  weitem,  freiem 
Blick  Bestimmungen  über  sie  erließen. 

Höchst  mannigfaltig   ist   die  Volksschule   in   ihrer   äußern   Gestaltung,   vcrs.hieden. 

!-.■        T^  •       1  •  -rv        c  '        r  artißo  äußere 

Die  Kmder    emes    Dorfes    mit    fest    ansässiger,    bäuerlicher    Bevölkerung,    (Jesuituuncn 

,     ,  ,  ,  .  ,       -, .  1    T-^..  .  ...  ...  -r^         -         der  \'olksschuIe 

welche  dereinst  wieder  als  Bauer  und  Bauerin  zur  Aristokratie  ihres  Dorfes  und  ii.r  wert. 


JQ2  Gottlob  Schöpi'a:  Das  Volksscluihvfseii. 

gehöron  w  ertk'u,  sind  schon  stark  vorschicdcn  von  denen  eines  Dorfes  mit 
schnell  wechselnder  proletarischer  Arbeiterbevölkerung.  Von  beiden  aber 
weicht  erheblich  das  Bild  ab,  das  die  Volksschule  einer  städtischen  oder 
ländlichen  Indiistriegegend  gewährt.  Die  kleine,  niedrige  Hütte  in  der 
entlegenen  Ansiedlung,  abgeschlossen  durch  Wasser  oder  durch  unweg- 
same Gebirge,  wo  ein  Lehrer  die  wenigen  Kinder,  Knaben  und  Mädchen 
jeden  Alters  vereint,  täglich  während  ihrer  Schulzeit  imi  sich  versammelt, 
und  das  fast  palastartige  Gebäude  einer  dicht  bevölkerten  Gegend,  voll 
heller,  weiter  Räume,  in  das  tausend  und  mehr  Kinder,  Knaben  und 
Mädchen  getrennt,  zusammenströmen,  um  gemäß  der  Anordnung  eines 
Rektors  nach  ihren  Jahrgängen  in  Klassen  verteilt,  von  mehreren  Lehrern 
unterrichtet  zu  werden:  beides  sind  Volksschulen.  Unendlich  viel  reicher 
sind  letztere  eingerichtet,  und  wer  danach  urteilt,  müßte  ihnen  den  weiten 
Vorzug  als  Kulturvermittlerinnen  einräumen.  Aber  welche  Volksschul- 
systeme noch  so  großer  Ausdehnung  haben  die  Erfolge  aufzuweisen,  wie 
die  kleinen  Volksschulen  nicht  dicht  bevölkerter  Gegenden,  aus  denen  Ge- 
lehrte, Künstler  und  Dichter  erster  Ordnung  hervorgegangen  sind?  Diese 
werden  besucht  von  Kindern  aller  Volkskreise,  die  noch  fest  wurzeln  in 
dem  heimatlichen  Boden;  es  ist  ein  besseres  Kindermaterial,  als  das  der 
Große  Schulen.  Volksschulc  in  der  Gegend  mit  stark  wechselnder  Bevölkenmg.  Wohl  ist 
die  Errichtung  großer  Schulkomplexe  billiger,  bequemer  und  eindrucks- 
voller, aber  wertvoller  ist  die  Arbeit  in  den  Schulen,  wo  die  Voraus- 
setzung jedes  Gedeihens  derselben:  Stille  und  Wärme,  möglich  ist,  wo 
wenigstens  der  Schulleiter,  besser  jeder  Lehrer,  noch  sämtliche  Schüler 
kennen  kann  und  den  Boden,  auf  dem  die  Kinderpflanze  sich  bis  dahin 
entwickelt  hat,  w^o  er  sie  in  ihrer  Eigenart  zu  verstehen,  ihre  Vorzüge  zu 
pflegen,  ihre  Mängel  auszugleichen  vermag,  wo  noch  etwas  zu  spüren  ist 
von  Vaterernst  und  Vatertreue  gegen  jedes  der  Kinder.  Nicht  pädago- 
gische Gesichtspunkte  haben  zu  Massenschulen  geführt,  sondern  haupt- 
sächlich pekuniäre,  und  nicht  zuletzt  das  Streben  nach  äußerem  Glanz. 
Zahl  der  Der  Wert  der  Volksschule  beruht  nicht  in  ihrer  Größe,  auch  nicht  in  der 

.-lufsteijjendeu 

Klassen,  aufsteigenden  Zahl  ihrer  Klassen  an  sich.  Für  jedes  Schuljahr  eine  Schul- 
klasse zu  haben,  danach  den  Lehrplan  einzurichten,  ist  nur  richtig  bei  an- 
nähernd gleichwertig  gut  beanlagten  Schülern.  Es  entspricht  aber  nicht 
der  Entwicklung  der  Kinder  in  ihrer  großen  Mannigfaltigkeit.  Nur  wenige 
gehen  so  schnell  und  gleichmäßig  weiter,  daß  sie  jährlich  größeren  neuen 
Stoff  sich  assimilieren  können.  Die  Ziele  der  Schulen  aber  nach  der 
Leistungsfähigkeit  ihrer  schwachen  Schüler  festzusetzen,  ist  ein  Vergehen 
an  den  tüchtigen  Schülern  und  an  dem  Staate,  der  Weckung  und  Stärkung 
aller  Kräfte  seiner  Bewohner  zu  seiner  Existenz  bedarf.  Darum  ist  auch 
Mannigfaltigkeit,  nicht  Uniformität  das  Richtige  für  die  Gestaltung  der 
Volksschulen.  Daß  die  Volksschule  überall  da,  wo  der  Lehrer  übergroße 
Klassen  zu  unterrichten  hat,  ihre  Aufgabe  nicht  erfüllen  kann,  sondern  an 
einer  handwerksmäßigen  Abrichtung  sich  genügen   lassen   muß,   wird  ver- 


III.    Die  Volksschule  der  Gegenwart.  jqi 

Ständlich,  wenn  man  mit  den  80  und  mehr  höchst  ungleichartigen  Schülern 
einer  \'olksschulklasse  die  geringen  Zahlen  der  weit  homogeneren  Schüler 
von  Klassen  höherer  Schulen  oder  gar  die  kleine  Zahl  von  Soldaten  ver- 
gleicht, für  deren  Ausbildung  in  viel  sinnenfälligeren  Dingen  ein  Offizier 
und    mehrere  Unteroffiziere    vorhanden    sind. 

Cianz  aus  den  Vorhältnissen  der  \'olksschule  heraus  hat  sich  in  ihr  Gemeinsamer 
auch  die  Frage  der  gemeinsamen  Erziehung  (coeducation)  der  Knaben  und  Knaben  und 
Mädchen  beantwortet.  In  den  kleinen  Volksschulen  mit  einem  Lehrer  ist 
die  gemeinsame  Erziehung  selbstverständlich,  aber  auch  bei  Schulen  mit 
vier  und  fünf  Klassen  zieht  man  mit  Recht  eine  größere  Zahl  aufsteigen- 
der Klassen  weniger  aufsteigenden  Klassen  mit  getrennten  Geschlechtern 
vor.  Und  selbst  in  den  großen  Städten,  wo  man  die  Knaben  und  Mäd- 
chen getrennt  unterrichtet,  ist  der  Unterricht  doch  in  den  wesentlichsten 
Stücken  nach  Umfang  und  Ziel  gleich,  keinesfalls  so  verschieden  wie  der 
Unterricht  der  höheren  Knaben-  und  der  höheren  Mädchenschulen.  Wer 
je  vor  gemischten  Klassen  gestanden  hat,  weiß  es,  wie  günstig  die  gegen- 
seitige Ergänzung  der  Geschlechter  wirkt:  des  Knaben  Kraft,  des  Mäd- 
chens Anmut;  seine  Unbeholfenheit,  ihre  Geschicklichkeit;  seine  Ausdauer, 
ihre  .Schnelligkeit;  sein  nüchterner  Verstand,  ihr  sinniges  Gefühl.  Aber 
die  Grenze  der  Gemeinsamkeit  ist  sicher  gesteckt  von  der  Natur.  Ge- 
meinsame Erziehung  ist  förderlich  nur  so  lange,  als  in  dem  Kinde  die 
zwei  Blumen  noch  vereinigt  sind,  so  lange  die  Knospe  noch  beide,  die 
Jungfrau  und  den  Jüngling,  in  ihm  zudeckt.  Solange  dies  der  Fall  ist,  sind 
die  Geschlechter  zu   gegenseitigem  Vorteil  gemeinsam  zu  unterrichten. 

Die  Not  hat  dazu  geführt,  daß  man  wenigstens  hier  und  da  nament-  Hilfsschulen, 
lieh  in  größeren  Städten  besondere  „Hilfsklassen"  und  „Hilfsschulen"  mit 
geringen  Frequenzen  eingerichtet  hat.  Der  köqierliche  und  geistige 
Niedergang  weiterer  Bevölkerungskreise  wird  in  verstärktem  Maße  dazu 
führen.  Sie  sind  keine  pädagogische  l.iebhaberei  und  kein  Luxus,  haben 
vielmehr  eine  hohe  volkswirtschaftliche  Bedeutung.  Die  immer  zahl- 
reicheren Elemente  der  Bevölkerung,  die  auf  dem  Wege  der  Schulbildung 
normaler  Kinder  zurückbleiben  und  in  geringerem  oder  stärkerem  Maße 
erwerbsunfähig  sind,  sollen  geistig  so  weit  gefördert  werden,  daß  sie  in 
einer  x\rbeit,  die  selbständigere  Tätigkeit  des  Geistes  nicht  voraussetzt, 
ihren  Unterhalt  erwerben. 

Groß  sind  die  Verschiedenheiten  der  Verhältnisse,  unter  denen  die  innerer  Betrieb. 
Volksschule  arbeitet.  Nicht  so,  wie  es  erwünscht  wäre,  hat  sich  der  innere 
Betrieb  dem  angepaßt.  Der  formale  Zweck  der  „Bildung  geistiger  Kraft", 
wie  ihn  Pestalozzi  betonte,  hat,  abgesehen  von  dem  Einfluß  der  höheren 
Schulen  auf  die  Volksschule,  bei  der  großen  Bedeutung  der  Persönlichkeit 
Pestalozzis  in  dieser  Hinsicht  nicht  günstig  auf  die  Gestaltung  der  Lehrpläne 
der  Volksschule  eingewirkt.  Der  Unterrichtsstoff  löste  sich  zu  sehr  los  von 
der  Wirklichkeit,  in  der  das  unterrichtete  Kind  stand,  und  für  die  es  er- 
zogen werden  sollte.    Für  die  Wahl  des  Stoffes  war  dessen  formal  bildende 


jQ,  GoTll.oH  Stniiri'A:   Das  VolksstliulwcsiMi. 

Kraft  oft  iuisschUiggcbender,  als  der  ihm  an  sich  innowohnetide  Wert.  Mit 
dadurch  wurde  es  veranlaßt,  daß  nicht  immer  grundlos  der  Volksschule 
und  ihren  Lehrern  der  Vorwurf  gemacht  werden  konnte,  sie  gingen  in  den 
Kleinlichkeiten  der  Methodik  auf,  der  vermittelte  Stoff  dagegen  sei  viel- 
fach minderwertig,  ja  unrichtig.  Nicht  so  sehr  nach  großen  Gesichts- 
punkten als  nach  dem  jeweilig  hervortretenden  Bedürfnis  hat  sich  der 
Unterrichtsbetrieb  der  Volksschule  ausgestaltet.  Was  in  einzelnen  fort- 
geschritteneren Bezirken  erreicht  war,  galt  bald  als  allgemeine  Norm.  Die 
Entwicklungslinie  hat  aber  keineswegs  immer  gerade  aufwärts  geführt. 
Aktion  und  Reaktion  kommen  auch  hier  in  fortwährendem  natürlichen 
Wechsel  zur  Geltung. 
Leiirfachcr  J. r  Zu    den    alten    Unterrichtsfächern    der    Volksschule:    Religion,    Lesen, 

Gesang  hat  sich  bereits  im  i6.  Jahrhundert  das  Schreiben  und  Rechnen 
gesellt.  Das  i8.  Jahrhundert  brachte  den  Unterricht  in  den  sogenannten 
Realien  (Geschichte,  Erdkunde,  Naturkunde)  und  das  neunzehnte  Zeichnen, 
Turnen  für  Knaben  und  Handarbeit  für  Mädchen.  Das  sind  die  zurzeit 
in  Deutschland  und  in  den  meisten  andern  Ländern  üblichen  Eächer.  Nicht 
in  der  Schaffung  neuer  Kulturwerte,  sondern  in  deren  Vermittlung  an  die 
breitesten  Schichten  des  Volkes  besteht  die  Arbeit  der  Volksschule.  Was 
für  Kulturelemente  aus  den  genannten  Unterrichtsfächern  die  Volksschule 
vermittelt,  ist  davon  abhängig,  aus  welchen  Bevölkerungsschichten  sie 
sich  rekrutiert,  und  welcher  Beschäftigung  zum  Erwerb  ihres  Lebensunter- 
haltes die  Kinder  sich  später  hauptsächlich  zuwenden  werden.  Die  Volks- 
schule kann  nicht  Eachschule  im  eigentlichen  .Sinne  sein,  aber  darauf  muß 
sie  hinarbeiten,  durch  Rücksichtnahme  auf  die  Berufsarten  und  die  ganze 
Lebensführung  der  Kinder  zu  befähigen,  daß  sie  sich  erwachsen  in  ihrem 
Lebenskreis  zurechtfinden  und  Besserungen  in  ihm  vorzunehmen  vermögen. 
überwiegen  Im  ganzen  ist  das  Gepräge  der  Volksschule  zu  stark  städtisch,  ja  man 

Gesichtspunkte. kann  behaupten,  großstädtisch  geworden.  Die  ursprüngliche  Anlehnung 
der  Volksschule  an  die  städtische  höhere  Schule,  die  Herübemahme  von 
deren  Einrichtungen  mangels  selbständiger  Entwicklung  infolge  des  Fehlens 
klarer  Erkenntnis  der  verschiedenen  Aufgaben  beider  Schularten  haben 
dazu  von  vornherein  hingeführt.  Die  größere  geistige  Regsamkeit  der 
städtischen  Volksschullehrer  und  die  Möglichkeit,  der  Schularbeit  sich  un- 
eingeschränkter widmen  zu  können  als  der  durch  allerlei  sonstige  Be- 
schäftigung wie  Land-  und  Gartenbau  oder  Kirchendienst  in  Anspruch 
genommene  Landlehrer,  die  Herstellung  von  Lehr-  und  Lernmitteln  über- 
wiegend durch  städtische  Volksschullehrer  haben  diese  Richtung  auf  das 
städtische  Leben  besonders  gekräftigt.  Einfluß  darauf  hat  auch  die  Führung 
des  Volksschullehrerstandes  durch  seine  großstädtischen  Glieder  infolge 
des  festorganisierten  Lehrervereinswesens  gehabt.  Anfange  zum  Bessern 
sind  da,  aber  sie  müssen  erheblich  kräftiger  werden,  wenn  sie  nachhaltig 
wirken  sollen.  Die  größere  Seßhaftigkeit  der  ländlichen  l^ehrer  ist  dazu 
notwendige  Voraussetzung,  da  nur  dem  Lehrer,  der  auf  der  gleichen  Stätte 


III.    Die   Volksschule  der  Gegenwart.  I05 

seiner  Tätigkeit  länger  verweilt,  möglich  ist,  an  den  mitgebrachten  Vor- 
-stellungskreis  der  Kinder  anzuknüpfen  und  auf  ihn  abzuzielen.  Zurzeit 
findet  sich  aber  wie  bei  unsrer  Gesamtbevölkerung  so  auch  bei  den 
Lehrern  der  kräftigere  Beharrungszustand  in  den  größeren  Städten. 

Die  Kultur,  welche  die  Volksschule  den  Kindern  vermitteln  will,  ist  in  sittliche  iseoin- 

fiü^siinj;  durch 

erster  Linie  sittlicher  Art.  Normalerweise  sollte  da  vornehmlich  das  Litern- die  Volksschule 
haus  wirken.  Indes  seine  Einwirkung  ist  nicht  immer  ausreichend,  weil  seine 
Kraft  durch  schwierige  Lebensverhältnisse  gelähmt  wird  oder  weil  es  infolge 
des  Mangels  eigner  Sittlichkeit  dazu  außerstande  ist.  Der  Staat  aber  hat 
nicht  nur  zu  seiner  eignen  sicheren  Fundamentierung  die  Sittlichkeit  nötig, 
sondern  ohne  sie  vermag  auch  kein  einzelner  glücklich  zu  sein.  Darum  sorgt 
der  Staat  durch  die  Schule  für  Erziehung  zur  Sittlichkeit.  Die  Volksschule 
hat  das  Elternhaus  zu  vertreten.  Und  ihr  stehen  Mittel  dafür  zur  Verfügimg. 
Li  diesem  täglichen  Gleichmaß  der  Arbeit  während  acht  Jahren  bildungs- 
fähigsten Alters  liegt  ein  gut  Teil  erzieheri.scher  Kraft.  Mehr  als  zwei- 
tausendmal hat  das  Kind  der  Volk.s.schule  während  .seiner  Schulzeit  häus- 
liche Aufgaben  gefertigt,  hat  es  sich  bemüht,  pünktlich  zur  Schule  zu 
kommen,  hat  es  gesorgt,  daß  es  rein,  heil  und  glatt  an  Körper  und 
Kleidung  vor  den  Lehrer  trete.  Da  wächst  es  hinein  in  die  Liebe  zur 
Arbeit,  zur  Pünktlichkeit,  zur  Ordnung.  Durch  Gewöhnung  geht  der  Weg 
zur  Gewohnheit.    Die  Hauptsache  dabei  ist  die  Persönlichkeit  des  Lehrers.       Lehrer- 

pt-rsönlichkeit. 

Sein  Ernst,  seine  Treue,  sein  Fleiß,  sein  Eifer,  sein  Frohsinn  drücken  dem 
kindlichen  Gemüte  unverwischbare  Spuren  auf,  wenn  sie  ohne  Aufdringlich- 
keit ihm  entgegentreten.  Freilich  auch  nur  da,  wo  inneres  Gleichmaß,  Ruhe 
und  Besonnenheit  vorhanden  sind,  wo  nicht  hastende  Neueindrücke  die 
früheren  verwischen.  Der  Lehrer  in  reiferen  Jahren  ist  dabei  im  natür- 
lichen Vorteil  gegenüber  dem  jungen,  der  ja  nicht  meinen  darf,  durch 
viele  Neuerungen  etwas  zu  erreichen,  sondern  der  die  Stetigkeit  der  Arbeit 
ganz  besonders  anzustreben  hat.  Ruhige  Besonnenheit  ist  dem  Lehrer 
auch  unentbehrlich  bei  der  Anwendung  der  äußersten  ethischen  l-'.rziehungs- 
mittel,  bei  Belohnung  und  Strafe.  Wer  erstere  weise  zu  verwenden  ver- 
steht, wird  zu  letzterer  selten  genötigt  werden. 

Auf  ethischem   Gebiete    liegt    weiter  der  Einfluß  des   Gemeinschafts-  Zusammenleben 

,  der  Kinder. 

lebens  der  Kinder  untereinander.  Die  Familie  übt  viel,  oft  zu  viel  Liebe 
und  Nachsicht,  so  daß  selbstisches  Wesen  im  Kinde  entsteht  und  gepflegt 
wird.  Die  Volksschule  kann  Rücksichtnahme  allein  nicht  walten  lassen. 
Die  Gerechtigkeit  verlangt  gleichen  Maßstab  für  alle,  deren  Kräfte  gleich 
•sind.  Da  .streift  Eigensucht  sich  ab.  Nächstenliebe,  Mitleid  und  Barm- 
herzigkeit, Freundlichkeit  und  Hilfsbereitschaft  sind  Pflanzen,  die  auf  dem 
Boden  des  gemeinsamen  Lebens  der  Volksschule  fröhlich  gedeihen.  Doch 
die  Münze  dieser  kräftigen  Miterziehung  durch  Mitschüler  hat  ihre  Kehr- 
seite: die  Gefahr  des  schlechten  Beispiels  und  unmittelbarer  Verführung. 
Der  Lehrer  vermag  sie  mindestens  abzuschwächen,  wenn  in  allem,  was  er 
tut,  der  Geist  uneingeschränkter  Reinheit  und  Wahrhaftigkeit  waltet,    Dann 


Io6  Gorri.oH  Sch'H'I'A:   Das  Volkssrhulwesen. 

wird    rill    sittlich    \  (»rkominrncr   Schüler    so   leicht    die    anderen    nicht   an- 
stecken, weil  sie  ihn  meiden. 
KoiiRiüso  Kill-  Die  sittliche  Einwirkung  der  Volksschule    ist  ohne  die  religiöse    nicht 

Volksschule,  denkljar.  In  der  christlichen  Religion  insonderheit  liegen  unverwüstliche 
Kräfte  der  Sittlichkeit,  die  ihre  Betätigung  im  gesamten  Volksleben  fordern. 
Der  französische  Ministerialerlaß  über  die  Volksschule  vom  27.  Juli  1882 
bringt  in  den  Artikel  XV  beigegebenen  Lehrplänen  einen  Lehrplan  für 
den  sittlichen  Unterricht.  So  sehr  er  sich  bemüht,  vermag  er  die  religiösen 
Gefühle  nicht  zu  entbehren  und  als  Hauptpflicht  gegen  Gott  nennt  er  den 
Gehorsam  gegen  die  göttlichen  Gesetze.  Die  Volksschule  ist  eine  Er- 
ziehungsanstalt, die  der  Religion  benötigt,  sie  muß  darum  ihrem  Lehrer 
auch  den  Religionsunterricht  belassen.  Wird  er  ihm  genommen,  sinkt 
seine  Autorität  bei  den  Schülern,  die  sehr  wohl  empfinden,  daß  der  Lehrer 
als  nicht  befähigt  dafür  angesehen  wird. 
Reiigions-  Es  ist  aber  auch  für  die  Volksschule,  ja  vielleicht  da  am  meisten  eine 

Täuschung,  wenn  man  glaubt,  durch  Unterricht  allein  den  Kindern  Reli- 
gion aneignen  zu  können.  Sie  wird  anerlebt,  nicht  angelernt.  Das  gilt 
besonders  für  den  geistigen  Zustand,  in  dem  die  Kinder  zur  Schule  kommen, 
schließt  aber  nicht  aus,  später,  nachdem  der  Keim  religiösen  Lebens  sich 
weiter  entwickelt  hat,  ihn  durch  das  Licht  religiöser  Belehrung  zur  vollen 
Entfaltung  zu  bringen.  Darum  kann  aller  Unterricht  der  Volkschule  eines 
religiösen  Zuges  nicht  entraten.  Es  ist  ein  großes  Ding  um  die  Errungen- 
schaften der  Naturwissenschaft,  aber  das  von  ihnen  erhoffte  Glück  haben 
sie  nicht  gebracht;  ja  bei  ihrem  Eindringen  in  die  breiteren  Kreise  drohen 
sie  das  geistige  Leben  stark  zu  vergröbern  und  seines  tieferen  Gehaltes 
zu  entleeren,  wenn  dagegen  nicht  der  Damm  einer  idealen  Welt-  und 
Lebensanschauung-  aufgeworfen  wird,  dessen  Krone  die  Gewißheit  einer 
übenveltlichen  Wirklichkeit,  der  religiöse  Glaube,  bildet.  Auch  die  Ge- 
schichte lehrt  es,  daß  die  Glanzzeiten  der  Völker  religiös  stark  beeinflußt 
waren.  Darum  ist  es  unmöglich,  dem  Gedanken  ernsthaft  näher  zu  treten, 
den  Religionsunterricht  aus  der  Volksschule  zu  entfernen.  Für  unsere 
deutsche  Volksschule  wenigstens,  die  nicht  nur  Wissen  vermittelt,  die  er- 
ziehen will  und  muß,  wenn  sie  sich  nicht  selbst  aufgeben  soll,  ist  der 
Religionsunterricht  das  Herz  der  gesamten  Schularbeit.  Aber  nicht  die 
Menge  des  religiösen  Wissens  gibt  einen  richtigen  Maßstab  für  die  Kraft 
des  religiösen  Lebens  ihrer  Besitzer,  ja  oft  stehen  beide  in  umgekehrtem 
Verhältnis  zueinander,  weil  der  Religionsunterricht  nicht  innerlich  den 
Lernenden  erfaßt  hat  und  nur  erreichte,  Gedächtnisstoff  anzuhäufen,  weil 
zu  dem  Wissen  nicht  das  Gewissen  getreten  ist.  Die  schwerste  und  be- 
deutsamste unterrichtliche  Aufgabe  auch  für  die  Volksschule  besteht  zur- 
zeit wohl  darin,  einen  Weg  zu  finden,  wie  in  ihr  ein  gedeihlicher  Reli- 
gionsunterricht erteilt  werden  kann,  nachdem  eine  Kluft  entstanden  ist 
zwischen  der  altkirchlichen  und  der  neutheologischen  Anschauung.  Eine 
allgemeingültige  Beantwortung  der  Frage  kann  es  nicht  geben,  denn  das 


III.    Die   Volksschule  der  Gegenwart.  IO7 

Christentuni  hat  sich  ganz  naturgemäß  nach  Konfessionen  ausgestaltet  und 
seine  Art  ist  nicht  unbeeinflußt  geblieben  von  dem  Charakter  der  V'olks- 
stämme.  Nur  das  darf  nie  aus  dem  Auge  \erloren  werden,  daß  die  Volk.s- 
schule  nicht  Aneignung  theologischer  Kenntnisse,  sondern  Wirkung  reli- 
giösen Lebens  anstrebt.  Der  Pulsschlag  eines  solchen  ist  nirgends  so  fühlbar, 
als  in  der  mannigfaltigen  Darstellung  der  Bibel.  Theologische  Einleitungs- 
fragen interessieren  das  Kind  nicht.  Daß  ab<>r  die  -Sprache  und  die  .\n- 
schauungsweise  eines  zeitlich  und  räumlich  fernen  Volkes  manches  anders 
zur  Darstellung  bringt,  als  das  Kind  gewohnt  ist,  merkt  es  selbst  bald.  In 
den  verschiedenartigsten  Formen  den  ewig  wertvollen  religiösen  Gehalt  zu 
finden  und  verstehen  zu  lehren,  ist  Aufgabe  auch  der  Volksschule.    Kirche    Kirche  und 

Volksschule. 

und  Volksschule  sind  zwei  aufeinander  angewiesene  Einrichtungen,  Ihrer 
beider  Ziel  ist  die  religiös-sittliche  Erziehung  des  Volkes.  Die  Vertreter 
beider  haben  die  ernsteste  Pflicht,  sich  zu  helfen  und  zu  dienen.  Wer  das 
gegenseitige  Verhältnis  nur  in  dem  Gesichtswinkel  der  Machtfrage  ansieht, 
wer  sie  beide  als  Vertreter  verschiedener,  ja  entgegengesetzter  Welt-  und 
Lebensanschauung  hinstellt,  bringt  dem  Volke  schweren  Schaden.  In  der 
unersetzlichen  und  überragenden  Bedeutung  der  Religion  für  die  Erziehung 
wie  für  die  Gewinnung  einer  zuverlässigen  Lebens-  und  Weltanschauung 
aller  derer,  die  sie  auf  dem  Wege  philosophischer  Denkarbeit  nicht  zu  er- 
langen vermögen,  liegt  es,  daß  die  Volksschule  grundsätzlich  konfessionell 
einzurichten  ist.  Am  allerwenigsten  sind  Zeiten  konfessioneller  Spannungen 
geeignet,  sie  simultan  zu  gestalten.  Feste  Geschlossenheit  in  der  eignen 
Konfession  für  die  Tätigkeit  der  Volksschule  ist  aber  nicht  identisch  mit 
Polemik  gegen  Andersgläubige  und  hat  nichts  zu  tun  mit  der  Herrschaft 
der  Kirche  über  die  Volksschule.  Wirkliche  Toleranz,  nicht  IndifFeren- 
tismus,  in  religiösen  Dingen  gedeiht  hur  auf  dem  Boden  der  Sicherheit 
des  eigenen  Glaubensstandpunktes.  Tatsächlich  ist  die  Volksschule  unter 
normalen  \'erhältnissen  auch  stets  konfessionell  gestaltet  gewesen.  Die 
Auffassung,  daß  in  dem  preußischen  Landrechte  die  gesetzliche  Unterlage 
für  die  allgemeine  .Simultanschule  gegeben  seii  konnte  nur  zu  einer  Zeit 
entstehen,  die  zu  wenig  geschichtlich  in  die  Anschauung  der  Zeit  des 
großen  Friedrich  eingedrungen  war,  der  jeden  nach  seiner  Fasson  selig 
werden  lassen  wollte,  und  die  die  staatskirchlichen  Grundsätze  seiner  Re- 
gierung übersah.  Daß  aber  doch  hier  und  da  in  Gegenden  mit  national 
gemischter  Bevölkerung  Simultanschulen  entstanden,  hatte  seinen  Grund 
in  dem  Mangel  verfugbarer  Mittel  und  geeigneter  Lehrer,  sowie  in  natio- 
nalen Gesichtspunkten.  Die  Xot  der  Zeit  führte  zu  ihnen,  nicht  grund- 
sätzliche Neigung. 

Auf  dem  sittlichen  Gebiete  liegt  auch  die  Pflege  des  vaterländischen  vateriandssi.m 

"^  "^  in   Jcr  Volks- 

Sinnes  in  der  Volksschule  nicht  nur  durch  ein  bestimmtes  Unterrichtsfach       schule. 

etwa,  wie  die  Geschichte,  sondern  vielmehr  dadurch,  daß  aller  Unterricht, 

gerade  weil  er  beschränktere  Wissensgebiete  umfaßt,  durchaus  bodenständig 

und   national  sein   kann.     Hier  hat  die  Volksschule  einen  Vorzug  vor  der 


Io8  Gottlob  ScuiirPA:  Das  Volksschulwcscn. 

h(")horii,  die  schon  durch  den  Betrieb  der  fremden  Sprachen  in  ihr  ganz 
von  selbst  zu  einer  gewissen  Inteniationalität  gedrängt  wird.  Nicht  zu- 
fälhg  hat  seinerzeit  die  \'olksschule  der  Franckeschen  Stiftungen  in  Halle 
den  Namen  „Deutsche  vSchule"  erhalten  im  Gegensatz  zu  dem  Hauptbe- 
standteil der  sonstigen  Stiftungsschulcn,  zu  der  „Latina".  Der  Volksschul- 
lehrer ist  in  der  Lage,  wurzelecht  nationale  Bildung  zu  vermitteln.  Ganz 
besonders  gilt  dies  von  dem  Landlehrer,  in  dessen  gesamtem  Unterrichte 
die  Heimat  die  erste  Rolle  spielt,  der  dadurch  aber  auch  einen  Heimat- 
sinn zu  erzielen  vermag,  wie  ihn  die  Volksschule  der  Großstadt  trotz  aller 
Bemühungen  der  Lehrer  nicht  erreichen  kann.  In  diesem  grundnationalen 
Charakter  der  Bildung  der  Volksschule  liegt  ein  großes  Stück  ihrer  Be- 
deutung. Die  Glieder  des  Volkes,  die  durch  sie  ihre  Bildung  erlangt 
haben,  sind  ein  Ferment  für  das  Volksleben,  das  ein  Gegengewicht  bildet 
zu  der  mehr  oder  weniger  nivellierten  Masse  der  Gebildeten. 
Intellektuelle  Durchaus  Vereinbar  mit  der  religiös-sittlichen  Beeinflussung  des  Willens 

Beeinflussung  ^  ^ 

durch  die  Volks-  als  der  ersten  Tätigkeit  der  Volksschule  ist  es  aber,  daß  sich  darin  deren 

schule. 

Arbeit  nicht  erschöpft.  Die  Kinder,  die  sie  besuchen,  werden  fast  durch- 
weg darauf  angewiesen  sein,  sich  später  durch  ihre  Arbeit  zu  ernähren. 
Je  stärker  das  Anwachsen  der  Bevölkerung,  desto  mehr  Glieder  des  Volkes 
sind  gezwungen,  den  alten  ursprünglichen  Ernährungsweisen  des  Acker- 
baues und  der  Viehzucht  den  Rücken  zu  kehren  und  zu  industriellem  Er- 
werbe überzugehen.  Aber  auch  Ackerbau  und  Viehzucht  selbst  verlangen 
in  der  ganzen  Einrichtung  ihres  Betriebes,  in  der  Handhabung  der  immer 
verfeinerten  und  zusammengesetzteren  Geräte  geistige  Zutat  zu  der  körper- 
lichen Arbeit,  wenn  sie  in  dem  schweren  Ringen  der  Konkurrenz  noch 
ernähren  und  nicht  zur  Ab-  und  Auswanderung  zwingen  soll.  Dem  Staate, 
der  Gemeinde  liegt  daran,  Bürger  zu  erziehen,  die  etwas  zu  leisten  im- 
stande sind.  Darum  muß  die  Volksschule  in  allerlei  nützlichen  Dingen 
unterrichten. 
Unterricht  in  der         Lescn  Und  Schreiben  stehen  nach  Alter  und  Bedeutung  voran,  sie  sind 

Muttersprache.      ^ 

die  Grundlage  für  alle  spätere  Weiterbildung.  Buchstaben  zu  Silben,  Wörtern 
und  Sätzen  zusammenzufügen,  ist  nicht  das  letzte  Ziel  des  Leseunterrichts. 
Unsere  deutschen  Volksschullesebücher  wollen  dem  Kinde  des  Volkes  seinen 
Anteil  an  den  reichen  Schätzen  des  Geisteslebens  in  unsrer  Literatur  ver- 
mitteln. Das  Kind  lernt  aus  ihm  die  besten  Dichtungen  neben  den  Ar- 
beiten hervorragender,  volkstümlich  schreibenden  Gelehrter  der  verschieden- 
sten Wissen.sgebiete  kennen.  Man  fordert  heute  mit  Recht  auch  Berück- 
sichtigung der  Neueren  und  Neusten,  und  man  wird  sie  erhalten.  Die 
starke  Benutzung-  der  Volksbibliotheken,  der  Ankauf  der  mancherlei  Aus- 
gaben der  Klassiker  gerade  durch  die  Bevölkerungsschichten,  welche  in 
der  Volksschule  unterrichtet  wurden,  sind  Beweis  für  ihre  anregende 
Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete.  Aber  Schriftsteller  und  Dichter  setzen  fast 
immer  gereifte  Menschen  als  Leser  ihrer  Werke  voraus.  Daher  sind 
richtige  Auswahl   der  Stücke   für  Kinder    und   eine   Behandlung,    die    das 


in.    Die  Volksschule  der  Gegenwart.  lOQ 

Interesse  weckt,  nicht  ertötet,  die  fem  von  allem  Schematismus  ist, 
Hauptforderungen  an  das  Lesebuch  und  seine  Behandlung  in  der  Volks- 
schule. 

Um  die  Kinder  der  Volksschule  tiefer  in  unsere  Literatur  einzuführen,      TUeater- 

.    .  aulführungen  für 

hat  man  ihnen  neuerdings  auch  den  Besuch  klassischer  Schauspiele  er-  aio  voikssci.uie. 
möglicht.  Das  kann  bei  nicht  langweilender  Vorbereitung  gewiß  auf 
manche  Kinder  gut  wirken,  aber  läng.st  nicht  alle  haben  erziehlichen  Ge- 
winn davon.  Rüstungen,  Waffen,  Gewänder  und  sonstige  Ausstattungs- 
gegenstände sind  nicht  wenigen  am  wichtigsten.  Wolkengekräusel  um 
den  Mond  sehen  sie,  den  Mond  selbst  nicht.  Es  ist  eine  Verkennung, 
zu  glauben,  daß  man  Kindern  der  Volksschule  die  psychologischen  Pro- 
bleme in  der  Jungfrau  von  Orleans,  in  Maria  Stuart  verständUch  machen 
kann.  Nur  Wilhelm  Teil  mit  seiner  menschlich  einfachen,  vielfach  volkstüm- 
lichen Handlung  dürfte  auch  eine  pädagogische  Wirkung  ausüben  können. 
Anders  liegt  es,  wenn  man  diese  Theatervorstellungen  für  Kinder  als 
ein  Mittel  der  Erziehung  zu  edlem  Genuß  ansieht.  Da  werden  sie  wichtige 
Dienste   leisten. 

Mit  dem  Lesen  verbindet  sich  in  den  Volksschulen  das  Schreiben,  schreiben. 
Noch  sehr  viel  fehlt,  daß  es  eine  auf  die  Dauer  leicht  geübte  Fertig- 
keit ist.  Auch  bei  den  Aufsätzen  gilt  dies  und  bei  einfachsten  Schritt- 
sätzen. Es  i.st  mehr  Selbständigkeit  und  eigne  Arbeit  anzustreben,  weniger 
ängstliche  Leitung.  Lieber  einfache  eigne,  als  geistreiche  fremde  Ge- 
danken, lieber  schlichte  und  selbstgemachte,  wenn  auch  nicht  immer  kor- 
rekte Ausdrucksweise  als  hochfrisierte.  Gesunde  Natürlichkeit  muß  in  den 
deutschen  Unterricht  einziehen  und  volle  Sicherheit  in  den  Elementen, 
wie  sie  nur  viel  Übung  erzielt. 

•  Auf  richtigere  Bahnen  hat  der  Rechenunterricht  der  Volksschule  ein-  Rechnen. 
gelenkt,  seitdem  er  mehr  und  mehr  die  seinem  Betriebe  anhaftende  Er- 
innerung an  die  Zeit  seiner  Entstehung  bei  den  Geldgeschäften  mit  den 
italienischen  Handelsemporien  abstreift  und  Zahlkraft  wie  Rechenfertigkeit 
an  Aufgaben  aus  den  Sachgebieten  des  Lebenskreises  der  Kinder  übt. 
Auch  die  Raumlehre  sieht  viel  richtiger  ihr  Ziel  in  Abmessung,  Schätzung 
und  Berechnung  der  einfachen  Flächen-  und  Körperverhältnisse,  als  in  dem 
Beweis  des  Pythagoras. 

Der  Unterricht  in  den  sogenannten  Realien  zeitigt  erfahrungsmäßig  Geschichte  und 
oft  recht  geringe  Erfolge.  Er  lehnt  zu  stark  an  den  Betrieb  in  den 
höheren  Schulen  an  und  behandelt  nicht  selten  Dinge,  die  dem  Kinde 
zu  fern  und  zu  hoch  liegen.  Der  Anschauungskreis  jedes  Kindes  bietet 
Objekte,  welche  auf  ältere  Zeiten  führen  und  darauf,  daß  sie  nicht 
immer  besser  waren  als  die  Neuzeit.  An  sie  lehne  der  kulturgeschicht- 
liche Unterricht  an,  er  bringe  auch  von  den  wirtschaftlichen  Dingen 
das,  was  Kindern  verständlich  i.st.  Etwas  Blut  und  Eisen  ist  indes  der 
Kultur  in  dem  Geschichtsunterricht  beizumischen.  Ein  ordentlicher,  herz- 
hafter Junge   und    auch    ein   tüchtiges,  gesundes   Mädchen  begeistern  sich 


I  lO 


fiOTixoH  Scik'iI'I'A:   Das  Volksschulweseii. 


Erdkunde. 

N.itiirkuniU'. 


Ästhetische 
Bildung, 
Gesang. 


Zeichnen. 


Deutsch. 


Schmuck  der 
Schulräume. 


noch  immer  am  meisten  an  den  Helden  ihres  Volke.s,  die  ihr  Leben  mutig 
wagten  zum  Ruhme  und  zur  Freiheit  ihres  Vaterlandes.  Das  Beste  an 
der  Geschichte  ist  einmal  die  Begeisterung-,  die  sie  erzeugt. 

Ebenso  wie  der  geschichtliche  muß  der  erdkundliche  und  der  natur- 
kundliche Unterricht  die  Heimat  benutzen.  Er  lehre  die  Kinder  deren 
Eigenart  sehen  und  lieben.  Der  Sumpf,  die  Dünenbildung  der  Ebene,  die 
Quelle,  das  Gebirge  bieten  für  beide  Unterrichtsfächer  eine  Fülle  von 
Stoff.  Der  Zusammenhang  ist  aufzuweisen  zwischen  den  natürlichen  Zu- 
ständen der  Heimat  und  ihrer  Kultur.  In  der  Heimatkunde  muß  alles 
Papierwissen  schwinden;  sie  darf  kein  Unterrichtsfach  sein,  das  in  einer 
Klasse  der  Mittelstufe  abgetan  wird,  sondern  sie  muß  ein  Unterricht.s- 
prinzip  werden,  das  mit  der  zunehmenden  Reife  der  Kinder  zunehmend 
sich  geltend  macht.  Wenn  irgendwo,  so  gilt  hier:  der  Unterricht  sei 
Wirklichkeitsunterricht. 

.Neben  der  ethisch-religiösen  und  der  intellektuellen  Bildung  vermittelt 
die  Volksschule  auch  ästhetische.  Alt  in  ihr  ist  die  Musik  in  Gestalt  des 
Gesanges  zu  kirchlichem  Zwecke.  Das  vorige  Jahrhundert  setzte  ihm  den 
Gesang  weltlicher  Volkslieder  an  die  Seite.  Eine  große  Menge,  vielleicht 
die  Mehrzahl  der  Organisten  und  Chorleiter  verdanken  ihre  musikalische 
Anregung  dem  tüchtigen  Unterrichte  ihrer  Volksschullehrer.  Stammesart 
hat  dabei  große  Bedeutung.  Hauptsache  bleibt  die  Natürlichkeit  des  Ge- 
sange.s.  Das  Volkslied  ist  das  Lied  der  Volksschule.  Neben  dem  Chor- 
gesang steht  der  Einzelgesang;  es  steckt  einmal  viel  Wahrheit  in  Hage- 
dorns singendem  „muntern  Seifensieder". 

Außer  dem  Gesänge  treibt  die  Volksschule  das  Zeichnen.  Überall 
ist  man  dabei,  es  einem  geisttötenden  Formalismus  zu  entheben.  Sinnlich 
scharf  sehen,  innerlich  klar  vorstellen,  das  Vorgestellte  mit  der  Hand  mög- 
lichst getreu  durch  den  Stift  darstellen,  ist  Aufgabe  des  Zeichenunter- 
richts. Außer  acht  darf  dabei  aber  nicht  bleiben,  daß  die  Kinder  der 
Volksschule  nicht  angehende  Künstler,  sondern  angehende  Broterwerber 
sind,  die  das  Zeichnen  für  ihre  praktische  Tätigkeit  gut  verwenden  können. 

Neuerdings  wird  auch  der  Unterricht  im  Deutschen  vielfach  mit  Rück- 
sicht auf  die  Ästhetik  betrieben.  Wer  je  erlebt  hat,  wie  zarteste,  duftigste 
Blüten  unserer  Lyrik  von  starkknochigen  Händen  zerpflückt  wurden,  wird 
das  wohl  begründet  finden.  Aber  man  soll  nur  nicht  meinen,  daß  man 
die  Ästhetik  für  unsere  Kinder  an  die  Stelle  der  Ethik  setzen  kann.  Ein 
Lesestück  ethischen  Inhalts,  das  ästhetisch  nicht  besteht,  gehört  nicht  in 
das  Lesebuch,  doch  soll  man  aus  ihm  ästhetisch  unanfechtbare  Stücke 
nicht  entfernen  wollen  deswegen,  weil  sie  ethische  Tendenz  haben.  Der 
unübertrefflichen  Auffassung,  wie  sie  Schiller  von  der  ästhetischen  Er- 
ziehung hatte,  sind  Volksschulkinder  nicht  gewachsen.     IV.vjbev  afav. 

Für  die  ästhetische  Bildung  geschieht  zur  Zeit  auch  manches  in 
Ausstattung  der  Lehrräume.  Die  konzentrierte  Steuerkraft  der  Städte 
leistet  darin  noch  am  meisten.     Indes  auch  der  Einzellehrer  in  verlassener 


in.    Die  Volksschule  der  Gegenwart.  III 

Gegend  vermag  etwas  dafür  zu  tun,  und  wäre  es  nur  durch  Pflege  von 
Blumen  im  Zinmier  und  Garton.  Nur  darf  auch  hier  das  „nichts  zuviel«  nicht 
unbeachtet  bleiben.  Verständnis  für  die  beschränkte  Fähigkeit  des  Kindes, 
namentlich  des  Knaben,  ästhetische  Anregungen  in  sich  aufzunehmen,  ist 
die  notwendige  Voraussetzung  für  die  zu  gewährenden  Anregungen,  sonst 
entsteht  ein  Zerrbild.  Spnmgweises  Vorgehen  macht  bald  lahm,  und 
Reinlichkeit,  Ordnung,  Sauberkeit  sind  für  die  Volksschule  auch  heute  noch 
die  Vorhalle,  die  man  erst  durchschritten  haben  muß,  um  in  das  Heilig- 
tum der  Ästhetik  zu  gelangen. 

Hiermit  hängt  die  Pflege  der  Höflichkeit  zusammen.  Sie  ist  in  Höflichkeit. 
Deutschland  noch  zurück  hinter  den  Ländern  im  Süden  und  Westen 
Europas;  noch  sind  die  Zeiten  längst  nicht  vorüber,  wo  Biederkeit  und 
Grobheit  notwendig  zusammenzuhängen  schienen.  Schulklassen  mit  gesell- 
schaftlich gut  gebildeten  Lehrerinnen  zeichnen  sich  aus.  Der  Tumunter-  Turnen, 
rieht,  der  für  die  körperliche  Haltung  der  Bevölkerung  schon  manches 
geleistet  hat,  kann  das  Kind  auch  zu  größerer  äußerer  Manierlichkeit 
erziehen.  Seine  eigentliche  Aufgabe  bleibt  aber  systematische  Kräftigung 
des  Körpers  bei  Pflege  seiner  Geschmeidigkeit,  Stärkung  des  Wagemuts 
und  Aufgehen  des  einzelnen  im  ganzen,  keinenfalls  darf  er  sich  ganz  in 
Sport  und  Spiel  verlieren. 

Neuerdings   sind    in   die   Volksschule    Gebiete    hineingezogen    worden.    Praktische 
die    man    früher   durchaus   dem    Hause    zuwies:    Handarbeit   lur   Madchen,  Handarbeit  für 

7-..  »  Mädchen  und 

ebenso  für  Knaben,  Haushaltungsunterricht  nir  Madchen.    Die  erstere  hat      K„ahen. 
sich    volles  Bürgerrecht  erworben,  weil  die  Arbeitsverhältnisse  es  in  sehr 
vielen  Fällen  der  Mutter  nicht  gestatteten,  ihr  Kind  selbst  zu  unterrichten, 
sie  auch  längst  nicht  immer  dazu  befähigt  ist. 

Für  den  Handarbeitsunterricht  der  Knaben  ist  das  Bedürfnis  nicht  so 
allgemein  vorhanden.  Die  Hand,  die  später  den  Pflug  führen,  den  Ham- 
mer schwingen  soll,  muß  fest  und  kräftig  werden,  für  sie  wäre  Buch- 
binder- und  leichtere  Tischlerarbeit  nicht  ausreichend.  Aber  wo  der 
Knabe  nicht  herangezogen  wird  zu  angemessener  Betätigung  seiner  Kräfte 
in  Haus  und  Hof  und  auf  dem  Acker,  da  ist  Handarbeit  für  Knaben  ein 
wichtiges  Stück  der  Erziehung,  das  Förderung  verdient. 

Änlich  liegt   es  mit  dem  Haushaltungsunterrichte    der  Mädchen.     Das  Haushaitungs- 

.        ,  ,  _  Unterricht. 

Haus  bietet  nicht  immer  Gelegenheit,  daß  die  lochter,  der  Mutter  zur 
Hand  gehend,  hineinwächst  in  die  vielen  Fertigkeiten,  welche  eine  Haus- 
frau in  Stube,  Küche  und  Garten  ausführt.  Und  selbst,  wo  es  noch  ge- 
schieht, ist  es  für  das  Mädchen  gut,  diese  Fertigkeiten  mit  „warum"  und 
„weil"  auszuüben,  wozu  die  Mutter  nur  selten  Anleitung  zu  geben  vermag. 
Air  den  vielerlei  sonstigen  Ansprüchen  gegenüber,  die  auf  Einführung 
neuer  Lehrstoffe  erhoben  werden,  muß  sich  die  Volksschule  reserviert 
stellen.  Am  besten  erfüllt  sie  ihre  Aufgabe  überall  da,  wo  sie  ohne 
äußeren  Schein  arbeitet,  wo  sie  in  Einfachheit  den  Grund  für  eine  feste 
Herzensbildung  legt,   wo   sie   das   Kind  zur   Arbeitslust   und   Arbeitstreue  Arbefutreu"J! 


112  Gottlob  Schöi'I'A:  Das  Volksschulwesen. 

erzieht,  wo  sie  ihm  die  Elemente  des  Wissens  so  fest  und  sicher  aneignet, 
daß  CS  seine  Lebenserfahrungen  daran  ankristallisieren  kann,  um  sich  mit 
ihrer  Hilfe  in  seinem  späteren  hebenskreise  zurechtzufinden.  Nicht  Vor- 
wegnahme der  Wissensgebiete  der  Erwachsenen,  sondern  Vorbereitung 
auf  sie  frommt  dem  Kinde.  Wertvoll  für  eine  gesunde  Entwicklung  sind 
nur  die  Bildungselementc,  welche  den  Durchschnittskräften  der  Kinder 
angemessen  mit  den  ihnen  in  ihrem  gesamten  Erfahrungskreis  zufließen- 
den Bildungsstoffen  zu  einem  geschlossenen  Ganzen  verarbeitet  werden 
können. 
Anititung  zur  Bei  jeder   Aneignung   des   Wissens   darf  die  Volksschule   nicht    außer 

der  Kinder,  acht  lassen,  daß  Wissen  an  sich  noch  keinen  Wert  hat,  daß  der  Satz 
„\Vissen  ist  Macht"  nur  richtig  ist,  wenn  das  Wissen  einer  Persönlichkeit 
angehört,  die  es  zu  gebrauchen  die  Kraft  und  den  Willen  besitzt.  Das 
Wissen  der  Volksschule  hat  dem  höheren  Zwecke  zu  dienen,  die  Kinder 
zu  tüchtiger  Leistung-sfähigkeit  zu  erziehen,  was  nur  auf  dem  Wege  ihrer 
Selbsttätigkeit  geschieht.  Darum  ist  nicht  das  die  beste  Methode,  die 
den  Kindern  möglichst  leicht  viele  Kenntnisse  aneignet,  sondern  die, 
welche  sie  kräftig  zu  selbständiger  Arbeit  nötigt.  Durch  sie  werden  die  im 
Kinde  liegenden  Keime  hervorgelockt  und  zum  Wachstum  gebracht.  Die 
Tätigkeit  des  Lehrers  muß  daher  in  erster  Linie  darin  bestehen,  die  eigene 
Arbeit  des  Kindes  zu  lenken  und  zu  leiten. 

Allgemeine  Die   Volksschule    vermittelt    eine    beträchtliche    Menge    von    Kultur- 

elementen, auf  denen  auch  der  Bau  der  über  sie  hinausgehenden  Schulen 
ruht.  Daraus  hat  man  gefolgert,  daß  jede  Beschulung  eines  Kindes  über- 
haupt mit  ihr  beginnen  müsse.  Gründe  für  ein  solches  Verfahren  lassen 
sich  mancherlei  anführen :  technische  und  soziale.  Ebenso  sind  aber  auch 
sehr  schwerwiegende,  besonders  psychologische  Gegengründe  vorhanden. 
Man  wird  sich  in  der  Annahme  nicht  täuschen,  daß  bei  dem  Streben  nach 
der  allgemeinen  Volksschule  vielfach,  bewußt  oder  unbewußt,  die  Absicht 
leitet,  damit  mehr  Beziehungen  zu  den  Kreisen  zu  gewinnen,  die  jetzt 
ausschließlich  durch  die  höhere  Schule  hindurchgehen.  Die  naturgemäße 
Entwicklung  zu  höherer  Kultur  erfolgft  in  erster  Linie  auf  dem  Wege  der 
Differenzierung,  dann  erst  auf  dem  der  Nivellierung  der  Bildung.  Beides 
muß  sich  ergänzen.  Sowohl  die  allgemeine  Volksschule,  wie  die  von 
unten  an  gesonderte  höhere  Schule  fördern  die  Kultur  in  eigentümlicher 
imd  darum  berechtigter  Weise.  Aus  der  Erage  der  allgemeinen  Volks- 
schule darf  man  daher  auch  keine  Prinzipienfrage  konstruieren,  sondern 
sollte  nach  kühler  Erwägung-  aller  Verhältnisse  des  besonderen  Ealles 
entscheiden,  ob  sie  oder  die  gesonderte  höhere  Schule  einzurichten  ist. 
Vorbildung  des  Die   trefi^cude  Auswahl   der  Wissens.stoffe    der  Volksschule  setzt  freie, 

lehrcrs.  beherrschende  Stellung  des  Lehrers  dem  Wissen  gegenüber  voraus.  Seine 
Vorbildung  erfolgt  gemäß  der  geschichtlichen  Entwicklung  gerade  in  den 
fortgeschritteneren  Staaten  durch  eigene  Fachschulen:  durch  die  Semi- 
nare.    Der   Volksschullehrerstand    rekrutiert    sich    in    seiner   Mehrzahl    aus 


111.    Die   Volksschule  der  Gegenwarl. 


113 


lehrer. 


den  Kreisen  der  kleineren  Landwirte,  Gewerbetreibenden  und  der  untern 
Beamten,  das  macht  ihn  /u  einem  besonders  wichtigen  Zwischengliede  in 
der  Entwicklung  einer  mehr  handarbeitenden  Bevölkerung  zu  solcher  mit 
überwiegend  geistiger  Arbeit.  Das  verlangt  aber  auch,  daß  die  jungen 
Leute  zu  ihrem  Berufe  nicht  nur  unterrichtet,  sondern  auch  erzogen  werden. 
Dafür  hat  man,  aus  Rücksicht  auf  die  Billigkeit,  vielfach  das  Internat. 
Es  darf  nicht  Kaserne,  nicht  Kloster  sein.  Gut  geleitet  steht  es  aber 
nicht  zurück  hinter  dem  Extemat.  Damit  der  junge  Lehrer  nicht  Sklave 
seines  Wissens  werde,  muß  ihm  die  Lehrerbildungsanstalt  ein  tüchtiges 
Wissen  mitcreben.    Sein  Beruf  ist  indes  kein  gelehrter,  sondern  er  besteht   Studium  .kr 

o  .  Volksschul- 

in  der  Ausübung  einer  Kunst.  Bildhauerei,  Malerei,  Musik,  Kriegs- 
kunst usw.  lehrt  man  auf  besonders  eingerichteten  Fachschulen,  auch  die 
technischen  Hochschulen  zeigen  eine  erheblich  andere  Struktur  als  die 
Universitäten.  Welche  Bildung  von  einem  Anzustellenden  verlangt  werden 
muß,  darüber  entscheidet  auch  der  Anstellende,  nicht  der  Anzustellende. 
Die  Unterhaltungspflichtigen  der  Volksschule  werden  sich  zu  Lehrern  ihrer 
Kinder  nie  einen  Mann  mit  gelehrter  Bildung  wählen,  wohl  aber  einen 
solchen,  der  offenen  Auges  für  die  Erscheinungen  des  Lebens  aus  diesem 
fortwährend  sein  Wissen  bereichert,  und  der  nicht  nur  befähigt,  sondern 
auch  mit  innerer  Anteilnahme  und  Lust  bereit  ist,  Kindern  das  relativ 
geringe  Maß  von  Wissen  mit  Rücksicht  auf  ihr  späteres  Dasein  zu  über- 
mitteln. Dazu  macht  nicht  die  Erwerbung  von  Gelehrsamkeit  an  sich 
geschickt.  Man  darf  bei  Beurteilung  der  Frage,  welche  Bildung  der  Volks- 
schullehrerstand haben  soll,  nicht  außerhalb  liegende  Motive  mit  der 
eigentlichen  Aufgabe  der  Volksschule  vermischen,  besonders  nicht  solche 
der  Stellung  und  des  Ansehens  der  Lehrer.  Ansehen  und  Stellung  werden 
durch  treue,  geschickte  und  erfolgreiche  Anwendung  der  angeeigneten 
Bildung  innerhalb  der  Grenzen  des  Berufes,  nicht  durch  diese  an  sich 
er\vorben.  Daß  die  heute  vielfach  geforderte  Universitätsvorbildung  aller 
Volksschullehrer  wesentlich  höhere  Ausbildungskosten  und  einen  erheb- 
lichen Mangel  an  Lehrern  für  die  Elemente  des  Wissens  zur  Folge  haben, 
und  daß  andrerseits  die  große  Ztihl  dieser  neu  hinzuströmenden  Elemente 
die  Universitäten  zu  tiefgreifenden  Änderungen  ihrer  äußeren  Einrich- 
tungen wie  ihres  inneren  Betriebes  veranlassen  müßte,  soll  neben  den 
grundsätzlichen  Erwägungen  hier  wenigstens  angedeutet  werden. 

Zu  den  X'olksschuUehrem  gesellen  sich  in  steigendem  Maße  die  Volks- 
schullehrerinncn.  Zum  Teil  stammen  sie  aus  sozial  besseren  Gesellschafts- 
schichten. Das  gibt  ihnen  im  ganzen  auch  eine  bessere  gesellschaftliche 
und  soziale  Stellung,  trotzdem  ihre  wirtschaftliche  geringer  ist  als  die  der 
Lehrer.  Ihr  erziehlicher  Einfluß  ist  unverkennbar  günstig;  darum  wird 
man  ihr  stärkeres  Eindringen  in  die  Schule  gern  sehen;  doch  nur,  solange 
die  Lehrerin  noch  weiblich  sein  will  und  es  wirklich  ist.  Nicht  nur  für 
die  kleineren  und  größeren  Mädchen  ist  das  weibliche  Element  heilsam, 
sondern  auch  für  Knaben,  namentlich  für  jüngere.     Gewünscht  kann  aber 

ÜIK   Kl'LTL-R    DKR    GkOKSWAKT.      I.    1.  o 


Volksschul- 
Ichrerinneii, 


II,  Gottlob  Schöppa:  Das  Volksschulwpsen. 

nie    werden,    daß    die    Zahl    der   Frauen    im    Unterrichte    der    der   Männer 
gleichkomme,  ja,  wie  es  in  Amerika  der  Fall  ist,  sie  gar  übertreffe. 
AuBeranuiicher  Für  die  Bcdeutung  der  Volksschule  als  Kulturfaktor  sind  die  mannig- 

VoikssrhüT-  fachen,  nicht  unmittelbar  amtlichen  Bestrebungen  ihrer  Lehrer  nicht  zu 
ifiueis.  übersehen.  Im  Rahmen  der  Gesamtkultur  tritt  dabei  der  städtische  Volks- 
schullehrer hinter  den  ländlichen  zurück.  Wohl  sind  beide  beteiligt  an 
den  Fortbildungsschulen,  den  allgemeinen,  den  landwirtschaftlichen  und  den 
gewerblichen,  die  ohne  die  Volksschullehrer  tatsächlich  nicht  existieren 
könnten.  Beide  sind  auch  vielfach  tätig  in  der  Erforschung  der  Natur. 
Beide  haben  ebenso  einen  nicht  unwesentlichen  Anteil  an  den  auf  Kenntnis 
der  Heimat  gerichteten  Bestrebungen.  Aber  der  städtische  Volksschul- 
lehrer wird  doch  vielfach  durch  andere  verfügbare  Kräfte  ersetzt.  Nicht 
so  der  Landlehrer.  Fast  ausschließlich  ist  die  Förderung  kirchlicher 
Musik,  die  Pflege  des  Gesanges  der  Erwachsenen  seine  Domäne.  Für  die 
mancherlei  Vereine  kultureller  Art  ist  er  unentbehrlich.  Den  Kreisen  des 
Volkes  nahestehend  und  mit  ihnen  vertraut,  vermag  er  oft  besonders  gut 
die  Töne  der  Vaterlandsliebe  anzuschlagen,  versteht  er  durch  sachgemäße 
Belehrungen  Sinn  und  Verständnis  für  die  Fortschritte  der  Landwirtschaft, 
der  Bienenwirtschaft  u.  dgl.  zu  wecken,  wie  auch  sein  Garten  nicht  selten 
das  Vorbild  für  die  Gärten  der  übrigen  Bewohner  abgibt.  Neuerdings 
kommen  als  eine  wertvolle  Kulturarbeit  der  Lehrer  Volksunterhaltungs- 
abende, die  Gründung  und  Verwaltung  von  Volksbibliotheken,  die  Heraus- 
gabe von  Volksschriften  und  Schulbüchern  hinzu.  Der  große  Nutzen,  den 
solche  Bestrebungen  haben,  darf  nicht  dahin  führen,  den  Volksschullehrer 
zum  Volkslehrer  werden  lassen  zu  wollen.  Soweit  seine  Kraft  reicht,  darf 
er  sich  Aufgaben  widmen,  die  zwar  außerhalb  der  Schule  liegen,  aber 
doch  der  Volkserziehung  dienen  und  seine  Arbeit  als  Erzieher  und  Lehrer 
nicht  behindern.  Seine  Pflicht  ist  nicht,  neue  Scheite  zu  dem  großen  Feuer 
der  Wissenschaft  herbeizutragen,  wohl  aber  Funken  von  diesem  Feuer 
durch  das  Land  in  die  Hütten  der  Dörfer  und  Städte  zu  bringen,  damit 
sich  hie  und  da  ein  Feuer  daran  entzünde. 

Nicht  Einheit-  IV.    Ausblick    auf    die     weitere    Entwicklung    der    Volks- 

Manni'ilfai°ti'gkJi't  schule.  Der  Begriff  des  allgemeinen  Menschentums,  der  zur  Zeit  der  Auf- 
klärung in  die  weitesten  Kreise  ganz  von  selbst  als  Reaktion  gegen  die 
herrschenden  engbegrenzten  Vorstellungen  vom  Wesen  des  Menschen  ein- 
drang, hat  mit  Notwendigkeit  zu  einer  allgemeinen  Volksschule  mit  all- 
gemeinen Aufgaben  und  allgemeinen  Einrichtungen  geführt.  Unsere  Zeit 
aber  fordert  mit  Recht  um  des  Fortschrittes  der  Menschheit  willen,  daß 
das  allgemeine  Menschentum  in  der  Ausgestaltung  der  berechtigten  und 
in  der  natürlichen  Beschaffenheit  des  Landes  begründeten  Eigenart  des 
Volkstums  sich  darstellt.  Sodann  hat  sich  das  Leben  der  zivilisierten 
Nationen  immer  verschiedenartiger  gestaltet.  Landwirtschaftliche  und 
gewerbUche    Arbeit    schaffen    getrennt    und    vereint    in    fast    unbegrenzter 


IV.    Ausblick   auf  die   weitere  Entwicklunt;  Jn    Volksschule.  I  i  ^ 

Zahl    und  Mannigfaltigkeit   die  Werte,  welche    die  Mittel    für  den   l.eben.s- 
unterhalt  gewähren,    und   der  Handel   mit   .seinen  immer  .stärker  sich  ver- 
zweigenden Verkehrsadern  sorgt  für   ihren  gegenseitigen  Austausch.     Die 
immer  mehr  zunehmende  Dichte  der  Bevölkerung,  durch  Gesundheits-  und 
Wohlfahrtspflege,    durch   Frieden.sliebe    gefördert,  verlangt  eindringendste 
Einsetzung  aller  Kräfte,  wenn  den  sich  fortwährend  steigernden  Ansprüchen 
an  die  Erhaltung  des  Lebens  genügt  werden  soll.    Der  weit  überwiegende 
Teil  der  Hevölkerung,  der  gerade  auch  die  schwerstringenden  Kreise  umfaßt, 
erhält  in  der  Volksschule  seine  Vorbereitung  für  den  Kampf  ums  Dasein, 
da  tatsächlich  etwa  neun  Zehntel  sämtlicher  Kinder  durch  sie  hindurchgehen. 
Sie  entstammen  den  Kreisen  mit  einfachster  natürlicher  Beschäftigung  wie 
solchen  mit  höchstentwickelter  industrieller  Kultur.    Diesen  Verhältnissen 
hat  sich  die  Volksschule  anzupassen.    Nach  zwei  Seiten  kann  es  geschehen: 
durch  mannigfaltigere  Gestaltung  ihrer  Organisation,  wie  ihres  Unterrichts- 
betriebes.   Die  Einrichtung  der  Volksschule  hat  unter  dem  Gesichtspunkte 
zu  erfolgen,  daß  möglichst   alle  Schüler  einen  ihrem  geistigen  Niveau  an- 
gemessenen  Abschluß    der  .Schulbildung  erhalten.     Nur  die  Erfahrung  aus 
der   Statistik,    nicht    die  Theorie    kann    entscheiden,    wieviel    aufsteigende 
Klassen    dazu    in    jedem    einzelnen   Falle    gehören.     Die    schwächsten    der 
Schüler  sind  gesondert  zu   behandeln,    ebenso    müssen,  wo  ausreichendes 
Kindermaterial  vorhanden  ist,  die  be.sten  Schüler  die  Möglichkeit  erhalten, 
eine  über  den  Durchschnitt  hinausgehende  Bildung  zu  erlangen.     Der  Zug 
der  Zeit   geht    dem    entgegen.     Und   doch   muß  hier   an   dem  Prinzip   des 
Individualisierens    fe.stgehalten    werden,    wenn     die    Entwicklung    gesund 
bleiben  soll.     In  den  Hilfsschulen  und  den  Mittelschulen  sind  die  Ansätze 
dazu    da.     Durch    die  weitere   Au.sgestaltung    der  letzteren  in   Anlehnung 
und  engem  Zusammenhang  mit  der  Volksschule  ist  diese  mannigfacher  au.s- 
zugestalten  und  ihr  wiederzugeben,  was  sie  früher  besaß:    die  Vorbildung 
aller  Kinder,  die  eine  höhere  Schule  nicht  besuchen,  entweder  zum  Über- 
tritt   in    das  Leben   oder  in   eine  höhere   Schule    behufs   Erweiterung  des 
.Schulwissens  für  höhere  Benifsarten. 

Mit  dieser  Mannigfaltigkeit  der  Organisation  im  engsten  Zusammen- 
hange steht  die  größere  Mannigfaltigkeit  des  Unterrichts,  sei  es  in  stär- 
kerer Betonung  der  intellektuellen  oder  der  ethisch-religiösen  Förderung, 
sei  es  in  Bevorzugung  einzelner  Wissensgebiete  oder  in  besonderer  An- 
passung derselben  an  die  Verhältnisse  der  in  Betracht  kommenden  Be- 
völkerungsschichten. Leben  und  Volksschule  müssen  aufs  engste  ver- 
bunden sein,  und  die  Schule  muß  das  Leben  widerspiegeln.  Das  wird  von 
selbst  dazu  führen,  der  Einzelentwicklung  der  \'olksschule  freieren  Spiel- 
raum zu  geben  als  bisher. 

Das  Entscheidende  für  den  Erfolg  der  Volksschularbeit  ist  nicht  allein  ncschränkune 

'^  (los   Wissens- 

die    Große    des    angeeigneten  Wissens    am    Ende    der    Schulzeit,    sondern       sioffes. 
auch    die  Fähigkeit,   die    wirklichen    Dinge    und    Geschehnisse    .sachgemäß 
aufzufa.s.sen    und    zu    beurteilen,    soweit    ein    Kind    dazu    die    Reife    besitzt. 

8» 


]j^  Gottlob  SchiIppa:  Das  Volksschulwcsen. 

Darum  muß  in  der  Volksschule  an  Stelle  des  Gängeins  der  Kinder  ihre 
leichte  Leitung  zu  und  bei  eigener  Tätigkeit  treten.  Das  setzt  von  vorn- 
herein voraus,  daß  nicht  Pflege  der  Intelligenz  allein  dem  Lehrer  obliegt, 
sondern  ebenso  Weckung  des  Gefühls  und  vor  allem  eindringlichste  An- 
regung und  Festigung  des  Willens.  Soll  diese  Aufgabe  in  der  Volks- 
schule gelöst  werden,  ist  eine  Beschränkung  der  Lehrpläne  unweigerliche 
Voraussetzung.  Sie  dürfen  nicht  Lehrpläne  höherer  Schulen  in  etwas  ver- 
minderter Ausgabe  sein,  sondern  sie  haben  sich  auf  die  Stoffe  zu  be- 
schränken, in  denen  das  Kind  beim  Eintritt  in  das  Leben  orientiert  sein 
muß,  und  auf  die  Fertigkeiten,  welche  es  als  unverlierbares  Eigentum  in 
die  praktische  Arbeit  mitzunehmen  einen  Anspruch  hat.  Wenn  eine 
Schule,  so  sollte  die  Volksschule  beherzigen,  was  Lessing  in  seinem 
Nathan  (Aufz.  V,  Auftr.  6)  der  Recha  imd  Sittah  über  Bücherweisheit  und 
Lebensschule  in  den  Mund  legt. 
Notwendigkeit  Zweifelhaft  kann  es  auch  niemand  sein,  der  die  Dinge  mit  Rücksicht 

für  die  Volles-  uuf  das  Ganze  anschaut,  daß  die  Volksschule  erheblich  größere  Mittel  in 
Anspruch  nehmen  muß,  wenn  sie  ihre  Kulturaufgabe,  so  wie  es  zu  ver- 
langen ist,  erfüllen  soll.  Die  Zeiten,  wo  man  glaubte,  daß  ein  Lehrer 
hundert  und  mehr  Kinder  mit  Erfolg  in  der  Schule  versorgen  könne,  sind 
vorüber.  Überall,  wo  die  Bevölkerung  dichter  sitzt,  wo  also  die  Kinder- 
zahl ausreicht,  hat  man  meist  so  starke  Klassen  gebildet,  daß  Individua- 
lisierung beim  Unterrichte  völlig  ausgeschlossen  bleibt.  Darum  ist  Ver- 
minderung der  Kinderzahl  in  den  Klassen  und  demgemäß  Vermehrung 
der  Mittel  für  die  Volksschule  eine  unabweisliche  Notwendigkeit. 
Ergänzung  durch  Zu    der    größeren   Freiheit  der  Entwicklung  und   zu    der  gründlichen 

biidungsschuie.  Revision  dcs  ganzen  Betriebes,  insonderheit  der  Lehrpläne  und  der  Etats 
der  Volksschule  muß  noch  ein  Weiteres  treten,  wenn  die  Erziehung  der 
Volksschuljugend  gelingen  soll.  Die  Volksschule  entläßt  ihre  Zöglinge  zu 
einem  Zeitpunkte,  in  dem  sie  sittlich  stärker  gefährdet  sind  als  je  zuvor, 
kurz  vor  oder  mitten  in  der  Entwicklung  zur  Geschlechtsreife.  L^ngezählte 
gehen  in  den  Gefahren  dieser  Periode  zugrunde,  weil  der  feste  Halt,  den 
bis  dahin  die  Schule  durch  ihre  Ordnungen  noch  gewährte,  zu  jäh  ab- 
gebrochen wird.  Der  Übergang  muß  allmählicher  geschehen.  In  dem 
Maße,  als  die  Arbeit  des  praktischen  Lebens  dem  Kinde  stärker  auferlegt 
wird,  muß  die  mehr  geistige  Arbeit  der  Schule  zurücktreten,  indem  sie 
sich  unmittelbar  an  die  praktische  Berufsarbeit  anlehnt.  Ganz  gebieterisch 
ist  darum  die  Errichtung  von  Schulen  nach  Art  der  Fortbildungsschulen 
zu  verlangen.  Sie  sollen  nicht  bloß  Fortsetzungen  der  Volksschule  sein, 
aber  sie  können  der  Kraft  der  Gesittung  durch  ethische  Beeinflussung 
nicht  entraten,  durch  welche  allein  der  einzelne,  durch  welche  ein  ganzes 
Volk  stark  wird. 
Volksschule  und  Wer  die  Volksschule    mit  der  andern  großen  Organisation  für  Volks- 

Heer. 

erziehung,    mit   dem  Heere,   v'ergleicht,   vermag-  nicht    zu    übersehen,   wie 
überlegen  die  g'eistigen  und  materiellen  Kräfte  sind,  welche  in  dem  Heere 


IV.    Ausblick  auf  die   weitere  Entwicklung  der  Volksschule.  nj 

wirkon,  und  zwar  trotzdem  es  einen  erheblich  kleineren  Volksausschnitt 
darstellt  als  die  Volksschulo.  Ohne  ungerecht  zu  sein,  darf  sich  daher 
auch  niemand  wundern,  daß  die  Heereserziehung  vielfach  kräftiger  in 
ihren  Wirkungen  sich  erweist  als  die  Erziehung  der  Volksschule. 

Sie  gewinnt  aber   in  dem  Maße   erhöhte  Bedeutung   für  unser  ganzes    soziaio  Auf- 

,-  ,  ii-rt  .  11  •         gaben  der  Volks- 

\  olksloben,  als  der  \ierte  Stand,  dem  sie  die  abschließende  allgemeine  schule. 
Kihhing  vermittelt,  sich  in  die  Reihe  der  andern  Stände  vorschiebt,  als 
die  zur  Zeit  in  ihm  großenteils  noch  gebundenen  Kräfte  frei  werden  und 
sich  entfalten.  Daß  er  sich  vorschiebt,  i.st  eine  nationale,  ja  auch  eine 
sittliche  Notwendigkeit,  die  sich  mit  und  ohne  Willen  der  Beteiligton 
vollzieht.  Jedes  Volk  stellt  in  seiner  Eigenart  ein  Stück  Menschentum 
dar,  das  bestimmt  ist,  der  Vervollkommnung  der  Menschheit  zu  dienen. 
Nicht  eine  kleine  Zahl  der  Volksgenossen  vermag  die  Eigenart  des  ganzen 
Volkes  zu  erhalten  und  in  dem  Streite  der  mannigfachen  Kulturkräfte 
durchzusetzen.  Die  Erfahrung  lehrt,  in  welch  starkem  Grade  der  inter- 
nationale Verkehr  mit  seinen  stetig  gewaltig  fortschreitenden  Mitteln  ab- 
schleift und  au.sgleicht.  Die  volkstümliche  Eigenart  wird  nur  durch  die 
geschlossene  Bevölkerungsmasse  erhalten,  welche  den  vierten  Stand  mit 
umfaßt,  mag  er  sich  gegenwärtig  auch  noch  in  der  Mehrzahl  seiner  Glieder 
international  fühlen.  Das  Volk  kann  sich  ohne  ihn  nicht  zur  Höhe  seiner 
Kultur  emporarbeiten.  Es  muß  um  seiner  selbst  willen  auch  den  vierten 
Stand  zum  nationalen  Leben  mit  heranziehen,  wenn  es  seine  Vollkraft  zur 
Darstellung  bringen,  wenn  es  seine  besonderen  Kulturaufgaben  in  der 
Gesamtheit  der  \'ölker  erfüllen  soll.  Das  helle  Licht  der  Geschichte  liegt 
über  den  Vorgängen,  die  zum  Eintritt  des  dritten  Standes  in  das  öffentliche 
Leben  geführt  haben.  Wie  verschieden  hat  er  sich  bei  den  großen  Völkern 
Europas,  den  Franzosen,  den  Deutschen,  den  Russen  vollzogen,  soweit  bei 
letzteren  davon  schon  gesprochen  werden  kann!  Keiner  wird  verkennen, 
daß  dabei  die  Bildung  des  dritten  Standes  starke  Einflüsse  gehabt  hat. 
Und  nun  tritt  der  vierte  Stand  hervor.  Ein  echter  roi  des  gueux,  ist  der 
erste  Kaiser  des  neuen  deutschen  Reiches  von  dem  edlen  Ehrgeiz  beseelt 
gewesen,  in  seinem  hohen  Alter  noch  für  die  wirtschaftlich  schwächste 
Klasse  der  Bevölkerung,  für  den  vierten  Stand,  einen  Zustand  zu  erstreben, 
wie  er  für  den  dritten  in  der  Emanzipation  herbeigeführt  wurde,  die  an 
die  Namen  Friedrich  Wilhelm  III.,  Stein,  Hardenberg  sich  knüpft.  Un- 
beirrt ist  ihm  in  dem  gleichen  Streben  sein  Enkel  gefolgt.  Die  Schwachen 
auf  ihre  eigene  Kraft  oder  auf  Privathilfe  zu  verweisen,  vertrug  sich  da- 
mit nicht.  Nicht  der  schwankende  Boden  freundlicher  Nächstenliebe 
konnte  das  Fundament  werden  für  den  zu  errichtenden  Bau,  sondern  nur 
der  feste  Boden  des  Rechts.  Damit  wurde  das  Vertrauen  des  vierten 
Standes  auf  den  .Staat  gelenkt,  sein  Wohlergehen  an  die  Blüte  des  Staates 
gebunden.  Damit  war  dieser  Stand  auch  genötigt,  sich  tätig  an  dem 
Leben  des  Staates  zu  beteiligen.  Noch  fehlt  viel,  ja  alles,  daß  das  in 
fnichtbringender  Weise  geschehe.     Rs  will  gelernt  werden,  seine  sozialen 


Il8  Gottlob  ScnörrA:  Das  Volksschulwcsen. 

Rechte  mit  N'erstäiKlni.s  und  liinsicht  zu  gebrauchen,  seine  sozialen  Pflichten 
mit  dem  Blick  auf  das  Ganze  zu  erfüllen.  Hier  liegen  schwere,  noch 
ungelöste  Aufgaben  für  die  \'olksschiüe.  Auch  iliren  Schülern  muß  zimi 
Bewußtsein  kommen,  daß  der  einzelne  die  Gewähr  der  Sicherheit  seiner 
angemessenen  Lebensführimg  nur  als  dienendes  Glied  des  großen  Ganzen, 
des  Staates,  hat,  dem  er  angehört,  dem  er  seine  Kraft  zu  widmen  ver- 
pflichtet ist.  Auch  das  Kind  der  Volksschule  muß  lernen,  daß  die  ge- 
priesene Gleichheit  unmöglich,  weil  widernatürlich  ist,  denn  die  Natur 
kennt  keine  Gleichheit,  sondern  ihr  oberstes  Gesetz  ist  Abhängigkeit  und 
Gehorsam,  und  daß  der  Kommunismus  den  Tiefstand  menschlicher  Ge- 
sittung darstellt.  Erst  wenn  der  enge  Zusammenhang  begriffen  sein  wird, 
der  zwischen  den  sozialen  Problemen  und  der  Volkserziehung  besteht, 
deren  Anfänge  die  Volksschule  vermittelt,  wird  es  gelingen,  die  schweren 
Hindernisse  zu  überwinden,  welche  der  gesunden  Entwicklung  der  Volks- 
schule von  den  verschiedensten  Seiten  entgegentreten.  Wie  die  Wehr- 
haftigkeit  des  Volkes,  so  muß  auch  seine  innere  Erstarkung  von  jeder 
staatserhaltenden  politischen  oder  wirtschaftlichen  Partei  gleichmäßig 
gefördert  werden. 

Treue,  geschickte  Lehrer,  tatkräftige,  weitschauende,  warmherzige 
Herren  muß  die  Volksschule  haben,  wenn  sie  für  die  Gesittung,  das 
Wissen  und  Können  feste  Unterlagen  schafl^en,  wenn  sie  bewirken  soll, 
daß  das  Leben  sichere  Fundamente  vorfindet,  auf  denen  es  die  Kultur 
jedes  einzelnen  zu  der  ihm  entsprechenden  Höhe  weiterzubauen  imstande 
ist.  Der  in  ihr  herrschende  Geist  aber  sei  allezeit  bestimmt  durch  das 
Doppelgebot  „Du  sollst  lieben  Gott,  deinen  Herren,  und  deinen  Nächsten 
als  dich  selbst":  von  seiner  Erfüllung  hängt  das  Gedeihen  auch  der  Volks- 
schule ab. 


Literatur. 

Die  am  Schluß  der  vorhergehenden  Abhandlung  über  das  „Moderne  Bildungswesen" 
von  PaULSEN  aufgeführten  Werke  enthalten  auch  besondere  eingehende  Artikel  über  die 
\'olksschule,  ihre  Hinrichtungen  und  ihren  Betrieb,  oder  sie  gelten  in  einem  Teil  ihrer  Dar- 
legungen für  die  Wilksschule  mit. 

Außerdem  s.in<l  noch  zu  nennen : 

I.  Nachschlagewerke. 

V.  RÖNNE,  Uas  Unterrichtswesen  des  preußischen  Staates.  Berlin,  1855.  (Auch  heute 
noch  für  die  Rechtsfragen  der  älteren  Zeit  unentbehrlich. 

ScHNEllH'.K  und  V.  Bremkn,  Das  \'oIksschuhvcsen  im  preußischen  Staate.  3  Bände. 
Berlin,  1887.  (Neben  den  Rechtsfragen  von  bleibendem  Werte  durch  geschichtliche  Angaben 
und  Berichte  aus  amtlichen  Quellen.) 

V.  BrF-.men,  Die  jireußische  Volksschule.  Stuttgart  und  Berlin,  1905.  (Enthält  in  teil- 
weiser Fortführung  des  vorigen  Werkes  eine  allgemeine  Darlegung  der  tiefgreifenden  Re- 
formen auf  dem  (iebiete  des  preußischen  Schulrechts  während  der  beiden  letzten  Jahr- 
zehnte.) 

ZENTR.M.ni-ATr  KÜR  DAS  OKSAMTK  Unterrichtswksen  IN  PREUSSEN.  Monatshefte  seit 
1859.  f^Sammlung  der  allgemeinen  Erfasse.  Daneben  auch  statistische  Angaben  und  ein- 
zelne geschichtliche  .-Xusführungen.) 

Petersilie,  Das  ötfendiche  Volksschulwesen  im  Deutschen  Reiche  und  den  übrigen 
europäischen  Kulturländern.     Leipzig,   1897. 

i;.  (beschichte  der  Volksschule. 

HeppE,  Geschichte  des  deutschen  X'olksschulwesens.     Gotha,   1858— 1860. 

Keller.  Geschichte  des  preußischen  \olksschulwesens.     Beriin,   1873. 

Außerdem  findet  sich  historisches  Material  über  unseren  Gegenstand  in  den  Lehr 
buchern  der  \'olksschulpädagogik ,  die  allerdings  nicht  einen  eigentlich  wissenschaftlichen 
Charakter  tragen.  .Ms  die  bekanntesten  sind  zu  nennen:  ScHORN,  Geschichte  der  Päda- 
gogik''21.  .A.usg.  von  F.  V.Werder  .  Leipzig,  1903.  Hfilmann,  Handbuch  der  Pädagogik, 
7.  .\\ii\.  1903.  —  .SCHt;MANN-V0IGT,  Lehrbuch  der  Pädagogik.  3.  .\ufl.  11)03.  -  Ostermann- 
Wegner,  Lehrbuch  der  Pädagogik.  Oldenburg.  —  Kahle,  Grundzüge  der  evangelischen 
\'olksschulcrziehung.  Breslau.  —  Leutz,  Lehrbuch  der  Erziehung  und  des  Unterrichts. 
Tauberbischofsheim.  —  DllTES,  Schule  der  Pädagogik.     Leipzig. 

III.    Betrieb  der  \'olksschule. 

Kehr,  Praxis  der  \'olksschule.  Gotha.  '\'on  bleibendem  Wert  durch  die  Fülle  aus 
der  Praxis  geschöpfter  Lehrweisheit. 

Kehr,  Geschichte  der  Methodik  des  Volksschulunterrichts,  (iotha.  (Ein  grundlegen- 
des Werk  großen  Sammelfleißes  vieler  Schulmänner,  aber  sehr  verschieden  in  der  Ausführung 
und  mehrfach  ohne  rechte  kritische  Sichtung., 

Hoh.mann,  Methodik  der  einzelnen  L^nterrichtsfächcr.     Breslau,   1902. 

Das  Wissenswerteste  über  den  eigentlichen  \'olksschulbetrieb  enthalten  auch  die  vor- 
hergenannten populären  Lehrbücher. 


DAS  HÖHERE  KNABENSCHULWESEN, 

SEINE  ENTWICKLUNG  UND  SEIN  VERHÄLTNIS  ZUR 
DEUTSCHEN  KULTUR. 

Von 

Adolf  Matthias. 


Einleitung.  Au;s  der  Kultur  der  Gegenwart,  soweit  sie  im  Leben 
der  höheren  Knabenschulen  zum  Ausdruck  kommt,  führen  zahlreiche  Be- 
ziehungen hinüber  in  des  deutschen  Volkes  nahe  und  ferne  Vergangenheit 
und  darüber  hinaus  in  das  Leben  derjenigen  Kultur\'ölker,  unter  deren 
Einfluß  deutsches  Geistesleben  sich  entfaltet  hat.  Diese  Beziehungen  alle 
aufzusuchen  und  zu  verfolgen  ist  nicht  leicht.  Denn  es  ist  ein  weiter 
Weg  von  dem  Schüler  unserer  Gymnasien  und  Oberrealschulen  bis  zu 
dem  Zögling  der  merovingischen  Palastschule,  in  der  man  ein  grausames 
Latein  zu  lernen  sich  quälte,  oder  zu  dem  Rhetorenschüler  Spätroms,  der 
unterwiesen  wurde  in  der  Weisheit  griechischer  und  lateinischer  Bered- 
samkeit und  nicht  gerade  ehrfürchtig  wie  zu  einem  geliebten  und  ge- 
achteten Mentor  aufblickte  zu  dem  Freigelassenen  oder  Klienten,  der  als 
mißachteter  Pädagog  das  Urbild  eines  neuzeitlichen  Hofmeisters  abgab. 
Und  weiter  noch  ist  der  Weg  von  diesen  Schulen,  in  denen  man  den 
vollkommenen  Menschen  im  vollkommenen  Redner  sah,  bis  zu  den 
Bildungsstätten  der  Alexandriner  mit  ihren  sieben  Disziplinen,  die  man 
später  freie  Künste  nannte,  auch  wenn  sie  noch  so  unfrei  geübt  wurden 
und  Geisteszwang  statt  Geistesfreiheit  förderten.  In  weiteste  Ferne  aber 
wie  zu  einem  unerreichbaren  Ideal  verläuft  der  Weg  zu  den  unseren  Gym- 
nasien namensverwandten,  aber  wesensungleichen  Lehrstätten  Athens,  wo 
im  Schatten  der  Platanen  und  in  herrlichen  Säulenhallen  die  Knaben  und 
Jünglinge  in  schönstem  Wettstreit  bald  in  geistiger  Übung,  bald  in  körper- 
lichem Spiel,  unterstützt  von  der  Kirnst  der  Musik,  zur  Kalokagathie  er- 
zogen wurden  und  der  Weisheit  eines  Sokrates,  Plato  und  Aristoteles 
lauschen  durften.  Da  der  Weg  zu  diesen  ältesten  Schulanfängen,  die 
zum  Teil  sogar  noch  jenseits  griechischer  Kultur  und  Bildung  liegen,  so 
weit  und  die  Spuren  vielfach  so  dunkel  sind,  ist  Beschränkung  auf  unseres 
eigenen  Volkes  Werdegang  nötig.     Dieser  berührt   sich  ohnedies  so  viel- 


I.  Bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters.  1 2  i 

t.ii  h  niii  fliT  Kiiliur  andrer  Völker,  mit  (Irnen  die  Deutschen  in  freund- 
liche oder  feindliche  Berührung  kamen,  daß  ein  Ausblick  in  die  Weite 
der  Wellkultur  immer  damit  verbunden  ist. 


I.  Bis   zum  Ausgang  des  Mittelalters.     Als   das  Germanen volkRomiMchrKuUur 

d  Anfang 
Gernian« 
schulen. 


,./—  i'i  •  ,  ri  T»i  •■•,  -wr     4  1   •  """^   Anfange 

ui   die  LTeschicnte   emtrat  und  auf  dem  IJoden   römischer  Kultur  erschien,  von  Germanen 


brachte  es  scheinbar  nichts  mit,  was  kulturfiirdernd  war,  scheinbar  alles, 
was  zerstörend  wirken  mußte.  Ein  Volk  in  Waffen,  dem  Krieg  und  Raub 
die  Mittel  seines  irdischen  Daseins  gaben,  dem  es  träge  und  mattherzig 
schien,  mit  Schweiß  zu  erwerben,  was  man  mit  Blut  gewinnen  kann,  das 
in  sich  den  wunderbaren  Widerspruch  vereinigte,  daß  es  die  Trägheit 
und  den  Müßiggang  liebte,  wenn  kampflose  Zeiten  waren,  die  Ruhe  aber 
haßte,  sobald  das  Schwert  aus  der  Scheide  fuhr  —  ein  solches  Volk  bot 
wenig  geeigneten  Stoff  für  den  .Schulmeister  und  die  Schulstube.  Wohin 
denn  auch  dieses  Volk  kam,  gingen  viele  Stätten,  wo  Knaben  Gelehrsam- 
keit finden  konnten,  zugrunde,  und  keine  Kunde  ist  auf  uns  gekommen, 
daß  man  dem  Untergange  jener  verdorrten  Bildungsstätten  viele  Tränen 
nachgeweint  habe. 

Und  doch  war  diese  Kulturfeindlichkeit  der  Germanen  nur  ein  Schein. 
Für  die  Tiefe  und  Schwungkraft  ihres  Geistes  sprach  ihre  Poesie  und 
die  tiefsinnig  einfache  Auffassung  religiöser  Dinge;  vor  allem  aber  legte 
für  ihre  Kulturempfänglichkeit  Zeugnis  ab  die  Sprache,  die  sich  in 
der  Bibelübersetzung  des  Ulfilas  wunderbar  schmiegsam  nicht  nur  den 
einfachen  Erzählungen,  sondern  auch  den  ethischen  und  dogmatischen 
Fragen  des  Urtextes  anzupassen  wußte.  Dieses  wilde  Volk  in  Waffen 
trug  doch  in  sich  eine  Kulturmission  und  ein  hellenischer  .Schöpferkraft 
vergleichbares  Anpassungsvermögen.  Und  wenn  die  Rhetorenschulen  der 
Römer  nicht  den  Gefallen  der  deutschen  .Stämme  fanden,  so  mag  di(> 
natürliche  und  ursprüngliche  Frische  und  die  Liebe  zur  eigenen  Sprache 
und  zu  eigenem  Wesen  noch  kräftiger  gewesen  sein  als  die  Hinneigung 
zu  dem  kunstvollen  Gefüge  der  .Sprache  und  des  Wesens  römischer  .Schul- 
mei.ster,  denen  Natürlichkeit  und  Frische  fehlte. 

.So  sehen  wir  denn  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  Christi  (ieburt 
die  zwei  .Seelen,  die  kulturfeindliche  und  die  kulturfreundliche,  im  Wider- 
streit. Wo  die  Germanen  einherzogen,  gingen  die  meisten  Rhetoren- 
schulen zugrunde.  Aber  es  wird  uns  auch  berichtet,  daß  sie  die  Schul- 
einrichtungen .Spätroms  aufrecht  erhielten.  .Selbst  die  Vandalen  haben 
ihre  .Söhne  die  hohe  .Schule  in  Karthago  besuchen  lassen;  auch  Theoderich 
liebte  römische  Wissenschaft  und  Schule  und  pflegte  beides;  aber  nach 
seinem  Tode  kam  es  über  Segen  und  Unheil  der  Schulstube  zu  einem 
tragischen  Konflikt  zwischen  Amalasvintha  und  den  Führern  des  Volkes; 
denn  diese  forderten,  daß  die  Herrscherin  den  jungen  König  in  der  freien 
Kunst  des  Schwertes  erziehen  möge,  nicht  aber  unter  der  unfreien  Fuchtel 
des    Schulmeisters    aufwachsen    lasse.      Bei    den    Franken    ließ    man    die 


122  AiKii.i'   Matthias:  Das  liölipr'-  Knabciischiilweson. 

i^allist  liPii  KlH't')rt'iischul(Mi  bestehen,  weil  die  Merovinger  die  lateinische 
Sprache  nicht  entbehren  konnten.  So  wurde  die  römische  Bildung  mehr 
und  mehr  heimisch  unter  den  Vornehmen  der  germanischen  Stämme,  und 
die  langsam  hereinwachsende  höhere  Schule  wurde  eine  Wirkungsstätte 
fremder  Bildung',  fremden  Geistes  imd  fremder  Sprache.  Wie  die  fremden 
Gartonblumcn  und  Obstbäume  in  die  Klostergärten  deutscher  Mönche 
wanderten,  so  drang  allmählich  auf  tausend  Pfaden  römisches  Denken  und 
römisches  Wollen  in  deutsche  Köpfe  und  deutsche  Herzen,  und  mehr  und 
mehr  hüllte  sich  deutsches  Wiesen  in  römisches  Gewand.  Wir  haben 
kaum  ein  Seitenstück  eines  solchen  Vorgangs  in  der  Geschichte,  daß  ein 
eigenartiges  Volk  mit  einem  solch  stolzen  Besitz  an  eigener  Sprache  und 
eigener  Poesie  ein  geistiges  Joch  fremder  Kultur  so  willig  auf  sich  ge- 
nommen mid  ohne  erheblichen  Widerstand  und  ohne  lautes  Murren  bei 
den  Fremden  in  die  Schule  ging-  und  auf  die  Herrschaft  eigenen  Volks- 
tums im  eigenen  Schulhause  vollkommen  verzichtete. 
nie  Kirciic  Dicser  Verzicht,   der    dadurch    angebahnt    wurde,    daß    der  Staat    die 

Herrin    in    der 

Schule.  lateinische  Sprache  nicht  entbehren  konnte,  wurde  vollständig,  als  die 
Kirche  die  Hand  auf  die  geistige  Ausbildung  der  heranwachsenden  Jugend 
und  auf  die  Schule  legte.  Wenn  auch  strenggesinnte  Männer  des  Glaubens 
lebten,  daß  Christi  Reich  nicht  Aon  dieser  Welt  sei  und  nicht  durch  welt- 
liche Bildung  gestützt  werden  könne,  und  wenn  diese  Bildung  von  ihnen 
auch  als  Teufelswerk  angesehen  wurde,  die  Verteidigung  des  Glaubens 
zwang  schließlich  doch  den  Christen  dieselben  Waffen  des  Geistes  auf, 
durch  welche  die  Feinde  des  Glaubens  stark  im  Geiste  waren.  So  wurden 
die  christlichen  Katechetenschulen  des  Ostens,  wie  z.  B.  in  Antiochia  und 
Alexandria,  die  ursprünglich  nur  theologischen  Studien  zugewandt  waren, 
Pflegestätten  weltlicher  Bildung;  und  im  Westen,  im  Reiche  der  Westgoten, 
dann  im  fränkischen  Gallien,  später  auch  im  angelsächsischen  Britannien 
traten  Geistliche  und  Mönche  die  Nachfolge  in  den  Rhetorenschulen  an. 
Was  sie  lehrten,  waren  vorzugsweise  die  lateinische  Schrift  und  die  ersten 
Elemente  des  Lateinischen;  später  erweiterte  sich  der  Lehrplan  zu  den 
sieben  freien  Künsten,  von  denen  in  der  Regel  das  Trivium:  Grammatik, 
Rhetorik  und  Dialektik  den  Lehraufgaben  derjenigen  Anstalten  des  Mittel- 
alters, die  wir  als  höhere  Knabenschulen  bezeichnen  dürfen,  zugrunde 
lag.  Vor  allem  ging  ein  reicher  Strom  auch  weltlicher  Weisheit  und 
tieteingreifender  Kultur  aus  von  der  altehrwürdigen  Erziehungshochveste, 
dem  Benediktinerkloster  auf  dem  Monte  Casino;  und  wo  diese  Kultur 
deutsche  Arbeit  für  sich  gewann,  wie  in  St.  Gallen,  Reichenau,  Weißen- 
burg, Fulda,  Hersfeld  und  Corvey,  wuchs  die  Kraft  christlichen  Geistes 
und  Wissens,  und  zugleich  wurde  hier  von  antiker  Weisheit  und  Kultur 
gerettet,  was  noch  zu  retten  war.  Ursprünglich  waren  solche  Schulen 
nur  für  Ordensmitglieder  bestimmt;  aber  die  immer  größere  Bedeutung, 
welche  die  lateinische  Sprache  im  fränkischen  Staatswesen  gewann,  zwang 
auch   die   Söhne    der  Edlen   und   vornehmen   Freien    und   die   Königsöhne 


I.   Bis  ^um   Ausgang  tics   Mittelalters.  12  i 

in  diese  Schulen,  wo  neben  der  schola  claustri  oder  interior  eine  schola 
canonica  oder  exterior  ihnen  Aufnahme  bot,  damit  sie  im  Lesen,  Schreiben, 
Rechnen  und  Latein  so  fest  gemacht  würden,  wie  es  eben  ging.  Daß 
durch  solche  Schulen  mancherlei  Bildung  in  weltliche  Kreise  hinausging, 
das  ist  zu  erkennen  an  den  schriftlichen  Verordnungen,  welche  germanische 
Könige  erließen,  und  an  den  Gesetzsammlungen,  welche  ihre  Weisen  ver- 
faßten. Im  6.  Jahrhundert  schrieb  der  Frankenkönig  Chilperich  ein  la- 
teinisches Buch  über  die  Dreifaltigkeit  und  machte  lateinische  Verse, 
und  die  arge  Königin  Fredegunde  ließ  sich  in  lateinischen  Versen  an- 
singen. Doch  dürfen  wir  uns  von  dieser  Bildung  keine  zu  großen  Vor- 
stellungen machen;  denn  zahlreich  sind  die  Zeugnisse,  daß  in  den  hohen 
Kreisen  feinere  Bildung  nicht  ständig  zu  Hause  war.  Hören  wir  doch, 
daß  Königsöhne  nicht  lesen  konnten  und  daß,  wer  in  Waffen  ging,  ver- 
ächtlich auf  die  Buchstabenweisheit  sah,  die  Gedanken  aussprach,  ohne 
lautes  Wort  zu  wagen.  Nach  600  wird  höhere  Bildung  immer  seltener. 
Die  altgermanische  Trägheitsliebc,  \on  der  schon  Tacitus  berichtete,  bot 
immer  wieder  der  geistigen  Schulung  Widerstand,  der  sich  steigerte,  wenn 
zuviel  Fremdartiges  in  deutsche  Köpfe  gepreßt  werden  sollte  und  wenn 
strenge  Schulzucht  viele  Schläge  darbot,  die  Fehler  aufsummierte  und 
diese  auf  den  Rücken  maß  an  schweren  .Streichtagen.  Man  kann  es  der 
damaligen  Jugend  nicht  zu  sehr  zum  Vorwurf  machen,  wenn  sie,  um  für 
rohe  Pädagogik  sich  zu  rächen,  dem  Magister  liberaliuni  artiuni  einmal 
die  .Schule  über  dem  Kopfe  anzündete  oder  bei  Festlichkeiten  ihm  die 
empfangenen  .Schläge  heimzahlte  und  wenn  sie  da,  wo  sie  zu  solchen 
Gewaltmitteln  nicht  griff,  sich  durch  Humor  und  jugendlichen  Mutwillen 
ebenso  fröhlich  und  heiter  über  allzu  schwere  Belastung  hinweghalf,  wie 
heutzutage  auch. 

Dieser  Niedergang  höherer  Bildung   im   7.  und  8.  Jahrhundort  war  so  Karls desGroßen 

*        *=  &  /  J  Schulreform. 

Stark,  daß  Karl  der  Große  seine  liebe  Not  hatte,  als  er  sich  anschickte, 
Jung  und  .Vit  im  Frankenreiche  an  Schulgelehrsamkeit  zu  gewöhnen. 
Die  lateinischen  Buchstaben  mögen  das  Geschlecht  j%ner  Tage  zunächst 
so  unheimlich  angeschaut  haben  wie  heute  den  Anfänger  die  mystischen 
Zeichen  der  Keilinschriften.  Denn  selbst  Geistliche  konnten  nicht  immer 
lesen;  waren  sie  Analphabeten,  so  starrten  sie  ins  Buch  und  hatten  die 
Worte  auswendig  gelernt  oder  ließen  sie  sich  von  einem  Kundigen  vor- 
lesen. Um  so  tiefer  mußte  Karl  der  Große,  als  er  781  länger  in  Italien 
weilte,  den  geistigen  Adel  empfinden,  den  das  Verständnis  antiker  Bildung 
den  Römern  gab.  Fr  entschloß  sich,  seinen  Franken  dasselbe  zu  geben; 
er  rief  die  schola  Palatina  aus  der  Merovingerzeit  zu  neuem  Leben  und 
begann  eine  Schulreform  an  Haupt  und  Gliedern,  der  selbst  der  könig- 
liche Hof  sich  nicht  entziehen  durfte.  Er  warb  die  größten  Gelehrten 
seiner  Zeit,  einen  Alkuin,  einen  Peter  von  Pisa,  den  Longobarden  Paulus 
Diakonus  für  seine  Hofschulc,  in  die  er  selbst  mit  seinen  Kindern  und 
den  Söhnen  des  höchsten  Adels  rieißig  ging,  sich  die  Arbeiten  selber  vor- 


124 


Adoi.k   AfATTHiNs:   Das  höhere   Knabonschuhvcsen. 


legen  ließ  und  in  eigener  l'erson  Strafen  und  Belohnungen  austeilte.  Vor 
allem  lag  ihm  an  der  Bildung  und  Hebung  des  geistlichen  Standes;  Aachen 
wurde  ein  zweites  Rom  im  christlichen  Geiste.  Kathedral-  und  Dom- 
schulen erstanden,  die  Klosterschulen  wurden  mit  neuem  Leben  erfüllt. 
Alkuin  übertrug  der  Kaiser  die  Klosterschule  in  Tours,  aus  der  Hrabanus 
Maurus  hervorging,  der  Gründer  der  Klosterschule  Fulda,  den  man  mit 
dem  Titel  praeceptor  Germaniae  zu  viel  Ehre  antut,  da  er  vor  allem  ein 
praeceptor  clericorum  war.  Von  Fulda  aus  strömte  nach  Reichenau  und 
St.  Gallen  neues  Leben.  Gelehrt  wurden  in  diesen  Schulen  die  Schrift- 
zeichen, Gesang,  die  Berechnung  der  Kirchenfeste  und  Grammatik.  Man 
las  Psalmen  und  mit  Eifer  römische  Dichter  und  Prosaiker  und  ahmte  sie 
in  didaktischen,  lyrischen  und  epischen  Dichtungen  nach.  Bildungsbedürf- 
tige Laien  hatten  Zutritt.  Die  Zahl  der  Schüler  muß  nicht  gering  gewesen 
sein.  Denn  in  den  nächsten  Generationen  finden  wir  überall  Männer,  die 
in  jenen  Schulen  ihre  Bildung  empfangen  hatten.  Auch  hier  waren  die 
Träger  der  Bildung,  mochten  sie  lehren  oder  lernen,  fast  ausschließlich 
Geistliche,  so  daß  man  die  Gelehrsamkeit,  die  man  trieb,  Clergie  nannte 
und  auch  die  Laien  in  diese  Bezeichnung  einbegriff,  wie  man  von  den 
Söhnen  Karls  des  Großen  sagte:  sie  wurden  große  Kleriker.  Aus  römi- 
schen Schulen  hervorgegangen,  bewahren  die  Schulen  des  Mittelalters  ihre 
römische  Tradition  und  ihre  kirchliche  x\utorität.  Die  lateinische  Sprache 
stand  im  Mittelpunkt  und  schied  die  mittelalterliche  Welt  in  zwei  Hälften, 
in  eine,  welche  teilnahm  an  der  Bildung,  und  in  eine  andre,  die  ihr  fern 
stand.  Germanischem  Wesen  aber  war  diese  Bildung  fremd;  es  gehörte 
zum  guten  Ton,  daß,  wer  zu  den  Gebildeten  zählen  wollte,  auf  Mutter- 
sprache und  heimische  Überlieferungen  mit  Verachtung  blickte.  Und  wenn 
auch  Karl  der  Große  barbarische,  d.  h.  deutsche  uralte  Lieder,  in  denen 
die  Kriege  und  Taten  der  alten  Könige  besungen  wurden,  aufschreiben 
ließ,  und  wenn  er  den  Plan  einer  deutschen  Grammatik  faßte,  nach  seinem 
Tode  finden  wir  nichts  mehr  von  solchen  Bestrebungen.  Einheimischer 
Sprache  und  Dichtung  maß  man  eben  keinen  größeren  Bildungswert 
zu  als  einheimischem  religiösem  Empfinden,  wie  es  der  „Heliand"  aus- 
strömte, dieses  Buch  vom  praktischen  Christentum  germanischer  Art,  das 
Jesus  dem  Herzen  menschlich  näher  bringen  sollte  und  das  lebendige  An- 
schauung vollen  Lebens  in  wechselnder  Fülle  brachte  und  eine  Germani- 
sierung christlicher  Geschichte  und  christlicher  Lehre  bot,  wie  sie  uns  im 
ganzen  Mittelalter  nicht  wieder  entgegentritt. 
\viederi,eiebuns  vSchou  Unter  dcu  iSachfolgcm  Karls  des  Großen  kamen  schwere  Zeiten 

von  llihlung  untl  o 

''"^'"onön'en"^""^^^  Reich  und  Schule.  Die  Einfälle  der  Normannen  und  Magyaren  zer- 
störten, was  Karl  geschaffen,  und  verursachten  einen  starken  Rückgang 
der  Bildung,  den  auch  die  Schule  mitempfand.  Unter  Otto  L  haben  wir 
eine  kurze  Renaissance,  der  aber  nicht  ein  Mann,  wie  Karl  zu  seiner  Zeit, 
das  Gepräge  gab,  sondern  kluge  Frauen,  wie  Hroswitha  von  Gandersheim, 
die  den  klassischen  Formen  christlichen  Gehalt  einflößte   und    die  meisten 


I.  Bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters.  1 1  5 

Männer  ihrer  Zeit  an  Bildung  überragte,  und  wie  die  Herzogin  Hedwig, 
die  in  der  Einsamkeit  des  Hohentwiel  unter  Leitung  des  Mönches  Ekke- 
hard  lateinische  Dichter  las  und  auch  des  Griechischen  sich  kundig  machte. 
Außer  diesen  EVauen  finden  wir  am  Kaiserhofe  selbst  weibliche  Wesen, 
die  gebildet  und  gelehrt  waren  und  ihren  Einfluß  geltend  machten  in  der 
kaiserlichen  Hofschule,  welche  unter  Bruno  und  Rotharius  von  neuem 
Leben  erfüllt  wurde.  Aber  im  ganzen  wurde  derselbe  Faden  gesponnen, 
wie  ehemals.  Alle  schönen  Geistesgaben  widmete  man  fremden  Sprachen; 
in  der  eigenen  Sprache  hatte  man  den  Gebrauch  der  Schrift  nicht.  Das 
Ziel  war  nach  wie  vor  die  Ausbildung  tüchtiger  Kleriker;  die  Laien 
mußten  sich  begnügen  mit  den  Brosamen,  die  von  dieser  Herren  Tische 
fielen.  Der  grammatische  Unterricht  wurde  sorgsam  gepflegt,  die  Lektüre 
fand  ihre  Wertmessung  nach  grammatischen  Ergebnissen.  Der  sittliche 
und  historische  Gehalt  trat  zurück;  die  Lehrmethode  war  gedächtnismäßig; 
mangelhaftes  Interesse  glich  man  aus  durch  harte  Zucht;  Stock  und  Fasten 
half  der  Ungeschicklichkeit  der  Lehrer  und  der  fehlenden  Begabung  und 
Begeisterung  der  Schüler  nach.  Unter  Otto  IIL  trat  griechisch-römische 
Bildung  am  Hofe  immer  mehr  in  den  Vordergrund;  Herrscherhaus  und 
Bildung  entfremdeten  sich  allmählich  heimischem  Volkstum,  die  Schule 
verfiel  wiederum  der  Erstarrung. 

Auch   die   Kreuzzüge   mit   ihrer  Erweiterung  des  Gesichtskreises,  mit    Krstes  Ein- 
ihrer  reichen  Anregung  und  Vertiefung  auf  dem  Gebiete  mathematischer,  licheriüidimKi.. 

.  .  die  Schulen; 

astronomischer,  geographischer  und  philosophischer  Kenntnisse  vermochten  Universitäten; 
nichts  an  dem  erstarrten  Zustande  zu  ändern,  da  Kloster-  und  Domschulen    miduni;  und 

Stadtschulen. 

Sich  nicht  aufnahmefähig  erwiesen,  zumal  eine  Art  von  Monopol  sich  aus- 
bildete, dessen  Hüter  in  den  Klosterschulen  der  magister  principidis,  in 
den  Domschulen  der  magister  scholarum,  der  Schulmeister,  später  auch 
der  scholasticus  oder  Scholaster  war.  Diese  sahen  ihr  Monopol  als  eine 
einträgliche  Präbende  an,  die  allmählich  zu  einem  erblichen  Lehngut  aus- 
wuchs,  aus  dem  Rektor  und  Lehrer  ihren  kärglichen  Lohn  ausgezahlt 
erhielten.  Bresche  in  diese  stolze  Monopolschanze  wurde  erst  gelegt,  als 
aus  freien  Vereinigungen  gelehrter  Männer  und  wißbegieriger  Jünglinge 
sich  die  Universitäten  bildeten  mit  ihren  drei  Fakultäten,  zu  dem  eine 
höhere  Schule  als  Unterbau  nötig  war.  Diesen  bildete  in  Paris  die  Kathe- 
dralschule von  Xotredame.  Allmählich  aber  begann  die  Artistenfakultät, 
die  Wiege  der  späteren  philosophischen  Fakultät,  die  Vorschule  für  jene 
Uni\  ersitäten  abzugeben.  Die  theologische  Fakultät  war  zwar  immer 
noch  die  erste;  die  Kirche  beherrschte  noch  immer  die  höhere  Bildung; 
aber  weltliches  Werk  und  weltliches  Wissen  schob  sich  doch  langsam 
hinein  und  nahm  den  alten  Schulen  ganz  allmählich  ihre  Alleinherrschaft. 
Auch  die  ritterliche  Bildung  tat  das  Ihrige,  um  der  ganz  auf  theologische 
Zwecke  gerichteten  Erziehung  eine  andere  Richtung  zu  geben.  Die 
höhere  Schule  des  Adels  war  die  Ritterburg,  in  welcher  der  wißbegierige 
Page  zu  Füßen    einer   schönen   Herrin   feine   Lebensart,  Musik   und   Minne- 


l  2h  Anoii"  Matthias:  Das  höhere  Knabcnschulweson. 

sang'  Studiorte  und  an  IJildung  alles  lernte,  was  Frauen  anmutig'  zu  lehren 
verstehen.  Diese  Frauen  waren  nicht  nur,  wie  die  FVauen  der  Ottonen- 
zeit,  lateinischer  Dichtung  kundig;  sie  verstanden  auch  die  deutschen 
Dichtungen  zu  lesen,  und  bei  den  engen  Beziehiuigen  der  Minnesänger  zu 
Frankreich  trug  auch  die  französische  Sprache  manches  zu  feinerer  Bil- 
dung bei.  Doch  diese  Art  von  Bildung  bewegte  sich  nur  in  engen  Kreisen, 
in  denen  gar  bald  der  Sinn  sich  mehr  und  mehr  vereng'erte  und  rauhe 
Kriegeszeiten  das  Weitere  taten,  daß  gute  Zucht  und  feine  Sitte  nicht  über 
zarte  Anfänge  hinauskamen. 

Das  Bild  mittelalterlicher  Bildung",  soweit  diese  in  den  Kreis  unsrer 
höheren  Knabenschulen  gehört,  würde  nicht  vollständig'  sein,  wenn  wir 
nicht  auch  auf  die  Bestrebungen  der  Städte  hinwiesen,  der  höheren 
Knabenschule  zu  vollerer  Entfaltung  zu  verhelfen.  Aufblühende  Städte, 
erfüllt  von  bürgerlichem  Selbstbewußtsein  und  Freiheitssinn,  empfanden 
es  beengend,  daß  die  Kirche  das  Gebot  des  Herrn:  „Gehet  hin  und 
lehret  alle  Völker"  mehr  und  mehr  als  eine  Vollmacht  ansah,  auch 
Grammatik,  Fogik  und  alle  sieben  freien  Künste  zu  lehren  und  Sprache 
und  Denken  vielfach  unanschaulichcr,  künstlicher  und  weltfremder  zu 
gestalten.  Man  versuchte  seit  dem  12.  Jahrhundert  eigene  Schulen  zu 
gründen.  Doch  der  Scholaster  machte  seine  Rechte  geltend  auf  Ver- 
leihung von  Lehrbefähigung'  und  Lehrberechtigung".  Wohl  w"urde  den 
Städten  hier  und  da  gestattet,  bei  den  Pfarrschulen  den  ersten  welt- 
lichen Lehrer  oder  weltliche  Hilfslehrer  zu  unterhalten;  aber  die  geist- 
liche Bevormundung  blieb.  Gegen  Ende  des  Mittelalters  sehen  wir  an 
diesen  »Schulen  einen  großen  Zulauf  von  armen  Schülern  aus  der  Fremde, 
die  bei  Bürgern  betteln  gingen;  darunter  auch  alte  Knaben,  die  von  Stadt 
zu  Stadt  vagierten,  die  Söhne  der  Bürger  unterrichteten,  auch  Schreiber- 
dienste versahen,  Gedichte  verfertigten  und  trotz  geistlicher  Bevormundung 
allerhand  Schelmenstreiche  und  Possenreißereien  trieben.  Es  muß  so  in 
den  Städten  mancherlei  weltliche  Bildung  übermittelt  sein.  Denn  in  den 
Kaufmannskreisen  der  Hansa  finden  wir  weniger  Gelehrsamkeit  als  welt- 
gewandte und  weltmännische  Bildung,  die  niemandem  aus  der  Luft  an- 
fliegt. Wer  hinauszieht  in  fremder  Herren  Länder  wie  diese  Männer,  die 
den  Verkehr  mit  dem  Orient,  mit  Rußland,  England,  Schweden  und  Däne- 
mark vermittelten,  und  wer  so  gewandt,  unbeugsam  und  tüchtig  sich  er- 
weist und  starke  Spuren  auch  theoretischer  Tüchtigkeit  zeigt,  der  muß  in 
keine  üble  Schule  daheim  gegangen  sein.  Vielleicht  boten  die  Bürger- 
häuser selber  mit  privater  Unterweisung",  was  Staat  und  Kirche  nicht  dar- 
zubieten imstande  waren. 

So  haben  wir  überall  vielversprechende  Ansätze;  aber  dort,  wo  hätte 
eingesetzt  werden  müssen  zur  Besserung,  überwog"  der  Stillstand,  der  dem 
Rückgang  gleich  zu  achten  ist.  Das  wissenschaftliche  Leben  in  der  Kirche 
war  in  Verfall;  was  sich  als  Gelehrsamkeit  ausgab,  war  ebenso  anspruchs- 
voll wie  geistlos  und  spitzfindig.     Die  Kunde  alter  Sprachen  war  gering; 


II.  Humanismus,  Reformation  und  Gegenreformation  (1450 — 1600).  12" 

das  Hebräisch»'  und  Griechische  fast  unbekannt;  ein  barbarisches  Latein 
hatte  die  Herrschaft;  alle  Zeugen  und  Quellen  ernster  Wissenschaft  (die 
Kirchenväter,  die  Historiker,  die  altsprachlichen  Texte)  lagen  unbenutzt 
in  bestäubten  Handschriften. 

II.  Humanismus,   Reformation    und   Gegenreformation    (1450 —    NeubciebmiR 

,  1     t'     1       1  \  ^'^^  Schulen 

1600).     Da  brachte   Italien  neues  Leben  m  Wissenschaft  und  Schule.    Aus      durch  den 

■r-r  .*  1     1-ki   •<  1  I  •  Humanismus. 

dem  Studium  einzelner  Dichter,  Histonker  und  Philosophen  wuchs  eine 
neue  Bildung  hervor.  Die  Freude  an  der  Schönheit  der  lateinischen 
Sprache  und  Poesie  nahm  zu,  man  suchte  wie  Cicero  zu  reden,  bewunderte 
seine  Dialektik  und  dichtete  wie  Virgil;  mit  Erstaunen  erkannte  man  die 
Kraft  des  Lebens,  das  im  römischen  Volke  pulsiert  hatte.  Die  Bewunde- 
rung Piatos  stieg;  Aristoteles  trat  vor  ihm  zeitweise  sehr  zurück.  Homer 
las  man  mit  Entzücken.  Besonders  regten  Petrarca  und  Bocaccio  Wan- 
derlehrer und  Apostel  an.  Und  als  Konstantinopel  gefallen  war,  trugen 
griechische  Schulmeister  und  Gelehrte  viel  dazu  bei,  daß  die  Studien  der 
Antike  festere  Stützen  gewannen,  an  denen  Poesie,  Geschichte  und  Rechts- 
kunde sich  emporranken  konnten.  So  blühte  neues  Leben  aus  den  Ruinen 
der  Vergangenheit  und  eine  Auferstehung  begann,  die  eine  rein  mensch- 
liche Bildung  wiederbrachte  mit  ihren  Schönheiten,  aber  auch  mit  ihren 
(refahren.  Selbst  Geistliche  und  Päpste  zog  der  Zauber  dieser  Bewegung 
in  ihre  Kreise.  Es  war  natürlich,  daß  auch  die  Schule  teil  am  neuen 
Leben  nahm.  Unter  den  italienischen  Humanisten  war  der  liebenswürdige 
und  bedeutende,  von  allem  Pennalismus  freie  Prinzenerzieher  von  Mantua 
\'ittorino  da  Eeltre  des  trocknen  und  gemütlosen  Tones  am  meisten  satt; 
er  gründete  in  Mantua  eine  Musteranstalt  zur  Erziehung  junger  Leute, 
welcher  der  Volksmund  den  Xamen  „La  Giocasa",  das  fröhliche  Hau.s, 
verlieh.  Mit  feinem  Gefühl  empfand  das  Volk  Vittorinos  Gedanken  nach, 
daß  die  Freude  die  Seele  alles  menschlichen  Tuns  und  der  Quell  alles 
Guten,  auch  in  der  Erziehung  sein  müsse,  daß  sie  vor  allem  Bedeutendes 
schaffe,  daß  der  Grundsatz  „fröhlich  auf  Erden  und  anderen  helfen  fröh- 
lich zu  werden"  auch  dem  Schulmeister  nicht  übel  anstehe,  daß  nicht 
Muß  und  Stock,  sondern  freudiges  Spiel  des  Geistes  Kenntni.sse  schaffen 
und  fördern  könne,  die  nicht  nur  totes  Wi.ssen  bleiben,  .sondern  der  Au.s- 
bildung  des  Charakters  dienen.  Auch  in  den  pädagogischen  Schriften 
jener  Tage  klingen  ähnliche  Gedanken  durch;  das  Streben  nach  Lob,  der 
Wert  des  Freude  erregenden  guten  Beispiels,  der  Grundsatz  ne  quid  nimis 
und  der  Wert  der  Erholung  und  des  Spiels  werden  betont;  auch  zum 
Kampf  gegen  die  Lüge  wird  ermahnt  und  gewarnt  vor  körperlichen 
Strafen,  da  Schläge  für  den  Sklaven,  nicht  für  den  .Schüler  freier  Wissen- 
schaft bestimmt  seien.  Leise  melden  sich  auch  schon  Fordecungen  wie 
die,  daß  den  Naturwissenschaften  und  der  Mathematik  ein  Anteil  an 
Menschenbildung  gebühre.  So  war  Italien  die  Heimat  neuen  Lebens- 
gefühls und  neuer  Erziehungsgedanken,    unter   denen  der  wertvollste,  daß 


J28  Anoi.K  Matthias:  Das  höhere  Knubcnschiilwesen. 

der   Srhule    ein    Platz    an    der   Sonne    gebühre    und    nicht    hinter   dumpfen 
Mauern,  voller  Verwirklirhung'  noch   immer  entgegenstrebt. 

Humanistische  Studien  und  humanistische  Gedanken  drangen  bald 
auch  über  die  Alpen.  Schon  Karl  IV.  war  empfänglich  für  die  antikisie- 
renden Leistungen  der  Gelehrten.  Allmählich  mehrten  sich  diese  und 
nahmen  den  Charakter  jener  überschwenglichen  Verehrung  an,  die  leicht  in 
eine  servile  Verehrung  alles  dessen  ausartet,  was  aus  der  Fremde  stammt, 
und  in  eine  unwürdige  Herabsetzung  eigener  Sprache  und  eigener  Kultur. 
Das  Konstanzer  und  das  Baseler  Konzil  mit  seinem  Zusammenfluß  Ge- 
lehrter aus  allen  Ländern  boten  neue  Anregung;  manchem  hohen  Geistlichen 
lagen  mehr  die  Bücherschätze  St.  Gallens  am  Herzen  als  die  Reform  der 
Kirche  an  Haupt  und  Gliedern  und  die  Vernichtung  des  Ketzertums. 
Die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  trug  das  Ihrige  dazu  bei,  den  Strom 
humanistischer  Bildung  zu  verstärken.  Persönlichkeiten  wie  Eneo  Silvio 
Piccolomini,  Friedrichs  IIL  Sekretär,  traten  mit  großem  Pathos  für  klassische 
Studien  und  lateinische  Beredsamkeit  unter  den  Deutschen  auf.  Mancherlei 
Dichtungsarten  gelangten  so  allmählich  zur  Kenntnis  in  Deutschland,  cice- 
ronianische  Beredsamkeit  wurde  geübt,  lateinische  Briefe  bekannt;  klassische 
Vorbilder  wurden  nachgeahmt;  die  Wissenschaft  und  Geistesbildung  wurde 
ihres  theologischen  Charakters  enthoben,  der  Betrieb  klassischer  Studien 
vom  Staube  der  Scholastik  frei;  die  wissenschaftliche  Behandlung  der 
alten  Autoren  schärfte  den  Blick;  die  Lehren  der  Alten  trugen  dadurch 
auch  auf  anderen  Gebieten  ihre  Früchte.  Im  Gegensatz  zu  Italien  waren 
die  humanistischen  Studien  in  Deutschland  nüchterner,  aber  auch  ein- 
dringlicher, methodischer,  fast  könnte  man  sagen  zunftmäßiger  und  schul- 
meisterlicher; die  logische  Seite  wurde  mehr  betont  als  die  des  Wohl- 
klangs und  der  Schönheit,  die  Weisheit  des  Inhalts  mehr  als  die  Eleganz 
der  Form;  die  Gymnastik  des  Geistes  war  hier  angestrengter  und  deshalb 
dauerhafter.  Aber  auch  die  Gefahren  dieses  Betriebes  zeigten  sich:  das 
F'ormale  gelangte  infolge  gelehrter  Kleinkrämerei  mehr  und  mehr  zur 
Herrschaft;  Fremdes  zu  kopieren  galt  rühmlich,  rühmlich  ebenso,  in  er- 
borgter Maske  vor  das  Publikum  zu  treten  und  den  ehrlichen  deutschen 
Namen  mit  griechischen  und  lateinischen  Namen  zu  vertauschen.  Das 
ganze  Gebaren  erhielt  schließlich  etwas  Steiftheatralisches.  Die  Ver- 
folgung der  deutschen  Sprache  kam  hinzu  und  trug  bei  zum  Verfalle 
deutscher  Literatur  und  Kultur,  dem  auch  aus  anderen  Quellen  zerstörende 
Wirkungen  zuströmten.  Die  Folgezeiten  hielten  nicht,  was  die  Begeiste- 
rung im  Anfange  versprochen  hatte,  als  Agricola  mehr  durch  die  Macht 
seiner  Persönlichkeit  und  seines  Beispiels  die  humanistische  Bewegung  in 
Deutschland  anbahnte.  Er  war  ein  ganzer  Mensch,  voll  Unabhängigkeit 
von  bindender  Kirche  und  starrer  Schule,  der  etwas  von  dem  natürlichen 
altgermanischen  Haß  gegen  Schulzwang  und  Lehramt  in  sich  trug,  wenn 
er  schrieb,  die  Schule  sei  etwas  „Herbes,  Mühseliges,  Unerquickliches, 
traurig    und    widerwärtig    anzusehen    und    zu    betreten,    mit    ihren   ewigen 


II.  Humanismus,  Reformation  und  Gegcnrerormation  (1450 — 1600).  I2g 

Prügelszenen,  ihren  Tränen  und  ihrem  Gelieul  einem  Kerker  zum  Ver- 
wechseln ähnlich".  Dieser  größte  Feind  und  Verächter  der  Schule  wurde 
Stifter  neuer  Schulformen,  weil  in  seiner  Verachtung  eine  tiefe  Sehn- 
sucht nach  idealen  Formen  und  nach  Besserung  lag.  Ihm  folgte  Hegius 
im  Norden  mit  seiner  Schule  in  Deventer,  und  in  seinem  Geiste  wurden 
die  Schulen  in  Münster  und  J-üttich  geleitet.  Über  die  F'ormen  sind  wir 
wenig  unterrichtet;  im  ganzen  wird  ein  Plan  zugrunde  gelegen  haben, 
wie  wir  ihn  durch  .Sturm  \on  ilcr  Lütticher  Schule  kennen:  In  acht 
Klassen  mit  stufenmäßig  aufgebautem  Unterricht,  von  halbjährlichen  Prü- 
fungen und  strenger  Versetzungsordnung  stieg  man  auf  von  den  Anfangs- 
gründen der  lateinischen  Grammatik  bis  zur  freien  Nachahmung  lateinischer 
Klassiker;  vom  vierten  Lernjahre  an  trat  das  Griechische  hinzu,  das  zu 
lernen  erst  die  Humanisten  der  .Schule  Mut  gemacht  haben.  —  In  .Süd- 
deutschland schaffte  Reuchlin  dem  Humanismus  freie  Bahn.  Von  tiefer 
Wirkung  für  den  Zauber  der  neuen  Bildung  war  Erasmus  von  Rotterdam, 
der  auf  tüchtige  Lehrer  drang,  die  Lernfreude  schafften,  die  die  Humaniora 
in  humanem  .Sinne  lehrten,  die  Lektüre  in  den  Vordergrund  stellten, 
krassem  Ciceronianismus  sich  abgewandt  hielten  und  auch  die  Griechen 
liebten.  Frasmus  trug  neben  der  Begeisterung  einen  feinen  ironischen 
Zug  in  die  Bewegung,  und  da  er  nicht  aufhörte  ein  guter  katholischer 
Christ  zu  sein,  wenn  er  auch  gelegentlich  das  Pfaffentum  verhöhnte,  so 
warb  diese  Richtung  für  die  Schulen  Freunde  in  den  Bürgerhäusern  der 
Reichsstädte,  an  F'ürstenhöfen  und  sogar  in  Domkapiteln  und  an  Bischof- 
sitzen. 

Hatte    der  Humanismus    kräftig    eingesetzt    für    die   innere  BefreiungnieReformaUon; 

.  Luther 

des    höheren    Knabenunterrichts   von    der   Kirche,    so   schaffte    die    Refor-   (1483-1546); 

Melanchthoii 

mation  weiter,  um  die  äußere  .Stellung  der  .Schule  so  zu  gestalten,  daß  (moj-'s'«)- 
sie  Herrin  im  eigenen  Hause  werden  könne.  Luther,  der  uns  vom  Über- 
gewicht römischer  Sprache,  Tradition  und  Autorität  befreit  hat  durch  die 
geniale  Schöpfung  unserer  Volkssprache  und  durch  diese  den  Sieg  über 
fremdes  Wesen  und  fremde  .Sprache  anbahnte,  stellte  für  die  .Schulen  den 
Grundsatz  auf,  daß  ihre  Einrichtung  und  Erhaltung  eine  Pflicht  weltlicher 
Übrigkeit  sei,  daß  der  Unterricht  nicht  nur  für  zukünftige  (ieistliche,  son- 
dern auch  für  weltliches  Regiment,  nicht  nur  für  Gelehrte,  sondern  auch 
für  jedermann  im  Volke,  nicht  nur  für  Knaben,  sondern  auch  für  Mädchen 
einzurichten  sei.  Moderne  Anschauungen,  wie  wir  sie  heute  für  selbst- 
verständlich halten,  treten  hier  zum  erstenmal  in  voller  Klarheit  in  ihre 
Rechte.  Luthers  Anforderungen  für  die  höheren  Knabenschulen  bewegten 
sich  aber  nicht,  wie  seine  Bibelübersetzung  und  alle  seine  literarischen 
Taten,  in  nationaler  Richtung,  sondern  blieben  zum  Teil  in  alten  Band(>n 
gefesselt.  Beamte  in  Stadt  und  .Staat,  in  weltlichem  und  geistlichem 
Regiment,  so  folgerte  Luther,  bedürften  gründlicher  wissenschaftlicher 
Bildung,  die  nicht  möglich  sei  ohne  die  alten  Sprachen.  Diese  hätten 
die    weltlichen    Beamten    nötig    wegen    der    mannigfachen    um!    nützlichen 

ÜIB    KuLTL'K   DER   GkGKNWAKT.      i.    I,  9 


I  ^o  AtikI.K  ATattiiias;   Das  höhere  Knabenscluilwescn. 

Kenntnisse,  die  das  Studium  der  Alten  bringe,  die  geistlichen  wegen  des 
Evangeliums.  Der  Wert  fremder  Sprachen  steht  bei  Luther  so  hoch,  daß  er 
diejenigen  „deutsche  Narren  und  Bestien"  nennt,  die  Künste  und  Sprachen 
nicht  kennen,  welche  gut  sind,  die  Heilige  Schrift  zu  verstehen  und  welt- 
lich Regiment  zu  führen.  „Durchs  Mittel  der  Sprachen  ist  das  Evangelium 
kommen  und  hat  auch  dadurch  zugenommen,  muß  auch  dadurch  erhalten 
bleiben;  sie  sind  der  Schrein,  darinnen  man  dies  Kleinod  traget;  sie  sind 
das  Gefäß,  darinnen  man  das  Kleinod  fasset;  sie  sind  die  Kammer,  darinnen 
diese  Speise  lieget."  Freilich  nicht  alle  Kinder  sollten  in  fremden  Sprachen 
tüchtig  werden,  sondern  der  „Ausbund",  d.  h.  eine  Auswahl;  und  nicht 
mehr  „der  Pfaffheit  halber  und  wegen  der  geistlichen  Pfründen"  sollten 
sie  studieren,  sondern  auch  des  weltlichen  Regimentes  wegen.  Neben  die 
kirchliche  wollte  Luther  die  weltliche  Bildung  als  ebenbürtig  rücken. 
Ohne  es  zu  empfinden,  rückte  der  Mann  des  starken  und  freien  Glaubens 
gleichwohl  die  Schule   wieder  unter  den  Zwang  der  Theologie. 

Unter  der  Übergewalt  von  Luthers  Persönlichkeit  gab  denn  auch 
Melanchthon  mehr  von  seiner  humanistischen  Herkunft  preis,  als  er  es 
ohne  Luther  würde  getan  haben.  Gleichwohl  hat  die  höhere  Knaben- 
schule dem  praeceptor  Germaniae  unendlich  viel  zu  danken,  da  ihm  unter 
schwierigen  Verhältnissen  und  großen  Hindernissen  die  Verschmelzung 
von  Humanismus  und  Reformation  gelang.  Er  legte  Gewicht  auf  eifriges 
Studium  der  römischen  und  besonders  der  griechischen  Klassiker.  Sein 
Ziel  dabei  bildete  die  Eloquenz.  Rasches  Einführen  in  die  Lektüre  empfahl 
er,  nicht  zur  Anwendung  von  grammatischen  Regeln,  sondern  um  Muster 
und  Stoff  zu  haben  für  richtige  Imitation.  Stilübungen  stehen  im  Vorder- 
grund. Anfertigung'  von  Briefen,  Disputationen  und  Vorträgen  werden 
gefordert.  Aber  auch  zu  Sachkenntnissen  soll  die  Lektüre  der  Klassiker 
verhelfen.  Mathematik,  Physik,  Metaphysik,  Ethik  —  kurz  alle  Gebiete 
des  Wissens  sollen  unter  der  Pflege  der  Lektüre  mit  gedeihen.  —  Wir  sehen 
also:  Wenn  auch  geistloser  Betrieb  aus  den  Schulen  entfernt  werden 
sollte,  ein  nationales  Gepräge  ward  ihnen  nicht  gegeben.  Luthers  Werke 
haben  Lebens-  und  Gestaltungskraft  der  deutschen  Prosa  gefördert,  sie 
haben  Gesetz  und  Regel  in  unvergänglichen  Mustern  uns  gegeben;  die 
Kanzel  wurde  eine  reiche  Pflegestätte  deutschen  Wesens  und  deutscher 
Sprache;  das  Kirchenlied  wirkte  mit,  um  heimischen  Geist  zu  stärken. 
Die  gelehrten  Schulen  aber  trieben  Mißachtung  und  wohl  auch  Miß- 
handlung der  deutschen  Sprache  nach  wie  vor.  Das  Latein  blieb  allein- 
herrschend und  unduldsam;  und  wenn  es  bei  Luther  das  Evangelium  der 
Liebe  war,  um  dessentwillen  er  die  fremden  Sprachen  nicht  lassen  wollte, 
seine  Epigonen  setzten  an  die  Stelle  des  Evangeliums  der  Liebe  dogma- 
tischen Haß,  Zänkereien  und  beschränkten  konfessionellen  Hader  und 
hielten  sich  nicht  an  das  Mahnwort  Melanchthons,  der  den  „ungeschickten 
Schulmeistern  verboten  hatte,  von  Hadersachen  zu  sagen  oder  die  Kinder 
zu  gewöhnen,  Mönche  oder   andere  zu  schmähen".     Wenn  gesagt  ist,   der 


II.   Humanismus,  Reformation  und  Gegenreformation  (1450 — 1600).  i^i 

Humanismus  sei  am  Bündnis  mit  der  Keformation  zuvrundi'  gfeg-angen,  so 
liegt  darin  ein  gutes  Korn  Wahrheit,  weil  die  Zukunft  nicht  hielt,  was  die 
Tage  I-uthers  und  Mclanchthons  versprochen.  Sieht  man  aber  auf  alle 
die  trefflichen  Schulordnungen,  die  unter  Mitarbeit  Melanchthons  zustande 
kamen,  und  auf  die  zahlreichen  kleinen  und  großen  von  Melanchthons 
Geist  getr^igonen  protestantischen  Schulen,  besonders  die  prächtigen  Schulen 
zu  Meißen,  Pforta,  Grimma,  llfeld,  Augsburg  und  in  himdert  anderen 
Städten  und  Städtchen,  dann  muß  man  jenes  Bündnis  der  Reformation  und 
des  Humanismus  als  einen  Segen   preisen. 

Unter  allen  Schulen  der  Reformationszeit  bildet  das  von  Johann  Sturm       sturms 

protestantisches 

1538  begründete   protestantische  Gymnasmm  eme  Welt  für  sich  und  eine    Gymnasium 

in  Straßburg 

Macht  als  Muster  und  Vorbild,  von  dem  wir  noch  heute  Spuren  in  unseren  (1338 begründet). 
Gymnasien  und  an  ihren  Direktoren  und  Lehrern  finden.  In  Lüttich  hatte 
Sturm  die  tiefsten  Eindrücke  für  die  Zukunft  empfangen;  Reformation  und 
Humanismus  ließen  diese  zu  reifen  Gedanken  werden,  als  er  in  Straßburg 
sein  Werk  begann  untl  die  drei  vorhandenen  Lateinschulen  zu  einem  zehn- 
klassigen  Gymnasium  umwandelte,  dessen  Ziele  in  dem  Satze  beschlossen 
liegen:  „Propositum  a  nobis  est  sapientem  atque  eloquentem  pietatem 
finem  esse  studiorum."  Protestantische  Frömmigkeit  das  Endziel;  Sach- 
kenntnis und  Herrschaft  über  lateinische  Rede  die  Mittel.  Für  die  Sach- 
kenntnis waren  die  alten  Klassiker  Fundgrube  allen  realen  Wissens.  Da 
sie  für  das  Rechnen  keinen  Anhalt  boten,  lernten  die  Sturmschen  Schüler 
diese  Kunst  nicht  mit.  Das  Hauptziel  wurde  nach  und  nach  die  Kunst 
der  lateinischen  Rede  und  der  Rhetorik,  vor  der  schließlich  die  Sach- 
kenntnis und  Frömmigkeit  in  zweite  Linie  treten.  Mit  Gedächtnis  und 
Verstand  wurde  vorzugsweise  operiert;  das  Gemütsleben  und  Wärme  des 
persönlichen  Empfindens  trat  ganz  zurück  hinter  dem  Intellekt  und  hinter 
Ausbildung  starken  Willens  im  Reiche  rhetorischer  Formen.  Denn  auf 
diese  lief  alles  hinaus,  Auswahl  sowohl  wie  Behandlung  der  Lektüre; 
Cicero  und  Demosthenes  standen  im  Vordergrunde,  besonders  jener,  mit 
dessen  vollkommenem  Latein  die  Schüler  wetteifern  sollten.  Homer  trieb 
man  nicht  wegen  seiner  naiven  Kraft,  sondern  um  seiner  rhetorischen 
Vorzüge  willen.  Historiker  waren  so  gut  wie  ausgeschlossen.  Die  Auf- 
führung lateinischer  Dramen  diente  denselben  rhetorischen  Zwecken.  — 
Es  waren  nicht  die  Bahnen  eines  Agricola,  Erasmus  und  Melanchthoii, 
die  hier  gewandelt  wurden,  auch  nicht  die  Bahnen  Luthers;  denn  die 
deutsche  Sprache  war  innerhalb  und  sogar  außerhalb  des  Unterrichts  ver- 
pönt. Das  ist  verständlich,  wenn  man  in  Erwägung  zieht,  daß  Latein  da- 
mals die  Sprache  der  Gebildeten  war,  nicht  verständlich,  wenn  man  be- 
denkt, daß  soeben  die  mächtige  Sprache  der  Lutherschen  Bibelübersetzung 
durch  alle  deutschen  Lande  hallte. 

Der  Einfluß  Sturms  war  gewaltig.  Wir  finden  ihn  überall  in  den  Per- 
sonen jener  Zeit,  wie  z.  B.  in  Trotzendorf,  dem  Begründer  der  Schüler- 
republik  in  Goldberg,  und   in    1  humas  Platter,  dem  schweizerischen  Schul- 

9* 


13^ 


Adolf  Matthias;  Das  höhiTe  Knabenschulwcsen. 


mann;  aber  auch  in  drn  Schulordnungen  wie  der  württembergischen, 
braunschweigischen  und  kursächsischen  und  weiterhin  auf  Jahrzehnte  und 
Jahrhunderte  in  vielen  deutschen  Gymnasien.  Um  die  Mitte  des  i6.  Jahr- 
hunderts dürfen  wir  aber  darin  wohl  Sturms  Geist  erkennen,  daß  bedeu- 
tende Pädagügarchen  mit  charakteristischen  Zügen  an  vielen  höheren 
Schulen  sich  zeigen,  die  ungehemmt  durch  amtliche  Vorschriften  in  ihren 
Kreisen  mit  großem   Nachdruck  wirkten. 

Her  Humanis-  In  den  protestautischen  Gebieten  also  überall  reiches  Leben  und  Be- 

kathoiisrhen  wegung;  nicht  minder  in  der  katholischen  Welt.  Stand  doch  die  Wiege 
des  Humanismus  auf  katholischem  Boden.  Das  machte  sich  weithin 
bemerkbar;  denn  in  Italien  blieben  Wissenschaft  und  Schule  humanistisch 
gerichtet,  und  von  dem  frischen  Leben  sprang  in  die  romanischen 
Schwesterländer  viel  hinüber:  von  großer  Bedeutung  ist  der  Spanier  Vives 
(geb.  I4Q2).  Der  alten  Kirche  treu  wirkte  er  in  den  Niederlanden  für  die 
neue  humanistische  Bewegung  mit  Geist  und  Überzeugung  und  zeigte 
sich  als  eine  durchaus  moderne  Natur,  da  seine  Gedanken  über  Pädagogik 
weit  seiner  Zeit  vorauseilten.  Mit  kräftigen  Worten  trat  er  auf  gegen 
das  Gelehrtenmonopol  und  den  Gelehrtenhochmut  in  den  Schulen,  gegen 
die  dialektischen  Klopffechtereien,  die  auch  aus  humanistisch  gerichteten 
Schulen  nicht  schwinden  wollten,  gegen  das  rhetorische  Phrasentum  und 
gegen  die  hohlen  Imitatoren  Ciceros,  die  er  als  Affen  verspottete.  Er 
wandte  sich  gegen  die  barbarische  Behandlung  der  Kinder  in  den  Schulen 
und  betonte  die  Pflege  des  Körpers  neben  der  des  Geistes.  Auch  die 
Muttersprache  will  er  zu  Rechte  kommen  lassen  und  der  Lektüre  vor 
der  Grammatik  ihre  Stelle  geben.  Den  Lehrerstand  wünscht  er  selb- 
ständiger zu  sehen  durch  staatliche  Besoldung  und  ihm  eine  geachtetere 
und  unabhängigere  Stellung  zu  schaffen.  Es  ist  eine  überaus  feine  Natur, 
die  in  ihrer  Einsamkeit  um  so  bemerkenswerter  ist.  Schule  hat  Vives 
nicht  gemacht;  dazu  war  er  nicht  grobkörnig  und  nicht  eitel  genug.  So 
blieb  es  einer  ferneren  Zeit  vorbehalten,  seine  lebenswerten  Gedanken  zu 
verwirklichen.  Wäre  die  Kirchenspaltung  nicht  gewesen,  wie  vieles  hätte 
sich  aus  der  Einigkeit  solcher  Geister  wie  Vives,  Erasmus,  Melanchthon 
und  Luther  für  die  Welt  der  Wissenschaft  und  Schule  zum  Segen  der 
Jugend  schaffen  lassen! 

Die  Jesuiten-  Zunächst    nahmen    andere    weniger    zarte    Gewalten    das   Heft    in    die 

schulen  und  der  .  .  t*,,  -ti  i-t-  j 

Protestantismus,  feste  Hand;  in  der  katholischen  Schule  vor  allem  die  Jesuiten,  deren 
Herrschaft  man  richtig  würdigen  wird,  wenn  man  die  Grundlagen  ihrer 
Macht  in  der  Schule  unbefangen  würdigt  und  einen  gerechten  Vergleich 
anstellt  mit  den  protestantischen  Schulen  des  i6.  und  17.  Jahrhunderts. 
Die  katholische  Kirche,  aufgerüttelt  durch  den  Ansturm  ketzerischen 
Geistes  gegen  sie,  suchte  mit  erneuter  Kraft  historische  Gelehrsamkeit 
und  dialektische  Schriften  in  ihren  Schulen  zu  pfleg-en,  da  sie  dieser 
Waffen  bedurfte  im  Kampfe  mit  der  protestantischen  Theologie  und  da 
sie  in  einer  Welt,    die  an  Bildung   und   geistiger  Selbständigkeit   viel  ge- 


II.   Humanismus,   Reformation   und  Gegenreformation  (1450-   1600).  it-i 

Wonnen  hatte,  in  Khren  bestehen  mußte.  Nachdem  sie  sich  in  diesen 
Wettstreit  begeben,  hat  sie  Bedeutendes  zuwege  gebracht,  was  prote- 
stantischer Stolz  zu  übersehen  und  zu  unterschätzen  leicht  geneigt,  prote- 
stantische Wissenschaftlichkeit  anzuerkennen  gern  bereit  ist. 

So  sind  vor  allem  die  Jesuitenschulen,  in  welchen  die  katholischen 
Völker  bis  zum  i8.  Jahrhundert  in  ihrer  Mehrheit  erzogen  wurden  und  die 
den  allgemeinsten  Ausdruck  und  die  Pflegestätten  katholischer  Wissen- 
schaftlichkeit bilden,  in  ihrer  .\rt  sehr  tüchtig  und  als  Zwillingsschwestern 
der  humanistisch-protestantischen  Schulen  zu  bezeichnen,  die  an  allen  den 
Stellen,  wo  der  Kirchenglaube  außer  Betracht  kam,  vor  allem  in  den 
exakten  Wissenschaften  durch  Genauigkeit  und  Schärfe  Vorzügliches 
geleistet  haben.  Als  Zwillingsschwestern  kann  man  sie  bezeichnen.  Denn 
hier  wie  dort  ist  Imitation  ihr  Hauptziel,  selbst  im  Griechischen  war 
Versemachen  und  Sprechen  ihr  Streben;  rhetorische  und  dialektische 
Gesichtspunkte  waren  auch  bei  ihnen  ausschlaggebend;  Cicero  beherrschte 
das  Lateinische;  in  der  Lektüre  wogen  Grammatik  und  Rhetorik  vor. 
Memorieren,  um  imitieren  zu  können,  war  ihnen  Hochgenuß.  Auswendig- 
gelernt wurden  mit  zähen  Kräften  die  Phrasen  der  Schriftsteller,  die 
Regeln  der  Grammatik  und  die  w^enig  verdauten  Lehren  des  Katechismus. 
Wie  in  den  protestantischen  Schulen  war  auch  hier  die  deutsche  Sprache 
verpönt,  die  Abneigung  dagegen  wegen  römischer  Kirchlichkeit  noch 
stärker.  Verschieden  von  protestantischem  Betriebe,  der  die  Lehre 
gründlich  vornahm,  war  der  Religionsunterricht.  Die  eigentliche  Beleh- 
rung beschränkte  sich  auf  Einprägung  des  Katechismus,  sonst  widmete 
man  sich  mehr  der  Religionsübung,  in  deren  Dienst  die  Anleitung  zu 
Gebet  stand,  die  regelmäßige  .Gewissenserforschung,  die  Beichte,  die 
Messe,  der  sonntägliche  Gottesdienst  und  die  gegenseitige  Beaufsichtigung 
in  religiösen  Schülerverbindungen  und  marianischen  Kongregationen. 
Wenn  solche  pädagogische  Verirrungen,  die  harmlosen  Verkehr  und 
harmlose  Freundschaften  ausschließen,  zum  Heile  der  Jugend  den  prote- 
stantischen Schulen  auch  fern  blieben,  so  litten  diese  an  anderen  Miß- 
ständen. In  bedenklichem  Umfang  herrschte  hier  der  Gebrauch  des 
Stockes,  den  unter  Umständen  die  Lehrer  der  Reihe  nach  zur  Besserung 
des  einzelnen  handhabten.  Das  überließen  die  Jesuiten  dem  Korrektor 
oder  Stockmeister,  der  sparsamer  war,  weil  er  allein  allen  Ansprüchen 
genügen  mußte,  aber  auch  sparsamer  sein  konnte,  weil  der  Wett- 
eifer und  Ehrgeiz  von  den  Jesuiten  als  Lehr-  und  Erziehungsmittel  reich- 
lich gepflegt  w-urde:  Wetteifer  der  einzelnen,  Wetteifer  der  Parteien 
und  Wetteifer  ganzer  Klassen  im  Zertieren.  Preisskripta,  Examina  über 
Examina,  Disputationen,  öffentliche  Schulakte,  dramatische  Aufführungen 
jagten  sich  außerdem  in  buntem  Wechsel,  um  den  Ehrgeiz  lebendig  zu 
halten.  Daneben  pflegten  die  Jesuitenschulen  den  äußeren  Schliff,  ge- 
wandtes und  sicheres  Benehmen  und  militärisches  Auftreten;  alles  das 
fehlte    bei    den    Protestanten    an    den    meisten    Stellen.     Daß    man    auch 


JI1  Adolf  Matthias:  Das  hblicre   Knabcnschuhvcscn. 

lehrte,  über  alli-  Dinyc  mitzuredon,  selbst  weim  die  Sachkennliiis  nicht 
weit  hör  war,  soll  ebenfalls  vermerkt  werden;  das  brachte  die  Konzession 
an  die  Oberflächlichkeit  gebildeter  Kreise  so  mit  sich.  Mit  Rücksicht 
auf  diese  lebte  man  in  den  jesuitischen  Internaten  auch  gut,  während  bei 
den  Protestanten  Schmalhans  vielfach  Küchenmeister  war.  Jede  Über- 
Inirdung  hielt  man  in  Jesuitenschulen  fern;  mehr  als  fünf  Stunden  täg- 
liche Arbeit  galt  als  Übel;  der  Unterricht  war  durch  verständige  Pausen 
unterbrochen;  auf  menschenwürdige  Subsellien  wurde  gehalten  und  Be- 
wegung im  Freien  in  reichem  Maße  vergönnt.  So  kam  es,  daß  die 
Jesuitenschulen  viel  besucht  wurden  und  daß  selbst  protestantische  Eltern 
ihre  Kinder  ihnen  anvertrauten.  Die  Jesuiten  eroberten  sich  eine  Art  von 
Bildungsmonopol,  das  Macht  und  Geld  und  sonstige  weltliche  Dignitäten  in 
seine  Kreise  zog.  Daß  der  Unterricht  unentgeltlich  war,  war  auch  nicht  die 
schwächste  Seite  dieser  Schulen;  denn  auch  vermögende  Kreise  lassen  es 
sich  gern  gefallen,  wenn  sie  Geist  und  Bildung  gratis  haben  können. 
Auf  die  Dauer  allerdings  hielten  diese  Schulen  nicht,  was  sie  versprachen. 
Ihre  Uniformität,  die  ja  eine  wirksame  Gleichmäßigkeit  und  .Sicherheit 
der  Methode  schuf,  eine  angemessene  Auswahl  des  Stoffes  für  die  ver- 
schiedenen Klassenstufen  anbahnte  und  auch  die  Vorbildung  der  Lehrer 
gewährleistete,  nahm  doch  schließlich  etwas  Starres,  Unempfängliches  und 
Totes  an  und  vernichtete  die  Aufnahmefähigkeit  für  neue  Lebensideale 
und  die  historische  Entwicklungsfähigkeit,  ohne  welche  kein  geistiger 
Organismus  Dauerwert  besitzt. 

Die  Protestanten  hatten  nicht  den  unverrückbaren  Glauben  der  Kirche, 
sie  hatten  nicht  alleinherrschende  und  unfehlbare  Autoritäten,  nicht  die 
Einheitlichkeit  des  LehrjDlans  in  einer  ratio  studiorum  und  die  Einheit- 
lichkeit der  Lehrbücher.  Dafür  hatten  sie  den  Vorteil,  daß  bei  ihnen  Ver- 
kalkung und  Verkümmerung  des  Geistes  nicht  möglich  war  und  daß  nicht 
des  Gesetzes  Gespenst  einen  unverrückbaren  Platz  auf  ihrem  Katheder 
hatte.  Trotzdem  kamen  sie  erst  spät  zur  Geltung,  weil  es  ihnen  „am  Besten", 
am  Gelde  fehlte,  das  die  Jesuiten  in  reichlichem  Maße  besaßen.  Und 
dieser  Geldmangel  hat  sich  bis  in  unsere  Tage  gerächt  von  Luthers  Zeiten 
an.  Schon  Luther  hatte  in  verhältnismäßig  günstigen  Zeiten  geklagt:  wo 
es  sich  um  Stiftung  von  Schulen  handle,  seien  alle  Beutel  mit  eisernen 
Ketten  zugeschlossen.  Was  konnte  man  nun  gar  in  Zeiten  leisten,  wo 
Krieg  und  Unruhen  zahlkräftige  Gönner  von  Schulen  nicht  aufkommen 
ließen.  Und  außer  dem  Gelde  fehlte  den  Protestanten  eine  große  welt- 
liche Macht  und  das  allgemeine  Interesse  für  die  Schulen.  Schon  Me- 
lanchthon  klagte  über  die  Geringschätzung  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
in  den  herrschenden  Kreisen:  „Wir  erleiden  die  hochmütige  Verachtung, 
nicht  bloß  von  den  Unkundigen,  den  Kaufleuten,  den  Verächtern  aller 
Bildung,  sondern  auch  von  jenen  Halbgöttern,  die  an  den  Höfen  regieren." 
^schuifn"nacr  So   gingen    denn    nach   kurzem  Aufschwung    zu   frischerem  Leben    die 

■^^tio^sze™*'  Schulen     ihrem    Niedergang    entgegen.      An    die     kräftigen    Folgerungen, 


III.  Die  französisch-höfische  Bildung  die  Aufklärung  (1600 — 1790).  i^; 

die  das  i6.  und  17.  Jahrhundert  aus  der  Reformation  und  aus  huma- 
nistischer Bewegung  für  Geistesfreiheit  oder,  besser  gesagt,  für  eine  un- 
befangene, vorurteilsfreie  und  freimütige  Bildung  des  Geistes  und  des 
Herzens  hätte  ziehen  sollen,  wagte  sich  jene  Zeit  nicht  heran  und  konnte  es 
nicht  tun,  weil  sie  die  Fesseln  vergangener  Tage  nur  zum  Teil  abzu- 
streifen vermochte,  um  andere,  neue  dafür  einzutauschen.  Und  wie  die 
Zeit  ihre  Schuldigkeit  nicht  tat,  so  erfüllte  sie  die  Schule  noch  viel  we- 
niger. Melanchthons  Klage  über  den  Mangel  an  Interesse  für  die  Schulen 
mochte  in  gewissem  Sinne  ihre  Berechtigung  haben.  Vollkommen  bei- 
stimmen kann  man  ihm  nicht.  Hätte  die  Schule  jener  Tage  die  Zeichen 
der  neuen  Zeit  voll  verstanden,  hätte  sie  aufmerksam  gelauscht  auf  alles, 
was  neu,  gesund  und  lebenswert  zugleich  an  diesen  Zeichen  war,  hätte 
sie  in  Tat  und  Wirklichkeit  umgesetzt,  was  an  großen  Ideen  die  neue 
Zeit  heraufgeführt,  die  Mächte  des  Tages  hätten  sich  vermutlich  anders  zur 
Schule  gestellt.  Denn  es  ist  noch  immer  so  gewesen,  tlaß  Schulen,  die 
Lebenskraft  in  sich  tragen  und  die  den  wahren  Bildungsbedürfnissen  klug 
entgegenkommen,  gern  gesehen  und  geachtet  worden  sind  bei  den 
urteilsfähigen  Mächten  des  Lebens.  Wenn  aber,  wie  um  die  Wende  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts,  in  der  Schule  das  Gezänk  der  Theologen,  das 
mehr  auf  „Pietät  der  Augsburgischen  Konfession"  und  sonstige  Pietäten 
als  auf  Wissen,  Können  und  feine  Bildung  sah,  wenn  die  Glaubens-  und 
Selbstgerechtigkeit,  wenn  hohle  Dialektik  und  Rhetorik,  wenn  die  Vor- 
liebe für  das  Unnatürliche,  Formalistische  im  Vordergrund  stand  und  die 
Armseligkeit  des  Inhalts  hinter  formalistische  Redeformen,  die  im  fremd- 
ländischen Gewände  der  mali  grammatici  einherschritten,  sich  verbarg, 
dann  soll  man  sich  nicht  wundern,  wenn  Begeisterung  nicht  erweckt 
wurde,  man  muß  vielmehr  staunen,  daß  solche  Fesseln  der  Langeweile 
und  Geschmacklosigkeit  mit  Geduld  getragen  worden  sind,  Fesseln,  welche 
schulmeisterlicher  Dünkel  dem  Sohne  des  verachteten  Bürgersmannes 
auferlegte,  der  doch  keineswegs  viel  Achtung  haben  konnte  vor  Lehr- 
meistern, die  für  „Eselsarbeit  Zeisigfutter"  bekamen  und  dabei  submisseste 
Devotion  prästierten  vor  allen  Persönlichkeiten,  die  gewaltig  in  Staat, 
Stadt  oder  Kirche  waren.  Kurz,  der  Geist  jener  Zeit  und  ihrer  Schulen 
war  unerquicklich  wie  der  Nebelwind,  der  herbstlich  durch  die  dürren 
Blätter  säuselt.  Die  Kriegsfurie,  die  bald  durch  die  deutschen  Lande 
zog,  fand  deshalb  auch  an  Geist  nicht  viel  vor,  was  sie  hätte  zerstören 
können. 

III.    Die    französisch-höfische   Bildung,    die   Aufklärung  (1600  Keime lu neuem 

,  Leben  im  16.  und 

— 1790).      Doch    wie    unter    dem    absterbenden    Herbstlaub   schon    Keime  >7  Jahrhundert 

und    die    ersten 

neuen  Lebens  sich  regen,  so  hielten  mit  dem  Niedergang  der  Schulen  die  ReBunRen realer 

^  .  .  Bildung. 

ersten  Regungen  einer  neuen  besseren  Zeit  gleichen  Schritt.  Philosophen 
und  Naturforscher  wie  Kepler,  Galilei,  Baco  und  Descartes  zeigten  dem 
Denken   neue    Wege,    indem   sie  von   den  Büchern,    von    der  verstaubten 


I  75  Adolk  Matihias:  Das  höhere   Kn;ibcnschuhvcseii. 

Wort-  und  Schulweisheit  hinweg  auf  die  Erfahrung  und  das  Leben  in  dcr 
umgebenden  Natur  hinwiesen.  Den  Wert  der  klaren  und  doutlichon  nia- 
Iheniatischen  Begriffe  erkannte  Descartes;  Baco,  den  man  zutreffend  den 
„empiristischen  Generalstabschef"  genannt  hat,  betonte  die  Bedeutung  der 
ars  inveniendi,  d.  h.  der  Induktion,  Milton  das  Lernen  der  Sachen,  für 
welches  die  Sprache  —  die  bisher  Selbstzweck  gewesen  —  nur  als  Mittel 
diene;  wie  Descartes  betonte  er  den  Wert  der  Mathematik,  der  Natur- 
wissenschaften und  der  nützlichen  Dinge  des  Lebens,  auch  schon  den 
Wert  der  körperlichen  Übungen;  kurz,  was  man  heute  als  neue  Weisheit 
preist,  liegt  schon  in  seinen  Keimen  in  jenen  Tagen  des  Niedergangs,  in 
welchen  der  Stuben-,  Buch-  und  Wortweisheit  g-egenüber  kluge  Geister 
auf  das  große  Buch  der  Welt  und  des  vielg'estaltigen  Menschenlebens 
hinwiesen.  Ihre  Ideen  hatten  aber,  um  aus  Schulweisheit  Lebensweisheit 
zu  werden,  noch  manchen  Kampf  um  ihre  Daseinsberechtigung  auszuhalten. 
Ratichius  Pädagogen,   wie   Ratichius   imd    Comenius,   gesellten   sich  den  großen 

und  Comenius  Philosophcn    Und    Naturforschern    zu,    um    der    Entwicklung    der    Schule 

(l  S02 — 1670) 

Bahnbrecher  auf  neue    Wcgc    ZU   wcisen,    nicht    so    sehr    durch    ihre   Schidgründungen    als 

pädagogischem  .  .  ,  .,-,.. 

Gebiet.  durch  ihre  Ideen,  die  sie  in  die  Zeit  hineinwarfen  als  ein  Ferment,  das 
eine  vollständige  Umwälzung  des  Erziehungs-,  Unterrichts-  und  Schul- 
wesens hervorgerufen  hätte,  wenn  jene  Zeit  aufnahmefähiger  gewesen 
wäre  und  wenn  die  Männer  selbst  nicht  durch  unpraktische  Sonderbar- 
keiten der  Verwirklichung  ihrer  eigenen  Ideen  den  Weg  verlegt  hätten. 
Ratichius  suchte  vor  allem  die  Muttersprache  aus  ihrer  jahrhundertelangen 
Vernachlässigung  zu  befreien,  indem  er  verlangte,  der  Knabe  müsse 
deutsche  Sprachkunst  recht  und  wohl  gelernt  haben,  bevor  er  weiter 
gehen  könne.  Er  setzte  ferner  die  Sinne  in  ihre  Rechte,  indem  er  auf 
Induktion  hindrängte  und  auf  lebendige  Übung  der  Sprache  durch  Lek- 
türe und  auf  Verwendung  anschaulicher  Beispiele  im  grammatischen  Be- 
triebe; er  betonte  weiter  ein  natürliches  Nacheinander  der  verschiedenen 
Lehrgegenstände  gegenüber  dem  unnatürlichen  zerstreuenden  und  bunten 
Nebeneinander  der  alten  Schule.  Daß  er  schließlich  Front  machte  gegen 
die  rauhe  Zucht  der  bisherigen  Schulmeisterei  und  die  Freude  an  der 
Arbeit  als  wirksam  pries,  ist  nicht  sein  geringstes  Verdienst.  Daß  seine 
an  sich  gesunden  Ideen  nicht  zur  Geltung  kamen,  verschuldete  er  durch 
sein  unstetes,  unverträgliches  und  reklamesüchtiges  Wesen,  zu  welchem 
eine  seltsame  Geheimnistuerei  hinzukam,  welche  die  Pädagogik  fast  wie 
eine  schwarze  Kunst  behandelte. 

Wirksamer  als  dieser  pädagogische  Adept  war  Comenius,  der  steter  war 
trotz  seines  Flüchtlingselends  im  Dreißigjährigen  Kriege  und  trotz  seines 
Wanderlebens.  Auch  origineller,  feiner  und  tiefer  war  er  angelegt  und  bei 
aller  seiner  chiliastischen  Schwärmerei  frei  von  religiöser  Engherzigkeit  und 
Zanksucht  —  dabei  als  echter  Pädagoge  ein  Optimist  von  reinstem  Wasser. 
Ziel  seiner  Bestrebungen  war  wissenschaftliche  Bildung,  tugendhafte  Sitten 
und  wahre  Gottesfurcht.    Die  Mittel  zum  Ziele  gleichen  denen,  die  Ratichius 


III.   Die  französisch-höfische  Bildung,  ilic  AufklKrunf;  (1600 — l/Oo).  I  ?y 

empfahl.  \'or  allem  suchte  auch  er  den  Sinnen  /ii  ihrem  Rechte  zu  verhelfen 
durch  Anschaulichkeit  im  Unterricht,  durch  Wertschätzung  der  Realien,  der 
Naturgeschichte,  der  Geographie  und  der  Geschichte  und  dadurch,  daß  er 
auf  den  Kern  der  Dinge,  auf  die  Sache  gegenüber  dem  inhaltsleeren 
Wort  hinwies;  das  Beispiel  setzte  er  vor  die  Regel,  die  Anschauung  vor 
die  Gedächtnisübung,  das  Wesentliche  loste  er  aus  dem  Unwesentlichen; 
die  Ordnung  und  den  Lauf  der  Xatur  legte  er  der  Ordnung  und  dem  Lauf 
der  Gedankenwelt  zugrunde,  um  zu  klarer  und  bestimmter  Urteilskraft 
als  dem  Ergebnis  des  Unterrichts  zu  kommen.  Dabei  hielt  er  auf  Ein- 
heitlichkeit des  Unterrichts:  ein  Lehrstoff  zu  seiner  Zeit,  ein  Lehrbuch, 
ein  Lehrer  in  derselben  Lehrzeit  waren  seine  Ideale.  Die  Muttersprache, 
nicht  das  Latein,  betrachtete  er  als  den  gesundesten  Boden,  auf  welchem 
alle  Erziehung  und  aller  Unterricht  am  gedeihlichsten  wachsen  könne. 
Und  die  Sonne,  welche  dieses  Bodens  Keimkraft  hob,  war  ihm  die  Freude 
an  der  Arbeit,  nicht  aber  die  rauhe  Zucht  der  prügelvollen  und  straf- 
reichen Vergangenheit:  sonnige  Schulstuben  mit  Bildern  geschmückt  und 
vom  Spielplatz  begrenzt,  sonnige  Lehrer  und  Pflege  des  Körpers  durch 
Wechsel  von  Ruhe  und  Arbeit,  diese  erziehenden  Kräfte  schätzte  er 
sehr  hoch  ein. 

Alles  in  allem  —  Comenius  war  der  größte  Didaktiker  und  Pädagoge  des 
17.  Jahrhunderts,  auch  ein  hervorragender  Sozialpädagoge,  weil  er  die 
Bildung  ganz  allgemein  jedem  jungen  Erdenmenschen,  ob  arm,  ob  reich, 
ob  hoch,  ob  niedrig,  zubilligen  wollte,  eine  lux  in  tenebris,  ein  leuchtender 
Geist  in  dunklen  Tagen,  dem  man  aber  unrecht  tut,  wenn  man  ihn  als 
einen  Heiligen  verehrt  und  gar  als  Schutzheiligen  aller  Reformschulen 
der  Gegenwart  und  Zukunft  preist.  Denn  auch  sein  Sj\stem,  auch  seine 
Ideale  trugen  Mängel  an  sich,  die  den  Grund  bildeten,  daß  der  Erfolg 
auch  hier  hinter  den  Erwartungen  zurückblieb.  Des  Comenius  Realismus 
ging  so  weit,  das  ganze  Altertum  so  zu  verachten,  daß  er  es  zu  den  heid- 
nischen Büchern  warf,  die  dem  Feuer  preiszugeben  seien.  Damit  ver- 
kannte er  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  Antike,  die  deutschem  Leben 
und  Wesen  einen  großen  Teil  seiner  Kraft  und  Gesundheit  veHeiht.  Die 
Einheitsschule  war  sein  Ideal,  damit  tötete  er  das  mannigfache  Leben,  das 
der  Vielgestaltigkeit  deutschen  Geistes  ihren  Reiz  verleiht;  die  Überbür- 
dung mit  \Vissensstoff  an  Sachen  und  Worten  schuf  er  als  neues  Übel 
zu  dem  alten  erdrückenden  Verbalismus,  der  der  Schule  des  Comenius 
nicht  fem  blieb,  weil  Sachen  und  Namen  unzertrennlich  sind  und  das  „Ge- 
brauchslatein" des  Comenius  eine  Unsumme  unlateinischer  Wörter  in  den 
Betrieb  hereinführte.  So  klafften  Theorie  und  Praxis  an  vielen  Stellen 
weit  auseinander,  und  der  Erfolg,  der  denn  doch  der  beste  Prüfstein  aller 
gesunden  Pädagogik  ist,  entsprach  nicht  den  Hoffnungen,  die  man  auf 
Comenius  gesetzt  hatte.  Trotz  alledem  bleibt  Comenius  der  Ruhm,  neue 
Pfade  gewiesen  zu  haben,  welche  viele  Schulen  jener  Zeit  einschlugen 
und  die   wir  heute   noch  wandern. 


138 


Aixir.K  Mai  Till  AS ;  I')as  linln-ir   Kiuilx-iisi  h\il\voscn. 


Neue  Gt'sen-  Ziinächst  rii'litctcn  die    Ideen   des   Ratichius  und  Comeniiis   mehr  Ver- 

sau« «eRen  die       .  i    ■/  ^  i  i-  i        d  7-v  •    i        •    i  i. 

aitherKci.rachtc  wiming'  uud  Acrsetziing"  an  als  iinitasscndo  isesserung.  iJas  ist  nicht  zu 
Die^Kiuer-  verwundcm  und  nicht  zu  beklagen.  Alles  Sprunghafte,  was  neu  ins  lieben 
HedeiitmiTder  der  Gcschichte  eingreift,  wirkt  vorerst  beunruhigend  und  bildet  deshalb 
'  den  i,.it<-in-  meist  den  Ausgangspunkt  für  einen  neuen  Entwicklungsprozeß ;  denn 
sition"e)!en''da5  das  Absterben  des  Bestehenden  wird  gehemmt  und  neue  Lebenskraft 
herbeigeführt,  deren  sich  die  späteren  Zeiten  erst  voll  erfreuen.  Nach 
dem  Dreißigjährig-en  Kriege  sahen  doch  die  Männer,  die  aus  den  höheren 
Schulen  jener  Zeit  hervorgegangen  waren,  recht  erbärmlich  drein.  Mit 
ihrer  Gelehrsamkeit  wußten  sie  nichts  Rechtes  anzufangen,  ein  Verständnis 
für  ihre  schwere  aufgabenvolle  Zeit  hatten  sie  nicht.  Unpraktisch  standen 
sie  da  inmitten  der  reichen  Forderungen,  die  an  sie  gestellt  wurden  in 
einer  Zeit,  die  offenen  Blick  für  das  Nützliche,  Zweckmäßige  und  Lebens- 
kräftige verlangte.  Mit  ihrer  lateinischen  Beredsamkeit  konnten  sie  keinen 
Hund  hinter  dem  Ofen  hervorlocken.  Und  die  dumpfen,  stumpfsinnigen 
und  weltfremden  Hörsäle  der  Universitäten  verdarben,  was  die  höheren 
Schulen  etwa  an  gesundem  Sinn  noch  übrig  gelassen  hatten.  Daher  regte 
sich  denn  Opposition  außerhalb  und  innerhalb  der  alten  Schulen.  Vor 
allem  war  der  Hof-  und  Beamtenadel  nicht  mehr  zufrieden  mit  der  scho- 
lastischen Bildung,  welche  die  Gymnasien  boten.  Man  verlangte  Bildung 
eines  Hofmanns  und  gründete  deshalb  Adelsschulen  (Ritterakademien), 
auf  welchen  das  Französische  in  den  Vordergrund  trat  und  an  manchen 
Stellen  bis  zur  Nachäffung  getrieben  wurde.  Solche  Schulen  erstanden 
nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  in  Kolberg,  Lüneburg,  Halle,  Wien  und 
Wolfenbüttel.  Aber  die  Fülle  des  Unterrichtsstoffes  (Latein,  Französisch, 
Italienisch,  Spanisch,  Religion,  Ethik,  Staatswissenschaft,  Weltgeschichte, 
Chronologie,  Beredsamkeit,  Mathematik,  Mechanik,  Logik,  Metaphysik, 
Kriegswissenschaft  und  wer  weiß  was  noch  alles)  wurde  so  erdrückend, 
daß  aus  der  Planlosigkeit  Unsicherheit  der  Lernenden  hervorwuchs  und  die 
Schulen,  die  nur  mit  schwerem  Gelde  zu  erhalten  waren,  bald  ihrem 
Niedergange  entgegengingen.  Dennoch  haben  sie  in  der  Entwicklungs- 
geschichte der  höheren  Schulen  die  Bedeutung  gehabt,  am  Alten  kräftig 
zu  rütteln  und  Neues  zu  heischen.  Auch  in  den  alten  Schulen  selbst  ver- 
langte das  Neue  gebieterisch  sein  Recht  und  genoß  das  Alte  nicht  mehr 
unangefochten  sein  Ansehen.  Die  Mathematik  nahm  an  Bedeutung  und 
Umfang  zu;  Männer  wie  Professor  Weigel  in  Jena  traten  für  größere  Be- 
rücksichtigung dieses  Unterrichtsgegenstandes  wie  der  Realien  überhaupt 
ein,  und  schon  konnte  man  Worte  vernehmen  wie  die,  daß  wer  nicht  stu- 
dieren wolle,  nicht  mit  Latein  geplagt  werden  solle.  Und  als  ein  Mann 
wie  Leibniz  den  Gebrauch  des  Lateinischen  als  Monopolsprache  beklagte 
und  Thomasius  in  Halle  die  Bahn  frei  machte  für  das  Deutsche,  auch  in 
Gelehrtenkreisen,  da  gewann  allmählich  der  Gedanke  an  Kraft,  daß  die 
Kenntnis  des  Lateinischen  nicht  unbedingt  nötig,  daß  Latein  zwar  die 
Gelehrtensprache  sei,  aber  nicht  mehr    die  Sprache   aller  Gebildeten.     So 


III.   Die   französisch-höfischu  Bildung,  <li<"   Aufklärung   (1600  — 1790).  j -in 

zoitig'tPii  sich  allmählich  im  Leben  der  Schule  Ideen,  deren  ^>^•ebnisse 
erst  in  der  Kultur  der  (iet;fenwart  vollkommen  zur  Geltung  gelangen  und 
zum  Siege   sich  durchzuringen  scheinen. 

Seltsam  erscheint  es,  daß  auch  der  Pietismus ,  daß  auch  August  Her-  Aur.  iierm. 
mann  l-'rancke  im  modernen  Sinne  für  die  Kultur  der  Gegenwart  mit  (iM^-'i?!?). 
seinen  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Schule  gearbeitet  hat,  und  doch 
nicht  seltsam,  wenn  wir  bedenken,  daß  die  Probleme  der  Frömmigkeit 
zusammenhängen  mit  den  Problemen  unseres  inneren  Wesens  überhaupt, 
also  auch  mit  pädagogischen  Problemen,  und  daß  eine  Religion  voller 
Liebesarbeit  und  Werktätigkeit  praktische  Probleme  befruchten  muß  auch 
auf  dem  Gebiete  der  Erziehung,  besonders  wenn  jene  Liebesarbeit  aus 
solchem  Starkmut  und  solcher  Willensstärke  her\-orgeht  wie  bei  Prancke. 
In  seinem  Pädagogium,  das  er  als  Ersatz  der  zu  kostspieligen  Ritter- 
akademien für  die  Söhne  Adeliger  gründete,  und  in  seiner  lateinischen 
Schule  für  Bürgersöhne  kamen  wichtige  methodische  Grundsätze  zur 
Geltung,  die  reich  befruchtend  auf  die  Folgezeit  bis  in  unsre  Tage  wirk- 
sam waren,  so  die  Bedeutung  anregenden  Katechisierens,  die  Beschrän- 
kung in  der  Zahl  gleichzeitig  zu  betreibender  Unterrichtsfächer,  der  Wert 
der  Wiederholung,  die  Wertschätzung  der  vVnschauung  (botanischen  Garten, 
Modelle  im  naturkundlichen  Unterricht,  physikalische  und  geographische 
Apparate  finden  wir  in  seiner  Schule),  die  Pflege  des  Zeichenunterrichts, 
der  hier  zuerst  seine  berechtigte  Stellung  fand,  die  Fühlung  mit  dem 
praktischen  I.eben  durch  Besuch  von  Werkstätten  und  die  Zugeständnisse 
an  die  modernen  Sprachen,  besonders  das  Französische,  das  an  Stelle  des 
Griechischen  gelernt  werden  konnte.  Das  Lateinische  blieb  ja  noch  der 
Schwerpunkt  des  Unterrichts.  Aber  bei  der  Auswahl  der  Lektüre  waren 
sittliche  Gesichtspunkte  maßgebend;  und  das  Deutsche  vor  allem  kam 
nicht  dabei  zu  kurz,  da  Francke  im  Anschluß  an  Ratichius  und  Comcnius 
der  deutschen  Stillehre  eine  wichtige  Stätte  gab,  indem  er  sie  in  Rede- 
übungen, Briefen  und  Gedichten  pflegte.  Ein  hervorragendes  Verdienst 
aber  kommt  Francke  dadurch  zu,  daß  er  an  seinem  Pädagogium  die 
Lehrerbildung  in  die  Hand  nahm.  Wenn  er  auch  noch  nicht  den  letzten 
bedeutsamen  Schritt  tat,  die  pädagogische  Kunst  von  der  Theologie  zu 
emanzipieren,  so  bewies  er  trotzdem  eine  so  bedeutsame  Empfänglichkeit 
für  die  Zeitinteressen,  daß  er  mit  dem  Plane  umging,  ein  Pädagogium  für 
praktische  Benifsarten  zu  gründen,  das  unseren  Realgymnasien  insofern 
würde  ähnlich  gesehen  haben,  als  Latein  und  Französisch  die  Fremd- 
sprachen sein  sollten,  auf  denen  die  sprachliche  Ausbildung  sich  gründete, 
und  als  daneben  die  Realien  treten  sollten,  welche  „zu  nützlichen  Künsten" 
gebraucht  würden. 

Im  Bündnis  mit  der  neuheraufziehenden  Kultur  und   dem  Wandel  im  nie  phiUnthro- 
Wesen   der  höheren   Knabenschulen   standen    auch    die    Philanthropinisten  und  Rousseaus 
Basedow,  Salzmann  und  Trapp,  die  zunächst  starke  Wirkungen  ausübten,      Kinfluo. 
weil  ihr  Führer  die  Reklametronmiel  zu  rühren  verstand,  die  aber  —  ab- 


]^Q  AdoiI'    MAllinAs:   Pas  hiiliprr    Knalicnschuhvi-scn. 

g-esehen  von  Sal/m;mn  —  dauernd  k('in<'n  unmittelbaren  Erfolg  hatten, 
weil  Vorsprachen  und  Kalten,  Theorie  und  Praxis  sich  nicht  entsprachen; 
Basedows  Dcssiiuer  Philanthropin  hat  keine  20  Jahre  gelebt  (1774 — 1793); 
Salzmanns  Schnepfenthaler  Schule  hat  Bestand  gehabt,  weil  ihr  Begründer 
ein  gebomer  Erzieher  und  eine  selbstlose  Natur  war  und  weil  die  Schule 
in  abgelegener  ländlicher  Lage  den  Verkehr  mit  der  Natur  wirklich  pflegen 
konnte,  der  die  Voraussetzung  für  die  Erziehungsanstalten  der  Philanthropi- 
nisten  bildete.  Was  diesen  Schulen  die  Aufmerksamkeit  weiter  Kreise  zuzog 
und  worin  ihr  Einfluß  auch  auf  die  Kultur  der  Gegenwart  lag,  das  war  ihr 
Grundsatz,  Wert  zu  legen  auf  Anschauung  und  Erfahrung,  dagegen  das  ver- 
haßte Verbalmemorieren  und  die  gehaltlose  Verbalkenntnis  hinter  die  Realien 
und  das  „Realmemorieren"  zu  stellen.  Daß  diese  Realkenntnis  im  engsten 
Anschluß  an  ein  barbarisches  Latein  und  ein  nach  des  Comenius  orbis 
pictus  umgemodeltes  Lehr-  und  Anschauungsbuch  vermittelt  wurde,  war 
ein  Zopf,  den  eine  dieser  Haartracht  noch  nicht  entwöhnte  Zeit  ohne  Murren 
trug.  Eindrucksvoll  war  femer  an  den  Bestrebungen  der  Philanthropi- 
nisten,  daß  die  Erziehung  ihnen  wichtiger  war  als  der  Unterricht,  die 
Berufsbildung  hinter  allgemeiner  Menschenbildung  zurücktrat  und  daß  als 
diejenigen  Schulen,  die  diese  Allgemeinbildung  ijAegen  sollten,  nicht  mehr 
die  alten  Gymnasien,  sondern  Realschulen  mit  wenig  Latein  empfohlen 
wurden.  Es  frappierte  geradezu,  von  den  Philanthropinisten  (Trapp)  einen 
Gedanken  ausgesprochen  zu  hören,  den  mancher  auf  der  Zunge  trug,  ohne 
ihn  laut  werden  zu  lassen,  daß  nämlich  die  wenigsten  Schüler  so  viel  Ver- 
ständnis für  die  alten  Schriftsteller  hätten,  um  Muster  guten  Geschmacks 
und  ein  Urbild  des  Schönen  darin  zu  sehen.  Und  vollends  neue  Weisheit 
war  es,  daß  Erlernung  fremder  Sprachen  ein  notwendiges  Übel  und  Kenntnis 
fremder  Sprachen  nicht  gleichbedeutend  sei  mit  allseitiger  Verstandes- 
bildung. Die  Konsequenzen,  die  man  für  die  Stellung  der  Sprachen  im 
Unterricht  zog,  ergaben  sich  naturgemäß  von  selbst.  Daß  man  Latein 
beibehielt,  betrachtete  man  als  eine  Konzession  an  die  Tradition  und  an 
die  Bedürfnisse  vorurteilsvoller  Leute,  welche  sich  von  jener  nicht  frei  zu 
machen  wüßten;  daß  die  modernen  Sprachen  ihrer  Dignität  nach  vor  dem 
Lateinischen  ständen  und  daß  man  vor  allem  das  Deutsche  zu  pflegen 
habe,  sah  man  als  selbstverständlich  an.  Den  Wert  des  Griechischen 
schätzte  man  an  sich  nicht  gering,  weil  man  Griechisch  für  die  vorzüg- 
lichste aller  Sprachen  wegen  Beschaffenheit  und  Reichtum  der  griechischen 
Schriftsteller  hielt;  aber  sehr  fraglich  schien  es,  ob  der  Nutzen  der  eigent- 
lichen Spracherlernung  der  darauf  verwandten  Zeit  entspreche  und  ob 
nicht  ein  Ersatz  durch  gute  Übersetzungen  förderlicher  sei,  da  es  sich 
doch  vor  allem  um  Gedankeninhalt  handle.  Noch  mehr  kam  hinzu,  was 
den  Philanthropinisten  Ereunde  und  Einfluß  verschaffte.  Die  Religion,  zu 
der  möglichst  früh  erzogen  werden  sollte,  sollte  tätiger  Glaube  sein,  nicht 
aber  Anerziehung  von  Empfindungen,  die  ein  Kind  noch  nicht  haben 
könne,     vor     allem     nicht    Überbürdung     mit    gedankenlosem    Bibellesen, 


in.  Die  französisch-höfische   Bildung,   die   Aufklärunf;   (1600 — 179O).  141 

Stumpfer  Antlarht  untl  duinpforn  Beten.  Auch  der  I.ehrerbildunt;-  nahmen 
sich  die  l'hilanthropinisten  an,  indem  sie  die-se  der  Staatstursorge  zuzu- 
weisen suchten,  die  Theologen  zu  beseitigen  und  die  Abhängigkeit  von 
der  Kirche  zu  lösen  sich  bestrebten,  damit  das  ganze  Krziehungswesen 
freier  und  natürlicher  sich  gestalte.  Auch  die  köqjerliche  Ausbildung 
stand  hoch  im  Werte;  \or  allem  aber  die  Gerechtigkeit  gegen  die  Kindes- 
natur, die  feinere  Zucht  und  Förderung  des  Vertrauens  zwischen  Lehrern 
und  Schülern  und  der  Gedanke,  daß  dieses  Vertrauen  durch  edlen  Sinn 
gebunden   werde,  der  tiefer  wirke  als  aller  erzieherische   Verstand. 

Doch  der  Philanthropinismus  hatte  auch  seine  Schattenseiten,  die 
seinen  Erfolg  beeinträchtigten.  Es  fehlte  ihm  das  lebendige  Verständnis 
für  die  ideale  Seite  des  klassischen  Altertums  fast  gänzlich.  Das  Gemein- 
nützige und  Triviale  wurde  überschätzt,  auch  im  Religionsunterrichte,  in 
welchem  das  Nüchterne  und  l'hantasielose  überwog.  Vielwisserei  drang 
vielfach  ein  und  die  Übertreibung  des  „natürlichen",  spielenden  Eernens 
schadete.  Es  war  denn  doch  ein  pädagogischer  Aberglaube,  daß  Bildung 
dem  Menschen  zufliegen  könne  gleich  den  gebratenen  Tauben  des 
.Schlaraffenlandes,  während  echte  Weisheit  im  alten  Bauerspruche  liegt: 
„Bitter  für  den  Mund  ist  für  das  Herz  gesund."  Die  Verkennung  und 
Vernachlässigung  des  Gedächtnisses  rächte  sich  denn  auch  durch  hohle 
Köpfe,  die  man  zu  füllen  sich  bemühte,  indem  man  den  Ehrgeiz  zum 
Lernen  anzufachen  trachtete  durch  ein  Übermaß  von  Geschenken  und  Be- 
lohnungen. 

Das  volle  Verständnis  für  die  Wirkungen  der  philanthropinistischen 
Bestrebungen  würde  fehlen,  wenn  wir  Rousseaus  Einfluß  auf  sie  und  auf  die 
Kultur  jener  Zeit  nicht  mit  in  Rechnung  zögen.  Der  Philanthropinismus 
kam  doch  erst  recht  zur  Geltung  in  jenen  Tagen,  da  Rousseaus  Emil  seinen 
Siegeszug  durch  die  gebildete  Welt  hielt  und  zur  Abhängigkeit  von  diesem 
Buche  oder  zu  abweichender  Stellung  zwang.  „Xatur  und  Freiheit"  waren 
die  Losungsworte,  die  aus  Rousseaus  Munde  in  die  bisher  vielfach  gefängnis- 
artigen Schulstuben  gerufen  wurden,  um  das  Verhältnis  der  Erziehung 
zur  Kindesnatur  und  Kinderwelt  völlig  umzugestalten.  Aus  pennalistischer 
Unnatur  sollte  die  Jugend  zur  Natur  geführt  werden,  Künste  und  Wissen- 
schaften sollten  den  ursprünglich  guten  Menschen  nicht  weiterhin  zur 
Unnatur  verderben,  sondern  in  Zukunft  nur  alle  Einflüsse  fem  gehalten 
werden,  welche  von  schädlicher  Wirkung  auf  das  heranwachsentle  Ge- 
schlecht sein  könnten;  der  natürlichen  Entwicklung  habe  aller  Lehrstoff 
sich  anzupa.ssen,  nicht  aber  habe  er  unnatürlichen  Zwang  auszuüben.  Was 
kein  Verstand  der  Verständigen  sieht,  das  solle  in  Einfalt  das  kindliche 
Gemüt  zu  üben  lernen.  .Schönklingende  Worte,  doch  voller  Widerspruch 
und  voller  Mangel  an  historischem  .Sinn!  Aber  sie  wirkten,  denn  sie 
rüttelten  die  Geister  auf,  griffen  den  .Schlendrian  an  und  führten  dazu, 
erbarmung.slos  die  alten  Schäden  aufzudecken.  Vor  allem  aber  stellten 
sie    den    Grundsatz   fest,   daß    Erziehung   die    allgemeine    Menschenbildung, 


112  AuüLF  Matthias:  Das  höhere  Knabenscliuhvcsen. 

nicht  (ieli'hr.s;unki'il  zum  Ziele  habe  und  (.laß  man  zu  tleni  Ende  die 
Kindesseele  höher  zu  respektieren  habe  als  alle  tote  Buchgelehrsamkeit, 
die  dieser  Seele  vSelig-keit  gar  leicht  \'erderben  könne.  Rousseau  und  die 
Philanlhropinisten  haben  nun  zwar  nicht  in  unmittelbaren  Schulgründungen 
ihre  Erfolg'e  gfehabt,  aber  mittelbar  haben  sie  bedeutsam  gewirkt,  weil 
sie  die  Erziehungsfragen  volkstümlich  gemacht  haben  und  weil  ihre  Spuren 
bis  in  die  Schulstube  und  die  Schulfragen  der  Gegenwart  hinein  zu  ver- 
folgen sind. 

Friedricii  iier  Der  Gcist  der  Aufklärung  war  aber  nicht  nur  volkstümlich;  er  bestieg 

1786)  und  sein  mit  Friedrich    dem   Großen   den  Königsthron.     In   besonderem   Maße    kam 

von  zediiu    das  dem  Volksschulwesen  durch  Einführung   der   allgemeinen  ISchulpflicht 

(im  Amt  .  ,.,..  ^  l-ii  •  •  /-»• 

1770—1788).  zugute.  Aber  auch  im  höheren  Schulwesen  zeigte  jener  Geist  seine 
Wirkungen.  Das  bezeugt  das  Schreiben  des  großen  Königs  vom  5.  vSep- 
tember  1779  an  seinen  Minister  Freiherm  von  Zedlitz.  Die  höheren  Schu- 
len, so  hieß  es  hiet,  hätten  nicht  die  Aufgabe  für  bestimmte  Berufsarten 
abzurichten,  sondern  zu  erziehen  zu  einer  allen  höheren  Ständen  gleich- 
mäßig zukommenden  allseitigen  Geistes-  und  Charakterbildung  und  zu 
festen  sittlichen  Grundsätzen;  dabei  sei  die  Individualität  zu  berücksichtigen 
und,  wie  die  französischen  Jesuiten  das  so  meisterhaft  verständen,  ein 
jeder  an  den  Platz  zu  stellen,  der  seinen  Fähigkeiten  und  Berufsneigungen 
entspreche.  Besser  angebahnt  werden  müsse  das  Verständnis  für  Literatur 
und  Wissenschaft;  die  Auswahl  der  Lektüre  und  des  Lehrstoffes  habe  zu 
geschehen  nach  dem  Werte,  die  sie  für  die  Gebildeten  hätten;  nicht  Ge- 
lehrsamkeit solle  den  Ausschlag  geben,  aber  auch  nicht  der  geschäftliche 
Nutzwert.  Latein  sei  zu  betreiben;  ebenso  das  Griechische.  Xenophon, 
Demosthenes,  Tacitus,  Livius,  vor  allem  aber  Cicero,  desgleichen  Horaz 
und  Virgil  seien  zu  pflegen,  und  zwar  auch  als  stilbildende  Kräfte.  Die 
Muster  richtiger  Interpretation  finde  man  bei  den  französischen  Jesuiten, 
der  deutsche  Gelehrte  könne  selten  einen  Schriftsteller  ohne  Schwierig- 
keiten lesen.  Neben  den  alten  Sprachen  sei  das  Französische  mehr  zur 
Geltung  zu  bringen,  auch  Deutsch  nach  guter  Grammatik  zu  treiben;  vor 
allem  aber  sei  auf  Rhetorik  und  Logik  viel  Gewicht  zu  legen.  —  Außer 
solchen  theoretischen  Belehrungen  gingen  aber  vom  großen  König  auch 
praktische  Maßregeln  aus.  Schulreform  im  heutigen  Sinne  allerdings 
konnte  man  damals  nicht  ins  Werk  setzen.  Das  ganze  vSchulwesen  war 
nur  locker  gefügt  und  nicht  in  heutigen  Formen  organisiert.  Neben  den 
Dorfschulen  zog  sich  eine  größere  Anzahl  von  Lateinschulen  über  das 
Land  hin,  etwa  80  fünf-  und  mehrklassige  und  ungefähr  300  kleinere  drei- 
klassige.  Die  Hälfte  aller  Stunden  beanspruchte  das  Latein,  daneben  wurden 
Religion  und  Gesang  befriedigend  gepflegt,  leidlich  waren  Geschichte 
und  Geographie,  kümmerlich  Mathematik  bedacht,  ganz  armselig"  stand 
es  mit  den  Naturwissenschaften.  Deutsch  mußte  sich  begnügen  mit  den 
Abfällen,  die  vom  griechischen  und  lateinischen  Tische  fielen.  Besser  ge- 
stellt waren  die  größeren  Anstalten  in  den  größeren  Städten,  die  als  Vor- 


in.  Die  französisch-höfische  BilJung,  ilie  Aufklärung   (1600 — 1790).  1^^ 

schulen  für  Juristen  und  Theologen  im  besonderen  Ansehen  standen  und 
je  nach  Leitung  und  Zusammensetzung  des  Lehrerkollegiums  bedeutsames 
leisteten.  In  diese  Verhältnisse  griff  Zedlitz  nach  dem  Maße  seiner  amt- 
lichen Zuständigkeit  ein.  Und  diese  war  recht  beschränkt.  Gingen  doch 
die  Rechte  der  Ptitronate  so  weit,  daß  das  Breslauer  Stadtkonsistorium 
den  Reformversucheii  des  Königs  den  Wid(;rspruch  entgegensetzte,  daß 
„der  Untertan  der  beste  sei,  der  am  meisten  glaube,  und  der  der  schlech- 
teste, welcher  am  meisten  räsonniere",  worauf  dann  der  energische  Be- 
scheid erfolgte,  daß  diese  Einwendung  eine  „auf  Dummheit  gegründete 
Sicherheit"  enthalte.  Und  ebenso  energisch  ging  der  Minister  gegen  den 
unfähigen  Abt  Hähne  in  Klosterberge  vor,  über  den  der  König  das  Ur- 
teil gefällt  hatte,  er  tauge  nichts,  weil  „der  Kerl  ein  übertriebener  pieti- 
stischcr  Narr"  sei.  Anderswo  gingen  die  Verbesserungen  glatter  von 
statten.  In  Berlin  wurden  das  Joachimsthalsche  Gymnasium  unter  Meier- 
otto, das  I-riedrich-Werdersche  Gymnasium  unter  Gedicke  Musterschulcn. 
Der  Geist  der  Aufklärung  zog  in  sie  ein,  denn  selbständiges  Denken  trat 
an  die  Stelle  geistlosen  Imitierens;  der  wissenschaftliche  oder  Sachunter- 
richt rückte  an  die  Stelle  des  öden  Verbalismus  im  sprachlichen  Betriebe; 
die  Realien  wurden  im  weiteren  Umfange  als  bisher  zugelassen.  Sodann 
wurden  die  Lehrer  besser  gestellt.  Der  Professorentitel,  der  tüchtigen 
Männern  verliehen  wurde,  kennzeichnete  die  Absonderung  von  Kantoren 
und  Küstern.  In  Halle  kam  I-Viedrich  August  Wolf  solchen  Bestrebungen 
zu  Hilfe,  indem  er  die  Lehrerbildung  von  Theologenbildung  schied  und 
kräftig  in  die  Hand  nahm.  Am  Friedrich-Werderschen  Gymnasium  wurde 
ebenfalls  im  .Seminar  die  Lehrerbildung  als  eine  eigene  Kunst  betrieben, 
die  gelernt  sein  will  und  nicht  etwa  nur  als  theologisches  Beiwerk  zu  be- 
trachten ist.  Mit  der  Begründung  des  UberschulkoUegiums  (1787)  wurde  das 
Schulwesen  ganz  von  der  Kirche  losgelöst  und  immediat  unter  den  König 
gestellt.  Und  weiterhin  wurde,  wenn  auch  nicht  mehr  von  dem  großen 
Könige  und  seinem  Minister,  so  doch  im  friderizianischen  und  zedlitzschen 
Geiste  1788  mit  der  Einrichtung  des  Abiturientenexamens,  das  der  Un- 
wissenheit der  Studierenden  einen  Damm  entgegensetzen  sollte,  der  erste 
.Schritt  zur  Organisation  eines  einheitlichen  Gymnasialunterrichts,  tiber 
auch  zur  Monopolisierung  dieser  Bildungsanstalten  getan.  Zweifelhaft  war 
man  gewesen,  ob  man  dieses  Examen  als  Aufnahmeprüfung  an  die  Uni- 
versität oder  als  Abgangsprüfung  an  das  Gymnasium  legen  sollte;  man 
entschied  sich  für  das  letztere.  Doch  blieb  der  Universität  noch  das 
Recht,  vom  Gymnasium  Reifgesprochene  zu  prüfen  und  auch  solche  zum 
.Studium  zuzulassen,  die  ohne  Reifezeugnisse  kamen.  Nur  das  Recht 
auf  Stipendien  und  Benefizien  war  fortan  gebunden  an  das  Reifezeugnis 
eines  Gynmasiums.  Unstreitig  wurde  mit  dieser  Einrichtung  das  ganze 
Niveau,  auf  welchem  Lehrer  und  Schüler  sich  bewegten,  merklich  ge- 
hoben. 

Im    Zusannncnhang    mit   den    friderizianischen   Bestrebungen    erscheint    Realschulen." 


j  ,  ■  AimiK  Matihias:   Das  hülieic   Knabenschulwesen. 

es  angemessen,  die  Anfänge  des  Reidsclndwesens  zu  besjircclicn,  weil  sie 
dem  Geiste  der  Zeit  nahestehen  und  weil  sie  ein  l.ieblingsprojekt  des 
Ministers  Zedlitz  bildeten,  wenn  sie  auch  Nor  den  Augen  Friedrichs  insofern 
keine  Gnade  fanden,  als  er  ihrer  umfassenden  Ausdehnung  im  Schulwesen 
nicht  zustimmte.  Den  ersten  Gedanken  vom  Werte  der  realistischen  Lehr- 
stoffe sind  wir  bei  Ratichius  und  Comenius  begegnet.  In  Franckes  System 
nahm  die  Realschule  schon  einen  ganz  bestimmten  Platz  ein  für  die- 
jenigen Kinder,  die  sich  praktischen  Berufen  widmen  wollten,  dazu  aber 
mehr  bedurften  als  bloße  Volksschulbildung.  Zur  Ausführung  seiner  Ge- 
danken kam  aber  Francke  nicht.  Dagegen  verwirklichte,  den  praktischen 
Forderungen  der  Zeit  entgegenkommend,  sein  Zeit-  und  Berufsgenossc, 
der  Pastor  Semler,  1708  den  Gedanken  durch  Begründung  einer  „mecha- 
nischen und  mathematischen  Realschule",  die  aber  mehr  eine  Handwerker- 
schule als  eine  Stätte  allgemeiner  Bildung  war.  Ihr  Glück  hat  diese 
Schule  nicht  gemacht;  sie  ging  bald  wieder  ein.  Mehr  Lebenskraft  bewies 
eine  andere  Schule,  die  von  Hecker,  einem  Schüler  Franckes,  im  Jahre  1747 
zu  Berlin  als  „ökonomisch  mathematische  Realschule"  gegründet  und  bald 
als  königliche  Realschule  anerkannt  wurde.  Neben  der  eigentlichen  Real- 
abteilung in  ihr  lief  eine  deutsche  und  lateinische  Abteilung  (ohne  Griechisch, 
mit  Französisch)  her;  zwischen  den  Abteilungen  war  ein  gewisses  Hin- 
und  Herüber  freier  Wahl  gestattet.  Im  Grunde  war  die  eigentliche  Real- 
schule ein  Bündel  von  F'achgruppen,  die  wahlfähig  waren.  Es  charakteri- 
siert die  Schule,  daß  bei  Vakanzen  von  Küstern  und  Schulmeistern  „die 
Subjekte  von  denen  Leuten,  so  bei  der  Real-Schule  in  Berlin  zu  der- 
gleichen Bedienung  angezogen  und  zugleich  zum  Seidenbau  und  zur 
Kultur  der  Maulbeerbäume  angeführt  werden,  preferablement  vor  anderen 
genommen  werden  sollten  und  deshalb  im  vorkommenden  Falle  an  den 
qu.  Hecker  allhie  geschrieben  werden  solle,  um  dergleichen  vorzuschlagen". 
Langdauemdes  Leben  hatte  auch  diese  Schule  nicht.  Im  Anfang  des 
ig.  Jahrhunderts  ging  sie  den  Weg,  den  fast  alle  höheren  lateinlosen 
»Schulen  zu  den  Zeiten  des  Gymnasialmonopols  gingen,  —  sie  nahm  Latein 
an  und  wurde  ein  Gymnasium  nebst  Realgymnasium.  Eine  reinere  Auf- 
fassung vom  Wesen  der  Realschule,  als  Semler  und  Hecker,  hatte  der 
Minister  Zedlitz;  das  zeigte  sein  Verhältnis  zu  Resewitz,  der  in  Kopen- 
hagen eine  Realschule  mehr  im  heutigen  Sinne  begründet  hatte  mit  der 
Aufgabe,  „die  Erziehung  des  Bürgers  zum  Gebrauch  des  gesunden  Ver- 
standes und  zu  gemeinnütziger  Geschäftigkeit"  zu  übernehmen  und  dem- 
gemäß in  der  Methode  vor  allem  von  der  Erfahrung  und  der  Anschauung 
auszugehen  und  so  vSinne  und  Verstand  gesund  und  tüchtig  zu  gestalten. 
Zedlitz  berief  Resewitz  nach  Preußen  und  wünschte  solche  Bürgerschulen 
in  allen  Städten.  Doch  zwei  Schwierigkeiten  stellten  sich  in  den  Weg. 
Resewitz  war  ein  zu  arger  Theoretiker  und  Friedrich  der  Große  bestand 
,  auf  seinem  Willen,  daß  „die  jungen  Leute  absolut  Lateinisch  lernen  müßten". 
Selbst    für    eine  Realschule    mit  Latein  war    er   nicht   zu    haben,  wenn  er 


IV.  Der  Neuhumanismus  (1790 — 1840).  I^c 

auch  seiner  Ritterakademie  in  Berlin  einen  realen  Lehrplan  zubilligte, 
damit  seine  jungen  Leute  für  Krieg  und  Politik  tauglich  würden,  ihre 
Vernunft  entwickelt  und  ihr  Urteil  gebildet  würde.  Latein,  Französisch, 
Religion  und  die  praktischen  Lehrfächer  bis  zum  Staatsrecht  hin  sollten 
hier  gelehrt;  die  Antike  sollte  auch  durch  das  Medium  des  Französischen 
gelehrt  werden,  wo  Latein  nicht  reichte.  Dieser  Lohrplan  ähnelt  bereits 
dein  Lohrplan  der  späteren  Realgymnasien  und  trägt  manchen  Keim 
modernster  Kultur  in  sich. 

Noch  reicher  an  Zukunftskeimen  und  noch  lehrreicher  für  die  Kultur  Die  hohe 
der  Gegenwart  war  die  hohe  Karlsschule  in  Stuttgart.  Ursprünglich  für  "^"'^uTtga«  '" 
Soldatenkinder  gegründet,  die  einen  praktischen  Beruf  vom  Gärtner  bis  zumnäs?um"rwSeTt). 
Ballettänzer  hin  ergreifen  sollten,  dann  mit  Französisch  ausgestattet  einer 
modernen  Realschule  ähnlich,  weiterhin  als  militärische  Pflanzschule  mit 
kräftigerem  Latein  eine  Art  von  Realgymnasium,  erweiterte  sich  die  An- 
stalt unter  der  unruhigen  Leitung  des  Herzogs  Karl  Fugen  zu  einem 
gj'mnasialen  Wesen,  das  durch  den  Finfluß  der  Tübinger  Stiftler  reich  mit 
philosophischem  Unterricht  getränkt  wurde  und  schließlich  sogar  zu  einer 
Art  von  Universität  auswuchs,  indem  für  Kameralisten,  Juristen  und  Medi- 
ziner hier  die  genügende  Ausbildung  möglich  wurde.  Festen  Bestand 
hatte  diese  Schule  nicht,  weil  der  originelle  Tyrann  es  nicht  begreifen 
konnte,  daß  historische  Entwicklungen  und  gebildete  Menschen  nicht  so 
seinem  Willen  sich  fügten  wie  seine  Kammerdiener,  und  weil  er  zu  hastig, 
ähnlich  wie  Josef  IL,  den  zweiten  und  dritten  Schritt  nicht  selten  vor  dem 
ersten  zu  tun  versuchte.  Wenn  nun  auch  diese  Schule  keine  nachhaltige 
Wirkung  hatte,  —  den  Beweis  hat  sie  an  Jünglingen  wie  Schiller  er- 
bracht, daß  Philosophie  in  der  Schule  zu  pflegen  wohl  möglich  ist. 

Derselbe  Geist  der  Aufklärung,  der  den  großen  König  und  den 
tyrannischen  Herzog  erfüllte,  hielt  auch  in  Österreich  und  Bayern  seinen 
Einzug;  Württemberg  verharrte  —  abgesehen  von  der  Karlsschule  — 
auf  dem  althumanistischen  Schulbetrieb  des   16.  Jahrhunderts. 

IV.  Der  Neuhumanismus  (1790 — 1840).     Der  Geist  der  Aufklärung    Der  Neu- 
hatte neues  Leben   und  Bewegung  in   die  Schulen  gebracht  und  das  Alt-  """GesneT'' 
hergebrachte    erschüttert.     Aber   im    ganzen    und   großen  verharrte  in  den  '"^ErleVt?"" 
Schulen,  in  denen  das  Phlegma  geblieben,  aber  der  Spiritus  schon  längst  '"'h^IiI'''' 
dahin  war,  der  alte  freudlose  Geist;  erst  der  Xeuhumanismus,  das  klassische  "'"«"'*"'• 
Zeitalter  unserer  Dichtung  und  vor  allem   Männer  wie  Herder  und  Fried- 
rich Aug.  Wolf  mußten   tiefer    eingreifen    in    das  Wesen   und    den  Unter- 
richtsbetrieb, um  Wandel  zu  schaffen. 

Der  Xeuhumanismus,  der  schon  vor  den  Philanthropinisten  seine  ersten 
Regtingen  zeigte,  setzte  tiefer  und  nachhaltiger  ein,  als  der  Geist  der  Auf- 
klärung fast  seinen  Zug  durch  die  Schulen  beendet  hatte. 

Gesner,  den  Rektor  der  Leipziger  Thomasschule  und  späteren  Professor 
in  Göttingen  (1737),  darf  man  als  den   Vater  des  Xeuhumanismus  bezeich- 

Du  Kultur  dir  Gbcbnwart.    I.  i.  in 


146 


Adoi.k  Matthias:   Das  höhere   Knabenschulwesen. 


ncn;  er  ging  vielfach  auf  Ratkc  uiul  C'Dinciiius  zurück,  inai'htf  l'roiit  j^eq'en 
den  Gelehrsamkeitsdünkel  der  Gymnasien,  gegen  die  allgemeine  Forderung 
des  Latein  und  gegen  den  ekelerweckcndcn  Betrieb  des  Lateinischen, 
dessen  Ergebnisse  Ungeschicklichkeit,  Dunmiheit  und  Unvernunft  seien. 
Gegenüber  dem  schulfuchsigen  und  pedantischen  Betrieb  des  Lateinischen 
ging  er  zum  anderen  Extrem  über,  indem  er  ohne  Grammatik  durch  Rou- 
tine diese  Sprache  übermitteln  wollte.  Auch  schob  er  diesen  wie  den 
Unterricht  im  Französischen,  Geschichte  und  Geographie  für  das  Alter 
vom  7. — 13.  Jahre  dem  Privatunterricht  zu;  Griechisch  engte  er  auf  be- 
stimmte Berufsarten  ein.  Vor  allem  aber  sprach  er  den  Grundsatz  aus, 
daß  in  allen  Lektionen  philosophiert  werden  müsse,  daß  die  Schriftsteller 
dazu  da  seien,  Urteil  und  Geschmack  und  nicht  nur  grammatische  Regeln 
zu  bilden,  daß  der  historische  Zusammenhang  der  Kultur  sich  aus  dem 
Unterricht  ergebe  und  das  Griechische  als  die  Quelle  anzusehen  sei,  aus 
welcher  der  alten  Römer  Weisheit  fließe.  Sodann  brachte  er  die  Realien 
sowie  das  Deutsche  und  Französische  zu  größerer  Wertschätzung.  Alles  das 
bewegte  sich  nicht  lediglich  in  theoretischen  Erörterungen:  Gesner  sorgte 
auch  für  die  Ausbildung  der  Kandidaten  im  neuhumanistischen  Geiste, 
stellte  eine  Schulordnung  für  Hannover  auf  und  sorgte  durch  eifrige 
Visitationen  dafür,  daß  alles  in  Wirklichkeit  sich  umsetze.  Nach  Gesner 
wirkte  an  der  Leipziger  Thomasschule  der  Rektor  Ernesti,  der  ebenfalls 
eine  Schulordnung  im  neuhumanistischen  Geiste  schuf,  den  Gedanken,  die 
alten  Sprachen  mehr  als  Mittel  zu  allgemeiner  Bildung  denn  als  Selbst- 
zweck zu  betreiben,  zu  kräftigerer  Geltung  brachte  und  dem  Unterricht 
im  Deutschen,  auch  in  deutscher  Literatur,  seine  Stellung  gab.  Daß  er 
aus  den  antiken  Schriftstellern  allerlei  nötige  und  nützliche  Sachen,  die 
von  Gegenwartsnutzwert  seien,  zu  schöpfen  suchte,  zeigte  seine  Wert- 
schätzung der  Realien,  aber  auch  noch  das  Hängen  an  alten  Vorurteilen. 
Gesners  Nachfolger  in  Göttingen,  Chr.  Gottlob  Heyne,  erweckte  Freude  an 
antiken  Studien  besonders  dadurch,  daß  er  Verständnis  und  Begeisterung 
wachrief  für  die  antike  Dichtkunst  und  der  jungen  Generation,  zu  der 
Wilhelm  von  Humboldt,  die  Gebrüder  Schlegel  und  Voß  zählten,  Ge- 
schmack am  Griechischen  beibrachte. 
Das  klassische  An  der  reichen  Anregung",  welche  die  Blüte  klassischer  Dichtung  der 

Zeitalter  der  -,     .  .         .,  1        t       <>     1      t        ■  r  -i         1         t        t»     1  j 

Dichtung,  ganzen  Zeit  mitteilte,  nahm  auch  die  Schule  insotern  teil,  als  die  Behand- 
lung der  Schriftsteller  frischeres  Leben  und  besseres  Verständnis  annahm. 
W^enn  Hagedorn  in  gefälligen  Gedichten  horazische  Lebensweisheit  und 
anakreontischen  Lebensgenuß  verkündigte,  Klopstock  die  Verschmelzung 
des  antiken  mit  dem  modernen  Geiste  in  seinem  Messias  und  seinen  in 
horazischen  Metren  sich  bewegenden  Oden  versuchte,  wenn  Winckelmann 
mit  schönheitstrunkenem  Auge  das  Wesen  der  antiken  Kunst  zu  erfassen 
suchte  und  Lessing  das  wahre  Wesen  der  antiken  Poesie  ergründete, 
Homer,  Sophokles  und  Virgil  in  neue  frische  Beleuchtung  rückte  und  die 
aristotelische  Poetik   seinen  Zeitgenossen    naheführte    und  Herder  den  Be- 


IV.  Der  Neuhumanismus  (1790 — 1840).  ij^-j 

griff  der  Humanität  in  Anlehnung  an  die  Antike  vertiefte  und  verklärte, 
so  mußte  etwas  von  diesem  neuen  Geist  einer  alten  herrlichen  Zeit  auch 
in  die  Behandlung"  der  antiken  Schriftsteller  der  Schule  übergehen.  Und 
als  nun  Goethe  und  Schiller  in  Wort  und  Wesen  die  Antike  mit  ihren 
klassischen  Bildungsidealen  verjüngten  und  deutschen  und  hellenischen 
Geist  in  ihrer  Dichtung  vermählten,  da  konnte  auch  die  Schule  nicht 
mehr  im  alten  Schlendrian  dahingehen,  wenn  sie  den  Zeitgenossen  nicht 
ein  Stein  des  Anstoßes  werden  wollte. 

Unter    den    Großen    aus   der   Zeit   unserer   klassischen   Dichtung   steht      Herder 

(1744 — 1803). 
aber  als  Pfadfinder  neuer  Ziele  und  neuer  Ideale  für  die  Schule  am  be- 
achtenswertesten Herder  da,  dem  wir  viel  schulden  und  der  immer  mehr 
an  Bedeutung  gewinnen  wird,  je  mehr  der  Geist,  unter  dem  sich  die 
preußische  Schulreform  von  1890  und  1900  vollzogen  hat,  Gemeingut  der 
Gebildeten  in  Deutschland  wird. 

Herder  hatte  zu  feinhörig  den  Stimmen  vieler  Völker  in  ihren  Lie- 
dern gelauscht,  er  war  zu  tiefgründig  den  Ideen  zur  Philosophie  der  Ge- 
schichte der  Menschheit  gefolgt  und  er  hatte  den  Begriff  der  Humanität 
zu  klar  erfaßt,  um  noch  in  irgend  eme  der  Fesseln,  die  der  alten  Schule 
anhingen,  sich  schlagen  zu  lassen.  Deshalb  ist  er  frei  von  Vorurteilen  und 
reich  an  Empfänglichkeit  für  die  Bedürfnisse  seiner  Zeit.  Keine  Schule 
ist  gut,  wo  man  nichts  als  Latein  lehrt.  Realschulen  müssen  unabhängig 
vom  Latein  die  Grundlage  bilden,  wo  man  für  die  Menschheit  und  das 
ganze  Leben  tüchtig  lernt.  Mit  der  Muttersprache  ist  anzufangen,  dann 
das  Lateinische  zu  treiben,  schließlich  das  Griechische,  das  wertvoller  ist 
als  das  Lateinische.  Bis  Tertia  soll  die  Schule  eine  Realschule  sein,  um 
nützliche  Kenntnisse  und  Wissenschaften  in  Anlehnung  an  Anschauung 
und  Erfahrung  zu  vermitteln.  Dann  mag  sich  das  Gymnasium  anschließen 
in  zweckmäßiger  Ordnung  und  Proportion.  Das  ist  in  kurzem  Herders 
praktischer  Plan.  Seine  theoretischen  Erörterungen  sind  noch  tiefgründiger 
und  erweitern  den  Horizont  so  großartig,  daß  das  Auge  sich  erst  schärfen 
muß,  um  alles  zu  schauen,  was  Herder  als  Ideal  erblickte.  In  den  Huma- 
niora —  so  faßt  er  den  Begriff  der  Humanität  —  ist  alles  eingeschlossen, 
„was  den  Menschen  zum  Menschen  macht,  was  die  Gabe  der  Sprache, 
der  Vernunft,  der  Geselligkeit,  der  Teilnehmung  an  anderen,  der  Wirkung 
auf  andere  zum  Nutzen  der  gesamten  Menschheit,  kurz  alles,  was  uns 
über  das  Tier  erhebt  und  die  sein  lehrt,  die  wir  sein  sollen,  ausbildet  und 
befördert".  Als  Prophet  des  gebildeten  Menschenverstandes,  den  die 
.Schule  der  Zukunft  an  Stelle  des  von  der  Vergangenheit  gepflegten 
gelehrten  Menschenverstandes  rückt,  spricht  er  den  Girundsatz  aus,  „daß 
man  sich  selbst  in  allen  seinen  Anlagen,  l'ähigkeiten,  in  Seelen-  und  Leibes- 
kräften zu  dem  Bilde,  was  Leben  heißt,  an  sich,  soweit  es  die  Gelegenheit, 
Zeit,  Umstände  verstatten,  nichts  roh,  nichts  ungebildet  lasse,  sondern  dahin 
arbeite,  daß  man  ein  ganz  gesunder  Mensch  fürs  Leben  und  für  eine  uns 
angemessene  Wirksamkeit  im  Leben   werde".    Durch  diese  Forderung  be- 


I  lg  Adoi.k   Matthias;  Das  höhere  Knabensdnilwesen. 

konimt  ein  jeder  seine  besondere  Lektion  zu  hören,  luvt  jeder  sich  selbst 
in  rirhtiger  Proportion  zu  bilden  und  seine  besondere  Eigenart  zu  bilden. 
Tat  das  die  Schule,  die  zu  Herders  Zeiten  blühte?  Sehen  wir,  wie  der 
hervorragendste  Schulniaini  jener  Tage  —  Fr.  Aug.  Wolf  — ,  der  Herders 
Geiste  verwandt  war,  das  Ideal  zu  verwirklichen  suchte. 
Fr.  Aug.  Wolf  Fr.  Aug.  Wolf  hatte  sich,   als  er  sein  Studium  begann,   als  Studiosus 

Die  Emanzip'a-  der  Philologie  eintragen  lassen;  er  war  also  der  erste  seines  Faches;  denn 

tion  der  Lehrer  ^  ,^,  .  ,  .  ^ 

von  theo-  vorher  pflegte  man  Theologiestudierender  zu  seui,  wenn  man  der  Schule 
AbhänBigkeit.  sich  wldmeu  wollte.  Nunmehr  sollte  —  das  war  Wolfens  Meinung  — 
die  Philologie  einen  Wert  für  sich  haben,  indem  sie  in  streng  wissen- 
schaftlichen Bahnen  die  Beförderung  rein  menschlicher  Bildung  und  Er- 
höhung aller  Geistes-  und  Gemütskräfte  zu  schöner  Harmonie  des  inneren 
und  äußeren  Menschen  sich  zum  Ziele  setzte.  Der  Philologe  sollte  frei 
von  aller  Maßlosigkeit,  Engherzigkeit  und  Verstiegenheit  seinem  eigent- 
lichen Berufe  leben  imd  nicht  in  einer  Summe  von  Kenntnissen  knechtisch 
untergehen,  sondern  mit  eigener  Einsicht  und  wissenschaftlichem  Geist 
Herr  seines  Wissens  bleiben.  Um  gut  unterrichten  zu  können,  müsse  er 
zunächst  selber  etwas  Rechtes  gelernt  haben;  deshalb  müsse  zuvörderst 
das  Hochschulleben  für  sich  wirken  und  nicht  zu  früh  allzusehr  mit  der 
Praxis  des  schulmännischen  Wirkens  verquickt  werden.  Zu  dem  Wissen 
müsse  die  Kraft  des  Denkens  sich  gesellen  und  die  Kunst  auch  andere 
zum  Selbstdenken  zu  erziehen;  ferner  solle  der  Lehrer  erfüllt  sein  von 
Liebe  zu  seinem  Studium  und  zu  den  Jünglingen,  die  ihm  anvertraut 
sind,  er  müsse  dabei  nach  moralischer  Vollkommenheit  streben,  frei  von 
Launen  und  jeder  Zeit  bereitwillig  sein,  seinem  Amte  zu  dienen,  und 
schließlich  auf  Achtung  und  Dankbarkeit  der  Menschen  keinen  Anspruch 
erheben  und  dem  Beifall  der  Leute  nicht  nachlaufen. 

Um  zu  solchen  Eigenschaften  zu  erziehen,  verlangte  Wolf  völlig  von 
der  Theologie  getrennte  Vorbildung  für  das  Lehramt  und  stellte  er  den 
Lehrerberuf  als  selbständige  Lebensaufgabe  hin.  Diesen  Zielen  gemäß 
verfuhr  er  in  seinem  Hallenser  Seminar. 

Für  das  Gymnasium  erhob  er  im  Lehrplan  maßvollere  Forderungen, 
als  sie  bisher  üblich  waren.  Deutsch  und  Latein  (denn  jenes  ist  an  diesem 
zu  erlernen)  4  Wochenstunden,  Latein  7  Stunden,  Griechisch  5,  Französisch  2, 
Hebräisch  oder  Englisch  2,  Völkergeschichte  3,  Geographie  2,  allgemeine 
Literaturgeschichte  i  und  Mathematik  3  Stunden  —  das  etwa  waren  seine 
Forderungen.  Dazu  sollten  in  jedem  Vierteljahr  einige  Supplementstunden 
in  Religion,  Philosophie  und  Physik  treten.  Die  beste  Art  das  Sprach- 
studium zu  beginnen  sei  mit  dem  Lateinischen  anzufangen,  vielleicht  auch 
mit  dem  Griechischen,  jedenfalls  nicht  mit  dem  Französischen.  Für  Lek- 
türe und  Sprechfertigkeit  stellte  der  selbst  so  tüchtige  Mann  die  maß- 
vollsten Forderungen;  für  weitere  Ansprüche  solle  in  den  Oberklassen 
eine  Art  von  Selekta  eingerichtet  werden.  So  galt  ihm  das  Gymnasium 
noch   immer   als    eine  Vorschule    der   gelehrten   Berufe,   und    weil   dem   so 


IV.  Der  Neuhumanismus  (1790 — 1840). 


149 


war,    wünschte    er    energisch    eine    Vermehrung   von    Volks-    und    Bürger- 
schulen. 

Wie  entsprachen  nun  die  Einrichtungen  der  Zeit  den  Forderungen,  die 
wir  bei  Herder  und  Wolf  aufgestellt  finden?  Das  unter  dem  Einfluß  der 
großen  Steinschen  Reformen  zum  führenden  Staate  gewordene  Preußen 
fand  in  Humboldt  einen  geeigneten  Mann,  große  Ideen  in  Wirklichkeit  um- 
zusetzen. Er  sah  in  der  Bildung  am  Altertum  das  vorzüglichste  Mittel 
vollendeter  Menschenbildung  und  in  dem  antiken  Bildungsideal  Goethes 
und  Schillers  das  Bildungsideal  auch  für  das  deutsche  Volk,  das  aber  (so 
war  seine  ursprüngliche  Anschauung)  zu  verwirklichen  außerhalb  der 
Wirksamkeit  des  Staates  liege  und  Sache  des  Individuums  und  der  Fa- 
milie sei.  So  war  er  zum  Reformer  auf  dem  Gebiete  des  staatlichen 
Schulwesens  eigentlich  der  ungeeignetste  Mann.  Und  doch  wurde  er,  als 
im  Ministerium  des  Innern  die  dritte  Sektion  für  die  geistlichen  und 
Unterrichtsangelegenheiten,  die  wieder  unerquicklich  verquickt  wurden, 
gegründet  wurde,  zum  Leiter  dieser  Abteilung  berufen.  Damit  hielt  der 
Neuhumanismus  und  das  antike  Bildungsideal  seinen  Einzug  in  die  höheren 
Schulen  und  zeigte  sich  in  manchen  Entwürfen  der  nächsten  Zeit.  Zu- 
nächst wußte  unter  Humboldts  Anregung  der  Referent  für  das  Unterrichts- 
wesen, Süvem,  Wolfsche  Ideen  in  Wirklichkeit  umzusetzen,  indem  durch 
Edikt  vom  12.  Juli  1810  die  Lehrerprüfung  eingeführt  und  damit  der  An- 
stellung \"on  untauglichen  Subjekten  entgegengewirkt  wurde.  Jeder  Schul- 
amtskandidat  hatte  nunmehr  bei  den  wissenschaftlichen  Deputationen  eine 
Prüfung  abzulegen.  Mitglieder  dieser  Deputationen  waren  vorzügliche 
Männer  aus  allen  Fächern,  welche  auf  den  öffentlichen  Unterricht  Einfluß 
hatten,  die  als  wissenschaftlicher  Beirat  die  Verwaltungstätigkeit  der 
Unterrichtssektion  mit  dem  Geistesleben  der  Nation  in  dauernder  Ver- 
bindung halten,  Vorschläge  zur  Besetzung  der  Lehrerstellen  machen  und 
die  Prüfung  der  Kandidaten  übernehmen  sollten.  So  wurde  denn  nach 
Wolfs  Ideale  der  Lehrerstand  eine  pädagogische  Genossenschaft;  der  ein- 
zelne, der  bisher  als  verunglückter  Theologe  meist  ein  unstandesgemäßes 
Dasein  geführt  hatte,  wurde  nun  aus  seiner  Vereinsamung  befreit  und  unter 
den  kräftigen  Einfluß  und  Enthusiasmus  einer  staatlichen  Gemeinsamkeit 
gestellt.  Da  auch  die  Lehrer  städtischer  Anstalten  einbezogen  wurden  in 
diesen  Kreis,  waren  die  Patronate  genötigt,  dafür  zu  sorgen,  daß  die  staat- 
licherseits  getroffenen  Anordnungen  auch  zweckmäßigen  Eingang  hielten  in 
die  lokalen  Stadtverhältnisse,  um  diese  auf  der  Höhe  zeitgemäßer  Bildung 
zu  halten.  Eine  neue  tiefwirkende  Maßregel  brachte  das  Jahr  181 2  in  der 
Instruktion  für  die  Entlassungsprüfungen.  Diese  wurden  nunmehr  für  alle  zur 
Universität  abgehenden  Jünglinge  allgemein  gemacht.  Nur  die  Xichtschüler 
konnten  auch  an  Universitätskommissionen  ihr  Reifezeugnis  bekommen. 
Die  klassischen  Sprachen  standen  unter  den  Zielforderungen  im  Vorder- 
grund; Deutsch  und  Mathematik  rückten  nahe  an  jene  Unterrichtsfächer 
heran.     Dispensationen  vom  Griechischen  waren  fortan  ausgeschlossen. 


Die  höhere 
Schule  in  den 
ersten  30  Jahren 
des    iq.  Jahr- 
hunderts, 
W.  V.  Humboldt 
(1767-18J5). 
Süvern 

(■775— 1829)- 
Johannes 
Schulze 
(im  Amt 

1818— 1858). 


j  CQ  Adoi.k   Mai"[11IA.s:    Das   hölinc    Knabcnsrliuhvosrii. 

Der  Instruktion  tolgte  im  Jahre  1816  ein  i.chrplan,  (h'r  nicht  hiiuiend 
sein  und  den  Unterricht  in  gleiche  Kint'(')rniit;keit  wie  eine  Maschine 
bringen,  sondern  nur  ein  Muster  bilden  sollte  für  die  Grundlinien  der 
Lehrverfassung.  Tn  diesem  Plane  (50  Stunden  Griechisch,  76  Lateinisch, 
44  Deutsch  und  60  Mathematik)  weht  einerseits  der  Geist  des  Neuhuma- 
nismus —  bis  zu  Äschylos  und  Pindar  stieg  er  hinauf  —  und  der  mann- 
hafte Geist  der  Befreiungskriege;  denn  Anforderungen,  wie  sie  hier  ge- 
stellt wurden,  konnte  nur  eine  Generation  stellen,  die  im  Kampfe  eisenfest 
geworden  war  und  von  der  Jugend  Kräftiges  verlangte,  weil  sie  selbst 
in  Kraftentwicklung  sich  groß  erwiesen  hatte.  Andrerseits  aber  liegt  in 
diesem  klassischen  Idealismus  eine  Art  von  Weltflucht,  die  in  der  Welt 
der  Ideale  das  Große  zu  finden  sich  sehnte,  was  eine  rückschlägige  kleine 
Zeit  zu  bieten  nicht  vermochte. 

Ein  Jahr  nach  diesem  Lehrplane  wurde  das  Departement  für  Kultus 
und  öffentlichen  Unterricht  vom  Ministerium  des  Innern  losgelöst  und  ein 
selbständiges  Kultusministeriimi  errichtet.  Minister  von  Altenstein  war 
der  erste  Kultusminister,  sein  Hauptratgeber  Johannes  Schulze.  Anfäng- 
lich blieb  alles  beim  Alten;  allmählich  aber  rückte  der  Geist  der  Zeit 
mehr  und  mehr  an  die  Stelle  des  alten  Geistes;  daß  es  nicht  zu  viel  ge- 
schah, darf  man  dem  zähen  Widerstände  der  beiden  Männer  danken; 
wäre  dieser  nicht  gewesen,  es  wäre  vielleicht  noch  mehr  als  das  Turnen 
unter  polizeiliche  Aufsicht  geraten.  Nach  zwei  Dezennien  seines  Wirkens 
(1834)  brachte  das  neue  Ministerium  ein  neues  Abiturientenreglement  für 
die  Gymnasien.  Der  Zutritt  zum  akademischen  Studium  wurde  nunmehr 
nur  mit  dem  Reifezeugnis  der  Schule  gestattet;  Nichtschüler  hatten  also 
hier  ihr  Zeugnis  sich  zu  holen.  Unter  den  Zielforderungen  trat  das  Grie- 
chische mehr  zurück;  Übersetzung  der  Tragiker  und  griechisches  Skriptum 
fielen  fort;  auch  im  Lateinischen  wurden  geringere  Ansprüche  erhoben; 
im  Deutschen  erschien  neu  die  vaterländische  Literatur,  außerdem  — 
Hegels  Einfluß  zeigte  sich  —  die  philosophische  Propädeutik  und  die 
griechische,  römische  und  vaterländische  Geschichte,  Auch  die  Prüfungs- 
ordnung für  Lehrer  war  einige  Jahre  zuvor  (1831)  im  Geiste  der  Zeit 
erneuert,  indem  man  in  allen  Fächern  eine  Prüfung  verlangte,  in  einer 
Gruppe  aber  besondere  Lehrbefähigung  forderte  und  einen  Ausgleich 
suchte  zwischen  Klassenlehrer-  und  Fachlehrersystem.  Der  Normallehr- 
plan vom  Jahre  1837  krönte  dann  gleichsam  das  Gebäude.  Die  Klassen- 
zahl wurde  von  10  auf  q  herabgesetzt,  die  Gesamtstundenzahl  von  320 
auf  270.  Griechisch  verlor  8  Stunden  (Bestand  42)  und  trat  damit  wesent- 
lich hinter  das  Lateinische  zurück,  das  10  Stunden  Zuwachs  erhielt  (Be- 
stand 86).  Das  lag  mehr  im  Geiste  des  Alt-,  als  des  Neuhumanismus. 
Auch  das  Deutsche  ging  um  22  Stunden  (22  behielt  es  statt  44)  zurück, 
ein  schmerzlicher  Schnitt,  der  aber  das  Erstaunliche  verliert,  wenn  man 
bedenkt,  daß  nunmehr  im  Lateinischen  und  Griechischen  das  Deutsche 
Unterrichtssprache  wurde.     Auch  die  Mathematik   hatte  27   Stunden  abzu- 


V.  IJcr   Kampf  humanislischor  und  realer   Bildung   um  Glcichberechtigunj;  (1840 — 1890).     jcj 

g-eben  (Bestand  33).  Diese  Verminderung  auf  fast  allen  Gebieten  war 
auch  eine  Foljre  der  Überbürdungsklaijen,  die  der  Arzt  Lorinser  in  einer 
Broschüre  zusammenfaßte,  mit  gfutem  Rechte;  denn  die  Ansprüche  einer 
zum  Teil  recht  geistlosen  Pädagogarchie  überschritten  das  Maß,  und 
eine  so  arbeitskräftige  Jugend,  wie  die  aus  dem  Geiste  der  Befreiungs- 
kriege erwachsene,  stand  nicht  mehr  zur  Verfügung. 

Wie  in  Preußen  hatte  man  auch  in  Bayern  neue  Wege  eingeschlagen,  "i*  ^""^f«" 

J  000  deutschen 

Mit  der  Berufung  Niethammers  (1808)  zum  Zentralschulrat  war  man  mit  Staaten. 
einer  Reform  im  neuhunianistischen  Geiste  hier  sogar  zuvorgekommen. 
Latein  und  Griechisch  im  Hunde  mit  einem  vierjährigen  philosophischen 
Kursus  wurden  herrschend  eingesetzt  in  den  vier  oberen  Klassen;  die  vier 
Unterklassen  hatten  die  Elemente  zu  lernen.  Damit  war  eine  Aufgabe 
gesetzt,  der  die  vorhandenen  Lehrer  nicht  zu  entsprechen  wußten.  Auch 
das  Geld  fehlte;  so  mußte  man  1816  zurückschrauben.  1829  stellte  dann 
Thiersch,  der  bereits  im  Jahre  1812  dem  Mangel  an  tüchtigen  Lehrern 
durch  Begründung  eines  Seminars  abzuhelfen  suchte,  einen  neuen  Lehr- 
plan im  neuhumanistischen  Geiste  auf,  mit  sechsklassigem  Unter-  und  vier- 
klassigem  Oberbau,  in  welchem  drei  Klassen  vom  philosophischen  Unter- 
richt entlastet  wurden.  An  die  Realien  machte  dieser  Lehrplan  keine 
Zugeständnisse;  nur  die  Mathematik  fand  einige  Gnade.  In  Sachsen  und 
Württemberg  gab  man  dem  Neuhumanismus  keinen  Raum;  dort  überwog 
nach  wie  vor  die  sprachliche  .Seite,  sowie  Verstandeskühle  und  Nüchtern- 
heit, erst  1846  verstand  man  sich  zu  Konzessionen  im  Geiste  der  Zeit. 
In  Württemberg  hing  man  noch  mehr  als  in  Sachsen  am  Alten,  Latein 
mit  virtuoser  Übersetzungskunst  stand  im  Vordergrund  und  Versemachen 
galt  als  hoher  Ruhm.  Mehr  als  Sachsen  und  Württemberg  beschritten 
Hannover  und  Baden  neue  Bahnen,  ähnlich  wie  in  Preußen  und  Bayern. 
Im  ganzen  und  großen  war  aber  in  den  dreißiger  Jahren  der  Abstand 
zwischen  den  höheren  Schulen,  d.  h.  den  herrschenden  Gymnasien,  und  der 
Volks-  und  Bürgerbildung  groß.  Der  Lehrstand  und  Nährstand  waren 
sich  fremder  geworden  als  im  Beginn  des  Jahrhunderts;  das  war  ein 
Gegensatz,  der  nicht  von  Dauer  bleiben  konnte,  wenn  das  Volk,  das  nach 
einer  größeren  politischen  Bedeutung  sich  sehnte  und  der  Einheitlichkeit 
zustrebte,  auch  wirtschaftlich  im  Wettkampfe  der  Nationen  bestehen 
wollte.  Ein  solches  Volk  muß,  unbeschadet  seiner  Ideale,  auch  reale  Bil- 
dung bei  sich  pflegen,  um  auch  auf  sie  gestützt  den  Forderungen  der 
Zeit  gerecht  zu  werden. 

V.     Der    Kampf    humanistischer    und    realer    Bildung    um,,.^"*?"'""^';' 

r  o  l-iiirj;crtuni  in  den 

Gleichberechtigung     (1840—1890).       Die     reale     Bildung,     die     zur^'^^'f«^;  J^^;*" 
Zeit    der    Aufklärung    und    des    Philanthropinismus    einen    kräftigen    Vor-  sei'n"e''sSiung'lu 
stoß    gemacht    hatte ,     war    als    selbständiger    Faktor    mehr    und     mehr  ^JX^unduTg 
zurückgetreten,    als    der    Neuhumanismus    mit    gewissen    Konzessionen    an 
die   Realien   seinen  Einzug  hielt  ins   deutsche  Gymnasium.     Der  schlichte 


JC2  Adoif  Matthias:  Das  höhere   Knabenschuhvescn. 

Bürgersmann  blickte  mit  einer  gewissen  Bewunderung'  auf  seinen  Sohn, 
der  ins  humanistische  Gymnasium  ging,  und  freute  sich  zu  sehen, 
daß  sein  Sprößling  unter  der  Beschäftigung  mit  lateinischen  und  grie- 
chischen Schriftstellern  Schärfe  und  Präzision  im  Denken  und  Sprechen 
erhielt  und  daß  die  naturwüchsige  Logik  der  alten  Sprachen  das  Ver- 
ständnis weckte  für  geistige  Strömungen  höherer  Art  und  durch  die  Masse 
fremdartigen  Stoffes  das  Gedächtnis  sichtbar  kräftigte.  Auch  der  Inhalt 
belebte,  wo  geistvolle  Lehrer  anregend  wirkten;  man  nahm  hier  freudig 
teil  an  der  großen  geistigen  Habe  des  klassischen  Altertums,  war  stolz 
selbstsuchend  und  selbstfindend  bis  zu  den  Quellen  hinabsteigen  zu  dürfen, 
in  gewissem  Umfange  Vertrauter  des  forschenden  Gelehrten  zu  sein  und 
aus  jenen  altehrwürdigen  Quellen  auch  Verständnis  für  die  Gegenwart  zu 
schöpfen.  Dieser  Segen  der  gelehrten  Bildung  war  im  gewissen  Sinne 
ein  Vorzug  des  deutschen  Mittelstandes,  dessen  kaum  ein  anderes  Volk 
sich  in  diesem  Maße  erfreute.  Aber  er  wurde  vielfach  auch  zum  Unsegen. 
Im  Grunde  glich  doch  der  deutsche  Bürger  jener  Tage  dem  kananäischen 
Weibe,  das  von  den  Brosamen  sich  nährte,  welche  von  des  reichen  Mannes 
Tische  fielen,  Mannes-  und  Schaffenskraft  wurde  nicht  so  gepflegt,  wie 
es  unter  dem  Einfluß  großer  praktischer  Fragen  sich  entwickelt.  Fast 
alle  Helden  der  Dichtung  jener  Tage  leiden  unter  dem  akademischen 
Mangel  an  Tatkraft;  dasselbe  Geschlecht,  das  mit  bewundernswerter  Kühn- 
heit und  Freiheit  den  geheimen  Gesetzen  seines  geistigen  Lebens  nach- 
ging, war  unsicher,  unempfänglich  und  wenig  zielbewußt  den  Anforderungen 
der  Wirklichkeit  gegenüber.  Den  großen  politischen  Erfolgen  der  Jahre 
1813  und  1815  hätte  doch  eine  große  Zeit  voll  reicher  politischer  Ergeb- 
nisse für  das  innere  und  für  das  wirtschaftliche  Leben  unseres  Volkes 
folgen  sollen.  Aber  es  kam  eine  Zeit  voll  idealistischer  Schwäche,  in 
welcher  große  Gefühle  zu  haben,  herrliche  Träume  zu  träumen  und  große 
Worte  zu  machen  als  Heldentaten  aufgenommen  wurden.  Man  muß  doch 
sagen,  das  gymnasiale  Bildungsmonopol  jener  Tage  hat  auch  seine  Ge- 
fahren gehabt,  und  mitschuldig  ist  es  zweifellos,  daß  das  wirtschaftliche 
Leben  eines  Volkes,  das  sich  soeben  noch  waffengewaltig  und  kräftig  ge- 
zeigt hatte,  dem  Leben  anderer  Völker  gegenüber  einen  Aschenbrödel- 
charakter trug. 

Es  kam  noch  etwas  anderes  hinzu.  Die  Gymnasialbildung  war 
durchaus  aristokratisch ;  ihr  fehlte  die  Berührung  mit  der  Volks- 
bildung und  das  Verständnis  für  die  Zusammengehörigkeit  der  Schulen 
und  des  Unterrichts  von  unten  nach  oben.  Scholae,  non  vitae  discimus; 
für  die  Schule,  nicht  für  das  Leben  haben  wir  zu  schaffen,  war  hier  viel- 
fach Grundsatz.  Was  sie  trieben,  galt  in  der  Welt  draußen  nicht  mehr; 
und  was  draußen  galt,  trieben  sie  kaum  noch.  So  verlor  das  Gymnasium 
an  Ansehen  bei  denen,  die  den  sozialen  Fragen  der  Gegenwart  ver- 
ständnisvoller gegenüber  standen  und  etw-as  von  dem  starken  sozialistischen 
Geiste  verspürten,  der  die  Pestalozzischen  Ideen  erfüllte.    Hier  wurde  zum 


V.  Der  Kampf  humanistischer  und  realer  Kiltlunt;  um   fileichbcrechtigung  (1840 — 1890).     155 

Besten  einer  von  innen  heraus  und  von  unten  herauf  sich  j^estaltenden 
Volkserziehung  angestrebt,  die  Mittel  der  Erziehung  in  psychologisch  ge- 
ordnete Reihenfolge  zu  bringen  nach  dem  Grade  der  jeweilig  entwickelten 
Kraft.  In  dieses  System  paßte  der  neunjährige  Lateinschüler  nicht  hinein 
und  auch  nicht  das  vielfach  am  Gymnasium  noch  herrschende  Buchstaben- 
wesen, das  Reden  ohne  Anschauung,  das  „Maulbrauchen  und  Zungen- 
dreschen". Dagegen  stand  die  Anschauungskraft  im  \^ordergrund,  die 
Empfindung,  das  Selbsterlebte  und  der  Grundsatz:  „Wenig,  dieses  Wenige 
aber  gründlich."     Multum,  non  multa! 

Gleichwohl  lagen  in  den  verhältnismäßig  ruhigen  Jahren  vor  1830  die 
Gegensätze  gymnasialer  und  realer  Bildung  noch  nebeneinander,  ohne  daß 
erhebliche  Zusammenstöße  erfolgten.  Doch  schon  deuteten  die  Zeichen  der 
Zeit  darauf  hin,  daß  ein  Wandel  auf  vielen  Gebieten  des  Lebens  nahe 
bevorstand,  der  auch  das  Leben  der  Schule  berühren  mußte. 

Vor   allem   rief  die  Julirevolution  wieder   in    weiteren  Kreisen  realere  Der  realere  Zuk 

der  Zeit    in  den 

Interessen  wach;  Mitarbeit  am  Staate  und  Rechte  im  Staat  wurden  zu  prakti- «ireißigerjahren. 
sehen  Bedürfnissen  des  einzelnen  Bürgers.  Das  Aufblühen  der  Naturwissen- 
schaften und  der  Technik,  die  fleißigere  .\rbeit  in  Werkstatt  und  Kontor, 
für  die  der  Zollverein  die  Schranken  beseitigte,  die  Schienenwege  und 
Dampfschiffe,  die  dem  Verkehre  größere  Freiheit  schufen,  brachten  Leben, 
Bewegung  und  Wandel  in  das  Volk  der  Denker  und  Dichter.  Die  freie 
reale  Intelligenz  unabhängiger  mitten  im  wirklichen  Leben  stehender 
Männer  trat  neben  gj'mnasiale  Beamtenklugheit  und  Gelehrtenweisheit  als 
beachtenswerte  geistige  Macht,  und  andere  Formen  der  Bildung  eroberten 
sich  Gleichberechtigung  in  der  öffentlichen  Meinung  neben  den  alten  Formen 
wissenschaftlicher  und  gelehrter  Tradition.  Eine  umfangreiche  Literatur, 
auch  unserer  großen  Nachbarn,  die  Einsicht  und  Wohlstand  des  arbeiten- 
den Volkes  zu  heben  sich  bemühte,  drang  in  weitere  Schichten  und  ver- 
breitete dem  weltfremden  Idealismus  gegenüber  den  Sinn  für  einen  ge- 
sunden und  edlen  Egoismus  und  für  eine  praktische  Humanität,  die  dem 
alten  Geiste  ebenbürtig  zu  werden  trachtete.  Und  auch  auf  den  Uni- 
versitäten regte  sich  neues  Leben:  der  Aufschwung  der  Staatswissenschaften, 
der  Nationalökonomie,  der  Germanistik,  der  historischen  Forschung  und  der 
Naturwissenschaften  riefen  Geister  wach,  die  gebieterisch  Einlaß  forderten 
im  Leben  der  Schule.  Die  alte  Schule  konnte  aber  diese  neuen  Geister 
nicht  alle  beherbergen,  wenn  sie  nicht  Überbürdung  herv'orrufen  wollte, 
über  welche  gerade  in  den  dreißiger  Jahren  aus  ärztlichen  Kreisen  wirkungs- 
volle Klagen  laut  wurden.  Hier  mußten  die  Realschulen  helfend  und 
entlastend  einspringen.     Wie  stand  es  mit  diesen? 

Um  das  Ende  des   i8.  Jahrhunderts  hatte  man  die  beiden  Richtungen     Kräftigeres 

Vordringen    der 

des  Realismus    und    des  Neuhumanismus    für   lebensberechtigt    anerkannt,  "-caien  Biidungs- 

.  anstalten  in  den 

Resewitz    und    Gedike    konnten    friedlich    nebeneinander   wirken.     Im   Be- tircißinerjahren. 

I>as  Berech- 

ginne   des   neunzehnten   Jahrhunderts   dachte   man   anders.     Am   schärfsten   ti^-ungswesen 

.  _,  hindert  freie 

fand    die    damalige    Geistesrichtung    Ausdruck,     wenn     Niethammer    den     icntfaitung. 


j  e^  Adoi.k  Mat'I'IUAs:    llas   IuiIhtc    Knalinischiilwesen. 

l'lulanthroiiinisimis,  der  stark  realistisch  war,  als  „Aiiinialisinus"  rharaktp- 
risierte  und  dem  Realismus  Haß  gegen  alle  Ideale  zutraute.  Trotzdem 
konnte  man  es  nicht  hindern,  daß  die  Miithematik,  Naturwissenschaften, 
selbst  Singen  und  Zeichnen  in  die  Gymnasien  eindrangen,  wenn  auch 
mehr  als  notwendige  Übel  denn  als  gleichgeachtete  ArbeitsstofFe.  Wei- 
teres {''.indringen  realen  Stoifes  hinderten  die  Reifeprüfungsreglements. 
So  nuißten  denn  für  den  Bürgerstaiul  andere  Schulen  geschaffen  werden, 
da  das  Aufblühen  des  Handels  im  Beginne  des  Jahrhunderts  sie  verlangte. 
Den  ersten  Versuch  machte  in  Bayern  derselbe  Niethammer,  der  das 
harte  Wort  vom  Animalismus  gesprochen,  im  Jahre  1808  mit  einem  Real- 
institut, in  welchem  man  die  Aufgaben  der  Gegenwart  lehren  und  die 
Geisteskräfte  durch  naturwissenschaftliche  und  mathematische  Studien 
üben  wollte.  Doch  bestand  diese  Schule  im  wesentlichen  auf  dem  Pa- 
pier; nur  in  Nürnberg  machte  man  mit  ihr  einen  Versuch.  —  In  Preußen 
hatte  die  Heckersche  Realschule  keinen  langen  Bestand  gehabt.  Süverns 
gesunde  Ideen  blieben  Entwurf.  Die  Unterrichtsverwaltung  zeigte  nur 
wenig  tätige  Anteilnahme,  sie  überließ  es  den  einzelnen  Städten,  Real- 
schulen zu  errichten,  die  denn  auch  reich  an  Unterschieden  hier  und  da 
erstanden.  Ein  großes  Verdienst  um  diese  Schulart  erwarb  sich  Spilleke, 
der  im  Jahre  182 1  die  Leitung  des  Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums  und 
der  mit  ihm  verbundenen  (Heckerschen)  Realschule  übernahm.  Ihm  kommt 
das  Verdienst  zu,  der  Idee  der  Realschule  als  allgemeiner  Bildungsanstalt 
für  das  nächste  Menschenalter  und  darüber  hinaus  bleibende  feste  Gestal- 
tung gegeben  zu  haben.  Französisch  und  Englisch  bildeten  den  fremd- 
sprachlichen Mittelpunkt;  für  seine  Person  hatte  Spilleke  keinen  Grund, 
weshalb  das  Lateinische  auch  eine  Stelle  haben  müsse.  Durch  Zugeständ- 
nisse an  bureaukratische  Mächte  und  an  Vorurteile  der  Zeitgenossen 
ließ  er  sich  aber  dazu  drängen,  daß  er  das  Lateinische,  das  anfangs 
nur  fakultative  Zugabe  gewesen  war,  als  pflichtiges  Hauptfach  aufnahm. 
Im  Jahre  1832  nahm  nun  auch  die  Unterrichtsverwaltung,  gedrängt  durch 
das  Berechtigungswesen,  Stellung  zu  den  Realschulen;  sie  erließ  eine 
„vorläufige  Instruktion",  die  im  wesentlichen  die  Verfassung  wiedergab, 
welche  die  Spillekesche  Realschule  zeigte.  Das  Lateinische  war  Pflicht- 
fach. Denn  wer  auf  den  Eintritt  in  den  Staatsdienst  Anspruch  mache, 
müsse  einen  gewissen  Grad  von  Kenntnissen  im  Lateinischen  haben. 
Auch  das  Militär  verlangte  für  die  Einjährigenberechtigung  diesen  ge- 
wissen Grad.  So  vollzog  sich  denn  unter  dem  Drucke  der  Beamten-  und 
Militärhierarchie  die  Umwandlung  der  reinen  lateinischen  Realschule  zu 
der  Mischart  des  Realgymnasiums.  Wenn  man  die  verstandesbildende 
Kraft  des  Lateinischen  als  Grund  für  diese  Umwandlung  angab,  so  be- 
dachte man  nicht,  daß  die  oberflächliche  Art,  wie  das  Lateinische  als 
Flickfach  an  vielen  Schulen  getrieben  werden  mußte,  der  Würde  des 
Lehrgegenstandes  nicht  entsprach  und  didaktischen  Wert  nicht  besaß, 
vielmehr  ein  zerstreuendes  und  zersplitterndes  Element  bedeutete,  das  die 


V.   Di'r   Kampf  humanistischer  und   realer   MildunK  um  Gleichberechtigung  (1840      1890).     lee 

lüiihoitlichkeit  und  Eigenart  dicsor  Schulen  schädicte  und  dazu  heitrußf, 
ihr  Wesen  immer  wieder  nach  der  gymnasialen  Richtung  hinzudrängen, 
wobei  Standesvorurteile  und  eingewurzelte  Tradition  das  Ihrige  taten,  um 
den  Schaden  voll  zu  machen.  Deshalb  kam  in  Preußen  die  reine  Real- 
schule nicht  recht  zur  Geltung,  während  anderswo,  z.  B.  vor  allem  in 
Württemberg,  die  aufblühende  Realschule  zur  Hebung  der  Volksbildung 
und  Stärkung  des  Bürgerstandes  erheblich  beitrug. 

Beim    Regierungsantritt    Friedrich    Wilhelms  IV.    hatte    sich    manche         iSjo 

t  T    cc  ^     n  rt  /'-i-  ••  ttt'i  t.  Hemmnisse  für 

Hotinung  geregt,  daß  aut  den  (jebieten  geistiger  \\  erte  sich  neues  Leben  Reformen. 
zeigen  werde.  Diese  Hoffnungen  erwiesen  sich  bald  als  eitel.  Mit  dem 
Einzug  des  Ministers  Eichhorn  und  seines  Ratgebers  Eilers  ins  Kultus- 
ministerium zogen  Hemmnisse  für  die  Schulentwicklung  ein,  die  nichts 
zur  Blüte  kommen  ließen,  was  an  gesunden  Keimen  in  der  Zeit  lag.  Dem 
sogenannten  deutsch-christlichen  Geist,  der  zur  Herrschaft  kam,  war  der 
freie  Geist  des  Griechentums,  der  sich  in  den  Gymnasien  regte,  ebenso 
zuwider  wie  die  realistischen  Naturwissenschaften  und  die  Realschulen, 
die  man  als  Pflegestätten  materialistischen  und  atheistischen  Geistes  fürch- 
tete. Auch  das  „religiös-sittliche"  Bewußtsein  der  Philologen  und  Schul- 
männer schien  den  Männern,  die  an  maßgebenden  Stellen  standen,  ver- 
dächtig, weil  man  dort  der  Überzeugung  war,  das  Ministerium  Altenstein 
habe  eine  glaubens-  und  gemütlose  Verstandesbildung  befördert  und  in 
den  Schulen  habe  man  diejenige  „Bildung"  befördert,  welcher  Unglaube 
Ehrensache  sei.  Dieses  phantastische  Urteil  und  der  einseitige  Dilettan- 
tismus richteten  zu  jener  Zeit  viel  Übles  an. 

Glücklicherweise  fegte   der  PVühlingssturm   des  Jahres   1848  auch   im        1848 

L'ii  ji-'-r  1  •     -1  1  1   •  1    "  T^-  •  Heseitigung 

Schulwesen  den  Geist  lort,  der  nicht  dorthin  gehorte.  Die  retardieren-  hemmender 
den  Momente  verschwanden,  andere  Kräfte  traten  an  ihre  Stelle.  P^este 
Pläne  kamen  allerdings  nicht  zur  Ausgestaltung.  Die  Zeit  der  großen 
Reden,  der  zahlreichen  Versammlungen  und  großartigen  Projekte  bot  für 
reelle  Arbeit  zu  wenig  Raum  und  Ruhe.  Gegen  die  Hörigkeit  der  Schulen 
von  der  Kirche  und  die  Stellung  der  Lehrer  als  Klasse  „verschämter 
Annen"  ergingen  kräftige  Angriffe,  die  den  Segen  brachten,  daß  reaktio- 
näre Gelüste  auch  in  Zukunft  nur  schüchtern  sich  hervorwagten. 

Dem  Zeitgeiste  zu   entsprechen,   wurde  vom  Minister  Ladenberg  eine         is« 

Tr         c  1  t^     ^       1       "  i/-T^T-  /*  Schulkonferenz. 

Konferenz  von  angesehenen  Schulmannern  berufen.  Der  Entwurf,  der 
dieser  Versammlung  vorlag,  .stellte  ein  dreiklassiges  Untergy^mnasium 
als  alleinigen,  einheitlichen  Unterbau  für  alle  Schulen  hin.  Darüber 
solle  sich  eine  Oberstufe  aufbauen  in  drei  Klassen  mit  fünf  Jahres- 
kursen und  zwar  in  Doppelgabelung  mit  einem  Obergymnasium  und  einem 
lateinlosen  Realgymnasium.  Beide  Anstalten  sollten  die  Berechtigungen 
erhalten  für  das  Studium  an  Universitäten  und  technischen  Akademien; 
das  Realg\'mnasium  mit  der  Einschränkung  auf  Fächer,  für  welche  die 
Kenntnis  der  alten  Sprachen  nicht  erforderlich  sei.  Die  Vorschläge 
wurden     von     der    Mehrheit     angenommen,     doch     mit    dem    Zusatz,    daß 


156 


Adoi.k  Matthias:   Das  höluMo   KimlK-nsclnihveson. 


auch  am  Kcalgvinnasium  Latein  je  nach  (h'ii  r)rthchon  Verhältnissen  zu- 
lässig sei.  Außerdem  stellte  die  Konferenz  den  wichtigen  Grundsatz  auf, 
daß  die  aus  Staatsfonds  erhaltenen  Anstalten  keinen  konfessionellen  Cha- 
rakter tragen  dürften  und  daß  in  den  Schulen  der  Selbstverwaltung  mehr 
Raum  gewährt  werde.  Wie  die  politischen  Pläne  jener  Tage,  blieben 
auch  die  Beschlüsse  der  Reformkonferenz  Entwürfe. 
Reformen  (xlücklicher   War    man    in    Österreich,    weil    hier    zwei    kluge    Männer, 

in  Österreich  titii-  -iti  in  -i 

1849-1.SS4.  Bonitz  und  txner,  die  alte  Wahrheit  verwirklichten,  daß  viele  kluge 
Köpfe,  wenn  sie  in  Versammlungen  zu  Rede  und  Beschluß  kommen,  weit 
weniger  Erreichbares  konstruieren  als  ein  oder  zwei  Personen,  die  Klug- 
heit mit  praktischem  Blick  für  das  Erreichbare  verbinden.  Diese  Männer 
stellten  im  Jahre  1849  einen  Organisationsentwurf  auf,  der  1854  zur  Aus- 
führung kam.  Das  System  des  alten  Jesuitengymnasiums  mit  seinen  sechs 
Lateinklassen  und  seinem  zweiklassigen  philosophischen  Oberbau  wurde  da- 
mit beseitigt  und  ein  achtjähriger  Kursus,  der  in  den  oberen  Klassen  systema- 
tisch fortführte,  was  im  Unterbau  begonnen  war,  trat  an  die  Stelle.  Maß- 
gebend für  die  Aufgabe  des  Gesamtgymnasiums  war  der  Begriff  der  höheren 
allgemeinen  Bildung;  dazu  bedurfte  es  eines  vollständigen  mathematisch- 
aaturwissenschaftlichen  Unterrichts  im  Ebenmaß  mit  den  philologisch- 
historischen Disziplinen.  Der  Schwerpunkt  durfte  daher  nicht  mehr  in 
den  klassischen  Sprachen  liegen,  sondern  in  der  wechselseitigen  Bezie- 
hung jeuer  beiden  Gruppen.  Gegen  diese  Lehrpläne  regten  sich  man- 
cherlei Bedenken,  welche  in  Wünschen  nach  Reduktion  der  Realien  zum 
Ausdruck  gelangten.  Die  Reaktion  hemmte  dann  die  gesunde  Weiter- 
entwicklung dieser  Pläne,  und  ihr  kam  dabei  die  Schwierigkeit  zu  statten, 
das  Ebenmaß  jener  wechselseitigen  Beziehungen  ohne  Überbürdung  oder 
allzustarke  Verkürzung  der  einen  oder  anderen  Gruppe  zu  verwirklichen. 
Die -wieseschen  In  Preußeu   hielt  inzwischen  nach  der  Revolution    die  Reaktion  ihren 

Lehrpiiine  und  ^-     rt     n        •       t  T^r         i  r  j 

Prüfungs-      Einzug.     Die    Schule   verspürte    den   Einfluß,    indem   Piarrkonierenzen    und 

Ordnungen  von  /—     •  r    j  i    "  u 

1856  und  1S59  Kirchentage  über   den    vermeintlich  glaubensbaren   Geist   aut  den  höheren 

Der  Opportunis-  ^   .     .  ...  .  y  -r,  o/i 

mus  gegenüber  Lehranstalten    eine    Art     von    Oberaufsicht    übernahmen.     Im    Jahre    1850 

realistischen  ,  ,,.     .  t-»  f  tii"tj* 

Bedürfnissen,  erschienen  unter  dem  Mmister  v.  Raumer  die  neuen  Lehrplane  Ludwig 
Wieses,  die  nichts  Wesentliches  an  den  Lehrplänen  von  1837  änderten,  den 
Geist  ihrer  Tage  aber  verrieten,  indem  die  philosophische  Propädeutik 
zwei  Stunden  verlor  und  Religion  zwei  Stunden  gewann.  Die  Natur- 
beschreibung büßte  zwei  Stunden  in  Quarta  ein;  in  Sexta,  Quinta  und 
Tertia  fand  dieser  Unterricht  bedingungsweise  Aufnahme;  falls  geeignete 
Lehrkräfte  vorhanden  waren,  sollte  er  stattfinden.  Um  den  Mangel  an 
Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Unterrichtsfächer  zu  beseitigen  und 
größere  Konzentration  zu  bewirken,  sollten  die  innerlich  verwandten 
Fächer  möglichst  in  die  Hand  eines  Lehrers  gelegt  werden.  Die  Lehr- 
ziele kamen  in  der  neuen  Reifeprüfungsordnung  noch  charakteristischer 
zum  Ausdruck.  Philosophische  Propädeutik,  Physik  und  Naturbeschreibung 
fielen  fort;  der  lateinische  x\ufsatz  wurde  festgehalten;  im  Griechischen  trat 


V.  Der  Kampf  humanistischor  und  realer  Bildunj;  um  Gleichberechlißung  (1840 — 1890).      i  s^j 

an  die  Sttlle  einer  Ubersetzuiiy;  aus  der  Fremdsprache  eine  Übersetzung 
aus  dem  Deutschen;  Deutsch  und  Französisch  fielen  in  der  mündlichen 
Prüfung  fort.  „Der  Repräsentant  der  Aufsichtsbehörde"  trat  stärker  in 
den  Vordergrund;  das  Examen  gestaltete  sich  mehr  zu  einer  Art  von  Re- 
vision des  ganzen  Unterrichtsbetriebes,  als  daß  es  in  möglichst  schlichten 
Formen  das  einfache  Reifeergebnis  der  Prüflinge  klar  zu  stellen  suchte. 
Den  realistischen  Bedürfnissen  der  Zeil  genügte  das  Gymnasium 
immer  weniger  und  das  entsprach  auch  wohl  dorn  Herzenswünsche  der 
maßgebenden  Persönlichkeiten  um  die?  Mitte  der  fünfziger  Jahre.  Daß  die 
Berechtigungen  zum  Staatsbaufach  und  zum  Referendar  und  Assessor  des 
Bergfachs  den  Realschulen  wieder  entzogen  wurden  und  bei  Auswahl  von 
Posteleven  Gymnasiasten  den  Vorzug  erhielten,  lag  ganz  im  Geiste  dieser 
retrogressiven  Tage.  —  Ein  Wandel  trat  ein,  als  Prinz  Wilhelm  für  seinen 
erkrankten  Bruder  die  Regentschaft  übernahm,  der  feinsinnige  Bethmann- 
Hollweg  Kultusminister  wurde  und  Wiese  mehr  der  Opportunität  der 
Zeitumstände  folgend  als  dem  eigenen  Herzen  die  neue  Lehr-  und  Prü- 
fungsordnung für  Realschulen  vom  Jahre  1859  entwarf.  Die  Realschule 
sollte  —  so  verkündeten  die  sehr  ausführlichen  Erläuterungen  —  keine 
Fachschule  sein,  sondern  das  geistige  Vermögen  zu  freier  und  selbständiger 
Auffassung  des  späteren  Lebens  bilden;  im  Endergebnis  sollte  kein  Gegen- 
satz zu  der  gymnasialen  Bildung  liegen.  Einen  „wesentlichen  und  integrieren- 
den Teil  des  Lehrplans"  habe  das  Lateinische  als  allgemein  verbindliches 
Lehrobjekt  zu  bilden,  damit  der  Zusammenhang  der  modernen  Kultur  mit 
der  Vergangenheit  erhalten  bleibe,  eine  gute  Vorbereitung  für  jedes  Sprach- 
studium vorhanden  sei,  die  Schärfung  des  logischen  Auffassungsvermögens 
und  „somit"  auch  des  mathematischen  Verständnisses  nicht  Schaden  leide.  Da 
die  Schüler  wenig  Einsicht  in  den  Wert  dieser  Sprache  besäßen,  müßten 
sie  gewöhnt  werden,  ihn  zu  erkennen.  Jeder  weitere  Einwurf,  daß  doch 
solche  Begründung  zu  würdigen  nicht  jedem  gesunden  Menschenverstände 
gelingen  könne,  wurde  damit  abgeschnitten,  daß  die  Behörden  das  Latein 
als  Voraussetzung  von  Berechtigungen  forderten.  Danach,  ob  die  Idee 
der  Realschule  rein  gehalten  werden  müsse  und  ob  nicht  die  ernstesten 
pädagogischen  Bedenken  gegen  die  Störung  eines  einfachen  Lehrplans 
ohne  Latein  berechtigt  seien,  fragte  man  nicht.  Die  Verfügungen  hatten 
entschieden,  der  beschränkte  pädagogische.  Untertanenverstand  hatte  zu 
schweigen.  —  Die  Wiesesche  Unterrichts-  und  Prüfungsordnung-  schied 
Realschulen  L  und  IL  Ordnung  und  höhere  Bürgerschule.  Die  Realschulen 
erster  Ordnung  hatten  neunjährigen  Kursus  und  Latein  als  Pflichtfach; 
ihnen  wurde  die  Berechtigung  für  alle  höheren  Berufsarten  zugebilligt, 
für  welche  das  Universitätsstudium  nicht  Vorbedingung  bildet.  Damit  war 
die  Dignität  und  Entwicklungsfähigkeit  dieser  Schulen  von  vornherein  so 
beschränkt,  daß  über  ihre  Zukunft  entschieden  war.  Die  Realschulen 
zweiter  Ordnung  setzten  sich  zusammen  aus  denjenigen  Schulen,  welche 
mildere    Zielforderungen     aufstellten,     und     aus     den     lateinlosen    Schulen 


158 


Al)üI.K   Mattiiias:    Das  hölinc   Knabenscluilwcscn. 


dieser  Art.  Die  Einjährig'enbL'rechtigung  erliicUcn  die  Schüler  nach  halb- 
jährigem erfolg-reichen  Besuch  der  Untersekunda.  Latein  wurde  für  diese 
nicht  mehr  gefordert.  Als  höhere  Bürgerschulen  bezeichnete  man  die- 
jenigen Anstalten,  welche  die  Tendenz  der  vollständigen  Realschule  ver- 
folgten, aber  eine  geringere  Klassenzahl  hatten.  So  hatte  denn  das  Real- 
schulwesen in  bunter  Mannigfaltigkeit  Eingang  gefunden  in  Preußen. 
Anderswo,  so  besonders  in  Württemberg,  hielt  man  an  der  gesunden 
lateinlosen  Realschule  fest;  im  Stuttgarter  Realgymnasium  jedoch,  das 
sich  1867  vom  Gymnasium  loslöste,  hatte  das  Lateinische  mit  gi  Wochen- 
stunden einen  so  gesunden  Boden,  daß  man  diese  Schule  als  ein  Gym- 
nasium ohne  Griechisch  ansehen  durfte.  In  Baden  reorganisierte  im 
Jahre  1867  Wendt  das  Schulwesen  nach  preußischem  Muster  mit  manchen 
gesunden  Besserungen. 

Die  Oktober-  Mit    der    Begründung    des    Deutschen    Reiches,    mit    der    lebhafteren 

Beriirvam"    Wechselwirkung,    die     zwischen    den    einzelnen    Teilen    des    preußischen 

"'"Boniusfien'"  Staatcs  Stattfand,  mit  den   kräftigeren  realeren  Zeitbedürfnissen,  die  durch 

LehrpUne  ^on  ^^^  poUtische  Erwacheu  des  deutschen  Volkes  gesteigert  wurden,  kam  ein 
lebhafterer  Geist  auch  in  die  Schulfragen;  sie  wurden  von  Jahr  zu  Jahr 
kräftiger  und  klarer  gestellt,  und  klare  und  deutliche  Antwort  wurde  mehr 
und  mehr  in  immer  weiteren  Kreisen  bestimmteres  Verlangen.  1872  rückte 
Falk  an  Mühlers  Stelle;  unsicheres  Zögern  machte  festem  Willen  Platz. 
Im  Jahre  1873  trat  eine  Anzahl  von  Schulmännern  unter  seiner  Leitung 
zusammen,  die  über  allerhand  schultechnische  Fragen  wie  Lehrpläne, 
Wochenstunden,  Stellung  der  verschiedenen  Anstalten  zueinander  sich 
äußern  sollten,  besonders  aber  die  Frage  zu  erwägen  hatten,  ob  die 
Trennung  von  gymnasialer  und  realer  Bildung  verschwinden  und  die  An- 
stalten beider  Gattung  zu  höherer  Einheit  in  der  Einheitsschule  sich  ver- 
schmelzen sollten  und  ob  und  wie  das  Bewußtsein  deutscher  Nationalität 
kräftiger  zu  fördern  sei.  Praktische  Folgen  hatte  diese  Konferenz  zunächst 
nicht.  Der  Kulturkampf  verschlang  alle  übrigen  Interessen  und  mit  Wiese 
war  Mühlers  animus  cunctandi  im  Ministerium  geblieben.  Erst  unter  dem 
Ministerium  Goßler  kam  es  im  Jahre  1882  zu  neuen  Lehrplänen  und 
Prüfungsordnungen,  die  der  im  Jahre  1875  berufene  Bonitz  zu  entwerfen 
hatte.  Es  war  keine  leichte  Aufgabe  zu  erfüllen.  Den  Altphilologen 
mußte  das  Ihrige  möglichst  erhalten  und  trotzdem  den  Forderungen  der 
Gegenwart  Rechnung  getragen  werden;  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften ließen  sich  nicht  mehr  stillschweigend  abweisen.  Der  Schwer- 
punkt der  Bildung  konnte  nicht  mehr  in  der  klassischen  Literatur  gesucht 
werden,  sondern  in  einem  richtigen  Ausgleich  unter  den  einzelnen  Unter- 
richtsfächern. Hier  Einheit  und  Ruhe  zu  finden  durch  Erlösung  von 
drängenden  vielseitigen  Forderungen  —  das  war  das  Ideal,  das  gefunden 
werden   mußte,  um  dem  Schulfrieden  nahe  zu  kommen. 

Bonitz   tat    sein   Möglichstes,   das  Ziel   zu    erreichen.     Die  Gesamtzahl 
der   Stunden    (268)    für    das    Gymnasium    blieb    in    seinen    Plänen   dieselbe. 


V.  Der   Kampf  humanistischer  und  realer  BiMunK  um  Gleichberechtigung  (1840 — i8qo).     159 

Latein  verlor  der  früheren  Zahl  sjeg-enüber  ^),  Griechisch  2  Stunden.  Das 
Französische  gewann  4,  Geschichte  und  Geographie  3,  Rechnen  und 
Mathematik  .',  die  Naturwissenschaften  2  Stunden.  Griechisch  rückte  von 
Quarta  nach  Untertertia.  Der  Unterricht  in  Philosophie  wurde  anheim- 
gestellt. Der  Überlastung  des  Gedächtnisses  sollte  vorgebeugt  werden 
durch  Begrenzung  des  Lehrstoffs.  Im  Betriebe  der  alten  Klassiker  sollte 
die  Grammatik  nicht  vernachlässigt  werden,  aber  auch  nicht  die  Be- 
herrscherin spielen.  Wissenschaftliches  Spezialisieren  sei  in  allen  Gebieten 
zu  vemieiden.  Lateinischer  Aufsatz  und  Lateinsprechen  wurden  beibehalten, 
doch  im  maßvollen  Umfang  und  in  Anlehnung  an  die  Lektüre.  Ebenso 
sollten  an  die  französischen  Schriftsteller  verständige  Sprechübungen  sich 
anschließen.  Der  Geschichtsunterricht  sollte  mehr  Rücksicht  darauf  neh- 
men, daß  deutsche  Schüler  ihn  genossen;  im  Geographieunterricht  Ge- 
dächtnisüberlastung vermieden,  im  naturwissenschaftlichen  Unterricht  auf 
Anschauung  und  Beobachtung  Nachdruck  gelegt  werden.  Das  griechische 
und  französische  Extemporale  fiel  in  der  Reifeprüfung,  eine  schriftliche 
Übersetzung  aus  dem  Griechischen  und  mündliche  Prüfung  im  Französi- 
schen traten  an  die  Stelle.  Verständige  Kompensationen,  bei  denen  die 
Gleichwertigkeit  der  verschiedenen  Fächer  mehr  zur  Geltung  kam,  mil- 
derten die  Schrecken  des  Examens. 

Im  ganzen  und  großen  schob  sich  der  Charakter  des  Gymnasiums 
nach  der  realen  Seite  hin.  Dagegen  näherte  sich  die  Realschule  erster 
Ordnung,  die  jetzt  F  ealgymnasium  genannt  wurde,  dem  Gymnasium.  Die 
Stundenzahl  wurde  hier  von  285  auf  280  herabgesetzt.  Das  Latein  ge- 
wann IG  Stunden  und  damit  den  Rang  eines  Hauptfaches.  Mathematik 
mußte  3,  die  Naturwissenschaften  2,  das  Zeichnen  2  Stunden  abgeben. 
Für  die  unteren  drei  Klassen  war  der  Lehrplan  so  ähnlich,  daß  eine 
lateinische  Einheitschule  für  diese  Stufen  gefunden  war. 

Neben  die  beiden  Lateinanstalten  stellte  der  Bonitzsche  Lehrplan  als 
dritte  neunklassige  Vollanstalt  die  Oberrealschule,  die  ebenfalls  eine  all- 
gemeine Bildungsanstalt  sein  und  diesen  Charakter  dadurch  wahren  sollte, 
daß  sie  sich  nicht  durch  zu  starke  Betonung  der  mathematisch-natur- 
wissenschaftlichen Fächer  und  ihres  utilitarischen  Inhalts  zur  Fachschule 
herabdrücken  ließ.  In  Lehrplan  und  Lehranweisungen  wurde  die  Ober- 
realschule möglichst  an  das  Realgymnasium  herangerückt.  Zur  Oberreal- 
schule bildete  als  unvollständige  Anstalt  die  Realschule  mit  7'  Klassen 
die  Vorstufe  wie  das  Progj-mnasium  und  Realprogymnasium  zum  Gym- 
nasium und  Realgymnasium.  Die  höhere  Bürgerschule  wurde  sechsklassig 
mit  selbständigem  Lehrplan  und  sollte  die  Hauptbildungsstätte  für  diejenigen 
sein,  welche  nur  Einjährigenberechtigung  erstrebten.  —  Man  sieht,  es  war 
alles  klar  und  vor  allem  ehrlich  geordnet  sowie  fein  und  sicher  gezeichnet. 
Das  wertvolle  Bestehende  war  festgelegt,  das  wichtige  Alte  erhalten,  das 
Neue,  was  zu  werden  und  sich  zu  entwickeln  würdig  war,  geschickt  ein- 
gefügt  und   die  prinzipielle  Gleichwertigkeit   durch  Art   und  Ton,  welche 


j(,Q  AnoiF  Matthias:  Das  höhere   Knabenschulwoscn. 

das  Ganze  einführten,  deutlich  ausgesprochen.  Wenn  nur  die  bösen  Be- 
rechtigungen nicht  gewesen  wären.  Den  Realgymnasien  blieb  die  Uni- 
versität mit  ihren  Rechten  verschlossen;  nur  das  höhere  Lehramt  für 
die  Neufremdsprachen,  die  Mathematik  und  Naturwissenschaften  konnte 
mit  realgymnasialer  Bildung  erreicht  werden.  Hinter  den  Realgymnasien 
blieben  die  Oberrealschulen  in  bezug  auf  ihre  Berechtigungen  noch  wesent- 
lich zurück.  Sie  hatten  nicht  einmal  ungehinderten  Zugang  zu  den  Tech- 
nischen Hochschulen  und  standen  in  ihrer  Dignität  bei  jener  Zeit  mit 
ihren  kurzsichtigen  Standesvorurteilen  so  in  Mißkredit,  daß  ihnen  die  Be- 
rechtigung zum  Staats-  und  Maschinenfach,  die  sie  seit  1878  besaßen, 
1886  wieder  genommen  wurde. 

Selbst  wenn  Bonitz  die  Gleichberechtigung  als  praktische  Folgerung 
aus  der  Gleichwertigkeit  hätte  ziehen  wollen,  er  hätte  den  Vorurteilen 
seiner  Zeit  gegenüber  den  Versuch  nicht  gewagt  solche  Ideale  zu  ver- 
wirklichen. Dazu  war  er  nicht  rücksichtslos  genug  gegenüber  den  Lebens- 
mächten, deren  Widerstand  zu  überwinden  war.  Daß  im  Mai  1884  auch 
in  Österreich  ein  neuer  Gymnasiallehrplan  erschien,  dem  187g  eine  Neu- 
ordnung des  Realschulwesens  vorangegangen  war,  mochte  für  Bonitz  eine 
besondere  Genugtuung  sein;  denn  auf  Schritt  und  Tritt  verspürte  man  in 
jenen  Reformen  etwas  von  dem  Geiste  der  Pläne  aus  dem  Jahre  1854, 
denen  in  den  Zeiten  der  Reaktion  eine  rechte  Ausgestaltung  nicht  ver- 
gönnt gewesen  war. 
Die  Einheits-  Dic  iu  den  Bonitzschen  Plänen  zum  Ausdruck  gelangende  Annäherung 

bangen  In 'den  des  Gymnasiums  an  das  Realgymnasium  einerseits  und  der  Oberrealschule 
"jahre'n*!'^  au  das  Realgymnasium  andrerseits  ließ  den  Gedanken  an  eine  Ver- 
einigung aller  Schularten  in  möglichst  einheitliche  Formen  im  Anfang  der 
achtziger  Jahre  wieder  kräftiger  werden.  Schon  in  den  siebziger  Jahren 
hatte  Ostendorf  in  Düsseldorf  die  organische  Verbindung  der  höheren 
Schulen  mit  der  Volksschule  und  eine  gemeinsame  Unterstufe  für  Real- 
schulen und  Gymnasien  verfochten,  auf  welcher  der  fremdsprachliche 
Unterricht  mit  dem  Französischen  beginnen  sollte.  Schlee  verwirklichte 
diesen  Gedanken,  indem  er  im  Jahre  1878  in  Altona  die  Verbindung  von 
Realgj^mnasium  und  Realschule  durch  einen  von  Sexta  bis  Quarta  reichen- 
den lateinlosen  Unterbau  herstellte.  —  Nach  anderer  Richtung  hin  suchte 
der  im  Jahre  1886  von  Frick  und  Hornemann  begründete  Einheitsschul- 
verein die  Schulfrage  zu  lösen.  Er  schaltete  die  höhere  Bürgerschule 
ohne  Latein  aus  seinem  Plane  aus;  diese  möge  für  den  gewerblichen 
Mittelstand  die  nötige  Bildung  bis  zur  Einjährigenberechtigung  bieten; 
dagegen  solle  das  Gymnasium  mit  dem  Realgymnasium  zur  Einheits- 
schule mit  Latein,  Griechisch,  Französisch  und  Englisch  verschmolzen 
werden  und  die  höhere  Bildung  für  alle  Arten  von  Hochschulen,  wissen- 
schaftliche wie  technische,  vermitteln.  Die  Schwierigkeiten,  die  in  dieser 
Vereinigung  lagen,  sollten  gelöst  werden  durch  Vervollkommnung  der 
Methode  und  Ertüchtigung  der  Lehrkräfte. 


V.  Der  Kampf  humanistischer  und  realer  Bildung  um  Gleichberechtigung  (1840 — 1890).      161 

Während  die  Einheitsschulbeweg^ng,  dort  wo  es  sich  um  einen  ein- 
heitlichen Unterbau  handelte,  wenigstens  einen  praktischen  Erfolg  erzielte, 
verlor  sich  diese  Bewegung,  die  Gymnasium  und  Realgymnasium  von  unten 
bis  oben  verschmelzen  wollte,  in  abstrakte  Formen  methodischer  Überkunst. 

Kräftiger  setzte  der  Kampf  um  die  Berechtigungen  ein.  Die  Lehr-  Der  Kampf  am 
plane  von  1882  hatten  das  Gymnasium  und  Realgj'mnasium  —  abgesehen  gungea  in  den 
vom  Griechischen  —  so  genähert,  daß  sie  sich  immer  ähnlicher  wurden,  "jahr'e^n*/ 
Trotzdem  blieb  in  den  Berechtigungen  alles  beim  Alten.  Der  Allgemeine 
Deutsche  Realschulmännerverein  —  in  welchem  Bach,  Schwalbe,  Schauen- 
burg  und  Steinbart  unterstützt  von  namhaften  Männern  freiester  Intelligenz 
an  der  Spitze  standen  —  trat  mit  voller  Kraft  in  den  Kampf  ein  und  setzte 
mit  seinen  Petitionen  das  Abgeordnetenhaus  und  die  maßgebenden  Kreise 
in  Unruhe.  Als  vornehmer  Herold  dieser  Bewegung  und  kluger  Aus- 
leger der  Zeichen  der  Zeit  stand  Friedrich  Paulsen  da  und  erweckte 
durch  seine  vermittelnde  Objektivität  auch  die  Sympathieen  der  Gegner. 
In  diesen  Kampf  trat  auch  die  neubegründete  Oberrealschule  ein,  die 
in  dem  Maße  ihre  Forderungen  steigerte,  als  die  Realschulen  durch 
ihre  Zunahme  ihre  Lebensberechtigung  darlegten.  Daneben  wirkte  in 
kräftigerem  Ton  und  mit  nachdrücklicheren  Forderungen  der  Verein  für 
Schulreform  in  Versammlungen  und  durch  sein  Organ,  die  Zeitschrift  für 
die  Reform  des  höheren  Schulwesens,  die  von  dem  frischen,  immer  kampfes- 
mutigen Dr.  Friedrich  Lange  begründet  war.  Die  Ziele,  die  hier  verfolgt 
wurden,  waren  Einheitlichkeit  des  Unter-  und  möglichst  auch  des  Mittel- 
baues aller  höheren  Schulen,  organische  Verbindung  der  höheren  Schule 
mit  der  Volksschule,  Erhebung  des  Deutschen  zum  Kern  und  Mittelpunkt 
des  gesamten  Unterrichts,  Hervortreten  der  vaterländischen  Geschichte  im 
Geschichtsunterricht,  bessere  Pflege  der  Leibesübungen  und  vor  allem 
gerechte  Verteilung  der  Berechtigungen  d.  h.  Gleichberechtigung  aller  neun- 
klassigen  höheren  Schulen.  Man  hätte  annehmen  sollen,  die  Gymnasien 
hätten  sich  der  letzten  und  auch  den  übrigen  Forderungen  gern  an- 
geschlossen, weil  nur  die  Gleichberechtigung  ihre  Eigenart  ihnen  retten 
konnte,  das  Monopol  aber  immer  mehr  einen  unheilvollen  Utraquismus  in 
sie  hineintrug.  Männer  wie  Paul  Cauer  erkannten  das  und  sprachen  ihre 
Meinung  unumwunden  aus.  Doch  die  große  Mehrzahl  der  Gymnasial- 
männer stand  nicht  auf  diesem  Standpunkt,  sie  betrachteten  die  ganze 
Bewegung  der  Realschulmänner  als  ein  revolutionäres  Bestreben,  das 
alles  Gesunde  über  den  Haufen  werfe.  Und  das  war  natürlich.  Die  Lehr- 
pläne von  1882  hatten  in  den  Gymnasialkreisen  striktester  Observanz  Un- 
zufriedenheit und  Verstimmung  hervorgerufen,  weil  das  Lateinische  nicht 
mehr  Zentralfach  war;  nun  kamen  die  Vorstöße  der  Reformer,  die  die 
Stellung  des  Gymnasiums  auch  als  Zentralschule  erschütterten  und  manche 
begründete  Wahrheit  dem  Gj-mnasium  sagten,  die  gerecht  war.  Denn  daß 
es  mit  der  Methode  und  dem  ganzen  Betrieb  der  klassischen  Sprachen 
recht    übel    an  vielen    Gymnasien    aussah,    mußte    jeder  Sachkundige    zu- 

Du  KuLiuK  om  Gbgenwuit.    I    i.  11 


l52  Adolf  Matthias:  Das  höhere  Knabenschulwesen. 

gestehen;  und  auch  die  Frage  war  berechtigt,  die  in  diesem  Kampfe  in 
mannigfachen  Formen  gestellt  wurde,  ob  denn  der  Geist  des  klassischen 
Altertums  von  unsern  Denkern  und  Dichtern  nicht  so  weit  aufgesogen 
und  in  deutsches  Wesen  umgesetzt  sei,  daß  dieser  von  der  Antike  getränkte 
deutsche  Geist  für  die  Allgemeinbildung  wertvoller  sei  als  der  antiquarische 
Geist  der  Gymnasien.  Solche  Wahrheiten  wirken  verstimmend,  weil  eine 
Wahrheit,  die  uns  der  Fremde  sagt,  mehr  verletzt  als  hundert  Wahrheiten, 
die  wir  uns  selber  sagen;  und  diese  Urteile  mußten  um  so  mehr  verletzen, 
als  sie  vielfach  ohne  Höflichkeit  geäußert  wurden.  Es  kam  noch  mehr 
hinzu.  In  den  Reihen  der  Reformer  standen  Männer,  die  eine  erschreckende 
Verständnislosigkeit  für  das  besaßen,  was  das  Altertum  in  seiner  stillen 
Größe  geleistet  hat  und  noch  leistet  und  was  es  an  Werten  unserer  Vater- 
landsliebe und  unserer  staatsbürgerlichen  Erziehung  zugeführt  hat.  Da- 
bei wurde  der  Wert  der  Naturwissenschaften  für  Jugendbildung  von 
einigen  Seiten  in  einer  Weise  überschätzt,  die  ruhiges  Denken  sich  nicht 
,  bieten  lassen  konnte,  besonders  wenn  das  Destruktive  und  das  Materia- 
listische des  Naturstudiums  in  jener  Wertung  mehr  oder  weniger  zum 
Ausdruck  g-elangten.  Das  alles  und  mehr  noch  trug  dazu  bei,  die  für  die 
Zukunft  ihrer  Schule  bangenden  Gymnasialmänner  auf  den  Plan  zu  rufen 
und  den  Kampf  zu  verschärfen  und  zu  verbittern,  in  welchem  die  sich 
gegenüberstehenden  Mächte  ganz  gut  als  Bundesgenossen  hätten  kämpfen 
können,  wenn  man  die  einigenden  Werte  mehr  betont  hätte.  Im  Jahre  1888 
zählte  man  gleichsam  seine  Kräfte:  Der  Verein  für  Schulreform  ver- 
anstaltete eine  Masseneingabe  an  den  Kultusminister  von  Goßler,  die  von 
22000  Unterschriften  bedeckt  war;  die  Gymnasialmänner  erließen  die  so- 
genannte Heidelberger  Erklärung  mit  etwa  4300  Unterschriften.  Wenn 
nun  auch  in  diesen  Zeiten  des  Kampfes  der  Frieden  der  Schule  und  ihrer 
Meister  erheblich  gestört  wurde  und  manche  üble  Begleiterscheinung 
bedauerlich  war,  im  ganzen  und  großen  schadete  er  der  Sache  nichts, 
sondern  er  förderte  sie.  Dieser  Kampf  war  doch  auch  eine  Übungs-  und 
Klärungsstätte  geistiger  Kräfte  und  er  förderte  das  Ganze,  indem  er  durch 
offenen  und  ehrlichen  Gegensatz  der  Meinungen  Vorurteile  beseitigte  sowie 
vor  Einseitigkeiten  und  Irrwegen  bewahrte.  Vor  allem  aber  hatte  der  Kampf 
das  Gute,  daß  man  in  den  Kreisen,  denen  bisher  nur  das  Traditionelle 
Behagen  bereitete,  mehr  und  mehr  die  Notwendigkeit  einer  Änderung 
veralteter  Formeln,  Formen  und  Rechte  erkannte.  Diese  Erkenntnis 
wuchs  zusehends,  als,  bald  nach  dem  Regierungsantritt  Kaiser  Wilhelms  IL, 
von  allerhöchster  Stelle  aus  die  Schulfrage   zur  Lösung  gestellt  wurde. 

Die  Deiember-  VI.  Die   Schulreform  Kaiser  Wilhelms  11.  (1890  bis  zur  Gegen- 

erenz  ^  90- ^^^y  Nachdem  schon  im  Jahre  i88g  der  Kultusminister  von  Goßler  im 
Abgeordnetenhause  sein  lebhaftes  Interesse  für  eine  Besserung  der  Miß- 
verhältnisse ausgesprochen  hatte,  wurde  auf  Veranlassung  des  Kaisers 
Wilhelm  IL  für  den  Dezember  1890  eine  Konferenz  nach  Berlin  berufen, 


VI.  Die  Schulreform  Kaiser  Wilhelms  II.  (1890  bis  zur  Gegenwart).  163 

die  aus  Schulmännern  und  Vertretern  anderer  Berufsarten  zusammengesetzt 
war.  Die  Eröffnungsrede  des  Kaisers  betonte,  daß  die  Schule  die  Fühlung 
mit  dem  Leben  verloren  habe.  Diese  Fühlung  sei  wiederzugewinnen, 
indem  man  das  Deutsche  als  Grundlage  nehme  und  den  deutschen 
Aufsatz  in  den  Mittelpunkt  stelle,  die  Gemüts-  und  Herzensbildung  und 
die  Gesundheit  der  Schüler  durch  körperliche  Kräftigung  mehr  pflege, 
im  Geschichtsunterricht  das  Vaterländische  stärker  betone.  Die  Rede 
beklagte  den  ungesunden  Zudrang  zu  den  Gymnasien,  den  Überschuß  an 
gelehrter  Bildung  und  die  große  Zahl  von  Halbgebildeten,  die  die  höheren 
Schulen  ohne  Erfolg  verließen.  —  Die  Beschlüsse  der  Versammlung 
waren  im  wesentlichen  folgende:  Ein  gemeinsamer  Unterbau  für  Gym- 
nasien und  latcinlose  Schulen  wurde  abgelehnt;  dagegen  sollten  unter  Be- 
seitigung der  Realgymnasien  zwei  streng  voneinander  geschiedene  Arten  von 
Vollanstalten,  das  Gymnasium  und  die  Oberrealschule,  in  Zukunft  bestehen; 
den  Realschulen  wies  man  als  Hauptaufgabe  eine  höhere  bürgerliche 
Schulbildung  zu,  daneben  sollten  sie  als  Unterstufe  der  Oberrealschule 
dienen.  Die  Berechtigung  zum  Einjährigen-Dienst  wünschte  man  auf  allen 
Anstalten  von  dem  Bestehen  einer  förmlichen  Prüfung  abhängig  zu  machen, 
um  dem  „Ersitzen"  dieser  Berechtigung  auf  den  Vollanstalten,  besonders 
auf  den  Grj'mnasien,  eine  Ende  zu  bereiten.  Jedem  Inhaber  eines  Reife- 
zeugnisses irgend  einer  neunklassigen  höheren  Schule  wollte  man  die 
Möglichkeit  eröffnen,  durch  ein  Fachexamen  in  der  Studienzeit  die  Zu- 
lassung auch  zu  solchen  Staatsprüfungen  zu  erlangen,  zu  denen  sein  Reife- 
zeugnis nicht  berechtigte;  die  Stundenzahl  wollte  man  aus  hygienischen 
Grründen  herabsetzen;  den  lateinischen  Aufsatz  sowie  das  Lateinsprechen  als 
Forderung  der  Reifeprüfung  fortfallen  lassen.  Als  eine  verheißungsvolle 
Aussicht  in  die  Zukunft  betrachtete  man  die  Erklärung  des  Geheimrats 
Stauder,  daß  die  Gebundenheit  der  Lehrpläne  einer  größeren  Freiheit 
Platz  machen  solle.  Die  Anträge,  die  die  Berechtigungsfrage  kräftiger 
anfaßten  und  eine  möglichst  gleiche  Wertschätzung  der  realen  und  huma- 
nistischen Anstalten  anbahnen  wollten,  und  der  Antrag,  daß  man  bei  tüch- 
tigen Schülern  realer  Anstalten  von  gymnasialen  Ergänzungsprüfungen 
gänzlich  absehen  möge,  wurden  einstimmig  angenommen,  mehr  aus  Höf- 
lichkeit als  aus  Wertschätzung  der  realen  Bildung. 

Am   6.  Januar   1892    folgten    der   Schulkohferenz    die    Lehrpläne    und  d'«  Loiirpiäna 

Tt    ••  c  T>v*/—  y~^  """^   Prüfungs- 

Prufimgsordnungen.  Die  Gesamtzahl  der  Lehrstunden  ging  an  den  Gym-  Ordnungen  von 
nasien  von  262  auf  252,  an  den  Realgymnasien,  von  deren  Beseitigung 
(es  waren  ihrer  174  mit  34 — 35000  Schülern)  nicht  mehr  die  Rede  war, 
von  280  auf  259,  an  den  Oberrealschulen  von  276  auf  258  zurück.  An 
den  Gymnasien  verlor  das  Latein  15,  das  Griechische  4,  das  Französische  2, 
an  den  Realgymnasien  das  Lateinische  1 1 ,  das  Französische  3,  das  Eng- 
lische 2,  das  Zeichnen  2,  an  den  Oberrealschulen  das  Französische  9,  das 
Englische  i,  das  Zeichnen  8  Stunden.  Dtis  Deutsche  gewann  eine  geringe 
Verstärkung    auf   allen    drei    Schularten;    die    philosophische    Propädeutik 


j64 


Adolf  Matthias:  Das  höhere  Knabensohulwesen. 


wurde  mit  Schweigen  übergangen;  dagegen  gewann  das  Turnen  in  allen 
Klassen  eine  Stunde.  Das  Zeichnen  wurde  an  den  Gymnasien  bis  Unter- 
sekunda Pflichtfach,  während  das  bisher  nur  bis  Quarta  der  Fall  gewesen 
war.  Für  alle  drei  Arten  der  Schulen  wurden  die  Lehrpläne  einander 
angeglichen,  weil  immer  mehr  der  Grundsatz  hervortrat,  daß  sie  alle 
Pflegestätten  allgemeiner  Bildung  seien.  In  Religion,  Deutsch  und  Ge- 
schichte waren  die  Pläne  vollkommen  gleich.  Zwischen  der  Unter-  und 
Oberstufe  der  Vollanstalten  wurde  die  von  der  Konferenz  empfohlene 
Abschlußprüfung  eingeschoben.  Die  Reifeprüfung  verlangte  an  den  Gym- 
nasien nicht  mehr  den  lateinischen  Aufsatz,  setzte  an  Stelle  des  französi- 
schen Extemporales  eine  Übersetzung  aus  dem  Französischen  ins  Deutsche 
und  forderte  an  den  Realanstalten  nur  eine  statt  zweier  Hinübersetzungen 
in  die  Neusprachen  sowie  nur  eine  Aufgabe  aus  der  Naturwissenschaft. 
In  der  mündlichen  Prüfung  schied  Französisch  auf  dem  Gymnasium, 
Latein  am  Realgymnasium,  Erdkunde  überall  aus.  In  allen  Fächern,  in 
denen  das  Schlußurteil  der  Schul-  und  schriftlichen  Prüfungsleistungen  be- 
friedigend lautete,  fiel  eine  mündliche  Prüfung  überhaupt  fort. 

So  hatte  man  denn  in  Lehrplänen  und  Prüfungsordnungen  dem  Zeit- 
geiste gemäß  entschieden.  In  den  anderen  Staaten  Deutschlands  war 
kurz  zuvor  oder  kurz  nach  dieser  Neuordnung  in  ähnlicher  Weise  wie  in 
Preußen  den  Wünschen  der  Zeit  entsprochen.  —  Eine  wichtige  Neuordnung 
schloß  sich  im  Sinne  der  Freiheit  der  Lehrverfassung  noch  an  die  92  er 
Lehrpläne  an.  Das  Altonaer  System  —  die  Verbindung  von  Realgymna- 
sium und  Realschule  durch  einheitlichen  Unterbau  in  den  drei  unteren 
Klassen  —  wurde  auch  auf  das  Gymnasium  übertragen  und  der  von 
Direktor  Reinhardt  für  das  Frankfurter  Goethegymnasium  entworfene  Plan 
vom  Kultusminister  Grafen  Zedlitz-Trützschler  mit  weitem  Blick  für  die 
Bedürfnisse  der  Zeit  genehmigt. 

Neue  Berechtigungen  erhielt  das  Realgymnasium  nicht.  Die  Ober- 
realschule wurde  mit  einigen  Einschränkungen  dem  Realgymnasium  an  Be- 
rechtigungen gleichgestellt. 

Zufrieden  war  mit  den  Ergebnissen  der  Schulreform  wiederum  fast 
niemand.  Die  altgymnasiale  Partei  stimmte  ein  in  den  Weheruf  Oscar  Jaegers: 
magna  pugna  victi  sumus,  und  die  Realgymnasialmänner  beklagten  den 
großen  Verlust  am  Lateinischen  und  den  größeren  Abstand,  in  welchen  ihre 
Schulart  gegenüber  dem  Gymnasium  dadurch  geraten  war;  daß  auch  die 
Hoffnungen  auf  mehr  Berechtigungen  damit  sich  verringerten,  kam  ihnen  zu 
schmerzlichem  Bewußtsein.  Diese  gymnasialen  und  realgymnasialen  Klagen 
erweckten  denn  auch  das  Mitleid  der  Unterrichtsverwaltung;  beiden  wurde 
eine  Stunde  Latein  mehr  in  den  oberen  Klassen  als  Pflaster  auf  ihre  Wunde 
gewährt.  Verhältnismäßig  am  glücklichsten  war  die  Oberrealschule;  denn 
sie  hatte  wenigstens  keinen  Schaden  gelitten.  Eine  bessere  Position  im 
Kampfe  um  die  Gleichberechtigung  errang  sie  aber  dadurch,  daß  der 
Realschulmännerverein   nunmehr    nicht    nur  für   die   Realgymnasien   mehr 


VI.  Die  Schulreform  Kaiser  Wilhelms  ü.  (1890  bis  zur  Gegenwart).  165 

BerechtigTingen  erstrebte,  sondern  die  Gleichberechtigfung  aller  höheren 
Lehranstalten  auf  ihr  Progframm  setzte  und  damit  auch  für  die  Oberreal- 
schule mit  in  den  Kampf  eintrat. 

Wenn    nun   auch    die   Zufriedenheit    der  Vertreter   der    verschiedenen         Des 
Anstalten    nicht    groß    war,    so    durfte    der    Lehrerstand    selbst    auf    das  Vorbildung  unH 
Jahr    1890    und    seine    Folgen    mit    einiger    Zufriedenheit    blicken.      Seine 
Stellung  und  Würdigung  unter  den  führenden  Ständen  wurde  wesentlich 
verbessert;    die  Art   der  Vorbildung  war   schon   vor    der  Dezemberkonfe- 
renz  geändert  und  wurde  —  was  die  Prüfungsordnung  anbetrifft  —   1898 
erfreulich  vereinfacht.    Was  diese  Vorbildung  anbetrifft,  so  erhob  in  Preußen 
die    älteste   Prüfungsordnung    vom  Jahre    1810    die   Forderung,    daß   jeder 
Kandidat    in    allen   Gymnasialfächern  Bescheid    wissen    müsse.     Im    Erlaß 
von  1831    wurden  gewisse  Fächergruppen   gebildet,   die  im  Vordergründe 
standen;  nach  wie  vor  wurde  aber  auch  in  den  übrigen  Lehrgegenständen 
eine  Prüfung  abgehalten.     Die  Prüfungsordnung  von  1867  beschränkte  die 
Prüfung    in    allgemeiner   Bildung    auf  Religion,    Philosophie,    Geschichte, 
Geogfraphie,  Deutsch  und  die  drei  Fremdsprachen,  schied  also  Mathematik 
aus;    die   Lehrbefähigfimg   in  Mathematik  und  Physik  war  an   allgemeine 
Bildung  in  der  Chemie  und  den  Naturwissenschaften  gebunden.    In  der  Prü- 
fungsordnung von  1887  blieb  von  allgemeiner  Bildung  nur  noch  Philosophie 
und  Pädagogik,  deutsche  Sprache  und  Literatur,  sow'ie  christliche  Religions- 
lehre übrig.     Die  Prüfungsordnung  vom  Jahre  1898  vereinfachte  die  Sache 
noch    mehr,    indem  kurzweg  „deutsche   Literatur"  eingefügt  wurde.     Eine 
Scheidung  der  Kandidaten  in  Gymnasial-  und  Reallehrer  hatte  man  in  Preußen 
grundsätzlich  immer  vermieden,  nur  kurze  Zeit  haben  einige  Einschränkungen 
bestanden;  alle  Schulen  wurden  in  bezug  auf  ihre  lehrenden  Organe  stets 
als  allgemeine  Bildungsanstalten  angesehen.    Dagegen  schied  die  Prüfungs- 
ordnung bis  1887  drei  verschiedene  Grade,  die  Ordnung  von  1887  Oberlehrer- 
und Lehrerzeugnis.     Diese  Scheidung  beseitigte  die  Prüfungsordnung  von 
1898,  sie  kennt  nur  ein  „bestanden"  und  „nicht  bestanden"  mit  den  Prädikaten 
„genügend",  „gut"  und  „mit  Auszeichnung".     Die  Wahl  der  Fächer  ist  im 
Laufe  der  Zeit  immer  mehr  freiem  Ermessen  anheim  gestellt;  zwischen  den 
verschiedenen  Gruppen  tritt  das  Deutsche  als  gemeinsames  Bindeglied  her- 
vor.    Ähnlich  wie   in  Preußen   sind   in  Sachsen  imd  den  meisten  Bundes- 
staaten die  Verhältnisse  geordnet     Dagegen  hat  in  Bayern  und  Württem- 
berg   die    streng    althumanistische    Richtung    zur   Folge    gehabt,    daß    die 
„Humanisten"  von   den  „Realisten"  scharf  geschieden   sind  und  besondere 
Prüfungsbehörden   für  die  beiden  Gattungen  bestehen.     Die  Forderungen 
an   Allgemeinbildung,    die    früher   nicht    erhoben   wurden,    sind    nach  und 
nach    auch    in    diese    Prüfungen    eingednmgen.      Die    weitere    Vorbildung 
zwischen  Prüfung   und  Anstellungsfähigkeit   war   früher   in  Preußen   dem 
Probejahr  zugewiesen,  das  im  Jahre  1826  von  Johannes  Schulze  eingeführt 
ist.     Im  Laufe    der  Zeit    reichte    diese   Art    der   Einführung    ins    Lehramt 
nicht   recht    aus.     Die  Kandidaten   wuchsen    etwas    wild    heran;    nur    die- 


l65  Adolf  Matthias:  Das  höhere  Knabenschulwesen. 

jenigen  waren  besser  dran,  welche  den  am  Sitze  des  Provinzial- Schul- 
kollegiums bestehenden  Seminarien  ang-ehörten  oder  etwa  bei  Stoy  in 
Jena,  bei  Ziller  in  Leipzig  oder  bei  Frick  im  Halleschen  Seminarium 
praeceptorum  theoretische  Anweisung  im  Bunde  mit  praktischer  Aus- 
bildung erhielten.  Um  hier  zu  bessern,  wurde  in  Preußen  im  Jahre  1890 
dem  Probejahr  das  Seminarjahr  vorgeschoben  und  an  zahlreichen  An- 
stalten der  Monarchie  Seminarien  eingerichtet,  denen  je  6 — 8  Kandidaten 
überwiesen  wurden.  In  diesen  Pflanzstätten  der  Pädagogik  lebten  die 
alten  Einrichtungen  von  Friedrich  Gredike  wieder  auf.  —  In  Sachsen  ist 
es  beim  Probejahr  geblieben,  ebenfalls  in  Württemberg,  wo  zwischen  der 
ersten  und  zweiten  Dienstprüfung  das  Probejahr  liegt.  Bayern  hat  seit 
1897  an  Gymnasien,  seit  1903  an  einigen  Realanstalten  pädagogisch- 
didaktische Kurse  von  einjähriger  Dauer.  Im  ganzen  und  großen  findet 
auf  diesem  Gebiete  eine  fortschreitende  Annäherung  unter  den  verschie- 
denen Bundesstaaten  statt. 

Wie  die  Vorbildung  der  Lehrer  an  höheren  Schulen  sich  von  Jahr- 
zehnt zu  Jahrzehnt  gebessert  und  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  an- 
geglichen hat,  so  ist  das  auch  mit  Rang  und  Stellung-  und  mit  den  mate- 
riellen Angelegenheiten  dieses  Standes  geschehen.  Die  Verstaatlichung 
der  Schulen,  die  Pflichten  eines  Staatsbeamten,  die  auch  den  Lehrern  an 
kommunalen  Anstalten  obliegen,  das  arbeitsreiche  Studium  und  der  mühe- 
volle Dienst  des  Lehrers  führen  zu  der  ganz  selbstverständlichen  Folge- 
rung, daß  Gehalt,  Rang  und  Wertschätzung  dieses  Standes  jenen  Vor- 
bedingungen entsprechen.  Das  war  lange  Zeit  nicht  der  Fall;  und  weder 
die  Unterrichtsverwaltung  noch  der  Lehrerstand  hatte  mit  dem  nötigen 
Nachdruck  sich  dieser  wichtigen  Frage  angenommen.  In  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  neuen  Deutschen  Reiches  vollzog  sich  auch  hier  ein  Wandel. 
Die  Unterrichtsverwaltung  suchte  nachzuholen,  was  lange  versäumt  war, 
die  Lehrer  schlössen  sich  in  Vereinen  zusammen  und  unterbreiteten  ihre 
Petitionen  den  maßgebenden  Stellen.  Nicht  überall  fanden  sie  die  Auf- 
nahme, die  ihnen  gebührte.  Mit  den  Jahren  1890  und  1892  setzen  in 
Preußen  die  Wünsche  nach  Besserung  und  die  Besserung  selber  kräftiger 
ein,  besonders  von  allerhöchster  Stelle  aus.  Das  Diensteinkommen  wurde  er- 
höht, Dienstalterszulagen  eingeführt,  die  Amtsbezeichnung  Oberlehrer  allen 
wissenschaftlichen  Lehrern  höherer  Lehranstalten  beigelegt,  ein  Drittel  der 
Oberlehrer  zu  Professoren,  die  Hälfte  von  diesen  zu  Räten  vierter  Klasse 
ernannt.  In  den  folgenden  Jahren  ist  an  diese  Verhältnisse  noch  vielfach 
die  bessernde  Hand  angelegt  und  die  Mißstimmung,  die  an  vielen  Stellen 
nicht  weichen  wollte,  gemildert  oder  beseitigt. 
Die  Schal-  Hatten  in  dieser  Richtung  die  Dezemberkonferenz  von  1890  und   die 

konferenz  vom  tk     •  iiTT  'V,*. 

Juni  1890  und  daran  sich  anknüpfenden  Entschließungen  des  Kaisers  und  der  Unterricnts- 

der  Allerhöchste  .     ,  -r-    ,  t  n         T   " 

Erlaß  vom     Verwaltung  ihre  segensreichen  r  olgen  gehabt,    so   war  die  volle   Losung 

1900.        der    brennenden    Schulfragen    doch    nicht    gefunden;    an   höchster   Stelle 

herrschte   die  Empfindung,   daß  hier  hätte    mehr   geschehen  können,  und 


VI.  Die  Schulreform  Kaiser  Wilhelms  U.  (1890  bis  zur  Gegenwart).  167 

der  Wille,  daß  jene  Reform  energischer  weitergeführt  werden  müsse.  So 
wurde  denn  vom  Minister  Studt  für  den  Juni  1900  eine  neue  von  ihm  als 
dem  Chef  des  Ministeriums  und  dem  Direktor  der  ersten  Unterrichts- 
abteilung AlthoflF  wohl  vorbereitete  und  vorbedachte  Konferenz  einberufen. 
Dieser  gingen  Kraftproben  der  streitenden  Parteien  voran.  Die  Mai- 
versammlung der  Reformfreunde  zu  Berlin,  die  sich  aus  Mitgliedern  des 
Realschulmännervereins,  des  Vereins  zur  Förderung  des  lateinlosen  höheren 
Schulwesens  und  des  Vereins  für  Reform  der  höheren  Schulen  zusammen- 
setzte, verlangte  vor  allem  Gleichberechtigung  aller  Vollanstalten  und 
für  die  drei  Arten  höherer  Schulen  einen  gemeinsamen  lateinlosen  Unter- 
bau. Der  Gymnasialverein  trat  in  Braunschweig  zusammen  und  stimmte 
in  seiner  Mehrheit  der  Gleichberechtigung  zu,  wies  aber  den  lateinlosen 
Unterbau  als  SchädigTing  des  Gymnasiums  schroff  zurück.  Die  Konferenz 
selber  stand  von  vornherein  unter  dem  Zeichen  der  großen  entscheidenden 
Frage  der  Gleichberechtigung;  sie  faßte  den  Stier  bei  den  Hörnern  und 
nahm  die  Gleichwertigkeit  der  Anstalten  fast  einstimmig  an.  Nachdem 
diese  Frage  entschieden  war,  lösten  sich  die  übrigen  Fragen  der  Lehrplan- 
arithmetik und  der  methodischen  Lehrplanweisheit,  mit  denen  die  Konferenz 
von  1890  lange  Stunden  verbracht  hatte,  in  kurzer  Frist  fast  von  selber. 
Die  Frage  des  lateinlosen  Unterbaus  begegnete  wohlwollender  Erwägiing 
und  wurde  allmählicher  Entwicklung  anheimgestellt. 

Der  Konferenz  folgte  bald  der  entscheidende  Allerhöchste  Erlaß  vom 
26.  November,  der  bezüglich  der  Berechtigungen  alle  höheren  Schulen  in 
der  Erziehung  zur  allgemeinen  Geistesbildung  als  gleichwertig  hinstellte 
und  die  Ergänzungen  für  diesen  oder  jenen  Beruf  nicht  eigentlich  als 
Aufgabe  der  Schule  ansah.  Durch  die  grundsätzliche  Anerkennung  der 
Gleichwertigkeit  der  drei  höheren  Lehranstalten  wurde  die  Möglichkeit 
geboten,  die  Eigenart  einer  jeden  kräftiger  zu  betonen.  Den  Schulen  mit 
lateinlosem  Unterbau  nach  Altonaer  oder  Frankfurter  System  wurde  die 
Freiheit  verliehen,  sich  auf  breiterer  Grundlage  zu  erproben.  Für  die 
Ausgestaltung  neuer  Lehrpläne  und  Prüfungsordnungen  gab  der  Aller- 
höchste Erlaß  knappe  Anregungen.  —  Die  revidierten  Pläne  und  Prüfungs- 
ordnungen erschienen  dann  im  Jahre  1901.  Das  Gymnasium  vermehrte 
seine  Stundenzahl  von  252  auf  259,  das  Realgymnasium  von  259  auf  262, 
die  Oberrealschule  von  258  auf  262.  Das  Latein  am  Gymnasium  und  Real- 
gymnasium gewann  je  6  Stunden.  Am  Gymnasium  wurde  überall,  wo  Be- 
dürfnis vorlag,  in  den  Tertien  und  Untersekunda  das  Englische  als  Ersatz 
für  das  Griechische  eingeführt  und  damit  der  Übergang  von  der  Unter- 
sekunda des  Gymnasiums  auf  die  Obersekunda  eines  Realgymnasiums  ermög- 
licht. Die  philosophische  Propädeutik  erschien  wieder  als  berücksichtigens- 
wert  in  den  Plänen.  Im  übrigen  gestatteten  die  Lehrpläne  an  vielen  Stellen 
größere  Freiheit  der  Bewegnng  und  kamen  allen  billigen  Zeitforderungen 
entgegen.  Eine  neue  Reifepriifungsordnung  folgte  bald;  der  Gleichwertig- 
keit   entsprechend   war   sie    für    alle    drei    Anstaltsarten    zusammengefaßt. 


l68  Adolf  Matthias:  Bas  höhere  Knabcnschulwesen. 

Am  Grymnasium  fiel  die  schriftliche  französische  Arbeit;  an  ihre  Stelle 
trat  mündliche  Prüfung.  Das  Realgymnasium  verlor  die  zweite  neusprach- 
liche Arbeit.  Die  Befreiung  von  der  mündlichen  Prüfung  wurde  an  allen 
Schulen  wieder  eine  Auszeichnung;  überhaupt  zeigte  die  Prüfungsordnung 
größere  Strenge  da,  wo  sie  angebracht  ist,  dagegen  größere  Freiheit  und 
Milde  überall,  wo  ein  tüchtiger  Schüler  Anspruch  darauf  hat. 

Die  Berechtigungsfragen  wurden  ebenfalls  in  raschem  Tempo  gelöst. 
Schon  im  Februar  wurde  für  das  höhere  Lehramt  völlige  Gleichberech- 
tigung hergestellt;  im  Mai  wurde  für  die  Mediziner  die  Berechtigung  dem 
Gymnasium  und  Realgymnasium  zugewiesen,  den  Oberrealschulen  noch 
eine  Nachprüfung  am  Realgymnasium  im  Lateinischen  auferlegt;  im  Fe- 
bruar igo2  folgten  die  Juristen,  für  welche  die  Zeugnisse  eines  deutschen 
Gymnasiums,  eines  deutschen  Realgymnasiums  und  einer  preußischen 
Oberrealschule  als  Vorbedingung  gefordert  wurden.  Der  Offizier-  und 
Seeoffizierberuf  wurde  ebenfalls  eingereiht  in  die  Gleichberechtigung.  Das 
Studium  der  Theologie  blieb  hors  de  concours.  So  war  im  großen  und 
ganzen  die  Gleichberechtigung  durchgeführt;  bleiben  hier  und  da  auch 
einige  Klauseln,  so  darf  man  der  Zukunft  und  dem  gesunden  Geiste  der 
neuesten  Reform  vertrauensvoll  die  weitere  Entwicklung  überlassen,  da  es 
ein  Rückwärts  für  Preußens  geistige  Entwicklung  nicht  gibt,  sondern  nur 
ein  Vorwärts.  Frankreich  hat  in  dieser  Beziehung  schon  die  letzten  Fol- 
gerungen gezogen.  Es  folgte  Preußen  auf  dem  Wege  der  Gleichberech- 
tigung im  Jahre  1902,  es  ging  weiter,  indem  es  jegliche  Klausel  und 
jegliche  Einschränkung  fallen  ließ.  Wo  ein  Student  mit  voller  realer  Aus- 
bildung in  ein  sogenanntes  humanistisches  Studienfach  übergeht,  il  ne 
serait  pas  juste  d"y  mettre  obstacle.  L'exception  sera  rare:  eile  m^rite 
d'etre  encouragee.  Goldene  Worte,  die  Mut  voraussetzen,  den  man  ja 
auch  in  Preußen  stets  gehabt  hat. 

Wir  sind  in  der  letzten  Entwicklung  der  Schulfragen  fast  nur  dem 
Gange  der  Dinge  in  Preußen  gefolgt:  mit  gutem  Grunde.  Denn  Preußen 
hat  in  dem  Gedanken,  daß  die  Kraft  Preußens  in  der  Solidarität  des 
preußischen  Staates  mit  der  geistigen  Bildung  und  in  der  Kraft  der  Intelli- 
genz beruhe,  in  den  letzten  Jahrzehnten  am  häufigsten  mit  Schulreformen 
eingesetzt  und  es  bietet  das  größte  x\rbeits-  und  weiteste  Beobachtungs- 
feld für  die  Fragen  der  Schule.  Andererseits  setzt  sich  Preußen  am 
meisten  den  Gefahren  des  Mißlingens  aus,  wenn  etwas  sich  nicht  bewähren 
sollte,  wie  es  aber  auch  den  größten  Gewinn  und  den  größten  Vorsprung 
im  Falle  des  Gelingens  für  sich  wird  in  Anspruch  nehmen  können.  Wer 
nichts  wagt,  gewinnt  nichts:  das  ist  der  Lauf  der  Dinge  in  aller  politischen 
und  kulturgeschichtUchen  Entwicklung.  Daß  aber  in  der  Schulreform  der 
letzten  Jahre  kein  Experiment  bedenklicher  Art  vorliegt,  darüber  beruhigt 
ihre  historische  Berechtigung  und  Notwendigkeit  und  ein  Ausblick  in  die 
Zukunft  der  höheren  Schulen,  bei  welchem  die  Vergangenheit  eine  ermun- 
ternde, belehrende  und  warnende  Beraterin  sein  kann  und  ängstliche  Ge- 


Vn.  Rückblick  und  Ausblick. 


169 


müter  das  schöne  Königswort  aus  der  Dezemberkonferenz  des  Jahres  1890 
trösten  mag:  „Wir  befinden  uns  in  einem  Zeitpunkt  des  Durchgangs  und 
Vorwärtsschreitens  in  ein  neues  Jahrhundert,  und  es  ist  von  jeher  das  Vor- 
recht meines  Hauses  gewesen,  ich  meine,  von  jeher  haben  meine  Vorfahren 
bewiesen,  daß  sie,  den  Puls  der  Zeit  fühlend,  voraus  erspähten,  was  da 
kommen  würde.  Dann  sind  sie  an  der  Spitze  der  Bewegung  geblieben, 
die  sie  zu  leiten  und  zu  neuen  Zielen  zu  führen  entschlossen  waren.  Ich 
glaube  erkannt  zu  haben,  wohin  der  neue  Geist  und  wohin  das  zu  Ende 
gehende  Jahrhundert  zielen,  und  ich  bin  entschlossen  in  bezug  auf  die 
Heranbildung  unseres  jungen  Geschlechts  die  neuen  Bahnen  zu  beschreiten, 
die  wir  unbedingt  beschreiten  müssen;  denn  täten  wir  es  nicht,  so  würden 
wir  in  zwanzig  Jahren  dazu  gezwungen  werden."  Nur  zehn  Jahre  gingen 
durchs  Land,  und  der  Kaiser  griff  igoo  von  neuem  ein  und  veranlaßte 
die  Fortführung  der  Reform  vom  Jahre   1890. 

Mancher  von  denen,  die  die  neueste  Wendung  mit  vorbereitet  und 
bei  ihr  mitgearbeitet  und  mitgewirkt  haben,  ist  sich  nicht  voll  bewußt 
gewesen,  was  er  getan,  wie  tief  diese  Reform  in  der  Entwicklung  unseres 
höheren  Schulwesens  begründet  ist  und  welche  Tragweite  sie  für  die  Zu- 
kunft hat.  Für  eine  volle  geschichtliche  Würdigung  der  Kultur  der  Gegen- 
wart erscheint  deshalb  eine  Rückschau  auf  die  Berechtigung  dieser  Reform 
und  ein  Ausblick  in  die  Zukunft  unserer  Schule   wünschenswert. 

VII.  Rückblick  und  Ausblick.  Das  Jahr  igoo  hat  vor  allem  freie  Rückblick. 
Bahn  geschaffen  für  alle  drei  höheren  Schularten,  die  wir  besitzen,  und 
damit  der  Eigenart  einer  jeden  ihre  ungehinderte  Entwicklung  gesichert. 
Die  volle  Einheitsschule,  die  man  immer  wieder  in  den  vergangenen 
Jahrzehnten  erstrebte,  ist  damit  abgewiesen.  Sie  mag  als  schöner  Traum 
der  Gelehrtenstube,  wo  Entwürfe  und  Ideale  sich  im  Raum  nicht  stoßen, 
ihre  Berechtigung  haben.  Wer  mitten  im  formenreichen  Leben  steht, 
wird  der  gestaltenreichen  Mannigfaltigkeit  ihre  Freiheit  gönnen  müssen, 
damit  die  gesamten  Geisteskräfte  eines  großen  Volkes,  damit  alles,  was 
die  Vergangenheit  an  alterprobten  Werten  überliefert  und  die  Zukunft  an 
neuen  lebensberechtigten  Werten  fordert,  seine  Verwirklichung  finden 
mag  in  den  Schulen,  in  denen  man  auf  getrennten  Wegen  zu  bilden  hat, 
um  schließlich  gemeinsam  zu  wirken.  Die  Entwicklungsgeschichte  unserer 
Schulen  hat  uns  mehr  als  einmal  den  Beweis  geführt,  daß  allemal  da,  wo 
man  diese  Wahrheit  nicht  berücksichtigte,  Hindernisse  und  Hemmnisse 
der  gesunden  Entfaltung  der  Schulen  sich  entgegenstellten.  Unseren 
Gymnasien  hat  nichts  mehr  geschadet  als  der  Utraquismus,  den  man  in 
diese  Schule  ihres  Monopols  und  der  Idee  der  Einheitsschule  wegen 
immer  wieder  hineinzutragen  suchte.  In  den  zwanziger  Jahren  des  19.  Jahr- 
hunderts fing  dieser  Unsegen  an,  als  Johannes  Schulze  den  Realien  kräf- 
tigeren Eingang  in  die  Gymnasien  verschaffte  und  zuerst  den  Versuch 
machte,  in  einer  Art  von  Einheitsschule  den  klassischen  Studien  und  den 


j-Q  Adolf  Matthias:  Das  höhere  Knabenschulwesen. 

realistischen  Fächern  gleiches  Recht  zu  geben.  Damals  fuhr  der  kur- 
sächsischem Lande  entstammende  bayerische  Professor  Thiersch,  der  ehe- 
malige Portenser,  in  hellem  Zorn  los  gegen  die  neue  Lehrweisheit  in 
Preußen,  d.  h.  gegen  die  gleichmäßige  Steigerung  des  klassischen  und 
realistischen  Unterrichts  in  den  Gymnasien,  gegen  „die  falsche  Vermitt- 
lung humanistischer  und  realistischer  Forderungen"  und  gegen  die  Enge 
des  Zwecks,  „wonach  die  Schule  als  Teil  der  Staatsmaschine  betrachtet 
\md  darauf  beschränkt  wurde,  dem  Staate  die  nötige  Anzahl  Diener  des 
Altars,  sowie  die  Gesetzes-  und  Heilkundigen  und  dergl.  zu  liefern". 
Preußen  „mit  allen  seinen  vortrefflichen  Vorkehrungen  und  Aussichten  stehe 
im  Begriff,  in  diesem  dampfmaschinenähnlichen  Getriebe  unermüdlich 
tätiger  AUseitigkeitsbeförderer  mit  der  wahren  Wissenschaft  die  wahre 
Bildung  zu  verlieren";  denn  die  realistischen  Fächer  erschienen  zu  sehr 
mit  den  klassischen  Sprachen  „in  gleicher  Linie,  Stärke  und  Bedeutsam- 
keit"; Preußen  jage  dem  Phantom  einer  allseitigen  Bildung  nach,  hetze  die 
Schüler  und  Lehrer  zu  Tode  und  verhindere  durch  beständige  und  strenge 
Prüfung,  daß  die  Natur  sich  selber  helfe.  Auf  wenige  große  und  der  An- 
strengung würdige  Gegenstände  sei  die  Tätigkeit  zu  sammeln,  nicht  aber 
dürfe  durch  Überladung,  Überspannung  und  Überbietung  die  Blüte  der 
Regsamkeit  zerdrückt  werden.  Das  waren  harte  Worte,  aber  sie  waren 
berechtigt  und  begründet.  Hätte  man  sie  beherzigt  und  auf  Männer  gehört, 
wie  den  Historiker  Friedrich  v.  Raumer,  G.  Köpke,  Spilleke,  Maximilian 
Schmidt,  die  in  der  Lorinserbeweg-ung  sich  ähnlich,  wenn  auch  maßvoller 
aussprachen,  —  J.  Schulze,  „der  in  den  Vorhöfen  der  Philologie  wohnende 
Staatsbeamte",  wie  ihn  Thiersch  bezeichnete,  hätte  den  Weg  nicht  be- 
schritten, dem  Gymnasium  wäre  vielleicht  sein  langer  Leidensweg  erspart 
geblieben  und  die  Idee  der  Einheitsschule  hätte  seinen  Frieden  nicht 
gestört. 

Diese  Gefahr  ist  nun  glücklich  beseitigt.  Die  Frage  jedoch,  ob  nicht 
auf  den  unteren  Stufen  die  Einheitsschule  möglich  und  nützlich  ist,  hat 
die  Reform  von  1900  als  wertvolles  Problem  offen  gelassen,  das  die  Zu- 
kunft lösen  mag,  indem  sie  bei  der  Vergangenheit  lernt,  daß  es  sich  um 
wesentlich  Neues  nicht  handelt.  Wenn  Pestalozzi  beklagt,  daß  der  Zu- 
sammenhang zwischen  oberer  und  unterer  Bildung  nicht  genugsam  gewahrt 
werde  und  die  Mittel  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  nicht  in  psycho- 
logisch geordneter  Reihenfolge  ständen,  wenn  Herder  den  Realklassen 
unabhängige  Stellung  wünscht  und  rät  mit  der  Muttersprache  anzufangen, 
dann  das  Französische  und  schließlich  das  Lateinische  folgen  zu  lassen; 
wenn  Schleiermacher  es  bedauert,  daß  nicht  auch  der  künftige  Gelehrte, 
ehe  er  zur  wissenschaftlichen  Bildungsstufe  übergehe,  den  Kursus  einer 
höheren  Bürgerschule  durchmachen  könne,  um  sich  eine  gründliche  reale 
Bildung  anzueignen  und  für  das  Gymnasium  nicht  zu  früh  mit  dem  Latei- 
nischen zu  beginnen,  so  haben  wir  hier  in  der  Vergangenheit  Anknüpfungen 
an  das  Neue,  die  dieses  weniger  verwerflich  erscheinen  lassen. 


"Vn.  Rückblick  und  Ausblick.  1 7  1 

Wie  aber  auch  die  Zukunft  diese  Frage  lösen  mag,  Hauptsache  ist 
und  bleibt  die  Gleichwertigkeit  und  Gleichberechtigung  der  drei  Bildungs- 
anstalten und  der  in  ihnen  geübten  Unterrichtsstoffe  und  Bildungskräfte.  Mit 
diesem  Grundsatz  hat  der  Allerhöchste  Erlaß  vom  2  6.  November  an  die  vor- 
nehmsten Geister  der  Vergangenheit  angeknüpft  und  einen  Gedanken  auf- 
genommen, der  sich  in  der  Entwicklung  unserer  Pädagogik  bis  zu  Comenius 
hinauf  zieht  imd  immer  kräftiger  hervortritt,  als  unser  Geistesleben  zu  seiner 
Blütezeit  gelangt.  Wenn  Kant  unser  Weltbild  und  unsere  Weltauffassung 
umgestaltet,  indem  er  das  gesamte  Denken  in  Zucht  nimmt  und  keine 
Wissenschaft  und  keinen  wissenschaftlichen  Arbeiter  ausgeschlossen  hat, 
wenn  er  der  Mathematik  die  Stellung  einer  allgemeinen  und  notwendigen 
Wissenschaft  und  auch  dieser  Wissenschaft  geiststärkende  und  zugleich 
versittlichende  Wirkung  zuschreibt,  so  ist  damit  der  Gleichwertigkeit  der 
Bildungsstofife  das  Wort  gesprochen.  Und  in  derselben  Richtung  bewegt 
sich  Goethes  Wort,  daß  schon  seit  einem  Jahrhundert  die  Humaniora  nicht 
mehr  auf  das  Gemüt  wirkten  und  es  ein  rechtes  Glück  sei,  daß  die  Natur 
dazwischen  getreten,  das  Interesse  an  sich  gezogen  und  uns  von  jener 
Seite  den  Weg  zur  Humanität  geöffnet  habe.  Das  heißt  doch  nichts  an- 
deres, als  daß  auch  die  Realien  und  ihre  Kenntnis  zur  Humanität  führen 
können  und  daß  es  eine  aristokratische  Anmaßung  ist,  als  humanistisch 
nur  eine  Schulart  zu  bezeichnen.  Und  wie  Goethe  so  urteilt  Schleier- 
macher; auch  er  erwartet  formale  und  humane  Bildung  nicht  von  ober- 
flächlichem Erlernen  des  Latein,  wohl  aber  von  der  Muttersprache  und 
den  realen  Bildungsfächern.  Und  ebenso  lehnt  Herbart  die  Berufung  auf 
die  durch  die  alten  Sprachen  zu  gewinnende  formale  Bildung  ab  und  be- 
zeichnet das  als  eine  alte,  bekannte  Ausrede  der  Philologen  und  als  leere 
Worte,  von  denen  sich  niemand  überzeugen  lasse,  der  die  weit  größeren 
bildenden  Kräfte  anderer  Beschäftigungen  kenne  und  der  die  Welt  mit 
offenen  Augen  ansehe,  worin  nicht  wenige  und  nicht  unbedeutende  Men- 
schen leben,  die  ihre  geistige  Existenz  keiner  lateinischen  Schule  ver- 
danken. So  finden  wir,  wohin  wir  blicken,  in  unserer  Vergangenheit  Worte 
und  Gedanken,  welche  die  Gleichwertigkeit  der  Bildungsmächte  bezeugen. 
Es  liegt  in  dem  allen  eine  Erklärung,  weshalb  von  dem  Gymnasium  das  In- 
teresse und  die  Teilnahme  so  vieler  tüchtiger  Männer  zeitweise  sich  so  weit 
entfernt  hat  Diese  hatten  eben  die  feine  Empfindung,  daß  die  Sonne  Ho- 
mers auch  da  leuchten  kann,  wo  man  nicht  seine  Sprache  spricht,  aber  den 
Geist  wirken  läßt,  wie  er  bei  Goethe  und  Schiller  lebendig  geworden  und 
in  unsere  deutsche  Bildung  eingezogen  ist. 

Neben  das  Alte,  nicht  an  die  Stelle  des  Alten  soll  also  das  Neue  rücken, 
und  in  edlem  Wettstreit  mögen  alle  Kräfte  sich  entfalten,  die  Wissen,  Geist 
und  Leben  darbieten;  nicht  auf  unlebendige  Aneignung  von  Formen  und 
Phrasen,  auf  geistlose  Nachahmung  und  Virtuosität  kommt's  in  der  Schule  an, 
sondern  auf  Vertiefung,  Konzentrierung  und  auf  eine  Art  künstlerischer  Ent- 
faltung jeglicher  Eigenart.    Neben  den  IdeaUsmus  —  und  damit  werfen  wir 


172 


Adolf  Matthias:  Das  höhere  Knabenschulwesen. 


einen  Blick  auf  die  Schule  der  Zukunft  —  mag  der  Realismus  treten,  nicht 
der  einseitige,  materialistische,  geistesarme  Realismus,  sondern  der  Realis- 
mus, der  das  Leben  und  die  Welt,  die  er  kennen  und  anschauen  gelernt 
hat,  zu  vergeistigen  strebt  durch  Lösung  der  Rätsel,  die  er  mit  kritischem 
Auge  findet  und  mit  Bescheidenheit  zu  lösen  sich  bemüht  und  der,  gerade 
weil  er  die  Welt  mit  ihrem  Gram  und  Glück  kennt,  in  Sehnsucht  stark 
wird  nach  den  Idealen,  die  über  seinem  sichtbaren  Bereiche  sich  weben. 
Nicht  einseitig  mögen  unsere  Schulen  sich  entfalten,  vor  allem  nicht  in 
jenem  ungesunden,  von  fertigen  Wahrheiten  und  unfehlbaren  Meinungen 
gesättigten  Pseudoidealismus,  der  vielfach  uns  zum  Unsegen  geworden  ist 
und  uns  unfähig  gemacht  hat  teilzunehmen  auch  an  den  materiellen  Gaben, 
die  in  der  Welt  stets  zur  Teilung  stehen.  Die  Gegensätze  sind  es,  die 
den  Menschen  und  ein  Volk  erziehen.  Als  die  Kirche  und  die  Scholastik 
die  Alleinherrschaft  in  der  Schule  hatten,  fehlten  die  Gegensätze;  als  der 
Althumanismus  und  die  Jesuiten  Herren  waren,  war  es  nicht  anders;  als  der 
Neuhumanismus  dominierte,  war  es  ebenso,  und  als  das  Staats-  und  Berech- 
tigungsmonopol des  Gymnasiums  sich  bemächtigt  hatte,  kamen  trübe  Tage. 
Nur  edler  Wettstreit  kann  den  Schulen  frommen.  Der  ist  nunmehr 
eröffnet. 

Aber  nicht  die  Gegensätze  an  sich  sind  das  Segensreiche,  sondern 
ihre  Aufhebung  zu  höherer  Einheit,  die  man  Ideale  zu  nennen  gewohnt 
ist.  Daß  der  Mensch  denkt,  macht  ihn  zum  Menschen;  daß  er  in  Gegen- 
sätzen zu  denken,  diese  abzuwägen,  zu  vereinigen,  zu  würdigen  und  wert- 
zuachten  lernt,  macht  ihn  zum  gebildeten  Menschen.  Alle  Einseitig- 
keit religiöser,  konfessioneller,  nationaler  und  politischer  Art  ist  ein  Merk- 
mal mangelnder  Bildung  und  geistiger  Unreife.  Pflicht  der  Schule  ist  es, 
diesen  Mangel  zu  beseitigen  und  vorzubereiten  zu  der  Fähigkeit,  die 
großen  Gegensätze  zwischen  Altertum  und  Gegenwart,  zwischen  Nation 
und  Welt,  zwischen  Glauben  und  Wissen,  zwischen  Glauben  und  Glauben 
und  zwischen  realen  Pflichten  und  idealen  Kräften  schon  frühe  zu  be- 
greifen, zu  erkennen  und  zu  schätzen,  damit  diejenigen,  die  die  Schule 
verlassen,  in  der  Welt  mit  kräftiger  Denk-  und  Tatkraft  und  mit  geläu- 
terter und  feingebildeter  Empfindung  ihren  Mann  stehen. 


Literatur. 

MONUMENTA  Germaniae  Paedagogica.  Schulordnungen,  Schulbücher  und 
pädagogische  Miscellaneen  aus  den  Landen  deutscher  Zunge.  Unter  Mitwirkung 
einer  Anzahl  von  Fachgelehrten  hrsg.  von  K.  Kehrbach.  Seit  1886  32  Bde.  (Im  Auftrage 
der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  herausgegeben  zu  dem  Zweck, 
die  Geschichte  des  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens  zu  erforschen  und  in  weiteren  Kreisen 
das  Interesse  dafür  zu  pflegen.) 

K.  A.  SCHMID,  Geschichte  der  Erziehung  von  Anfang  an  bis  auf  unsere 
Zeit,  fortgeführt  von  G.  Sch.mid.  5  Bde.  in  zahlreichen  Abteilungen  1884— 1902.  (Die  ein- 
zelnen .Abteilungen  rühren  von  verschiedenen  Verfassern  her  und  haben  deshalb  un- 
gleichen Wert.) 

Karl  Schmidt,  Geschichte  der  Pädagogik,  dargestellt  in  weltgeschichtlicher  Ent- 
wicklung und  im  organischen  Zusammenhang  mit  dem  Kulturleben  1860 — 62,  in  4.  Aufl. 
1890  begonnen.  (Der  Inhalt  wird  dem  Titel  nicht  gerecht,  da  eine  Aufgabe  von  so  großer 
philosophischer  und  kulturgeschichtlicher  Bedeutung  von  Einem  Manne  gar  nicht  gelöst 
werden  kann.) 

K.  VON  Raumer,  Geschichte  der  Pädagogik  vom  Wiederaufblühen  klassischer 
Studien  bis  auf  unsere  Zeit.  I.  Teil  in  7.  Aufl.  (1902):  Das  Mittelalter  bis  zu  Mon- 
taigne. —  II.  Teil  in  6.  Aufl.  (1898):  Die  Neuerer  (Ratich  und  Comenius)  bis  zu  Pesta- 
lozzi. —  III.  Teil  in  6.  Aufl.  (1897):  Hauptsächlich  die  Methodik  einzelner  Unterrichts- 
fächer (besonders  des  Deutschen)  und  einzelner  Schularten  enthaltend.  —  IV.  Teil  in  6.  Aufl. 
(1898):  Die  Geschichte  der  deutschen  Universitäten.  —  V.  Teil  von  Lothholz  verfaßt  (1897): 
Pädagogik  der  Neuzeit  in  Lebensbildern.  (Hauptsächlich  Darlegung  der  pädagogischen 
Theorieen  und  Charakterbilder  großer  Pädagogen  auf  Grund  reichen  Quellenmaterials.  Das 
Urteil  des  Verfassers   ist  stark  theologisch   gefärbt,   aber  trotzdem  sympathisch.) 

Friedrich  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  auf  den  deutschen 
Schulen  und  Universitäten  vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur  Gegenwart.  Mit  be- 
sonderer Rücksicht  auf  den  klassischen  Unterricht.  2.  Aufl.  2  Bde.  1896/97.  (Eine  auf 
gründlichen  Quellenstudien  und  bewundernswerter  Belesenheit  in  streng  wissenschaftlichem 
Geiste  abgefaßte,  frisch  und  anregend  geschriebene  und  temperamentvolle  Darstellung,  hinter 
der  ein  Mann  von  philosophischem  Blick  und  warmem  Interesse  für  die  Sorgen  der  Gegen- 
wart steht.) 

Theobald  Ziegler,  Geschichte  der  Pädagogik  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
das  höhere  Unterrichtswesen.  2.  Aufl.  1904.  [Erster  Band,  erste  Abteilung  von 
A.  Baumeister,  Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  höhere  Schulen.  4  Bde.] 
(Vor  allem  Geschichte  der  Pädagogik  als  wissenschaftlicher  Disziplin  und  Kunstlehre  und 
zugleich  Geschichte  des  Erzichungswesens  und  der  dasselbe  tragenden  geistigen  Strömungen. 
Z.  ist  mehr  als  Paulsen  ein  Freund  vergangener  Tage,  in  denen  er  weniger  Schatten  sieht 
als  jener.) 

Alfred  Heubaum,  Geschichte  des  Bildungswesens  seit  der  Mitte  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts.  I.  Bd.:  Bis  zum  Beginn  der  allgemeinen  Unterrichtsreform  unter 
Friedrich  dem  Großen.  Das  Zeitalter  der  Standes-  und  Berufserziehung.  1905.  (Ein  auf 
gründlichen  archivalischen  Forschungen  beruhendes  Werk,  das  uns  die  eigentliche  Gestal- 
tung des  Schulwesens,  die  in  früheren  Werken,  besonders  bei  Raimier,  vielfach  nicht  recht 
erkennbai-  war,  nahe  führt.) 


I  ^  ^  Adolf  Matthias  :  Das  höhere  Knabenschulwesen. 

Außerdem  sind  noch  folgende  Werke  zu  nennen,  die  nicht  rein  historischen  Charakter 
tragen,  aber  das  Gebiet  der  Geschichte  der  Pädagogik  vielfach  berühren: 

K,  A.  SCHMID,  Enzyklopädie  des  gesamten  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
wesens, lo  Bde.  2.  Aufl.  1876  ff. ,  fortgeführt  von  W.  Schrader.  (Enthält  neben  recht 
minderwertigen  Aufsätzen  historischen  Charakters  eine  große  Anzahl  sehr  wertvoller  histo- 
rischer Monographieen.) 

W.  Rein,  Enzyklopädisches  Handbuch  der  Pädagogik.  7  Bände.  1895—99. 
Die  2.  Aufl.  ist  im  Erscheinen  begriffen.  (Steht  der  Gegenwart  näher;  die  historischen 
Aufsätze  sind  fast  durchweg  von  dauerndem  Werte.) 

Otto  Willmann,  Didaktik  als  Bildungslehre  nach  ihren  Beziehungen  zur  Sozial- 
forschung und  zur  Geschichte  der  Bildung.  3.  Aufl.  1903.  (Die  Behandlung  tiefgehend  und 
erschöpfend,  die  Charakterisierung  der  Bildungstypen  überaus  feinsinnig;  aber  die  Grund- 
stimmung: extra  ecclesiam  nuUa  salus.) 

An  Handbüchern  ist  besonders  zu  nennen:  H.  Schiller,  Lehrbuch  der  Geschichte 
der  Pädagogik,  3.  Aufl.  1894,  und  von  ganz  knappen  Grundrissen  das  freundliche  Büchelchen 
G.  Weimer,  Geschichte  der  Pädagogik,  1902  (Sammlung  Göschen). 


HÖHERES  MÄDCHENSCHULWESEN. 

Von 
Hugo  Gaudig. 


I.  Der  Begriff  der  höheren  Mädchenschule.  Die  Bildung,  die 
den  Schülerinnen  der  höheren  Mädchenschule  vermittelt  werden  soll,  ist 
Allgemeinbildung  wie  die  der  höheren  Knabenschulen;  die  Vorbildung 
für  eine  künftige  Berufsstellung  liegt  jenseits  ihrer  Bildungsaufgabe.  Ihre 
Artbestimmung  erhält  die  Allgemeinbildung  durch  die  Rücksichtnahme 
auf  die  gesamte,  physische  wie  geistige,  Eigenart  des  weiblichen  Ge- 
schlechtes. Die  Zahl  der  Jahreskurse  beträgt  9 — 10;  das  Mindestmaß 
an  Stufenklassen  ist  sieben.  Wie  bei  den  Realschulen  fehlen  unter  den 
Bildungsstoffen  die  alten  Sprachen.  Das  am  meisten  betonte  Bildungs- 
element ist  die  deutsche  Sprache.  Doch  tritt  meist  von  der  Mittelstufe 
(vom  vierten  Schuljahre)  an  das  Französische  und  von  der  Ober- 
stufe (vom  siebenten  Schuljahre)  an  auch  noch  das  Englische  mit  gleicher 
oder  nahezu  gleicher  Stundenzahl  auf,  so  daß  auf  der  Mittelstufe  der 
muttersprachliche  Unterricht  über  ebensoviel  Stunden  verfügt  wie  der 
fremdsprachliche,  auf  der  Oberstufe  nur  noch  über  ein  Drittel.  Gegen- 
über den  Knabenschulen  fällt  am  meisten  die  schwache  Betonung  des 
mathematischen  Unterrichts  auf,  der  meist  „eigentliche"  Mathematik  ganz 
vermissen  läßt  und  als  Rechenunterricht  und  als  Unterricht  in  der  elemen- 
taren Raumlehre  nur  etwa  ein  Zehntel  der  Gesamtstundenzahl  zuerteilt 
erhalten  hat.  Die  Entlassung  aus  der  Schule  erfolgt  ohne  eine  Berechti- 
gungen gewährende  Prüfung.  Das  Lehrerkollegium  ist  einerseits  aus 
akademischen  und  seminarischen,  anderseits  aus  männlichen  und  weib- 
lichen Lehrkräften  zusammengesetzt. 

IL  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule.  Um  die 
gegenwärtige  Lage  der  höheren  Mädchenschule  zu  verstehen,  bedarf  es 
vor  allem  des  Verständnisses  der  Periode  von   1872  bis  zur  Jetztzeit. 

I.    Die    Weimarer    Versammlung    vom    Jahre     1872.     In    das  Die  Weimarer 

Versamraluog 

Jahr  1872   fällt  em  Ereignis  von   epochaler  Bedeutung,  in    dem   wesent- vom  j»hre  1872. 
liehe   Entwicklungen    der    früheren    Epoche    abgipfeln    und  von   dem    aus 
die  Linien   der   späteren   Entwicklung  bis  zur  Gegenwart  leicht  gezogen 


176  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

werden  können:  die  „Versammlung  der  Dirigenten,  Lehrer  und  Lehrerinnen 
deutscher  höherer  Mädchenschulen  zu  Weimar".  Bedeutsam  bei  dieser 
Versammlung,  die  vom  Direktor  Kreyenberg-  angeregt  war  und  von  den 
Direktoren  Friedländer  und  Nöldeke  geleitet  wurde,  war,  daß  sie  im 
Zeichen  der  neugewonnenen  deutschen  Einheit  stand,  ferner  daß  sie 
ein  Akt  der  „Selbsthilfe"  durch  „genossenschaftliche  Vereinigung" 
(Nöldeke)  war,  vor  allem  aber,  daß  man  (auf  Grund  eines  Vortrags  von 
Dir.  Schornstein)  ausschließlich  über  die  leitenden  Grundsätze  beriet,  nach 
denen  in  Übereinstimmung  mit  der  tatsächlichen  Entwicklung  des  höheren 
Mädchenschulwesens  „eine  in  den  Grundzügen  einheitliche  Organisation 
und  eine  gesetzlich  geordnete  Stellung  der  höheren  Mädchenschule  im 
Verhältnis  zu  dem  übrigen  Schulwesen  und  der  staatlichen  Unterrichts- 
verwaltung" gewonnen  werden  könnte.  Nach  einer  von  der  Versammlung 
angenommenen  These  hatte  die  höhere  Mädchenschule,  über  deren  ge- 
setzliche Regelung  verhandelt  wurde,  die  Bestimmung,  „der  heranwach- 
senden weiblichen  Jugend  die  ihr  zukommende  Teilnahme  an  der  all- 
gemeinen Geistesbildung  zu  ermöglichen,  welche  auch  die  allgemeine 
Bildungsaufgabe  der  höheren  Schulen  für  Knaben  und  Jünglinge"  sei. 
Dabei  sollte  jede  „unselbständige  Nachahmung"  dieser  Anstalten  aus- 
geschlossen sein  und  eine  Organisation  angestrebt  werden,  welche  auf  „die 
Natur  und  Lebensbestimmung  des  Weibes"  Rücksicht  nehme.  Als  Bil- 
dungsziel bezeichnete  man  „eine  harmonische  Ausbildung  der  Intellektua- 
lität,  des  Gemüts  und  des  Willens  in  religiös-nationalem  Sinne  auf 
realistisch-ästhetischer  Grundlage".  In  den  Verhandlungen  über  diesen 
Punkt  war  „edle  Persönlichkeit"  als  „das  Wesen  der  deutschen  Frau"  be- 
zeichnet. Die  „Realien"  waren  hier  „die  Grundlage"  (der  Bildung)  ge- 
nannt; zugunsten  des  Wortes  „ästhetisch"  aber  war  gesagt,  es  solle  „die 
Form  der  Behandlung  aller  Unterrichtsgegenstände"  ausdrücken.  Die 
von  der  höheren  Mädchenschule  gepflegte  Bildung  sollte,  so  beschloß  man 
ferner,  eine  auf  tüchtiger  Elementarbildung  aufgebaute  „einheitliche  Bil- 
dung in  Wissenschaften  und  Sprachen  (zwei  fremde  Sprachen)"  sein.  — 
An  Zeit  wurden  gefordert  10  Jahre  (vom  6.  bis  16.  Lebensjahr).  Der 
Aufbau  sollte  dreistufig  bei  7 — 10  Stufenklassen  sein.  Für  das  Lehrer- 
kollegium wünschte  man  die  Zusammensetzung  „aus  einem  wissenschaftlich 
gebildeten  Direktor,  wissenschaftlich  gebildeten  Lehrern  (namentlich  für 
die  wissenschaftlichen  Fächer),  aus  erprobten  Elementarlehrern  und  ge- 
prüften Lehrerinnen".  —  In  Sachen  der  staatsrechtlichen  Stellung 
wurde  verlangt  die  Anerkennung  der  höheren  Mädchenschule  „als  einer 
öffentlichen,  von  der  bürgerlichen  Gemeinde  und  dem  Staate  unterhaltenen 
und  unmittelbar  beaufsichtigten  Anstalt",  die  Unterordnung  unter  dieselbe 
Schulverwaltung  wie  die  höheren  Knabenschulen,  endlich  die  Gleich- 
stellung mit  den  Lehrern  dieser  Anstalten  im  Punkte  der  Anstellung  und 
der  Pensionierung.  —  Schließlich  bezeichnete  es  die  Versammlung  als 
erwünscht,   daß  durch   die  Staatsbehörde  nach  Anhörung  tüchtiger  Fach- 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule. 


177 


männer  „ein  Xormallehr-  und  Einrichtungsplan"  festgestellt  werde;  an  die 
Erfüllung  der  Bestimmungen  dieses  Lehrplans  sollte  das  Recht  auf  den 
Namen  „höhere  Mädchenschule"  geknüpft  sein. 

In   einer  Denkschrift,   deren  Hauptinhalt   die    von   der  Weimaraner  nie  Weimarer 

Di'nkschrift. 

Versammlung  angenommenen  Thesen  mit  beigefügten  Erläuterungen  bil- 
deten, wandte  sich  dann  „die  erste  Hauptversammlung  von  Vertretern 
deutscher  höherer  Mädchenschulen"  an  die  deutschen  Staatsregierungen. 
Aus  den  Erläuterungen  sind  einige  Gedanken  von  besonderer  Bedeutung: 
Zu  dem  Bildungsziel  („allgemeine  Geistesbildung")  wird  bemerkt,  die 
höhere  Mädchenschule  habe  „dieselbe  Aufgabe"  zu  erfüllen,  wie  die 
höheren  Knabenschulen,  indem  sie  in  gleicher  Weise  in  die  deutsche 
Sprache  und  Literatur  vertiefe,  den  fremdsprachlichen  Unterricht  „gram- 
matisch, literarisch  und  praktisch  als  Schule  des  Geistes  und  für  die  An- 
forderungen des  Lebens"  verwerte,  und  Geschichte,  Geographie  und 
Naturwissenschaften  als  „Bildungsmittel  der  geistigen  Kräfte  und  Inter- 
essen" pflege.  Die  Unterrichtsstoffe  sollen  zu  „allseitiger  Übung  und 
Schulung  der  Geisteskräfte"  ausgenutzt  werden,  damit  sich  an  ihnen  das 
Geistesleben  für  dieselben  allgemeinen  geistigen  Interessen  erschließe, 
für  deren  Verständnis  auch  die  höheren  Knabenschulen  vorbereiteten.  In 
diesem  Zusammenhange  folgt  dann  der  viel  angeführte  Satz: 

„Es  galt  (sc.  in  der  Versammlung),  eine  der  Geistesbildung  des  Mannes  in  der  All- 
gemeinheit der  Art  und  der  Interessen  ebenbürtige  Bildung  zu  ermöglichen,  damit  der 
deutsche  Mann  nicht  durch  die  geistige  Kurzsichtigkeit  und  Engherzigkeit  seiner  Frau  an 
dem  häuslichen  Herde  gelangweilt  und  in  seiner  Hingabe  an  höhere  Interessen  gelähmt 
werde,  daß  ihm  vielmehr  das  \Veib  mit  \'erständnis  dieser  Interessen  und  der  Wärme  des 
Gefühles  für  dieselben  zur  Seite  stehe." 

Daß  mit  der  Forderung  einer  der  allgemeinen  Geistesbildung  der 
männlichen  Jugend  ebenbürtigen  Allgemeinbildung  der  weiblichen  Jugend 
nicht  „Gleichheit  der  männlichen  und  weiblichen  Bildung"  beabsichtigt 
sei,  wird  alsbald  nachdrücklich  betont.  Die  allgemeine  Bildungsaufgabe 
für  die  weibliche  Jugend  soll  „unter  Anerkennung  der  besonderen  Be- 
gabung ihres  Seelenlebens  und  unter  Wahrung  und  Förderung  ihrer 
eigentümlichen  Bestimmung"  verwirklicht  werden.  Demgemäß  soll  alle 
„geistige  Uniformität"  vermieden  werden,  die  „den  unentbehrlichen  Reiz 
und  Gewinn  geistiger  Ergänzung  der  Geschlechter"  vernichte;  der 
„Schwerpunkt  der  weiblichen  Bestimmung"  aber  liegt  im  Familienleben.  — 
Als  Bildungsziel  bezeichnen  die  Erläuterungen  „die  Harmonie  einer 
edeln  Persönlichkeit",  in  welcher  das  edle  Gefühl  zu  sittlichem  Handeln 
drängt  und  „die  Innigkeit  und  Energie  des  Gefühles  und  Willens  durch 
Klarheit  des  Urteiles  geläutert  und  geleitet  sind".  Dem  Weibe  wird 
das  Recht  auf  „Wissenschaft"  zuerkannt,  weil  sie  „des  Verständnisses 
der  geistigen  Interessen  und  Leistungen  der  Nation"  bedarf;  alle  Wissen- 
schaft aber  soll  ihm  „zu  einer  geistigen  Zucht  für  Verstand,  Gemüt  und 
Charakter"  werden.  —  Das  Zusammenwirken  von  Lehrern  und  Leh- 
rerinnen entspricht  nach  den  Erläuterungen  der  Idee  der  höheren  Mädchen- 

DlB  Kultur  dbr  Gbcbswart.     I.  i.  i-» 


Ij8  Hugo  Gaudk; :  Höheres  Mädchpiischulwesen. 

schule.  Die  Frage,  wieweit  die  Mitwirkung-  der  Lehrerinnen  zuzu- 
lassen sei,  wird  als  eine  offene,  weiterer  Erfahrung  anheimzugebende  be- 
zeichnet. Als  „Tatsache"  wird  anerkannt,  daß  eine  allerdings  im  Ver- 
hältnis zur  Gesamtzahl  geringe  Zahl  von  Lehrerinnen  mit  sicherem  Er- 
folge für  Deutsch,  Geographie  und  Geschichte  bis  in  die  mittleren,  für 
die  fremden  Sprachen  bis  in  die  oberen  Klassen  verwandt  werden  könne. 
Die  Ursache  der  geringen  Zahl  wird  in  der  völligen  Unzulänglichkeit  der 
Bildungsanstalten  für  Lehrerinnen  gesehen.  —  In  der  Erläuterung  zu  der 
Forderung  des  öffentlichen  Charakters  der  höheren  Mädchenschule 
werden  die  Nachteile  der  Privatschule  bezeichnet:  Rücksicht  auf  die 
pekuniäre  Erträglichkeit,  Abhängigkeit  von  der  Willkür  des  Vorstehers 
und  den  Einflüssen  der  Schulinteressenten,  Schwierigkeit  beim  Gewinnen 
von  Lehrkräften,  Mangel  an  Kontinuität  der  Entwicklung.  —  Mit  kräftigem 
Pathos  wird  endlich  zur  Beseitigung  der  bestehenden  Unklarheit,  Un- 
wahrheit und  Ungerechtigkeit  die  scharfe  Scheidung  zwischen  solchen 
Schulen,  die  auf  den  Namen  „Höhere  Mädchenschule"  ein  Anrecht  haben, 
und  denen,  die  kein  Recht  darauf  besitzen,  gefordert. 

Würdigung  der  2.  Würdigung   der  Weimarer  Versammlung   und  Denkschrift. 

Sammlung  und  Der  Gcist,  der  die  leitenden  Persönlichkeiten  bewegte,  war  der  Geist 
idealen  Wollens,  tatkräftiger  Initiative,  des  Verlangens  nach  reinlicher 
Scheidung,  guten  Selbstbewußtseins  und  männlicher  Würde.  Es  war  nicht 
der  Geist  von  Menschen,  die  ag-itatorisch  Schulgeschichte  machen  wollten. 
Man  wollte  vor  allem  einen  geschichtlichen  Prozeß  zu  dem  Ablauf 
bringen,  der  den  in  ihm  wirkenden  Kräften  entsprach:  man  wollte  die 
Entwicklung  der  öffentlichen  höheren  Mädchenschule  von  Hemmungen 
befreien.  Auf  die  Existenz  von  mehr  als  hundert  aus  städtischen  Mitteln 
erhaltenen  höheren  Mädchenschulen,  die  eine  weitreichende  Gleichartig- 
keit in  der  Organisation  aufwiesen,  stützte  sich  die  Denkschrift.  Sie 
bilden  den  festen  Rückhalt  der  ganzen  Bewegung.  Nichts  anderes  wollten 
die  Weimaraner,  als  der  Schöpfung  des  deutschen  Bürgertums  zu  ihrem 
Recht  zu  verhelfen.  Für  die  städtische  höhere  Mädchenschule  forderten 
sie  zunächst  vom  Staat  eine  veränderte  Stellungnahme;  statt  des  bis- 
herigen laisser  faire,  laisser  aller  die  gleiche  Fürsorge,  wie  sie  alle 
anderen  Schulen  bereits  erfuhren.  Und  zwar  wird  diese  Forderung  be- 
gründet mit  dem  „tief  wirkenden  Einfluß  des  Weibes  auf  die  Erziehung 
der  Jugend,  auf  die  Erhaltung  und  Förderung  der  sittlichen  und  geistigen 
Kräfte  der  Nation".  Auch  wird  zur  Begründung  auf  das  durch  die  Frauen- 
bewegTing  aufgedeckte  „Notverhältnis"  verwiesen,  das  dem  Staate  die  Ver- 
pflichtung, für  eine  tüchtige  Ausbildung  der  weiblichen  Jugend  zu  sorgen, 
auferlege.  Forderung  und  Begründung  zeigen,  daß  die  Weimaraner  die 
neue  Zeit,  die  hereinbrach,  verstanden. 

Wenn  dann  die  Anerkennung  der  höheren  Mädchenschule  als 
höherer  im  Sinne  des  Gesetzes  gefordert  wurde,  so  galt  das  den  leiten- 
den Männern  als  die  selbstverständliche  Folge  der  Tatsache,  daß  sich  die 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule.  lyg 

öffentliche  höhere  ^lädchenschule  bereits  durch  ihre  wi.ssenschaftHche 
Arbeitsweise  in  die  Reihe  der  höheren  Lehranstalten  eingegliedert  hatte. 
Die  verwaltungsrechtliche  Stellung,  die  man  begehrte,  erschien  als  ein- 
fache Folge  der  Leistungen,  auf  die  man  .sich  stützte. 

Wurde  die  höhere  Mädchenschule  unter  die  höheren  Anstalten  unter- 
begriffen,  so  war  damit  dann  auch  die  unerträgliche  Ungleichmäßigkeit 
in  der  Stellung  der  Schule  zu  den  städtischen  und  staatlichen  Aufsichts- 
behörden beseitigt:  bi.sher  stand  z.  B.  in  Preußen  die  Verfügung  über  den 
liinrichtungs-  und  Lehrplan  bald  dem  .Schulinspektor,  bald  einem  aus 
Schulinteressenten  gebildeten  Kuratorium,  bald  dem  Leiter  der  Schule  zu. 

Die  Denk.schrift  berief  sich  auf  eine  „weit  reichende  liinmütigkeit  der 
Anschauungen  und  Gleichartigkeit  in  der  Organisation  der  meisten  höheren 
Mädchenschulen".  Dies  galt  vor  allem  von  den  öffentlichen  Schulen,  bei 
denen  die  Einheit  teils  das  von  selbst  eingetretene  Ergebnis  der  geschicht- 
lichen Entwicklung,  teils  das  Ergebnis  planmäßiger,  etwa  seit  der  Mitte 
des  Jahrhunderts  einsetzender  Einheitsbestrebungen  in  Einzelschriften, 
Zeitschriften,  Schulprogrammen,  Versammlungen  war.  Einheitlich  war  das 
Biklungsideal  und  das  System  der  Bildungsstoffe  (das  sich  mit  dem  zur 
Zeit  bestehenden  deckt);  dagegen  war  die  Zahl  der  aufsteigenden  Klassen, 
das  Schwergewicht  der  Fächer,  die  Verteilung  des  Lehrstoffs  in  den  ein- 
zelnen Lehrplänen  noch  recht  verschieden.  Vergl.  Nöldeke:  Von  Weimar 
zu  Weimar,  S.  6  fg. 

Ein  Xormallehrplan,  der  aber  individuellen  Entwicklungen  Raum 
Heß,  sollte  im  Notwendigen  Einheit  schaffen.  Vor  allem  aber  sollte  dieser 
Normalplan  die  höhere  Mädchenschule  von  all  den  minderwertigen  Gebilden 
scheiden,  die  unter  dem  Sammelnamen  höhere  Töchterschule  eine  an 
Solidität  hinter  der  Bürgerschulbildung  zurückstehende  Bildung  darboten 
und  nur  mit  etwas  Mehrsprachigkeit  ihren  höheren  Titel  begründeten. 
Daß  gegenüber  diesem  geschichtlich  gewordenen  Zustand  die  Vertreter 
voll  entwickelter  Schulen  eine  scharf  scheidende  Begriffsbestimmung  for- 
derten, war  nichts  als  notwendiger  Selbstschutz  und  Pflicht  der  Selbst- 
achtung. So  allein  konnte  von  der  wirklichen  höheren  Mädchenschule 
der  Fluch  der  Lächerlichkeit  genommen  werden,  der  ein  besonders  pein- 
liches Stück  in  der  Martyriologie  der  höheren  Mädchenschule  ist. 

Nicht  minder  scharf  war  die  weitere  Scheidung,  die  die  Weimaraner 
wollten.  Bi.sher  umfaßte  der  Name  „höhere  Töchterschule"  unterschieds- 
los öffentliche  und  private  Schulen.  Von  ihrem  Standpunkt  aus 
mußten  die  leitenden  Männer  für  die  höhere  Mädchenschule  die  Stellung 
einer  öffentlichen  Lehranstalt  anstreben  (s.  o.  S.  178).  Ihr  grundsätz- 
licher Standpunkt  konnte  kein  anderer  sein,  als  der,  den  der  preußische 
Minister  von  Ladenberg  in  seinen  Erläuterungen  zu  der  Verfassung  vom 
5.  Dezember  1848  ausgesprochen  hatte;  er  bezeichnet  es  hier  als  bedenk- 
lich, wenn  der  preußische  Staat  die  geistige  Pflege  seiner  Jugend  und 
damit  seine  eigene  Zukunft  „einer  schranken-   und   rücksichtslosen  Privat- 


l8o  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

Industrie  preisgeben  wollte,  in  deren  Gefolge  leicht  nicht  nur  ein  Sinken 
der  intellektuellen  Bildung,  sondern  auch  eine  tiefe  Entsittlichung  eintreten 
könne".  Er  gibt  dem  ernsten  und  gediegenen  Unterricht  der  künftigen 
jMutter...  in  den  öffentlichen  Schulen  ohne  weiteres  den  Vorzug  vor 
den  im  tiefen  Grunde  „verbildenden  und  verziehenden  Pensionsanstalten". 
Vgl.  G.  Bäumer:  Der  Stand  der  Frauenbildung  (Handbuch  der  Frauen- 
bewegung, III.  Teil),  S.  105.  Diese  grundsätzliche  Stellungnahme  verhin- 
derte übrigens  nicht  die  Anerkennung  „rühmlicher  Ausnahmen"  durch  die 
Weimaraner.  Vgl.  Nöldeke  a.a.O.  S.  igfg.  So  gewiß  „Schule"  und  „wer- 
bendes Institut"  einander  ausschließende  Begriife  sein  sollten,  so  gewiß 
ein  um  seine  Zukunft  besorgter  Staat  die  Wirkungen  des  Zufalls  bei 
der  Erziehung  der  zukünftigen  Mütter  auf  ein  Mindestmaß  beschränken 
muß,  so  gewiß  gehört  es  zu  den  Ruhmestiteln  der  Weimaraner, 
daß  sie  auch  hier  grundsätzliche  Klarheit  walten  ließen.  In  demselben 
Augenblick,  in  dem  der  Staat  die  eminente  Bedeutung  erkennt,  die  der 
Ausbildung  der  Frauen  der  höheren,  die  Kultur  in  erster  Linie  fördernden 
Volksschichten  zukommt,  muß  er  den  Wahrscheinlichkeitsgrad  für  den 
Erfolg  der  erziehlichen  Arbeit  an  den  Töchtern  dieser  Stände  tunlichst 
erhöhen  und,  wenn  es  nötig  ist,  auch  den  herabdrückenden  Einfluß  der 
Familien  (der  „Schulinteressenten")  aufheben.  Das  ist  sein  Kulturrecht. 
Diesem  Recht  entspricht  natürlich  die  Pflicht,  daß  der  Staat  (wie  es  auch 
in  der  Denkschrift  ausgesprochen  ist)  da,  wo  es  nottut,  öffentliche  Schulen 
errichtet  oder  unterstützt  und  dem  gesamten  Mädchenschulwesen  die  Or- 
ganisation gibt,  bei  der  sein  Kulturwerk  erreicht  werden  kann.  So  muß 
er  z.  B.  verhüten,  daß  durch  zu  hohe  Klassenziffer  oder  durch  Anstellung' 
ungeeigneter  Lehrkräfte  die  Überlegenheit  der  öffentlichen  über  die  pri- 
vate Schule  verloren  g-eht. 

Als  allgemeines  Bildungsziel  galt  der  Denkschrift  „die  Harmonie 
einer  edlen  Persönlichkeit".  Damit  ist  eine  Formel  von  höchstem  Wert 
gewonnen.  Nur  freilich  eine  so  hoch  liegende  Formel,  daß  sie  erst 
durch  vermittelnde  Gedanken  hindurch  als  Leitformel  für  pädagogische 
Arbeit  brauchbar  wird;  diese  vermittelnden  Gedanken  aber  fehlen  in 
der  Denkschrift.  Die  geistige  Bildung  soll  im  Gegensatz  zur  Fach- 
bildung „Allgemeinbildung"  sein.  Dies  Ideal  einer  allgemeinen  Bil- 
dung war  in  der  zurücklieg'enden  etwa  halbhundertjährigen  Entwicklung 
je  länger,  je  mehr  besonders  in  den  öffentlichen  Schulen  herrschend  ge- 
worden, so  daß  die  Weimaraner  auch  hier  nur  den  Inhalt  der  früheren 
Entwicklung  formulierten.  Der  Typus  der  Allgemeinbildung  war  dem 
Typus  entgegengesetzt,  der  in  den  Anfängen  des  höheren  Mädchenschul- 
wesens (während  der  letzten  Jahrzehnte  des  18.  und  im  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts)  herrschend  gewesen  war;  in  dieser  Zeit  war  das  Ziel 
der  Schule  eine  fachmäßige  Heranbildung  der  Mädchen  für  ihren  Haus- 
frauenberuf. Vgl.  Wychgram:  Geschichte  des  höheren  Mädchenschul- 
wesens (in  Schmid:  Geschichte  der  Erziehung  5,  II),  S.  245  fg.    Als  Motiv 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule.  l8l 

für  die  angestrebte  Allgemeinbildung  be<;eichnete  die  Denkschrift  die  ver- 
ständnisvolle Teilnahme  des  Weibes  für  die  höheren  Interessen,  an  die 
der  Mann  sich  hingebe.  Hier  macht  sich  spürbar,  daß  der  Begriff  der 
Persönlichkeit  nicht  genügend  entwickelt  wurde.  Sonst  hätte  der  Zweck 
der  Allgemeinbildung  zunächst  in  der  Persönlichkeit  des  Weibes  gesucht 
werden  müssen,  für  das  sein  Berufsleben  als  Lebensgenossin  des  Mannes 
nur  ein  Betätigungsgebiet  der  Persönlichkeit  neben  anderen  ist.  Auch 
das  muß  als  ein  Mangel  der  Denkschrift  bezeichnet  werden,  daß  zwar 
der  tief  wirkende  Einfluß  des  Weibes  auf  die  Erziehung  und  damit  auf 
die  Erhaltung  und  Förderung  der  sittlichen  und  geistigen  Kräfte  der 
Nation  anerkannt  wird,  daß  aber  aus  dieser  eminenten  Kulturaufgabe 
der  Frau  keine  normgebenden  Bestimmungen  für  die  Gestaltung  der  all- 
gemeinen Bildungsaufgabe  abgeleitet  werden.  Mit  Recht  lehnte  man  die 
Uniformierung  der  männlichen  und  weiblichen  Allgemeinbildung  ab; 
aber  man  gab  keine  ausreichenden  Bestimmungen  darüber,  worin  nun 
eben  die  weibliche  Ausprägung  dieses  Bildungstypus  bestehen  solle.  Es 
fehlen  auch  genauere  Erklärungen  über  die  ,,besondere  Begabung"  des  weib- 
lichen Seelenlebens,  an  dem  nur  der  Einfluß  des  Gefühlslebens  auf  das 
Urteil  hervorgehoben  wird.  Als  Hauptkennzeichen  der  Bildung  galt  ihr 
nationaler  Charakter;  zu  untersuchen  wäre  gewesen,  ob  sich  mit  diesem 
Charakterzuge  die  zwei  als  Schiboleth  geforderten  P>emdsprachen  ver- 
trugen. Stark  betont  wurde  die  wissenschaftliche  Natur  des  Unter- 
richts; wollte  man  hier  eine  der  Knabenbildung  „ebenbürtige"  Bildung 
erreichen,  so  hätte  man  sich  freilich  über  die  Mittel  klar  werden  müssen, 
durch  die  der  Ausfall  der  Mathematik  ausgeglichen  werden  sollte.  Die 
„Realien"  wurden  als  Grundlage  bezeichnet.  Konnten  sie  das  neben  den 
drei  Sprachen?  Die  Form  des  Unterrichts  sollte  „ästhetisch"  sein. 
Gewiß  eine  wertvolle,  aber  doch  eine  nur  teilweise  durchzuführende,  außer- 
dem eine  zum  „Spielen"  im  Unterricht  verleitende  Formel. 

In  der  Frage  der  Verwendung  weiblicher  Lehrkräfte  sprach  sich 
die  Denkschrift  grundsätzlich  für  das  Zusammenwirken  von  Lehrern  und 
Lehrerinnen  aus  (s.  o.).  In  der  Bewertung  der  Durchschnittsbildung  der 
I-ehrerinnen  entsprach  das  Urteil  dem  Tatbestande.  Dankenswert  war 
es,  wenn  die  Denkschrift  die  Verpflichtung  des  Staates,  „wohlaus- 
gestattete Seminare"  zu  fördern  und  die  Prüfungsforderungen  scharf  zu 
formulieren  und  ihre  Einhaltung  zu  überwachen,  nachdrücklich  betonte; 
ebenso,  wenn  sie  forderte,  daß  die  Prüfung  in  der  ausbildenden  Anstalt 
erfolge;  endlich,  wenn  sie  die  Verknüpfung  von  Seminar  und  höherer 
Mädchenschule  empfahl.  Daß  sie  den  Unterricht  in  den  wissenschaftlichen 
Fächern  wissenschaftlich  gebildeten  Lehrern  vorbehielt,  war  bei  der 
minderwertigen  Vorbildung  der  Lehrerinnen  um  so  natürlicher,  als  man 
für  die  höhere  Mädchenschule  eine  „wissenschaftliche"  Bildung  wollte, 
die  der  der  Knaben  ebenbürtig  war.  Wenn  man  dann  aber  die  Aus- 
dehnung   der  Mitwirkung    der  Lehrerinnen    von    „weiterer    Erfahrung" 


jg,  Hugo  Gaudig:   Höheres  Mädchenschulwesen. 

abhängig  machte,  so  konnU^  dies  Zuwarten  nur  dann  einen  Sinn  haben, 
wenn  man  den  Lehrerinnen  eine  andere  Form  der  Vorbildung  als  die 
seminarische  cröifnete,  die  zwar  nominell  die  Lehrbofähigung  für  höhere 
Schulen  gewährte,  ihrer  Natur  nach  aber  nicht  zu  wissenschaftlichem 
Unterricht  befähigen  konnte.  Man  lehnte  aber  in  Weimar  einen  Antrag 
Stöphasius  auf  Errichtung  von  „Akademieen"  für  Lehrerinnen  ab. 
Die  Berliner  3.    Die    Berliner    Denkschrift.     Die  Weimarer  Denkschrift    rief 

jlhrc'i'p?!""  eine    gleichfalls    den    deutschen    Staatsregierungen    überreichte    Gegen- 
denkschrift   des    „Berliner  Vereins    für    höhere   Töchterschulen"    hervor. 
In    den    beiden    Denkschriften    stoßen    zum    Teil    prinzipielle    Gegensätze 
aufeinander.      Die    Weimarer    Denkschrift    hatte    eine    „wissenschaftliche" 
Allgemeinbildung  besonders  im  Interesse  einer  erhöhten  Lebensgemein- 
schaft zwischen  Mann  und  Weib  angestrebt:  die  Berliner  Denkschrift 
gewinnt    die    Gesichtspunkte    für    die   Organisation   der  Bildung  vielmehr 
aus    dem    zukünftigen  Berufsleben  der  Mutter   und  Hausfrau,   dem   sie 
sogar  das  zehnte  Schuljahr  in  der  Weise  widmen  will,  daß  die  dem  Hause 
bereits  wieder   mit  einem    guten  Teil  ihrer  Zeit    und  Kraft   zugehörenden 
Mädchen    in   der  Schule    noch  „Kunstgeschichte    und   klassische  Literatur 
des  Auslandes,   Physik  und  Chemie  des  Hauses   und   der  Küche,  x\nthro- 
pologie  und  Gesundheitslehre,  Psychologie  und  Geschichte  der  Erziehungs- 
kunde,  Fröbelsche  Beschäftigungsspiele,    häusliche   Buchführung"  treiben. 
Dort    das  Ideal    der  geistig  durchgeschulten,    den    allgemeinen    (über  das 
Leben   im  Hause    überschießenden)  Interessen    zugewandte  „Gattin",    hier 
das  Leitbild  der  Mutter  und  Hausfrau.     Beides  gefährliche  Einseitigkeiten, 
da  der  Beruf  der  verheirateten  Frau  nur  als  ein  dreieinheitlicher  ge- 
faßt werden    darf.     Ihrem   Bildungsideale  gemäß  mußten  die  Berliner  ein 
zehntes    Schuljahr,     das    der     allgemeinen    Bildung    galt,    zurückweisen. 
Ebenso   konnten    sie    ihre    Forderungen    an    die  Wissenschaftlichkeit    der 
Lehrer  erheblich  niedriger  bemessen  als  die  Weimaraner.     Doch  forderte 
die  Berliner  Schrift  (darin  der  Weimarer  voraus)  für  die  „Oberlehrerinnen" 
besondere  „Lehrerinnenakademieen";  sie  zeigte  damit  einen  Weg,  auf  dem 
für    die    Oberstufe    brauchbare    wissenschaftliche    Lehrerinnen    gewonnen 
werden  konnten.     Den  Weimaranern  lag  der  Schwerpunkt  der  Schule  in 
der   intellektuellen  Bildung,   den  Berlinern  in  der  Erziehung.     Diese  ver- 
langten daher,    daß    der  höheren  Mädchenschule   der  Charakter  einer  er- 
weiterten Familie   nicht    genommen  werden   solle.     Das  Mädchen  tritt 
hier  gleichsam   nicht    aus  dem  Bannkreis  der  Familie  heraus:    die  Schule 
empfängt    das    IMädchen    aus    der    engeren    Familie,    gliedert  es   einer  er- 
weiterten   Familie    ein    und    führt    es    dann   in  die  Familie    zurück.     Ab- 
gesehen von    der    gefährlichen  Enge    dieses  Erziehungsideals,    beruht  die 
Idee    der    erweiterten    Familie    auf   einer    Fiktion.      Die    Schule,    der    die 
Schülerinnen  nur  auf  wenige  Stunden,  und  zwar  in  der  streng  gebundenen 
Situation    des  Unterrichts,    gehören,    kann    ihre  Aufgabe    nicht    in    einem 
Kopieren    des  Familienlebens  sehen,    sondern   in    einer  planmäßigen  Aus- 


Tl.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule.  l8^ 

bildung  des  ihr  eigenen  Grundverhältnisses  zwischen  Lehrer  und  Schüler; 
die  unmittelbjire  erziehHche  Einwirkung  der  Schule  wird  immer  gering 
bleiben;  um  so  größer  muß  die  mittelbare  erziehliche  Wirkung  sein,  die 
die  Schule  ausübt,  indem  sie  einerseits  der  Schularbeit  als  solcher  größt- 
mögliche Erziehung.skraft  sichert,  anderseits  das  Verhältnis  zwischen  dem 
Schüler  und  der  Ideenwelt  schafft  und  dieser  Ideenwelt  die  Einwirkung 
auf  den  ganzen  inneren  Menschen  im  Schüler  sichert.  —  Die  Lehrerin 
will  die  Berliner  Denkschrift  in  verstärktem  Maße  verwandt  sehen,  und 
zwar  wegen  ihres  sicheren  pädagogischen  Takts  und  der  reicheren  „Gabe 
des  divinatorischen  Erfassens  der  weiblichen  Natur". 

Das  Jahr  1873  brachte  der  Weimarer  Richtung  drei  wesentliche 
Eortschritte:  i.  gewann  sie  in  der  neubegründeten  Zeitschrift  für 
weibliche  Bildung  in  Schule  und  Haus  (Teubner)  ein  Organ  für  ihre 
Bestrebungen,  2.  berief  der  Minister  Falk  für  den  August  eine  Konferenz 
von  Mädchenlehrern  nach  Berlin,  und  diese  Konferenz  nahm  im  wesent- 
lichen die  Grundsätze  der  Weimarer  Versammlung  an,  3.  wurde  auf  der 
zweiten  Hauptversammlung  von  „Dirigenten,  Lehrern  und  Lehrerinnen 
an  höheren  Töchterschulen  in  Deutschland"  der  „Deutsche  Verein  von 
Dirigenten  und  Lehrern  der  höheren  Mädchenschulen"  gegründet. 

4.  Die  Berliner  Augustkonferenz  vom  Jahre  1873.  Bei  Die  ueriiaer 
der  Konferenz,  bei  der  übrigens  die  zugezogenen  sechs  Leiter  öffent- renz  vom  jähre 
lieber  höherer  Mädchenschulen  gegenüber  den  sieben  Vertretern  der 
Privatschulen  in  der  Minderzahl  waren,  wurde  der  „wissenschaftliche" 
Charakter  des  Unterrichts  an  der  höheren  Mädchenschule  festgehalten 
und  dadurch  der  artbildende  Unterschied  zwischen  der  höheren  Mädchen- 
schule und  der  Mittelschule  gewonnen.  Auch  in  der  stärkeren  Hervor- 
hebung der  ästhetischen  Seite  des  Unterrichts  und  in  der  Erstrebung 
der  formalen  Bildung  mittels  der  Sprachen  und  der  Geschichte  wurden 
unterscheidende  Merkmale  gefunden.  In  der  Denkschrift  war  die  Stel- 
lung der  Frauen  zu  dem  „Geistesleben"  der  Nation  als  ein  aneignendes 
Anteilnehmen  gedacht,  in  der  Konferenz  wurde  man  dahin  einig,  daß  die 
Frau  das  Geistesleben  der  Nation  „mit  den  ihr  eigentümlichen  Gaben" 
fördern  solle.  —  Das  einzige  wichtigere  Gebiet,  auf  dem  die  Weimaraner 
ihre  Meinung  nicht  durchzusetzen  vermochten,  war  das  der  Zusammen- 
setzung des  Lehrerkollegiums;  hier  geriet  die  Konferenz  in  einen 
Selbstwiderspruch.  Nachdem  man  soeben  die  höhere  Mädchenschule  von 
der  Mittelschule  durch  den  wissenschaftlichen  (besonders  auf  der  Oberstufe 
hervortretenden)  Charakter  des  Untercichts  unterschieden  hatte,  durfte  die 
Prüfung  für  Mittelschulen  nicht  die  Lehrer  zum  Unterricht  in  den  oberen 
Klassen  berechtigen.  Auch  durfte  nicht  das  Rektoratsexamen  zur  Lei- 
tung von  höheren  Mädchenschulen  befähigen.  —  Die  von  einer  Seite  im 
Interesse  der  Erziehung  erhobene  Forderung  einer  weiblichen  Spitze  an 
der  Mädchenschule  wurde  von  der  Mehrheit  abgelehnt.  Im  übrigen  sollte 
die  Prüfung  für  Vorsteherinnen  in  ähnlicher  Weise  geordnet  werden  wie 


i84 


Hugo  Gaudig:   Höheres  Madclienscluilwcscn. 


die  Rektoratsprüfung.  Für  die  Lehrerin  forderte  man  eine  verbesserte 
seminarische  Ausbildung,  die  lieschränkung-  der  Stundenzahl  auf  i8  bis 
20  Stunden  und  damit  den  Schutz  gegen  die  (infolge  des  übergroßen  An- 
gebots an  manchen  Privatschulen  bestehende)  Ausbeutung  der  Lehre- 
rinnen, ferner  bessere  Besoldungs-  und  Pensionierungsverhältnisse.  Eine 
höhere  als  die  seminarische  Ausbildung  wurde  nicht  ins  Auge  gefaßt.  — 
Die  Berliner  Konferenz  gab  den  Ansichten  der  Weimaraner  einen 
hohen  Geltungswert;  so  erklärt  sich,  daß  die  nun  einsetzende  Ent- 
wicklung im  Zeichen  der  ersten  Versammlung  in  Weimar  und  der 
Denkschrift  steht. 

Die  Verfassung,  die  sich  der  Verein  gab,  war  insofern  glücklich, 
als  der  Gründung  von  Zweigvereinen  in  den  einzelnen  Provinzen  und 
Ländern  der  größte  Wert  beigelegt  wurde.  So  gewann  man  zunächst 
eine  naturgemäße  Gliederung.  Indem  man  dann  aus  den  Wahlen  der 
Zweigvereine  den  „Weiteren  Ausschuß"  hervorgehen  ließ,  dessen  Geneh- 
migung entscheidende  Beschlüsse  der  Hauptversammlungen  bedurften, 
und  indem  man  den  leitenden  Vorstand,  den  „Engeren  Ausschuß",  durch 
den  Weiteren  Ausschuß  wählen  ließ,  machte  man  den  Verein  in  gewissem 
Grade  unabhängig  von  den  in  ihrer  Zusammensetzung  stark  wechselnden 
Hauptversammlungen.  Gut  nennt  Sommer  diese  Verfassung  „aristo- 
kratisch-demokratisch" („Die  Entwicklung  des  höheren  Mädchenschul- 
wesens" in  Wychgrams  Handbuch).  Im  übrigen  nahm  der  Verein  in  sich 
hinein  die  Gegensätze  der  Staatszugehörigkeit,  der  akademischen  und 
seminarischen  Lehrerbildung,  der  Lehrer  und  Lehrerinnen,  vor  allem  der 
öffentlichen  und  privaten  Schulen.  Diese  Gegensätze  hemmten  vielfach 
die  Aktionskraft  des  Vereins  und  führten  zu  inneren  Kämpfen.  Doch 
wird  man  anderseits  anerkennen  müssen,  daß  die  Kraft  der  einigenden 
Ideen  groß  genug  war,  um  dem  Vereine  den  Fortbestand  und  eine  reiche 
Wirkung  zu  sichern. 

In  den  nun  folgenden  Jahrzehnten  ordneten  eine  große  Zahl  von 
deutschen  Bundesstaaten  ihr  höheres  Mädchenschulwesen  im  Sinne  der 
Weimarer  Beschlüsse.  Vergl.  Nöldeke :  Von  Weimar  bis  Berlin  S.  30  fg. 
In  Preußen  dagegen  folgte  auf  die  schönen  Anfänge  des  Jahres  1873  ein 
peinlicher  Stillstand.  Die  einzige  größere  Aktion  der  Regierung,  der 
„Normtülehrplan  für  höhere  Mädchenschulen",  scheiterte  an  der  vernich- 
tenden Kritik  der  Weimaraner.  Näheres  bei  Nöldeke  a.  a.  O.  S.  ^s  %• 
und  Sommer  a.  a.  O.  S.  33  fg. 

Eine  Frage  von  größter  Trag\veite  war  die  Frage  der  Stellung  der 
Lehrerinnen  im  Kollegium  der  höheren  Mädchenschulen.  Der  entschei- 
dende Streitpunkt  trat  bei  der  fünften  Hauptversammlung  des  Vereins  in 
Köln  (1876)  mit  aller  Schärfe  heraus.  In  der  These  ...  „Auch  zu  dem 
Unterrichte  in  den  oberen  Klassen  ist  die  Mitwirkung  wissenschaftlicher 
Lehrerinnen  unentbehrlich"  wurde  das  Wort  „unentbehrlich"  zum  Gegen- 
stand leidenschaftlicher  Kämpfe,  deren  Ergebnis  das  Kompromißwort  „wün- 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule. 


185 


sehenswert"  war.  Bei  der  Normierung  der  Ansprüche,  die  an  die  auf  der 
Oberstufe  unterrichtende  Lehrerin  zu  stellen  seien,  drang  gegen  mancherlei 
Herabdrückungsversuche  schließlich  der  Antrag  durch,  der  die  Forderungen 
auf  das  von  den  Realschullehrem  erster  Ordnung  geforderte  „Maß  von 
Kenntnissen"  normierte.  So  wahrte  der  Verein  den  wissenschaftlichen 
Charakter  des  Unterrichts  an  der  höheren  Mädchenschule;  freilich  war 
der  Antrag  z.  Z.  eine  Prohibitivbestimmung,  da  ein  Weg  für  die  Erlangung 
der  geforderten  Befähigung  nicht  vorhanden  war. 

5.  „Die  höhere  Mädchenschule  und  ihre  Bestimmung"  von  „nie  h»iiprc 
H.  Lange.  In  der  Folgezeit  wird  für  unsere  Frage  von  weittragender  Be-  von "^h!  Lange" 
deutung  eine  Schrift  von  H.  Lange:  „Die  höhere  Mädchenschule  und  ihre 
Bestimmung",  die  Begleitschrift  zu  einer  Petition  an  das  preußische  Unter- 
richtsministerium und  das  preußische  Abgeordnetenhaus.  Die  Petition  ent- 
hielt die  ihrer  Natur  nach  eng  miteinander  verbundenen  Anträge  auf  eine 
größere  Beteiligung  der  Lehrerinnen  an  dem  wissenschaftlichen  Unterricht 
auf  der  Mittel-  oder  Oberstufe  der  öffentlichen  höheren  Mädchenschulen 
und  auf  Gründung  von  staatlichen  Ausbildungsanstalten  für  wissenschaftliche 
Lehrerinnen  in  den  Oberklassen.  Begründet  wurden  diese  Anträge  durch 
eine  Kritik  der  Ergebnisse  des  Weimarer  Systems  und  dieses  vSystems 
selbst.  Die  Kritik  der  Ergebnisse  wird  in  den  zwei  Sätzen  zusammen- 
gefaßt: I.  Die  höheren  Mädchenschulen  bilden  und  erziehen  nicht,  2.  sie 
überbürden  mit  positivem  Stoff,  ohne  das  Sclbstdenken  ernsthaft  in  An- 
spruch zu  nehmen  und  ein  fortleitendes  Interesse  zu  erwecken;  ist  der 
gedächtnismäßig  angeeignete  Stoff  dem  Gedächtnis  entschwunden,  so 
bleibt  nur  das  dünkelhafte  Gefühl  des  Gehabthabens  und  der  Kritikfähig- 
keit. Die  didaktische  Unzulänglichkeit  erklärt  die  pädagogische  zu 
einem  Teil;  zum  anderen  wird  der  erziehliche  Mißerfolg  aus  der  Unbe- 
kanntschaft der  Lehrer  mit  dem  Gedanken-  und  Pflichtenkreis  der  Mäd- 
chen abgeleitet.  Die  Überbürdung  aber  hat  ihren  Grund  „in  dem  zu  um- 
fassenden Lehrprogramm  der  Augustkonferenz,  in  dem  Bestreben  des 
Abschließens  und  Fertigmachens";  „die  tiefere  Ursache"  dieser  Erschei- 
nungen aber  erblickt  die  Verfasserin  in  der  Grundanschauung  der  Wei- 
maraner  von  der  Frau;  nach  dieser  Anschauung  solle  die  Frau  nicht  um 
ihrer  selbst  willen,  sondern  um  des  Mannes  willen  gebildet  werden;  dem- 
gemäß sei  „die  geistig  unselbständigste  Frau"  die  beste,  da  sie  am  ersten 
dafür  Gewähr  biete,  den  Interessen  des  Mannes  Wärme  des  Gefühls  ent- 
gegenzubringen. Unter  der  falschen  Richtung  der  Schulen  leide  aber 
auch  die  werdende  Generation,  deren  Erziehung  die  große  Kulturaufgabe 
der  Frau  sei;  denn  nur  eine  sittlich  und  geistig  selbständige  Persönlich- 
keit sei  zur  Erziehung  befähigt.  Positiv  fordert  die  Verfasserin  statt  des 
bisherigen  Prinzips  des  Abschließens  und  Fertigmachens  das  der  „Kraft- 
bildung". Im  Anschluß  an  die  Schule  soll  die  Möglichkeit  der  Fort- 
bildung gegeben  werden;  im  Vordergrund  sollen  dabei  Literatur  und 
Geschichte,  Pädagogik  und  Naturwissenschaften,  sowie  Arbeit  im  Kinder- 


j8(j  Hi'c.o  Gaudio:   Höheres   Mädchensihiilwescn. 

garten  stehen.  Die  zweite  positive  Forilcrung'  der  Schritt  q(>ht  dahin,  in 
der  höheren  Mädchenschule  den  Frauen  den  entscheidenden  Einfluß 
zu  g-c\vähren,  indem  man  ihnen  die  ethischen  Fächer,  in  denen  erzogen 
werden  soll  (Religion,  Deutsch,  Grcschichte),  und  die  Schulleitung-  über- 
trägt. Die  Begründung  dieser  F'orderung  ist  folgende:  i.  „Die  Frau  bringt 
den  Mädchen  mehr  Liebe  und  mehr  Interesse  entgegen  als  der  Mann"; 
2.  hat  die  Frau  „ein  ganz  anderes  Verständnis  für  die  Mädchen  als  der 
Mann".  („Nichts  ist  für  eine  erfahrene  Frau  leichter  zu  ckirchschauen  als 
die  Seele  eines  jungen  Mädchens.")  3.  Der  Lehrerin  steht  eine  ganz 
andere  Art  des  Verkehrs  mit  dem  Mädchen  frei;  der  Verkehr  zwischen 
Lehrern  und  Schülerinnen  kann  Gefahr  laufen  durch  die  Einwirkungen 
der  Andersgeschlechtigkeit  von  Erzieher  und  Zögling.  4.  Nur  die  Frauen 
vermögen  zu  „echt  weiblicher  Sitte"  zu  bilden.  5.  Die  Frauen  vermögen 
besser  als  der  Mann  die  ethischen  Werte  der  Lehrstoffe  zur  Wirkung  zu 
bringen  und  warme  Religiosität  mit  ins  Leben  zu  geben. 

Die  Motivierung  des  zweiten  Antrags  der  Petition  (Beschaffung  von 
Bildungsanstalten  für  Lehrerinnen  an  Oberklassen)  wird  wiederum  kritisch 
eingeleitet:  der  Lehrerin  fehlt  zur  Zeit  die  wissenschaftliche  Bildung,  deren 
sie  zur  Erziehung  heranwachsender  Mädchen  bedarf;  die  Seminarbildung 
hat  sie  nicht  zum  Studium  befähigt.  Sodann  widerlegt  die  Schrift  die 
Bedenken  gegen  eine  gründlichere  Ausbildung  der  Frau,  die  aus  der 
Minderwertigkeit  ihrer  geistigen  Begabung,  aus  der  ihrer  Gesundheit 
drohenden  Gefahr  und  aus  der  Schädigung  ihrer  „Weiblichkeit"  hergeleitet 
werden.  Für  die  wissenschaftliche  Bildung  der  Lehrerin  lehnt  die  Ver- 
fasserin die  Universitäten  ab,  weil  ihnen  Wissenschaft  „Selbstzweck"  sei, 
und  sie  „die  Befähigung  zu  der  höchsten  Stufe  wissenschaftlicher  Forschung" 
geben  wollten;  statt  der  Universität  empfiehlt  sie  mit  einem  Internat  ver- 
bundene, unter  Frauenleitung  stehende  „Hochschulen",  in  denen  die  im  Mittel- 
punkt der  Ausbildung  stehenden  ethischen  Fächer  gleichfalls  Frauen 
übergeben  wären.  Als  Unterrichtsform  wird  neben  die  „Vorlesung"  die 
„Unterrichtsstunde"  gestellt.  Als  Ziel  der  Ausbildung  gilt  das  Bekannt- 
machen mit  den  Methoden,  die  den  Erwerb  selbständigen  Wissens  ermög- 
lichen, die  Vermittlung  der  Quellenkenntnis  und  die  Bildung  des  eigenen 
Urteils.  Die  Kursusdauer  ist  dreijährig;  den  Abschluß  bildet  ein  von 
Lehrern  der  Anstalt  abzunehmendes,  auf  die  Ermittlung  der  inneren  Durch- 
bildung gerichtetes  Examen. 
Beurteilung  der  jn  dieser  vSchrift  sind  Gedanken  der  tüchtigsten  Vorkämpferinnen  der 

Frauenbildung  (Betty  Glcim,  Tinette  Homberg,  Luise  Büchner,  Rosette 
Niederer)  verwertet;  zugleich  ist  sie  vielfach  der  Ausdruck  der  in  den 
Kreisen  der  Frauenbewegung  herrschenden  Anschauungen;  endlich  haben 
die  hier  ausgesprochenen  Meinungen  in  der  Folgezeit  großen  Einfluß,  teil- 
weise eine  axiomatische  Gültigkeit  gewonnen.  —  Bildung  der  Frau  um 
des  Mannes  willen  —  Bildung  der  Frau  um  ihrer  selbst  willen,  so  formu- 
liert  sich   der  Gegensatz,    der   nach  H.  Lange   zwischen  den  Weimaranern 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Mädchenschule.  igy 

und  ihr  besteht.  Sie  wäre  völlig  im  Recht  gewesen,  wenn  sie  das  Bildungs- 
motiv der  Weimaraiior  als  einseitig  abgelehnt  hätte;  sie  —  und  ihre  zahl- 
losen Xachsprccherinnen  —  sind  im  Unrecht,  wenn  sie  dies  Biklungsmotiv 
ganz  ausschalten  oder  herabsetzen:  die  Bildungsgemeinschaft  desWeibes 
mit  dem  Manne  muß  für  jeden  Erzieher,  dem  die  Ehe  als  Lebensgemein- 
schaft zweier  sittlichen  Personen  ein  Grundpfeiler  unseres  Gesellschafts- 
gebäudes ist,  als  ein  normgebendes  Ziel  gelten.  Daß  die  Weimaraner  es 
anerkannten,  der  Mann  bedürfe  der  Bildungsgemeinschaft  mit  seinem 
Weibe,  ist  einer  ihrer  Ehrentitel.  In  Anerkennung  dieses  Bedürfnisses  suchten 
sie  die  weibliche  Bildung  aus  der  Enge  der  „Töchterschulbildung"  in  die 
Freiheit  einer  „wissenschaftlichen"  Allgemeinbildung  zu  führen,  die  ihre 
inhaltlichen  Bestimmungen  in  sich  selbst  und  nicht  in  den  Wünschen  des 
^lanncs  hat.  Mit  Recht  betont  H.  Lange  —  anders  als  die  Weimaraner  — 
die  Erziehungsarbeit  der  Frau  als  große  Kulturaufgabe,  von  der  aus  die 
Erziehungsarbeit  an  der  zukünftigen  Frau  maßgebend  beeinflußt  werden 
müsse;  aber  „die"  Aufgabe,  die  Aufgabe  schlechthin  ist  es  nicht.  Sie  ist 
auch  in  der  Ehe  gar  nicht  außerhalb  der  Lebens-  und  Bildungsgemein- 
schaft mit  dem  Manne  zu  lösen.  —  „Um  des  Mannes  willen"  —  „um  ihrer 
selbst  willen" :  dort  erzwungene  Hingabe,  hier  egoistische  Selbsterziehung. 
Die  rechte  Formel  kann  nur  in  der  Idee  einer  Persönlichkeit  gefunden 
werden,  die  auch  im  selbstlosen  Handeln  sich  selbst  auswirkt  und  in  der 
Selbstgestaltung  die  Zwecke  der  anderen  (des  Mannes,  der  Kinder)  verfolgt. 
—  Im  Prinzip  richtig,  wenn  auch  stark  übertrieben,  ist  das,  was  H.  Lange 
über  die  Unterrichtsergebnisse  der  höheren  Mädchenschulen  sagt.  Irrig 
ist  aber  der  konstruierte  Zusammenhang  zwischen  diesen  Ergebnissen  und 
der  Grundanschauung  der  Weimaraner  über  die  Frau,  da  diese  ihr  Inter- 
esse an  der  denkenden  Frau  scharf  betont  hatten;  irrig  ist  auch  die 
Meinung,  das  durch  die  Augustkonferenz  zu  reich  bemessene  Pensum  trage 
die  Schuld;  allenfalls  die  Anforderungen  in  den  Literaturen  gingen  zu  weit 
Die  Schuld  trug  —  die  Arbeitsweise  der  höheren  Bildungsanstalten  im 
allgemeinen,  wie  sie  sich  namentlich  unter  dem  Einfluß  der  Prüfungen  aus- 
gebildet hatte.  Positives  Wissen,  nicht  positives  Können  war  das  Ziel, 
Aufspeicherung  von  Kenntnissen,  nicht  Bildung  geistiger  Kraft.  Die 
Weimaraner  hatten  die  Schulung  der  Geisteskräfte  stark  betont.  Um  aber 
jenes  fortleitende  Interesse  und  jene  in  selbsttätiger  Fortbildung  sich  be- 
währende „Kraftbildung"  zu  erzielen,  hätten  sie  nicht  mehr  und  nicht 
minder  leisten  müssen  als  —  eine  Umwälzung  des  Unterrichtsverfahrens 
an  den  höheren  Schulen.  Würde  die  Frauenbewegung  nach  dem  grund- 
legenden Prinzip  „Kraftbildung"  den  Unterricht  in  der  höheren  Mädchen- 
schule haben  gestalten  helfen,  so  hätte  .sie  sich  ein  großes  Verdienst 
erworben;  statt  dessen  wird  die  Neigung  herrschend,  die  höhere 
Mädchenschule  nach  dem  Muster  der  Knabenanstalten  umzubilden;  da- 
mit aber  ist  der  eminent  fruchtbare  Gedanke  der  Langeschen  Schrift  auf- 
gegeben. 


iSS  Hur,o  GAunio:   Ilölirrcs  Mädchenscliulwescn. 

Die  erste  Hauptforderung-  der  Schrift,  den  Frauen  die  erste  Stelle 
bei  der  Bildung  der  Mädchen  einzuräumen,  baut  H.  Lange  vor  allem  auf 
der  Behauptung  auf,  der  Frau  eigne  ein  tieferes  Verständnis  für  das 
Mädchen  als  dem  Manne.  „Frau"  —  „Mann":  dieser  abstrakte  Geschlechts- 
gegensatz ist  bezeichnend  für  die  Behandlung  der  Frage.  Man  übersieht, 
daß  dieser  Gegensatz,  da  in  Übereinstimmimg'  mit  der  Weimarer  Denkschrift 
unverheiratete  Lehrer  gemeinhin  auszuschließen  sind,  sich  in  den  Gegensatz 
zwischen  unverheirateter  Lehrerin  und  verheiratetem  Lehrer  auflöst,  daß  mit- 
hin der  Lehrerin,  die  vielfach  außer  dem  Familienzusammenhange  leben  muß, 
der  Lehrer  gegenübersteht,  der  in  der  Familie  ein  sich  immer  vertiefendes 
Verständnis  für  die  innere  Natur  der  Familie,  vor  allem  auch  für  das 
Weib,  das  Kinder  gebiert  und  erzieht,  gewinnen  wird,  der  als  gereifter 
Mann  die  Entwicklung  des  Seelenlebens  eigener  Kinder  im  vorschul- 
pflichtigen Alter  studieren  und  das  schulpflichtige  Kind  nach  seinem  ge- 
samten Körper-  und  Seelenleben  beobachten  kann.  Und  noch  eins  sei 
bemerkt:  In  unserer  Zeit,  der  Zeit  scharfsinniger  psychologischer  Be- 
obachtung und  Analyse,  tut  man  gut,  nicht  aus  der  Mädchenseele  ein 
Mysterium  zu  machen,  das  nur  „divinatorisch"  und  nur  par  pari  erkannt 
werden  kann.  Wohl  tut  eindringliches  psychologisches  Studium  und  tüch- 
tige Übung  im  Beobachten  des  seelischen  Lebens  dringend  not;  aber 
Lehrern  und  Lehrerinnen  in  gleicher  Weise.  Beim  Gewinnen  der  charak- 
terologischen  Urteile  wird  das  eine  Geschlecht  den  Vorzug  schneller 
Auffassung  des  Materials,  das  andere  den  Vorzug  besonnener  Deutung 
haben. 

Was  H.  Lange  zur  Verteidigung  des  Studiums  der  Lehrerinnen  sagt, 
ist  inzwischen  durch  die  Tatsachen  erhärtet.  Die  Wege  zur  Vorbildung 
der  wissenschaftlichen  Lehrerin,  die  H.  Lange  vorschlägt,  ist  man  in  vielen 
Stücken  in  der  Folgezeit  nicht  gegangen:  Mit  Recht  ist  die  englische 
Einrichtung  des  Internats  nicht  aufgenommen:  Der  Lehrerin,  die  in  das 
Verständnis  von  Welt  und  Leben  einführen  soll,  gebührt  die  freie  Be- 
wegung im  Gegenwartsleben.  Dagegen  ist  die  Nichtbeachtung  zweier 
anderer  organisatorischer  Gedanken  ein  ernster  Verlust.  Mit  vollem 
Recht  forderte  H.  Lange  in  Übereinstimmung  mit  Cauer  einen  der  weib- 
lichen Natur  gemäßen,  nicht  durch  die  Stoffe,  sondern  durch  die  Methode 
von  dem  Bildungsgang  der  Männer  unterschiedenen  Bildungsgang,  dessen 
Ergebnis  keine  „abgeschwächte  Kopie",  sondern  ein  ursprünglicher,  eigen- 
artiger geistiger  Typus,  der  Typus  der  wissenschaftlich  gebildeten  Frau, 
sein  würde.  Ebenso  war  es  ein  wertvoller  Gedanke,  daß  als  Ziel  der 
Arbeit  der  Erwerb  der  Methoden,  zu  selbständigem  Wissen  zu  gelangen, 
hingestellt  und  demgemäß  die  „Vorlesung"  als  vornehmste  Lehrform  ab- 
gelehnt wurde.  Wer  für  die  Schule  bereits  „Kraftbildung"  fordert,  kann 
naturgemäß  für  wissenschaftliche  Studien  nur  ein  Ziel  kennen:  Bildung 
wissenschaftlicher  Kraft  durch  wissenschaftliches  Arbeiten. 

Die  Gedanken    der  Petition  fanden  in  der  Folgezeit  eine  starke  Ver- 


II.  Zur  Geschichte  der  höheren  Miidchenschulc.  igg 

tretung  ii\  dem  1900  gegründeten  Allgemeinen  Deutschen  Lehrerinnen- 
verein, dessen  allgemeine  Forderungen  auf  eine  stärkere  Beteiligung  der 
Lehrerinnen  an  der  Volksbildung  und  die  dazu  erforderliche  bessere  Aus- 
bildung gehen. 

Das  Jahr  1894  schien  durch  die  gesetzliche  Regelung  des  höheren 
Mädchenschulwesens  in  Preußen  für  die  Geschichte  des  höheren  Mädchen- 
schuhvesens  epochemachend  werden  zu  sollen.  In  Wahrheit  bedeuten 
die  Bestimmungen  vom  31.  Mai  1894  eine  schwere  Hemmung  in  der  Ent- 
wicklung des  höheren  Mädchenschulvvesens.  Im  schroffen  Gegensatz  zu 
der  Tatsache,  daß  eine  große  Zahl  namentlich  öffentlicher  höherer  Mäd- 
chenschulen einen  zehnjährigen  Kursus  hatte,  im  strikten  Widerspruch 
zu  der  von  Anfang  an  durch  den  Allgemeinen  Deutschen  Verein  fest- 
gehaltenen Forderung  (s.  o.  S.  176),  in  völliger  Verkennung  des  hervor- 
ragenden Wertes  eines  10.  Schuljahres,  ohne  das  eine  Vertiefung  in  die 
für  den  Frauengeist  besonders  wertvollen  Bildungsstoffe  und  Erziehung 
der  Mädchen  zu  selbsttätiger  Bildungsarbeit  ein  Unding  ist,  —  im  Wider- 
spruch endlich  mit  dem,  was  die  Frauenbewegung  fordern  mußte,  legten 
„die  Bestimmungen"  den  neunjährigen  Kursus  ;ds  das  Normale  fest,  in- 
dem sie  dabei  den  bereits  bestehenden  zehnstufigen  Anstalten  erlaubten, 
das  Pensum  der  drei  letzten  Jahre  auf  vier  zu  verteilen.  In  dieser  Nor- 
mierung gelangten  wiederum  Berliner  Einflüsse  zur  Wirkung,  wie  sie  be- 
reits in  der  Berliner  Denkschrift  (s.  o.)  und  bei  dem  Normalplan  v.  J. 
1886  wirksam  gewesen  waren.  Die  Motivierung  der  Verkürzung  des 
Kursus  mit  der  „starken  Anforderung  an  die  geistigen  und  an  die  körper- 
lichen Kräfte"  während  der  neun  Schuljahre  stand  obenein  im  Wider- 
spruch mit  der  späteren  Erklärung,  die  Bestimmungen  hätten  die  neun- 
jährige Kursusdauer  vorgeschrieben,  damit  die  Schülerinnen  „zeitig  genug" 
in  bestimmte  Berufsbildung  übergehen  könnten. 

An  die  Stelle  eines  vollen,  die  gesamte  Schulentwicklung  krönenden 
10.  Jahres  setzten  die  Bestimmungen  „wahlfreie  Kurse";  diese  Einrichtung, 
in  der  die  ungleich  wertvollere  Idee  des  Fortbildungsjahres  der  Berliner 
Denkschrift  in  verschlechterter  Form  wiederkehrt,  war  nie  lebensfähig;  sie 
war  nichts  als  ein  stilwidriges  Ornament  am  Bau  der  höheren  Mädchen- 
schule. —  Daß  eine  Schule,  die  nur  um  ein  Jahr  mehr  Bildungszeit  hat, 
als  die  gehobene  Bürgerschule,  nicht  als  höhere  Lehranstalt  anerkannt 
wurde,  war  folgerichtig,  bedeutete  aber  für  die  höhere  Mädchenschule 
den  Verzicht  auf  eine  sehr  wichtige  Entwicklungsbedingung.  Die  Be- 
stimmungen waren  ohne  eine  zulängliche  Verwertung  des  fachwissen- 
schaftlichen Rats  entworfen:  das  Urteil  der  Fachvertreter  über  die  Kursus- 
dauer und  damit  über  die  Bildungshöhenlage  in  den  Bestimmungen  war 
scharf  ablehnend. 

Anzuerkennen  war  im  Lehrplan  und  den  methodischen  Bemerkungen 
(besonders  bei  den  Fremdsprachen,  aber  auch  sonst)  die  Berücksichtigung 
der    neueren  Didaktik.     Die   Gesamtanlage    des   Lehrplans  entsprach   der 


jQQ  Hugo  Gauuu;  :   Höheres  Mädchenscluilwcsen. 

Weimarer  Denkschrift;  so  zeigt  er  auch  die  geringe  Betonung  der  Mathe- 
matik und  der  Naturwissenschaften,  den  „ästhetischen"  Charakter. 

Den  Lehrerinnen  brachten  die  Bestimmungen  außer  dem  verlorenen 
Posten  der  „Gehilfin"  des  Direktors  die  Aussicht  auf  stärkere  Verwendung 
bis  zur  Oberstufe  und  'die  Einführung  einer  wissenschaftlichen  Prü- 
fung für  Lehrerinnen.  Zulassungsbedingung  war  eine  fünfjährige  Unter- 
richtspraxis und  ein  zwei-  bis  dreijähriges  Studium  an  der  Universität  oder 
in  besonderen  Kursen.  Erhöht  und  den  Anforderungen  an  Oberlehrer 
wesentlich  angenähert  \\jurde  die  Prüfungsordnung  im  Jahre  igoo,  und 
zwar  unter  dem  Einfluß  Stephan  Wätzoldts,  des  regen  Förderers  intensiver 
Frauenbildung-. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  ist  die  Diskussion  über  die  höhere  Mädchen- 
schule stark  beeinflußt  durch  die  vom  Allgemeinen  Deutschen  Frauen- 
verein, besonders  aber  (seit  1888)  von  dem  Verein  „Frauenbildung-Frauen- 
studium" geförderte  Bewegung  zugunsten  des  akademischen  Studiums  der 
Frauen.  Solange  nur  dem  Gymnasiasten  die  völlig  freie  Studienwahl 
offenstand,  war  das  Abiturientenexamen  des  Gymnasiums  das  Ziel  der 
unterrichtlichen  Veranstaltungen  zugunsten  der  Mädchen,  die  studieren 
wollten;  seit  der  Gleichstellung  aller  drei  höheren  Knabenschulen  hat 
man  sich  meist  für  realgymnasiale  Vorbildung  entschieden;  neuerdings 
wird  auch  der  Typus  der  Oberrealschule  in  Betracht  gezogen.  Der  An- 
schluß an  die  höhere  Mädchenschule  ist  zweifacher  Art:  bei  den  „Kursen", 
die  drei  bis  vier  Jahre  umfassen,  vollzieht  er  sich  an  die  volle  neunstufige 
Schule,  bei  den  Mädchengymnasien  an  die  Mittelstufe  (das  6.  oder  7.  Schul- 
jahr). Die  Anhänger  und  Anhängerinnen  der  Koedukation  verzichten 
ganz  auf  die  Vorarbeit  der  höheren  Mädchenschule.  Für  diese  ganze 
Strömung  ist  einerseits  eine  scharfe  Kritik  der  höheren  Mädchenschule 
und  andererseits  ein  Mangel  an  schöpferisch -organisatorischen  Gedanken 
bezeichnend. 

in.  Das  Mädchenschulwesen  der  Gegenwart. 
Schwierigkeit  I.   Prinzipielles  zur  Begründung-  des  Erziehungsideals.     Über 

"die\B'he"e "  den    Kulturwert    und    die    Kulturaufgabe    der    höheren    Mädchen- 

Mädchenschule.  .  ,.  .  ,..  ^-^  tt^m-i 

schule  m  der  Gegenwart  zu  urteuen,  ist  schwierig.  Das  Urteil  über 
ihren  Wert  ist  schwer  zu  gewinnen,  weil  einerseits  das  Maß  ihrer  Lei- 
stungen schwer  festzustellen  ist,  und  weil  andrerseits  über  den  Maßstab 
für  die  kulturelle  Bewertung  dieser  Leistungen  zurzeit  keine  Überein- 
stimmung besteht.  Der  höheren  Mädchenschule  fehlt  jene  Veranstaltung, 
die  zwar  in  ihrer  gegenwärtigen  Form  äußerst  verbesserungsbedürftig  ist, 
die  aber  doch  im  gewissen  Sinne  zur  Feststellung  der  Leistungen  einer 
Schule  sich  eignet:  die  Abschlußprüfung.  Wichtiger  ist  noch  das  fast 
gänzliche  Fehlen  eines  "zweiten  Prüfsteins  der  Leistungen,  die  Bewährung 
in  Berufen,  die  sich  auf  der  von  der  Schule  übermittelten  Bildung  auf- 
bauen und  so  für  oder  gegen  die  Tüchtigkeit  der  Schularbeit  Beweis  er- 


III.   Die  Gegenwart,      i.    Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erzichungsideals.  lui 

bringen.  Sehr  erschwerend  kommt  noch  hinzu,  daß  „höhere  JMädclien- 
schule"  im  Grunde  kein  Individualbegriff,  der  Begriif  eine.s  bestimmten 
Schulindividuums,  sondern  ein  Sammelbegriff  ist,  der  in  sich  Schulgestal- 
tungen schließt,  die  nach  der  Zahl  der  Schuljahre,  der  Zahl  der  selbstän- 
digen Klassen,  dem  Lchrplan,  der  Zusammensetzung  der  Unterrichts- 
kürper,  der  staatsrechtlichen  und  verwaltungsrechtlichen  Stellung  ein- 
schneidende Verschiedenheiten  aufweisen. 

Der  Urteiler  und  der  Urteileriuncn,  die  ihr  Urteil  über  die  höhere 
Mädchenschule  abgeben,  sind  der  Zahl  nach,  vor  allem  aber  nach  ihrer 
Stellung  im  Kulturleben  der  Gegenwart  sehr  viele.  Charakteristisch  ist  in 
der  Gegenwart  für  die  Beurteilung  der  Schule  die  „Öffentlichkeit"  der 
Urteile.  Diese  Öffentlichkeit  hat  die  Beurteilung  durch  die  „Frauen- 
bewegung" gewonnen,  die  naturgemäß  ein  großes  Interesse  an  der  Schule 
nehmen  mußte,  die  bisher  fast  ausschließlich  den  Frauen  eine  höhere  Bil- 
dung vermittelte.  Die  Beurteilung  der  höheren  Mädchenschule  in  öffent- 
lichen und  in  Vereinsversammlungen,  auch  in  solchen  mit  agitatorischem 
Charakter,  ist  eine  Zeiterscheinung.  Die  Verhandlungen  in  den  Parlamenten 
endlich  bringen  die  Beurteilung  vor  die  breiteste  Öffentlichkeit. 

Die  Maßstäbe  des  Urteils  sind  sehr  verschieden.  Nicht  nur  über  das 
Maß,  sondern  auch  über  die  Art  der  Forderungen,  die  an  eine  höhere 
Frauenbildung  zu  erheben  sind,  herrschen  die  größten  Meinungsverschieden- 
heiten. Der  letzte  Grund  dieser  Verschiedenheiten  liegt  in  der  Verschie- 
denheit des  Frauenideals,  das  als  Leitbild  für  die  Urteile  der  einzelnen 
Gruppen  bestimmend  ist.  Nach  dem  Ideal  der  Frau  formt  sich  natur- 
gemäß das  Ideal  der  Frauenbildung.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  sind 
die  Kämpfe  um  die  Frauenbildung  zu  verstehen.  Die  Leidenschaftlichkeit 
dieser  Kämpfe  ist  eine  signatura  temporis;  unsere  Zeit  bekundet  sich  in 
diesen  Kämpfen  als  eine  Zeit  der  Umbildung  der  Kulturideale. 

Noch  auf  ein  Moment  sei  hingewiesen,  das  bedacht  sein  muß,  wenn 
man  zu  einem  Urteil  über  die  Beurteilungen  der  höheren  Mädchenschule 
kommen  will:  Unsere  Zeit  sucht  nicht  nur  ein  neues  Ideal  der  Frauen- 
bildung, sondern  ein  Ideal  der  Bildung  überhaupt.  Die  Unzufriedenheit 
mit  den  höheren  Schulen,  die  man  als  Schulmann  nicht  wegleugnen  kann, 
ist  Symptom  für  das  Ringen  unserer  Zeit  nach  neuen  Bildungszielen, 
Bildungswegen,  Bildungsanstalten.  Das  Neben-  und  Ineinander  der  beiden 
Strömungen  muß  sorgfältig  untersucht  werden. 

Um  einen  Ausgangspunkt  für  die  Untersuchungen  über  die  Kultur-  D"  Verlangen 
Stellung    der    höheren    Mädchenschule    zu   gewinnen,    weise    ich    auf  eine  liehen. Leben ai. 
.große  Sehnsucht  hin,   die   unsere  Zeit  beherrscht,   und   in   der  sich  alle     J^'^r^'unre""  ' 
die    einig    wissen,   auf  deren  Zusammenwirken   man   im  Interesse   idealer 
Emporbildung  Wert  legen  muß;   ich   meine   die  Sehnsucht  nach  Persön- 
lichkeit,   nach    Persönlichkeiten.     An    dem    Begriff    „Persönlichkeit", 
einem  WertbegrifF  allerhöchster   Ordnung,   kann    ein    Richtmaß   gewonnen 
werden,  wie  wir  es  für  die  Beurteilung  der  verworrenen  Frage  der  Frauen- 


JQ2  Hugo  Gaudig:  Höheres  MSdchcnscliulwcsen. 

bildung   gebrauchen;   er   wird    zur  Wegscheide    werden,   an  der  sich  die 
Meinungen  trennen. 

Die  Sehnsucht  nach  Persönlichkeit  erklärt  sich  aus  dem  die  nun  ab- 
laufende Kulturperiode  kennzeichnenden  Mangel  an  persönlichem  Wesen 
und  der  von  der  heraufsteigenden  Kulturperiode  erhobenen  Forderung  persön- 
lichen Seins.  Das  vorige  Jahrhundert  in  seiner  zweiten  Hälfte  kennzeichnet 
sich  durch  eine  außerordentliche  Steigerung  der  äußeren  Kulturgüter  und  des 
intellektuellen  Besitzes;  jene  verdanken  wir  dem  unerhörten  Aufschwung  der 
Technik,  diese  dem  erstaunlichen  Aufblühen  der  Wissenschaften.  Aber 
sowohl  die  äußeren  wie  die  geistigen  Kulturgüter  schädigten  das  Personen- 
leben in  gefährlicher  Weise:  der  Erwerb  dieser  Güter,  besonders  der 
ersteren,  nahm  den  Menschen  so  in  Beschlag,  daß  ihm  für  die  Entwicklung 
und  Pflege  seiner  Persönlichkeit  nicht  Zeit  noch  Kraft  blieb;  er  wurde 
ein  Diener  der  Kulturgüter,  deren  Herr  er  sein  sollte.  Wie  der  Erwerb 
das  persönliche  Leben  schädigte,  so  der  Genuß;  auch  hier  kein  freies 
Verfügen  im  Dienste  persönlichen  Lebens,  sondern  ein  Abhängigsein  von 
dem,  was  höherem  Zweck  dienen  soll.  Aber  nicht  nur  die  äußeren  Güter 
wurden  nicht  angeeignet  (assimiliert),  auch  der  geistige  Erwerb  des  Jahr- 
hunderts. Die  Wissenschaft  warf  eine  Fülle  von  Stoff  in  die  Köpfe,  der 
gleichfalls  nicht  innerlich,  nicht  persönlich  assimiliert  wurde.  So  ist  der 
Typus  des  Menschen,  der  mehr  Kulturgüter  in  sich  aufnimmt,  als  er  per- 
sönlich verarbeiten  kann,  charakteristisch  für  das  vergangene  Jahrhundert. 
Das  neue  Jahrhundert  fordert  nun  von  den  die  Kultur  tragenden 
Ständen  Persönlichkeit:  persönliche  Kultur  im  Gegensatz  zu  der  Massen- 
kultur, wie  sie  der  empordrängende  vierte  Stand  erstrebt.  Will  der  dritte 
Stand  seine  innere  Überlegenheit  über  den  vierten  bewahren,  so  muß  er 
diesem  das  Drängen  nach  dem  Genuß  der  Kulturgüter  überlassen  und 
selbst  zur  innerlichen  Verarbeitung  der  Kulturg-üter  fortschreiten. 
Die  Persönlich-  Die  Karikatur  der  Sehnsucht  nach  Persönlichkeit  ist  das  Verlangen, 

^Normen.'"  „slch  auszulebcu".  Bei  diesem  Verlangen  wird  die  Richtung,  in  der  sich 
das  Individuum  auslebt,  durch  die  zufällig  gegebenen  Strebungen  bestimmt. 
Da,  wo  es  zu  persönlicher  Gestaltung  gekommen  ist,  vollzieht  sich  das 
Leben  nach  einem  Ideal  des  eigenen  Wesens.  Dieses  Ideal  ist  nicht  das 
Lebensgesetz  des  „empirischen"  Ichs;  es  setzt  zwar  die  innerlichste  Kenntnis 
der  eigenen  Individualität  und  ihrer  Kräfte  voraus,  aber  es  ist  aus  der 
Beziehung  dieser  Individualität  auf  überindividuelle  Normen  entstanden. 
Der  Mensch,  der  sich  selbst  zur  Persönlichkeit  (zum  Selbstsein)  gestalten 
will,  findet  sich  einer  Welt  von  Normen  gegenüber;  Normen  für  sein 
Handeln,  Normen  für  sein  Urteil,  Normen  für  sein  Fühlen.  Glaubenslehre,- 
Ethik,  Ästhetik,  Diätetik,  Politik  und  sonstige  Normwissenschaften  formu- 
lieren ihre  Normen;  für  alle  Berufsarbeit,  freie  und  unfreie,  gibt  es  kunst- 
technische Normen;  dazu  kommen  die  nicht  formulierten  Normen,  die  in 
den  Parteianschauungen,  der  Standessitte,  der  öffentlichen  Meinung,  der 
Mode  usw.  verborgen  liegen.    So  verschieden  die  Normen  von  vornherein 


m.  Die  Gc-jenwart.     i.  Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erziehungsideals.  ig^ 

an  Wert  und  Gültigkeit  sind,  ohne  eine  grundsätzliche  Auseinandersetzung 
mit  diesen  Normen  ist  die  Formung  eines  Persönlichkeitsideals  nicht  denk- 
bar, wie  denn  auch  die  weitere  Gestaltung  des  persönlichen  Lebens  immer 
wieder  zu  solcher  Auseinandersetzung  führt.  Besonders  bedeutsam  ist  die 
sittliche  Seite  des  Persönlichkeitsideals:  die  sittlichen  Normen  haben  un- 
bedingt verpflichtenden  Charakter;  nur  eine  unsittlich  sich  bestimmende 
Persönlichkeit  vermag  sich  ihrer  normierenden  Kraft  zu  entziehen.  Aber 
die  Normierung  ist  abstrakt,  und  damit  ist  dem  Einzelnen  die  Möglich- 
keit eines  sittlichen  Personenlebens  gegeben.  So  fordert  die  Ethik  die 
Entfaltung  der  Kräfte  in  einem  zusammenhängenden  Lebenswerk;  die  Be- 
stimmung dieses  Lebenswerks,  des  Berufs,  ist  Sache  der  Selbstbestimmung 
des  Einzelnen,  nur  daß  diese  Selbstbestimmung  so  geschehen  muß,  daß 
ein  Höchstmaß  sittlichen  Personenwertes  sich  ergibt.  Den  ethischen 
Normen  entsprechen  die  kunsttechnischen.  So  gibt  es  z.  B.  für  die  Berufs- 
arbeit des  Lehrers  kunsttechnische  Erziehungs-  und  Unterrichtsnormen, 
denen  sich  der  Lehrer  unterwerfen  muß,  falls  er  nicht  eine  minderwertige 
Arbeit  liefern  will;  wenn  aber  diese  Normen  auf  das  Einzelne  gehen, 
so  hat  er  das  Recht  der  Persönlichkeit,  sie  zu  verwerfen.  Dies  Recht 
der  Persönlichkeit  nimmt  zu,  je  mehr  man  sich  dem  Gebiete  des  Geschmacks, 
der  Werturteile  nähert. 

Um    ein    ausgestaltetes  Personenleben    ist    es    etwas   Großes.     In   der      Wert  der 

011  Persönlichkeit. 

Persönlichkeit  ist  der  Mensch  zu  semem  wahren  Selbst  gekommen,  zur 
Verwirklichung  des  Wertvollen  an  ihm.  Was  er  aber  ist,  das  ist  er  zwar 
mit  Hilfe  anderer,  aber  nicht  durch  andere,  sondern  durch  sich  selbst 
geworden.  Er  ist  nicht  ein  Produkt  von  zufälligen  Wirkungen,  die  ihn 
trafen;  er  hat  nur  den  Mächten  "die  Einwirkung  gestattet,  die  er  wirken 
lassen  wollte.  Nun  ist  er  seiner  sicher  und  gewiß.  Sein  Geistesleben 
ruht  in  sich  selbst,  fest  gefügt  und  gegen  Verschiebungen  seines  Gefüges 
durch  Druck  von  außen  wohl  gesichert;  in  seiner  Gesinnung  ist  er  unab- 
hängig; in  seinem  Wollen  und  Handeln  frei.  Für  die  Werte  des  Lebens 
hat  er  einen  sicheren  Maßstab;  in  Fragen  sittlicher  Beurteilung  ein  zu- 
verlässiges Gewissen.  Von  seinem  Können  und  Wesen  besitzt  er  ein 
rechtes  Selbstwertgefühl.  Sein  Tun  ist  kein  unpersönliches  Wirken,  son- 
dern ein  Handeln  mit  ausgeprägtem  Persönlichkeitszeichen. 

Da  aber  das  Persönlichkeitsideal,  das  hier  gezeichnet  ist,  sittliche 
Natur  hat,  so  ist  auch  dem  vorgebeugt,  daß  das  „Selbstsein"  in  ein 
Für  sichsein  ausartet  und  die  Selbstdurchsetzung  die  persönlichen  Rechte 
der  anderen  mißachtet.  Das  Selbstsein  erscheint  vielmehr  als  Vorbedingung 
für  die  Selbsthingabe  nach  Wieses  schönem  Wort:  „Wie  kann  ich  mich 
hingeben,  wenn  ich  mich  nicht  besitze?"  Nur  die  Art  von  Selbstlosigkeit 
ist  allerdings  durch  deis  Persönlichkeitsideal  ausgeschlossen,  bei  der  das 
Selbst  zugrunde  geht;  ein  Schicksal,  das  viele  Frauen  trifft. 

Die    Betätigungsgebiete     des    persönlichen    Lebens    sind     i.    das  DieiictätiKunK«- 

'^  °     °  '^  .        gebiete  pcrsön- 

Leibes-  und  Seelenleben  des  Menschen;  2.  das  Gebiet  seiner  Kulturarbeit;  liehen  Leben». 

Diu    tCuLtUK    DER    GeGENWAKT.      I.    Z.  13 


jq^  Hugo  Räudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

3.  das  Zusammenleben  der  Menschen  a)  im  allgemeinen,  b)  in  den  ein- 
zelnen Gemeinschaftsformen  (Familie,  Freundschaft,  Gesellschaft,  Volk, 
Staat);  4.  das  Verhältnis  zur  Gottheit.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist 
die  gesellschaftliche  Form,  in  der  der  Mensch  seine  Kulturarbeit  voll- 
bringt, der  Beruf;  denn  da  der  Beruf  in  der  Gegenwart  meist  die  Haupt- 
kraft und  die  Hauptzeit  in  Anspruch  nimmt,  so  ist  er  das  Hauptgebiet, 
auf  dem  sich  persönliches  Leben  betätigen  kann.  Doch  läßt  unsere  Auf- 
stellung über  die  Betätigungsgebiete  des  persönlichen  Lebens  bereits  er- 
kennen, daß  wenigstens  eine  Vollpersönlichkeit  sich  nicht  nur  im  Beruf 
betätigen  darf. 

So  sehr  übrigens  auch  betont  werden  muß,  daß  persönliches  Leben 
in  jenen  Gebieten  sich  zu  betätigen  hat,  so  muß  doch  anerkannt  werden: 
das  Maß,  in  dem  sich  die  einzelnen  Persönlichkeiten  auf  diesen  Gebieten 
betätigen,  hängt  einmal  von  der  Berufsstellung  und  dann  von  der  Assimi- 
lationskraft des  Einzelnen  ab.  Es  gibt  Berufe  von  solchem  Aktionsradius, 
daß  für  persönliches  Leben  auf  den  übrigen  Tätigkeitsgebieten  nicht  viel 
Zeit  und  Kraft  übrig  bleibt;  sind  diese  Berufe  unpersönlicher  Art,  so  steht 
man  oft  vor  der  Notwendigkeit  der  Resignation,  des  Verzichts  auf  reiche 
Ausgestaltung  der  Persönlichkeit;  gewähren  sie  aber,  wie  die  liberalen 
Berufe,  reiche  Gelegenheit  zu  persönlicher  Entfaltung,  so  hat  man  die 
Erscheinung  des  zwar  nicht  extensiv,  aber  intensiv  entwickelten  Personen- 
lebens. Zu  einer  Selbstbeschränkung  drängt  geringe  Aneignungskraft. 
So,  wenn  jemand  in  der  Gefahr  steht,  für  seinen  Verstand  (für  die  innere 
Aneignung)  zu  viel  zu  lernen.  Doch  mögen  die  Beschränkungen  so  oder 
anders  nötig  sein,  ein  völliger  Verzicht  auf  eines  jener  Lebensgebiete  der 
Persönlichkeit  würde  eine  peinliche  Verkürzung  des  Ideals  der  Persön- 
lichkeit bedeuten. 

Kraft  und  Recht  Auf  Grund  dieser  Ausführungen  kann  man  nun  Stellung  zu    entschei- 

der Frau  zu  per-  ,  .  1'JJT^ 

söniichem  Sein,  deuden  Fragen  der  Frauenbildung  nehmen.  Die  entscheidende  l<rage 
lautet:  Hat  die  Frau  die  Kraft  zu  persönlichem  Sein  und  hat  sie  ein 
Recht  darauf?  An  der  Antwort  auf  diese  Frage  scheiden  sich  die  Mei- 
nungen. Aus  der  Antwort  auf  diese  Frage  empfängt  das  Bildungsideal, 
auf  das  hin  die  höhere  Mädchenschule  arbeiten  soll,  die  entscheidenden 
Bestimmungen.  Behauptet  man:  „Die  Natur  der  Frau  ist  angelegt  auf 
Abhängigkeit  vom  Manne,  wie  die  Natur  des  Mannes  angewiesen  ist  auf 
Aneignung  der  Frau",  „die  Frau  wartet,  daß  der  Mann  aus  ihr  macht, 
was  sie  sein  soll",  die  Frau  ist  „selig"  in  der  Selbstunterwerfung  usw.,  so 
ist  der  Frau  die  Kraft  zur  Persönlichkeit  abgesprochen.  Wer  so  denkt, 
reserviert  das  Recht  auf  Persönlichkeit  dem  Manne.  Wir  aber  scheiden 
uns  scharf  von  den  Anhäng^ern  solcher  Meinungen.  Es  ist  für  uns  Er- 
fahrungsgewißheit und  zugleich  Postulat  aus  der  Gültigkeit  der  sittlichen 
Normen,  daß  die  Frau  ihrem  Wesen  nach  nicht  zu  unterpersönlichem  Sein 
verurteilt  ist,  daß  sie  zwar  oft  des  Mannes  bedarf,  um  Person  zu  werden, 
daß   sie   sich  aber  durch  eigene  Kraft  in  ihrem  Personsein  erhalten  kann. 


m.  Die  Gegenwart.     I.  Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erziehungsideals.  ige 

Wir  scheiden  uns  hier  auch  von  denen,  die  mit  stärkstem  Druck,  sei  es 
in  medizinisch  deuthchen  oder  naturmystisch  dunklen  Formeln  das  Weib 
als  Geschlechtswesen  kennzeichnen,  falls  hier  versteckt  oder  ofFen  die 
Meinung  besteht,  der  Geschlechtscharakter  hindere  bei  der  Frau  die  Ent- 
faltung freien  persönlichen  Lebens.  Gewiß:  die  geschlechtliche  Natur  der 
Frau  muß  auf  die  Gestaltung  ihres  Lebens  den  größten  Einfluß  haben, 
aber  sie  kann  und  muß,  falls  sie  nicht  unterpersönlich  sein  will,  auch 
ihr  Geschlechtsleben  in  den  Herrschaftsbereich  ihres  persönlichen  Lebens 
einbeziehen.  Wir  scheiden  uns  auch  von  denen,  die  aus  utilitarischen 
Gründen  die  Entwicklung  der  Frau  zu  persönlichem  Sein  nicht  wollen, 
die  etwa  die  unpersönliche  Frau  für  das  eheliche  Leben  —  bequemer 
finden. 

Von    vornherein    ist    aber    natürlich    nicht  gesagt,    daß   das  Ideal  der    Betutigungs- 
Persönlichkeit    bei    der   Frau    ebenso    geartet   ist    wie    beim    Manne.      So  ^^  '"^ 
gewiß  die  Frau,  wenn  sie  nicht  der  ihr  von  der  Natur  gegebenen  Wesens- 
disposition aus  äußeren  oder  inneren  Zwangsgründen  zuwiderhandeln  muß, 
ihr  Geschlechtsleben  ausleben   wird,  so  gewiß  wird  das  Ideal  der  Persön- 
lichkeiten bei  den  beiden  Geschlechtern  gattungsverschieden  sein. 

Eine  weitere  Scheidung  bedeutet  die  Ansicht  über  die  Betätigungs- 
gebiete der  Frau.  Wir  scheiden  uns  prinzipiell  von  denen,  die  der  ver- 
heirateten Frau  nur  das  Haus  als  Dominium  persönlichen  Lebens  zuweisen. 
So  gewiß  wir  der  Frau  das  Recht  auf  Vollpersönlichkeit  einräumen,  ge- 
stehen wir  ihr  auch  z.  B.  das  Recht  zu  auf  eine  freie  Gestaltung  ihres 
Körperlebens,  auf  eine  befriedigende  Allgemeinbildung,  auf  eine  un- 
mittelbare Betätigung  im  Leben  der  Gesellschaft  und  des  Volkes.  Nur 
wird  man  festhalten  müssen,  daß  das  wichtigste  Gebiet  des  persönlichen 
Lebens  das  Berufsleben,  hier  also  das  Leben  in  der  Ehe,  ist,  und  daß 
das  Maß  und  die  Art  der  Selbstbetätigung  auf  jenen  anderen  Gebieten 
von  der  Zeit  und  der  Kraft  abhängt,  die  die  Forderung  der  Berufspflicht 
übrig  läßt  (.s.  u.). 

Der  entscheidendste  Akt  in  der  Geschichte  eines  Personenlebens  ist  Die  Berufswahl 
die  Berufswahl.  Mit  der  Berufswahl  trifft  der  Einzelne  weit  und  tief 
wirkende  Verfügung  über  sich  selbst.  Daß  diese  Berufswahl  in  Freiheit 
geschehe,  ist  eine  Grundforderung  aus  unserem  Persönlichkeitsideal  heraus. 
Wo  gesellschaftlich  die  Freiheit  der  Berufswahl  noch  nicht  verwirklicht 
ist,  wird  immer  ein  schwerer  Mangel  in  der  Organisation  der  Gesellschaft 
beklagt  werden  müssen.  Auch  der  Frau  ziemt  die  Freiheit  der  Berufs- 
wahl, und  sie  wird  ein  Recht  haben,  von  der  Gesellschaft  diese  Freiheit 
zu  verlangen,  es  sei  denn,  daß  der  Wille  der  Gesellschaft,  d.  h.  der  Staat, 
ihr  aus  höheren  ethischen  Rücksichten  diese  Wahlfreiheit  einschränken 
müßte.  Nun  ist  der  Frau  durch  tiefbegründete  Sitte  gerade  bei  dem  ihr 
durch  die  Natur  zugewiesenen  Berufe  die  Wahlfreiheit  nicht  zugestanden; 
sie  muß  erwarten,  ob  sie  gewählt  wird.  Sicher  aber  ist  zweierlei: 
I.  Die  Gesellschaft   muß  ihr  das  Recht  zuerkennen,    statt  des  Naturberufs 

'3* 


Iy6 


Hugo  Gai'DIg:  Höheres  Mädchcnschuhvcsen. 


eineil  andern  zu  wählen,  wenn  sie  von  einem  anderen  Berufe  vielleicht  eine 
sittlich  wertvollere  Gestaltung  ihres  Personenlebens  erwarten  darf;  und 
2.  die  Gesellschaft  muß  ihr  die  Möglichkeit  geben,  die  Ehe  auszu- 
schlagen, wenn  sie  die  Ehe  mit  dem  sie  Wählenden  in  ihrem  Personsein 
schädigen  würde;  d.  h.  die  Gesellschaft  muß  die  Möglichkeit  des  Aus- 
weichens  durch  Erschließung  anderer  Berufsarten  schaffen.  Kann  aber, 
wie  in  der  Gegenwart,  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Frauen  darum  nicht 
heiraten,  weil  sie  „überschüssig"  sind,  so  muß  aus  sittlichen  Gründen 
gefordert  w^erden,  daß  diesen  Frauen  alle  die  Berufe  erschlossen  werden, 
in  denen  die  Frauennatur  ein  wertvolles  Lebenswerk  findet.  Das  wich- 
tigste Betätigungsgebiet  des  Personenlebens  ist  der  Beruf,  die  geschlossene 
Lebensarbeit.  Für  den  Beruf  vorzubereiten,  muß  das  Ziel  aller,  auch  der 
Allgemeinbildung  vermittelnden  Schulen  sein.  Sollen  die  Bestrebungen, 
die  zur  Zeit  auf  dem  Gebiete  der  höheren  Mädchenschulen  wirksam  sind, 
auf  ihren  Wert  geprüft  werden,  so  ist  zuvor  Klarheit  über  die  Berufe  zu 
gewinnen,  denen  die  höhere  Mädchenschule  ihre  Schülerinnen  entgegen- 
bilden soll.  Wir  prüfen  aber  die  Berufe  unter  unserem  Leitgedanken, 
d.  h,  nach  ihrem  Wert  für  persönliches  Leben. 
Betätigungs-  Der  „natürliche"  Beruf  der  Frau  in  der  Gestalt,   die   er  unter  dem 

gebiete    des  t^«     n     «  r^       *  • 

persönlichen    entscheidenden  Einfluß    des  Christentums  m  langer  und  bedeutender  Kul- 

Lebens  der  ...  ,  "ii-r^  ,.  ..  .  -r» 

Frau.  turentwicklung  gewonnen  hat,  gewahrt  der  l^rau  die  gunstigsten  Be- 
dingungen für  die  Au.sgestaltung  und  Bewährung  persönlichen  Lebens, 
solange  er  wenigstens  seiner  Idee  entspricht  und  nicht  wie  vielfach  in 
unserer  Zeit  zur  Karikatur  seiner  selbst  entartet  ist,  solange  die  Ehe  die 
Lebensgemeinschaft  zweier  Personen  und  nicht  etwa  gar,  wie  es  manchen 
Frauenrechtlerinnen  als  das  Normale  erscheint,  der  Prozeß  Weib  contra 
Mann  ist. 

Das  Familienleben  bietet  der  Frau  Gelegenheit,  sich  persönlich  aus- 
zuleben; es  gewährt  ihr  ein  Gebiet,  auf  dem  sie  nach  ihrem  Sinn,  nach 
ihrem  Ideal  anderes  und  sich  selbst  gestalten  kann.  Die  ganze  Sphäre, 
in  der  sie  schafft,  hat  eben  das  auszeichnende  Merkmal,  daß  sie  Gestal- 
tung durch  Persönlichkeit  verträgt  und  fordert.  Persönlich  gestaltet 
werden  kann  in  den  Gesellschaftsschichten,  für  die  unsere  Schulgattung 
arbeitet,  die  ganze  Gruppe  der  Arbeiten,  durch  die  die  „Hausfrau"  für  das 
leibliche  Leben  der  Familie  sorgt.  Die  Wahl  der  Wohnung,  die  Be- 
schaffung und  Anordnung  des  Hausrats,  die  Herstellung  der  Kleidung, 
die  Zubereitung  der  Lebensmittel,  die  Pflege  und  Ausbildung  des  eigenen 
Körpers  und  des  Körpers  der  Kinder,  die  Verfügung  über  das  zum 
Verbrauch  bestimmte  Einkommen  und  anderes  geben  der  Frau  reichliche 
Gelegenheit,  dem  Hausstand  die  Signatur  ihrer  Persönlichkeit  aufzuprägen. 
Daß  unsere  bürgerlichen  Haushaltungen  so  farblos,  so  typisch,  so  un- 
persönlich sind,  liegt  meist  nicht  an  der  Dürftigkeit  des  Materials,  das 
persönliche  Zeichnung  empfangen  sollte,  sondern  an  dem  Mangel 
persönlicher  Kraft  der  Hausfrauen,   ein  Mangel,   der  sich  in  einer  großen 


ITI.  Die  Gegenwart,      r.  Prinzipielles  zur  Regründiing  des  Erziehungsideals.  jgy 

Abhängigkeit  des  Werturteils  vom  Urteil  anderer  am  deutlichsten  be- 
kundet. Hoffentlich  bringt  uns  die  neue  Zeit  viele  Hausfrauen  mit  per- 
sönlicher Physiognomie.  Hochachtbar  ist  die  Pflichttreue  der  deutschen 
Hausfrau.  Darüber  hinaus  liegt  aber  die  Pflichttreue,  die  sich  mit  der 
Treue  gegen  das  eigene  Selbst  paart.  Hochachtbar  ist  die  Kraft  und 
der  Fleiß,  mit  der  die  deutsche  Hausfrau  wirkt;  aber  um  das  deutsche 
Familienleben  noch  wertvoller  zu  gestalten,  bedarf  es  einer  größeren  per- 
sönlichen Kraft,  die  ihrem  „sachlichen"  Tun  und  den  Sachen  selbst  das 
Gepräge  der  Persönlichkeit  verleiht. 

Ein  ungleich  wertvolleres  Gebiet  für  Auswirkung  persönlichen  Lebens 
ist  die  Pflege  und  Erziehung  der  Kinder;  ein  Gebiet  höchster  Ver- 
antwortlichkeit, das  von  allgemeingültigen  Normen  seine  Regelung  emp- 
fängt und  das  doch  persönliches  Wirken  erlaubt  und  fordert.  Die  Pflege 
und  Entfaltung  des  geistleiblichen  Lebens  der  Kinder  nach  einem  Ideal, 
in  dessen  Eigenart  das  Wertvollste  der  eigenen  Person  sich  ausspricht, 
sind  schönste  Betätigungsweisen  persönlichen  Lebens.  —  Glaubt  man  nun 
freilich  den  Gegnern  der  christlichen  Ehe,  so  ist  das  persönliche  Leben 
der  Frau  in  der  Ehe  aufs  stärkste  gerade  durch  das  eigenste  Wesen  der 
Ehe,  die  Lebens-  und  Schicksalsgemeinschaft  mit  dem  Manne,  gefährdet; 
Heteronomie,  Unterwerfung  unter  den  Willen  und  das  Wesen  des  Mannes, 
erscheint  als  das  unentrinnbare  Los  der  Frau,  die  damit  allerdings  zur 
Unpersönlichkeit  verdammt  wäre.  Nun  sind  aber  bereits  in  der  Haus- 
haltsführung und  in  der  Kindererziehung  zwei  sehr  wertvolle  Gebiete,  auf 
denen  die  Frau  namentlich  in  unserer  Zeit  Autonomie  besitzt,  nach- 
gewiesen. Vor  allem  aber  muß  jede  Ehe,  die  der  Idee  der  Ehe  ent- 
spricht (s.  o.)  und  die  in  Freiheit,  und  mit  sittlichem  Ernst  geschlossen  ist, 
vom  Geiste  nicht  nur  der  Duldsamkeit,  sondern  der  Freude  an  der  Per- 
sönlichkeit des  anderen  und  der  Bereitwilligkeit,  dem  anderen  zu  seinem 
eigensten  Wesen  mitzuhelfen,  durchdrungen  sein.  Ja,  auch  die  Selbsthingabe 
in  der  Liebe  führt  nicht  zur  „Entselbstung*',  sondern  zu  dem  Streben,  ein  immer 
reicheres  Selbst  zu  gewinnen,  um  dem  anderen  dann  vom  Reichtum  persön- 
lichen Lebens  mitzuteilen.  Nicht  zu  vergessen  ist  auch,  daß  schon  das 
Einschauen  in  ein  persönliches  Leben,  das  sich  bis  in  seine  Tiefe  er- 
schließt, zur  Gestaltung  des  eigenen  Personenlebens  antreibt.  Einer 
der  höchsten  Ruhmestitel  der  christlichen  Ehe  ist  die  durch  sie  gewährte 
Möglichkeit,  daß  sich  zwei  Menschen  wechselseitig  im  Geben  und  Nehmen 
zu  höherem  Personenwert  emporläutem. 

Vergleicht  man  ein  solches  Eheleben  mit  dem  Berufsleben  in  vielen 
anderen  den  Frauen  empfohlenen  Berufen,  so  fällt  zunächst  der  persön- 
liche Charakter  des  Berufslebens  der  verheirateten  Frau  auf.  Nicht  sehr 
viele  Berufe  bieten  so  viel  Stoff  zu  persönlichem  Tun;  gerade  die  Neuzeit 
hat  namentlich  in  vielen  Beamtenberufen  solche  Berufe  geschaffen,  die 
wenig  Stoff  zu  persönlicher  Prägung  darbieten,  unpersönliche  Berufe 
schlechthin. 


jgg  Hugo  G audio  :  Höheres  Mädchenschulwesen. 

Ein  anderes  kommt  hinzu:  Viele  Berufe  fordern  „eine  eigenartige 
Spezialisierung  der  Seele  in  einer  gewissen  Richtung".  Die  verheiratete 
Frau  hingegen  kann  in  ihrem  Berufsleben  sich  in  schöner  Vielseitigkeit 
entfalten.  Ihrem  Wollen  ist  ein  Tätigkeitskreis  zugewiesen,  der  dem 
Willen  mannigfaltige  und  doch  einheitliche  Ziele  steckt;  Ziele  praktischer 
und  Ziele  ideeller  sowie  idealer  Art;  und  die  praktische  Arbeit  ist  reich 
an  idealen  Beziehungspunkten,  die  Verwirklichung  der  idealen  Ziele  aber 
geschieht  in  praktischer  Arbeit.  Das  häusliche  Leben  nach  seiner  wirt- 
schaftlichen und  nach  seiner  geistigen  Seite  fordert  von  der  Frau  eine 
einheitliche,  aber  auch  differenzierte  Tätigkeit  und  gewährt  ihr  so  die 
Möglichkeit,  ihr  persönliches  Leben  vielseitig  und  doch  einheitlich  zu  ent- 
falten. So  bleibt  dem  Seelenleben  der  Frau  die  Vielseitigkeit  des  Seelen- 
lebens bewahrt;  in  ihrem  Seelenleben  nicht  spezialistisch  vereinseitigt,  ver- 
mag sie  in  der  Totalität  ihres  Wesens  sich  zu  entwickeln.  Zu  der  Mög- 
lichkeit, den  Willen  an  hohe  und  niedrige,  ferne  und  nahe,  Ewigkeits- 
und Alltagsziele,  an  äußerlichstes  und  innerlichstes  Bilden  zu  setzen,  kommt 
die  Möglichkeit,  das  Gefühlsleben  in  die  Breite  und  Tiefe  zu  entfalten, 
und  (wie  gleich  gezeigt  werden  soll)  die  Möglichkeit  eines  persönlichen 
Intellektuallebens. 

In  einem  glücklichen  Verhältnis  steht  femer  im  allgemeinen  die  nach 
unserem  Urteil  erreichbare  persönliche  Kraft  der  Frau  zu  dem  Umfang 
der  von  ihr  zu  durchdringenden  Lebensgebiete,  d.  h.  zu  dem  Familien- 
leben. Das  deutsche  Familienleben  des  höheren  Bürgerstandes  ist  meist 
einfach  genug,  um  der  Frau  mit  dem  Durchschnittsmaß  persönlicher 
Kraft  die  persönliche  Ausgestaltung  bis  in  seine  peripherischen  Gebiete 
zu  gestatten.  —  So  kann  die  Frau  in  ihrem  Pflichtenkreis  die  Selbst- 
sicherheit  gewinnen,  die  zu  den  Kennzeichen  entwickelten  Personen- 
lebens gehört.  Auch  insofern  ist  das  Familienleben  günstig  für  die  Frau, 
als  die  Intermissionen  der  persönlichen  Kraft,  die  für  das  Energie- 
leben der  Frau  charakteristisch  sind,  nicht  sogleich  peinlich  spürbar 
werden,  wie  in  öffentlichen  Berufen,  die  ein  gleichmäßiges  Einsetzen  per- 
sönlicher Kraft  fordern. 

Der  Satz,  daß  alle  Berufsarbeit  vereinseitigt,  gilt  indes  auch  vom 
Beruf  der  verheirateten  Frau.  Auch  sie  muß  darum  ein  persönliches 
Leben  auf  den  übrigen  obengenannten  Betätigungsgebieten  persön- 
lichen Lebens  fuhren.  Auch  sie  muß  z.  B.  nach  einem  Ausbau  ihres 
allgemeinen  Geisteslebens  und  nach  einer  persönlichen  Teilnahme  an  dem 
Leben  der  größeren  Lebensgemeinschaften ,  des  Volkstums  und  des 
Staates,  streben.  Und  vor  allem  hat  sie  die  Verpflichtung,  zu  einer  per- 
sönlichen Gestaltung  ihres  religiösen  Lebens  vorzudringen.  Es  kann 
nun  gar  nicht  scharf  genug  betont  werden,  wie  glücklich  die  Lage  der 
Frau  in  einer  wertvollen  Ehe  gerade  nach  der  Seite  der  Ausgestaltung 
der  Vollpersönlichkeit  ist.  Zunächst  hat  die  Frau  unserer  Stände  —  die 
Zeit,    deren    sie    hier    bedarf.     Der  Mann    arbeitet  sie  meist  so  weit  frei, 


III.  Die  Gegenwart.      I.  Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erzichungsideals.  igy 

daß  sie  nicht,  wie  oft  die  Frau  des  Arbeiters,  in  ihrer  Hausarbeit  auf- 
und  untergehen  muß.  Sie  kann  ihren  Gei.st  in  Pflege  nehmen;  sie  hat, 
wenn  sie  will,  meist  auch  die  Muße  und  die  Ruhe  zur  Kontemplation, 
die  für  das  Ausreifen  persönlichen  Denkens  und  Urteilens  so  günstig  ist. 
Sie  hat  auch  die  Zeit,  um  an  dem  Leben  ihres  Volkes  denkend,  fühlend 
und  handelnd  Anteil  zu  nehmen. 

Dazu  kommt  noch  ein  anderes:  Das  Familienleben  hat  in  sich  die 
stärksten  Antriebe  zu  solcher  weiter  ausgreifenden  Ausgestaltung  des 
persönlichen  Lebens.  Die  wirtschaftlichen  Aufgaben  z.  B.  führen  ganz  un- 
mittelbar zu  der  Teilnahme  für  das  volkswirtschaftliche  Leben,  dessen 
Teil  ja  das  familienwirtschaftliche  Leben  ist;  die  erziehliche  Aufgabe, 
die  auch  an  den  herangewachsenen  Kindern  noch  fortzuführen  ist,  drängt 
zu  reicher  Ausgestaltung  des  geistigen  Lebens;  die  Lebensgemeinschaft 
mit  dem  Manne  führt  zur  Teilnahme  am  staatlichen  Leben  usw.  —  Aber 
das  Familienleben  trägt  in  sich  nicht  nur  intellektualistische  Antriebe;  das 
in  Liebe  erschlossene  Herz  weitet  sich  von  selbst  für  die  öffentliche  Not. 
Und  all  das,  was  die  Frau  außerhalb  des  Familienlebens  für  ihr  persön- 
liches Leben  gewinnt,  das  kommt  ihrem  persönlichen  Wirken  im  Familien- 
leben wieder  zugut. 

Es    ist    erwiesen,    daß    das    Familienleben,    wenn    es    seiner  Idee   ent-   ^|;Pj?i^'^'"^^ 
spricht,  die  wertvoUste  Gelegenheit  zur  Ausgestaltung  des  Personenlebens  Aus^-osuUung 
bietet.     Wird    der    deutschen    Frau    aber    so   viel  geboten,    so    wird    man       lichkeit. 
von    ihr    auch  viel   fordern.     Sie   muß   die  Verpflichtung  anerkennen,    mit 
aller    ihrer  Kraft    das  zu  werden,    was    sie  in   dem  Familienleben  werden 
kann,    eine    sittliche   Persönlichkeit,    die    eben    die    soziale    Arbeit    leistet, 
welche   die   Familienmitglieder,    die  Gesellschaft,    das  Vaterland   und    Gott 
von  ihr  fordern  müssen.    Dazu  rechnet  vor  allem  die  Pflege  eines  starken 
persönlichen  Lebens  in  dem  Gebiet  ihres  Wirkungskreises. 

Will  aber  die  Gesellschaft  und  der  Staat  von  der  Frau  die  Entwick- 
limg  solchen  Personenwertes  und  solchen  sozialen  Wertes  mit  Recht 
fordern,  so  muß  die  Frauenerziehung  und  Frauenbildung  so  gestaltet 
werden,  daß  die  Frauen  schließlich  ihre  Erziehung  und  Bildung  mit  aller  Ver- 
antwortlichkeit selbst  zu  übernehmen  vermögen. 

Auf  Grund  des  bisher  Gesagten  lehnen  wir  zunächst  alle  die  Ein-  j^J'^«^;";^s 
flüsse  auf  das  höhere  Mädchenschulwesen  grundsätzlich  ab,  die  das  .spätere  »chauongen. 
Familienleben  der  Schülerinnen  bei  dem  Entwurf  des  Bildungsideals  da- 
rum nicht  berücksichtigen  wollen,  weil  .sie  in  der  Ehe  ihrer  Idee  nach 
eine  Hemmung  persönlichen  Lebens  sehen  und  ein  Aufgehen  des  Fami- 
lienlebens im  Leben  der  Gesellschaft  erwarten  und  wünschen.  Ebenso 
lehnen  wir  die  Einflüsse  aller  derer  ab,  die  nicht  in  den  verschiedenen 
Gebieten  des  Familienlebens  die  wichtigsten  Betätigungsgebiete  der  Per- 
sönlichkeit anerkennen.  Femer  lehnen  wir  alle  Einflüsse  einer  verkürzten 
Idee  der  Ehe  ab,  z.B.  der  Idee,  bei  der  man  nach  der  Formel:  „Der  Beruf 
der  Frau  sind  ihre  Kinder"  nicht  nur  die  wirtschaftliche  Seite  des  Frauen- 


,QQ  Hugo  Gaudig:  Höheres  MiuVchenschulwcscn. 

berufs,  sondern  auch  die  Lebensgemeinschaft  von  Mann  und  Weib  igno- 
riert. Nicht  minder  lehnen  wir  den  Einfluß  derer  ab,  die  das  Personen- 
leben der  Frau  einengen,  indem  sie  das  Leben  des  Weibes  auf  das 
Haus  beschränken.  So  gewiß  wie  die  Frau  ein  reich  differenziertes  Per- 
sonenleben führen  soll,  so  gewiß  darf  sie  ihr  religiöses,  sittliches,  ästhe- 
tisches, geistiges  Leben  nicht  auf  die  Familie  einengen,  sondern  muß  mit 
ihrer  persönlichen  Teilnahme  auf  das  Gebiet  der  religiösen  Gemeinde, 
des  Staates,  des  geistigen  Lebens  der  Nation  übergreifen. 

Vor  allem  aber  müssen  wir  an  der  Schwelle  alle  diejenigen  Mei- 
nungen ablehnen,  die  für  die  höhere  Mädchenschule  entweder  eine  un- 
geschlechtige  oder  gar  schlankweg  die  männliche  Erziehungs-  und  Bil- 
dungsweise fordern.  Wenn  wir  mit  Recht  in  dem  häuslichen  Leben  der 
Frau  das  wichtigste  Betätigungsgebiet  für  ihr  persönliches  Leben  nach- 
gewiesen haben,  so  kann  die  Schule  gegen  diese  Sphäre  unmöglich 
gleichgültig  sein;  ja,  sie  wird  auch  da,  wo  sie  zu  jener  über  die  Familien- 
schranken hinaus  erweiterten  Geistes-  und  Herzensbildung  mithilft,  eben 
jenen  oben  nachgewiesenen  Bahnen  nachgehn,  auf  denen  die  Bildung  der 
Frau  naturgemäß  aus  der  Familienenge  hinausstrebt. 

Die  letztere  Anschauung  stößt  auf  das  Bedenken,  daß  doch  eben  nur 
ein  Teil  der  Schülerinnen  höherer  Mädchenschulen  sich  verheirate  und 
verheiraten  könne,  und  daß  dieser  für  ein  Leben  in  erwerbenden  Berufen 
tüchtig  zu  machen  sei.  Hierauf  ist  zu  erwidern:  i.  Von  vornherein  ist 
eine  Scheidung  solcher  Mädchen,  die  heiraten  werden,  und  solcher,  die 
nicht  heiraten  werden,  unmöglich;  2.  soll  die  Frauenarbeit  sich  spezifisch 
von  der  Männerarbeit  unterscheiden,  soll  sie  die  Männerarbeit  ergänzen, 
so  wird  bei  der  Ausbildung  der  Mädchen  eben  auf  den  „Beruf"  hinzu- 
schauen sein,  in  dem  doch  nach  dem  Naturgesetz  die  Eigenart  der  Frau 
zu  ihrer  reinsten  Ausgestaltung  kommt;  3.  ist  erst  zu  prüfen,  ob  eine 
spezifische  Frauenbildung  nicht  auch  die  Basis  für  eine  Tätigkeit  in  er- 
werbenden Berufen  bilden  kann,  da  ja  bei  der  Ausbildung  für  den  weib- 
lichen Beruf  die  inneren  und  die  technischen  Bildungselemente  zu  scheiden 
sind  (s.  u.). 
Berufe  der  Frau  Von  den  Berufen,   die    dem  weiblichen  Geschlecht  zurzeit  offenstehen 

oder  ihm  doch  in  zunehmender  Breite  in  der  Zukunft  geöffnet  werden 
müssen,  stehen  die  dem  Beruf  der  verheirateten  Frau  am  nächsten,  in 
denen  eine  oder  mehrere  Seiten  dieses  Berufs  verselbständigt  und  zu 
speziellen  Berufsarten  ausgebildet  sind.  Dahin  gehören  die  Berufe  der 
sozialen  Hilfsarbeit,  der  Wohlfahrtspflege;  mit  Recht  hat  man  hier  von 
einer  königlichen  Domäne  für  die  Frauenarbeit  gesprochen.  So  gewiß  als 
das  weltgeschichtliche  Charaktermerkmal  unserer  Zeit  ihr  soziales  Leben 
ist,  so  gewiß  haben  auf  dem  Gebiet  der  Wohlfahrtspflege  die  Frauen 
eine  Kulturmission  ersten  Ranges;  ihr  Eintreten  in  diese  Arbeit  ist  eines 
der  bemerkenswertesten  Zeichen  einer  neuen  Zeit.  Daß  auf  diesem  Ge- 
biet sich  geschlossene  Berufe  für  Frauen  herausbilden,  ist  dringende  Zeit- 


m.  Die  Gegenwart,     i.  Prinzipielles  zur  Begründung  des  Erziehungsideals.  20I 

forderung.  Ein  Staat,  der  angesichts  des  die  Nation  zerklüftenden  Gegen- 
satzes der  Stände  die  versöhnende  Hand  der  Frauen,  die  ihm  das  An- 
gebot ihrer  Arbeit  so  bereitwillig  machen,  zurückstoßen  würde,  wäre  auf 
seine  Selbsterhaltung  schlecht  bedacht.  Daß  die  höhere  Mädchenschule 
auch  solcher  sozialen  Hilfsarbeit  zu  dienen  hat,  bedarf  um  so  weniger 
des  Beweises,  als  ja  auch  die  verheiratete  Frau  für  die  Notstände  der 
Gesellschaft  Herz  und  Sinn  haben  muß. 

Dem  Erzieherin-  und  Lehrerinberufe  tut  man  wohl  weder  nach 
seiner  geschichtlichen  Entwicklung  noch  nach  seiner  selbständigen  Würde 
ein  Unrecht,  wenn  man  in  ihm  den  Inbegriff  solcher  Funktionen  sieht, 
die  zunächst  die  Mutter  ausübt  und  in  denen  dann  Mutter  und  Er- 
zieherin Hand  in  Hand  gehn.  Wenn  die  höhere  Mädchenschule  den  Er- 
zieherin- und  Lehrerinberuf  der  Mutter  ins  Auge  faßt,  dient  sie  damit 
zugleich  auch  einem  der  schönsten  Frauenberufe,  in  dessen  Ausgestaltung 
und  Ausnutzung  für  die  nationale  Kultur  so  lange  eine  wesentliche  Kul- 
turförderung gesehen  werden  muß,  als  er  —  Frauenberuf  ist. 

Für  eine  große  Zahl  anderer  Berufe,  z.  B.  die  gewerblichen,  kauf- 
männischen, die  niederen  Beamtenberufe,  ist  ein  Doppeltes  kennzeichnend: 
I.  Ihr  geringer  Gehalt  an  spezifisch  frauenhafter  Tätigkeit  sowie  das 
geringe  Maß,  in  dem  persönliches  Wesen  sich  in  ihnen  betätigen  kann. 
Sie  werden  der  Entwicklung  persönlichen  Lebens  um  so  gefährlicher,  als 
sie  für  die  der  spezialistischen  Vereinseitigung  entgegenwirkenden  Be- 
strebungen (s.  o.)  weder  Zeit  noch  körperliche  und  seelische  Kraft  übrig 
lassen.  Doch  muß  betont  werden,  daß  diese  Berufe  wertvoll  sind,  sofern 
sie  den  Töchtern  des  höheren  Bürgerstandes  die  Möglichkeit  einer  wür- 
digen äußeren  Existenz,  einer  zusammenhängenden  (berufsmäßigen)  Be- 
tätigung ihrer  Kraft,  eines  freien  Handelns,  wenn  auch  in  engem  Tätig- 
keitskreise, so  doch  unter  eigener  Verantwortung,  gewähren.  Die  höhere 
Mädchenschule  hat  sich  von  der  Anschauung  fernzuhalten,  die  diesen  Be- 
rufen ablehnend  gegenübersteht,  weil  man  kein  Gefühl  für  die  schmach- 
volle Selbsterniedrigung  hat,  der  das  Mädchen  ausgesetzt  ist,  das  die 
schönste,  kraftvollste  Zeit  seines  Lebens  unter  dem  Druck  der  Erwartung 
zubringt,  ob  sein  Leben  durch  die  ihm  zugewandte  Gunst  eines  Mannes 
Gehalt  gewinnen  soll  oder  nicht.  In  gut  protestantischem  Geist  hat  sie 
an  dem  sittlichen  Wert  jedes,  auch  des  unscheinbarsten  Berufs  festzu- 
halten. Um  ihre  Schülerinnen  vor  dem  Scelenmartyrium  zu  bewahren, 
das  entstehen  muß,  wenn  sie  später  darauf  warten  müssen,  als  Sache 
„genommen"  zu  werden,  hat  sie  ihre  Schülerinnen  mit  der  Erkenntnis  zu 
erfüllen,  daß  keine  ehrliche  Berufsarbeit  der  menschlichen  Würde  Ein- 
trag tut,  daß  in  jedem  Berufe  ein  Gott  wohlgefälliger  Dienst  getan 
werden  kann,  daß  treue  Berufserfüllung  dem  inneren  Menschen  Halt  ver- 
leiht, ihm  Selbstsicherheit,  Selbstachtung  gewährt;  der  „Wille  zur  Ar- 
beit" (nicht  der  „Wille  zur  Macht")  ist  eines  der  wichtigsten  Ergebnisse 
der  Schulcrziehung.     Im   einzelnen   wird  die  Schule   zu  prüfen  haben,   ob 


2Q2  Hugo  Gaudig:    Höheres  Mädchenschulwesen. 

und  inwieweit  sie  auch  den  eben  bezeichneten  Berufen  dienen  kann. 
Ausgeschlossen  ist  von  der  Berücksichtigung  das  spezifisch  Technische 
dieser  Berufsarten,  das  zumeist  auch  in  kürzerer  Zeit  in  technischen 
Kursen  erlernt  werden  kann.  Dagegen  wird  mancherlei  allgemeine  För- 
derung möglich  sein,  so  durch  die  Erweckung  des  Sinns  für  das  Berufs- 
leben überhaupt,  des  Sinns  für  exakte  Erfassung  der  Lebensverhältnisse  usw. 
Vor  allem  aber  wird  die  Schule  auch  gerade  in  Rücksicht  auf  die 
Schülerinnen,  die  einem  Beruf  mit  technisch  spezialisierter  Tätigkeit  sich 
widmen,  ihren  Schülerinnen  die  Mittel  und  die  Kraft  zu  persönlicher 
Entwicklung  außerhalb  des  Berufslebens  zu  gewähren  haben.  —  Über  die 
Stellung  der  höheren  Mädchenschule  zu  den  gelehrten  Berufen  siehe  unten ! 
Die  inuiiek-  2.    Die    intellektuelle    Eigenart    der  Frau.     Nachdem  bisher  als 

'""der  FfaT"^  das  Endziel  der  Entwicklung  des  Frauenlebens  das  persönliche  Leben 
bestimmt,  und  nachdem  dann  die  Bedeutung  des  Berufslebens  der  Frau 
für  das  persönliche  Leben  festgestellt  ist,  muß  nun  das  Bildungs-  und 
Erziehungs ideal  entworfen  werden,  nach  dem  die  höhere  Mädchen- 
schule in  unserer  Zeit,  unter  den  gegebenen  Kulturverhältnissen,  für 
jenes  persönliche  Leben  erziehen  soll.  Voraussetzung  für  eine  Verstän- 
digung über  dies  Erziehungsideal  ist  die  Verständigung  vor  allem  über 
die  intellektuelle  Eigenart  des  weiblichen  Geschlechts.  Wissen- 
schaftliche Untersuchungen  dieser  Frage  im  Sinne  der  exakten  Psycho- 
logie liegen  erst  in  geringer  Zahl  und  Ausdehnung  vor.  Daher  ist 
noch  Raum  für  medizinischen  und  metaphysischen  Dogmatismus;  ich  er- 
innere an  das  Dogma  vom  physiologischen  Schwachsinn  und  an  die  Dog- 
menreihen Schopenhauers,  E.  v.  Hartmanns,  Nietzsches.  Es  ist  zurzeit  die 
Pflicht  wissenschaftlichen  Anstands,  Meinungen  zu  der  Frage  als  pro- 
blematisch auszusprechen.  Die  größte  Skeptik  ist  überall  da  am  Platz, 
wo  die  Meinungen  im  Zusammenhang  mit  agitatorischer  Wirksamkeit 
stehn.  Namentlich  ist  die  Frage  der  Evolutionskraft  des  weiblichen 
Geisteslebens  in  der  Zukunft  mit  aller  Vorsicht  zu  behandeln;  zurzeit  sind 
alle  Meinungen  von  der  ungläubigsten  Verneinung  bis  zu  abergläubischer 
Phantastik  vertreten. 

Die  Untersuchung  der  Frage,  wie  sie  die  Zukunft  bringen  wird,  hat 
folgende  Gebiete  zu  umfassen:  i.  die  einzelnen  geistigen  Funktionen, 
sowohl  die  auf  der  Wahrnehmungs-  wie  die  auf  der  Denkstufe;  2.  die 
für  die  Erkenntnis  besonders  wichtigen  Verbindungen  von  Funktionen 
und  Hauptrichtungen  der  geistigen  Tätigkeit  (Gedächtnis,  Phantasie  im 
weiteren  Sinne,  Verstand);  3.  die  das  Erkenntnisstreben  begleitenden  Ge- 
fühlsvorgänge; 4.  die  geistigen  „Dispositionen",  wie  Aufmerksamkeit,  Fähig- 
keit zur  Vertiefung  und  Besinnung,  Beweglichkeit  im  Denken,  Fähigkeit 
der  Selbstüberwachung,  Wahrheitssinn,  Selbsttätigkeit,  sowie  die  Motive 
der  geistigen  Arbeit;  5.  „die  psychische  Energetik"  (Stern). 

Im  Gebiet  der  Empfindungen  scheint  dem  weiblichen  Geschlecht 
namentlich  bei  den  Gesichtsempfindungen  eine  größere  Sinnesempfindlich- 


in.  Die  Gegenwart.     2.  Die  intellektuelle  Eigenart  der  Frau,  ZO'i 

keit  (Empfindungsintensität)  und  eine  größere  Unterscheidungsschärfe  zuzu- 
kommen. Dem  entspricht  die  größere  Fähigkeit,  Gesehenes  leichter, 
länger  und  sicherer  zu  behalten  und  in  der  Gestalt  deutlich  gezeichneter, 
lebhafter  Erinnerungsbilder  zu  reproduzieren,  sowie  das  Vorwalten  des 
optischen  Gebietes  bei  Assimilationen,  Komplikationen,  Assoziationen  (op- 
tische Assoziationsrichtung);  ebenso  die  optische  Lebhaftigkeit  der  Phan- 
tasie- und  Traumbilder;  der  visionellere  Charakter  des  Denkens  der  Frauen 
(Denken  in  Bildern),  die  stärkere  Gefühlsbetonung  der  optischen  Ele- 
mente des  Geisteslebens  usw.  Das  Gedächtnis  der  Frau  dürfte  sich 
charakterisieren  durch  die  besondere  Leistungsfähigkeit  im  Gebiet  des 
Optischen,  überhaupt  aber  durch  die  Intensität  und  Deutlichkeit  der 
Erinnerungsbilder;  ferner  durch  die  Leichtigkeit,  mit  der  es  die  Ein- 
drücke aufnimmt,  sowie  durch  die  Schnelligkeit  des  Vergessens  be- 
sonders im  Gebiet  des  Begrifflichen ;  im  weiteren  durch  das  Vor- 
wiegen der  mechanischen  Arbeit  vor  der  logischen  und  endlich  durch 
den  stärkeren  Einfluß  der  Phantasietätigkeit.  —  Auf  der  Stufe  des  Den- 
kens im  Gebiet  des  konkreten  Stoffs  entspricht  der  weiblichen  Natur 
mehr  die  synthetische  als  die  analytische  Tätigkeit.  Das  zeigt  sich  in 
zwei  Richtungen:  in  der  eigentlichen  Phantasietätigkeit  und  in  der  Leb- 
haftigkeit und  Kraft  der  kombinatorischen  Tätigkeit.  Die  Phantasie  erweist 
ihre  Kraft  sowohl  als  „passive"  wie  als  „aktive"  Phantasie;  als  passive, 
wenn  sich  der  Frauengeist  dem  Spiel  der  Vorstellungen  überläßt,  als  ak- 
tive, wenn  er,  wie  z.  B.  bei  dem  genießenden  Lesen  von  Dichtungen,  den 
Forderungen  des  Dichters  beim  Gestalten  und  Umgestalten  der  inneren 
Bilder  folgt.  Überlegen  zeigt  sich  der  Frauengeist  nach  meiner  Erfah- 
rung auch  in  der  kombinatorischen  Tätigkeit,  d.h.  in  der  sinnvollen 
Verbindung  von  Vorstellungen.  Namentlich,  wenn  die  Denkrichtungen 
eingeübt  sind,  fuhrt  das  Denken  der  Mädchen  in  lebhaftem  Zeitmaß  zu 
brauchbaren  Gedankenverbindungen.  —  Geringere  Neigung  zeigt  der 
weibliche  Geist  zu  der  analytischen  Bearbeitung  von  Gesamtvorstel- 
lungen; das  Verbinden  von  Vorstellungen  zu  sinnvollen  Gedanken  ent- 
spricht ihm  mehr  als  das  Zerlegen  der  Gesamtvorstellungen  in  Teile  und 
die  Ermittlung  der  zwischen  den  Teilen  bestehenden  Beziehungen.  In- 
des wird  er  an  konkretem  Stoff  leicht  zu  allen  Formen  analytischer  Ar- 
beit gewonnen.  —  Den  Vorzügen  des  weiblichen  Geistes  im  Gebiet  des 
konkreten  Denkens  entspricht,  als  naturgemäße  Kehrseite  der  Lichtseite, 
ein  Zurückstehn  im  Gebiet  des  begrifflichen  Denkens;  im  weiblichen 
Denken  lösen  sich  die  Begriffe  nicht  so  leicht  wie  im  männlichen  von 
ihrem  konkreten  Hintergrunde  zu  scharfer  Bestimmtheit  los;  daher  wird 
den  Ergebnissen  des  Operierens  mit  diesen  Begriffen  leicht  die  All- 
gemeingültigkeit fehlen,  für  die  Klarheit  und  Bestimmtheit  der  Be- 
griffe Voraussetzung  ist.  Ist  aber  für  Klarheit  der  Begriffe  gesorgt,  so 
geht  das  Arbeiten  mit  den  Begriffen,  das  „Phantasieren  in  Begriffen" 
(Wundt),  gut  vonstatten. 


iQA  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchcnscluilwescn. 

Von  entscheidender  Wichtigkeit  für  die  Charakteristik  des  weiblichen 
Geistes  sind  die  das  Erkenntnisstreben  begleitenden  Gefühlsvorgänge. 
Hier  liegt  der  wesentliche  Differenzpunkt.  Charakteristisch  für  diese  Ge- 
fühle ist  ihre  größere  Lebhaftigkeit,  ihre  Affektnatur.  Dies  gilt  zunächst 
von  (\vm  Gefühl  der  Tätigkeit,  das  mit  der  geistigen  Arbeit  verbunden 
ist;  ebenso  von  dem  Gefühl  der  Spannung  und  der  Lösung  sowie  von 
dem  Gefühl  der  Befriedigung.  Besonders  bezeichnend  aber  sind  die  Ge- 
fühlsvorgänge bei  dem  Eintreten  solcher  Hemmnisse,  die  nicht  in  leichter 
„Fortbewegung  von  Punkt  zu  Punkt"  überwunden  werden;  das  Gefühl  der 
Hemmung  wird  dann  intensiv.  Leicht  verbindet  sich  mit  diesem  Gefühl 
das  Gefühl  des  Zweifels  an  der  Möglichkeit  der  Überwindung  des  Hinder- 
nisses und  als  Folgeerscheinung  Mutlosigkeit  und  eine  starke  Senkung 
des  Kraftgefühls.  Wird  das  Hindernis  aber  durch  kräftige  Impulse  über- 
wunden, so  bleibt  doch  dem  Gefühl  leicht  der  Charakter  ängstlicher  Ge- 
spanntheit, und  die  Arbeit  gewinnt  so  die  Natur  des  hastigen  Drängens 
auf  den  Abschluß  hin.  Tritt  in  dem  Verlauf  des  Denkprozesses  etwas 
Unerwartetes  ein,  das  sich  nicht  in  den  Prozeß  eingHedern  läßt,  so 
entsteht  leicht  der  Affekt  des  Schrecks,  der  Bestürzung.  Die  Lebhaftig- 
keit aller  dieser  Gefühle  hat  zur  Folge  eine  schwächere  oder  stärkere 
Benommenheit,  eine  Unbesinnlichkeit  und  eine  Unbesonnenheit,  die  den 
Denkprozeß  namentlich  durch  Einschränkung  der  Übersicht  über  die  Mög- 
lichkeiten der  Lösung  ungünstig  beeinflußt  und  in  einem  circulus  viti- 
osus  wieder  asthenische  Gefühle  zur  Folge  hat.  Das  Ergebnis  dieser  Ge- 
fühlsvorgänge ist  eine  momentane  Herabsetzung  der  geistigen  Kraft,  die 
im  grellsten  Mißverhältnis  zu  dem  allgemeinen  Energievorrat  steht. 
Unter  den  geistigen  Dispositionen,  d.h.  den  für  die  intellektuelle  Ar- 
beit wichtigen  Zuständlichkeiten  des  Geistes,  sei  zunächst  die  Aufmerk- 
samkeit genannt.  Der  weibUche  Typus  der  Aufmerksamkeit  kennzeichnet 
sich  durch  die  größere  Fähigkeit  der  Anpassung,  aber  auch  durch  ge- 
ringere Beständigkeit,  ferner  durch  das  Überwiegen  des  Umfangs  über 
die  Intensität,  durch  größere  Elastizität  und  geringere  Fähigkeit  der 
Konzentration  auf  ein  enges  Gebiet,  ferner  durch  größere  Ablenk- 
barke it,  aber  auch  durch  größere  Empfänglichkeit  für  Eindrücke, 
namentlich,  wenn  sie  neu  oder  gefühlsbetont  sind. 

Artbildende  Unterschiede  der  weiblichen  Geistesart  ergibt  die  Be- 
trachtung eines  zusammenhängenden  Arbeitsvorgangs.  Da  ist  zunächst 
der  Unterschied  in  der  Setzung  des  Arbeitsziels:  Seiner  Natur  nach 
neigt  der  weibliche  Geist  mehr  dazu,  sich  Ziele  geistiger  Arbeit  setzen 
zu  lassen,  als  sie  sich  selbst  zu  setzen;  doch  gelingt  die  Gewöhnung  an 
autonome  Zielsetzung  leicht.  Bei  der  Abwägung  der  Arbeitsschwierig- 
keit ist  der  weibliche  Geist  zur  Überschätzung  der  Schwierigkeit  und 
zur  Unterschätzung  der  eigenen  Kraft  disponiert.  Daher  die  Scheu 
vor  den  fernen  Zielen.  In  dem  Entwurf  des  Arbeitsweges  fehlt  gern 
die  Besonnenheit.    Die    zum  Beginn    der    Arbeit    erforderUche    Arbeits- 


in.  Die  Gegenwart.     2.  Die  intellektuelle  Eigenart  der  Frau.  205 

energie  wird  leicht  durch  lebhaften  Willensimpuls  gewonnen;  die  „Über- 
windung des  Trägheitsmoments"  (die  „Anregung'')  geschieht  meist  ohne 
Schwierigkeit.  Doch  wirkt  der  Willensimpuls,  der  Arbeitsanstoß,  nicht 
so  kräftig  fort  als  beim  männlichen  Geist,  bei  dem  die  Anpassung  an  die 
Arbeit  meist  in  langsamerem  Zeitmaß  und  unter  größerem  Kraftaufgebot 
erfolgt.  Selbst  wenn  die  Arbeit  gleichmäßig  verläuft,  ohne  bedeutendere 
Schwierigkeiten,  bedarf  es  bei  der  Frauenarbeit  zur  Erhaltung  der  En- 
ergie besonderer  Willensanstöße.  Ungünstig  gestaltet  ist  der  Frauengeist 
in  der  Bemessung  der  zu  einer  Arbeit  erforderlichen  Arbeitsenergie; 
besonders  fällt  ein  Mangel  an  Sparsamkeit  auf,  da  leicht  mit  zu  großem 
Kraftaufgebot  gearbeitet  wird.  Besonders  günstig  ist  der  Geist  der  Frau 
für  den  Wechsel  der  Arbeitsform,  der  intellektuellen  Funktionsweise, 
angelegt;  das  Umschalten  geschieht  ohne  große  Schwierigkeit.  Da- 
her die  Befähigung  des  weiblichen  Geistes  für  Arbeiten  wie  die 
ästhetische  Behandlung  einer  Dichtung.  Die  Zielstrebigkeit  des  weib- 
lichen Geistes  ist  insofern  geringer  als  die  des  männlichen,  als  leicht 
namentlich  unter  dem  Einfluß  des  lebhaften  assoziativen  Gedanken- 
zustroms die  zwingende  Kraft  der  Zielvorstellung  geschwächt  wird. 
In  diesem  Sinne  kann  man  von  einer  größeren  Ablenkbarkeit  des 
weiblichen  Geistes  sprechen.  Die  Arbeitszeit  erscheint  im  allgemeinen 
kürzer,  da  der  Gedankenablauf  und,  was  für  viele  Arbeiten  wichtig 
ist,  die  mündliche  oder  schriftliche  Darstellung  im  ganzen  schneller 
ist.  Die  Kehrseite  der  Schnelligkeit  ist  leicht  die  Flüchtigkeit  und  Un- 
exaktheit.  Gern  geschieht  die  Gedankenbewegung  enthymematisch, 
d.  h.  im  Sprunge.  Erkauft  wird  diese  erfreuliche  Lebhaftigkeit  durch  ge- 
ringere Sicherheit  der  Ergebnisse;  die  Schnelligkeit  hindert  den  be- 
sonnenen Umblick.  Eine  dem  weiblichen  Geist  seiner  Natur  nach  nicht 
genehme  Situation  ist  die  Zwangslage,  in  der  es  eine  wissenschaftliche 
Entscheidung  gilt;  hier  ist  eine  Xeigung  zur  Unentschiedenheit  spür- 
bar oder  doch  zu  verklausulierter  Entscheidung.  —  Am  meisten  an- 
gefochten wird  der  weibliche  Geist  wegen  seiner  „Suggestibilität",  sei 
es,  daß  die  Suggestion  von  anderen  (durch  ihre  Autorität)  oder  durch  die 
Seelenlage  der  Denkenden  selbst  (ihre  vorgefaßte  Meinung,  ihre  „inhalt- 
lichen" oder  „formalen"  Gefühle  und  Affekte)  ausgeübt  wird.  Als  wert- 
voll wird  man  den  persönlichen  Charakter  des  weiblichen  Denkens  aner- 
kennen müssen,  andererseits  indes  auf  Erziehung  und  Selbsterziehung  des 
weiblichen  Geistes  zur  Objektivität,  zur  Prüfung  der  Ergebnisse  an  ob- 
jektiven Maßstäben  und  sicheren  Erkenntnissen,  und  zur  Selbstkontrolle 
bedacht  sein  müssen. 

Eine  sehr  wertvolle  Eigentümlichkeit  des  Frauengeistes  liegt  in  seiner 
Spontaneität,  in  seiner  Fähigkeit  zu  freitätigem  Arbeiten.  Erfahrungs- 
mäßig bedarf  es  z.  B.  nur  wenig  der  äußeren  Anreg^ing  zu  häuslichem 
Fleiß;  hier  genügen  zumeist  die  inneren  Willensimpulse.  Aber  auch  im 
Unterricht    ist    die  Fähigkeit    zu    spontanem   Tun    eine   Tatsache,    die    be- 


2o6  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschrilwesen. 

sonders  auf  den  Gebieten  konkreter  Geistesarbeit,  aber  auch  auf  den  ab- 
strakten Gebieten  zutage  tritt,  wenn  die  Schülerinnen  über  eine  sichere 
Arbeitstechnik  verfügen  und  so  die  oben  erwähnten  Hemmungen 
gefühlsmäßiger  und  intellektueller  Art  wegfallen.  —  Unter  den  psychischen 
Erscheinungen  auf  dem  Gebiet  der  Übung  und  Ermüdung  sei  die  grö- 
ßere Übungsfähigkeit  hervorgehoben,  der  aber  eine  geringere  Übungs- 
festigkeit entgegensteht,  und  die  größere  Erholungsfähigkeit,  der 
als  Minus  eine  größere  Erholungsbedürftigkeit  gegenübersteht.  Be- 
sonders auffällig  sind  in  der  Kraftkurve  der  Energie  des  Mädchengeistes 
die  physisch  bedingten  starken  Senkungen,  denen  meist  starke  Hebungen 
entsprechen.  Im  allgemeinen  ist  bei  der  Inanspruchnahme  der  weiblichen 
Geistesenergie  die  größere  Zartheit  des  Organismus  in  Rechnung  zu  ziehen, 
wenn  nicht  die  Willenskraft  dem  Körper  namentlich  des  heranwachsenden 
Mädchens  Erfolge  abringen  soll,  die  ihm  schaden  müssen. 

Was  die  Richtung  der  geistigen  Interessen  des  Mädchens  an- 
geht, so  ist  für  die  Mädchennatur  eine  große  Anpassungsfähigkeit  be- 
zeichnend, die  den  oberflächlichen  Beobachter  über  den  natürlichen  Inter- 
essenzug täuschen  kann;  das  Mädchen  ist  „für  alles"  zu  interessieren,  es 
bringt  seine  Eigennatur  den  Unterrichtsstoffen  gegenüber  durch  passives 
oder  gar  repulsives  Verhalten  weit  weniger  zur  Geltung  als  der  Knabe; 
oft  zeigt  das  Interesse  des  Mädchens  daher  aber  auch  viel  weniger  die 
Vorzüge  der  Natürlichkeit.  Der  natürliche  Interessenzug  des  Mädchens 
geht  auf  das  Konkrete  und  das  Persönliche;  neben  die  Neigung  zu 
konkretem  Denken  tritt  die  Neigung  zum  Darstellen;  in  letzterer  Rich- 
tung wirkt  die  starke  Begabung  der  Frau  für  sprachliche  Formulierung. 

Unter  den  Motiven  der  Bildungsarbeit  ist  bei  den  Mädchen  anerkannter- 
maßen   der  Ehrgeiz    stark   wirksam;    auch    löst    sich    beim   Mädchen    das 
Sachinteresse  schwerer  als  beim  Knaben  vom  Interesse  für  den  Vermittler 
des  Wissens  ab. 
Zurückweisung  Ist  im  voraufgeheudeu  der   weibliche  Geist  nach  seinen  Vorzügen  und 

"fürVnaben!^  Mängeln  richtig  gekennzeichnet,  so  muß  die  Größe  des  Unterschieds 
zwischen  männlichem  und  weiblichem  Geist  anerkannt  werden.  Diese  An- 
erkennung aber  bedeutet  eine  vernichtende  Kritik  der  großen  Zeitströmung, 
deren  Ziel  die  tunlichste  Angleichung  der  höheren  Mädchenbildung  an 
die  höhere  Knabenbildung  ist.  Auf  dem  Standpunkte  unserer  psycholo- 
gischen Anschauung  kann  weder  von  Koedukation  noch  von  der  Um- 
wandlung der  Mädchenschule  in  eine  Realschule  oder  in  ein  Real- 
gymnasium die  Rede  sein.  Wir  sehen  in  diesen  Bewegungen  nichts  an- 
deres als  —  eine  Brutalität  gegen  die  psychische  Natur  der  Frau.  Will 
man  der  Frauennatur  gerecht  werden,  so  muß  man  die  Mädchen  grund- 
sätzlich und  von  vornherein  (nicht  erst  etwa  vom  zwölften  Jahre  ab)  anders 
als  die  Knaben  bilden.  Man  muß  in  dem  Unterrichtsziel,  in  der  Stoffaus- 
wahl, im  Lehrplan,  in  der  Unterrichtsweise,  in  der  Stundenzahl,  in  den 
Arbeitspausen,  im  Größten  wie  im  Kleinsten,  differenzieren,  und  zwar  mit 


ni.  Die  Gegenwart.     3.  Das  BiMungsideal.  207 

dem  Ziel,  daß  die  spezifische  Begabung  des  Frauengeistes,  von  ihren 
Mängehi  befreit,  sich  voll  entfaltet.  Jede  Methode  für  die  höhere  Mäd- 
chenschule muß  auf  die  Stärke  des  weiblichen  Geistes  angelegt  sein, 
nicht  aber  darauf,  den  Mädchengeist  seiner  Natur  zuwider  zu  formen. 
So  erhalten  wir  zwei  gcschlcchtsunterschiedene  Geistesarten  und  eine 
Ergänzung  männlicher  und  geistiger  Denkart,  damit  zugleich  aber  eine 
wesentliche  Kulturbereicherung.  Selbstverständlich  nur  unter  der  Voraus- 
setzung, daß  man  die  Kräfte  des  weiblichen  Geistes,  die  zur  Entfaltung 
drängen,  in  ernster  Arbeit  für  ernste  Arbeit  ausbildet.  In  dem  Grundsatz: 
geistige  Zweigeschlechtigkeit,  nicht  androgj'ne  oder  gynandrische  Zwitter- 
bildung und  auch  nicht  Vermännlichung  der  Frauenbildung  sollte  sich  ein 
altes  Kulturvolk,  dessen  Kulturkraft  in  der  Männlichkeit  seiner  Männer 
und  der  Weiblichkeit  seiner  Frauen  gelegen  hat,  durch  „Erfolge"  der 
Koedukation  bei  einem  jungen  Kulturvolk,  das  noch  keine  innere  Kultur 
zu  riskieren  hat,  nicht  einen  Augenblick  irre  machen  lassen. 

3.  Das  Bildungsideal.    Die  wichtigsten  Maßstäbe  für  die  Beurteilung  üer  personliche 

Charakter  dos  zu 

der  Kulturströmunsfen  auf  dem  Gebiet  der  höheren  Mädchenschule  gewährt  ven%irkiichen- 

.    °  den  Hildungs- 

das  Bildungsideal,  das  für  uns,  die  Beurteilenden,  maßgebend  ist.  Nach  ideais. 
der  von  uns  durchgeführten  Grundanschauung  muß  alle  wahre  Bildung  per- 
sönliche Bildung  sein,  d.  h.  wir  erkennen  nur  da  ideale  Bildung  an,  wo  das 
Gebiet  des  Erkennens  ein  Betätigungsgebiet  persönlichen  Lebens  ist.  Aus 
dieser  Anschauung  ergeben  sich  eine  Reihe  wichtiger  Forderungen  und 
Folgerungen.  Zunächst  bedeutet  Bildung  nicht,  wozu  der  Name  verleiten 
könnte,  den  ruhenden  Besitz  von  einem  irgendwie  gearteten  Wissen, 
auch  nicht  einen  irgendwie  beschaffenen  Zustand  des  Geistes.  Persön- 
liche Bildung  ist  ein  geistiges  Leben  und  Streben.  Die  Kräfte  dieses 
Lebens  und  die  Motive  dieses  Strebens  müssen  im  Eigensten  der  Person 
liegen.  Eine  Bildung,  deren  Motiv  der  Wunsch,  für  gebildet  zu  gelten, 
ist,  muß  verworfen  werden,  wie  jede  Bildung,  die  irgendwie  das  Ergebnis- 
äußeren  Zwangs  ist.  Ebenso  müssen  die  Richtungen  des  Bildungsstrebens, 
die  Bahnen  des  Bildungslebens  durch  das  Wesen  der  Persönlichkeit  be- 
stimmt werden ;  zurückgewiesen  werden  muß  eine  Bildung,  bei  der  nicht 
das  Wesen  des  Menschen,  sondern  etwa  die  Mode,  der  Tagesgeschmack 
maßgebend  ist.  Und  wiederum  darf  der  wahrhaft  Gebildete  nicht  von 
bloßen  Trieben  bestimmt  werden;  er  muß  sich  im  Lichte  klarer  Selbster- 
kenntnis selbst  bestimmen.  Hiermit  gegeben  ist  der  innere  Zusammen- 
hang des  zeitlich  sich  entwickelnden  Bildungslebens,  die  Kontinuität  in 
der  Ausgestaltung  dieses  Lebens.  Zugleich  auch  der  Zusammenhang 
zwischen  den  einzelnen  Bildungsbestrebungen.  Ferner  gehört  es  zum 
Wesen  persönlicher  Bildung,  daß  sich  das  Erkenntnisleben  nicht  gegen 
die  übrigen  Betätigungsgebiete  des  persönlichen  Lebens  absondert,  son- 
dern in  die  Totalität  des  persönlichen  Lebens  einbegriffen  ist.  Bei  aller 
Selbständigkeit  des  Bildungsstrebens  wird  es  doch  von  den  übrigen  Ge- 
bieten   persönlichen  Lebens    beeintlußt    werden,    wie    von    ihm    selbst    die 


2o8  Hugo  Gaudig:  Höheres  Miidchenschulwescn. 

Stärksten  Einwirkungen  auf  die  anderen  Gebiete  ausgehn.  Der  persön- 
liche Charakter  der  Bildung  wird  sich  auch  in  dem  reichen  Gefühlsleben 
ausprägen,  von  dem  das  Bildungsleben  umspielt  wird.  Das  Erkennen  ist 
ja  nichts  Indifferentes,  sondern  wird  von  den  Interessen  der  Persönlichkeit 
getragen.  Seine  schärfste  Ausprägung  hat  das  Ideal  einer  persönlichen 
Bildung  auf  dem  Gebiete  der  Werturteile  und  Wertbegriffe;  in  der  Be- 
wertung-, sei  sie  ästhetisch  oder  politisch  oder  ethisch  oder  religiös,  kommt 
ja  die  Persönlichkeit  mit  ihrem  Geschmack  und  den  Maßstäben  zur  Geltung, 
in  denen  doch  der  Reinertrag  des  ganzen  persönlichen  Lebens  enthalten  ist. 
Der  innerste  Ring  der  Bildung  ist  die  Lebens-,  Welt- und  Gottesanschau- 
ung. Um  diesen  innersten  Ring  liegen  die  Gebiete  des  Geschmacks;  auf  der 
Peripherie  lagert  mancherlei  Wissen,  an  dem  das  Interesse  weniger  per- 
sönlich, mehr  rein  erkenntnismäßig  ist.  —  Die  Form,  in  der  das  Bildungs- 
wissen erworben  ist,  kann  nur  die  der  Selbsttätigkeit  sein.  Ein  bloßes 
Sichbildenlassen  entspricht  nicht  dem  aktiven  Charakter  persönlicher  Bil- 
dung. Aktivität  muß  sich  zunächst  in  der  Wahl  der  Stoffe  zeigen,  an 
denen  man  sich  bilden  will.  Dann  gilt  es  zunächst,  sich  auf  reine  Empfäng- 
lichkeit zu  stimmen  und  auf  diejenige  geistige  Tätigkeit,  die  nichts  als 
Verständnis  will.  Diese  Tätigkeit  aber  muß,  soviel  als  möglich,  spontan 
sein.  Dem  Verständnis  folgt  dann  das  Urteil  über  den  Wahrheitswert, 
den  ästhetischen,  ethischen,  religiösen  und  sonstigen  Wert,  und  nun  erst 
findet  die  innere  Aneignung  zu  bleibendem  persönlichen  Besitz  statt,  wo- 
mit dann  der  ganze  Vorgang  eigentätigen  Erkennens  abgelaufen  ist.  Wie 
groß  der  Umfang  und  welches  der  Inhalt  der  persönlichen  Bildung  ist, 
das  hängt  von  der  geistigen  Kraft  der  Persönlichkeit  und  ihrer  Bildungs- 
lag-e  ab.  Jedoch  muß  eine  engbegrenzte  Bildung,  die  von  einer  Persön- 
lichkeit getragen  ist,  höher  geschätzt  werden  als  Vielwisserei. 
Schule  und  Was  hat  nun  die  höhere  Mädchenschule  zu  leisten,   damit  es  zu  sol- 

ungsi  ea.  ^^^^  Fraueubüdung  kommt?  Sie  muß  ihre  Schülerinnen  mit  sich  und 
mit  dem  Ideal  persönlicher  Bildung  bekannt  machen,  damit  sie 
sich  für  ihr  Leben  nach  der  Schulzeit  ein  persönliches  (individuelles) 
Bildungsziel  stecken  können.  Sie  muß  ferner  ihre  Schülerinnen  mit  den 
im  Leben  fortwirkenden  Impulsen  eines  idealen  Bildungsstrebens  er- 
füllen. Sie  muß  sie  drittens  mit  der  Kraft  und  den  Mitteln  selbsttätiger 
Bildungsarbeit  ausstatten. 
Ablehnung  un.  Dics  Bildungsideal  scheidet  uns  von  allen  denen,  die,  sich  selbst  be- 
iwdungs'arbi'it.  wüßt  odcr  nicht  bewußt,  den  Zweck  der  Schule  in  der  Übermittlung  einer 
gewissen  (womöglich  durch  die  Prüfungsordnung  bestimmten)  Summe  von 
Kenntnissen  sehen.  Sie  scheidet  uns  auch  von  denen,  die  in  der  Schule 
nur  Massenbildung  anstreben  und  zwischen  öffentlicher  Schule  und  Pflege 
der  geistigen  Individualitäten  einen  Widerspruch  sehen.  Ebenso  ferner 
von  denen,  die  die  Schulbildung  nicht  auf  die  freie  Persönlichkeitsbildung 
abzwecken,  sondern  die  Schule  als  Selbstzweck  betrachten  oder  umge- 
kehrt   ihr    den  Charakter    der  Fachschule    geben   möchten.     Endlich    von 


in.  Die  Gegenwart.     3.  Das  Bildungsideal.  20g 

denen,  die  nicht  mit  aller  Entschlossenheit  die  Erziehung  zur  Selbsttätig- 
keit wollen. 

Soll   die  Schule   ihre  Schülerinnen  so  weit  führen,   daß  sie  zur  freien  Forderung  aus- 
reichender 
Selbstbildung  fähig  sind  und  einer  weiteren  schulmäßigcn  Führung  ent-    Bildungszeit, 

behren  können,  so  muß  sie,  auch  wenn  Umfang  und  Inhalt  der  Bildung 
sehr  eng  begrenzt  sind,  die  Schülerinnen  bis  zu  dem  Alter  behalten,  in 
dem  Verständnis  für  ideale  Ziele,  die  Kraft  und  die  Lust  zur  Selbst- 
bestimmung auf  diese  Ziele  bei  der  Durchschnittsnatur  genügend  ent- 
wickelt sind.  Das  ist  etwa  nach  zehn  Schuljahren  frühestens  der  Fall. 
So  muß  denn  ein  neunjähriger  Kursus,  wie  er  z.  Z.  noch  in  Preußen  ge- 
setzlich ist,  als  durchaus  unzureichend  erscheinen. 

Die  Auswahl  der  Bildungsstoffe,  die  der  gegenwärtige  Lehrplan  ^,"^^"^"''^^^^5^ 
der  höheren  Mädchenschule  aufweist,  ist  Gegenstand  mannigfacher  Kritik 
in  den  letzten  Jahrzehnten  geworden.  Für  uns  muß  die  kritische  Frage 
zunächst  lauten:  Sind  die  Bildungsstoffe  so  gewählt,  daß  an  ihnen  sich 
die  intellektuellen  Interessen  entwickeln  können,  denen  sich  eine  vom 
Drang  nach  persönlicher  Bildung  beseelte  Frau  naturgemäß  zuwendet? 
Von  diesem  natürlichen  Interessenzug  aus   muß   die  Stoffauswahl  wesent-    a)  unter  dem 

"^  Einfluß  der 

lieh    bestimmt    sein.     Die   Kluft    zwischen   den   natürlichen   Interessen   des  intellektuellen 

Interessen. 

gebildeten  Menschen  und  vielen  Interessen,  die  unsere  höheren  Schulen 
pflegen,  erscheint  als  ein  schwerer  Schade,  dessen  auffälligste  Erscheinung 
das  mit  dem  Ende  der  Schulzeit  eintretende  Abreißen  der  Interessenfäden 
ist,  die  die  Schule  angesponnen  hat.  Dieser  Gegensatz  schwächt  die 
Fort-  und  Fernwirkung  der  Schule  ungemein.  Nun  gibt  es  ja  allerdings 
Stoffe,  die  unzweifelhaft  schulnotwendig  sind,  weil  an  ihnen  Schulung 
des  Geistes  gewonnen  wird,  und  an  denen  das  Interesse  nach  der  Schul- 
zeit naturgemäß  erlischt  (ich  erinnere  an  die  Mathematik);  aber  diese 
Stoffe  sind  dann  auch  zwar  nach  ihrem  vollen  Wert,  aber  eben  doch  als 
Hilfsstoffe  zu  bewerten.  Wir  weisen  also  alle  jene  Neuerungen  zurück, 
die  nicht  von  dem  Standpunkt  ausgehen,  daß  an  den  Stoffen  der  Schule 
die  Lust  und  die  Kraft  zur  Befriedigung  der  natürlichen  Interessen  per- 
sönlicher Bildung  gewonnen  werden  muß.  Zurzeit  haben  wir  in  den 
Schulen  vielfach  Bildungsinteressen,  die  sich  nicht  naturgemäß  in  das 
Leben  fortsetzen,  und  im  Leben  Bildungsinteressen,  die  verkümmern,  weil 
die  Schule  sie  nicht  entwickelt  hat.  „Im  Leben"  —  d.  h.  nicht  in  einem 
Abstraktum  Leben,  sondern  in  dem  Leben  der  Gegenwart,  in  dem  jeder 
Mensch,  der  der  Welt  nicht  abgewandt  ist,  sein  persönliches  Leben  führt. 
Wohl  hat  es  Zeiten  gegeben,  in  denen  ^er  Mensch,  in  ruhiger  Daseins- 
behaglichkeit lebend,  mit  seinen  geistigen  Interessen  Bürger  früherer 
Kulturzeiten  werden  konnte,  aber  selbst  das  stumpfste  Zeitgefühl  muß 
sich  sagen,  daß  unsere  Zeit  voll  ist  von  stärkster,  beängstigender  Spannung 
in  die  Zukunft  hinein.  So  gewiß  jedes  wertvolle  Personenleben  in  unserer 
Zeit  ein  Gegenwartsleben  sein  muß,  so  gewiß  kann  ein  natürliches 
Bildungsinteresse  nicht  z.  B.  in  die  antike  Welt  zurückführen.    (Das  Fach- 

Ull    iCuLTUK    DUL   GlOBNWAaT.      I.    I.  '4 


2IO  Hugo  Gaudik;  Höheres  Mädchenschuhvesen. 

Interesse  des  Gelehrten  ist  natürlich  außer  Frage.)  Es  müssen  darum 
schon  hier  mit  aller  Entschiedenheit  die  Bestrebungen  abgelehnt  werden, 
die  mit  dem  Studium  der  alten  Sprachen  das  Defizit  der  Mädchen- 
bildung ausgleichen  wollen.  Hier  handelt  es  sich  um  einen  grundstürzenden 
Irrtum,  der  außerdem  einen  Bruch  mit  der  Geschichte  der  höheren  Mädchen- 
schule bedeuten  würde.  Ein  anderes  Urteil  wäre  möglich,  wenn  der  Be- 
weis gelänge,  daß  etwa  das  Latein  zu  irgendwelcher  Schulung,  logischer 
oder  sprachlicher,  unvermeidlich  wäre.  Die  Frage,  ob  Latein  als  Vor- 
bereitung zu  den  wissenschaftlichen  Studien  der  Frauen  unumgänglich 
nötig  ist,  wird  unten  berührt  werden. 
(Die  natürlichen  4.  D i e  B il du n gs st o ff  c.  Welchcs  sind  nun  die  natürlichen  Erkenntnis- 

richtungen.) richtungen  des  gebildeten  Menschen  (auch  der  gebildeten  Frau)  unserer  Zeit? 
Das  Charaktermerkmal  unserer  Zeit  ist  die  soziale  Frage;  alle  anderen 
zeitbewegenden  Fragen  haben  nicht  entfernt  die  Druckkraft  dieser  Frage; 
viele  von  ihnen  sind  Unterfragen  dieser  Hauptfrage.  Die  soziale  Frage  ist 
die  Frage  des  XX.  Jahrhunderts,  ja  der  gesamten  Weltepoche,  in  die  wir 
eingetreten  sind.  Ein  Personenleben,  in  das  diese  Frage  nicht  eingriffe,  Ziel 
und  Gestalt  gebend,  ein  Personenleben,  das  sich  als  persönliches  nicht  eben 
in  der  Stellungnahme  zu  dieser  Wesensfrage  unserer  Zeit  bewährte,  steht 
außerhalb  der  Zeit.  So  ist  denn  die  soziale  Frage  auch  das  Gebiet,  auf 
das  die  natürlichen  Erkenntnisrichtungen  hinführen.  Wer  kein  außerzeit- 
liches Personenleben  führt,  dessen  Geist  wird  die  magische  Anziehungs- 
kraft dieses  Lebensgebietes  spüren.  Die  Schule  hat  die  Aufgabe,  das 
Verständnis  für  das  soziale  Leben  anzubahnen.  Sie  muß  die  moderne  Ge- 
sellschaft nach  ihren  natürlichen  und  ihren  freigebildeten  Zusammenhängen 
und  Gegensätzen  verstehen  lernen.  Sie  kann  das  nur,  wenn  sie  das  Ver- 
ständnis für  alle  in  Betracht  kommende  Faktoren,  die  Stammes-,  Nationa- 
litäts-,  Rassenzusammenhänge,  die  wirtschaftlichen,  politischen,  sittlich- 
religiösen, geistigen  Verhältnisse  geschichtlich  entwickelt.  Die  soziale 
Frage  greift  in  alle  Gebiete  des  Kulturlebens  hinüber.  Aber  diese  Ge- 
biete sind  auch  an  sich  um  ihrer  selbst  willen  Gegenstand  natürlichen 
Erkenntnisstrebens;  so  das  politische  Leben  der  deutschen  Nation  in  seiner 
großen  Geschichte;  so  vor  allem  „das  geistige  Leben"  der  Nation  im 
engeren  Sinne,  das  Leben  in  Wissenschaft,  Technik  und  Kunst,  das 
Sprachleben.  Die  Schule  hat  auch  hier  die  Aufgabe,  den  natürUchen 
Bildungsinteressen  propädeutisch,  wegweisend  zu  dienen,  besonders  durch 
Erweckung  geschichtlichen  Verständnisses.  Wir  sind  hier  mit  allen  denen 
einig,  die  von  der  Schule  eine,  vertiefte  geschichtliche  Bildung,  Berück- 
sichtigung der  Volkswirtschaft  in  weiterem  Maße,  Behandlung  der  Geschichte 
in  der  Form  der  Kulturgeschichte  fordern.  Doch  muß  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  solche  vertiefte  Bildung  weder  bei  der  gegenwärtigen  Methode 
noch  bei  der  gegenwärtigen  Stundenzahl  erreichbar  ist  (s.  u.).  Der  Cha- 
rakter der  höheren  Mädchenschule  wird  sich  nicht  durch  Auslassung  eines 
der  Kulturgebiete,   sondern   nur  durch  Betonung  der  für  das  Frauenleben 


in.  Die  Gegenwart.     4.  Die  BildungsstofTe.  2  11 

besonders  wichtigen  Gebiete,  z.  B.  des  Frauenlebens,  des  Familienlebens, 
des  Lebens  der  Träger  deutscher  Größe,  des  literarischen  und  künstleri- 
schen Lebens,  ausprägen.  Die  hier  besprochenen  Gebiete  intellektuellen 
Interesses  weisen  vielfach  über  den  Rahmen  nationalen  Lebens  hinaus; 
doch  liegen  innerhalb  dieses  Rahmens  die  Gebiete  der  naturgemäß  stärk- 
sten Anteilnahme.  Die  starke,  selbstbewußte  Betonung  der  nationalen 
Bildungsstoffe  liegt  in  der  Natur  persönlicher  Bildung.  Die  Idee  einer 
lebendigen  Bildung  fordert,  was  die  Fülle  unvergleichlicher  Bildungswerte 
empfiehlt.  Deutsche  Bildung  mit  ursprünglichem  oder  doch  deutschge- 
formtem Bildungsgut  ist  eine  Forderung,  die  endlich  gegenüber  dem 
fremden  Bildungsgut  durchgedrückt  werden  muß.  „Deutsche  Bildung"  in 
der  Hauptsache  mit  fremdsprachigem  Bildungsgut  erreichen  zu  wollen, 
heißt  der  überreichen  deutschen  Kultur  ein  Armutszeugnis  ausstellen. 
Doch  soll  nicht  verkannt  werden,  daß  einerseits  die  geschichtliche  Be- 
trachtung des  deutschen  Kulturlebens,  anderseits  der  Eigenwert  fremden 
Kulturlebens  und  drittens  der  internationale  Zug  der  neuzeitlichen  Kultur 
über  das  nationale  Bildungsgut  hinausweisen,  so  in  erster  Linie  auf  das 
Leben  der  Griechen  und  der  Franzosen,  in  zweiter  auf  das  der  Römer 
und  der  Engländer.  Man  halte  indes  zunächst  fest,  daß  ein  Wissens- 
interesse an  dem  Kulturleben  der  alten  Völker  sich  auch  in  reichem  Maße 
ohne  Kenntnis  der  fremden  Sprache  befriedigen  kann.  Selbstverständlich 
verlangt  ein  allseitig  entfaltetes  und  ein  spezifisch  wissenschaftliches  In- 
teresse auch  die  Kenntnis  der  fremden  Sprache,  die  nicht  nur  eines  der 
wertvollsten  Güter  fremder  Kultur,  sondern  auch  für  viele  andere  Güter 
die  Form  ist,  in  der  sie  uns  überliefert  sind,  zugleich  die  Form,  die  in 
engster  Wechselbeziehung  mit  dem  Inhalt  steht.  Aber  erstens  hat  der 
Genuß  dieser  feinen  Beziehungen  gelehrte  Kenntnis  der  Sprache  zur 
Voraussetzung,  zweitens  hemmt  die  Mühsal  der  Erlernung  der  Sprache 
und  des  Übersetzens  die  Freude  am  Genuß  des  fremden  Geisteslebens, 
drittens  wird  der  Mangel  an  Feinheit  der  Erkenntnis  durch  die  in  sehr 
verkürzter  Zeit  erreichbare  Tiefe  und  Breite  der  Erkenntnis  ersetzt.  Unter 
den  beiden  modernen  Kulturvölkern  zieht  das  französische  das  Interesse 
ungleich  stärker  an  als  das  englische,  schon  durch  den  Reiz  seiner  der 
deutschen  vielfach  so  entgegengesetzten  Eigenart;  ebenso  durch  die  kul- 
turellen Wechselbeziehungen  beider  Nationen  usw.  Die  wertvollere  Lite- 
ratur des  Englischen  bildet  kein  so  schwer  wiegendes  Moment,  da  sie  zu 
unserer  Literatur  nicht  entfernt  in  dem  Maße  wie  die  des  Französischen  im 
Ergänzungsverhältnis  steht,  und  da  die  literarischen  Werke,  die  uns  Deut- 
schen wesentlich  anderes  als  unsere  eigene  Literatur  bieten,  in  Über- 
setzungen zugänglich  sind,  die  den  Geist  des  Originals  besser  geben  als 
Übersetzungen  aus  dem  Französischen  ins  Deutsche.  Ebenso  vermag  die 
französische  Sprache  ungleich  mehr  als  die  englische  das  Wissensinter- 
esse an  firemdem  Sprachleben,  das  ein  Merkmal  höherer  Bildung  ist,  an- 
zuregen und  zu  befriedigen.    Sie  stellt  sich  von  vornherein  dem  Lernenden 

"4* 


2  12  Hugo  Gaudig  :    Höheres  Mädchenschulwesen. 

als  eine  andere  Sprachwelt  dar.  Zudem  ist  sie  ein  lebendiger  Ausdruck 
des  französischen  Geisteslebens.  Können  zwei  fremde  Sprachen  in  einer 
Schulart  bewältigt  werden,  dann  müssen  es  vom  Standpunkt  der  persön- 
lichen Bildung  die  französische  und  die  englische  sein,  da  die  Völker  dieser 
Sprachen  zusammen  mit  dem  deutschen  die  eigentlichen  Träger  der  Welt- 
kultur sind,  deren  Geist  jede  im  Kulturleben  stehende  Persönlichkeit  in 
irgendwelchem  Umfange  verarbeiten  muß.  Kann  nur  eine  Sprache  ge- 
lehrt werden  (s.  u.),  dann  wird  es,  wo  nicht  örtliche  Verhältnisse  in  anderer 
Richtung  wirken,  die  französische  sein  müssen,  wenn  man  auch  nicht  ver- 
gessen wird,  daß  die  schneller  erlernbare  englische  Sprache  uns  schnell 
in  einer  reichen  Kulturwelt  heimisch  macht. 

In  dem  Wissensinteresse  an  dem  Kulturleben  des  eigenen  Volkes  wie 
der  fremden  Völker  ist  ein  Wissensinteresse  mitwirksam,  das  aber  auch 
sonst  als  selbständiges  Interesse  eine  zunehmende  Anziehungskraft  auf 
den  Sinn  des  Gebildeten  entfaltet  —  das  psychologische.  Das  Seelen- 
leben der  fremden  Völker  und  das  des  eigenen  Volkes,  seiner  Stämme, 
Stände  usw.,  das  Seelenleben  der  großen  Kulturträger  in  der  Politik  und 
der  Kunst,  das  Seelenleben  der  Menschen  unserer  nächsten  Umgebung, 
nicht  zuletzt  unser  eigenes  Seelenleben  muß  in  unser  Bildungsstreben  ein- 
bezogen werden,  wenn  wir  dem  natürlichen  Bildungszuge  folgen.  So 
müssen  wir  denn  denen  zustimmen,  die  psychologisch  bedeutsame  Stoffe, 
an  denen  das  Leben  der  menschlichen  Seele  verstanden  werden  kann, 
für  die  höhere  Mädchenschule  fordern,  um  so  mehr  als  die  Teilnahme,  die 
die  Frau  allem  Persönlichen  entgegenbringt,  ein  tieferes  psychologisches 
und  charakterologisches  Verständnis,  eine  vertiefte  Menschenkunde  fordert. 
Ja,  man  wird  schwerlich  die  Meinung  abweisen  können,  die  am  Abschluß 
des  Gesamtunterrichts  eine  Zusammenordnung  und  einen  planmäßigen 
Auf-  und  Ausbau  der  gewonnenen  Einzelerkenntnisse  fordert. 

Ein  der  Menschenseele  eingeborener  Zug  des  Wissens,  ohne  den 
eine  vertiefte  Persönlichkeitsbildung  nicht  wohl  denkbar  ist,  führt  über 
die  Welt  der  Erscheinungen  hinaus  in  die  Welt  des  Unsichtbaren,  Über- 
zeitlichen und  Überräumlichen.  Die  Flachheit  des  persönlichen  Lebens 
in  unserer  Zeit  erklärt  sich  nicht  zum  mindesten  aus  der  intellektuellen 
Gleichgültigkeit  für  das  Jenseits  der  Erscheinungswelt.  So  drängt  schon 
das  intellektuelle  Interesse  zur  Aufnahme  jener  Stoffe  in  den  Lehrplan, 
in  denen  sich  die  geläutertsten  Vorstellungen  über  die  Welt  des  Jenseits 
dem  Nachdenken  darbieten,  und  zwar  nicht  in  der  Gestalt  philosophischer 
Spekulationen,  sondern  persönlichster  Überzeugungen.  Ich  meine  die 
Urkunden  der  christlichen  Gedankenwelt. 

Zum  Menschenleben  führte  der  erste  starke  Zug  des  intellektuellen 
Bildungsinteresses,  in  die  Welt  des  Übersinnlichen  der  zweite.  Das  Natur- 
leben ist  das  dritte  Gebiet,  in  dem  sich  dieses  Interesse  ausleben  oder 
doch  betätigen  muß.  An  sich  ist  das  Wissen  und  Erkennen  in  diesem 
Gebiet  weniger  eng  mit  dem  persönlichen  Leben  verknüpft;  aber  zunächst 


IIT.   Die  Gegenwart.     4.  Die  Bildungsstoffe.  213 

ist  alles  Kulturleben,  besonders  unser  modernes,  ohne  tüchtige  Xaturkenntnis 
nicht  gründlich  zu  verstehn:  die  Psychologie  fordert  Anthropologie,  die  Ge- 
schichte Geographie,  physikalische  Technologie  usw.  Zum  andern  würde 
intellektuelle  Gleichgültigkeit  gegen  das  Leben  der  Natur,  das  uns,  zum 
Erkennen  reizend  und  lockend,  in  so  vielgestaltigen  P'ormen  umgibt,  auf 
eine  bedenkliche  geistige  Stumpfheit  schließen  lassen,  die  mit  der  Forde- 
rung geistiger  Aktivität  in  scharfem  Widerspruch  stünde.  Drittens  be- 
darf der  denkende  Geist  die  Ergebnisse  des  Naturerkennens  zur  Gestaltung 
seines  „Weltbildes".  Viertens  endlich  gewährt  die  moderne  naturwissen- 
schaftliche Forschung  die  hohe  Freude  des  Einblicks  in  den  rastlosen 
Fortschritt  des  exakt  forschenden  Menschengeistes.  Der  Frauennatur 
besonders  günstig  liegen  die  biologische  und  die  praktisch-technologische 
Betrachtungsweise.  So  bestehen  Gründe  genug,  den  Naturwissenschaften 
einen  breiten  Raum  im  Lehrplan  der  höheren  Mädchenschule  einzuräumen. 
Doch  wird  man  immerhin  von  unserem  Standpunkte  aus  betonen  müssen, 
daß  bei  dem  persönlichen  Bildungsstreben  des  Erwachsenen,  zu  dem  die 
Schule  erziehen  will,  das  Leben  selbst  ungleich  mehr  zum  Erkennen  des 
Menschenlebens  als  des  Naturlebens  anreizt,  und  daß  die  Hilfsmittel 
der  freien  Fortbildung  für  jenes  Erkennen  ungleich  reichlicher  und  hand- 
licher vorhanden  sind  als  für  dieses;  man  beachte  in  letzterer  Richtung 
vor  allem  den  grundverschiedenen  Wert  der  Bücher  als  der  Vermittler 
von  Erkenntnissen  und  als  der  Unterlagen  für  eigene  Erkenntnisarbeit. 

Der  Gebildete  ist  zunächst  ein  Erkennender,  in  zweiter  Linie  ein 
Wissender;  sein  Erkennen  muß  als  Niederschlag  ein  Wissen  bringen;  und 
aus  diesem  Wissen  muß  das  Erkennen  Antriebe,  Richtungslinien,  Ziel- 
punkte usw.  gewinnen.  Aus  dem  Erkennen  entspringt  das  Wissen,  aus 
dem  Wissen  das  Erkennen.  Damit  das  Wissen  so  wirkt,  muß  es  in  seinen 
Teilen  und  als  Ganzes  klar  angeeignet,  gedächtnismäßig  sicher,  frei 
beweglich,  übersichtlich  geordnet,  zu  kleineren  und  größeren  Ganzen  ge- 
schlossen sein.  (Vergl.  Willmann:  Didaktik  II,  S.  46 fg.)  Damit  der  Ge- 
bildete sein  Wissen  in  diesen  Zustand  bringe  und  in  ihm  erhalte,  muß  die 
Schule  ihm  die  Freude  an  solchem  Zustand  durch  die  Erkenntnis  seines 
Wertes  für  die  geistige  Arbeit  gewährt  haben.  Für  die  Stoffauswahl 
erwachsen  hieraus  die  Forderungen,  daß  nicht  durch  die  Art  und  die 
Menge  der  Stoffe  die  Entwicklung  jenes  Wissenszustandes  gehemmt,  son- 
dern gefördert  wird.  In  dieselbe  Richtung  wie  die  eben  gekennzeichnete 
Form  des  Wissens  weist  die  Form  des  geistigen  Lebens,  der  geistige 
Habitus,  den  die  gebildete  Frau  anstreben  muß.  Das  Leitbild  dieser  for- 
malen Bildung  muß  so  entworfen  sein,  daß  die  natürlichen  Tugenden 
des  Frauengeistes  zur  vollen  Entfaltung  gelangen,  die  Mängel  aber  tun- 
lichst beseitigt  werden  (s.  u.).  Wirkt  dies  Leitbild  bestimmend  auf  die 
Stoffwahl  ein,  so  wird  z.  B.  das  Maß  der  Stoffe  so  bemessen,  daß  nicht 
das  Zuviel  an  Stoff  zu  hastigem  Arbeiten  zwingt,  bei  dem  klare  Aneignung, 
gedächtnismäßige  Sicherheit,  tiefere  Erfassung,  freies  selbsttätiges  Arbeiten 


21 A  HuüO  Gaudig  :    Höheres  Mädchenschulwesen. 

am  Stoff,  gesundes  Kraftgefühl,   Gefühl  des   sicheren  Könnens  und  über- 
haupt ein  günstiger  Gefühlsablauf  ausgeschlossen  sind.     Demgemäß  wird 
man  vor  allem  jeden  geistverflachenden  enzyklopädischen  Einfluß  von  der 
höheren  Mädchenschule   fernhalten   und   z.  B.   den  „Mut"  haben,   einzuge- 
stehen, daß  die  Mädchen  in  der  Geschichte  vieles  nicht  wissen,  was  etwa 
beim  Examen  der  Einjährig-Freiwilligen  gefordert  wird.    Ebenso  wird  man 
auf  Stoffe    verzichten,    in    denen    man    zu    sehr    in    den  Anfängen   stecken 
bleiben    müßte,    also    nicht    zu    freierer   Bewegung    der    Geister   kommen 
könnte;    so   beispielsweise    wird    man    lieber   auf   das  Englisch    ganz   ver- 
zichten, wenn  man  ihm  nur  etwa  in  zwei  Jahren  je  drei  Stunden  gewähren 
kann.     Vom  Standpunkt    der   formalen  Bildung   aus    wird    man   auch   die 
Frage    nach    der   Aufnahme   der  Mathematik   und   nach   dem  Wert   des 
Rechnens  im  Lehrplan  der  höheren  Mädchenschule  im  wesentlichen  ent- 
scheiden.     Oben    wurde    als    ein    Mangel    der    natürlichen    Geistesart    der 
Frau    der   Mangel    an    Exaktheit    genannt.      Rechnen    und    Mathematik 
dienen  aber  als   ein  Hauptmittel   der  Erziehung  zur  Exaktheit,  wenn  sie 
zur     Gewinnung    größenmäßig     bestimmter    Ansichten     über     die     Natur- 
erscheinungen   und    die    Lebensverhältnisse    (in    den   Naturwissenschaften, 
der  Weltkunde,   der  Erdkunde,   der  Geschichte,   der  Volkswirtschaft,  der 
Gesellschaftskunde  usw.)  benutzt  werden.    Alle  die  genannten  Fächer  muß 
auf   der   höheren   Mädchenschule    der   Geist    mathematischer   Bestimmtheit 
durchdringen,    damit    dem    Frauendenken    die    Genauigkeit    der    Größen- 
bestimmung   zum  character  indelebilis  wird.     Damit  das  aber  möglich  ist, 
müssen  Rechnen  und  Mathematik  die  Sachgebiete  in  Arbeit  nehmen.    Auch 
in  anderen  Richtungen  kann   die  Mathematik  gerade  zur  Beseitigung  der 
Mängel  weiblicher  Geistesart  helfen.    In  den  Aufgaben  und  Beweisen  stellt 
sich  eine  Form  des  Arbeitsvorgangs  dar,  die  mit  dazu  helfen  kann,  den 
weiblichen  Geist  zu  einer  Reihe  wertvoller  Tugenden  zu  erziehen:  zur  Selbst- 
tätigkeit im  Stellen   der  Aufgaben,  zur  Besonnenheit  in   der  Prüfung  der 
Aufgabe  und  im  Bestimmen  des  Lösungswegs,  zur  Gewöhnung  an  ruhige 
Energie entfaltung,  zur  „Zielstrebigkeit",  zur  Gleichmäßigkeit  der  Aufmerk- 
samkeit, zur  Kontrolle  der  Ergebnisse,  zum  „wissenschaftlichen  Gewissen", 
zur  Entschiedenheit  im  Urteil.    Das  Rechnen  mit  reinen  Zahlen,  vor  allem 
aber  die  Algebra  und  Geometrie  sind  außerdem  eine  Schule  in  klarer  Be- 
griffsbildung,  in   der  Loslösung   der  Begriffe   vom   sinnlichen  Hintergrund. 
Endlich  kann   sich  auch   an   der  mathematischen  Arbeit  das  intellektuelle 
Gefühlsleben   zu  ruhigem  Ablauf  einschulen  (s.  o.);    ein  amor  intellectualis 
kann    das    Ergebnis    solcher    Einschulung    sein.      Sonach    muß    denn    die 
Mathematik    gerade    für    die    Mädchenschule    mitberücksichtigt    werden. 
Nur  sei  dabei  an  folgendes  erinnert:  Im  Gebiet  des  Sachrechnens  handelt 
es  sich  zunächst  um  S  ach  denken   und   nicht  um  mathematisches  Denken. 
Klarheit    und    Scharfsinn    im    Auffassen    des    wirklichen    Lebens    in    der 
Geschichte,    der  Volkswirtschaft  usw.  wird   also   von   der  Mathematik  als 
solcher    nicht   gewonnen;    nicht    durch   sie,    sondern   nur   in   ihr   wird  das 


in.  Die  Gegenwart.     4.  Die  Bildungsstoffe. 


215 


Sachdenken  geübt.  Die  eigentliche  Denkschule  für  diese  Fächer  liegt  in 
ihnen  selbst.  Die  rechnerische  Durcharbeitung  hilft  nur  zur  Exaktheit 
der  Auffassung  und  bewahrt,  indem  sie  die  Ergebnisse  in  ziffernmäßiger 
Bestimmtheit  hinstellt,  vielfach  vor  groben  Irrtümern.  So  kann  die  Mathe- 
matik als  solche  z.  B.  das  „kausale-'  Denken  nicht  schulen.  Ferner  ist 
daran  zu  erinnern,  daß  die  Übertragung  der  mathematischen  „Tugenden« 
auf  andere  Sachgebiete  kein  mechanischer  Vorgang  ist,  ja,  daß  nach  der 
Erfahrung  selten  eine  sichere  Übertragung  stattzufinden  scheint.  Die  im 
Gebiet  der  Mathematik  gewonnene  geistige  Disposition  versagt  oft,  so- 
bald in  einem  anderen  Sachgebiet  gearbeitet  wird.  Nur  dann  erscheint 
eine  Übertragung  in  wirksamer  Weise  möglich,  wenn  die  mathematischen 
„Tugenden"  auch  in  den  anderen  Disziplinen  gepflegt  werden,  und  wenn 
dann  eine  formale  Konzentration  stattfindet. 

An  der  Stoffauswahl  ist  aber  nicht  nur  das  Denken  als  solches  (in  b)_unt«r  dem 
materialer  und  formaler  Beziehung)  interessiert,  sondern  auch  das  Dar-  intercsses^am 
stellen;  und  zwar  wiederum  sowohl  nach  der  Seite  der  Menge  als  der 
Art  des  auszuwählenden  Stoffs.  Gerade  der  weibliche  Geist  besitzt  auf 
diesem  Gebiet  eine  besonders  reiche  Begabung,  deren  Pflege  gerade  auch 
eine  persönliche  Bildung  fordert.  Hierher  rechnet  die  Kirnst  lautrich- 
tigen Sprechens,  schönen  Lesens,  guter  mündlicher  Erzählung  und  Schil- 
derung, dialogischer  Gewandtheit,  überhaupt  die  Kunst  des  gewandten 
Sprechens,  und  zwar  in  der  eigenen  und  in  der  fremden  Sprache.  Zu  der 
Kunst  der  mündlichen  Darstellung  tritt  die  der  schriftlichen  im  Aufsatz. 
Soll  das  Darstellen  zu  wertvollen  Leistungen  entwickelt  werden,  so  muß 
ihm  vor  allem  Raum  gegeben  werden.  Daher  ist  auch  von  diesem  Ge- 
sichtspunkt aus  alles  Zuviel  an  Stoff  zurückzuweisen,  weil  es  bei  diesem 
Zuviel  nicht  zur  rechten  Übung  der  Darstellungskunst  kommt,  sondern 
man  sich  mit  der  rohesten  Form  der  Garantie  des  Verständnisses  beruhigt. 
Leicht  schließen  sich  hier  die  Forderungen  des  ästhetischen  Interesses 
,   denn    an   alles  Darstellen   sollen   auch  ästhetische  Maßstäbe  angelegt 


an 


werden;  an  „alles  Darstellen«,  auch  an  das  Darstellen  mit  der  Singstimme, 
mit  dem  Zeichenstift  und  Pinsel,  mit  der  Nadel,  ja  mit  dem  ganzen  Körper. 
Gerade  die  persönliche  Bildung  der  Frau  hat  alles  Interesse,  daß  das 
Innenleben  nicht  nur  einen  wahren,  sondern  auch  einen  schönen  Ausdruck 
durch  den  Körper  gewinnt.  Das  ästhetische  Interesse  fordert  ferner  die 
Fähigkeit  zum  ästhetischen  Genuß.  Auch  hier  wiederum  eine  Domäne 
spezifisch  weiblicher  Geistesart:  die  sinnliche  Lebhaftigkeit  des  Empfindens 
und  Vorstellens,  die  Leichtigkeit  beim  Wechsel  der  geistigen  Funktion, 
die  leichtere  Erregbarkeit  des  Gefühls,  die  größere  Empfänglichkeit  sind 
Vorzüge  des  Frauengeistes.  Das  Ideal  eines  persönlichen  Gegenwarts- 
lebens fordert  auch  solche  Stoffe,  in  denen  moderne  Gefühlsweise  sich  aus- 
spricht, so  die  neueste  Literatiu-.  Die  Fordenmg  der  „Kunsterziehung", 
der  Erziehung  zum  künstlerischen  Genuß,  wird  die  höhere  Mädchenschule 
noch    stärker    betonen    müssen    als  bisher.     Sie   wird   auch   die  Erziehung 


c)  unter  dem 
Einfluß  des 
ästhetischea 
Interesses. 


2  [  5  Hugo  Gaddr;  :    Höheres  Mädchenschulwesen. 

zum  Genuß  der  Werke  bildender  Kunst  in  ihren  Lehrplan  aufnehmen. 
Aber  sie  wird  sich  zunächst  vor  dem  Glauben  hüten,  als  genüge  es  zur 
Kunsterziehung,  wenn  den  Schülerinnen  die  Kunstwerke  zugänglich  ge- 
macht würden.  Vergl.  die  Verhandlungen  der  Kunsterziehungstage.  Kunst- 
genuß im  tieferen  Sinne  ist  das  Ergebnis  künstlerischer  Seelenpflege;  er 
kann  nur  durch  eine  feine  Arbeit  an  den  Seelen  erreicht  werden.  Ästhe- 
tisches Genießen  ist  auch,  außer  wo  es  sich  um  ganz  einfache  Elementar- 
gefühle handelt,  nicht  ohne  höhere  intellektuelle  Tätigkeit  denkbar. 
Namentlich  bei  Werken  der  Dichtkunst  ist  ästhetische  Lust  nichts  als  die 
Lust  an  den  geistigen  Funktionen,  z.  B.  dem  Schaffen  der  Phantasie,  dem 
sinnvollen  Beziehen,  und  die  Lust  an  Objekten,  die  uns  nur  durch  tiefere 
geistige  Arbeit  verständlich  werden,  z.  B.  den  lebendigen  Kräften  des 
Personenlebens,  einem  interessanten  Tatsachenverlauf,  bedeutsamen  Bildern, 
die  unsere  Phantasie  schaffen  muß,  sinnvollem  Aufbau  des  Kunstwerks, 
tiefen  Reflexionen.  —  Außerdem  wird  man  bei  der  Erziehung  zu  ästheti- 
schem Tun  und  Genießen  bedenken,  daß  die  Kritiker  dann  der  höheren 
Mädchenschule  einen  schweren  Vorwurf  machen  könnten,  wenn  sie  ihr 
ganzes  Bildungsideal  zu  stark  ästhetisch  färbte.  Die  schwere  Zeit  der 
Not  fordert  auch  von  der  Frau  einen  denkklaren  Kopf,  ein  von  sittlichen 
und  religiösen  Gefühlen  tief  bewegtes  Herz  und  einen  festen  sittlichen 
Willen.  Erst  wenn  diesen  Forderungen  genügt  ist,  gibt  sie  den  Geist 
frei  zum  Genießen  der  Kunst,  zur  Erhebung  in  die  vom  Dichter  ge- 
schaffene Welt  über  der  Welt, 
d)  unter  dem  Bisher  sind  die  Ansprüche  an  die  Stoffauswahl  erwogen,  die  sich  auf 

Rücks'icht'a'uf  dem  eigensten  Gebiete  der  Bildung,  dem  Gebiete  des  intellektuellen 
"^Lew  ^  Lebens,  geltend  machen.  So  gewiß  aber  die  Geistesbildung  nicht  gegen 
das  übrige  Personenleben  isoliert  werden  darf,  so  gewiß  werden  sich  auch 
von  den  übrigen  Betätigungsgebieten  persönlichen  Lebens  Forderungen  an 
die  Wahl  der  Bildungselemente  erheben.  Als  eines  jener  Betätigungs- 
gebiete persönlichen  Lebens  bezeichneten  wir  das  Leibesleben.  Eine 
persönliche  Gestaltung  des  Leibeslebens  setzt  Kenntnis  des  leiblichen 
Lebens,  des  Körpers,  seiner  Funktionsweise,  seiner  Pflege,  voraus.  Daraus 
ergibt  sich  die  Forderung,  daß  die  Schule  die  Schülerinnen  mit  dem 
menschlichen  Organismus  und  seiner  Pflege  bekannt  mache  und  nicht  nur 
in  theoretisch  kühler  Betrachtung,  sondern  indem  die  Schülerinnen  zu- 
gleich mit  einem  klaren  Bewußtsein  seiner  Bestimmung  und  seines  Wertes 
erfüllt  werden.  Besonders  die  Mädchen  sind  mit  solchem  Wertgefühl  zu 
erfüllen,  da  ja  die  Mehrzahl  von  ihnen  berufen  ist,  mit  eben  diesem  Or- 
ganismus den  denkbar  größten  Kulturdienst,  die  Fortpflanzung  der  Gat- 
tung, zu  leisten.  Die  unterrichtliche  Behandlung  des  Körpers  muß  nicht 
nur  zu  einer  Diätetik,  sondern  zu  einer  „Ethik  des  Leibes"  hinführen.  — 
e)  unter  dem  Ein  wcitcrcs  wichtiges  Betätigungsgebiet  persönlichen  Lebens  war  das 
sozial  ethischen  Leben  der  Gemeinschaften,  der  Familie,  der  Gesellschaft,  der  Nation, 
des  Staates.  Eben  diesen  Gebieten  wandte  sich  bereits  das  Wissensinteresse 


in.  Die  Gegenwart.     4.  Die  Bildungsstoffe.  217 

nachdrücklich  zu.  In  derselben  Richtung  wirkt  nun  auch  das  ethisch- 
soziale Interesse.  Nur  daß  jetzt  nicht  allein  die  Kenntnis  der  inneren 
und  äußeren  Natur  dieser  Gemeinschaftsformen,  ihrer  Lebensgesetze  und 
Erscheinungsweisen,  Ziel  sein  kann;  vielmehr  müssen  die  Stoffe  so  ge- 
wählt und  so  behandelt  werden,  daß  wiederum  das  Gefühl  für  den  Wert 
dieser  Gemeinschaften  und  aus  dem  Wertgefühl  die  rechte  Gesinnung, 
z.  B.  der  rechte  Familiensinn  oder  die  rechte  Kulturgesinnung  oder  die 
rechte  Staatsgesinnung,  entstehen  kann.  Der  Reingewinn  der  Beschäfti- 
gung mit  den  Gemeinschaften  muß  in  ethisch-sozialer  Richtung  eine 
Tugend-  und  Pflichtenlehre  und  darüber  hinaus  die  rechte  Gemeinschafts- 
gesinnung sein.  —  Hier  reiht  sich  nun  noch  folgerichtig  die  Forderung  f^unt«rdem 
an,  die  sich  auf  dem  höchsten  Gebiet  persönlichen  Lebens,  dem  religiösen,      religiösen 

'  '  Interesses. 

erhebt.  Die  Art  der  Forderung  ist  dieselbe  wie  in  den  vorigen  Fällen: 
Eine  Auswahl  und  eine  Behandlung  der  Stoffe,  bei  der  aus  lebendiger 
Erkenntnis  des  religiösen  Lebens  ein  tiefes  Wertgefühl  und  ein  Verlangen 
nach  diesem  Leben  entsteht. 

Ganz  allgemein  sei  hier  gesagt:  Will  der  Unterricht  der  Bildung 
persönlichen  Lebens  dienen,  so  muß  er  durchweg,  in  allen  Disziplinen, 
solche  Stoffe  darbieten,  deren  Wert  für  den  Auf-  und  Ausbau  dieses  per- 
sönlichen Lebens  den  Schülerinnen  zum  Bewußtsein  kommt;  denn  nur  das 
als  wertvoll  Gefühlte  und  Erkannte  wird  als  Bildungselement  in  das  spätere 
freie  Personenleben  hineingenommen,  und  gerade  die  Frauennatur  bedarf 
solcher  Erregung  aes  Wertgefühls. 

An    das  Ende    unseres  Zusammenhangs    stelle    ich    die  Forderungen,  gi  unter  dem 
die  an  die  Stoffauswahl  aus  der  Rücksicht  auf  das  spätere  Berufsleben,  Rücksicht  auf 

das  Berufsleben 

also  auf  das  wichtigste  Betätigungsgebiet  der  Persönlichkeit,  erhoben  der  verheira- 
werden  können.  Daß  diesem  Gebiet,  und  zwar  im  besondern  dem  Berufs- 
leben der  verheirateten  Frau,  ein  besonders  ausgedehntes  Forderungs- 
recht gewährt  werden  soll,  ist  oben  zugestanden.  Die  drei  Teilgebiete 
des  Berufslebens  der  in  der  Ehe  lebenden  Frau  sind  die  Lebensgemein- 
schaft mit  dem  Gatten,  die  Kinderpflege  und  Kindererziehung  und  die 
Wirtschaftsführung.  Daß  einst  die  Lebensgemeinschaft  mit  dem  Gatten 
eine  Geistesgemeinschaft  wird,  dafür  ist  im  bisherigen  Entwurf  des  Bildungs- 
ideals reichlich  Sorge  getroffen;  wenn  die  Frau  eben  die  geistigen  Ge- 
biete, in  die  sie  die  Schule  eingeführt  hat,  weiter  ausbaut,  so  ist  damit 
die  geistige  Interessengemeinschaft  gegeben,  falls  der  Mann  nur  über 
seinen  vielleicht  technisch  einseitigen  Beruf  hinaus  geistige  Interessen  hat. 
Jedenfalls  hat  die  Schule  das  Ihrige  getan,  um  zu  verhindern,  daß  „der 
deutsche  Mann  sich  am  häuslichen  Herde  langweile".  Namentlich  das 
Kulturleben  der  Nation  ist  ein  Gebiet,  auf  dem  die  geistigen  Interessen 
sich  treffen  und  ergänzen  können;  „ergänzen",  indem  die  Frau  mehr  (!) 
das  Leben  in  der  Kunst,  der  Mann  das  in  der  Wissenschaft  oder  Technik, 
die  Frau  mehr  das  Leben  der  Gesellschaft,  der  Mann  das  Leben  des 
Staats,    die   Frau   mehr    die  idealen,   der  Mann   die   realen  Lebenserschei- 


2  1 8  Hugo  Gaudig  :    Höheres  Mädchenschulwesen. 

nungen  mit  seinem  Interesse  verfolgt.     Beide  geben  und  nehmen,  und  da 
der  eine  Teil  nicht  auf  dem  besonderen  Interessengebiet  des  andern  fremd 
ist,   geben   beide   nehmend.     Den   beiden   anderen  Teilgebieten   des  häus- 
lichen Lebens,   der  Körper-   und  Seelenpflege    an   den  Kindern    und   der 
Wirtschaftsführung,  ist  eins  gemein:  beide  Arbeitsweisen  haben  technischen 
Charakter,    bedürfen    aber    nicht    nur    der   technischen   Einübung,    sondern 
einer   tüchtigen    theoretischen   Fundamentierung:    die  Kinderpflege  anthro- 
pologischer,   psychologischer   und    pädagogischer,    die  Wirtschaftsführung 
anthropologischer,  sowie  naturwissenschaftlicher  und  wirtschaftlicher  Kennt- 
nisse.   Ein  gut  Teil  dieser  Wissensstoffe  gehört  bereits  unserem  Lehrplan 
aus    anderen    Gründen    an;    so    vieles    Anthropologische,    Psychologische, 
Naturwissenschaftliche.     Die    nötigen   Erg'änzungen   würden   den   Lehrplan 
nicht    wesentlich    belasten.      Ganz    neu    würde    nur    die    Pädagogik    sein. 
Entscheidend   ist  hier   aber   die  Frage,    ob  praktische  Kinderpflege  und 
Wirtschaftsführung    in    den   Lehrplan    aufgenommen    werden   soll.     In    der 
Gegenwart   gehen   starke   Bewegungen   dahin,   die   Erziehung-   zur  Kinder- 
pflege  und   zur  Wirtschaftsführung   nicht   mehr   dem  Elternhause   zu  über- 
lassen.    Namentlich  von  der  Kinderpflege,  an  der  allerdings  die  Gesell- 
schaft ein  großes  Interesse  nehmen  muß,  will  man  alles  Zufallsspiel  fern 
halten,  dank  dem  manche  jung-e  Mädchen  wohl  eine  gute  Einführung  ge- 
nießen,   andere   dagegen    einem   schließlich   gefährlichen   Autodidaktentum 
verfallen.     Man  will,    daß  die  Gesellschaft  für  die  Erziehung  der  späteren 
Erzieherinnen    alles    tue,    um    sie    dann    mit    aller   Verantwortung    für    die 
Erziehung   zu    belasten.     Da   wir  in  dem  Beruf  das    wichtigste   Arbeits- 
gebiet des  persönlichen  Lebens  sehen,  besteht  auch  für  uns  das  Interesse, 
die   erste  Einschulung  in  der  Kinderpflege  und  in  der  Wirtschaftsführung 
nicht  dem  Zufall  preiszugeben.     Die  Einbeziehung  dieser  Unterrichtsstoffe 
in    den  Lehrplan   würde   auch   den   großen  Vorteil  haben,   daß  die  Schule 
dann  das  gesamte  Leistungsgebiet  der  Frau  umspannte  und  im  besondem 
die  für  dies  Gebiet  charakteristische  Verbindung  rein  g-eistiger  und  geistig- 
technischer  Arbeit    gleichsam    vorbildete.     Indes    kann    doch    der    große 
Unterschied  zwischen  diesen  technischen  Arbeiten  und  den  übrigen  Fächern 
des  bisherigen  Lehrplans  der  höheren  Mädchenschule  (die  Nadelarbeit  ab- 
gerechnet) nicht  verkannt  werden.   Zudem  entwickelt  sich  ein  selbständiger, 
verläßlicher  Trieb   zu  diesen  Arbeiten  bei  den  jungen  Mädchen  erst  nach 
der  bisher  üblichen  zehnjährigen  Schulzeit.    Auch  gehören  diese  Arbeiten 
so   sehr    zu    dem    spezifischen   Pflichtenkreis    der    verheirateten    Frau,    daß 
man   sie   nicht  gut   in   einen  Lehrplan   aufnehmen  kann,   der  die   gemein- 
same Bildung  aller  Mädchen,  die  höhere  Bildung  suchen,  umspannen  soll. 
Die  Frage,   ob  man  die  Ausbildung  in  der  Kinderpflege  und  Wirtschafts- 
führung rein  technisch  gestalten,  oder  ob  man  sie  zum  integrierenden  Be- 
Die Mögiiciikeit  standteil  einer  weitergeführten  Allgemeinbildung  machen  soll,   wird   unten 

Wissenschaft-     i,        --i      j.  i 

lieber  Arbeit   berührt  Werden. 
wählten  Stoffen.  Eine    der    am    meisten    zur   Zeit    erwogenen   Fragen   ist   die   nach   der 


m.  Die  Gegenwart.      5.  Die  Methode  des  Unterrichts.  219 

Vorbereitung  der  Mädchen  für  die  akademischen  Studien.    Diese  Frage 
wird    unten    in    dem   Abschnitt    über    die   Organisation   der  höheren  Mäd- 
chenschule  ausführlicher   zur  Behandlung  kommen.     Hier  sei  nur  auf  das 
eine    hingewiesen,    daß    an   eben   den   Stoffen,    die    bisher    für  die   höhere 
Mädchenbildung  ausgewählt  sind,  auch  eine  weitere,  wissenschaftlich  ver- 
tiefte   Arbeit    getan    werden    kann,  die    unmittelbar    in    die    akademischen 
Studien  hineinführt.    Um  nur  einige  der  Stoffe  zu  nennen,  so  kann  an  der 
Hl.  Schrift  X.  T.'s,  wenn  sie  in  einer  wissenschaftlichen  Übersetzung  vor- 
liegt,  die  Gewöhnung  zu  textgenauer  Auslegung,  zur  Herausstellung  der 
Gedankengänge,    gewonnen    werden;    ebenso    können    in    der   Weise    der 
biblischen  Theologie  die  großen  Lebensbegriffe  in  den  einzelnen  Lehrtropen 
herausgearbeitet  werden.    Die  deutsche  Literatur  gewährt  die  Möglichkeit 
einer  literarischen  Behandlung,  die  sich  von  der  wissenschaftlichen  auf  der 
Universität    nur    durch    den    Umfang    unterscheidet    (ästhetische    Analyse 
eines  Kunstwerks,    Herausstellung    der   dichterischen   Eigenart,    Nachweis 
der  Zeiteinflüsse  usw.  usw.).    Die  Aufnahme  des  Mittelhochdeutschen  führt 
die    sprachgeschichtliche  Betrachtung    dem  Unterricht    zu.     An    den    neu- 
sprachlichen   Dichtungen   kann   gleichfalls   in    wissenschaftlicher  Art   gear- 
beitet  werden.     Benutzt   der  Geschichtsunterricht  Quellen,   und   erzieht  er 
zur    Kunst,    geschichtliche    Darstellungen    mit    geschichtlichem    Sinn    zu 
lesen,  zu  exzerpieren  usw.,   so   steht  er  bereits  in  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  mitten  drin.    Wird  der  naturwissenschaftliche  Unterricht  in  Botanik, 
Zoologie,  Chemie,  Physik  in  der  Form  eines  elementaren  Praktikums  ge- 
geben,  so   ist   damit  dem  Universitätsunterricht  unmittelbar  vorgearbeitet. 
Ganz   anders  freilich  sieht  die  Sachlage  aus,  wenn  die  Rücksicht  auf  die 
akademischen  Studien   zur  Aufnahme    des   Griechischen   und   des  Lateini- 
schen oder  doch  des  letzteren  zwänge.    Als  zwingender  Grund  wird  wohl 
die  besondere  formal  bildende  Kraft  der  beiden  alten  Sprachen  angeführt. 
Eine  gewisse  Überlegenheit  mag  zugestanden  sein;   aber  ich  meine:   Was 
eine  angehende  Studentin  an  allgemeinem  Verständnis  für  Sein  und  Werden 
der    Sprache,    an    Sprachsinn    usw.    zur  Hochschule    mitbringen    muß,  das 
kann   sie   überreich   bis    zu   den  Grundprinzipien    der  Sprachgeschichte  an 
der  deutschen  und  den  beiden  fremden  Sprachen  gewinnen,  wenn  die  Zeit 
dazu   da   ist,    sich   in   die  Grammatik  dieser  Sprachen   zu   vertiefen.     Daß 
man  des  Lateinischen  für  das  Studium  des  Altfranzösischen,  des  Althoch- 
deutschen, in  etwas  auch  für  das  Studium  der  Medizin  und  der  Pharmazie, 
ferner  für  die  Jurisprudenz  und  auch  sonst  braucht,  ist  allerdings  richtig. 
Aber    die    rein    technische    Verwendung    des   Lateinischen    zu    Studien- 
zwecken  kann   nicht   dazu  veranlassen,   eine  Sprache  aufzunehmen,  die  in 
ihrem  Schrifttum  nur  wenig  bietet,  was  den  Frauengeist  tiefer  zu  erregen 
vermag,    und    deren    Aufnahme    einen    Bruch    in    den    Gesamtaufbau    der 
höheren  Mädchenbildung  bringt. 

S.    Die    Methode    des    Unterrichts.      Die    Forderungen    an    die  DicMcthodedes 

■^  ^  Unterrichts. 

Methode  können    nur    so    gewonnen   werden,   daß  man  sich  als  Ziel  der 


2  20  Hugo  G audio:    Höheres  Mädchenschulwesen. 

Schule  die  Bildung  und  Erziehung  zu  persönlichem  Geistesleben  vor- 
hält. Es  soll  zu  geistigem  Leben  und  Streben  kommen  (s.  o.).  Mithin 
muß  die  Schule  für  die  Antriebe  zu  diesem  Leben  und  Streben 
sorgen,  vor  allem  muß  sie  Freude  an  den  Sachen  und  Freude  an  der 
Arbeit  erwecken.  Daß  die  an  den  höheren  Schulen  im  allgemeinen  (!) 
geübte  Unterrichtsweise  das  vermag,  kann  nur  Verblendung  behaupten. 
Der  strikte  Gegenbeweis  ist  die  geringe  Teilnahme  der  Gebildeten  z.  B. 
an  Fragen  des  religiösen,  des  literarischen,  des  politischen  Lebens.  Die 
Interessen  der  Allgemeinbildung-  kommen  in  unserer  Zeit  nicht  gegen  die 
Berufsinteressen  und  gegen  den  geistlosen  Zeitvertreib  auf.  Die  Schule 
tut  gut,  sich  auf  ihr  Schuldteil  zu  besinnen.  —  Der  Gebildete  muß  ferner 
die  geistige  Kraft  und  die  Mittel  zur  Selbstbildung  besitzen.  Wenn 
die  Schule  ihn  nicht  zur  Selbstbildung  befähigt,  indem  sie  ihn  beim 
Fremdunterricht  durch  die  ganze  Schule  ängstlich  festhält,  so  versäumt 
sie  ihre  Aufgabe  im  wesentlichsten.  —  Der  Gebildete  soll  in  dem,  was 
ihn  umgibt,  und  in  dem,  was  er  liest,  die  Reizung  zum  Denken  emp- 
finden. Eine  Hauptaufgabe  der  Schule  ist,  das  spontane  Herausempfinden 
der  Denkreize  zu  üben.  Wird  der  Schüler  in  der  Hauptsache  durch  die 
Frage  des  Lehrers  zum  Denken  gezwungen,  dann  stumpft  sich  sein  Geist 
gegen  die  im  Objekt  liegende  Reizkraft  ab;  dann  reagiert  er  nur  auf  den 
Anstoß  von  außen,  statt  auf  den  inneren  Impuls.  —  Wer  den  Anforderungen 
an  den  Intellekt  als  Gebildeter  genügen  will,  muß  ferner  einen  in  allen 
Funktionen  und  Funktionsgruppen  ausgebildeten  Geist  haben.  Die  Schule 
muß  diesen  formalen  Gesichtspunkt  allseitig-  wahrnehmen  und  vor  allem 
die  Verkümmerung  einzelner  Funktionen  verhüten;  auch  die  Leichtigkeit 
im  Wechseln  der  Funktionen  (im  „Umschalten")  ist  zu  üben.  Die  Übung 
im  Formulieren  der  Frage  ist  für  klares  Denken  sehr  wertvoll;  die  Kunst 
der  Fragestellung  muß  darum  von  früh  an  geübt  werden.  Überall,  wo  es 
sich  nicht  um  einen  einzelnen  Denkakt,  sondern  eine  Reihe  solcher  Denk- 
akte handelt,  muß  der  Denkweg  gesucht  werden.  Hier  liegt  eine  der 
schwersten  Aufgaben  der  Schule.  Ebenso  ist  ferner  erforderlich  die  Er- 
ziehung zur  besonnenen  Erwägung  in  kritischen  Denklagen,  zur  Prüfung 
des  Ergebnisses,  zur  Einordnung  des  Neugewonnenen  in  das  System  der 
bereits  besessenen  Erkenntnisse  und  Wahrheiten  usw.  Dazu  kommt  dann 
die  Erziehung  zu  den  intellektuellen  Tugenden,  zu  unpersönlichem,  objek- 
tivem Urteil,  zum  Wahrheitssinn  usw.;  endlich  die  Regelung  des  intel- 
tektuellen  Gefühlslebens. 

Zu  diesen  Interessen  an  der  Methode  treten  die  Forderungen  des 
ästhetischen,  ethischen,  religiösen,  praktischen  Interesses;  das  ästhetische 
Interesse  fordert  z.  B.  die  Selbständigkeit,  Freiheit  und  Leichtigkeit  der 
intellektuellen  Vorgänge,  ohne  die  ein  künstlerisches  Genießen  undenkbar 
ist;  das  ethische  Interesse  fordert  besonders  die  Kultur  des  Willens  zur 
Arbeit  durch  die  Pflege  pflichttreuer,  selbständiger,  energischer  Schul- 
arbeit; im  religiösen  Interesse  liegt  namentlich  das  Mitschwingen  der  Ge- 


m.  Die  Gegenwart.     5.  Die  Methode  des  Unterrichts.  22  1 

fühle  beim  Denken,  das  Ergreifen  der  Wahrheit  mit  dem  Herzen.  Dem 
praktischen  Interesse  wird  besonders  durch  die  Einschulung  zu  schnellem 
Erfassen  und  zu  klarem  Wirklichkeitssinn  genügt. 

Soll  dieser  Gesamthabitus  gewonnen  werden,  so  muß,  wenn  ich  recht 
sehe,  zunächst  die  Theorie  der  Methode  ihren  Schwerpunkt  grundsätzlich 
verlegen;  nicht  mehr  Theorie  der  Lehrmethoden,  sondern  Theorie  der 
Lernmethoden  muJ5  sie  in  erster  Linie  sein;  nicht  im  Lehrer,  der  lehrt, 
sondern  im  Schüler,  der  lernt,  muß  sie  ihr  Zentrum  haben.  Objekt  und 
Schüler  —  das  muß  ihre  vornehmste  Relation  sein;  dem  Lehrer  aber 
muß  der  Weg  gewiesen  werden,  wie  er  in  der  schnellsten  Zeit  aus  seiner 
Mittlerstellung  zwischen  Objekt  und  Schüler  freiwerden  kann.  Nicht  wie 
der  Lehrer  spricht,  liest,  vorträgt,  erzählt,  beschreibt,  schildert,  erläutert, 
entwickelt,  experimentiert,  übersetzt,  korrigiert,  prüft  usw.,  ist  das,  worauf 
es  eigentlich  ankommt;  sondern  wie  der  Schüler  das  alles  lernt,  und 
zwar  zu  freiem  Gebrauch,  darauf  kommt  es  an.  Bei  jeder  Arbeitsart,  bei 
jedem  Fach,  in  der  ganzen  Schulzeit  muß  es  heißen:  des  Schülers  Tätig- 
keit muß  wachsen,  des  Lehrers  Tätigkeit  abnehmen.  —  Soll  daher  grund- 
sätzlicher Wandel  durchgeführt  werden,  so  ist  die  Schonung  und  Ent- 
wicklung der  geistigen  Regsamkeit,  die  das  Kind  in  der  Gestalt  der  Lust 
am  Fragen,  der  Lust  am  Beschauen,  am  Phantasieren  und  Kombinieren, 
in  dem  Drang,  sich  mitzuteilen,  überhaupt  in  seinem  ganzen  intellektuellen 
Triebleben  in  die  Schule  mitbringt,  unbedingte  Voraussetzung.  Die  Schule 
darf  diese  kostbare  Mitgift  nicht  verschleudern,  indem  sie  dem  Kinde  auf- 
zwingt, was  seiner"  natürlichen  Regsamkeit  nicht  entspricht.  Und  ebenso 
muß  sie  dann  weiterhin  sich  entwickelnde  Strebungen  der  Kindesseele 
als  etwas  sehr  Wertvolles  pflegen.  —  Vor  allem  aber  ist  eins  nötig:  Die 
Schule  hat  die  Kunst  des  Arbeitens,  die  Arbeitstechnik,  zu  lehren, 
den  Begriff  der  „Arbeit"  im  weitesten  Sinne  genommen.  Sie  muß  die 
Schülerinnen  zunächst  mit  der  Arbeitstechnik  der  Teilgebiete  der  einzelnen 
Fächer  bekannt  machen  und  so  zur  Beherrschung  der  gesamten  Arbeits- 
technik der  Fächer  hinführen.  Ebenso  hat  sie  Bedacht  zu  nehmen,  daß 
die  mehreren  Gebieten  gemeinsamen  Arbeitsweisen,  wie  das  Auswendig- 
lernen oder  wie  das  Beschreiben  und  Schildern,  das  Erzählen,  oder  wie 
die  Erläuterung  von  Texten,  die  Korrektur  eigener  sprachlicher  Ent- 
würfe usw.,  auf  diese  Gemeinsamkeit  hin  gepflegt  werden,  so  daß  hier 
eine  sehr  förderliche  formale  Konzentration  entsteht.  Das  Lehren  der 
Arbeitstechnik  geschieht  so,  wie  überhaupt  Arbeitstechnik  gelehrt  wird, 
durch  V'ormachen,  Erläutern  der  Arbeitsweise,  Nachmachenlassen  mit  be- 
gleitender oder  nachfolgender  Kritik,  Einüben  bis  zur  Beherrschung,  freies 
Arbeitenlassen.  Das  gilt  vom  Schreibunterricht  bis  hinauf  zur  Unterwei- 
sung in  der  Interpretation  von  Schriftwerken  oder  zur  Lösung  schwieriger 
mathematischer  Aufgaben.  Die  Arbeitstechnik  umfaßt  die  großen  Grund- 
züge  des  Verfahrens  bis  zu  den  äußerlichsten  technischen  Kunstgriffen. 
Von   besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Einübung  der  konstanten  Denkrich- 


2  ,  ,  Hi'Go  Gaudig  :    Höheres  Mädchenschulwesen. 

tungen,  d.  h.  derjenigen  Richtungen,  in  denen  sich  in  den  einzelnen 
Fächern  das  Denken  gemäß  der  Natur  der  Fächer  bewegen  muß;  ich  er- 
innere an  die  konstanten  Denkrichtungen  in  der  Geographie,  der  Natur- 
beschreibung, der  Auslegung  dramatischer  Kunstwerke  usw.  Soll  die 
Einschulung  auf  die  geistige  Arbeit  aber  ihr  Ziel  erreichen,  so  dürfen 
nicht  nur  die  geistigen  Operationen  eingeübt  werden,  sondern  auch  die 
geistigen  „Dispositionen",  die  erforderlich  für  erfolgreiche  Arbeit  sind, 
z.  B.  die  Spannung  des  Geistes,  die  Besonnenheit  beim  geistigen  Han- 
deln, der  förderliche  Gefühlsablauf,  die  Anpassung  der  Energie  an  die 
Arbeit.  —  Dieses  ganze  Verfahren  fordert  vom  Lehrer  die  psycholo- 
gische Kenntnis  des  geistigen  Lebens  im  allgemeinen  und  der  beson- 
deren geistigen  Vorgänge  in  den  einzelnen  Fächern  und  in  den  einzelnen 
geistigen  Lagen,  die  der  Unterricht  schafft.  Einer  ganz  besonders 
sorgfältigen  Analyse  bedürfen  die  Denkvorgänge  in  der  Mathematik. 
Auf  diese  Analyse  muß  sich  dann  eine  sichere  Arbeitstechnik  aufbauen, 
die  z.  B.  aus  dem  Auffinden  von  Konstruktionen  etwas  anderes  als  ein 
glückhches  Raten  macht.  Zu  dieser  Arbeitstechnik  gehört  es,  daß  der 
Lehrer  bei  planimetrischen  Konstruktionsaufgaben  mit  den  Schülern  plan- 
mäßige Umschau  über  die  Richtungen  hält,  in  denen  nach  der  Relation 
des  Gesuchten  zu  dem  Gegebenen  die  Lösungen  gesucht  werden  können. 
Daß  bei  dieser  Arbeitstechnik  die  Gruppierung  der  Aufgaben  und 
das  Erkennen  der  Gruppe,  in  die  eine  Aufgabe  gehört,  überhaupt  die 
besonnene  Umsicht  über  die  Zusammenhänge  von  höchstem  Wert  ist, 
liegt  auf  der  Hand. 

Wird  die  Einübung  des  Arbeitens  nach  sicherer  Arbeitstechnik  als 
Hauptaufgabe  des  Unterrichts  erkannt,  so  verschiebt  sich  die  Auffassung 
des  Unterrichtsverfahrens  und  der  Unterrichtswerte  auch  sonst  beträchtlich. 
Der  Unterricht  kann  nicht  mehr  spezifischer  Kathederunterricht  sein; 
vor  allem  muß  die  Einzelfrage  erheblich  eingeschränkt  werden,  da  sie 
dem  Geist  die  Eigentätigkeit  der  Denkbewegung  raubt  und  die  geistige 
Regsamkeit  beeinträchtigt;  der  Lehrer  steigt  in  die  Mitte  seiner  arbeiten- 
den Schüler  herab.  Das  Verhältnis  von  Schul-  und  Hausarbeit  ändert 
sich  gleichfalls  wesenthch;  die  Hausarbeit  kann  freier  und  selbständiger 
werden,  da  der  Schulunterricht  die  Arbeitskunst  lehrt.  —  Durch  das  Ar- 
beiten mit  den  Schülern  wird  der  Lehrer  mit  deren  Befähigung  ungleich 
mehr  bekannt  als  bisher;  ebenso  wird  der  Schüler  mehr  als  bisher  bekannt 
mit  sich.  —  Ferner  kann  der  Klassenunterricht  mehr  als  bisher  durch 
Spezialisierung  der  Aufgaben  den  individuellen  Begabungen  Rechnung- 
trägen.  Allerdings  setzt  diese  Arbeitsteilung  Geschick  des  Lehrers  in 
der  Arbeitsvereinigung  voraus.  —  Der  Wert  der  Schüler  wird  nicht 
sowohl  in  ihrem  Wissen  an  sich,  sondern  in  ihrem  mit  dem  Wissen  frei- 
schaltenden Können  gefunden.  —  Da  diesem  Gesamtverfahren  die  Los- 
lösimg des  Schülers  von  der  Schule  als  Idealziel  vorschwebt,  so  dient  es 
vor    allem    der  Förderung    eines    selbständigen    geistigen  Personenlebens; 


ni.  Die  Gegenwart.     6.  Der  Lehrplan.  223 

ebenso  auch  der  Heranbildung  zu  eigener  Forscherarbeit.  Der  Haupt- 
aufgabe der  Universitäten,  der  Einführung  in  die  Kunst  der  Forschung, 
ist  so  vorgearbeitet,  daß  eine  vollständige  Kontinuität  besteht.  —  Be- 
sonders der  Frauennatur  tut  die  Einschulung  in  die  Technik  der  Arbeit 
not,  wenn  sie  nicht  durch  die  geringere  Dispositionskraft,  die  dem 
Frauengeist  natürlich  ist,  an  der  Entfaltimg  ihrer  Tugenden,  namentlich 
der  spielenden  Kombinationskraft,  gehindert  werden  soll.  Das  Mädchen 
erträgt  den  Fragezwang  und  die  geistige  Gängelei  nur  schwer.  Darum 
gilt  es,  ihm  zur  Freiheit  zu  helfen;  der  Gefahr  des  planlosen  Gedanken- 
spiels aber  ist  durch  eine  tüchtige  Einschulung  in  die  Technik  der 
Arbeit  vorzubeugen. 

Zum  Schluß  nur  noch  die  eine  Bemerkung:  Seit  Jahrzehnten  ver- 
stummen die  Klagen  über  unser  höheres  Schulwesen  nicht  mehr:  Alles 
Reformieren  hat  nichts  geholfen.  Die  Reform  ist  eben  auf  einem  falschen 
Ende  angefangen;  nicht  Änderungen  in  den  Stoffplänen  sind  nötig,  son- 
dern eine  grundsätzliche  Änderung  der  Methode.  Eine  Zeit  wie  die 
unsere,  die  keine  Folgezeit,  sondern  eine  Anfangszeit  ist,  birgt  in  sich 
eine  Unsumme  von  Problemen,  alle  überragend  das  soziale  Problem. 
Solche  Probleme  fordern  Geister,  die  selbsttätig  prüfen,  und  zwar  nicht 
nur  mit  dem  kalten  Verstände,  sondern  auch  mit  ganzem  Gemüt.  Ehe 
die  Schule  der  Zeit  nicht  solche  zur  Erwägung  der  Zeitfragen  bereite 
Persönlichkeiten  vom  ersten  Schultage  an  planmäßig  vorbilden  hilft,  wird 
der  Zwiespalt  zwischen  Schule  und  Zeitgeist  fortbestehn.  Die  Zeit  fordert 
nicht  Wissensfülle,  sondern  Denkkraft. 

6.  Der  Lehrplan.  Der  Kampf  der  Meinungen  ist  besonders  Der  Lehrpian. 
um  die  Frage  nach  dem  Schwerpunkt  des  Unterrichts  entbrannt. 
Vonveg  stellen  wir  fest,  daß  die  höhere  Mädchenschule  als  Schule 
jedenfalls  ihren  Schwerpunkt  in  sich  selbst,  nicht  etwa  in  einem  „Ober- 
bau" oder  Aufbau,  der  der  Vorbereitung  für  wissenschaftliche  Studien 
dient,  haben  kann.  Für  die  Lage  des  Schwerpunkts  erscheinen  folgende 
Erwägungen  maßgebend:  Der  Lehrplan  entspricht  nur  dann  dem  Bil- 
dungsideal, das  oben  entworfen  wurde,  wenn  solche  Stoffe  im  Mittel- 
punkt der  Bildungsarbeit  stehn,  die  der  Bildung  persönlichen  Lebens 
dienen.  Nun  gestaltet  sich  persönliches  Leben  am  besten  am  per- 
sönlichen Leben,  sei  es,  daß  es  Gegenstand  des  Erkennens  oder  des 
Fühlens  oder  der  willenhaften  Betätigung  ist  Und  namentlich  das  per- 
sönliche Leben  der  Frau  entwickelt  sich  am  persönlichen  Leben.  — 
Persönliches  Leben  gestaltet  und  betätigt  sich  femer  am  und  im  Leben 
der  Gegenwart.  Bildungsarbeit,  die  ihre  Stützpunkte  im  persönlichen 
Leben  haben  soll,  muß  darum  in  wirksamer  Beziehung  zur  Gegenwart 
stehn.  Fehlen  diese  Beziehungen,  so  ist  das  schönste  Ergebnis  aller  Bil- 
dungsarbeit, das  Bildungsinteresse,  bedroht.  Und  wiederum  wird  be- 
sonders die  Frau  meist  nur  die  Bildungsinteressen  pflegen,  die  zu  dem 
Gegenwartsleben,  in  dem  sie  steht,  ein  fruchtbares  Verhältnis  haben.     Die 


22 A  Hugo  G audio:    Höheres  Mädchenschulwesen. 

Gesamtlage  unserer  Zeit  aber  ist  insofern  dem  natürlichen  Interessenzug 
der  Frau  besonders  g-ünstig,  als  es  sich  in  unserer  Zeit  um  Menschen- 
tumsfragen von  größter  Tragweite  handelt.  Nicht  das  bewegt  unsere  Zeit  in 
der  Tiefe,  wie  Werte  materieller  und  geistiger  Art  hervorgebracht  werden, 
sondern,  wie  mit  diesen  Werten  die  Menschheit  ihr  Schicksal  gestaltet.  Doch 
ist  bei  diesen  Bestrebungen  der  Zeit  die  Frage  nach  der  Beschaffung  der 
materiellen  Mittel  für  die  Gestaltung  des  Daseins  von  großer  Bedeutung.  Der 
natürliche  Rahmen,  in  dem  das  Interesse  sich  hierbei  bewegt,  ist  zunächst 
das  Leben  der  Nation;  doch  folgt  das  Interesse  naturgemäß  auch  den 
internationalen  Beziehungen  der  Nation.  Sonach  ist  es  die  erste  Auf- 
gabe der  höheren  Mädchenschule,  ihre  Schülerinnen  zum  fcrtleitenden 
Interesse  an  dem  geistigen  (besonders  dem  literarischen),  dem  sittlichen, 
dem  religiösen,  dem  politischen,  dem  wirtschaftlichen  Leben  der  Nation 
hinzuführen.  Der  Schwerpunkt  des  Unterrichts  liegt  also  nicht  in  einem 
Fach,  auch  nicht  in  einer  Fachgruppe;  der  Schwerpunkt  liegt  in  einer 
Idee.  Ein  tieferes  Verständnis  des  Gegenwartslebens  der  Nation  und  ein 
geläutertes  Interesse  an  diesem  Leben  ist  aber  nur  möglich,  wenn  es 
geschichtlich  verstanden  wird.  Namentlich  dem  für  geschichtliche  Be- 
trachtung von  Haus  aus  weniger  disponierten  Frauengeist  tut  solche  ge- 
schichtliche Behandlungsweise  not.  Die  geschichtliche  Behandlung  er- 
möglicht auch  das  freiere  Urteil  über  die  Bewegungen  der  Gegenwart 
und  hindert  so,  daß  man  unselbständig  und  unpersönlich  das  Leben  der 
Gegenwart  nur  mitlebt,  daß  man  ä  la  mode  überschätzt  und  unterschätzt, 
vor  allem,  daß  die  Werte  aus  dem  Geistes-  und  Gemütsleben  der  Nation 
verdrängt  werden,  die,  wie  z.  B.  die  Werke  der  klassischen  Periode  der 
Griechen  und  der  Deutschen,  vor  allem  aber  die  christliche  Weltanschau- 
ung, die  Größe  unseres  Volkstums  so  wesentlich  bedingt  haben. 
Die  deutsche  Mit   allem  Nachdruck    muß    zunächst   im  Lehrplan   der   höheren  Mäd- 

^""^  ^'  chenschule  der  deutschen  Sprache  ihr  Recht  gewahrt  werden.  In 
unserer  Zeit,  in  der  die  sozial  voneinander  gerissenen  Stände  unseres  Volkes 
sich  innerlich  so  wenig  noch  verstehn,  hat  die  Sprache  wie  einst  in  der 
Zeit  politischer  Zerrissenheit  den  Wert  eines  Einheitsbandes.  Schon 
darum,  noch  mehr  aber  wegen  ihrer  wunderbaren  Ausdruckskraft,  der 
Kraft  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  bedarf  die  deutsche  Sprache  der 
nachhaltigsten,  hebevollsten  Pflege.  Daß  es  im  20.  Jahrhundert  Schulen 
gab,  die  um  des  Lateins  willen  die  Stundenzahl  des  Deutschen  auf  3  oder 
gar  2  herabsetzten,  wird  einen  starken  Posten  im  Schuldkonto  der  höheren 
Schulen  bilden.  Die  vom  nationalen  Kraftbewußtsein  getragene  Schule 
muß  die  Muttersprache  ehren,  indem  sie  i.  ihre  Schülerinnen  zur  möglichst 
vollendeten  Handhabung  dieser  Sprache  bringt,  in  der  es  sich  so  klar 
denkt  und  Gedachtes  sich  so  schön  ausspricht,  indem  sie  2.,  weit  entfernt, 
am  geweihten  Körper  der  Muttersprache  trockene  grammatische  Übungen 
vorzunehmen,  ihren  Schülerinnen  das  Verständnis  für  die  Schönheit  und  Er- 
habenheit,   die    Bildsamkeit    und   Anpassungsfähigkeit,    für   die   Treue   im 


rn.  Die  Gegenwart.     6.  Der  Lehrplan.  j^e 

Bewahren  alten  Kulturlebens  und  für  alle  anderen  Ehrenattribute  der 
deutschen  Sprache  erschließt.  (Dieser  Unterricht  in  der  Muttersprache 
sei,  ohne  geradezu  sprachgeschichtlich  zu  sein,  doch  sprachgeschichtlich 
gefärbt.  In  einem  wissenschaftlichen  Oberbau  allerdings  würde  eine 
eigentliche  geschichtliche  Behandlung  angezeigt  sein.)  Die  Grammatik 
hat  nur  dann  ein  Recht,  wenn  ihr  Ziel  in  die  Erweckung  des  Verständ- 
nisses für  die  grammatische  Kraft  und  Eigenart  der  deutschen  Sprache 
gesetzt  wird.  Vgl.  z.  B.  die  Sütterlinschen  Sprachlehren.  In  das  Wesen 
der  deutschen  Sprache  soll    aber  auch  aller   literarische  Unterricht  ein-  Der  Unterricht 

r-  t  IT-  n*  •  •••-r»  Tii'^'^'^^  deutschen 

fuhren.  Hier  muß  die  überaus  unkunstlerische  einseitige  Betonung  des  Inhalts  Literatur. 
vermieden  werden.  Wie  Inhalt  und  Form  im  Dichtergeist  miteinander  wachsen 
in  geheimnisvoller  Wechselwirkung,  so  müssen  Inhalt  und  Sprachform  zu- 
einander in  lebendige  Beziehung  gesetzt  werden.  Ihrem  Inhalt  nach  aber 
führt  die  deutsche  Literatur  in  alles  hinein,  was  je  die  Tiefen  der  Menschen- 
seele bewegt  hat.  Welcher  Reichtum,  welche  Fülle,  welche  Unerschöpf- 
lichkeit, welche  Deutschheit!  Und  vor  allem,  das  sei  den  Gegnern  des 
„Ästhetischen"  gesagt,  welch  eine  Gelegenheit  zu  jeder  Form  der  Denk- 
arbeit vom  freien  Phantasiespiel  bis  zum  gebundensten  Denken!  Nimmt 
man  aber  auch  die  moderne  realistische  Literatur  und  die  moderne  Prosa 
hinzu,  so  sind  reiche  Möglichkeiten  gegeben,  zu  scharfer  Wirklichkeits- 
erfassung hinzuführen.  Die  Schule  muß  endlich  dem  Reichtum,  dem  täglich 
sich  mehrenden  goldenen  Überfluß  gerecht  werden!  Dabei  müssen  wir  be- 
sonders auch  die  Berücksichtigung  der  modernen  Literatur  fordern;  sie 
spiegelt  am  besten,  wie  die  Menschheit,  mit  der  wir  leben,  fühlt  und  denkt. 

Zum  Deutschen  tritt  die  Geschichte,  bisher  ein  Stiefkind  in  den  Geschichte. 
Lehrplänen  aller  höheren  Schulen,  bald  hoffentlich  ein  Hauptfach.  Aller- 
dings nicht  in  der  Form,  in  der  es  durch  die  ganze  Schule  auf  nichts 
hinauskommt  als  auf  Erzählen,  Wiedererzählen,  Durcharbeiten,  Wieder- 
holen. Hauptforderung  ist  die  illustrierende  Quellenlektüre,  und  zwar 
in  den  oberen  Klassen  nach  dem  Grundsatz  der  Arbeitsteilung.  Ferner 
muß  gefordert  werden  die  Befähigung  zur  Lektüre  geschichtlicher 
Darstellungen,  die  in  der  geistigen  Reichweite  der  Schülerinnen  liegen. 
Besonders  zu  empfehlen  sind  Lebensbeschreibungen,  namentlich  weil  sie 
die  großen  Ereignisse  einer  Zeit  in  persönlichem  Leben  spiegeln.  Über 
eine  noch  weitergehende  Forderung,  über  die  Beteiligung  der  Schülerinnen 
an  der  geschichtlichen  Forschung,  vgl.  den  Aufsatz  des  Verfassers:  Ein 
F"ortbildungsjahr  (B.  G.  Teubner,   1905,  S.  2  fg.). 

Daß  die  Geschichte  als  Kulturgeschichte  zu  behandeln  ist,  bedarf 
keines  Hinweises.  Die  illustrierende  Quellenlektüre  sowie  die  Lektüre 
kultureller  Schilderungen  und  urkundlich  wertvoller  Lebensbeschreibungen 
dient  besonders  dazu,  das  Zeitbild  vielfarbig  auszumalen.  Die  große 
Fähigkeit  der  Mädchen,  sich  in  einen  fremden  Kulturzustand  einzufühlen, 
sichert  diesem  Verfahren  gute  Ergebnisse.  Bei  aller  kulturgeschichtlichen 
Behandlung  ist  die  Kenntnis  des  gesellschaftlichen  Lebens  (s.o.S.2  lofg.) 

Du  Kultur  dir  Gisimwart.    L  i.  IJ 


220  Hugo  GAunic:    Höheres  MädchcnschuUvesen. 

ein  besonders  wertvolles  Ziel;  diese  Kenntnis  aber  ist  nicht  möglich  ohne 
Kenntnis  des  wirtschaftlichen  Lebens.  Ein  Verständnis  unserer  Gegen- 
wart ist  nicht  denkbar  ohne  die  elementare  Kenntnis  der  modernen  Volks- 
wirtschaft. So  muß  denn  von  der  Geschichte  nachdrückliche  Berück- 
sichtigung des  wirtschaftlichen  Lebens  gefordert  werden;  und  nament- 
lich muß  in  dem  Bilde  unserer  Gegenwart  die  moderne  Wirt- 
schaftsorganisation in  breiterer  Ausführung  zur  Darstellung  kommen. 
Durch  diese  volkswirtschaftliche  Darstellung  gelangen  die  Mädchen  zu 
einer  klaren  Auffassung  der  harten  Realitäten  des  Lebens,  über  die  sie 
sonst  leicht  ihre  Phantasie  hinwegträgt. 
Religion.  Zu    Deutsch    und    Geschichte    tritt    als  drittes  Fach  der    Religions- 

unterricht. In  einer  Zeit,  die  auch  im  Zeichen  des  Kampfes  der  Welt- 
und  Lebensanschauungen  steht,  muß  es  als  dringende  Pflicht  der  höheren 
Mädchenschule  gelten,  die  Tiefe  der  christlichen  Weltanschauung  und 
ihre  unersetzlichen  Lebenswerte  in  dem  Maße  dem  Geist  und  dem  Herzen 
der  Schülerinnen  zu  erschließen,  als  es  die  Fassungskraft  ihres  Geistes 
und  Herzens  zuläßt.  Nicht  vernachlässigt  werden  darf  dabei  die  Ent- 
wicklungsgeschichte des  kirchlichen  und  religiösen  Lebens,  damit  die 
Schülerinnen  erkennen,  daß  die  Religion  das  wichtigste  Problem  der 
deutschen  Geschichte  gewesen  ist. 

Deutsch,  Geschichte  (mit  Volkswirtschaft)  und  Religion  geben  den 
Schülerinnen  den  Einblick  in  das,  was  unser  Volk  bewegt  hat  und  noch 
bewegt,  was  auch  sie  selbst,  so  g^ewiß  sie  ein  persönliches  Leben  führen 
wollen,  bewegen  muß.  In  und  an  diesen  Gebieten  ist  der  Geist  zu 
schulen  für  eine  klare  und  denkscharfe  Erfassung  der  Lebensfragen.  In 
allen  drei  Fächern  aber  haftet  man  an  der  Oberfläche,  wenn  man  nicht 
in  die  Tiefe  des  Seelenlebens  eindringt.  Nur  bei  psychologischer  Ver- 
tiefung werden  die  inneren  Kämpfe,  nur  dann  die  selige  Ruhe,  nur  dann 
die    Beweggründe     menschlichen    und    göttlichen     Handelns    verstanden. 

Psyciioiogie.  Psychologie  muß  Unterrichtsprinzip  im  tiefsten  und  weitesten  Sinne 
sein.  Sie  verbindet  noch  besonders  die  ohnehin  schon  eng  verbundene 
Fächergruppe. 

Naturkunde.  Die   fernwirkende  Kraft   unserer  „Idee"   erweist   sich  nun  auch   darin, 

daß  sie  aus  einer  Reihe  anderer  Fächer  die  Stoffe  anzieht.  So  vor 
allem  zunächt'  aus  der  naturwissenschaftlichen  Gruppe.  Die  Erkenntnis 
des  Menschen  bleibt  so  lange  unvollkommen,  als  nicht  die  Natur- 
wissenschaften die  Naturbedingungen  alles  menschlichen  Lebens  und 
Wirkens  haben  verstehn  machen.  Ohne  Kenntnis  des  Leibes  keine 
Kenntnis  der  Seele,  ohne  Kenntnis  der  Natur  des  Landes  keine  Kenntnis 
seiner  Bewohner,  ohne  Kenntnis  der  gesamten  „Naturbedingungen"  keine 
Kermtnis  des  wirtschaftlichen,  künstlerischen,  überhaupt  des  geistigen 
Lebens.  Die  Erforschung-  der  Natur  ist  in  der  Kulturgeschichte  nament- 
lich der  neuesten  Zeit  einer  der  wichtig'Sten  Gesichtspunkte;  die  enge 
Verknüpfung  des  Natur-  und  Geisteslebens  ein  Kennzeichen  unserer  Zeit. 


m.  Die  Gegenwart.     6.  Der  Lehrplan.  227 

Unentbehrlich  ist  für  die  Ausgestaltung  der  „Idee"  die  Mathematik.    Math^matiL. 
Sie  gewährt  die  Möglichkeit  exakter  Bestimmungen  in  dem  Gesamtgebiet 
menschlichen  Wirkens  und  in  dem  Naturgebiet,  auf  dcis  der  Mensch  form- 
gebend einwirkt. 

Gestaltend  ergreift  unsere  Idee  auch  den  fremdsprachlichen  Unter-     Der  fremd- 

sprachlich© 

rieht.  Der  Zweck  dieses  Unterrichts  muß  von  unserer  Idee  aus  „Ver-  Unterricht, 
ständnis  des  fremden  Volkstums"  lauten;  diesem  Zweck  muß  vor 
allem  die  Lektüre  ihrem  Inhalt  nach,  aber  auch  die  Sprachbehandlung 
dienen;  das  letztere  nicht  nur  durch  Aufdecken  des  Charakteristischen  der 
fremden  Sprache,  sondern  auch  durch  das  Dringen  auf  das  Sprechen  der- 
selben; gerade  das  Sprechen  in  der  fremden  Sprache  fördert  das  un- 
mittelbare Verständnis  des  fremden  Volkstums  außerordentlich,  sobald  es 
ein  Sprechen  im  Geiste  der  fremden  Sprache  ist.  Das  so  gewonnene 
Verständnis  fremden  Volkstums  schließt  sich  dann  zusammen  mit  den  in 
der  Religion,  im  Deutschen,  in  der  Geschichte  und  in  der  Geographie 
erlangten  Einsichten  in  das  Wesen  anderer  fremder  Völker,  und  so  er- 
weitert sich  das  Verständnis  des  menschlichen  Wesens  in  bedeutsamer 
Weise  über  das  eigene  Volkstum  hinaus.  Das  Charakteristische  bei  dem 
Verständnis  des  fremden  Volkes  durch  das  Studium  seiner  Sprache  und 
die  Lektüre  seiner  Geisteshervorbringungen  muß  die  Gründlichkeit  und 
Innerlichkeit  („Intimität")  sein. 

Wirken  alle  die  genannten  Fächer  in  der  bezeichneten  Weise  zu- 
sammen, um  in  den  Schülerinnen  das  Verständnis  für  das  Menschenwesen 
und  Menschenleben  (namentlich  des  Menschen  unserer  Tage)  zu  erwecken, 
so  ist  damit  eine  Konzentration  gewonnen,  die  alles  Zerfallen  des  Unter- 
richts in  unzusammenhängende  T^ile  ausschließt. 

Indes  muß  doch  folsrendes  festgfehalten  werden:   So  erwünscht  es  ist,  DieSeibständig- 

°  °  keit  der  natiir- 

wenn  „die   Idee"    eine    organisierende   Kraft    auf  den  Unterricht  m  allen    wissenschaft- 

"  °  11       liehen  Fächer. 

wissenschaftlichen  Fächern  ausübt,  es  hieße  doch  den  zu  den  Zentral- 
fachem  peripher  gelagerten  Fächern  alle  ihre  Würde  nehmen,  sie  des- 
organisieren und  ihren  besonderen  (namentlich  formalen)  Bildungswert 
schwer  schädigen,  wenn  man  den  Aufbau  und  die  Unterrichtsweise  in 
ihnen  nicht  nach  ihrer  Natur,  sondern  nach  „der  Idee"  gestaltete.  Nur 
das  wird  man  fordern  müssen,  daß  sie  dem  Hauptziele  der  Schule  so  viel 
dienen,  als  es  ihre  Natur  zuläßt,  daß  z.  B.  in  der  Geographie  die  Kultur- 
geographie, in  den  beschreibenden  Naturwissenschaften  die  Anthropologie, 
in  der  Physik  und  Chemie  das  Technologische,  im  Rechnen  die  für  das 
Verständnis  menschlichen  Handelns  und  Wandeins  wichtigsten  Sach- 
gebiete zu  ihrem  vollen  Rechte  kommen,  und  daß  diese  Fächer,  sowenig 
sie  anthropozentrisch  sind,  doch  das  Verständnis  namentlich  des  modernen 
Menschenwesens  fördern. 

Die  naturwissenschaftlichen  Fächer  sind  untereinander  wiederum  Facbenippen. 
zu  einer  Gruppe  verbunden,   die  zuhöchst  auf  das  Entstehn   eines  physi- 
kalischen Weltbildes,  wenn  auch  nur  in  einfachen  Strichen,  hinarbeiten. — 


22  8  Hugo  Gaudig:    Höheres  Mädchenschulwesen. 

Zu  einer  Gruppe  sind  dann  auch  wieder  die  Sprachen  miteinander 
verknüpft.  —  Als  Fachgebiete,  die  zwischen  den  Geistes-  und  Natur- 
wissenschaften vermitteln,  erweisen  sich  besonders  die  Geographie  und 
die  Volkswirtschaftslehre,  beide  Konzentrationsfächer  ersten  Ranges.  Für 
sich  allein  steht  die  Mathematik,  mit  allen  Gebieten  des  Unterrichts 
aber,  soweit  sie  ein  Messen  zulassen,  eng  verbunden.  —  — 

Nach  dem  bisher  über  den  Lehrplan  Gesagten  müssen  wir  zunächst 
alle  Bestrebungen  ablehnen,  die  die  höhere  Mädchenschule  nach  dem 
Vorbild  der  höheren  Knabenschule  umformen  wollen,  sei  es,  daß  sie  nach 
der  Art  der  Gymnasien  den  Schwerpunkt  in  die  alten  Sprachen  oder 
nach  Art  der  Oberrealschulen  in  die  mathematisch-naturwissenschaftliche 
Gruppe  verlegen  oder  nach  Art  der  Realgymnasien  mehrere  Gruppen 
einander  das  Gleichgewicht  halten  lassen.  Zustimmen  müssen  wir  aber 
dem  Verlangen  vieler  nach  intensiverer  Gestaltung  des  Rechenunterrichts 
Die  Stellung  der  Und  nach  der  Einführung  der  elementaren  Mathematik.  Nur  daß  man 
nicht  zuviel  tun  wolle!  Man  halte  dreierlei  fest:  i.  Die  Mathematik  „liegt" 
(trotz  aller  Beobachtungen  sei's  gesagt!)  der  Frauennatur  im  allgemeinen 
nicht;  darüber  hinweg  kann  nur  eine  dem  Mädchen  eigentümliche  Kunst 
täuschen,  die  Kunst,  zu  wollen,  was  man  soll;  2.  ein  fortleitendes,  über 
die  Schulzeit  hinausführendes  Interesse  erweckt  sie  nur  sehr  selten; 
3.  eine  Panazee  gegen  die  Macht  des  Unlogischen  ist  sie  nicht;  die  Mei- 
nung, die  Mathematik  bringe  eine  „allgemeine  formale  Verstandsbildung" 
zustande,  gehört  endlich  in  eine  Rumpelkammer  mit  der  Vermögens- 
theorie. Jedenfalls  entwickelt  sie  nicht  das  Verständnis  für  die  im 
Menschenleben  wirksamen  Kräfte  und  Wirkensformen.  —  Notwendig  ist 
zunächst  unbedingt  die  Einführung  der  Arithmetik,  und  zwar  der  Rech- 
nungsarten „der  ersten  und  zweiten  Stufe";  in  den  Gleichungen  ersten 
Grades  mit  einer  und  mit  mehreren  Unbekannten  ist  dann  ein  Mittel  für 
Rechnungen  auf  den  verschiedensten  wertvollen  Sachgebieten  gegeben. 
Namentlich  aus  formalen  Gründen  ist  erforderlich  die  Aufnahme  der 
Planimetrie,  und  zwar,  wenn  irgend  möglich,  bis  zur  Lehre  von  der 
Proportionalität  der  Größen.  Dies  ist  das  Mindestmaß  an  Stoff,  dem  ein 
Mindestmaß  von  3  Stunden  in  den  drei  oberen  Klassen  entsprechen  dürfte, 
vorausgesetzt,  daß  man  diese  von  einem  guten  Teil  des  bisher  üblichen 
Rechenstoffs  entlastet.  Ob  man  darüber  hinausgehn  kann,  in  der  Arith- 
metik zu  den  Rechnungsarten  dritter  Stufe,  den  Potenzen,  Wurzeln,  Log- 
arithmen, den  quadratischen  Gleichungen,  in  dem  Gebiet  der  Geometrie 
zu  den  Anfangsgründen  der  Trigonometrie  und  Stereometrie,  hängt  vor 
allem  von  der  Prinzipienfrage  ab,  wie  man  sich  i.  zu  der  Frage  des 
Handarbeitsunterrichts  und  2.  zu  der  Frage  des  Unterrichts  in  den 
neueren  Sprachen  stellt.  Einem  Handarbeitsunterricht,  der  unter  Ver- 
meidung aller  Künstlichkeiten  und  Überflüssigkeiten  der  zukünftigen 
Hausfrau  dienen  will,  müssen  wir  nach  unserem  ganzen  Standpunkt  das 
Wort  reden,  wenn  wir    auch    einer  Reduktion    der  Stundenzahl  auf  eine 


m.  Die  Gegenwart.     7.  Der  wissenschaftliche  Oberbau.  229 

Stunde  in  den  beiden  oberen  Klassen  oder  auch  der  völligen  Streichung 
der  Handarbeitsstunden  in  diesen  beiden  Klassen,  in  denen  jetzt  das 
Interesse  für  die  Handarbeit  oft  recht  stark  abflaut,  nicht  grundsätzlich 
entgegen  sind.  —  Einer  Verkürzung  oder  Streichung  der  einen  Die  Streichung 
Fremdsprache  zugunsten  der  Mathematik  reden  manche  das  Wort;  spräche, 
manche  auch  der  Verweisung  einer  fremden  Sprache  in  das  Gebiet  des 
Fakultativen.  Wir  stellen  zunächst  als  Grundsatz  fest:  Wenn  zwei  Fremd- 
sprachen beibehalten  werden,  so  müssen  die  Schülerinnen  in  beiden 
sprachlich  weit  genug  gefördert  werden  können,  daß  sie  das  fremde 
Volkstum  in  seinen  Grundzügen  verstehn  und  zur  selbständigen  Fort- 
bildung Lust  und  Kraft  gewinnen.  Gegen  das  vielfach  jetzt  übliche 
schonungslose  Amputieren  der  Fächer  müssen  wir  uns  prinzipiell  aus- 
sprechen; entweder  gönne  man  den  fremden  Sprachen  gesunde  Existenz- 
bedingungen oder  man  verweise  sie  ganz.  Gegen  die  Verweisung  der 
einen  Sprache,  d.  h.  zumeist  des  Englischen,  und  zwar  zugunsten  der 
Mathematik  sprechen  erstens  die  eben  gegen  ein  erhebliches  Mehr  an 
Mathematik  geltend  gemachten  Bedenken,  femer  die  oben  dargelegten 
Vorzüge  des  Englischen  (s.  o.  S.  2 1 1  f.),  desgleichen  die  herrschende  Idee  der 
Bildung,  die  vom  Gebildeten  Mehrsprachigkeit  fordert,  und  der  Parallelis- 
mus zu  den  Knabenschulen,  endlich  der  praktische  Wert  dieser  Welt- 
sprache. Kommt  man  aber  über  die  Bedenken  gegen  das  Ausscheiden 
des  Englischen  hinweg,  so  würden  wir  von  den  4x4  englischen 
Stunden  nur  etwa  den  vierten  Teil  der  Mathematik,  ein  zweites  Viertel 
den  fortzuführenden  „beschreibenden  Naturwissenschaften",  das  dritte  und 
vierte  aber  der  Geschichte  und  der  Volkswirtschaftslehre,  sowie  der  Gesell- 
schaftskunde zuweisen.  Solange,  man  aber  das  Englische  beibehält,  so 
lange  mache  man  es  auch  unserem  Hauptzweck  bei  der  Mädchenbildung 
nützlich,  und  zwar  durch  Einführung  in  das  Leben  des  englischen  Volks 
nach  den  Hauptseiten  seines  Wesens.  Die  Schülerin  lerne  die  Engländer 
vor  allem  als  das  klassische  Volk  der  Volksvertretung  (des  Pariaments), 
des  Welthandels,  der  Kolonisation,  der  sozialen  Selbsthilfe  kennen.  Privat- 
leben und  schönwissenschaftHches  Leben  muß  stark  zurücktreten.  —  Ent- 
scheidend für  diese  Fragen  sind  übrigens  teilweise  erst  die  nun  folgenden 
Erwägungen  über  den  Ausbau  der  höheren  Mädchenschule. 

7  Der  wissenschaftliche  Oberbau.  Die  Erörterungen  über  diesen  Der  wissen- 
Punkt  sind  am  Anfang  sehr  nachteilig  dadurch  beeinflußt,  daß  von  vom-  Oberbau, 
herein  für  das  Zugangsexamen  der  Mädchen  zur  Universität  dieselben 
Forderungen  wie  an  den  höheren  Knabenschulen  erhoben  werden.  Dem- 
gemäß lautete  früher  die  Fragestellung:  Wie  befähigen  wir  die  Mädchen 
zum  g)-mnasialen  Abgangsexamen?  Seit  der  Gleichstellung  der  Real- 
gj-mnasien  und  der  Oberrealschulen  mit  den  Gymnasien  kommt  auch  die 
Abgangsprüfimg  der  beiden  letzteren  Schulen  als  Ziel  in  Frage.  Ja,  schon 
das  war  der  sachgemäßen  Erörterung  der  ganzen  Frage  abträgUch,  daß 
sie  unter  dem  Gesichtswinkel  „Examen"  behandelt  werden  mußte.  —  Die 


2  ,Q  Hugo  Gaudig  :    Höheres  Mädchenschuhvcsen. 

wichtigsten  Formen,  in  denen  man  die  Vorbildung  der  Mädchen  für  aka- 
demische Studien  zurzeit  erreichen  will,  sind  i.  die  der  (jetzt  meist)  real- 
gjrmnasialen  Kurse,  bei  denen  der  erfolgreiche  Besuch  einer  höheren 
Mädchenschule  vorausgesetzt  wird  und  eine  drei-  bis  vierjährige  Schul- 
zeit erforderlich  ist;  2.  das  Mädchengymnasium  oder  -realgymnasium,  die 
Mädchenoberrealschule,  die  nach  Absolvierung  von  sechs  oder  sieben 
Klassen  der  höheren  Mädchenschule  in  sechs  bis  sieben  Jahren  zur  Ab- 
gangsprüfung führen;  3.  die  Koedukation,  mit  der  in  Baden,  Württemberg 
und  Hessen  Versuche  gemacht  werden. 

Für  uns  muß  die  Frage  von  vornherein  zunächst  so  gestellt  werden: 
Wie   befähigen   wir   Mädchen,    die    den   Kursus   der   zehnstufigen    höheren 
Mädchenschule   in  der  von   uns   geforderten  Weise   durchgemacht  haben, 
zu    akademischen  Studien?     Die   Form    des  Examens    ist    dabei    zunächst 
etwas    Gleichgültiges,    da   von    den    Schulverwaltungen    erwartet   werden 
darf,  daß  sie,  wenn  ihnen  ein  Bildungsgang  nachgewiesen  wird,  der  sicher 
zu    akademischen    Studien    führt,    nicht    eine    der    traditionellen    Examen- 
formen oktroyieren  werden.    Für  den  von  uns  vorzuschlagenden  Bildungs- 
gang lauten  die  Grundsätze  so:  i.  Der  Bildungsgang  muß,  so  weit  als  irgend 
möghch,  die  geradlinige  Fortsetzung  des  Bildungsganges  der  höheren 
Mädchenschule  sein.     Damit  ist  ausgesprochen,  daß  er  2.  der  weiblichen 
Geistesart  angepaßt  ist.    Er  muß  3.  seinen  wissenschaftlichen  Charakter 
besonders  in  der  Entfaltung  wissenschaftlicher  Kraft  bewähren.     Der 
erste  Grundsatz  schließt  zunächst  eine  Umbiegung  nach  dem  Gymnasium 
aus;  aber  auch  die  Aufnahme  des  Latein  und  damit  die  Annäherung  an 
das  Realgymnasium.    Das  Latein  bedeutet,  wenn  es  mit  derselben  Schluß- 
wirkung wie  an  den  Realgymnasien  aufgenommen  werden  soll,  den  Bruch 
in   der  Entwicklung,    die   verhängnisvolle  Umbiegung:    ein  Fach,    das   bei 
vierstufigem  „Kursus"  mit  ca.  sechs  Jahresstunden   angesetzt  werden  muß, 
bei  sechsstufigem  aber  mehrfach  die  Stundenzahl  8,  8,  6,  6,  6,  5  aufweist, 
hat  eine  solche  umbiegende  Kraft;   das  kommt  auch  in  der  Herabsetzung 
der  Stundenzahl  des  Englischen  auf  2,    des   Französischen  auf  2 — 3,   des 
Deutschen  auf  2 — 3  zum  Ausdruck;  so  in  dem  vierjährigen  Lehrgang  der 
Leipziger  Realgymnasialkurse.     Das  Latein  hemmt   aber  die  Fortentwick- 
lung  in   den  drei  Sprachen   in  eben  dem  Zeitpunkt,   in  dem  einer  wissen- 
schaftlich   vertieften  Arbeit   sich    die    besten  Aussichten    öffnen.     Schüle- 
rinnen, die  eine  wissenschaftlich  vertiefte,  systematisch  geschlossene,  viel- 
fach schon  geschichtlich  begründete  Kenntnis  der  deutschen,  französischen 
und  englischen  Grammatik  gewinnen  könnten,  müssen  Elementargrammatik 
lernen;  Schülerinnen,  die  für  das  Beste  aus  der  Literatur  Frankreichs  und 
Englands    heranreifen   und    dieser  Literatur    das    besondere  Interesse  ent- 
gegenbringen,  das   diesen   beiden   großen  Kulturvölkern  wegen  ihrer  ver- 
gangenen, gegenwärtigen  und  zukünftigen  Kulturwirkungen  zukommt, 
w^erden  in  die  römische  Literatur  geworfen,  die  dem  modernen  Menschen 
und  besonders  dem  Frauengemüt  nichts  Wesentliches  zu  sagen  hat.     Dazu 


*III.  Die  Gegenwart.     7.  Der  wissenschaftliche  Oberbau.  23 1 

muß  die  Aneignung  der  neuen  Sprache  in  einem  Zeitmaß  geschehn,  das 
dem  Bildungsertrag  schädlich  ist.  Statt  daß  man  mit  den  Schülerinnen 
im  sechzehnten  Lebensjahr  eine  Sprache  anfängt,  die  vor  allem  zunächst 
Gedächtnisarbeit  fordert,  und  zwar  von  einem  bereits  stark  besetzten 
Gedächtnis,  entwickle  man  ihr  Wissen  in  den  drei  lebenden  Sprachen 
bis  an  die  Grenzen  strenger  WissenschaftUchkeit.  Nicht  minder  pflege 
man  in  diesen  Sprachen  das  Können,  besonders  das  dem  weib- 
lichen Geschlechte  so  außerordentlich  erleichterte  Sprechenkönnen,  das 
zurzeit  infolge  des  Abflauens  der  Reformbewegung  leider  wieder  stark 
im  Preis  gefallen  ist.  Das  stete  ,.Anfangen"  in  den  Lehrplänen  der 
höheren  Schulen  ist  von  großem  Unsegen.  —  Soll  in  Rücksicht  auf  die 
Universitätsstudien  der  Neuphilologinnen,  Juristinnen  usw.  Latein  auf  der 
Schule  gelernt  werden,  so  wäre  ein  ganz  knapp  zugeschnittener  Kursus 
von  rein  technischem  Charakter  allenfalls  erträglich.  Er  wäre  aber  mit 
eben  diesem  Charakter  ein  fremdes  Element  in  dem  gesamten  Bildungsgang. 
Darum  bleibt  die  Erlernung  des  Latein  am  besten  einem  streng  auf  die 
jeweiligen  Zw-ecke  zugeschnittenen  Kursus  an  der  Universität  vorbehalten. 

Das  Lehrziel  der  Oberrealschulen  kann  für  uns  ebensowenig  in 
Frage  kommen  als  das  Lehrziel  des  Realgymnasiums;  die  starke  Betonung 
der  Mathematik  auf  diesen  besonders  zur  Vorbereitung  zu  höheren  tech- 
nischen Berufen  dienenden  Schulen  schließt  das  völlig  aus.  Man  wird  in 
der  Mathematik  sich  in  den  Grenzen  halten,  die  das  Gymnasium  sich  ge- 
steckt hat,  und  auch  hier  vielleicht  noch  einige  Abstriche  machen. 

Der  Schwerpunkt  des  wissenschaftlichen  Oberbaus  bleibt  dort  liegen, 
wo  er  in  der  zehnstufigen  höheren  Mädchenschule  lag  (s.  o.  S.  2  2  3  fg.).  Im 
Deutschen,  dem  mindestens  vier  Wochenstunden  zugewiesen  werden 
müssen,  werde  der  Sprachunterricht  bis  in  die  oberste  Klasse  fortgeführt 
und  sprachgeschichtlich  gestaltet;  für  die  sprachgeschichtliche  Behandlung 
gibt  das  Mittelhochdeutsche  sichere  Unterlagen.  Die  Geschichte  werde 
in  der  oben  von  uns  geschilderten  Weise  so  behandelt,  daß  Lust  und 
Kraft  zu  eigener  Lektüre  anderer  Darstellungen,  Freude  an  der  „illustrie- 
renden" Quellenlektüre  und  ein  elementares  Verständnis  für  geschicht- 
liche Forscherarbeit,  der  Sinn  für  die  Methode  der  Ermittlung  geschicht- 
licher Wahrheit  sich  entwickeln.  Zu  größerer  Selbständigkeit  muß  sich  die 
Volkswirtschaftslehre  entwickeln,  ohne  die  ein  tieferes  Verständnis 
unserer  Zeit  unmöglich  ist.  Der  Religionsunterricht  münde  aus  in 
einer  Glaubens-  und  Sittenlehre,  die  den  inneren  Zusammenhang  der 
christlichen  Lebens-  und  Weltanschauung  darlegt  und  (namentlich  moderne) 
nichtchristliche  Lebens-  und  Weltanschauungen  zur  Erörterung  bringt. 
UnentbehrUch  ist  für  den  ganzen  Oberbau  die  wissenschaftliche  Psycho- 
logie. Sie  ist  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel,  um  den  gesamten  geistes- 
wissenschaftlichen Unterricht  zu  vertiefen.  Durch  Hereinnehmen  der 
Psychologie  kann  der  Unterricht  der  höheren  Schulen  meines  Erachtens 
den  größten  Fortschritt  machen,  den  er  seit  langem  gemacht  hat,  voraus- 


2-12  Hugo  Gaüdig  :   Höheres  Mädchenschulwesen. 

gesetzt  natürlich,  daß  der  gesamte  Unterricht  von  psychologischem  Geist 
durchdrungnen  ist.  Obenein  ist  es  ein  Unterricht,  dem  der  weibliche 
Geist  sich  mit  stärkstem  Interesse  zuwendet.  Nur  wenige  Richtungen, 
in  denen  die  Psychologie  sehr  segensreich  wirken  muß,  seien  genannt: 
das  gesamte  Gebiet,  in  dem  Charaktere  zu  verstehn  sind,  seien  es  Einzel- 
oder Volkscharaktere,  das  Gebiet  der  schöpferischen  Denkvorgänge,  das 
Leben  der  Sprache  usw.  Von  jedem  Fach  kann  die  Psychologie  nehmen, 
und  jedem  kann  sie  geben.  In  der  naturwissenschaftlichen  Gruppe  werde 
vor  allem  der  botanische  und  zoologische  Unterricht  (unter  tunlichster 
Benutzung  der  Lemform  des  Praktikums)  bis  in  die  oberste  Klasse  fort- 
geführt, so  daß  vertiefte  morphologische  und  physiologische  Erkenntnis 
gewonnen  wird.  Dem  zu  feiner  Arbeit  mit  der  Hand,  zu  sorgfältiger 
geistiger  Kleinarbeit  und  zu  induktorischer  Denktätigkeit  besonders  ge- 
eigneten Mädchen  würde  die  Praktikumsarbeit  besonders  zusagen.  Zu 
reichlicher  Pflege  muß  die  Physik  empfohlen  werden,  besonders  auch, 
weil  in  den  physikalischen  Aufgaben  ein  ausgezeichnetes  Mittel  der  Ein- 
schulung in  das  kausale  Denken  und  in  das  Auffinden  und  Skizzieren 
von  Lösungswegen  liegt.  Der  Erdkunde  kann  man  um  ihrer  selbst  willen, 
besonders  aber  auch,  weil  sie  zusammen  mit  der  Volkswirtschaft  die 
breite  Brücke  zwischen  den  „ethischen"  und  den  naturwissenschaftlichen 
Fächern  bildet,  nicht  entraten. 

Die  innere  Disposition  des  Unterrichts  bleibt  dieselbe  wie  in  der 
höheren  Mädchenschule  (s.  o.  S.  223  fg.).  Bei  der  so  herbeigeführten  starken 
Geschlossenheit  des  Unterrichts  widerrät  sich  die  für  Knabenschulen  jetzt 
in  Erwägung  gezogene  Spezialisierung  des  Unterrichts,  bei  der  nur  ein  Kern 
von  Fächern  obligatorisch  für  alle  ist,  im  übrigen  aber  der  Unterricht  sich 
nach  den  Neigungen  und  Lebenszielen  spezialisiert.  Diese  Vorwegnahme  der 
akademischen  Lemweise  würde  außerdem  zu  einer  geistigen  Vereinseiti- 
gung nach  Bildungsstoff  und  geistiger  Gestaltung  führen,  die  bei  der  gefähr- 
lichen Wirkung  des  akademischen  Spezialistentums  besonders  bedenklich 
ist.  Und  gerade  in  unserer  Zeit,  in  der  ein  fester  Zusammenschluß  aller 
leitenden  Kräfte  unseres  Volks  angesichts  des  Ansturms  der  die  Gesellschaft 
zersetzenden  Elemente  dringend  nötig  ist,  kann  die  Basis  gemeinsamer  Bil- 
dung nicht  wohl  breit  genug  sein.  Namentlich  ist  solche  breite  Basis  für 
die  zukünftigen  Lehrer  und  Lehrerinnen  der  höheren  Stände  zu  fordern. 

Der  gesamte  Unterricht  sei  der  weiblichen  Natur  angepaßt.  Er 
entwickele  die  besonderen  Begabungen  des  weiblichen  Geistes  und 
arbeite  besonders  sorgsam  an  der  Beseitigung  seiner  Mängel. 

Die  Arbeitsweise  ist  gleichfalls  nichts  als  die  Fortsetzung-  und  Ent- 
wicklung der  Arbeitsweise  in  der  höheren  Mädchenschule.  Kennwort  der 
Arbeitsweise  bleibt  Selbsttätigkeit.  Die  Aufgaben  nehmen  immer  mehr 
in  wohl  berechnetem  crescendo  wissenschaftlicheren  Charakter  an.  Die 
Arbeiten  spezialisieren  sich  nach  dem  Verfahren  der  Arbeitsteilung  so  weit, 
als  die  Möglichkeit  der  Arbeitsvereinigung  nur  irgend  reicht. 


m.  Die  Gegenwart.     7.  Der  wissenschaftliche  Oberbau. 


233 


Die  Zeitdauer  für  den  wissenschaftlichen  Oberbau  ist  auf  drei  bis 
vier  Jahre  zu  bemessen.  Drei  genügen  allenfalls.  Doch  würde  man  bei 
vier  Jahren  in  ausgiebigster  Weise  auf  die  größere  Zartheit  des  weib- 
lichen Organismus  Rücksicht  nehmen  können,  und  darum  ist  ein  vier- 
jähriger Kursus  weitaus  vorzuziehn. 

Durchaus  zu  warnen  ist  vor  einer  falschen  Form  der  Abgangs-  Die  Abgangs- 
prüfung. Die  geistbedrückende  und  denklähmende  Anhäufung  von  ^"""'^■ 
Wissensstoffen  für  „Prüfungszwecke"  widerstrebt  der  weiblichen  Natur 
noch  ungleich  mehr  als  der  männlichen.  Da  wir  ein  selbsttätiges  Arbeiten 
verlangen,  so  bilden  die  freieren  Arbeiten  der  Schülerinnen,  die  aus  allen 
Fächern  (auch  der  Religion)  seit  dem  Beginn  des  vierjährigen  Kursus 
vorliegen,  eine  breite  wertvolle  Unterlage  für  das  „Urteil"  über  die  Reife 
der  Schülerin.  Dazu  treten  dann  in  der  Examenzeit  häusliche  Studien 
über  ein  beschränkteres  Thema  mit  völlig  freier  Literaturbenutzung  und  eine 
Anzahl  von  Klausuren.  Die  mündliche  Prüfung  hat  nicht  den  Charakter 
eines  hochnotpeinlichen  Abfragens,  sondern  gibt  den  Schülerinnen 
Gelegenheit,  zu  zeigen,  wie  sie  eine  in  ihrem  Gesichtskreis  liegende  Auf- 
gabe anfassen.  Dabei  mögen  die  Aufgaben,  besonders  aus  dem  Gebiet 
der  Auslegung  der  Schriftsteller,  so  eingerichtet  sein,  daß  die  Schülerin  von 
der  Erläuterung  aus  in  freier  Arbeit,  assoziierend  und  systematisierend, 
ihr  Wissen  in  die  Breite  und  Tiefe  entwickeln  kann. 

Die  vollausgebaute  höhere  Mädchenschule,  wie  sie  mir  vorschwebt, 
steht  hinter  den  g>-mnasialen  Anstalten  durch  das  Fehlen  der  klassischen 
Sprachen  zurück;  hinter  allen  Knabenanstalten  durch  ein  Weniger  in  der 
Mathematik,  hinter  dem  Gymnasium  allerdings  nur  um  ein  Geringes; 
hinter  dem  Realgymnasium  und  der  Oberrealschule  in  Physik  und  Chemie, 
während  sie  hier  dem  Gymnasium  überlegen  sein  muß;  vor  allen  drei 
Anstalten  hat  sie  die  schärfere  Betonung  der  beschreibenden  Natur- 
wissenschaften, und  zwar  in  biologischer  Behandlung,  voraus.  Die  Gebiete, 
auf  denen  sie  ihr  Defizit  wettmachen  muß,  sind  die  übrigen  Fächer; 
unter  diesen  würden  ihr  allein  Psychologie  und  eigentliche  Volkswirt- 
schaftslehre eigen  sein.  Ein  vom  Frauengeist  leicht  zu  erwerbendes 
Mehr  würde  auf  dem  Gebiet  der  Literaturen  liegen,  wo  eine  selbständige 
Behandlung  auch  schwieriger  Kunstwerke  unter  künstlerischem  Gesichts- 
punkte, desgleichen  die  selbständige  Behandlung  kleiner  literargeschicht- 
licher  Fragen  Ziel  sein  müßte.  Weit  voraus  läge  das  Ziel  beim  münd- 
lichen Gebrauch  der  Sprache.  Beträchtlich  höher  wäre  auch  das  Ziel  in 
den  drei  Sprachlehren,  besonders  der  deutschen,  zu  stecken.  Li  der  Re- 
ligion kämen  der  Frauengeist  und  das  Frauengemüt  einer  weitergehenden 
Vertiefung  in  das  Innenleben  der  religiösen  Menschen  gern  entgegen. 
Endlich  ist  die  Aufgabe  in  der  Geschichte  durch  Annäherung  an  die 
wissenschaftliche  Arbeit  erheblich  zu  erschweren.  —  In  summa:  Gleich- 
wertigkeit der  Leistungen  bei  starker  Ungleichartigkeit  muß  das  Lehr- 
planziel sein. 


2^1  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

Die  Vorbildung  8.  Vorbildung  für  das  häusliche  Leben.  In  der  Geschichte  unserer 

Leben.  Schulgattung  taucht  immer  wieder  der  Vorwurf  auf,  sie  bilde  nicht  für 
das  häusliche  Leben.  Auch  wir  lehnten  oben  die  Tendenzen  ab,  die 
der  Schule  den  Charakter  einer  Anstalt  für  allgemeine  Bildung  durch 
Umbiegung  ihrer  Eigenart  ins  Technische  nehmen  wollten,  so  scharf  be- 
stimmt vor  uns  als  Leitbild  die  Frau  stand,  deren  persönliches  Leben 
sich  vor  allem  auch  im  Familienleben  betätigen  soll.  Hat  nun  aber  die 
höhere  Mädchenschule  in  zehnjährigem  Kursus  den  Forderungen  der 
allgemeinen  Bildung  Genüge  getan,  so  kann  nunmehr  die  Vorbildung 
für  das  häusliche  Leben  und  zwar  im  technischen  Sinne  erwogen 
werden.  Und  hier  bietet  sich  in  der  Tat  eine  der  lohnendsten,  eigen- 
artigsten Aufgaben  der  gesamten  Frauenbildung.  Ziel  der  Arbeit  muß 
sein  vor  allem  die  Pflege  und  Entwicklung  der  persönlichen  Kräfte, 
die  für  eine  wertvolle  Ausgestaltung  des  häuslichen  Lebens  in 
religiöser,  sittlicher,  geistiger  und  geselliger  Richtung,  besonders  für  eine 
gute  Pflege  und  Erziehung  der  Kinder,  aber  auch  für  eine  wirt- 
schaftliche Haushaltsführung  erforderlich  sind.  Den  Stimmungs- 
charakter der  Arbeit  bedingt  das  Mit-  und  Nebeneinander  rein  geistiger 
und  mehr  praktischer  Arbeit.  Das  Ganze  des  Frauenlebens  muß  ins 
Auge  gefaßt  werden.  Zugleich  muß  die  Gefahr  einer  Erziehung  zum 
Familienegoismus  vermieden  werden,  indem  man  alle  die  Radien  be- 
achtet, die  aus  dem  engen  Kreis  des  Familienlebens  hinausweisen,  aus 
dem  Geistesleben  der  Familie  in  das  Geistesleben  des  Volkes,  aus  dem 
religiösen  Leben  der  Hausgemeinde  in  das  Leben  der  Kirche,  „aus  der 
Hauswirtschaft  in  die  Volkswirtschaft,  aus  der  Familienpflege  in  die 
Pflege  des  arbeitenden  Volkes,  aus  der  Sorge  für  die  Gesundheit  der 
Nächsten  zu  der  Sorge  für  die  öfi^entliche  Gesundheitspflege".  Treten 
die  Schülerinnen  unvermittelt  aus  der  Schule  in  das  „Leben",  so  geht 
ihnen  leicht  die  schöne  Mitgift  der  Schule  für  das  Leben  verloren;  unsere 
Vor-  und  Fortbildungsarbeit  soll  aus  der  Schule  ins  Leben  überführen.  — 
An  Bildungselementen  können  nur  solche  aufgenommen  werden,  die 
I.  mit  den  Lebensinteressen  der  deutschen  Frau  eng  verbunden 
sind,  die  2.  ein  fortleitendes  Interesse  und  die  Möglichkeit  selbst- 
tätiger Fortbildung  gewähren  und  die  3.  eine  enge  Verbindung  mit 
dem  Lehrgang  der  zehnstufigen  Schule  haben.  Erforderlich  er- 
scheint zunächst  eine  Fortführung  der  religiösen  Bildung,  damit  die  deut- 
sche Frau  sich  einst  in  ihrem  religiösen  Leben  kräftig'  behaupten  und  ent- 
wickeln und  dem  Beruf  religiöser  Seelenpflege  besonders  an  den  Kindern 
genügen  kann.  Soweit  es  noch  nicht  geschehn  ist,  muß  eine  organische  Ver- 
knüpfung der  christlichen  Lebenswahrheiten  zu  einem  lebensvollen  Ganzen 
gewonnen  werden.  Im  Interesse  des  selbständigen  Geisteslebens  liegt  die 
Anleitung  zu  selbständigem  Lesen  der  hl.  Schrift,  im  Interesse  des  den 
Frauen  nötigen  Verständnisses  für  das  innere  religiöse  Leben  der  Kirche 
und  für  den  Taterweis  dieses  Lebens  in  der  Liebe  die  Einführung  in  die 


III.  Die  Gegenwart.     8.  Vorbildung  für  das  häusliche  Leben.  235 

Lektüre  von  Büchern,  in  denen  das  religiöse  Leben  der  Kirche  geschildert 
wird,  und  in  die  Liebesarbeit  der  Kirche.  Als  eigenartige  Aufgabe  im 
Deutschen  empfiehlt  sich  die  Einfuhrung  in  das  poetische  Gegen- 
wartsleben der  Nation,  an  dem  die  deutsche  Frau  genießend  und  Genuß 
vermittelnd  teilnehmen  soll,  an  dem  sich  auch  ihr  Geschmack  im  Urteil 
erproben  muß.  Wertvoll  erscheint  von  einer  ganz  anderen  Seite  eine 
Einführung  in  die  Literatur  der  Jugendschriften  zum  Zweck  der  Er- 
ziehung zu  rechtem  Werturteil  über  die  geistige  Speise  der  Jugend.  — 
Einer  verfeinerten  Geselligkeit,  der  wir  so  dringend  bedürfen,  aber  auch 
noch  edleren  Zwecken  dienen  Übungen  in  der  Sprachkunst,  im  Vor- 
tragen, Erzählen,  Konversieren.  Die  Pflege  des  schriftlichen  Aus- 
drucks fördere  ein  Studienheft,  in  dem  nach  freiem  Darstellungstrieb  alle 
Formen  der  Darstellung,  vor  allem  die  unschulmäßigen,  verwandt  werden. 
Damit  die  deutsche  Frau  eine  Pflegerin  und  Schützerin  der  deutschen 
Sprache  werde,  gewähre  man  ihr  (unter  besonderer  Beachtung  der  Kinder- 
sprache) noch  einmal  den  Einblick  in  Leben  und  Werden  der  Sprache.  — 
In  den  Fremdsprachen  muß  das  Hauptziel  die  Weiterbildung  zu  selb- 
ständiger Lektüre  besonders  solcher  Werke  sein,  in  denen  sich  der  eigen- 
tümliche Geist  der  beiden  großen  Kulturvölker  offenbart.  —  In  dem 
besonders  zu  betonenden  geschichtlichen  Unterricht  muß  das  Augen- 
merk besonders  auf  die  Erweckung  der  persönlichen  Teilnahme  am  Ge- 
schick des  Vaterlandes  und  der  persönlichen  Mitverantwortlichkeit 
gerichtet  sein.  Zugleich  muß  die  Fähigkeit,  „sich  in  den  Geist  der  Zeiten 
zu  versetzen",  und  die  Lust  zu  geschichtlichem  Lesen  erweckt  werden; 
dazu  diene  Lektüre  illustrierender  Quellen  und  wertvoller  geschicht- 
licher Darstellungen.  Der  Zeitraum,  der  besonders  in  Frage  kommt, 
ist  die  Zeit  von  Friedrich  dem  Großen  bis  zur  Gegenwart.  Volles  Gegen- 
wartsverständnis aber  ist  nur  möglich  mittels  einer  Einführung  in  die 
Gesellschaftskunde  und  zwar  auf  der  Unterlage  elementarer  Kennt- 
nisse in  der  Volkswirtschaft.  Bedeutsame  Unterstützung  gewährt  dem 
Verständnis  der  Gegenwart  die  Erdkunde  als  Kulturgeographie.  Der 
Naturkunde  würde  die  hochliegende  Aufgabe,  ein  „physikalisches 
Weltbild"  in  elementarsten  Formen  zu  zeichnen,  zufallen.  Die  techno- 
logische Seite  der  Physik  und  Chemie  findet  in  der  Volkswirtschafts- 
lehre und  Haushaltungskunde  Verwendung.  Daß  Psychologie  und  zwar 
ernstgemeinte,  gründliche  in  unseren  Lehrplan  gehört,  bedarf  keiner  Be- 
gründung. Die  Psychologie  muß  schließen  mit  einer  Psychologie  der 
individuellen  Differenzen  und  einer  Charakterologie.  —  Für  eine 
Veredlung  des  Genußlebens  kommt  noch  in  Betracht  die  Pflege  der 
Kunstbetrachtung  zum  Zweck  des  Kunstgenusses. 

Die  Methode  muß  kein  höheres  Ziel  kennen  als  die  Emanzipation 
der  Schülerinnen  von  der  Schule  zu  selbständigem,  selbsttätigem 
Bildungswerk.  Gelingt  diese  Ablösung  nicht,  so  entsteht  der  jetzt  nor- 
male Zustand  des  Verfalls  der  geistigen  Kräfte,  der  Horizontverengerung, 


236 


Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 


der  Teilnahmlosigkeit,  der  Allherrschaft  der  Nichtigkeiten,  und  was  die 
SjTnptome  der  d^cadence  unserer  einstigen  Schülerinnen  sonst  noch  sein 
mögen.  —  Vor  allem  müssen  die  Lernweisen  des  Lebens,  d.h.  die  Arten 
des  Lernens  im  gewöhnlichen  Leben,  gepflegt  werden,  das  freie  Lesen 
von  Büchern,  Broschüren,  Zeitungen,  das  Gespräch,  der  Besuch  von 
Stätten  der  Kunst  und  des  werktätigen  Lebens. 

Das  zweite  Hauptgebiet  der  Arbeit,  an  Würde  das  erste,  ist  die 
Heranbildung  der  Schülerinnen  zur  Pflege  und  Erziehung  der  Kinder- 
Diese  Arbeit  muß  von  der  Erkenntnis  getragen  werden,  daß  die  wichtigste 
Tätigkeit  der  deutschen  Frau,  mit  der  sie  der  Kultur  ihren  höchsten  Dienst 
leistet,  nicht  länger  Sache  des  glücklichen  Taktes,  der  bloßen  Routine, 
des  vagen  Versuchs  bleiben  darf.  Die  zukünftigen  Mütter  haben  ein  An- 
recht auf  Erziehung  zum  mütterlichen  Beruf.  Ist  ihnen  aber  dies  Recht 
geworden,  so  sind  sie  der  Nation  verpflichtet,  gut  zu  erziehen  und  so 
die  Zukunft  der  Nation  in  schicksalsschwerer  Zeit  zu  sichern.  Erforderlich 
ist  eine  Verbindung  der  Einführung  in  die  Theorie  und  der  Einübung 
in  die  Technik  der  Erziehung.  Die  Theorie  umfaßt  die  Kenntnis  des 
Gegenstandes,  des  Ziels  und  der  Mittel  der  Erziehung,  sowie  eine  ele- 
mentare Unterrichtslehre.  Die  Einführung  in  die  Kunstübung  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichts  geschieht  im  Mädchenhort  und  im  Volks- 
kindergarten. 

Das  letzte  Sachgebiet  unserer  Arbeit  umfaßt  das  gesamte  physi- 
sche Wirken  der  Hausfrau.  Die  Unterlage  der  einheitlichen  Disziplin 
bildet  eine  gründliche  Kenntnis  vom  Bau  und  Leben  des  menschlichen 
Körpers.  Die  Hauptaufgabe  umfaßt  die  Erhaltung  und  Pflege  des 
menschlichen  Körpers.  Aufbauend  auf  einer  Belehrung  über  Wohnung, 
Kleidung,  Lebensmittel,  gibt  man  den  Schülerinnen  das  Wissen  von  der 
Technik  des  hauswirtschaftlichen  Tuns,  z.  B.  der  Wahl  der  Woh- 
nung, der  Beschaffung  des  Hausrats,  der  Beschaffung  und  Zubereitung  der 
Lebensmittel.  Mit  dem  Erkennen  verbindet  sich  überall  das  praktische 
Tun.  —  Den  Schluß  bildet  die  Theorie  und  Praxis  der  hauswirtschaft- 
lichen Rechnungsführung.  Genaueres  in  meinem  Aufsatz:  Ein  Fort- 
bildungsjahr (s.  o.). 

ErforderUch  sind  für  diese  Vorbildung  zum  häuslichen  Leben  ein 
bis  zwei  Jahre.  Voraussetzung  ist  ein  auf  Erziehung  zur  Selbsttätig- 
keit abzielender  Unterricht  in  einer  zehnstufigen  höheren  Mädchenschule. 
Bei  der  hier  empfohlenen  genauen  Anpassung  des  Lehrverfahrens  an 
den  Zweck  leuchtet  ein,  daß  eine  Verquickung  dieser  Vorbereitung  für 
das  häusliche  Leben  mit  dem  wissenschaftlich  gerichteten  Unterricht  des 
,,Oberbaues"  von  uns  an  der  Schwelle  abgewiesen  werden  muß.  Die  rein- 
liche Scheidung  der  Vorbildung  für  die  akademischen  Studien  und  der 
Vorbildung  für  das  Leben  im  Hause  ist  die  Vorbedingung  für  den  unter- 
richtlichen Erfolg  hier  wie  dort. 

Während    man    die    Vorbildung    für    das    häusliche    Leben    in    enger 


ncnscmmar. 


in.  Die  Gegenwart.     9.  Das  Lehrerinnenseminar.  2^J 

Fühlung  mit  der  höheren  Mädchenschule  halten  wird,  stehen  andere 
schulmäßige  Veranstaltungen,  wie  Industrie-  und  Gewerbeschulen, 
Haushaltungschulen,  Schulen  für  Kindergärtnerinnen  usw.,  außer- 
halb des  Zusammenhangs  mit  ihr,  am  besten  zu  „Zentralanstalten"  für  die 
Berufsausbildung  der  weiblichen  Jugend  zusammengefaßt.  Für  diese 
gesamte  Berufsausbildung  muß  die  höhere  Mädchenschule  die  allgemeine 
Vorbildung  der  Geisteskräfte  leisten. 

9.  Das  Lehrerinnenseminar.  Diese  Anstalt  hat  sich  an  der  höheren  Das  Lehrerin- 
Mädchenschule  aus  den  kümmerlichsten  Anfangen  entwickelt.  Eine  ge- 
schichtlich gewordene  Verbindung  besteht  hier,  die  wohl  auch  in  Segen 
fortbestehen  kann,  wenn  nicht  Gründe  der  äußeren  und  inneren  Ver- 
waltung zur  Trennung  zwingen.  Die  Anhänger  völliger  Trennung  be- 
tonen besonders  den  Unterschied  der  beiden  Schulen,  von  denen  die  eine 
allgemeine,  die  andere  Fachbildung  vermittele.  Da  aber  der  wissen- 
schaftliche Unterricht  im  Seminar  sich  als  geradlinige  Fortsetzung  des 
Unterrichts  in  der  Mädchenschule  darstellt,  so  ist  immerhin  eine  innere 
Kontinuität  gegeben.  —  Ohne  daß  hier  im  einzelnen  auf  die  Fragen 
dieser  Schulgattung  eingegangen  werden  soll,  mag  zu  den  wichtigsten 
Fragen  auf  diesem  Gebiet  das  Folgende  bemerkt  werden:  Die  Bedingung 
der  Zulassung  zur  Aufnahmeprüfung  sei  die  Absolvierung  der  zehn- 
stufigen höheren  Mädchenstufe  oder  der  Erwerb  einer  ebenbürtigen  Bildung. 
In  einer  Zeit,  in  der  der  Volksschullehrerstand  auf  eine  Vorbereitung  in 
der  Art  der  Realschule  dringt,  tun  die  Volksschullehrerinnen  gut,  nicht 
unter  die  Anforderungen  der  höheren  Mädchenschule  herabzugehen.  Das 
Ziel  des  Seminars  ist  zunächst  die  Vorbereitung  für  den  Dienst  an  der 
Volksschule,  ein  Dienst,  der  in  unserer  Zeit  um  so  herrlicher  ist,  als 
der  Lehrer  und  die  Lehrerin  fast  die  einzigen  sicheren  Vermittler  der 
religiösen,  der  deutsch-nationalen,  der  bürgerlichen  Gedanken-  und  Gefühls- 
welt an  die  Kinder  des  vierten  Standes  und  an  diesen  selbst  sind.  Eine 
ungeheuere  Kulturaufgabe!  Diese  Kulturaufgabe  fordert  eine  tiefe 
Bildung,  für  die  vier  Jahre  nötig  sind.  Die  Erhöhung  um  .  ein  Jahr 
stellt  auch  den  Parallelismus  mit  der  Ausbildung  der  Lehrer  her.  Die 
Prüfung  für  die  Volksschulen  berechtigt  zugleich  zum  Unterricht  auf  der 
Unter-  und  Mittelstufe,  aber  nicht  der  Oberstufe  der  höheren  Mädchen- 
schule. —  Will  man  für  die  Volksschullehrerinnen  bei  einem  dreijährigen 
Kursus  stehen  bleiben,  so  würde  die  Lehrbefähigung  für  die  unteren  und 
mittleren  Klassen  der  höheren  Mädchenschule  in  Preußen  durch  ein 
Examen  in  Fachgruppen  nach  Art  des  Examens  für  Mittelschullehrer  er- 
langet werden  müssen. 

Die  wissenschaftliche  Ausbildung  im  Seminar  geschehe  in  tun- 
lichst geradliniger  Fortsetzung  der  Arbeit,  wie  sie  oben  für  die  höhere 
Mädchenschule  gefordert  ist.  Das  Ziel  des  Unterrichts  kann  nur  eins 
sein:  die  Befähigung  der  Seminaristinnen  zu  selbsttätigem  Gewinnen  des 
Lehrstoffs.      Hier    gilt    es    mit    allen    Mitteln    dem    Schaden    zuleibe   zu 


2  ?8  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

g^eheii,  an  dem  der  Unterricht  der  Lehrerinnen  wie  der  Lehrer  vielfach 
leidet;  sie  sind  beim  Gewinnen  des  Stoffs  abhängig  von  den  „abgeleitet- 
sten" Quellen,  wenn  sie  nicht  gar  gleich  den  diktatisch  geformten  Stoff  aus 
einem  der  schlimmen  Präparationsmittel  entnehmen.  Die  Lust  und  die 
Kraft  zu  freitätiger  Stoffgewinnung  muß  im  Seminar  erweckt  werden. 
Das  ist  nur  möglich,  wenn  auch  im  Seminar,  und  hier  erst  recht,  der 
Unterricht  Arbeits  Unterricht  ist,  wenn  alles  Dozieren  ex  cathedra 
auf  das  geringste  Maß  beschränkt  wird  und  dafür  das  Arbeiten  mit  den 
Schülerinnen  eintritt,  dessen  Ergebnis  eine  sichere  Arbeitstechnik  ist, 
dank  deren  sie  z.  B.  mit  geschickter  Benutzung  der  exegetischen  und 
archäologischen  Hilfsmittel  an  die  Erklärung  eines  Bibeltextes  heran- 
gehen, dank  deren  sie  in  das  innere  Verständnis  einer  Dichtung  ein- 
dringen, dank  deren  sie  illustrierende  Quellen  in  der  Geschichte  benutzen, 
dank  deren  sie  selbständig  experimentieren  usw.  Unter  den  Fächern,  die 
mit  Nachdruck  getrieben  werden,  fehle  auch  das  Französische  nicht. 
Auch  die  Volksschullehrerin  bedarf  dieses  eminenten  Bildungsmittels,  das 
obenein  ein  anerkannter  Gradmesser  der  „Bildung"  ist.  Bei  vierjährigem 
Kursus  und  etwa  vierstündigem  Wochenunterricht  könnte  auch  im  Fran- 
zösischen das  Maß  von  Kenntnissen  erworben  werden,  das,  einen  späteren 
Auslandsaufenthalt  vorausgesetzt,  bis  zu  den  mittleren  Klassen  der  höheren 
Schulen  genügen  würde. 

Für  die  spezifisch  fachmäßige  Ausbildung  muß  vor  allem  auf  eine 
tüchtige  psychologische  Grundlage  gedrungen  werden.  Daß  sich  zu 
solcher  Grundlage  nur  die  moderne  exakte  Psychologie,  nicht  die  Her- 
barts eignet,  wird  hoffentlich  bald  allgemein  anerkannt.  Selbstverständ- 
lich muß  der  Unterricht  das  ganze  Seelenleben  umspannen  und  sich  vor 
jeder  voreiligen  Einmengung-  praktischer  Gesichtspunkte  hüten.  Beson- 
derer Nachdruck  ist  auf  den  Aufbau  des  Seelenlebens  zu  legen.  —  Eine 
Lebensfrage  für  den  Unterricht  in  der  deutschen  Volksschule  ist  es,  daß 
grundsätzlich  mit  allem  didaktischenFormalismus  gebrochen  wird.  Man 
lehre  daher  die  Seminaristinnen  vor  allem,  daß  sie  zunächst  nichts  Höheres 
kennen  dürfen  als  das  Streben,  den  Unterrichtsstoff  in  seiner  ganzen  Kraft 
und  Schönheit  zu  verstehen.  Das  zweite  ist  dann  die  Erwägung,  was 
von  diesem  Kraftvollen  und  Schönen  die  Schülerin  nach  dem  Stand 
ihrer  Kraft  sich  aneignen  kann.  Drittens  ist  dann  zu  überleg"en,  nicht, 
wie  der  Stoff  vom  Lehrer  „darzubieten"  ist,  sondern  wie  die  Schülerin 
sich  am  besten  des  Stoffs  eigentätig  bemächtigt,  wie  zwischen  ihr  und 
dem  Stoff  ein  recht  inniges,  unmittelbares  Verhältnis  entsteht.  Voraus- 
setzung- hierbei  ist,  daß  die  Seminaristin  die  Anforderungen  kennt,  die 
ein  Stoff  an  die  Seele  des  Kindes  stellt,  und  daß  sie  weiß,  in  welchen 
Richtungen  (und  auf  welche  Reize  hin)  das  Denken  der  Natur  des  Stoffs 
gemäß  konstant  verläuft.  —  Damit  die  Seminaristin  diese  Art  der  Stoff- 
behandlung lernt,  ist  mit  ihr  andauernd  am  Stoff  selbst  zu  arbeiten; 
so    erwächst    ihr    die    Didaktik    der    einzelnen    Fächer    aus    den    Fächern 


ni.  Die  Gegenwart.      lo.  Die  Vorbildung  der  Oberlehrerinnen.  239 

selbst,    aus    deren    Natur   heraus.     Demgemäß    hat  die   Didaktik   der  ein- 
zelnen Fächer  der  sog.  allgemeinen   Didaktik  vorauszugehen. 

Diese  gemeinsame  Arbeit  mit  den  Seminaristinnen  ist  das  Wichtigste, 
was  das  Seminar  für  deren  Einführung  in  die  Unterrichtspraxis  tun  kann, 
ungleich  wichtiger  als  das  eigentliche  Unterrichtenlassen  in  der  Seminar- 
übungsschule. Unterrichtsstoffe  auf  ihren  Inhalt,  ihren  Wert  für  das 
Geistes-  und  Gemütsleben,  auf  die  von  ihnen  geforderten  psychischen 
Prozesse  hin  durchstudieren  und  dann  erwägen,  wie  man  diese  Prozesse 
im  Geist  der  Schülerin  zum  Ablauf  bringt,  das  ist  etwas,  was  die  Lehrerin 
allein  nur  schwer  lernt,  während  sie  sich  mit  der  äußeren  Technik  der 
Frage  u.  ä.  schnell  abfindet. 

Die  Seminaristinnen  dazu  anzuhalten,  daß  sie  den  Stoff  selbsttätig 
erheben  und  zwar  den  Quellen  so  nahe  als  möglich,  und  ihn  dann  selbst- 
tätig seiner  und  der  Schülerinnen  Natur  gemäß  und  entsprechend  der 
stets  wechselnden  gesamten  Unterrichtslage  gestalten,  das  muß  A  und  O 
der  Seminararbeit  sein. 

Eine  so  vorgebildete  Seminaristin  ist  unzweifelhaft  fähig,  später  auf 
der  Universität  die  Kunst  der  wissenschaftlichen  Forschung  zu  lernen. 

Die  wissenschaftUche  Prüfung  würde  ebenso  zu  gestalten  sein  wie 
das  Abiturientenexamen  (s.  o.  S.  233).  So  fiele  die  Examennot  weg;  damit 
auch  die  Notwendigkeit,  etwa  an  eine  stufenförmige  Prüfung  denken  zu 
müssen,  damit  auch  ein  Hauptgrund  für  die  Trennung  der  Fachausbildung 
von  der  wissenschaftlichen  Ausbildung.  Diese  Trennung  bringt,  soweit 
ich  sehe,  die  Gefahr  des  didaktischen  Formalismus  mit  sich. 

10.  Die  Vorbildung  der  Oberlehrerinnen.  Bewährt  hat  sich  der 
Weg,  den  man  den  seminarisch  gebildeten  Lehrerinnen  geöffnet  hat 
(s.  o.  S.  190).  Als  Mängel  dieses  Bildungsgangs  empfanden  allerdings 
die  Lehrerinnen  die  Hindernisse  bei  der  vorübergehenden  Loslösung 
aus  ihrem  Amt,  die  Schwierigkeit  des  Erwerbs  der  Vorkenntnisse  im 
Lateinischen,  Griechischen  und  der  Mathematik,  vor  allem  aber  die  Un- 
zulänglichkeit der  Vorbereitung  auf  dem  Seminar.  Als  Vorzüge  müssen 
erscheinen  die  größere  geistige  und  sittliche  Reife,  die  eine  geistig  und 
charakterologisch  wertvolle  Ausnutzung  der  „akademischen  Freiheit" 
gestattet,  die  an  der  unterrichtlichen  Arbeit  unter  eigener  Verantwortung 
und  an  der  selbsttätigen  Fortbildung  von  der  Lehrerin  selbst  und  ihren 
Vorgesetzten  gewonnene  Einsicht  in  das  wissenschaftliche  und  das  davon 
grundverschiedene  pädagogische  und  didaktische  Vermögen  und  die  plan- 
mäßige Beziehung  des  Studiums  auf  unterrichtliche  Verwendung.  Von 
den  Hemmnissen  würde  das  letzte  durch  eine  Reform  des  Seminars 
zu  beseitigen  sein,  deren  Ziel  die  Befähigung  zum  selbsttätigen  Er- 
arbeiten des  Unterrichtsstoffs  und  zum  freieren  Gewinnen  der  unterricht- 
lichen  Form  wäre.  Das  Fehlen  der  „Vorkenntnisse",  von  denen  übri- 
gens das  Griechisch  auch  nicht  auf  dem  von  den  Lehrerinnen  bevorzugten 
Wege  rcalgymnasialer  Vorbildung  gewonnen  wird,  kaim  nicht  schwer 


2AO  Hugo  Gaudig:  Höheres  Mädchenschulwesen. 

ins  Gewicht  fallen,  wenn  der  Studiengang-  so  eingerichtet  wird,  daß  im 
ersten  bis  zweiten  Semester  in  solchen  Gebieten  gearbeitet  wird,  die 
die  „Vorkenntnisse"  nicht  fordern,  und  daß  in  dieser  Zeit  die  Vorkennt- 
nisse in  einem  praktisch  geleiteten  Kursus  gewonnen  werden  können. 
Neben  den  seminarisch  vorgebildeten  Oberlehrerinnen  werden  zukünftig, 
und  zwar  in  steigender  Zahl,  die  in  derselben  Weise  wie  die  Oberlehrer 
auf  einer  Mittelschule  (Gymnasium,  Realgymnasium,  Oberrealschule)  vor- 
gebildeten Oberlehrerinnen  stehn.  Das  Ziel  muß  sein,  daß  die  Bildung 
beider  Kategorieen  von  Oberlehrerinnen  gleichwertig  wird.  Die  Diffe- 
renzierung der  Prüfungsforderung-en  ist  nicht  rätlich.  Wird  der  Kursus 
des  Lehrerinnenseminars  vierjährig,  so  rückt  die  Vorbildung  der  Semina- 
ristin der  der  Mittelschülerin  an  wissenschaftlichem  Wert  nahe;  ein  Aus- 
gleich des  immer  noch  bestehenden  durch  die  praktische  und  theore- 
tische Ausbildung  in  der  Pädagogik  bedingten  Weniger  wird  dadurch 
erreicht,  daß  die  Mittelschülerin  schon  auf  der  Universität  sich  ungleich 
intensiver  mit  wissenschaftlicher  Pädagogik  wird  beschäftigen  müssen, 
und  daß  der  Lehrerin  in  der  Zeit  ihrer  fünfjährigen  Praxis  die  Möglich- 
keit zu  einer  wissenschaftlichen  Fortbildung  in  der  Richtung  ihrer  Se- 
minararbeit und  damit  zu  einer  Vorbildung  auf  der  Universität  gegeben 
ist.  —  Für  die  aus  den  Mittelschulen  hervorgegangenen  wissenschaft- 
lichen  Lehrerinnen    ist   Seminar-   und  Probejahr   obligatorisch   zu   machen. 

Das  Lehrer-  II.  Das  Lehrerkollegium  der  höheren  Mädchenschule.   Akade- 

mische Bildung  muß  nach  allem  Gesagten  für  den  Unterricht  auf  der  Ober- 
stufe gefordert  werden ;  tüchtige  Seminarbildung  für  den  Unterricht  auf  der 
Mittel-  und  Unterstufe.  Dem  Geschlecht  nach  arbeiten  Lehrer  und  Lehre- 
rinnen, Oberlehrer  und  Oberlehrerinnen  in  einem  Prozentsatz  nebeneinander^ 
der  dem  Spiel  der  örtlichen  Verhältnisse  überlassen  werden  kann.  Die 
Schule  aber  dürfte  dann  am  besten  beraten  sein,  wenn  die  Lehrer  ihre 
männliche  Geistes-  und  Gemütsart  ebenso  deutlich  ausprägen  wie  die 
Lehrerinnen  die  ihre.  Der  Lehrer  muß  sich  überzeugt  halten,  daß  in 
dem  Geist  der  Frau  eine  Geistesart  neben  der  seinen  wirkt,  die  ebenso 
erfreulich  ist  als  die  seine,  wenn  sie  dem  gattungsmäßigen  Ideal  nach- 
gebildet ist.  Die  Lehrerinnen  aber  müssen  sich  davon  überzeugen,  daß 
ihnen  ein  Monopol  auf  die  Erziehung  des  Mädchens  nicht  zusteht,  weil 
der  Mann  eine  lebendige  Kenntnis  des  Familienlebens  und  des  im  Bann- 
kreis des  Familienlebens  sich  abspielenden  Seelenlebens  der  Kinder  be- 
sitzt und  durch  sein  Familienleben  auch  in  eine  besonders  innige  Beziehung 
zu  vielen  Seiten  des  öffentlichen  Lebens  tritt. 

Der  Staat  und  12.  Der  Staat  und  die  höhere  Mädchenschule.     Die  Zeit  fordert 

die  h.  Mädchen-    .  ^~,  .  -,^ 

schule.  eine  Schule,  die  das  Ziel  hat,  einer  reichen,  kräftigen,  gesunden  Ent- 
wicklung des  Personenlebens  der  deutschen  Frau  die  Unterlage  einer 
höheren  Allgemeinbildung  zu  geben;  eine  Schule,  die  in  der  weiblichen 
Jugend  die  Kraft  und  den  Willen  zu  einer  Lebensarbeit  erweckt;  eine 
Schule,   die  an  ihrem  Teil   zur  Erziehung  der  einstigen  Erzieherinnen  der 


III.  Die  Gegenwart.    1 1.  Das  Lehrerkollegium  il.h.Mädchensch.  12.  Der  Staat  u  d.h.Madchcnsch.     241 

deut.schen  Jugend    mitwirkt;    eine  Schule,    die   die  Töchter  der  mittleren 
und   höheren  Stände  befähigt,   sich   in   einem  freigewählten  Berufe  selbst 
zu  erhalten  und  dem  würdelosen  Warten   auf  einen  Lebensinhalt   zu   ent- 
gehen;  eine  Schule,   die   die  Vorbereitung  auch   für  die  höheren  Lebens- 
berufe zu  leisten  vermag;  eine  Schule,  die  auch  der  inneren  Vorbereitung 
für  alle   soziale   Hilfsarbeit  dienen  kann;   in  Summa  eine  Schule,   die   die 
große  Fülle   der   in  unserer  Zeit  nach  Betätigung  drängenden  weiblichen 
Energie   in  Pflege   und  Zucht   nimmt,  so  die  Kulturkraft  der  Frau  erhöht 
und   die  gesamte  Kulturentwicklung  durch  neue   und    eigenartige   Kräfte 
bereichert.  —  Der  Staat  als  Träger  der  Gesamtkultur  hat  nun  allerdings 
das  Interesse,  Schulgestaltungen  zu  verhindern,  in  denen  grundwesentliche 
Kulturgüter,  wie   etwa  die   echten  Tugenden    des  deutschen  Weibes,  ge- 
fährdet würden.    Er  wird  namentlich  gegen  solche  Schulgestaltungen  sein 
Veto   einlegen,    die  das   deutsche  Familienleben,    etwa  die  physische  Ge- 
sundheit der  zukünftigen  Mütter,  schädigen  müßten.    Vor  allem  aber  wird 
er  die  positive,   schöpferische  Aufgabe  haben,  die  Schulform   zu  ge- 
winnen, in  der  er  die  Kräfte  des  weiblichen  Geschlechts  emporbilden  und 
für  seine  Kulturzwecke  dienstbar  machen  kann.     Das  ist   zurzeit  eine  der 
vornehmsten    Aufgaben    staatlicher  Kulturpflege.     Diese   Aufgabe  ist    um 
so   ernster,   als   die  bürgerliche  Gesellschaft  offenbar  schwersten  Daseins- 
kämpfen   entgegengeht,    bei    denen    sie    der  Frauen    als    Mitkämpferinnen 
nicht  entbehren  kann.  —  Eine  Schule,  wie  sie  die  Zeit  fordert,  trägt  den 
ausgesprochenen  Charakter  der  höheren  Schule.    Der  höheren  Mädchen- 
schule diesen  Charakter  nach  ihrer  inneren  Organisation  und  ihrer  äußeren 
Stellung  zu  geben,   wird   daher  da,  wo  es  noch  nicht  geschehen  ist,   die 
Pflicht  des  Staates  sein.     Erforderlich  dazu  ist  eine  klare  Begriff'sbestim- 
mung  des  Wesens  der  höheren  Mädchenschule,  mittels  deren  sie  sich  un- 
zweideutig von  anderen  Schulen  unterscheidet,  eine  Lehrordnung,  die,  ohne 
originale  Gestaltung  zu  verhindern,  doch  die  Grundforderungen  einer  höheren 
Schule  festlegt,  eine  Formierung  des  Lehrerkollegiums,  bei  der  die  Schule 
ihren  Charakter  als  wissenschaftliche  ausprägen  kann,  eine  Besoldung,  bei 
der   die  Schule   den  Wettbewerb    anderer  Schulen   um  die   Lehrkräfte  zu 
ertragen  vermag,  eine  verwaltungsrechtliche  Stellung,  die  sie  in  das  System 
der  höheren  Schulen  als  ebenbürtige  Anstalt  eingliedert.  Das  Wertvollste  an 
der  staatlichen  Kulturpflege  aber  ist  das  lebendige  Interesse  der  staatlichen 
Organe  an  der  Schule,  das  aus  der  Würdigung  ihres  Kulturwerts  entspringt. 
An  uns,   den  Lehrern  und  Lehrerinnen   der  höheren   Mädchenschule, 
aber  ist  es,    durch  immer  erneute   Vertiefung  in   die   schon   verwendeten 
oder    zur    Verwendung    drängenden    Unterrichtswerte,    in    die    Kulturlage 
unserer  Zeit,    vor    allem    aber   in    die    weibliche   Natur   aus    der   höheren 
Mädchenschule  je  länger,  je  mehr  eine  Schulgestalt  herauszuarbeiten,  die 
in  klarer  Anpassung  an  die  spezifische  Kulturaufgabe  der  Frau  in  unserer 
großen  und  schweren  Zeit  eine  originale  Schulform  ist. 


Dit  Kultur  der  Geoskwari.    Li.  i6 


Literatur. 

Zur  Geschichte  des  höheren  Mädchenschulwesens:  O.  SoMMER,  Die  Entwicklung  des 
höheren  Mädchenschulwesens  in  Deutschland  (Wychgrams  Handbuch).  J.  Wychgram,  Ge. 
schichte  der  höheren  Mädchenschule  (Schmid,  Geschichte  der  Erziehung  5,  II).  G.  Bäumer, 
Geschichte  und  Stand  der  Frauenbildung  in  Deutschland  (Lange  und  Bäumer,  Handbuch 
der  Frauenbewegung).  G.  Krusche,  Programme  der  Höheren  Mädchenschule  in  Leipzig 
1887  fg.  (Literatur  über  weibliche  Erziehung  und  Bildung  in  Deutschland). 

Zur  Didaktik  der  höheren  Mädchenschule :  Handbuch  des  Höheren  Mädchenschul- 
wesens, herausgegeben  von  Prof.  Dr.  J.  Wychgram. 


DAS  FACH-  UND  FORTBILDUNGSSCHULWESEN. 

Von 
Georg  Kerschensteiner. 


Für  die  Kultur  eines  Volkes  ist  die  stets  kleine  Zahl  seiner  wirk-  Maß  für  die 
lieh  Gebildeten  und  die  Größe  ihrer  Geisteswerke  kein  untrügliches  Maß.  stetes. 
Sie  ist  es  ebensowenig,  wie  etwa  die  Zahl  und  Größe  der  Palmen  in  den 
Oasen  ein  Maß  wäre  für  die  Fruchtbarkeit  der  großen  libyschen  Wüste.  Das 
gilt  in  noch  viel  höherem  Grade  für  die  Wertschätzung  der  Kultur  eines 
modernen  Staates  als  der  eines  antiken,  in  welchem  der  größte  Teil  der 
Bevölkerung  in  Sklavenfesseln  lag.  In  unseren  heutigen  Kulturstaaten 
hat  jeder  Einzelne  nicht  nur  seinen  bestimmten  Platz,  seinen  freigewählten, 
persönlichen  Beruf,  sondern  auch  seine  Pflichten  und  Rechte  als  Bürger 
des  Staates,  dem  er  angehört.  Will  man  daher  die  Kultur  dieses  Staates 
bemessen,  so  muß  man  die  Frage  beantworten,  wie  weit  jeder  seiner  Bürger 
imstande  ist,  nicht  bloß  die  mehr  oder  weniger  egoistische  Aufgabe  seines 
Berufs,  auf  den  ihn  Veranlagung,  Wille  und  soziale  Schichtung  gestellt 
haben,  zu  erfüllen,  sondern  auch  die  Aufgaben  des  Staats  Verbandes,  dem 
er  angehört,  im  großen  und  ganzen  wenigstens  zu  erfassen  und  der  ge- 
wonnenen Einsicht  gemäß  zu  handeln. 

Zur  Blütezeit  der  Städte  am  Ausgang  des  Mittelalters  gab  es  in  Die  zunfto  als 
Deutschland  vereinzelte  Stadtstaaten,  deren  Kultur,  nach  diesem  Maße  "'"""^er. 
gemessen,  eine  beträchtliche  Höhe  erreichte.  Jeder  einzelne  Bürger  wuchs 
im  engen  und  strengen  Verband  seiner  Zunft  zunächst  in  seine  persön- 
liche, in  seine  Berufsaufgabe  hinein  und  erreichte  unter  dieser  Zucht  die 
Höhe,  die  seiner  Begabung  zugänglich  war.  Solange  dann  die  Zünfte  ein 
notwendiges  Glied  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Organisation  der 
Städte  waren,  lernte  der  Einzelne  allmählich  auch  die  Aufgaben  seines 
Gemeinwesens  erkennen  und  einsehen,  daß  er  seinen  eigenen  Interessen 
nützte,  wenn  er  im  Interesse  des  Staates  handelte.  Das  dauerte  freilich 
nicht  lange.  Die  Wirtschaftsformen  erweiterten  sich  mehr  und  mehr,  der 
Zunftgeist  aber  wurde  enger  und  enger;  im  17.  und  1 8.  Jahrhundert  waren 
die  Zünfte  nicht  einmal  mehr  imstande,  ihre  egoistischen  Berufsaufgaben 
zu  erfüllen,  geschweige  denn,  daß  in  ihrem  engen  Gesichtskreis  ein  Ver- 

i6» 


2AA  Georg  KrrSCHENSTKINKR  :   Das   F:ich-   und   Körtbildunf,'sschulwescn. 

ständnis    für    die    Aufgaben    der    Allgemeinheit    hätte    auftauchen    können. 
Ihre  aktive  und  passive  Erziehungsfähigkeit  war  erloschen. 

Aber  an  Stelle  dieser  absterbenden  mächtigen  Erziehungskraft  war 
keine  andere  g-etreten.  Nur  die  alten  Standessitten  und  die  Familienzucht 
wirkten  noch,  die  öffentliche  Erziehung  aber  hatte  in  Deutschland  so 
ziemlich  aufgehört.  Die  Elementar-,  Trivial-  und  lateinischen  Schulen,  die 
nach  der  Reformation  überall  in  den  Städten  sich  fanden,  verfolgten 
andere  Ziele  als  berufliche  oder  staatsbürgerliche  Ausbildung.  Das  große 
und  weite  Land  blieb  in  der  Hauptsache  unwissend  und  unerzogen  in 
fast  allen  europäischen  Staaten,  ausgenommen  vielleicht  in  Frankreich,  wo 
schon  im  i6.  und  17.  Jahrhundert  infolge  der  Tätigkeit  der  Kirche  in  den 
meisten   Departements    kaum    eine   Kommune   ohne   Elementarschule   war. 

Erweiterung  I.   Die   erste  Periode   beruflicher  Erziehung  bis   1851.     Die 

Elementarschul-  Errichtung  der  Sonntags-  und  Wiederholungsschulen,  welche  Friedrich 
18.  Jahrhundert,  der  Große  in  seinem  General -Land -Schul -Reglement  vom  12.  August 
1763  anordnete,  damit  „die  Meister  ihre  Lehrling-e,  sofern  sie  nicht  die 
nötigen  Kenntnisse  in  Lesen,  Schreiben  und  Religion  besaßen,  wöchentlich 
vier  Stunden  in  die  Schule  schickten",  bot,  wie  man  aus  dieser  Bestim- 
mung sieht,  nicht  etwa  eine  Fortbildung  über  die  Elementarschule  hinaus, 
sondern  einen  kümmerlichen  Ersatz  für  die  mangelnde  Elementarschul- 
bildung. Ebenso  kann  den  in  Württemberg  durch  die  Synodalverordnung" 
von  1739  festgelegten  Sonntagsschulen  und  dem  in  Bayern  durch  die  Ver- 
ordnung Max  Josefs  III.  von  1777  verlangten  wöchentlich  einmaligen 
Schulbesuch  der  Lehrlinge  keine  andere  Bedeutung  zugemessen  werden, 
als  daß  sie  ein  Zeichen  der  aufkeimenden  Einsicht  waren,  daß  irgend 
etwas  zur  Bildung  des  Volkes,  auch  über  die  Volksschule  hinaus,  ge- 
schehen müsse.  Den  erwähnten  Verordnungen  und  Erlassen  fehlte  über- 
dies ein  gesetzlicher  Rückhalt.  Sie  enthielten  nur  Verpflichtungen  zum 
Besuche  der  Schulen  und  gaben  kein  Mittel,  ihn  zu  erzwingen. 
Die  ersten  Den   Mang'el    an   staatsbürgerlicher  Erziehung   fühlte    man    in   diesen 

"VörsucliG  zur 

Hebung  der    Zeiten    begreiflicherweise    nicht    sehr.      Auch    die    großen    Erzieher    des 

t&cliniscliGii 

Bildung  im  18.  Jahi-hunderts,  Rousseau,  Rochow,  Pestalozzi,  hatten  in  der  Hauptsache 
nur  die  allgemeine  Menschenbildung  im  Aug^e,  und  die  vielen  Kirchen- 
schulen nur  den  gläubigen  Christen.  Dag'egen  machte  sich  der  Mangel 
an  technischer  und  wirtschaftlicher  Bildung  immer  fühlbarer.  Um  die 
teilweise  kostbaren  Bauten  der  Residenzen  und  deren  innere  Einrichtung 
auszuführen,  mußte  man  ausländische  Meister  berufen.  Um  die  einträg- 
lichen Industrieen,  die  in  England  und  Frankreich  sich  bereits  entwickelt 
hatten,  auch  im  eigenen  Lande  zu  besitzen,  brauchte  man  nicht  bloß  aus- 
ländische Meister,  sondern  auch  inländische  Arbeiter.  Neben  der  Porzellan- 
manufaktur waren  es  insbesondere  die  Textilmanufakturen,  von  denen 
man  beträchtliche  Erträgnisse  für  den  Staatsschatz  erhoffen  konnte. 
Österreich   machte    den   Anfang.     Es   sendet  in   den  sechzig^er  Jahren  des 


18.  Jahrhundert. 


I.    Die  erste  Periode  beruflicher  Erziehung  bis  185 1.  245 

18.  Jahrhunderts  geschickte  Meister  in  Baumwolle-  und  Seidenfabrikation 
in  die  Provinz  und  erfindet  so  gleichsam  den  heute  so  stark  entwickelten 
Wanderunterricht  Um  dieselbe  Zeit  erläßt  es  sogar  ein  Spinnschulpatent 
für  die  sämtlichen  österreichischen  Provinzen,  nachdem  es  im  Jahre  1758 
bereits  eine  Manufakturzeichenschule  in  Wien  und  1767  eine  Schule  für 
Spitzenklöppelei  zu  Prag  errichtet  hatte.  „Alle  landesfürstlichen  Städte 
und  Märkte  sollten  den  Winter  über  Spinnschulen  unterhalten,  deren  Be- 
such den  Kindern  der  Professionisten  vom  7.  bis  15.  Lebensjahr  zur  Pflicht 
gemacht  wird."  Zur  Heranbildung  eines  intelligenten  Kaufmannsstandes 
wird  auf  Anregung  des  Rektors  Georg  Wolf  1770  in  Wien  eine  Real- 
handelsakademie errichtet. 

Auch  in  andern  Ländern  finden  wir  teils  um  diese  Zeit,  teils  einige 
Jahrzehnte  später  staatliche  Hinweise  auf  die  Notwendigkeit  von  Einrich- 
tungen für  technische  Ausbildung,  so  in  dem  kurpfalz -bayrischen  Aller- 
höchsten Erlaß  des  Generalschuldirektoriums  von  1803,  der  da  fordert,  daß 
überall  Arbeitsschulen  für  Knaben  und  Mädchen  angelegt  und  mit  den 
Lehrschulen  in  Verbindung  gebracht  werden  sollen.  Doch  waren  auch 
sie  weniger  im  Sinne  gewerblicher  als  allgemein  menschlicher  Erziehung 
gedacht;  denn:  „^'on  diesen  Schulen  sollen  auch  jene  nicht  freigesprochen 
werden,  von  denen  es  vorauszusehen  ist,  daß  sie  einstens  nicht  notwendig 
haben,  zu  arbeiten,  um  sich  zu  ernähren;  abgesehen  von  dem  Wechsel  des 
Glückes,  wodurch  viele  ererbten  Reichtum  verlieren,  so  ist  es  immer  gut, 
daß  jeder  lerne  den  Vorzug  zu  schätzen,  sich  selbst  den  notwendigen 
Unterhalt  erwerben  zu  können  und  jenen  gehörig  zu  achten,  der  durch 
Aufmerksamkeit  und  Kunstfleiß  sich  einen  Wohlstand  zu  verschaffen  ver- 
steht." Im  gleichen  Jahr  fordert  ein  Edikt  in  Baden  „über  die  gemeinen  und 
wissenschaftlichen  Lehranstalten  für  größere  Städte,  die  hauptsächlich  mit 
Gewerbe  und  Kunstfleiß  sich  beschäftigen"  die  Ausdehnung  des  Unterrichtes 
in  den  unteren  Schulen  auf  Lehrgegenstände  mit  Technologie  und  Zeichnen. 

Doch    solche  Ansätze    von    staatlicher  Anregung    oder   gar  Fürsorge    Ursache  des 

.  .  Scheiterns 

für  berufliche  Erziehung  blieben  m  den  Ländern  des  alten  Deutschen  dieserVersachc. 
Reiches  vereinzelt,  und  die  Zeiten  der  französischen  Revolution  und  der 
darauf  folgenden  Kriegswirren  waren  nicht  geeignet,  ein  System  in  diese 
Fürsorge  zu  bringen  oder  sie  gar  mit  Nachdruck  zu  verfolgen.  Wo  die 
neuen  Erziehungseinrichtungen  einigen  Erfolg  vielleicht  hatten,  da  drückte 
die  damalige  Wirtschaftspolitik  der  Fürsten,  die  Subventionierung  der  von 
allen  Zunftschranken  befreiten  Manufakturen,  ihre  Förderung  durch  das 
Prämiensystem  und  den  Schutzzoll  wieder  umgekehrt  auf  das  freie  Ge- 
werbe und  damit  auf  die  gewerbliche  Erziehung  innerhalb  der  Zünfte. 
In  Österreich  gingen  infolgedessen  sogar  die  meisten  Spinnschulen  wieder 
ein,  in  Bayern  kamen  die  Arbeitsschulen  und  in  Baden  die  gewerbliche 
Erweiterung  des  Unterrichts  überhaupt  nicht  zur  Ausführung.  Auch  fehlte 
ein  tieferes  Interesse  an  der  eigentlichen  gewerblichen  Erziehung.  Fried- 
rich der  Große   und  Friedrich  Wilhelm  IL  in  Preußen,    sowie  Josef  11.  in 


246  Georg  Kerschenstkiner:  Das  Fach-  und  Foitbildungsschulwesen. 

Österreich  gaben  alljährlich  bedeutende  Summen  zur  Verbesserung  von 
Fabriken  aus;  aber  in  bezug  auf  die  gewerbliche  Erziehung  im  engeren 
Sinne  blieb  es  im  allgemeinen  bei  den  platonischen  Erlassen. 

Die  Initiative  Je    Weniger   aber    der    Staat    eingriff,    desto    stärker    wurde    die    Ini- 

Privater.  tiative  einzelner  Personen  und  privater  philanthropischer  oder  wirtschaft- 
licher Verbände  wachgerufen.  Denn  die  Not  ward  größer  und  größer. 
Gegen  Ende  des  18.  und  am  Anfang  des  ig.  Jahrhunderts  entstehen  in- 
folge der  hingebenden  Tätigkeit  Einzelner  in  vielen  deutschen  Städten 
Schulen  für  berufliche  Erziehung.  In  Hamburg  wird  bereits  1677  von 
der  Gesellschaft  zur  Förderung  der  Kunst-  und  nützlichen  Gewerbe  eine 
gewerbliche  Unterrichtsanstalt  eingerichtet;  in  Berlin  bildet  sich  ein  Verein 
zur  Errichtung  sonntäglicher  Fortbildungsschulen  für  Handwerkslehrlinge 
und  gründet  1797  die  erste  Berliner  Fortbildungsschule.  In  Böhmen 
entstehen  durch  die  unermüdliche  Tätigkeit  des  Pfarrers  und  Lehrers 
und  nachmaligen  Schulrats  und  Propstes  Ferdinand  Kindermann  bis  zum 
Jahre  1790  nicht  weniger  als  2^2  Industrieschulen,  nämlich  Volksschulen 
mit  geregelter  Unterweisung  in  den  Anfangsgründen  des  Handwerkes. 
In  München  errichtet  1792  Professor  Mitterer  eine  Zeichenschule,  1793 
Kefer  eine  Handwerkerfeiertagsschule,  1824  der  nachmalig  so  berühmte 
Schwanthaler  eine  Schule  für  Bossierunterricht.  1806  richtete  Professor 
Oberthür  in  Würzburg  und  18 ri  Fürst-Primas  von  Dalberg-  in  Aschaffen- 
burg eine  Zeichenschule  ein;  in  Wien  legt  )8i2  die  Gesellschaft  adliger 
Frauen  zur  Beförderung  des  Guten  und  Nützlichen  den  Grund  zu  einer 
„Kunst-  und  Industrieanstalt  für  weibliche  Arbeiten". 

Die  Beispiele  ließen  sich  beliebig  vermehren.  Noch  bis  in  die  sechziger 
Jahre  des  19.  Jahrhunderts  hinein  verdanken  in  den  meisten  deutschen 
Ländern  die  Anstalten  zur  Hebung  der  niederen  und  mittleren  gewerb- 
lichen Erziehung  ihre  Entstehung  in  der  Hauptsache  der  privaten  Ini- 
tiative. Nur  in  Württemberg,  wo  durch  die  Schulbehörde  zu  Anfang 
des  ig.  Jahrhunderts  die  Sonntagsschulen  in  Sonntagsgewerbeschulen  um- 
gewandelt werden,  und  in  Baden,  wo  am  15.  Mai  1835  eine  landesherr- 
liche Verordnung  zur  Errichtung  von  Gewerbeschulen  ergeht,  die  heute 
noch  blühen,  fällt  auf  den  Staat  schon  frühzeitig  ein  wesentlicher  Anteil 
an  der  Gründung'  und  Ausgestaltung  niederer  und  mittlerer  gewerblicher 
Erziehungseinrichtungen. 

Die  Initiative  Dicsc   privatc  Initiative   ging-   anfangs,  wie   schon   aus    den  Beispielen 

der  neuen  beruf-  .  t  7       !_  ••      j 

lichenVerbände. ersichtlich  ist,  im  allgemeinen  keineswegs  von  gewerblichen  Verbanden 
aus.  Durch  das  berühmte  Edikt  vom  2.  Nov.  18 10,  das  dem  Staate 
Preußen  nach  dem  Vorbild  Frankreichs  die  Gewerbefreiheit  brachte  und 
damit  den  Grund  zu  seiner  frühzeitigen  industriellen  und  wirtschaftlichen 
Entwicklung  legte,  sowie  andernteils  durch  die  zahlreichen  „Hofbefrei- 
ungen"  und  „Schutzdekrete",  die  in  der  Theresianischen  und  Josephinischen 
Zeit  auch  in  Österreich  starke  Breschen  in  das  Zunftwesen  legten,  waren 
in   den   zwei  größten  deutschen  Staaten  die   natürlichen  Interessenten   der 


I.    Die  erste  Periode  beruflicher  Erziehung  bis   1851.  247 

gewerblichen  Erziehung  aufgelöst  oder  doch  lahmgelegt.  Es  mußten  sich 
erst  wieder  neue  Verbände  bilden,  die  Gewerbe  vereine  und  Innungen  in 
Deutschland,  die  Zwangsgenossenschaften  in  Österreich,  welche  neben  all- 
gemeinen Gewerbs-  und  Wirtschaftsinteressen  auch  die  Förderung  der 
beruflichen  Bildung  wieder  ins  Auge  fassen  konnten.  Und  sie  bildeten 
sich  auch  unter  der  zunehmenden  Not,  die  mit  der  aufblühenden  Industrie, 
den  wachsenden  Großbetrieben,  dem  mit  dem  Verkehr  gesteigerten  Wett- 
bewerb, und  nicht  zuletzt  durch  das  gänzliche  Daniederliegen  der  Meister- 
lehre über  die  meisten  Gewerbe  hereinbrach.  Wo  sie  sich  aber  bildeten, 
wurde  die  Frage  der  gewerblichen  Erziehung  eine  Verbandsangelegenheit. 
Im  Großherzogtum  Hessen  entsteht  1837  sogar  ein  Landesgewerbeverein, 
der  sofort  zur  Gründung  von  drei  Handwerkerschulen  schreitet  und  dem 
heute  noch  der  Ausbau  des  gewerblichen  Unterrichtswesens  anvertraut  ist. 
Die  Zwangsgenossenschaften  in  Österreich  schritten  alsbald  zur  Einrich- 
tung von  Lehrlings-  und  Gehilfenschulen.  Das  heute  in  Wien  blühende 
niedrige  gewerbliche  Erziehungswesen  verdankt  seine  frühzeitige  Geburt 
hauptsächlich  diesen  aus  der  österreichischen  Gewerbegesetzgebung  von 
1859  hervorgegangenen  Verbänden.  Freilich  führten  die  Schulen  der  frei- 
willigen Verbände,  namentlich  solange  weder  Gemeinden  noch  Staaten 
sie  unterstützten,  ein  meist  armseliges  Dasein,  weil  es  sowohl  am  Gemein- 
samkeitsgefühl der  Meister  als  auch  an  den  nötigen  Mitteln  fehlte. 

Kümmerten  sich  nun   auch  viele    deutsche  Regierungen  in  der  ersten    Fürsorge  der 

Regierungen 

Hälfte    des    i  g.  Jahihunderts    recht   wenig    um    die    Angelegenheiten    der  um  technische 
niederen    gewerblichen    Erziehung,    also    um    die   Ausbildung    der    großen  erstenHäiftedes 

,18.  Jahrhun- 

Massen  der  Arbeiter  und  Gewerbetreibenden,  so  kann  man  doch  nicht  aerts. 
sagen,  daß  sie  völlig  untätig  waren.  Die  polytechnischen  Schulen  (höhere 
Gewerbeschulen),  die  in  diesen  Zeiten  nach  dem  Muster  der  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  in  Paris  eingerichteten  Ecole  polytechnique  überall  ent- 
standen, in  Prag  1806,  in  Wien  1815,  in  Berlin  182 1,  in  Karlsruhe  1825, 
in  München  1827,  in  Dresden  1828,  in  Stuttgart  1829,  in  Hannover  1831, 
und  die  schon  frühzeitig  der  Industrie  die  Stabsoffiziere  ausbildeten, 
wirkten  auch  im  stillen  und  indirekt  zugunsten  der  niederen  und  mittleren 
gewerblichen  Erziehung.  Für  den  Bergbau  entstanden  aus  dem  wirtschaft- 
lichen Interesse  des  Staates  heraus  frühzeitig  Bildungsanstalten.  Beispiels- 
weise wurden  aus  den  bereits  vorhandenen  Privatkursen  für  Bergbau 
bereits  1811  in  Klausthal  und  181 6 — 1818  in  Bochum,  Essen,  Eisleben, 
Saarbrücken,  Siegen  Bergbauschulen  eingerichtet.  Die  Kunstakademieen, 
die  meist  schon  im  18.  Jahrhundert  oder  gar,  wie  die  Berliner,  am  Ende 
des  17.  entstanden  waren,  wurden  teilweise  reformiert,  die  Münchener 
1808,  die  Königsberger  1845  neu  gegründet.  Die  Kunstschule,  die  182 1 
in  Nürnberg  aus  einer  uralten  Zeichenschule  geschaffen  worden  war, 
wurde   1833  in  eine  Kunstgewerbeschule  umgewandelt. 

Für    die    Ausbildung    des    gewerblichen    Mittelstandes    waren 
in    Österreich    und    Bayern    auch    die    Realschulen    bzw.  Gewerbeschulen 


2ji8  Georg  Kerschensteinf.u  :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwcsen. 

von  großer  Bedeutung.  Sie  waren  es  wenigstens  bis  zu  dem  Zeit- 
punkte, wo  sie  unter  Aufnahme  ausg-edehnter  sprachlich  -  historischer 
Bildungsfächer  in  sechsklassige  allgemein  bildende  Schulen  umgewandelt 
wurden,  in  Österreich  Ende  der  sechziger  und  in  Bayern  Mitte  der 
siebziger  Jahre.  Dadurch  wurden  die  Realschulen  im  wesentlichen  Vor- 
schulen für  die  höhere  technische  Bildung;  der  gewerbliche  Mittel- 
stand aber  hatte  für  seine  Ausbildung  die  einzig^e  wertvolle  Schule  in 
Bayern  und  Osterreich  verloren.  Auch  die  Provinzialgewerbeschulen 
Preußens,  die  ihre  erste  Organisation  1828  erhielten  und  ursprünglich 
reine  Fachschulen  für  Bauhandwerker  oder  Werkführer  in  Fabriken  waren, 
ihren  Unterricht  auf  Mathematik,  Naturwissenschaft,  Baukonstruktion  und 
Zeichnen  beschränkten  und,  wie  in  Österreich  und  Bayern  die  Real- 
bzw. Gewerbeschulen,  keine  andere  Vorbildung  als  die  einer  guten  Volks- 
schule verlangten,  wurden  schon  1850  auf  Veranlassung  des  Handels- 
ministers von  der  Heydt  ihres  ursprünglichen  Charakters  entkleidet  und 
in  Vorschulen  des  Gewerbeinstituts  umgewandelt,  das  1827  unter  der  tat- 
kräftigen Leitung  Beuths  aus  dem  technischen  Institut  von  1821  heraus- 
gewachsen war.  Als  1870  zur  Aufnahme  die  Sekunda  eines  Gymnasiums 
oder  einer  Realschule  gefordert  wurde,  waren  auch  diese  Provinzial- 
gewerbeschulen in  den  Hafen  der  alleinseligmachenden,  allg-emeinbilden- 
den  höheren  Lehranstalten  eingelaufen,  und  als  vollends  im  Jahre  1878 
ihre  Ausgestaltung  zu  Oberrealschulen  erfolgte,  hatte  auch  in  Preußen 
der  mittlere  Gewerbestand  seine  einzige  Ausbildungsstätte  verloren.  Nur 
in  Württemberg  und  Baden  erhielten  sich  die  niederen  und  mittleren  ge- 
werblichen Bildungsstätten.  In  Württemberg  ging  die  Umwandlung  der 
alten  Sonntagsschulen  in  Sonntagsgewerbeschulen,  deren  1827  bereits  30 
im  Lande  gezählt  wurden,  in  Baden  die  Entwicklung  der  Gewerbeschulen, 
die  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  Jahrhunderts  auf  etwa  35  angewachsen 
waren,  einstweilen  ihren  stillen  Gang  weiter.  Die  Leistungen  dieser 
Schulen  waren  zwar  recht  bescheiden,  aber  sie  haben  doch  einiges  zur 
Hebung  des  Gewerbes  beigetragen. 

Da  und  dort  entstanden  auch  durch  die  Initiative  oder  doch  durch 
die  Unterstützung  des  Staates  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts einige  Spezialfachschulen.  So  besonders  in  Sachsen,  das  heute 
noch  das  klassische  Land  der  kleingewerblichen  Fachschulen  genannt 
werden  darf,  wo  18 10  die  Klöppelschule  in  Schneeberg,  1830  die  Web- 
schule in  Reichenbach  im  Voigtlande,  1836  die  Strohflechtschule  in  Dip- 
poldiswalde  und  1849  die  Webschule  in  Glauchau  geschaffen  und  Ende 
der  dreißiger  Jahre  staatliche  Baugewerbeschulen  in  Chemnitz,  Dresden, 
Leipzig,  Plauen  und  Zittau  gegründet  wurden.  Im  großen  und  ganzen 
kann  man  aber  sagen,  daß  in  der  ersten  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts  in 
den  deutschen  Bundesstaaten,  in  Österreich,  in  der  Schweiz  eine  tiefere 
Einsicht  für  das,  was  notwendig  war,  fehlte,  und  dementsprechend  auch 
Unternehmungslust,  Tatkraft  und  Planmäßigkeit  mangelten. 


II.    Die  zweite  Periode  bis   1880. 


>49 


II.  Die  zweite  Periode  bis  1880.  Da  kam  ein  Ereignis,  Da»  vorgehen 
welches  recht  geeignet  war,  die  Träumenden  zunächst  wenigstens  auf- 
zurütteln: die  Weltausstellung  in  London  1851  und  der  unbestrittene 
Sieg  des  französischen  Gewerbes.  Die  Augen  richteten  sich  auf  Frank- 
reich, das  in  kunstgewerblichen  Dingen  schon  längst  den  Weltmarkt 
beherrschte.  Dort  hatte  schon  anfangs  des  17.  Jahrhunderts  kein  Ge- 
ringerer als  Descartes  den  Gedanken  gefaßt,  große  Lehrsäle  für  jede 
GewerbegTuppe  zu  errichten,  mit  denselben  Sammlungen  von  Werkzeugen 
zu  verknüpfen,  wie  sie  der  Gewerbegruppe  zu  lehren  nützlich  und  not- 
wendig waren,  und  für  jede  solche  Sammlung  einen  geschickten  Lehrer 
anzustellen,  der  fähig  wäre,  auf  alle  Fragen  der  Kunsthandwerker  zu 
antworten,  und  der  sie  in  den  Stand  zu  setzen  vermöchte,  sich  selbst 
Rechenschaft  zu  geben  über  alle  neuen  Verfahren,  die  sie  alltäglich  ins 
Praktische  zu  übersetzen  berufen  waren.  Diese  Idee  Descartes'  bekam 
freilich  erst  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  eine  greifbare  Gestalt.  Heute 
ist  sie  vollständig  durchgeführt  in  dem  Conservatoire  National  des  Arts 
et  Metiers  zu  Paris.  Was  in  den  deutschen  Ländern  nicht  zu  finden  war 
und  was  auch  im  Deutschen  Reiche  heute  noch  in  vielen  Staaten  fehlt, 
die  planmäßige  Ausbildung  von  Fach-  und  Gewerbelehrern,  das  hatte 
Frankreich  schon  seit  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Das  durch  glück- 
liche innere  Umstände  schon  im  1 8.  Jahrhundert  sich  entwickelnde  gewerb- 
liche Erziehungswesen  hatte  gegen  Ende  desselben  zur  Gründung  einer 
Ecole  normale  geführt,  welche  bestimmt  war,  Lehrkräfte  für  das  gewerb- 
liche Schulwesen  auszubilden.  Tausende  von  Schülern  waren  von  den 
verschiedenen  Departements  dahingeschickt,  und  unter  ihren  Händen 
bildete  sich  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  der  kunstgewerb- 
liche Geschmack  und  die  künstlerische  Hand.  Als  in  den  sechziger 
und  siebziger  Jahren  Deutschland  und  Österreich  sich  anschickten,  ihr 
gewerbliches  und  technisches  Bildungswesen  energischer  in  die  Hand  zu 
nehmen,  besaß  Frankreich  gTit  organisierte  Fachschulen  für  die  verschieden- 
artigsten gewerblichen  Zweige.  Sie  waren  nicht  bloß  auf  die  Opfer- 
willigkeit von  Einzelpersonen  und  privaten  Verbänden  angewiesen,  auch 
der  Staat  gab  beträchtliche  Summen  aus.  Vor  allem  erfreute  sich  der 
gewerbliche  Zeichenunterricht  der  staatlichen  Fürsorge,  und  so  kam  F"rank- 
reich  zum  friedlichen  Siege  von   1851. 

Aber  die  tatkräftigen  Folgeningen  zog  zunächst  nur  England  daraus.  Das  Beispiel 
wenn  man  von  Württemberg  absieht,  wo  unterdessen  Steinbeis,  angeregt 
durch  das  Studium  der  zweifellos  durch  die  französische  Nachbarschaft 
mit  in  die  Entwicklung  gezogenen  gewerblichen  Erziehungseinrichtungen 
Belgiens,  kräftig  zur  Initiative  überging.  Der  Boden  war  vielleicht  auch 
in  England  durch  Männer  wie  Ruskin  und  Morris  besser  vorgepflügt. 
Schon  im  Jahre  1855  wird  die  Sorge  um  das  gewerbliche  Bildungswesen, 
das  bis  dahin  dem  Board  of  Trade,  dem  Handelsamte,  obgelegen  hatte, 
der  obersten  Unterrichtsbehörde  übergeben;    es  wird  ganz  im  Gegensatze 


2=0  Georg  Kerschknstkiner:  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

ZU  dem  übrigen  Bildungswesen,  das  nach  wie  vor  zum  free-trade  gehörte 
und  den  Grafschaften,  Gemeinden,  Kirchen  und  Sekten  anheimgegeben 
war,  zentralisiert  und  unter  die  Verwaltung"  einer  besonderen  Behörde 
gestellt,  unter  das  Science-  and  Art-Department.  Alsbald  breitet  sich  von 
der  Kunstgewerbeschule  des  South-Kensington-Museums  über  das  ganze 
Land  ein  System  von  gewerblichen  Zeichenschulen  aus,  für  welche  das  Parla- 
ment, wie  in  Frankreich  der  Staat,  alljährlich  nicht  unbeträchtliche  Summen 
bewilligt.  Um  die  Zeit,  wo  in  Deutschland  die  Regierungen  um  gewerb- 
liche und  technische  Erziehungsfragen  sich  lebhafter  und  andauernder  zu 
interessieren  anfangen,  etwa  1873,  besaß  nach  dem  berühmten  „Expose" 
über  die  Organisation  des  gewerblichen  Unterrichtswesens,  das  Dum- 
reicher  der  österreichischen  Regierung  1875  vorlegte,  England  und  Schott- 
land 173  große  gewerbliche  Zeichenschulen  (Schools  of  Art)  mit  22000 
Schülern,  460  Fortbildungsschulen  (Art  Night  Classes)  für  gewerbliches 
Zeichnen  und  2058  Elementary  Schools,  in  denen  Zeichnen  obligatorisches 
Unterrichtsfach  war.  Dazu  kamen  in  England,  Schottland  und  Irland  1396 
gewerbliche  Schulen  technischer  Bildung  mit  4092  Klassen  und  einigen 
Hundert  chemischen  Laboratorien  zusammen  mit  49605  Schülern,  die  sich 
für  Baugewerbe,  Maschinen-  und  chemische  Industrieen  ausbilden  wollten. 
Es  ist  begreiflich,  daß  sich  in  wenigen  Jahrzehnten  die  Folgen  dieser  sorg- 
fältigen Pflege  des  gewerblichen  Unterrichtes  bemerkbar  machten.  Eng- 
land machte  sich  frei  von  Frankreich  in  den  kunstgewerblichen  Erzeug- 
nissen, es  eroberte  selbst  einen  ausgiebigen  Teil  des  Weltmarktes,  nicht 
bloß  durch  seine  unerhört  wachsende  Industrie,  sondern  auch  durch  die 
Kunst  und  das  Kunstgewerbe. 
Das  Vorgehen  Wie  England  an  Frankreich  gelernt  hatte,  so  lernte  Österreich  an  dem 

Beispiel  beider  Länder  zusammen.  In  Wien  griff,  ganz  wie  in  London  das 
Science-  and  Art-Department,  das  1861  neugeschaffene  Handelsministerium 
die  gewerbliche  Erziehungsfrage  ganz  energisch  an.  Überwog"  auf  der 
Pariser  Weltausstellung  1867  und  selbst  auf  der  Wiener  1873  noch  der 
französische  Einfluß,  so  zeigte  sich  schon  1876  auf  der  Kunst-  und  Kunst- 
gewerbeausstellung zu  München  zum  Teil  unter  dem  Einfluß  der  neuen 
Wiener  Kunstgewerbeschule  ein  derartiges  Vordringen  des  österreichischen 
Kunstgewerbes,  daß  (nach  dem  im  offiziellen  Memoir  des  österreichischen 
Unterrichtsministeriums  enthaltenen  Berichte  des  Professors  Estlander  in 
Helsingfors)  Österreich  unbestritten  die  Führerschaft  in  der  deutschen 
Kunstindustrie  errungen  hatte.  Zwanzig  Jahre  nach  der  Gründung  des 
österreichischen  Handelsministeriums,  im  Jahre  1881  also,  waren  von  ihm 
bereits  76  Fachschulen  geschaffen  worden,  darunter  25  für  Holz-  und 
Steinbearbeitung,  26  für  Weberei  und  Wirkerei,  6  für  Glas-  und  keramische 
Industrie,  3  für  Eisen-  und  Stahlbearbeitung.  Bedenkt  man,  daß  gleich- 
zeitig auch  das  Unterrichtsministerium  in  Österreich  eine  rührige  Tätig'keit 
entfaltete,  so  begreift  man  den  elegischen  Ton,  den  die  Denkschrift  über 
die    Entwicklung    der    gewerblichen    Fach-     und     Fortbildungsschulen     in 


11.    Die  zweite  Periode  bis   1880. 


251 


Preußen  anschlägt,  kurz  nachdem  das  gewerbliche  Unterrichtswesen  vom 
Handelsministerium  auf  das  Kultusministerium  übergegangen  war.  Man 
glaubte  unmöglich  die  Mittel  zu  gleicher  Energieentfaltung  aufbringen  zu 
können.  Bald  darauf  freilich  ging  auch  Preußen  mit  Siebenmeilenstiefeln 
vorwärts. 

So  sehen  wir  von  etwa  1850 — 1880  einen  Keil  den  anderen  treiben. 
Aber  das  gMte  Beispiel  allein  hätte  vielleicht  nicht  entfernt  so  ansteckend 
von  Staat  zu  Staat  gewirkt,  wäre  nicht  gleichzeitig  eine  andere,  viel 
mächtigere,  treibende  Kraft  erwacht,  das  unabweisbare  Bedürfnis. 

Dies  Bedürfnis  war  in  den  deutschen  Staaten  zunächst  entfesselt  Die  treibend« 
durch  die  von  tiefer  Einsicht  getragene  Wirtschaftspolitik  Preußens,  die  Bedürfnisses. 
Karl  von  Stein  und  Friedrich  List  in  die  Wege  geleitet  hatten.  Man  ver- 
gegenwärtige sich,  daß  es  zu  Beginn  des  ig.  Jahrhunderts  allein  in  den 
alten  Provinzen  Preußens  67  verschiedene  Tarife  für  fast  3000  Waren- 
klassen gab  und  daß  diese  Tarife  nach  71  amtlich  anerkannten  Geldsorten 
zu  berechnen  waren,  daß  noch  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  nicht  etwa 
bloß  die  zahlreichen  Normal-  und  Duodezstaaten  Deutschlands  durch  Zoll- 
schranken voneinander  getrennt  waren,  sondern  auch  innerhalb  der  ein- 
zelnen Staaten  viele  Städte  von  dem  sie  umgebenden  Lande,  daß  am  Aus- 
gange des  18.  Jahrhunderts  die  meisten  Privilegien  der  Zünfte  noch  zu 
Recht  bestanden  und  nirgends  ein  freies  Spiel  der  Kräfte  sich  entfalten 
konnte.  So  war  allenthalben  der  unliebsame  Konkurrent  ausg-eschlossen 
und  damit  die  Entwicklung  der  gewerblichen  Technik  und  des  anregenden 
Handels  auf  das  empfindlichste  gehemmt.  Wozu  wären  hier  gewerbliche 
Bildungsstätten  nötig  gewesen!  Da  brachte  nach  der  Katastrophe  von 
1806  das  Edikt  vom  2.  Nov.  1810  den  preußischen  Untertanen  die  Ge- 
werbefreiheit; da  brachte  der  i.  Jan.  1819  für  Preußen  das  neue  Zoll- 
gesetz und  damit  diesem  Lande  zuerst  von  allen  Staaten  Europas  einen 
gemäßigten  Freihandel;  da  endlich  begann  durch  die  äußerst  kluge  Politik 
Preußens,  die  politische  Einheit  durch  eine  wirtschaftliche  vorzubereiten, 
am  I.  Januar  1834  die  Wirksamkeit  des  allgemeinen  deutschen  Zollvereins. 
Ein  Jahr  vorher  hatte  Borsig  in  Berlin  die  erste  Lokomotive  gebaut,  und 
ein  Jahr  darauf  wurde  die  erste  Eisenbahnlinie  Nürnberg — Fürth  eröffnet. 
Nun  waren  der  wirtschaftlichen  Freiheit  nicht  bloß  die  Tore  und  Schlag- 
bäume geöffnet,  sondern  ihr  auch  die  Flügel  gegeben.  Wenige  Jahre 
später  schon  machte  sich  der  wirtschaftliche  Aufschwung  bemerkbar,  und 
nahezu  ohne  Rückschlag  entwickelte  sich  zuerst  langsam,  dann  von  den 
sechziger  Jahren  ab  immer  schneller  und  großartiger  die  deutsche  Industrie 
und  der  deutsche  Handel,  gehoben  von  der  Freiheit  und  befruchtet  von 
der  Wissenschaft.  Da  galt's  nun  freilich  nicht  nur  schlechtweg,  sondern 
schnell  zu  lernen;  da  gab  es  nicht  nur  technische  Offiziere  auszubilden, 
damit  sie  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft  in  die  Praxis  umsetzten,  sondern 
auch  Unteroffiziere  und  Mannschaften,  damit  sie  fähig  wurden,  die  neuen 
Verfahren  und  Maschinen  mit  Verständnis  zu  handhaben.    Da  gab  es  ganze 


'■52 


Georg  KkrschenSTKINEK  :  Das  Fach-  und   FortbildunKsschulwescn. 


Landstriche  mit  technischen  Schulen  zu  versehen,  damit  die  im  Rückstand 
gebliebene  Hausindustrie  nicht  gänzlich  vernichtet  und  Tausende  dem 
Hungertode  preisgegeben  wurden.  Da  mußte  der  ausländische  Wett- 
bewerb geschlagen  werden,  nicht  bloß  in  Fabrikartikeln,  sondern  auch  in 
kunstgewerblichen.  Das  Handwerk  aber,  das  sich  nicht  nur  der  Gewerbe- 
freiheit nicht  anzupassen  wußte,  sondern  sich  auch  nicht  anpassen  wollte, 
wurde  durch  das  siegreiche  Vordringen  des  Fabrikbetriebs,  durch  das  An- 
wachsen des  Kapitals,  durch  die  sich  steigernde  Arbeitsteilung,  durch  die 
Freizügigkeit,  durch  die  Lockerung  des  Lehrlingsverhältnisses  und  nicht 
zuletzt  durch  Mutlosigkeit  und  Unverstand  immer  leistungsunfähiger,  nicht 
bloß  in  der  Produktion,  sondern  vor  allem  auch  in  der  Ausbildung  des 
gewerblichen  Nachwuchses.  So  war  also  auch  in  Deutschland  mit  dem 
Beginn  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  das  Bedürfnis  nach  tech- 
nischen Schulen  brennend  geworden.  Allein  noch  fehlte  es  an  Staats- 
mitteln, an  staatlichen  Zentralbehörden,  die  tatkräftig  hätten  vorgehen 
können,  an  bedeutenden  Männern,  die  mit  der  Einsicht  auch  die  Tatkraft 
und  vor  allem  auch  die  nötige  Macht  hätten  entfalten  können. 

Die  erste  Ent-  HI.    Die   Entwicklung    der   gewerblichen   Fortbildungsschule. 

Wicklung  des    ,,  ,  ,--,  . 

gewerblichen  Zunächst    machte    das    r  Ortbildungsschulwesen    für    die    niedere    gewerb- 

Fortbildungs- 

Schulwesens  in  hche  Erziehuug  einen  Schritt  vorwärts.     1848   war  in  Württemberg    eme 

T-l  ..113  O  '  O 

Deutschland. 

Zentralstelle  für  Gewerbe  und  Handel  gegründet  worden,  die  mit  dem 
bereits  vorhandenen  Kgl.  Studienrat  im  Jahre  1853  zu  einer  kommissio- 
nellen  Beratung  zusammentrat  zur  Neugestaltung  der  Fortbildungs-  und 
Handwerkerschulen.  Noch  im  gleichen  Jahre  wurde  ein  ausführliches 
Programm  über  die  Ausgestaltung  der  Sonntagsgewerbeschulen  entworfen, 
und  da  die  Zentralstelle  für  Gewerbe  und  Handel  von  Anfang  ihres  Be- 
stehens an  sich  um  Heranbildung"  tüchtiger  Zeichen-  und  Gewerbelehrer 
bemüht  hatte,  so  entwickelten  sich  diese  Schulen  sehr  rasch.  Im  Winter 
1856  konnte  das  kleine  Land  an  45  Orten  solche  Sonntagsgewerbeschulen 
zählen.  Sie  hatten  Werktagabends-  und  Sonntagunterricht  in  Zeichnen, 
Rechnen,  Mathematik,  Mechanik,  Physik,  Chemie,  Buchführung  und  Ge- 
werbeökonomie für  Lehrlinge  wie  für  Gehilfen.  1864  folgte  Bayern  mit 
seiner  Verordnung  zur  Errichtung  gewerblicher  Fortbildungsschulen,  die 
im  wesentlichen  dem  württembergischen  Muster  angepaßt  waren.  1873 
schloß  sich  Sachsen,  1874  Baden  und  Sachsen-Koburg'-Gotha,  1875  Sachsen- 
Meiningen-Hildburghausen  mit  einer  staatlichen  Organisation  des  gewerb- 
lichen Fortbildungsschulwesens  an. 

Inzwischen  war  am  21.  Juni  i86g  für  den  Norddeutschen  Bund  eine 
Gewerbeordnung  erlassen  worden,  die  bald  nach  der  Gründung  des  neuen 
Reiches  auch  für  alle  deutschen  Staaten  Geltung  gewann.  Sie  war  von 
grundlegender  Bedeutung  für  die  Entwicklung  des  ganzen  gewerblichen 
Fortbildungsschulwesens  in  Deutschland.  Denn  sie  verpflichtete  nicht  nur 
die  Innungen  und  Handwerkerkammern   zur  Einrichtung  und  zum  Unter- 


ni.    Die  Entwicklung  der  gewerblichen  Fortbildungsschule.  253 

halte  von  Lehrlings-  und  Gehilfenfachschulen,  sondern,  was  noch  viel  be- 
deutsamer war,  sie  legte  es  in  die  Macht  der  Gemeinden  und  weiteren 
Kommunalverbände,  durch  Ortsstatut  den  Schulbesuch  für  alle  ortsansässigen 
Arbeiter  unter  18  Jahren  zu  erzwingen.  In  denjenigen  Staaten,  wo  durch 
entsprechende  landesgesetzliche  Bestimmungen  der  Zwang  durch  Straf- 
maßregeln gestützt  werden  konnte,  entwickelte  sich  infolgedessen  das  ge- 
werbliche Fortbildungsschulwesen  alsbald  in  erfreulicher  Weise. 

Viele  kleinere  Staaten  führten  die  Zwangsfortbildungsschule  durch 
Landesgesetz  ein,  so  insbesondere  Sachsen,  Baden,  Württemberg,  Hessen. 
In  Bayern  war  der  Umstand  der  Ausbreitung  der  Fortbildungsschule 
förderlich,  daß  seit  1803  alle  Kinder  bis  zum  vollendeten  16.  Lebensjahr 
nach  der  Entlassung  aus  der  Werktagschule  zum  Besuch  der  wöchentlich 
zweistündigen  Feiertagsschule  verpflichtet  waren.  Nur  in  Preußen  machte 
die  gewerbliche  Fortbildungsschule  zunächst  nur  geringe  Fortschritte. 
Zwar  hatte  bereits  ein  Zirkularerlaß  des  Ministers  vom  17.  Juni  1874  eine 
einheitliche  Regelung  des  Fortbildungsschulwesens  angestrebt,  allein  er 
zeigte  sich  wenig  durchführbar.  Ein  neuer  Erlaß  vom  14.  Januar  1884 
beschäftigte  sich  abermals  mit  den  Angelegenheiten  dieser  Schulgattung 
und  bezeichnete  als  notwendige  Unterrichtsfächer  Deutsch,  Rechnen  und 
Zeichnen  unter  Berücksichtigxmg  der  Bedürfnisse  des  Gewerbes.  Infolge 
der  zunehmenden  Ausbreitung  des  Polentums  in  Westpreußen  und  Posen 
ergeht  dann  am  4.  Mai  1886  ein  preußisches  Landesgesetz,  worin  der 
Minister  für  Handel  und  Gewerbe  ermächtigt  wird,  in  diesen  Provinzen 
auf  Grund  der  Gewerbeordnung  Arbeiter  unter  18  Jahren  zum  Besuche 
der  Fortbildungsschulen  zu  verpflichten.  Es  werden  auch  an  115  Orten 
derartige  Schulen  gebildet,  aber  sie  gehen  zum  größten  Teile  wieder  ein, 
weil  dort  weder  ein  eigentliches  Bedürfnis  vorhanden  war,  noch  hinter 
dem  Zwange  irgend  eine  Strafgewalt  stand.  Erst  als  1891  durch  eine 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  die  Lücke  im  Gesetz  von  1886  ausgefüllt 
war,  entwickelte  sich  auch  in  Preußen  das  gewerbliche  Fortbildungsschul- 
wesen in  stetiger  Weise,  zumal  der  Staat,  der  schon  in  dem  Ministerial- 
erlaß von  1874  Zuschüsse  für  obligatorische  Fortbildungsschulen  zugesagt 
hatte,  reichlich  und  gern  seinem  Versprechen  nachkam  und  vielfach  mehr 
als  die  Hälfte  der  laufenden  Ausgaben  für  solche  Schulen  übernahm. 

Dabei  ist  indes  nicht  zu  übersehen,  daß  die  Entwicklung  des  Fort- 
bildungsschulwesens im  Deutschen  Reich  zunächst  nur  in  der  Richtung 
der  allgemeinen  Fortbildungsschule  vor  sich  ging,  das  heißt  in  der 
Richtung  einer  erweiterten  Volksschulbildung.  Selbst  diejenigen  Schulen, 
die  ausdrücklich  den  Namen  „Gewerbliche  Fortbildungsschulen"  trugen, 
unterschieden  sich  von  der  allgemeinen  nur  dadurch,  daß  sie  im  Zeichen- 
unterricht bisweilen  etwas  mehr  Rücksicht  auf  das  Gewerbe  der  Schüler 
nahmen.  Auch  das  war  nicht  immer  der  Fall.  Die  baj'erischen  gewerb- 
lichen Fortbildungsschulen  z.  B.  waren  noch  bis  zum  Jahr  igoo  mit 
Einschluß    des    Zeichenunterrichtes    nichts    anderes    als    allgemeine    Fort- 


2CA  Georg  Kerschensteinkr :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

bildungsschulen.  Die  Frage  der  eigentlich  gewerblichen  Fortbildungs- 
schule, die  überall  Rücksicht  nimmt  auf  die  Bedürfnisse  des  Gewerbes, 
dem  der  Schüler  angehört,  kam  erst  in  Fluß  durch  die  zielbewußte  Tätig- 
keit des  „Deutschen  Vereins  für  das  Fortbildungsschulwesen",  die  um  das 
Jahr  1892  begann. 
Die  neue  Phase  Eine  bedeutende  Vorwärtsbewegung  in  dem  Ausbau  der  Fortbildungs- 

lüui;  des  Fort-  schulen  im  ganzen  Deutschen  Reiche  erfolgte  dann  durch  das  Gesetz  vom 
V.esens.  26.  JuU  1897,  betreffend  die  Innungen  und  Handwerkskammern,  mit  seinen 
Vorschriften  über  Lehrlingswesen  und  -bildung,  das  eine  ausreichende  be- 
rufliche Schulung  des  Lehrlings  sowohl  in  gewerblichen  als  kaufmännischen 
Betrieben  sicherstellte.  Nun  tritt  der  Beruf  des  Lehrlings  immer  mehr  in 
den  Mittelpunkt  des  Unterrichtes  in  dem  gleichem  Maße,  als  sich  auch  die 
Gewerbetreibenden  immer  lebhafter  für  den  Ausbau  der  fachgewerbUchen 
Fortbildungsschulen  interessieren  und  an  vielen  Orten  nicht  bloß  die  unum- 
gänglich nötige,  sondern  auch  eine  annähernd  ausreichende  und  vor  allem 
geeignete  Unterrichtszeit  für  ihre  Lehrlinge,  sowie  eine  reichliche  materielle 
Unterstützung  gewähren.  Inbesondere  hat  die  durch  dieses  Gesetz  gebotene 
Möglichkeit,  Zwangsinnungen  zu  schaffen,  nach  dieser  Richtung  segensvoll 
gewirkt.  Heute  kann  man  sagen,  daß  das  deutsche  gewerbliche  Fort- 
bildungsschulwesen für  männliche  jugendliche  Arbeiter  unter  i8  Jahren, 
obwohl  ihm  noch  sehr  viele  Mängel  anhaften,  in  einer  erfreulichen  und 
hoffnungsreichen  Entwicklung  begriffen  ist. 

Das  kauf-  IV.     Die     Entwicklung     der     kau f m ännischen     und     land- 

biidungsschui-  wirtschaftlichen  Fortbildungsschule.  Auch  das  kaufmännische 
Fortbildungsschulwesen,  zu  dem  nermenswerte  Ansätze  vor  1850  nur 
im  alten  Königreich  Hannover  und  im  Königreich  Sachsen  vorhanden 
waren,  ist  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  im  lebhaften  Vorschreiten 
begriffen.  Das  Reichsgesetz  vom  30.  Juni  1900,  wonach  auch  für 
weibliche  Handlungsgehilfen  und  -lehrlinge  unter  18  Jahren  die  Ver- 
pflichtung zum  Besuche  einer  Fortbildungsschule  durch  Ortsstatut  fest- 
gelegt werden  kann,  wird  voraussichtlich  in  den  nächsten  Jahren  die 
Mehrung  dieser  Schulgattung  beschleunigen.  Seine  gegenwärtig'e  Ent- 
wicklung verdankt  es  aber  im  Gegensatz  zu  den  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen, an  deren  Ausbau  in  den  letzten  25  Jahren  wenigstens  die  Städte 
den  lebhaftesten  Anteil  nahmen,  fast  ausschließlich  der  privaten  Initiative. 
Dies  rührt  zum  großen  Teile  daher,  daß  hier  die  Not  der  fachlichen  Bil- 
dung ursprünglich  nicht  entfernt  so  dringend  war,  wie  bei  den  gewerb- 
lichen Arbeitern,  nicht  zum  wenigsten  aber  auch  daher,  daß  sich  nicht 
wie  bei  den  gewerblichen  und  technischen  Berufen  die  Schule  der  Praxis 
durch  eine  Schule  von  Laboratorien  und  Werkstätten  zum  großen  Teil 
ersetzen  läßt.  Kaufmännische  Fortbildungsschulen  bleiben  immer  in  der 
Hauptsache  theoretische  Schulen.  Die  Versuche,  sie  mit  einem  künstlich 
geschaffenen  Geschäftsverkehr  zu  verbinden,  wie  das  in  Amerika  bisweilen 


Wesen. 


rV.  Die  Entwicklung  der  kaufmännischen  und  landwirtschaftlichen  Fortbildungsschule,        255 

geschieht  und  wie  das  an  einer  Ecole  professionelle  in  Paris  eingerichtet  ist, 
werden  immer  vereinzelt  und  vielleicht  problematisch  bleiben.  Die  Haupt- 
entwicklung der  Handelsfortbildungsschulen  setzt  in  den  achtziger  Jahren 
ein.  Erst  als  der  deutsche  Handel  in  seine  riesigen  Dimensionen  gewachsen 
war,  als  die  Zahl  der  Handelsbetiissenen  fast  in  geometrischen  Progressionen 
zunahm,  ohne  daß  die  nötige  Vorbildung  vorhanden  gewesen  wäre,  als 
die  Klagen  über  mangelhaft  geschultes  Personal  immer  allgemeiner  wurden, 
brach  sich,  wenn  auch  nicht  in  allen,  so  doch  in  vielen  Handelskreisen 
die  Überzeugung  Bahn,  daß  nicht  bloß  die  selbständigen  Handeltreibenden, 
sondern  auch  das  Hilfspersonal  mit  den  Waffen  einer  entsprechenden  Bil- 
dung gerüstet  sein  müssen,  um  im  internationalen  Handelswettkampf  sieg- 
reich zu  bleiben.  So  entstanden  denn  auch  in  den  letzten  zehn  Jahren 
nicht  bloß  die  deutschen  Handelshochschulen  in  Leipzig,  Köln,  Frankfurt, 
Aachen,  sondern  auch  eine  große  Anzahl  neuer  Handelselementarschulen. 
Ein  großes  Verdienst  an  dieser  aufsteigenden  Bewegung  muß  den  kauf- 
männischen Vereinen  zugeschrieben  werden.  Doch  hat  zu  dieser  Ent- 
wicklung auch  das  Institut  der  Handelskammern  ein  gutes  Teil  beigetragen, 
eine  Institution,  die  im  Deutschen  Reiche,  wenn  auch  in  anderer  Form, 
teilweise  schon  bis  ins  18.  Jahrhundert  zurückreicht,  während  die  Hand- 
werkskammern erst  wenige  Jahre  alt  sind.  Von  den  148  Handelskammern 
des  Deutschen  Reiches  dürfen  viele  direkt  als  Gründerinnen  von  kauf- 
männischen Schulen  aller  Art  bezeichnet  werden. 

Im  Vergleich  mit  den  gewerblichen  und  kaufmännischen  Fortbildungs-  oas  landwirt- 

°  °  •        T^  ,  ,  schaftliche  Fort- 

schulen ist  das  landwirtschaftliche  Fortbildungsschulwesen  m  Deutschland  widungsschui- 

Wesen. 

noch  recht  wenig  entwickelt.  Zwar  zählte  Preußen  im  Jahre  1902  nicht 
weniger  als  142 1  ländliche,  gegenüber  1684  gewerblichen  und  kauf- 
männischen und  sonstigen  fachlichen  Fortbildungsschulen,  aber  es  wäre 
ein  großer  Irrtum,  wenn  man  hieraus  irgend  einen  günstigen  Schluß  auf 
den  Stand  des  landwirtschaftlichen  Fortbildungsschulwesens  in  Preußen 
ziehen  wollte.  Ganz  ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  in  Bayern,  Sachsen, 
Württemberg,  Baden,  Hessen,  wo  sich  nach  den  obenerwähnten  Fort- 
bildungsschulerlassen auch  auf  dem  Lande  nicht  wenige  Fortbildungsschulen 
entwickeln.  Auch  Österreich,  die  Schweiz,  Frankreich  machen  hier  keine 
Ausnahme.  Lediglich  Dänemark  eilt  allen  europäischen  Staaten  weit 
voraus.  Die  deutschen  sogenannten  ländlichen  Fortbildungsschulen  sind 
eben  im  wesentlichen  nichts  anderes  als  allgemeine  Fortbildungsschulen, 
die  kaum  etWeis  anderes  leisten  können,  als  den  Lehrstoff  der  Volksschule 
ein,  zwei,  selten  drei  Jahre  in  wöchentlich  2 — 3  Stunden  zu  wiederholen. 
Sie  sind  mit  wenig  Ausnahmen  nur  Bremsvorrichtungen,  welche  ver- 
hindern, daß  der  Wagen  der  Volksschulgelehrsamkeit  allzuschnell  in 
den  Strom  der  Vergessenheit  hinüberrollt.  Weder  für  berufliche  noch 
für  staatsbürgerliche  Erziehung  haben  sie  eine  nennenswerte  Bedeutung, 
so  wenig  wie  etwa  die  2079  allgemeinen  Fortbildungsschulen  Württem- 
bergs, oder  die   7380  Sonntagsschulen  Bayerns.     Man  liebt  es   bisweilen, 


2c6  Georg  Kerschenstkinkr:  Das  Fach-  iinJ  Foiibildungsscliulwescn. 

sich  an  solchen  Zahlen  zu  berauschen,  aber  in  einer  so  dürftig  entwickelten 
Schulgattung  bedeuten  Zahlen  gar  nichts.  In  Preußen  entwickeln  sich  die 
ländlichen  Fortbildungsschulen  mit  dem  Beginn  der  siebziger  Jahre,  ins- 
besondere seit  dem  Ministerialerlaß  von  1876,  der  sie  ausdrücklich  auf 
Wiederholung  des  Volksschulwissens  beschränkt.  In  dieser  Organisation 
entfalten  sie  aber  keine  werbende  Kraft.  Das  Kgl.  Preußische  Landes- 
ökonomiekollegium  beschließt  daher  im  Jahre  1895,  daß  der  Lehrstoff  in 
den  ländlichen  Fortbildungsschulen  mehr  auf  die  praktischen  Bedürfnisse 
des  Landmannes  Rücksicht  nehmen  solle.  Bald  darauf  tun  sich  auch  land- 
wirtschaftliche Fortbildungsschulen  mit  fachlichem  Unterricht  auf,  steigen 
im  Jahre  1899  auf  i^^,  sinken  aber  1902  schon  wieder  auf  6  mit  89  Schülern 
henmter.  In  allen  übrigen  Schulen  wird  zwar  der  Stoff  nach  der  prak- 
tischen Seite  mehr  oder  weniger  gemodelt,  bleibt  aber  nach  wie  vor  in 
der  Hauptsache  theoretisch.  Die  Ursachen  solcher  wenig  erfreulichen 
Verhältnisse  sind  nicht  schwer  zu  erkennen.  Zunächst  ist  in  den  Kreisen 
der  Landwirtschafttreibenden  im  allgemeinen  so  gut  wie  keine  Sympathie 
für  Fortbildungsschulen  vorhanden,  weder  in  den  Kreisen  der  Kleinbauern, 
noch  viel  weniger  in  den  Kreisen  der  Großgrundbesitzer,  zumal  der  land- 
wirtschaftliche Beruf  keine  Lehrlinge  kennt,  die  außerhalb  des  Kreises 
der  eigenen  Kinder  in  die  Berufsaufgaben  einzuführen  wären.  Dieser 
Mangel  an  Sympathie  hängt  sowohl  mit  dem  Mangel  an  guten  Vorbildern 
zusammen,  als  auch  mit  dem  Umstand,  daß  die  Umwälzungen  auf  dem 
Gebiete  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  im  19.  Jahrhundert  nicht  so  ein- 
schneidend waren,  als  in  den  gewerblichen,  technischen  und  kaufmännischen 
Betrieben.  Auch  liegt  es  im  Wesen  der  Landwirtschaft,  daß  Betriebs- 
veränderungen niemals  mit  den  gleichen,  oft  ganz  unerwartet  großen 
materiellen  Vorteilen  verbunden  sind,  wie  Betriebsumwälzungen  in  Ge- 
werbe und  Industrie.  Damit  fällt  aber  der  stark  egoistische  Anreiz  zur 
Erhöhung  des  Bildungsstandes.  Weiter  kommt  in  Betracht,  daß  die  Be- 
rufsorganisationen der  Landwirtschaft  mit  dem  Fortbildungsschulwesen  sich 
überhaupt  nicht,  oder  nur  nebenbei  befassen.  In  Preußen  existieren  seit 
dem  20.  Juni  1894  besondere  Landwirtschaftskammern,  die  im  übrigen 
Deutschen  Reich  außer  in  Oldenburg  fehlen.  Aber  diese  Landwirtschafts- 
kammem  beschäftigen  sich  im  Gegensatz  zu  den  Handels-  und  Hand- 
werkerkammern ausschließlich  mit  wirtschaftlichen  Fragen.  Zum  vierten 
fällt  als  wesentliches  Hindernis  für  die  Entwicklung  der  Mangel  an  irgend 
welchen  Zwangsbestimmungen  ungemein  schwer  in  die  Wagschale.  Man 
macht  lieber  der  agrarischen  Bevölkerung  alle  möglichen  Geschenke  aus 
allgemeinen  Staatsmitteln,  als  daß  man  sich  entschließt,  den  Bildungsstand 
zwangsmäßig  zu  erhöhen,  damit,  ähnlich  wie  alle  übrigen  freien  Berufe, 
auch  die  Landwirtschaft  auf  dem  Wege  der  Selbsthilfe  widerstandsfähig 
werde  im  großen  Konkurrenzkampf.  Welche  Wirkung  der  Wegfall  des 
Zwanges  hat,  erkennt  man  daraus,  daß  die  obenerwähnten  142  i  preußischen 
ländlichen    Fortbildungsschulen    nur    von    rund    2 1  000    Schülern    besucht 


V.  Die  Entwicklung  der  Mädchcnfortbildungs-  und  -fachschulcn.  2^7 

werden,  während  die  Schülerzahl  der  1684  gewerblichen,  kaufmännischen 
und  sonstigen  fachlichen  Schulen  Preußens  das  Zehnfache  beträgt.  End- 
lich ist  nicht  zu  verkennen,  daß  auch  die  Unterhaltungskosten,  die  bei  den 
meisten,  sehr  viel  vermöglicheren  Stadtgemeinden  keine  ausschlaggebende 
Rolle  spielen,  in  den  gewöhnlich  armen  Landgemeinden  dem  Ausbau  des 
ländlichen  Fortbildungsschulwesens  ein  starkes  Hindernis  entgegensetzen. 
Die  Kosten  würden  sich  aber  leicht  verteilen  lassen,  wenn  mehrere  be- 
nachbarte Landgemeinden  sich  zur  Einrichtung  einer  Schule  entschließen 
würden.  Sonderbarerweise  sind  auch  nicht  wenig  Lehrer  und  Vorstände 
der  höheren  landwirtschaftlichen  Schulen  Gegner  des  landwirtschaftlichen 
Fortbildungsschuhvesens  in  der  irrtümlichen  Meinung,  daß  damit  ihre 
Schulen  entvölkert  würden.  Ein  Blick  auf  das  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulwesen könnte  aber  zeigen,  daß  gerade  das  Gegenteil  der  Fall  sein 
wird.  Übrigens  sind  zurzeit  in  der  Provinz  Westfalen  neue  glückliche 
Anfänge  zu  konstatieren.  Auch  in  Schleswig-Holstein  scheint  das  groß- 
artige dänische  Beispiel  anregend  zu  wirken. 

V.  Die  Entwicklung  der  Mädchenfortbildungs-  und  -fach- Der  Zustand  der 
schulen.  Noch  weniger  als  das  landwirtschaftliche  ist  das  gesamte  Fort- ^i"'^Bcg!'n'',i'''d°el 
bildungsschulwesen  für  Mädchen  im  Deutschen  Reiche  entwickelt.  Nur ''J^'^'"""'''*'- 
die  Großstädte  weisen  hier  erfreuliche  Erscheinungen  auf,  während  in  den 
kleineren  Städten  und  vollends  auf  dem  Lande  der  Volksschulunterricht 
Anfang  und  Abschluß  der  Bildung  des  größten  Teils  aller  Mädchen  umfaßt. 
Die  Gründe  für  diese  Erscheinungen  liegen  auf  der  Hand.  Noch  am  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  hielt  man  nicht  bloß  eine  weitere  Ausbildung  der 
Mädchen,  sondern  selbst  die  Elementarbildung  im  Lesen,  Schreiben  und 
Rechnen  im  allgemeinen  für  überflüssig.  Selbst  Goethe  rät  1795  in  den 
„Hören"  einem  besorgten  Freund,  der  die  Mädchen  vor  der  bösen  Lektüre 
der  „kuppelnden  Dichter"  bewahrt  wissen  möchte,  er  möge  ihnen  die  Be- 
sorgung des  Weinkellers,  der  Küche  und  des  Gartens  übertragen  und 
jene,  die  lieber  stille  sitzen,  die  Nadel  führen  lassen.  Indes  findet  der 
Industrieunterricht,  also  ein  Unterricht  in  weiblicher  Handarbeit,  wie 
Spinnen,  Stricken,  Nähen,  schon  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  den 
südlichen  Ländern  des  alten  Deutschen  Reiches  Eingang  in  die  Volks- 
schule. Zu  Anfang  und  in  der  ganzen  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
erstehen  dann  vereinzelt  infolge  der  Initiative  einsichtsvoller  Mämier  und 
Frauen  Schuleinrichtungen  für  die  Mädchen  des  Volkes,  die  eine  gewerb- 
liche oder  sonst  berufliche  Ausbildung  des  weiblichen  Geschlechts  ins 
Auge  fassen,  so  1810  die  Klöppelschule  in  Schneeberg,  181 1  die  bereits 
erwähnte  Schule  für  weibliche  Handarbeiten  in  Wien,  1836  die  weibliche 
Fortbildungsschule  des  Handwerkervereins  in  Chemnitz.  Der  eigentliche 
Anfang  des  weiblichen  Fach-  und  Fortbildungsschulwesens  fällt  aber  in 
das  dritte  Viertel  des  iq.  Jahrhunderts.  Auch  hier  war  die  Not  die 
treibende  Kraft,  die  Not,  die  mit  der  rasch   steigenden  Zunahme  der  Be- 

DiB  Kultur  der  Gecemwart.    I.  i.  j^ 


2e8  Georg  Kerschensteiner:  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

völkerung  nicht  bloß  über  das  weibliche  Geschlecht  an  sich,  sondern  über 
Tausende  von  Familien  hereinbrach.  Hatten  früher  die  überschüssigen 
weiblichen  Familienmitglieder  Schutz  und  Unterkunft  meist  am  elterlichen 
Herde  finden  können,  so  wurde  das  mit  dem  erhöhten  Kampf  um  das  täg- 
liche Brot  immer  schwieriger.  War  früher  die  Mutter  völlig  an  das  Haus 
gebannt  und  lediglich  mit  der  Sorge  um  Haushalt  und  Kindererziehung 
belastet,  so  wurde  jetzt  auch  sie  hinausgetrieben  in  den  erbarmungslosen 
Erwerbskampf,  und  bei  Tausenden  und  Abertausenden  bestand  ein  Fa- 
milienverband mit  seinen  segensvollen  Wirkungen  nur  mehr  dem  Namen 
nach. 
Die  Anfange  des  Die  Not  führte  zunächst  zur  Bildung  von  Frauenerwerbs-  und  Frauen- 

schuiwesens  "für  bildungsverelnen,  die  nun  ihrerseits  nicht  bloß  die  Mehrung  der  Erwerbs- 
möglichkeiten des  weiblichen  Nachwuchses  ins  Auge  faßten,  sondern  auch 
die  Mehrung  der  Frauenbildung  überhaupt.  Doch  auch  einzelne  Männer 
griffen  die  brennende  Fragte  lebhaft  auf.  In  Württemberg  nimmt  bereits 
Ende  der  fünfziger  Jahre  Steinbeis  die  Gründung  von  Frauenindustrie- 
schulen von  Staats  weg^en  auf;  1861  wird  an  der  Stuttg-arter  gewerblichen 
Fortbildungsschule  eine  besondere  Mädchenabteilung  eingerichtet.  In 
München  gründen  Riemerschmid  und  Reischle  1862  die  erste  Mädchen- 
handelschule in  Deutschland,  die  rasch  von  200  Mädchen  gefüllt  ist  und 
heute  als  gemeindliche  Anstalt  zu  den  blühendsten  weiblichen  Berufs- 
schulen Münchens  gehört.  1863  entsteht  unter  Mitwirkung  von  Männern 
und  Frauen  die  gewerbliche  Lehranstalt  für  erwachsene  Töchter  in  Leipzig, 
1865  bildet  sich  in  Berlin  auf  AnregTing  Dr.  Adolf  Lettes  der  heute  noch 
so  ungemein  segensreich  wirkende  „Lette-Verein  zur  Förderung  höherer 
Bildung  und  Erwerbstüchtigkeit  des  weiblichen  Geschlechtes"  und  im 
gleichen  Jahre  zu  Leipzig  der  „allg'emeine  deutsche  Frauenverein",  dessen 
Hauptaufgabe  nach  dem  §  i  seiner  Statuten  in  der  Fürsorge  für  erhöhte 
weibliche  Bildung  besteht.  1872  werden  an  der  Münchner  Kunstgewerbe- 
schule besondere  Klassen  für  Mädchen  eingerichtet. 
Die  erste  Teil-  Nun    eutschließen    sich  auch  jene   deutschen  Staaten,  welche    bereits 

Re"^erangeram für  die  Knaben,  sei  es  durch  ein  Landesgesetz,  sei  es  durch  Orts- 
schidwesM  fiir  statut,  Fortbildungsschulzwang  eingeführt  hatten,  diesen  Zwang  auch  auf 
die  Mädchen  auszudehnen  oder  ausdehnen  zu  lassen.  In  Bayern  bestand 
bereits  seit  1803  die  Mädchensonntagsschulpflicht  auf  die  Dauer  von  drei 
Jahren  nach  dem  Austritt  aus  der  Volksschule.  1836  folgte  Württemberg, 
1874  Baden,  Sachsen -Koburg- Gotha,  Sachsen -Weimar,  1875  Sachsen- 
Meinigen-Hildburghausen.  Freilich  kann  man  auch  hier  nicht  sagen,  daß 
diese  weiblichen  obligatorischen  Fortbildungs-  oder  Soimtagsschulen  eine 
nennenswerte  Bedeutung  für  die  Volkserziehung  hatten.  Namentlich  nicht 
in  den  Ländern,  wo  sich  diese  Schulen  lediglich  mit  der  Erhaltung  oder 
sogenannten  Ergänzung  des  Volksschulwissens  befaßten.  Dazu  war  schon 
die  wöchentliche  Untemchtszeit  (i — 2  Stimden)  viel  zu  kurz.  Da  aber, 
wo  der  Einfluß  hätte  größer  sein  können,  wie  in  Baden  mit  seinem  haupt- 


VI.  Die  dritte  Periode  der  Entwicklung  des  Fachschulwesens  von  1880  ab.  259 

sächlich  hauswirtschaftlichen  Unterricht,  erstreckte  sich  die  Dauer  der  Ver- 
pflichtung nur  auf  ein  Jahr.  Xur  den  heute  bestehenden  17  württem- 
bergischen weiblichen  Fortbildungs.schulen,  die  nach  dem  Muster  der  oben- 
genannten Stuttgarter  Abteilung  in  den  letzten  40  Jahren  entstanden  sind, 
kann  eine  größere  Bedeutung  zugeschrieben  werden. 

Dagegen  entwickelt  sich  in  den  größeren  deutschen  Städten  das  frei- Die  XeUoahme 
willige  Fortbildungsschulwesen  für  Mädchen  in  einer  auch  für  die  Volks- 
erziehung wertvollen  Weise,  wenn  auch  seine  Wirkung  heute  meist  noch 
auf  einen  kleinen  Kreis  der  Bevölkerung  beschränkt  bleibt.  Gewöhnlich 
nehmen  diese  städtischen  Fortbildungschulen  beruflichen  Charakter  an,  und 
zwar  den  Charakter  von  Fachschulen,  indem  sie  ihren  Unterricht  vor  allem 
auf  das  Gebiet  der  spezifisch  weiblichen  Handarbeit,  der  kaufmännischen 
Fächer,  seltener  der  kunstgewerblichen  Bildung  ausdehnen.  Erst  im  letzten 
Jahrzehnte  gelangt  immer  mehr  die  Einsicht  zum  Durchbruch,  daß  die 
weiblichen  Fortbildungsschulen  vor  allem  den  weiblichen  Beruf  katexochen 
ins  Auge  fassen  müssen,  den  Beruf  der  zukünftigen  Hausfrau  und  Mutter. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  hat  beispielsweise  München  für  die  ganze 
Stadt  im  Jahre  1894  fakultative  Mädchenfortbildungsschulen  eingerichtet. 
Ihm  sind  aber  erst  wenige  deutsche  Städte  und  auch  diese  nur  teilweise 
gefolgt,  wie  zum  Beispiel  Breslau,  das  1897  halbjährige  Koch-  und  Haus- 
haltungskurse an  die  Volksschule  angliederte,  oder  Leipzig,  das  schon 
i8g6  mit  den  gleichen  Bestrebungen  nach  den  Plänen  der  Frau  Geheim- 
rat Windscheid  vorangegangen  war.  Städtische  weibliche  Fortbildungs- 
schulen besitzen,  außer  den  obenerwähnten  14  württembergischen  Ge- 
meinden, in  größerem  Umfange  und  in  der  Richtung  der  allgemeinen  oder 
beruflichen  Bildung  gehend,  nur  noch  Berlin  und  Leipzig. 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  das  gesamte  weibliche  Fort- 
bildungsschulwesen und  auch  Fachschulwesen  mit  wenigen  Ausnahmen  in 
Deutschland  heute  noch  leider  als  keine  Angelegenheit  der  Staatsregie- 
rung und  Staatsverwaltung  angesehen  wird,  daß  es  vielmehr  im  wesent- 
lichen noch  auf  gemeinnützige  Tätigkeit  von  Vereinen  aller  Art  oder  von 
einsichtigen,  opfen.villigen  Einzelpersonen  angewiesen  ist  und  sich  nur 
nach  der  Größe  der  diesen  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  und  nach 
dem  Verständnis  und  der  Tatkraft  der  jeweils  führenden  Persönlichkeiten 
in  und  mit  den  Vereinen  entwickelt.  Unter  solchen  Umständen  kann 
es  nicht  wundernehmen,  daß  hier  ebenso  wie  im  kaufmännischen  Fort- 
bildungsschulwesen neben  ganz  hervorragenden  Schulen  sehr  viele  recht 
minderwertige  Unternehmungen  im  Deutschen  Reich  vorhanden  sind,  die 
mehr  dem  Enverbsinteresse  des  Besitzers  dienen,  als  daß  sie  zur  Lösung- 
von  Kulturaufgaben  geeignet  wären. 

VL  Die  dritte  Periode  der  Entwicklung  des  Fachschulwesens °ä*ef''^ert>™^ 
von  i88o  ab.  Denselben  Verlauf  wie  die  Entwicklung  des  Fortbildungs-  schuiwefeM''in 
Schulwesens  im  letzten  Viertel  des   19.  Jahrhunderts  nimmt  das  Fachschul-     „ach'^J'gsS. 

17» 


->5o  Georg  Kerschensteiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

weseii  in  Deutschland  um  diese  Zeit.  Zögernd  setzt  die  Bewegung  ein,  um 
dann  mit  Beginn  des  neunten  Jahrzehntes  ein  immer  beschleunigteres  Tempo 
einzunehmen.  Weder  im  Reich  noch  in  den  einzelnen  Staaten  wird,  wie  das 
gleichzeitig  in  Österreich  und  Frankreich  geschieht,  von  vornherein  nach 
einem  großen,  weitausschauenden  Organisationsplan  gearbeitet.  Erst  all- 
mählich kommt  ein  System  wenigstens  in  die  einzelnen  Fachschulgruppen. 
In  Preußen  wird  zunächst  1878  das  gesamte  technische  Unterrichtswesen 
dem  Unterrichtsministerium  überwiesen.  Aber  schon  sieben  Jahre  später 
geht  es  mit  Ausnahme  der  drei  technischen  Hochschulen  und  dreier  Kunst- 
gewerbeanstalten in  die  Verwaltung  des  Handelsministeriums  über.  An- 
gestachelt von  dem  Beispiel  Österreichs  und  Frankreichs,  getrieben  von 
den  Bedürfnissen  im  Innern  des  Landes  durch  den  unerhörten  Aufschwung 
des  gesamten  wirtschaftlichen  Lebens,  erfüllt  von  der  neuen,  verantwortungs- 
vollen Aufgabe,  setzt  in  Preußen  nun  das  Handelsministerium  eine  Tätig- 
keit ein,  durch  welche  es  alsbald  alle  deutschen  Staaten  in  der  Entwick- 
lung seines  Fachschulwesens  überflügelt.  Die  in  den  sechziger  und  siebziger 
Jahren  gegründeten  privaten  oder  städtischen  Baugewerbeschulen  werden 
verstaatlicht,  an  zwölf  Orten  werden  neue  geschaffen;  war  1853  nur  eine 
einzige  solche  staatliche  Schule  in  Nienburg  vorhanden,  so  zählte  Preußen 
50  Jahre  später,  von  den  neu  entstandenen  Privatschulen  gar  nicht  zu 
reden,  deren  zwanzig.  1890  entsteht  die  erste  Kgl.  Maschinenbauschule 
zu  Dortmund,  1903  zählt  Preußen  deren  bereits  fünfzehn.  In  gleicher 
Weise  wachsen  die  Fachschulen  für  Textilindustrie;  aus  den  fünfziger  und 
sechziger  Jahren  waren  vier  vorhanden,  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten 
entstehen  zwölf.  Keramische  Fachschulen,  Kunstgewerbe-  und  Hand- 
werkerschulen, von  denen  man  1870  nur  zwei  vorfindet,  wachsen  bis  auf 
einundzwanzig.  Im  Jahre  1904  belief  sich  die  Gesamtzahl  der  öffentlichen 
gewerblichen  Fachschulen  in  Preußen  ausschließlich  der  damals  vorhan- 
denen drei  technischen  Hochschulen  und  zwei  Bergakademien  auf  285, 
während  sie  im  Jahre  1880  nur  52  betrug.  Ein  noch  viel  eindrucksvolleres 
Bild  für  die  Tätigkeit  des  Handelsministeriums  gewährt  das  Wachstum 
der  staatlichen  Ausgaben  für  Fortbildungsschul-  und  Fachschulwesen, 
Während  sie  1886  570000  Mark  betragen,  wächst  der  Etat  im  Jahre  1893 
auf  2,3  und  zehn  Jahre  später  auf  6,3  Millionen. 

In  anderer  Art  entwickelt  sich  im  industriellen  Sachsen  das  Fachschul- 
wesen, Hier  gehen  vor  allem  öffentliche  Schul-  und  Fachverbände,  Gewerbe- 
vereine, Innungen,  Handelskammern  mit  der  Gründung  von  Fachschulen 
vor,  während  Staat  und  Gemeinden  nur  unterstützend  mitwirken.  So  wird 
Sachsen  geradezu  das  klassische  Land  der  Fachschulen  für  das  Klein- 
gewerbe wie  für  den  Handel.  Vom  Jahre  1884 — 1899  verdoppelt  sich  der 
Gesamtaufwand  wie  der  Staatszuschuß,  indem  er  2,5  bzw.  1,2  Millionen 
erreicht.  In  Bayern  schreitet  das  Fachschulwesen,  abgesehen  von  den 
Industrieschulen,  die  aber  eigentlich  den  Charakter  von  Oberrealschulen 
haben  und  sie  tatsächlich  auch  vertreten,   erst  in  den  letzten  zehn  Jahren 


VI.  Die  dritte  Periode  der  Entwicklung  des  Fachschulwesens  von  1880  ab.  261 

vorwärts.  Das  hängt  nicht  nur  damit  zusammen,  daß  große  Gebiete  eine 
nennenswerte  Industrie  nicht  besitzen,  sondern  auch  damit,  daß  der  baye- 
rische Staat  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  deutschen  Staaten  noch  bis 
vor  wenigen  Jahren  sich  nur  zu  geringen  Zuschüssen  entschließen  konnte. 
Im  Jahre  1900  betrug  der  Gesamtaufwand  ausschließlich  der  Kosten  für 
die  Industrieschulen,  einschließlich  jedoch  der  Ko.sten  für  die  Kunst- 
gewerbeschulen, etwa  2,2  Millionen  I\Iark,  von  denen  der  Staat  eines- 
teils und  die  Kreisregierungen  andemteils  rund  je  0,5  Millionen  über- 
nommen hatten.  Auch  in  Württemberg  war  nach  dem  Aufschwung  in 
den  fünfziger  und  sechziger  Jahren  ein  Stillstand  in  der  Entwicklung 
eingetreten.  Dagegen  zeigt  sich  auch  hier  in  neuester  Zeit  das  Fach- 
und  Fortbildungsschulwesen  wieder  in  einem  Zustande  lebhafter  Entwick- 
lung, während  es  in  Baden  und  Hessen  in  gleichmäßiger  Steigerung  seit 
30  Jahren  sich  aufwärts  bewegt.  Im  ganzen  Deutschen  Reich  betrug  im 
Jahre  1903  die  Zahl  der  über  die  Fortbildungsschule  hinausgehenden  ge- 
werblichen oder  sonst  technischen  Fachschulen  mit  öffentlichem  Charakter, 
ausschließlich  der  neun  technischen  Hochschulen  und  der  drei  Bergaka- 
demieen,  rund  520. 

Dazu  kommen  570  landwirtschaftliche  Fachschulen,  unter  denen  sich  Entwicklung  des 
28  Landwirtschafts-,  51  Ackerbau-  imd  193  Winterschulen  befinden.  Die  nchcn  Fach- 
Zahl  dieser  landwirtschaftlichen  Fachschulen  mag  manchen  überraschen. 
Auch  sie  sind  in  der  Hauptsache  Kinder  des  Geistes  der  letzten  drei 
Jahrzehnte,  obwohl  einzelne  Staaten  schon  in  der  ersten  Hälfte  des 
ig.  Jahrhunderts  einige  solche  Institute  schufen,  so  Preußen  1806  die  aka- 
demische Lehranstalt  zu  Möglin,  18 18  die  Akademie  zu  Hohenheim,  und 
Bayern  1829  die  landwirtschaftliche  Lehranstalt  zu  Schleisheim,  Sachsen 
im  gleichen  Jahre  die  Landwirtschaftschule  zu  Tharandt.  Die  Akademieen 
gingen  mit  wenigen  Ausnahmen  später  wieder  ein.  Die  in  der  ersten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  gegründeten  Ackerbauschulen  machten  in  Preußen 
den  Weg  der  Provinzialgewerbeschulen;  sie  wurden  immer  theoretischer,  bis 
sie  sich  1875  in  Realschulen  verwandelten  und  etwa  sechsstündigen  land- 
wirtschaftlichen Unterricht  und  den  Titel  Landwirtschaftsschulen  annahmen. 
Während  aber  für  die  in  Oberrealschulen  sich  auswachsenden  Provinzial- 
gewerbeschulen zunächst  kein  Ersatz  vorhanden  war,  traten  neben  die 
Landwirtschaftsschulen  schon  frühzeitig  entsprechende  Fachschulen  mit 
theoretisch -praktischem  Unterrichtsbetrieb,  die  sich  dann  im  Deutschen 
Reiche  unter  der  Fürsorge  der  verschiedenen  Regierungen  rasch  ver- 
mehrten, nachdem  die  Arbeiten  eines  Liebig  und  Schieiden  die  Bedeutung 
naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  auf  das  eindringlichste  gepredigt,  und 
die  immer  tiefer  gehenden  Preise  landwirtschaftlicher  Produkte  die  Not- 
wendigkeit einer  wohldurchdachten  wirtschaftlichen  Rechnung  und  Buch- 
führung sowohl  als  eines  rationellen  Betriebes  deutlich  vor  Augen  gestellt 
hatten. 

Im  Jahre  1902  besaß  Preußen  dank  der  Regsamkeit  des  Ministeriums 


2  02  Georg  Kkrschenstkiner  :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

für    Landwirtschaft    i6    Landwirtschafts-,     21    Ackerbau-,     5    Wiesenbau-, 

3  Garten-,  15  Obstbau-  und  128  landwirtschaftUche  Winterschulen,  also 
188  über  die  gewöhnlichen  Fortbildungsschulen  hinausgehende  Fach- 
schulen, deren  Unterhalt  gleichfalls  1,5  Millionen  Mark  beanspruchte,  die 
allerdings  zu  ^^  von  Provinzial-,  Kreis-,  Kommunal-  und  anderen  Ver- 
bänden bestritten  wurden.  Der  Gesamtaufwand  aus  öffentlichen  Mitteln 
für  das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen  in  Deutschland,  ausschließlich 
der  Hochschulen,  belief  sich  im  Jahre   1901   auf  rund  12  Millionen. 

Das  kauf-  Unter  die  damit  unterhaltenen  oder  unterstützten  nahezu  11 00  öffent- 

mäntüsche 

Fachschalwesen,  liehen  Fachschuleu  sind  nicht  eingerechnet  die  verhältnismäßig  wenigen 
selbständigen  Handelsschulen  imd  die  zahlreichen  weiblichen  Fachschulen, 
die  in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  den  Charakter  von  Privatuntemeh- 
mungen  tragen,  zu  denen  aus  öffentlichen  Mitteln  nur  selten  und  auch 
dann  nur  spärlich  Zuwendimgen  fließen.  Solche  höhere  selbständige 
Handelsschulen  gab  es,  von  den  obenerwähnten  Handelsakademieen  ab- 
gesehen, im  Jahre  IQ04  nur  14  in  Deutschland,  darunter  4  für  Mädchen, 
nämlich  in  Posen,  Rheydt,  München,  Nürnberg,  von  denen  die  beiden 
ersten  als  kgl.  preußische  Staatsanstalten  auch  gewerbliche  Bildimg  ver- 
mitteln. In  Preußen  imd  Bayern  ist  dagegen  der  Handelsunterricht  viel- 
fach mit  Realschulen  oder  Realgymnasien  verbunden,  eine  Sache,  die  um 
so  gerechtfertigter  erscheint,  als  die  übrige  höhere  kaufmännische  Bildung 
ohnehin  sich  im  Rahmen  des  Unterriclitsgebietes  bewegt,  der  diesen 
Schulen  zugewiesen  ist. 

Fachschalen  für  Ungleich  größer  ist  die  Zahl  der  weiblichen  Fachschulen.     Auch  ab- 

gesehen von  den  schon  bei  den  landwirtschaftlichen  Schulen  mitgezählten 
landwirtschaftlichen  Haushaltimgs-,  Molkerei-  und  Käsereischulen,  ent- 
wickelten sich  nicht  nur  in  fast  allen  Großstädten,  sondern  auch  auf  dem 
Lande,  namentlich  da,  wo  weibliche  Klöster  mit  Mädchenunterricht  sich  be- 
fassen, in  den  letzten  drei  Jahrzehnten  Gewerbe-,  Kunstgewerbe-,  Zeiclien-, 
Industrie-,  Frauenarbeits-,  Haushaltungs-,  Stickerei-,  Spitzenklöppelei-, 
Koch-,  Kindergärtnerinnen-,  Erzieherinnen-,  Pflegerinnen-  usw.  Schulen  für 
,das  weibliche  Geschlecht.  Oft  heben  sie  sich  vom  Charakter  einfacher 
Fortbildungsschulen  gar  nicht  ab,  oft  beschränken  sie  sich  sogar  nur  auf 
Kurse  von  wenigen  Monaten,  oft  aber  nehmen  sie  auch  die  Entwicklung 
von  großartig  ausgebauten  Lehranstalten  an,  namentlich  dann,  wenn 
Staaten  oder  Kommimen  sie  mit  Zuschüssen  unterstützen  oder  bedeutende 
Stiftungen  ihnen  einen  auskömmlichen  Nährboden  sichern.  Im  Jahre  1900 
befanden  sich  in  Preußen  etwa  200,  in  Bayern  gegen  60,  in  Württemberg 
imd  Sachsen  etwa  40,  in  Baden  gegen  30  weibliche  Fachschulen,  die  nicht 
als  Geschäftsuntemehmungen  einzelner  Privater,  sondern  als  der  AusfluJJ 
erzieherischer  Werktätigkeit  von  Gemeinden,  Vereinen,  kirchlichen  und 
klösterlichen  Institutionen  betrachtet  werden  müssen.  Gleichwohl  muß 
man  bekennen,  daß  die  Fürsorge  um  die  weibliche  berufliche  und  all- 
gemeine Ausbildung  noch  himmelweit  hinter  der  Fürsorge  um  die  mann- 


Vn.  Die Entwickl. d. gewerbl. Erzichungswesens in auQcrdcutscb. Staat.im letzt. Viertel d.  1 9.  Jahrb.     263 

liehe    Ausbildung    zurücksteht.      Diese    Aufgabe    wird    erst    das    20.  Jahr- 
hundert im  Deutschen  Reiche  lösen  müssen. 

VII.    Die    Entwicklung    des    gewerblichen    Erziehungswesens DieEntwickiong 

_  ^  .  T.  '"  Frankreich 

in  außerdeutschen  btaaten  im  letzten  Viertel  des  19.  Jahr- unter  der  dritten 
hunderts.  Wesentlich  anders  als  im  Deutschen  Reiche  entwickelte  sich 
in  Österreich  das  Fachschulwesen  in  den  letzten  drei  Jahrzehnten,  anders 
insofern,  als  hier  dem  Ausbau  von  vornherein  ein  groß  angelegter  Orga- 
nisationsplan von  Staats  wegen  zugrunde  gelegt  wurde.  Nach  der  Schaffung 
des  Handelsministeriums  im  Jahre  1861  teilten  sich  zunächst  zwei  Mini- 
sterien in  die  Fürsorge  um  das  technische  Schulwesen.  Es  entwickelte  sich 
eine  Art  Wettstreit  in  der  Schaffung  von  gewerblichen  Schulen,  der  indes 
zu  keinem  geregelten  System  und  nicht  selten  zu  Kompetenzkonflikten 
führte.  Da  wird  im  Jahre  1874  Armand  Freiherr  von  Dumreicher  mit 
dem  Referate  für  Angelegenheiten  des  gewerblichen  Unterrichtes  am 
Unterrichtsministerium  betraut,  der  schon  im  Jahre  1872  mit  seiner  Schrift 
„Die  Pflege  des  gewerblichen  Fortbildungs-  und  INIittelschulwesens  durch 
den  österreichischen  Staat"  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  ge- 
lenkt hatte.  Schon  ein  Jahr  nach  seinem  Dienstantritt  legt  er  den  Plan 
zu  einem  „industriellen  Schulsystem"  in  seinem  „Expose  über  die  Organi- 
sation des  gewerblichen  Unterrichts  in  Österreich"  vor,  und  dieser  Plan 
wird  die  Grundlage  des  Ausbaues  in  Österreich.  Nach  demselben  wird 
zunächst  eine  beschränkte  Anzahl  großer,  musterhaft  ausgestatteter  gewerb- 
licher Bildungsstätten  an  wenigen  Hauptpunkten  des  Reiches  geschaffen. 
Sie  sollen  die  Bildungszentren  werden,  von  denen  aus  mit  Erfolg  die  um- 
liegenden Landesteile  mit  mittleren  gewerblichen  Bildungsanstalten  ver- 
sehen werden  können,  die  dann  ihrerseits  wieder  den  Ausgangspunkt 
bilden  für  das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen  des  jeweiligen  Kron- 
landes. Schon  im  Jahre  darauf,  1876,  treten  neun  solche  Hauptmittel- 
punkte ins  Leben,  die  Staatsgewerbeschulen,  zu  denen  noch  die  bereits 
im  Jahre  1868  geschaffene  Kunstgewerbeschule  am  Museum  für  Kunst 
und  Wissenschaft  in  Wien  kommt,  das  1863  gegründet  war,  und  denen 
sich  alsbald  noch  das  technologische  Gewerbemuseum  in  Wien  mit  seinen 
zahlreichen  Fachschulen  im  Jahre  1879  anschließt.  Der  einheitliche  Plan 
des  Ausbaues  zog  in  wenigen  Jahren  die  Notwendigkeit  einer  einheitlichen 
Leitung  nach  sich.  Am  30.  Juli  1881  ergeht  die  Allerhöchste  Entschließung, 
daß  vom  Jahre  1882  an  sämtliche  dem  gewerblichen  Bildungswesen  ge- 
widmeten Kredite  im  Etat  des  Unterrichtsministeriums  vereinigt  und  von 
ihm  unter  Mitwirkung  des  Handelsministeriums  verwaltet  werden.  Es 
wird  eine  Zentralkommission  geschaffen  und  ein  Zentralblatt  für  gewerb- 
liches Unterrichtswesen  herausgegeben,  das  nicht  nur  den  Sammelpunkt 
aller  auf  das  gewerbliche  Unterrichtswesen  bezugnehmenden  Maßnahmen, 
sondern  auch  eine  Art  geistigen  Bandes  für  alle  Schuleinrichtungen  der 
Monarchie  bildet     Mit  den  Staatsgewerbeschulen,  welche  nicht  eigentlich 


264  Georg  Kerschenstkiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

eine  didaktische,  sondern  eine  administrative  Einheit  von  Fachschulen  für 
gewerbliche  Hauptgruppen  bilden  und  gewöhnlich  in  der  Landeshauptstadt 
des  betreffenden  Kronlandes  errichtet  sind,  werden  nun  die  Fachschulen 
für  die  einzelnen  gewerblichen  Zweige  des  betreffenden  Kronlandes  in 
Beziehung  gesetzt,  die  sich  auf  das  engste  den  Produktionsverhältnissen 
der  betreffenden  Orte  anschließen  und  daher  auch,  wie  die  Staatsgewerbe- 
schulen selbst,  in  ihrer  Ausgestaltung  sehr  verschieden  sind.  Den  staats- 
gewerblichen Schulen  und  Fachschulen  werden  wiederum  Fortbildungs- 
schulen angegliedert,  die  gleichsam  als  Musterfortbildungsschulen  wirken 
sollen.  War  so  wenigstens  an  den  wichtigsten  Orten  für  Ausbildung 
und  Fortbildung  gesorgt,  so  fehlte  es  noch  an  Schulgattungen,  welche 
eine  bessere  Vorbildung  für  den  Gewerbestand  mit  sich  gebracht  hätten. 
Diesem  Mangel  sollte  durch  allgemeine  Handwerkerschulen  abge- 
holfen werden,  meist  zweijährige  Schulen,  welche  unter  Einführung  von 
Werkstattunterricht  an  Stelle  der  beiden  letzten  Werktagsschuljahre  treten 
konnten.  Bis  zum  Jahre  1894  waren  deren  11  geschaffen.  Auch  mit  ihnen 
wurden  Fortbildungsschulen  verbunden.  Mit  der  Gründung  dieser  Hand- 
werkerschulen war  der  Organisationsplan  des  gewerblichen  Unterrichts- 
wesens abgeschlossen,  nun  galt  es  vor  allem  den  inneren  Ausbau  zu 
fördern.  Es  würde  zu  weit  führen,  auch  hier  der  rastlosen  Tätigkeit 
des  Unterrichtsministeriums  nachzugehen.  Man  wird  sich  auch  hier  mit 
einem  Zahlenbild  begnügen  müssen.  Im  Winter  1902  gab  es  in  Österreich 
etwa  1000  Fortbildungsschulen,  18  Handelsschulen,  11  allgemeine  Hand- 
werkerschulen, 180  Spezialfachschulen,  17  Staats-  und  2  Kunstgewerbe- 
schulen, sowie  2  technologisch-gewerbliche  Museen  (in  Wien  und  in  Prag) 
mit  ihren  zahlreichen  fachlich  gegliederten  Sektionen.  Der  Staatsvoran- 
schlag für  das  gewerbliche  Bildungswesen  in  Österreich  (mit  Ausschluß 
von  Ungarn)  betrug  1896  schon  5,15  Millionen  Kronen,  für  das  Jahr  1906 
beläuft  er  sich  auf  10,3  Millionen,  so  daß  sich  also  innerhalb  10  Jahren 
die  Ausgaben  für  das  gewerbliche  Bildung"swesen,  abgesehen  von  den 
Ausgaben  für  die  landwirtschaftlichen  und  für  die  technischen  Hoch- 
schulen, gerade  verdoppelt  haben. 
Die  Entwicklung  Werfen   wir   noch    einen   Blick   auf  Frankreich,    so    erhalten  wir    ein 

in  Österreich 

nach  1870.  drittes  eigenartiges  Bild  der  Entwicklung  des  gewerblichen  und  kauf- 
mämiischen  Fortbildungs-  und  Fachschulwesens.  Die  heutige  Ausgestaltung 
ist  im  wesentlichen  ein  Verdienst  der  dritten  Republik,  die  allerdings 
schon  eine  größere  Anzahl  von  Fachschuleinrichtungen  vorfand  als  das 
neue  Deutsche  Reich.  Auch  dieser  Ausgestaltung  liegt  deutlich  ein  festes 
System  zugrunde:  Man  baut  das  Fachschulwesen  gleichzeitig  von  unten 
imd  oben  aus,  das  niedere  Fachschulwesen  in  der  Erkenntnis,  „daß  eine 
gute  Meisterlehre  kaum  mehr  als  Ausnahmezustand  vorhanden  ist",  die 
oberen  Fachschulen  in  dem  Bewußtsein,  „daß  auch  für  technische  Offiziere, 
Ingenieure,  Baumeister  usw,  nicht  bloß  eine  ausgiebige  allgemeine  und 
theoretische,    sondern    auch    frühzeitig   eine    praktische   Schulung   nützlich 


VH.  Die  Entwickl.  d.  gcwerbl.  Erziehungswesens  inauQerdcutsch.  Staat  im  letzt.Viertel  d.  1 9.  Jahrh.     265 

und  notwendig  ist".  Weder  in  Deutschland  noch  in  Österreich  ist  daher 
der  Handarbeits-  und  Werkstattunterricht  so  verbreitet  wie  in  den  fran- 
zösischen Schulen.  Schon  in  den  Primärschulen  finden  wir  „l'atelier  dans 
l'ecole",  und  die  sich  ihnen  anschließenden  „cours  complementaires",  welche 
in  der  Mitte  der  achtziger  Jahre  für  jene  13 — 15jährigen  Knaben  entstehen, 
die  in  industrielle,  gewerbliche  oder  kaufmännische  Berufe  eintreten  wollen, 
betonen  den  praktischen  Unterricht  noch  stärker.  Diese  cours  comple- 
mentaires finden  wir  in  allen  Städten  Frankreichs.  Für  gewöhnlich  dauern 
sie  ein  Jahr,  bei  genügender  Schülerzahl  werden  sie  auf  zwei  Jahre  aus- 
gedehnt Mit  dem  certificat  d'etudes  complementaires,  bisweilen  auch  mit 
dem  einfachen  Volksschulentlassungszeugnis  versuchen  die  Schüler  nun 
den  Eintritt  in  eine  bessere  Lehre,  oder  lieber  noch  den  Zutritt  zu  einer 
Ecole  manuelle  d'apprentissage  zu  erreichen.  Solche  gewerbliche  Lehr- 
lingsschulen gibt  es  in  Frankreich  drei  Arten.  Zunächst  die  ^coles  pra- 
tiques  de  commerce  et  d'industrie,  die  1892  neu  gestaltet  wurden,  sich  auf 
dreijährige  Ausbildung  erstrecken  und  unter  Festhalten  des  Grundsatzes 
„l'ecole  dans  l'atelier"  ziemlich  gleichheitlich  im  ganzen  Lande  ein- 
gerichtet sind.  Der  Werkstattunterricht  ist  in  diesen  Schulen,  soweit  sie 
einer  gewerblichen  Abteilung  angehören,  auf  30  Wochenstunden  ausgedehnt. 
Ihre  Einrichtung  ist  Sache  der  Departements  und  Kommunen,  doch  zahlt 
der  Staat  bedeutende  Summen  für  die  Lehrerhonorare.  Im  Jahre  1900  gab 
es  deren  i^^,  teils  für  Knaben,  teils  für  Mädchen,  teils  für  beide  Geschlechter 
zusammen.  Neben  diesen  staatlich  anerkannten  gibt  es  auch  noch  eine 
sehr  große  Anzahl  nicht  anerkannter  Schulen  dieser  Gattung,  die  Ecoles 
publiques  et  libres  d'enseignement  technique.  Von  den  Ecoles  pratiques 
de  commerce  gehen  die  besseren  Schüler  häufig  in  die  zehn  bis  elf  !^coles 
superieures  du  commerce  über,  Fachschulen,  die  gleichzeitig  eine  allgemeine 
Bildung  wie  etwa  unsere  Oberrealschulen  vermitteln.  Für  die  höchste 
kaufmännische  Bildung  ist  dann  die  Handelshochschule  zu  Paris,  die  Ecole 
des  hautes  etudes  commerciales  geschaffen.  Die  zweite  Art  der  gewerb- 
lichen Lehrlingsschulen  stellen  die  Ecoles  primaires  superieures  pro- 
fessionnelles  dar,  die  je  nach  der  Landschaft  große  Verschiedenheiten 
zeigen  und  drei  bis  vier  Jahre  Tagesunterricht  umfassen.  Auch  von  ihnen, 
deren  Zahl  etwa  30  ist,  dient  ein  Drittel  der  gewerblichen  bzw.  kauf- 
männischen Ausbildung  der  Mädchen.  Ausgezeichnete  Schulen  dieser  Art, 
und  zwar  nicht  weniger  als  13,  nämlich  7  für  Knaben,  6  für  Mädchen, 
besitzt  die  Stadt  Paris;  der  laufende  Etat  dieser  Pariser  Schulen 
betrug  im  Jahre  1900  allein  mehr  als  zwei  Millionen  Francs.  Die 
dritte  Art  endlich  bilden  seit  1889  die  staatlichen  Gewerbeschulen,  die 
Ecoles  nationales  professionnelles,  die  eine  Verbindung  von  gewöhnlicher 
Volks-  und  höherer  Volksschule  sind,  in  denen  sich  der  gewerbliche 
Unterricht  „von  den  ersten  Jahren  an,  wo  er  fast  nichts  bedeutet,  bis 
zum  letzten  Semester  steigert,  wo  er  fast  allen  Platz  einnimmt".  Der 
Lehrling  verläßt  diese  Schulen  in  einem  Punkte  seiner  Entwicklung,  wo  ihm 


2  66  Georg  Kkrschensteiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

„nur  noch  die  Übung  des  Handwerks  fehlt,  um  Handwerker  zu  sein",  um 
nun  entweder  in  eine  Werkstatt  einzutreten,  oder  eine  eigentliche  Fach- 
schule zu  besuchen.  Man  erkennt  die  Ähnlichkeit  dieser  Schulen  nach 
Ausbau  und  Bestimmung  mit  den  österreichischen  allgemeinen  Handwerker- 
schulen. Ebenso  aber  wie  die  Zahl  dieser  ist  auch  die  Zahl  der  staat- 
lichen Gewerbeschulen  in  Frankreich  nicht  groß.  Im  Jahre  1900  existier- 
ten deren  nur  vier,  zu  Vierzon,  d' Armentieres,  Voiron  und  Nantes.  In  den 
drei  ersten  Schulen  wurden  von  1889  bis  1899  etwa  3200  Schüler  aus- 
gebildet. 

Mit  einem  Zeugnis  aus  den  beiden  ersten  gewerblichen  Schulen  kann 
sich  der  Schüler  nun  zu  den  Schulen  für  Kunst  und  Kimstgewerbe  melden, 
den  Ecoles  d'arts  et  metiers,  die  sich  zu  einer  Art  technischer  Mittelschulen 
entwickelt  haben  und  in  Frankreich  ziemlich  verbreitet  sind.  Die  Tüchtig- 
sten aus  diesen  Schulen  wiederum  finden  endlich  Aufnahme  in  die  Ecole 
centrale  des  arts  et  manufactures  zu  Paris,  die  etwa  einer  deutschen  tech- 
nischen Hochschule  gleichzuschätzen  ist. 

So  ist  ein  wirkungsvolles,  aufsteigendes  System  von  praktischen 
Schulen  geschaffen,  durch  welches  ein  technisch  und  industriell  begabter 
Volksschüler  die  höchste  Stufe  der  Ausbildung  erreichen  kann.  Da  der 
Eintritt  in  die  nächsthöhere  Schule  immer  vom  Bestehen  einer  Aufnahme- 
prüfung abhängig  gemacht  ist,  so  ist  auch  dafür  gesorgt,  daß  die  höheren 
Schulen  nicht  durch  Unbegabte  belastet  werden.  Dies  ist  nicht  der  ein- 
zige Unterschied  gegenüber  dem  technischen  Schulwesen  Deutschlands 
und  Österreichs.  Der  zweite,  vielleicht  noch  wichtigere  ist  das  scharf 
ausgeprägte  Prinzip  der  Lehrwerkstätten,  die  den  Schüler  durch  seine 
Vor-,  Aus-  und  Fortbildung  begleiten.  Ein  dritter  Unterschied  ist  wohl 
bereits  darin  erkannt,  daß  diese  technischen  Schulen  ebenso  für  Knaben 
wie  für  Mädchen  von  Staats  wegen  eingerichtet  sind  oder  doch  ausgiebig 
von  Staats  wegen  unterstützt  werden.  Beachtenswert  ist  weiter,  daß  nicht 
wenige  dieser  Schulen  mit  Internaten  verknüpft  sind,  wodurch  auch  für 
die  moralische  und  staatsbürgerliche  Erziehung  wesentlich  besser  gesorgt 
werden  kann,  als  in  Schulen  mit  Extematen. 

Außer  diesem  System  von  Schulen  bestehen  nun  natürlich  eine  sehr 
große  Menge  von  Fachschulen  aller  Art,  nicht  bloß  von  gewerblichen, 
sondern  auch  von  Handels-  und  Kunstschulen.  Insbesondere  sind  eine 
beträchtliche  Anzahl  von  Kunstschulen  (Ecoles  des  Beaux-Arts  appliqu^s 
ä  l'industrie,  ecoles  des  Arts  d^coratifs,  6coles  de  Dessin  g^ometrique, 
ecoles  des  Arts  industriels,  etc.)  im  ganzen  Lande  verbreitet.  Der  Staat 
unterstützt  gegenwärtig  nicht  weniger  als  300  solcher  Schulen,  die  man  wohl 
mit  den  ebenso  zahlreichen  englischen  Art-Day-Classes  vergleichen  kann. 

Was  das  Fortbildungsschulwesen  betrifft,  das  schon  in  den  sechziger 
Jahren  weit  vorgeschritten,  aber  dann  wieder  stark  zurückgegangen  war, 
so  entwickelte  es  sich  seit  dem  Dekret  vom  i.  Jan.  1895  wieder  in  stark 
ansteigender  Weise,  wenn  auch  in  anderem  Sinne  wie  in  Deutschland  und 


Vn.  Die Entwickl.  d. gewcrbl. Erziehangswcsensin außerdeutsch.  Staat.im letzt. Viertel d.  1 9.  Jahrh.     267 

Osterreich.  Es  sind  in  der  Hauptsache  Abendkurse  für  Erwachsene,  die 
sich  auf  alle  denkbaren  Unterrichtsfächer  erstrecken,  auf  allgemein  bildende, 
kaufmännische,  technische  Fächer,  auf  Zeichnen,  Modellieren,  ja  selbst  auf 
Singen.  Im  Jahre  1900  mochte  die  Zahl  dieser  Kurse  etwa  4500  betragen, 
ihre  Dauer  schwankt  zwischen  zwei  bis  vier  Monaten,  die  Zahl  der  Schüler 
erreichte  etwa  eine  Million. 

Von  den  übrigen  Ländern  mit  ausgebildetem  Fach-  und  Fortbildungs-  Di«  Entwick- 

,      -  .  ..,,.,,,.  .  lunc  in  anderen 

Schulwesen  ist  zunächst  die  Schweiz  zu  nennen,  die  sowohl  von  Deutsch-  ouropäUchen 
land  als  von  Frankreich  gelernt  und  seit  1884,  wo  der  Bund  zum  ersten- 
mal Zuschüsse  in  einer  Höhe  von  35  000  Francs  bewilligte,  mit  großer  Tat- 
kraft ihr  Fachschulwesen  ausbaut.  Ein  Bild  von  dem  Wachstum  dieses 
Schulwesens  mag  die  eine  Bemerkung  geben,  daß  der  Bund  heute  das 
Dreißigfache  von  dem  zum  gewerblichen  Schulwesen  der  Kantone  zu- 
schießt, was  er  im  Jahre  1884  zum  erstenmal  bewilligt  hatte,  wobei  er 
lediglich  Ein  Drittel  der  auf  dieses  Schulwesen  fallenden  Ausgaben  über- 
nimmt, während  Kantone  und  Gemeinden  für  die  beiden  andern  Drittel 
aufzukommen  haben.  Da  jeder  Kanton  seine  eigene  unabhängige  Schul- 
organisation hat,  so  ist  das  Bild  des  Fach-  und  Fortbildungsschulvvesens 
beinahe  noch  verwickelter  als  in  Deutschland.  Im  allgemeinen  steht  es 
aber  hinter  demselben  nicht  wesentlich  zurück. 

In  Dänemark  ist  besonders  das  ländliche  Fortbildungsschulwesen  in 
Verbindung  mit  der  ländlichen  Volkshochschule  so  hoch  entwickelt, 
daß  man  es  auch  als  mustergültig  für  Deutschland  bezeichnen  könnte. 
Das  Ziel  der  dänischen  Volkshochschulen  ist  ein  durchaus  nationales,  nicht 
etwa  ein  praktisch-nützliches.  Man  will  Bürger  und  Bürgerinnen  erziehen, 
welche  die  Kulturaufgaben  des  eigenen  Staates  verstehen  lernen  imd 
diesen  nach  Maßgabe  ihrer  Kräfte  einen  Teil  ihres  Lebens  widmen. 
Gegenwärtig  besitzt  das  kleine  Dänemark  über  70  solcher  Schulen,  die 
bisher  von  etwa  100  000  dänischen  Landbewohnern,  das  ist  vom  fünften 
oder  sechsten  Teil  der  hier  in  Betracht  kommenden  Bevölkerung  besucht 
worden  sind. 

In  Rußland  beginnt  die  Entwicklung  des  technischen  Schulwesens 
erst  1888,  nachdem  bereits  1883  dem  Schulrat  des  Unterrichtsministeriums 
eine  Sektion  für  technischen  und  gewerblichen  Unterricht  angegliedert 
worden  war.  Nach  dem  von  dieser  Sektion  ausgearbeiteten  Plane  wurden 
drei  Tj^jen  geschaffen:  technische  Sekundärschulen,  technische  Primär- 
schulen und  Meisterschulen.  Die  erste  Gruppe  hatte  den  Zweck,  höhere 
technisch  und  wissenschaftlich  gebildete  Hilfsarbeiter  zu  liefern,  die  zweite 
sollte  Werkmeister  und  Aufseher  für  größere  Betriebe  heranbilden,  wäh- 
rend die  dritte  Gruppe  bestimmt  war,  Handwerker  zu  befähigen,  ihre 
Arbeit  mit  Verständnis  zu  tun.  Für  die  Zulassung  zu  einer  Schule  der 
ersten  Gruppe,  die  etwa  in  die  Kategorie  unserer  deutschen  Maschinen- 
bauschulen zu  zählen  wären,  wurde  das  Zeugnis  der  fünften  Klasse  einer 
Realschule   verlangt.     Diese  Gruppe  umfaßt  fünf  Gattimgen:   Schulen  für 


2  58  Georg  Kf.rschensteiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschuhvesen. 

Maschinenwesen,  Chemie,  Hochbau,  Ackerbau,  Hüttenkunde.  Die  zweite 
Gruppe,  zu  deren  Besuch  das  Zeugnis  einer  Stadtschule,  Distriktsschule 
oder  zweiklassigen  Landschule  nötig  ist,  umfaßt  drei  Gattungen:  Hochbau, 
Maschinenwesen,  Chemie.  Die  dritte  Gruppe  endlich,  zu  der  jeder  zugelassen 
wird,  der  lesen  und  schreiben  kann,  beschränkt  sich  auf  praktischen 
Maschinenbau  und  auf  Holz-  und  Metallbearbeitung.  Sobald  der  Plan 
genehmigt  war,  im  Jahre  1888,  bestimmte  die  Unterrichtsbehörde  31  Orte 
des  Reiches,  an  denen  40  solcher  Schulen  eingerichtet  wurden.  Fünf 
Jahre  später  wurde  der  Plan  durch  Lehrlingsschulen  und  niedere  Meister- 
schulen, erstere  nach  dem  Muster  der  französischen  Ecoles  nationales  pro- 
fessionnelles  oder  der  österreichischen  Handwerkerschulen,  letztere  als 
ausgesprochene  Fachschulen  für  verschiedene  Gewerbe  mit  ausschließlich 
praktischem  Unterricht  und  mit  dem  Zweck,  das  Kleingewerbe  auf  dem 
Lande  zu  fördern,  erweitert.  Im  Jahre  igoo  zählte  Rußland  bereits  190 
industrielle  Schulen,  darunter  18  technische  Sekundärschulen,  20  technische 
Primärschulen,  22  Meisterschulen,  15  Lehrlingsschulen,  48  niedere  Meister- 
schulen, 67  sonstige  Fachschulen.  Nicht  weniger  als  117  dieser  Schulen 
waren  erst  nach  1888  ins  Leben  gerufen.  Man  ersieht  hieraus,  daß  auch 
Rußland  in  den  letzten  20  Jahren  keine  geringe  Energie  entfaltet  hat,  und 
wenn  heute  das  große  Reich  auch  noch  stark  hinter  den  westeuropäischen 
Nachbarn  zurücksteht,  so  würde  sich  doch  bei  Beibehaltung  des  einmal 
eingeschlagenen  Tempos  die  technische  und  gewerbliche  Kultur  verhältnis- 
mäßig rasch  der  unserigen  nähern.  Um  die  Mädchen-  und  Frauenbildung 
dagegen  kümmert  sich  der  russische  Staat  zurzeit  noch  sehr  wenig.  Zwar 
zählt  der  Bericht  für  die  Weltausstellung  in  Paris  etwa  250  Mädchen- 
fortbildungs-  und  -fachschulen  auf,  aber  sie  sind  ausschließlich  auf  private 
Mittel  angewiesen.  Auch  ein  Fortbildungsschulwesen  ist  im  großen  und 
ganzen  so  gut  wie  gar  nicht  vorhanden. 

In  England  haben  sich  die  bereits  früher  erwähnten  Schools  of  Art, 
die  Art  Night  Classes  und  die  sonstigen  Evening  Continuation  Schools, 
sowie  die  Evening  und  Day  Technical  Schools  unaufhörlich  weiter  ent- 
wickelt. Um  nur  ein  Beispiel  zu  geben,  sei  bemerkt,  daß  nach  dem 
Bericht  von  1903  in  London  allein  nicht  weniger  als  376  Evening  Con- 
tinuation Schools,  die  dem  School  Board  für  London  unterstellt  sind, 
für  beide  Geschlechter  eingerichtet  waren.  Ihre  Kurse  erstreckten 
sich  auf  die  verschiedensten  Gebiete  der  Geschichte,  Geographie,  Natur- 
wissenschaften, Nationalökonomie,  der  Handelswissenschaften,  der  bilden- 
den Künste,  der  Handfertigkeit,  Technik,  der  Musik,  der  alten  und 
neuen  europäischen  Sprachen,  und  viele  dieser  Kurse  gaben  nicht  bloß 
theoretischen,  sondern  auch  praktischen  Unterricht.  Daneben  hatte  aber 
auch  der  Technical  Education  Board  von  London  eine  staunenswerte  Tätig- 
keit entfaltet.  An  den  ihm  unterstellten  26  polytechnischen  und  größeren 
technischen  Instituten,  die  selbst  schon  neben  zahlreichen  secondary  schools 
mit  Laboratorien  und  Werkstätten  eine  große  Organisation  für  technische 


VII.  Die Entwickl.d.gewcrbl.Erzichungswesensin außerdeutsch. Staat. im leUt.Vicitcld.  ig.Jahrh.     260 

Erziehung  darstellen,  waren  1904  für  64  Gewerbe  und  Techniken  313  Klassen 
mit  Werkstattunterricht  eingerichtet.  Die  Abendkurse  am  Polytechnic  in 
der  Regent-Street  sollen  allein  von  etwa  10 — 12  000  Schülern  jährlich  be- 
sucht sein.  Der  Unterricht  in  manchen  dieser  Abendfortbildungsschulen 
geht  sehr  weit;  in  den  Fortbildungsklassen  des  Kings  College  zu  London 
kann  man  sich  bis  zum  Examen  an  der  Universit}'^  of  London  vorbereiten, 
die  freilich  nicht  mit  unsern  deutschen  Universitäten  zu  vergleichen  ist 
Einzelne  Abendschulen  sind  auch  mit  Schwimmhallen,  Spielplätzen  und 
andern  Sportgelegenheiten  ausgestattet.  Im  Schuljahre  1902/3  waren  die 
sämtlichen  Abendschulen  der  Stadt  London  von  nicht  weniger  als  rimd 
657000  Schülern  besucht,  von  denen  2  2'yo  zwischen  12  und  15  Jahre, 
53  7o  zwischen  15  und  20  Jahre  und  2  5<'/g  über  20  Jahre  alt  waren.  Diese 
Ziffern  übertreffen  bei  weitem  die  Ziffern  der  Abendschulen  von  Paris, 
Berlin,  Wien. 

Eine  kurze  Schilderung  des  eigentlichen  Fachschulwesens  von  Eng- 
land zu  geben  ist  unmöglich.  Es  ist  noch  viel  weniger  einheitlich 
gestaltet  als  in  Deutschland  und  in  der  Schweiz.  Fachschulen  mit 
geschlossenem,  für  alle  Schüler  verbindlichem  Plan  gibt  es  nur  wenige. 
Das  ganze  englische  Schulwesen  ist  geradezu  charakterisiert  durch  die 
Wahlfreiheit  der  Unterrichtsfächer.  Dadurch,  daß  eine  große  Zahl  der 
Mittelschulen  nicht  nur  Zeichenunterricht  aufweist,  sondern  mit  Labo- 
ratorien und  Werkstätten  ausgerüstet  ist  (in  London  allein  gegen  50)  im 
Gegensatz  zu  Deutschland,  hat  das  Fachschulwesen  einen  bedeutenden 
Umfang  angenommen.  Einzelne  dieser  Schulen  sind  direkt  als  Experi- 
mental  Day  Schools  eingerichtet.  Nicht  wenig  haben  die  Gesetze  von 
1889  und  1891  zu  dieser  Entwicklung  beigetragen,  wonach  die  Verwalttmgs- 
beh Orden  in  einem  mäßigen  Umfang  Steuern  erheben  konnten,  um  die 
gewerbliche  Erziehung  zu  fordern,  und  vor  allem  das  Gesetz  von  1890, 
wonach  Überschüsse  der  Getränksteuem  den  Selbstverwaltungsbehörden 
zum  größten  Teil  zum  Unterhalte  von  gewerblichen  Schulen,  von  Werk- 
stätten und  Laboratorien  zugewiesen  wurden.  Im  Jahre  1894  sollen  von 
diesen  Überschüssen  nach  der  Mitteilung  Roschers  nicht  weniger  als 
11,5  Millionen  Mark  dem  gewerblichen  und  technischen  Unterrichte  zu- 
geflossen sein,  wobei  man  beachten  muß,  daß  es  sich  hier  fast  ausschließ- 
lich nur  um  Zuschüsse  und  nicht  um  vollständigen  Unterhalt  von  Schulen 
handelt  Ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  dieser  Mittel  wird  zu  „scholar- 
ships",  zu  Schulstipendien  verwendet,  die  bis  zu  1200  Mark  betragen 
können  und  entweder  vom  Science  and  Art  Department,  oder  vom  Tech- 
nical Education  Board  verteilt  werden,  einer  Schulbehörde,  die  am 
30.  August  1889  zur  Pflege  der  gewerblichen  Erziehung  geschaffen  worden 
war.  Der  Stadt  London  wurden  im  Jahre  1900  ungefähr  3  Millionen  Mark 
von  dieser  vSchulbehörde  für  gewerbliche  Schulen  und  für  scholarships 
zur  Verfügung  gestellt. 

In   Amerika    sind  vor    allem    die    Manual  Training    Schools    und    die    ''^  Ä^eHk^^ 


2'jo  Georg  KerSCHENSTEINER :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

Manual  Training  High  Schools  entwickelt,  eine  Art  von  Mittelschulen,  die 
man  am  besten  vielleicht  mit  den  französischen  Ecoles  pratiques  und 
Ecoles  superieures  bzw.  den  Ecoles  des  arts  et  m^tiers  vergleichen  kann, 
wenigstens  in  bezug  auf  das  Ziel,  das  sie  verfolgen.  Unter  den  587  Städten 
über  8000  Einwohner,  welche  Amerika  im  Jahre  1903  zählte,  hatten  322 
Manual  Training  als  Unterrichtsgegenstand  in  verschiedenen  ihrer  öffent- 
lichen Schulen,  darunter  waren  etwa  180,  die  hauptsächlich  dem 
Manual  und  Industrial  Training  gewidmet  waren.  Man  behauptet,  der 
amerikanische  Arbeiter  liebe  im  allgemeinen  die  „Sackgasse"  der  Fach- 
schule nicht.  Er  sucht  Mittelschulen  auf,  die  ihm  neben  einer  tüchtigen 
praktischen  Ausbildung  auch  eine  nicht  unbeträchtliche  allgemeine  ge- 
währen, damit  er  die  ganze  Leiter  bis  zur  Hochschule  emporsteigen  kaim, 
je  nach  seiner  Begabung.  Solche  Manual  Training  Schools  oder  Industrie- 
schulen, wie  wir  sie  nennen  könnten,  sind  in  vielen  Staaten  Nordamerikas 
gesetzlich  angeordnet.  In  Massachusetts  muß  sogar  jede  Stadt  von  200000 
Einwohnern  eine  Manual  Training  High  School  einrichten.  Sie  existieren 
nicht  bloß  für  Knaben,  sondern  auch  für  Mädchen  und  gewähren  nicht  selten 
dem  Schüler  eine  nicht  unbeträchtliche  Freiheit  in  der  Wahl  der  Unter- 
richtsgegenstände. Der  gleiche  Staat  unterstützt  Webeschulen  mit  25000 
Dollar,  wenn  die  Städte  das  Doppelte  beitragen.  Eine  ganz  bedeutende 
Unterstützung-  findet  das  gewerbliche  und  landwirtschaftliche  Schulwesen 
durch  die  nordamerikanische  College  Land  Grant  Bill  vom  2.  Juli  1862, 
wonach  jeder  Staat  der  Union  verpflichtet  ist,  zur  Einrichtung  solcher 
Schulen  unentgeltlich  das  entsprechende  Bauterrain  abzug'eben.  Für  die 
dadurch  geförderten  Mechanical  and  Agricultural  Colleges  waren  bis  1902 
nicht  weniger  als  10,320843  acres  bewilligt  worden.  Sie  zählten  1902 
rund  47  000  Schüler.  Gleichwohl  gibt  es  nach  Kreuzpointners  Bericht  in 
Amerika  nur  eine  einzige  ausschließlich  aus  öffentlichen  Steuern  erhaltene 
eigentliche  Fachschule.  Für  die  kaufmännische  Bildung  dagegen  sind 
nach  dem  Bericht  von  igoi  eigene  Business  Schools  and  Colleges  vor- 
handen, und  zwar  die  bedeutende  Zahl  von  520  mit  137000  Schülern,  wozu 
noch  rund  4200  weitere  Schulorganisationen  kommen,  in  denen  nebenbei 
auch  kaufmännische  Fächer  gelehrt  werden.  Eine  höchst  merkwürdige 
Art  von  Schulen  für  beruflichen  Unterricht  hat  sich  in  den  letzten 
Jahren  infolge  des  Mangels  an  speziellen  Fachschulen  entwickelt,  die 
sogenannten  Korrespondenzschulen,  deren  größte  die  Schule  in  Scranton 
ist,  die  etwa  13  Jahre  besteht  und  ihren  Unterricht  durch  400  Lehrer  und 
Assistenten  brieflich  erteilt.  Dieser  briefliche  Unterricht  erstreckt  sich 
auf  alle  erdenklichen  Unterrichtsgebiete  der  Architektur,  der  Chemie,  der 
Ingenieurwissenschaften,  des  Handels,  des  Zeichnens,  der  Mathematik,  der 
Sprachen,  der  Maschinenbaukunde,  der  Elektrotechnik,  der  Hygiene  usw. 
Von  den  gegenwärtig-  angemeldeten  Schülern  nehmen  auf  dem  Wege  des 
schriftlichen  Verkehrs  20%  Zeichnungsunterricht,  18%  treiben  Elektro- 
technik,   i87o    Handelswissenschaft.      Seit    Bestehen    der    Scrantonschule 


Vni.  Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerblichen  Erziehungswesens  in  Deutschland.     2  7  I 

sind  angeblich  über  %  Million  Schüler  aufgenommen  und  an  */^  Millionen 
Lektionen  durchgesehen  worden.  Kreuzpointner  betrachtet  sie  als  Not- 
brücken über  einen  1-luß,  welcher  sein  Bett  unerwartet  erweitert  und  ver- 
tieft habe  und  auf  irgend  eine  Weise  überschritten  werden  müsse,  bis  die 
Verhältnisse  es  erlauben  würden,  eine  zuverlässigere  Verbindung  beider 
Ufer  herzustellen.  Gleichwohl  würde  uns  Deutschen,  obwohl  wir  durch 
unsere  Schulen  der  Buchgelehrsamkeit  nicht  gerade  verwöhnt  sind,  eine 
solche  Papierbrücke  durchaus  ungangbar  erscheinen. 

So  finden  wir  in  allen  Kulturstaaten  heute  einen  regen  Wetteifer  in  Di«  Mannig- 
der  Ausgestaltung  ihres  gewerblichen  Schulwesens.  Die  meisten  gehen  Sch^gattungen 
hierbei  völlig  selbständig  vor,  indem  sie  sich  den  Bedürfnissen  ihrer""  <:"»««" 
übrigen  Schulorganisation,  ihrer  Industrie,  ihres  Handels  und  den  Formen 
der  durch  frühere  soziale  Tätigkeit  geschaffenen  Schulen  anpassen.  Daher 
sehen  wir  in  den  verschiedenen  Ländern  eine  Mannigfaltigkeit  der  Schul- 
formen, die  im  allgemeinen  Volks-,  Mittel-  und  Hochschulwesen  auch 
nicht  entfernt  anzutreffen  ist.  Hier  sind  die  einzelnen  Institutionen  ver- 
schiedener Länder  noch  vergleichbar.  Im  technischen,  gewerblichen,  kauf- 
männischen imd  landwirtschaftlichen  Schulwesen  ist  aber  meist  jeder  Ver- 
gleich ausgeschlossen  oder  doch  nur  annähernd  zulässig.  In  Deutschland 
und  in  der  Schweiz,  wo  einheitliche  Unterrichts-  und  Organisationspläne 
weder  in  einzelnen  Staaten,  noch  viel  weniger  im  ganzen  Bundesgebiete 
vorhanden  sind,  wird  diese  Mannigfaltigkeit  geradezu  verwirrend.  Dabei 
sind  nicht  nur  die  Arten  der  Schulen  sehr  zahlreich,  sondern  auch  inner- 
halb der  einzelnen  Arten  gibt  es  viele  und  sehr  verschiedenartige  Stufen. 

VIII.  Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerb-  Die  gcgen- 
lichen  Erziehungswesens  in  Deutschland.  Fassen  wir  zu-  bUdülgss^df- 
nächst  das  deutsche  Fortbildungsschuhvesen  ins  Auge.  In  die  Gattung ^""''^^'"''"'°' 
dieser  Schulen  fallen  die  kaum  irgendwie  kulturell  wertvollen,  wöchent- 
lich zwei-  oder  gar  nur  einstündigen  allgemeinen  obligatorischen  Fort- 
bUdungs-  und  Sonntagsschulen  der  süddeutschen  Staaten,  ebenso  aber 
die  auf  zwei  bis  vier  Semester  sich  erstreckenden  Tagesklassen  der 
Berliner  Handwerker-  oder  der  Münchener  Gewerbeschulen,  die  sich 
bereits  den  Fachschulklassen  der  österreichischen  Staatsgewerbeschulen 
annähern,  oder  die  ein-  bis  zweijährigen  Tagesfortbildungsschulen  Bayerns, 
die  schon  den  Charakter  einer  gehobenen  Volks-  oder  Bürgerschule 
haben.  Dazwischen  liegen  zunächst  alle  mögUchen  gewerblichen  oder 
auch  allgemeinen  Fortbildungsschulen  deutscher  Städte,  ohne  berufliche 
Gliederung  aber  wenigstens  mit  einem  wöchentlich  vier-  bis  sechs- 
stündigen Unterricht,  die  teils  auf  freiwilligen,  teils  auf  obligatorischen 
Besuch  eingerichtet  sind,  deren  Unterrichtszeit  in  der  einen  Stadt  auf  den 
Tag,  in  der  anderen  auf  den  Abend  nach  Schluß  der  Werkstatt  gelegt 
ist,  die  sich  das  eine  Mal  nur  auf  Unterrichtsfächer  der  Volksschule  be- 
schränken,  das   andere  Mal  Zeichnen,  gewerbliches   oder   kaufmännisches 


2  72  Georg  Kerschensteiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschuhvcsen. 

Rechnen  und  Buchführung  mit  in  den  Plan  hereinziehen,  die  in  dem  einen 
Lande  mit  ausgebildeten  Fortbildungsschullehrkräften  arbeiten,  in  dem 
anderen  Lande  das  Lehrpersonal  nehmen,  woher  sie  es  bekommen.  Weiter 
liegen  dazwischen  die  nach  Berufsgruppen  getrennten  Fortbildungsschulen 
mit  wöchentlich  sechs-  bis  achtstündigem  obligatorischen,  seltener  frei- 
willigen Unterricht,  wie  wir  sie  zunächst  in  den  gut  entwickelten  badischen 
Gewerbeschulen  mit  Werkstättenbetrieb  oder  im  System  der  Leipziger 
Fortbildungsschulen  ohne  solchen  Betrieb  vorfinden.  Abermals  aufsteigend 
treffen  wir  sodann  auf  die  acht-  bis  zwölfstündigen,  nach  einzelnen  Be- 
rufen scharf  gegliederten  obligatorischen  Fortbildungsschulen  für  Lehrlinge 
der  Stadt  München,  die  nicht  nur  Fachzeichnen,  gewerbliches  und  kauf- 
männisches Rechnen  und  Buchfülirung,  sondern  auch  Hygiene  und  staats- 
bürgerlichen Unterricht,  vor  allem  auch  praktischen  Werkstattunterricht 
in  ihren  Lehrplan  aufgenommen  haben,  und  die  in  eigens  eingerichteten, 
mit  zahlreichen  Ateliers,  Werkstätten  und  Laboratorien  versehenen  Zentral- 
schulgebäuden ihren  Unterricht  erhalten.  Daneben  finden  wir  wieder 
freiwillig'e  Fortbildungsschulen,  wie  die  Berliner,  die  nach  Art  der  fran- 
zösischen cours  d'adultes  oder  englischen  Evening  und  Continuation  Schools 
in  einzehien  Abendkursen,  deren  viele  in  einem  Volksschulgebäude  ver- 
einigt sind,  alle  möglichen  Gegenstände  des  menschlichen  Wissens  be- 
handeln, oder  die  Sonntags-  und  Abendklassen  der  preußischen  Hand- 
werkerschulen und  württembergischen  Gewerbeschulen,  die  sich  auf  alle 
möglichen  Arten  des  Zeichnungsunterrichtes  für  die  verschiedensten  Ge- 
werbe beschränken.  Neben  den  Lehrlingsfortbildungsschulen,  die  bald  ein, 
bald  zwei,  bald  drei  Jahre  dauern  oder  sich  auf  die  ganze  Lehrzeit  er- 
strecken, finden  sich  dann  wieder  Fortbildungsschulen  für  Gehilfen  und 
Meister,  wie  sie  an  den  Münchener  Gewerbeschulen  oder  an  den 
Kunst-  und  Handwerkerschulen  Deutschlands,  besonders  an  den  zwei 
großen  .Berliner  Handwerkerschulen  eingerichtet  sind,  die  nun  wieder 
fast  ebenso  mannigfaltig  ausgestaltet  sind,  wie  die  Lehrlingsfortbildungs- 
schulen und  nach  verschiedenen  Richtungen  sich  den  eigentlichen  Fach- 
schulen nähern. 
Die  gegen-  Noch  buntfarbiger    als    das   Fortbildungsschulwesen  für  Ivnaben  und 

wäxti^rcQ  Fort- 

biidungsschui-  Männer  ist  das  für  Mädchen  und  Frauen,  das  ja  zumeist  der  Privatunter- 
Mädchen,  nehmung  anheimgestellt  ist  und  sich  darum  mit  fast  jedem  Privatunter- 
nehmer auch  in  seinem  Ausbau  ändert.  Da  gibt  es  einfache  Schulen 
mit  geschlossenem  Lehrplan,  der  entweder  bloß  die  Lehrgegenstände 
der  Volksschule  oder  die  Vorbereitung  für  irgend  einen  spezifischen  Beruf 
des  Weibes  ins  Auge  faßt.  Bald  sind  sie  obligatorisch,  bald  fakultativ, 
bald  Tages-  bald  Abendschulen,  bald  erstrecken  sie  sich  auf  wenige 
Wochenstunden  und  wenige  Monate,  bald  nehmen  sie  den  Charakter  einer 
Mittelschule  an,  dehnen  sich  auf  mehrere  Semester  aus  und  bewegen  sich 
in  Aufgaben  und  Ausbau  in  der  Richtung  einer  höheren  Töchterschule. 
Zu    allermeist  aber  verfolgen   sie   das  Ziel  einer  Spezialfachschule   in   der 


Vm.  Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerblichen  Erziehungswesens  in  Deutschland.     273 

Richtung  eines  typisch  weiblichen  Berufes.  Zu  diesen  einfachen  Schulen 
gehören  beispielsweise  die  bayerische  Sonntags-  und  Wochenschule,  die 
badische  Fortbildungs-  und  Haushaltungsschule,  die  verschiedenen  und 
zahlreichen  Koch-  und  Haushaltungsschulen  in  den  Gemeinden  des  Deut- 
schen Reiches,  die  Pflegerinnenschule  des  badischen  Frauenvereins,  die 
Kindergärtnerinnenschulen,  die  württembergischen  Frauenarbeitsschulen. 

Dann  gibt  es  zusammengesetzte  Schulen  mit  geschlossenem,  für 
alle  Schüler  verbindlichem  Lehrplan,  der  die  verschiedenen  spezifischen 
Aufgaben,  die  in  der  Richtung  des  hauswirtschaftlichen  und  mütterlichen 
Berufes  liegen,  gleichzeitig  ins  Auge  faßt.  Als  Beispiele  seien  die  weiblichen 
Fortbildungsschulen  der  Stadt  München,  das  Pestalozzi  -  Fröbelhaus  in 
Berlin,  das  laiise-  und  Comeniushaus  in  Kassel  angeführt. 

Endlich  gibt  es  —  und  das  ist  namentlich  in  den  größeren  deutschen 
Städten  —  eine  sehr  verbreitete  Grruppe,  zusammengesetzte  Schulen  mit 
offenem,  nicht  für  alle  Schülerinnen  verbindlichem  Lehrplan,  die  ihrer 
Organisation  vielfach  auch  die  Vorbereitung  für  andere,  als  gerade  weib- 
liche Berufe  angliedern.  Hierher  gehören  beispielsweise  die  meisten 
städtischen  Berliner  Fortbildungsschulen  oder  die  wohlentwickelte  städtische 
Fortbildungsschule  in  Leipzig.  Die  Wahl  der  Unterrichtsfächer  steht 
in  den  meisten  dieser  Schulen  den  Mädchen  gewöhnlich  frei.  Der 
Unterricht  erstreckt  sich  auf  Deutsch,  Rechnen,  Buchführung,  Schön- 
schreiben, Zeichnen,  Gesundheitslehre,  Handarbeit,  Gesang,  Turnen,  Schnei- 
dern, Putzmachen,  Maschinenähen,  Plätten,  Kochen;  dann  aber  auch  auf 
Englisch,  Französisch,  Stenographie,  Geschichte,  Geographie,  Kunst- 
geschichte usw.  Die  meisten  Kurse  sind  am  Abend,  und  so  hat  diese 
Art  der  Fortbildungsschulen  ganz  den  Charakter  der  französischen  cours 
d'adultes  oder  der  englischen  Evening  oder  Continuation  Schools. 

Im  ganzen  und  großen  läßt  sich  heute   im  Deutschen  Reich  eine  be-  ^"  ^"  ""T"' 

^  ^  tende  zukünftige 

Stimmte  Tendenz  in  der  Richtung  des  Ausbaues  der  männlichen  und  weib-  Typ»»  der  Fort- 
liehen  Fortbildungsschulen  erkennen.  Was  angestrebt  wird  für  die  Fort- 
bildung der  großen  Massen  des  Volkes,  ist  unbeschadet  des  Ausbaues  der 
zahlreichen  sonstigen  Arten  dieser  Schulgattung  für  die  Kxiaben  die  be- 
ruflich gegliederte,  obligatorisch  auf  die  ganze  Dauer  der  Lehrzeit  oder 
doch  bis  zum  18.  Lebensjahr  ausgedehnte  Fortbildungsschule  mit  wöchent- 
lich mindestens  sechs-  bis  achtstündigem  Tagesunterricht,  für  die  Mädchen 
eine  obligatorische  wöchentlich  wenigstens  sechsstündige,  mindestens  auf 
drei  Jahre  ausgedehnte  Fortbildungsschule,  welche  die  Ausbildung  für  den 
weiblichen  Beruf  als  Hausfrau  und  Mutter  ins  Auge  faßt.  Immer  mehr 
hat  sich  gezeigt,  daß  nur  solche  Fortbildungsschulen  eine  nennenswerte 
Zugkraft  auf  die  Masse  ausüben,  deren  Unterricht  in  der  Richtung  des 
zukünftigen  Berufes  der  Schüler  geht.  Immer  mehr  drängt  sich  auch  die 
Überzeugung  auf,  daß  diese  berufliche  Fortbildung  der  Knaben  im  wirt- 
schaftlichen, imd  die  der  Mädchen  im  sozialen  Interesse  geradezu  unentbehr- 
lich ist.     Immer  mehr  erkennt  man,   daß  nur  Schulen  mit  solchem  Lehr- 

DiB  Kultur  der  Gegenwart.    I.  i.  i8 


274 


Gkorg  Kerschknstkiner  :  Das  Fach-  und  Kortbildungsschulwesen. 


plan  einen  nennenswerten   erzieherischen  Einfluß   auf  die  Massen  ausüben 
können. 
Fortbiidungs-  Die    heutige  Arbeitsteilung    im    Gewerbe,    der    erbitterte  Kampf  der 

Meisterlehre.  Konkurrenz,  die  mehr  als  jahrhundertelange  Vernachlässigung  der  Aus- 
bildung des  Handwerkerstandes  hat  eine  allseitige  und  gründliche  Lehrlings- 
ausbildung mehr  und  mehr  unmöglich  gemacht.  Frankreich  ist  dadurch  zu 
seinen  Ecoles  d'apprentissages  geführt  worden.  Ob  es  hiermit  den  rich- 
tig-en  Weg  eingeschlagen  hat,  wird  die  Zukunft  lehren.  In  Osterreich  und 
in  der  Schweiz  ist  die  Vermehrung  der  Lehrwerkstätten  für  Lehrlinge 
bereits  ins  Stocken  geraten,  die  allgemeinen  Handwerkerschulen  Öster- 
reichs sind  seit  zehn  Jahren  nicht  mehr  vermehrt  worden.  In  Deutschland 
hat  sich  das  System  der  Lehrwerkstätten,  ausgenommen  für  Maschinenbau 
und  Weberei,  noch  wenig  entwickelt.  Der  von  Österreich  mit  großer 
Energie  eingeschlagene  Weg,  zunächst  die  Meisterlehre  durch  Gewerbe- 
museum, Meisterkurse,  Fachschulen,  durch  Prämien  für  g-ute  Lehrlings- 
ausbildung usw.  zu  heben,  ist  billiger,  und  vielleicht  ■ —  wir  können  das 
heute  allerdings  noch  nicht  entscheiden  -^  ebenso  wirkungsvoll,  freilich 
erst  dann,  wenn  eine  beruflich  gegliederte,  wohlausgebaute  obligatorische 
Lehrlingsfortbildungsschule  ihr  zur  Seite  steht,  welche  sowohl  für  all- 
gemeine als  auch  für  allseitig  fachliche  Ausbildung  Sorge  trägt  während 
der  ganzen  Dauer  der  Lehrzeit.  Die  Hebung  der  Meisterbildung-  ist  in 
fast  allen  großen  deutschen  Staaten  in  der  gleichen  Weise  wie  in  Öster- 
reich in  Angriff  genommen,  wenn  uns  auch  so  vortreffliche  Zentralen  wie 
das  technologische  Gewerbemuseum  in  Wien  und  Prag'  hierfür  mangeln. 
Baden  hat  vor  etwa  20  Jahren  damit  den  Anfang  gemacht.  Zur  Hebung 
der  Meisterlehre  reicht  aber  die  Fürsorge  um  die  Ausbildung-  der  Gehilfen 
und  Meister  durch  besondere  Meisterkurse,  ja  auch  das  Prämiensystem 
nicht  aus.  Erziehen  fordert  Opfer  vom  Erzieher;  erziehen  ist  eine  altru- 
istische Aufgabe,  die  nur  aus  einem  von  Einsicht  getragenen,  starken 
Gemeinsamkeitsgefühl  herauswächst.  Das  Handwerkergesetz  vom  Jahre 
i8g7  hat  dieses  fast  erloschene  Gemeinsamkeitsgefühl  wieder  anzufachen 
gesucht.  Indem  es  den  Innungen  und  Handwerkskammern  wieder  die 
Erfüllung  ihrer  Erziehungsaufgaben  zur  Pflicht  macht,  hat  es  das  beste 
Mittel  gewählt,  dieses  Gemeinsamkeitsgefühl  zu  immer  größerem  Leben 
zu  erwecken  und  nicht  bloß  in  egoistische,  sondern  auch  altruistische 
Bahnen  zu  lenken.  Die  Lehrlingsfortbildungsschule  soll  und  muß  das 
Mittel  sein,  der  Erziehungsaufgabe  sowohl  als  auch  der  Stärkung"  des  Ge- 
meinsamkeitsgefühls zu  dienen.  Das  ist  nur  möglich,  wenn  die  beruflichen 
Organisationen  aller  Art,  mög'en  sie  nun  dem  Gewerbe,  dem  Handel,  der 
Industrie,  der  Landwirtschaft  angehören,  auf  das  innigste  mit  den  Aufgaben 
einer  -wohlausgebauten,  vom  Geiste  eines  gesunden  Staatsbürgertums  er- 
füllten Fortbildungsschule  verbunden  werden.  Diesen  Weg  hat  die  Neu- 
gestaltung des  gewerblichen  Fortbildungsschulwesens  in  München  zum 
erstenmal    vuid    mit  Ausnutzung    aller    hier    g-ebotenen  Möglichkeiten   ein- 


Vin.   Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerblichen  Erziehungswesens  in  Deutschland.     2"^ 

geschlagen.  Die  übrigen  deutschen  Städte  sind  heute  wenigstens  daran 
gegangen,  ihr  Fortbildungsschuhvesen  im  Sinne  einer  fachlich  gegliederten 
gewerblichen  Fortbildungsschule  mit  wöchentlich  sechsstündigem,  auf  den 
Tag  oder  Spätnachmittag  verlegtem  Unterricht  auszugestalten,  wenn  sie  es 
auch  meist  unterlassen  haben,  die  Verbindung  mit  Berufsverbänden  her- 
zustellen. Es  steht  daher  zu  erwarten,  daß  wenigstens  die  Städte  in  ab- 
sehbarer Zeit  auf  diesem  Wege  zu  wertvollen  Bildungsanstalten  für  die 
Massen  ihrer  Bevölkerung  gelangen  werden. 

Anders  dagegen  liegen  die  \'erhältnisse  auf  dem  Lande.  Die  heutige  Der  heutige  zu- 
ländliche  Fortbildungsschule  muß  fast  durchaus  als  ungenügend  bezeichnet  liehen  Fort- 
werden. Vor  allem  muß  auch  hier  an  den  zwei  Grundforderungen  fest- 
gehalten werden,  die  wir  oben  für  das  städtische  Fortbildungsschulwesen 
als  notwendig  bezeichnet  haben:  eine  Verbindung  mit  den  Berufsverbänden 
und  eine  Einführung  von  praktischem  Unterricht,  hier  etwa  in  den  akzesso- 
rischen landwirtschaftlichen  Betrieben,  wie  Obstbau,  Gemüsebau,  Bienen- 
zucht, Geflügelzucht  usw.  Erst  im  Anschluß  an  solchen  praktischen  Unter- 
richt ist  es  möglich,  daß  der  theoretische  Unterricht  in  der  Landwirtschafts- 
und  Naturkunde,  wie  er  für  die  neuen  westfälischen  Schulen  mit  vielem 
Geschick  im  Plane  bereits  entworfen  ist,  also  der  Unterricht  in  den  Ele- 
menten der  Bodenkunde,  der  wichtigsten  Lebensfragen  der  Tiere  und 
Pflanzen,  des  Anbaues  der  Nährpflanzen  und  der  Aufzucht  der  Haustiere, 
das  nötige  Verständnis  und  Interesse  findet. 

Noch   tiefer  aber  als   die   landwirtschaftliche  Fortbildungsschule  steht  D»r  heutige  zu- 

j.  .,  ,.    ,  ..,.,.  ,    ,  1.  .«,  stand   der  Fort- 

Öle     weibliche,     namlich     jene,    welche     die    Massen     unserer     schulent-  biidunijsschuie 

wachsenen  Mädchen  in  ihre  zukünftige  Berufsaufgabe  als  Frau  und  Mutter 
einführen  soll.  In  den  großen  und  mittleren  Städten  hat  die  alte,  auf  dem 
Lande  noch  vielfach  vorhandene  Erziehungskraft  der  Familie  infolge  des 
harten  Lebenskampfes,  der  rastlosen  Jagd  nach  Erwerb  und  Glück,  der 
wesentlich  gesteigerten  Genußsucht,  kurz,  infolge  der  stark  veränderten 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse  stark  abgenommen.  Tausende 
und  Abertausende  von  Mädchen  haben  überhaupt  keinen  häuslichen  Herd 
kennen  gelernt,  und  andere  Tausende  werden  frühzeitig  hinausgejagt  in 
den  bitteren  Erwerbskampf,  ohne  von  den  Aufgaben  der  F'amilie  auch  nur 
eine  Ahnung  zu  erhalten.  Die  meisten  derselben  werden  aber  später 
Hausfrauen  und  Mütter.  Da  ist  es  eine  unabwendbare  Pflicht  des  Staates, 
helfend  einzugreifen,  damit  sein  Urelement,  die  Familie,  nicht  ganz  ihre 
enorme  Bedeutung  für  die  menschliche  Gesellschaft  einbüße.  Mit  fakulta- 
tiven Einrichtungen  ist  hier  nicht  gedient,  auch  nicht  mit  Einrichtungen, 
die  sich  nur  mit  ein  oder  zwei  Unterrichtsstunden  in  der  Woche  begnügen. 
Wer  die  Not  des  weiblichen  Elementes  in  den  größeren  Städten  kennt, 
wird  hier  unbedingt  obligatorische  und  auskömmliche  Unterrichtszeiten 
fordern  müssen.  Vielleicht  ist  auch  hier  die  Stadtgemeinde  München  bei- 
spielgebend vorangegangen,  welche  neben  einer  obligatorischen,  drei- 
stündigen Wochenschule  vor  zehn  Jahren  wenigstens  fakultative  weibliche 

i8» 


2^6  Gf.oro  Kkkschknstkiner  :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

Fortbildungsschulen  eingerichtet  hat,  deren  hauswirtschaftliche  Abteilungen 
bei  wöchentlich    sechs-   bis  zehnstündigem  Tagesunterricht  in  allen  Stadt- 
teilen sich  heute  aufgetan  haben. 
Wc  Fachsciiui-  Ebeuso  mannigfaltig  wie  das  Fortbildungsschulwesen  in  den  deutschen 

arten  inDeiitscb-  .  t^iii  •  •  /-^  ••  -r-'i'i.i 

land.  Staaten  ist  das  l*  achschulwesen  m  semer  Urgamsation.  Fmheithche,  über 
das  Reich  gleichmäßig  verteilte,  technische  Bildungszentren,  wie  in  Öster- 
reich die  Staatsgewerbeschulen  und  die  allgemeinen  Handwerkerschulen, 
in  Frankreich  die  Ecoles  pratiques  und  Ecoles  nationales  professionnelles 
gibt  es  nicht.  Die  übeiT\'iegende  Mehrzahl  der  deutschen  Fachschulen  ist 
in  einer  einzigen  bestimmten  Richtung  ausgebaut.  Eine  Vereinigung  von 
verschiedenen  Fachschulen  wie  in  Österreich  die  Staatsgewerbeschule  und 
die  technologischen  Gewerbemuseen  stellen  in  Deutschland  nur  wenige 
Schulen  dar,  so  die  bayerischen  Industrieschulen  oder  die  sächsische  Ge- 
werbeakademie in  Chemnitz  oder  die  technische  Schule  in  Straßburg-,  viel- 
leicht auch  die  Handwerker-  und  Kunstgewerbeschulen  der  verschiedenen 
Bundesstaaten.  Im  allgemeinen  sind  die  Schulen  in  dem  Gebiete  des  Landes 
eingerichtet,  das  ihrer  aus  irgend  einem  Grunde  bedarf.  Eine  erste  Gruppe, 
die  etwa  24  höheren  Kgl.  Maschinenbauschulen  der  deutschen  Bundesstaaten 
und  die  vier  bayerischen  Industrieschulen,  setzt  bei  Aufnahme  der  Schüler 
das  Zeugnis  der  Reife  zum  Einjährig-Freiwilligen  voraus.  Die  Ausbildungs- 
zeit in  diesen  Schulgattungen  beträgt  im  allgemeinen  zwei  Jahre.  Eine 
andere  Gruppe,  die  Landwirtschaftsschulen  und  höheren  Handelsschulen, 
führt  neben  der  technischen  Erziehung  die  allgemeine  Bildung  bis  zur 
Erlangnng  des  Reifezeugnisses.  Fast  alle  übrig^en  Schulen  setzen  nur 
eine  Volksschul-  oder  Bürgerschulbildung-  voraus.  Unter  diesen  bilden 
eine  wichtige  Hauptgruppe  mit  einer  nahezu  einheitlichen  Organisation 
die  etwa  45  Baugewerbeschulen  mit  einem  Schulbetrieb  von  vier  Semestern; 
die  etwa  20  niederen  Maschinenbauschulen  oder  Werkmeisterschulen  mit 
einem  Unterrichtsbetrieb  von  vier  bis  sechs  Semestern;  die  etwa  50  höhe- 
ren und  niederen  Webeschulen,  sowie  die  etwa  40  deutschen  Kunst- 
gewerbeschulen, deren  Organisationsplan  bestimmte  Semesterzahlen  nicht 
vorschreibt.  Jede  der  bisher  genannten  Gruppen  dient  nicht  nur  einem 
bestimmten  beruflichen  Zweck,  sondern  jede  ihrer  Schulen  ist  auch,  im 
allgemeinen  wenigstens,  mit  jeder  anderen  ihrer  Gruppe  infolge  einer  an- 
nähernd gleichen  Organisation  auch  vergleichbar.  Die  Lehrjjläne  fassen 
fast  ausschließlich  nur  die  theoretische,  technische  und  praktische  Aus- 
bildung ins  Auge;  ausgenommen  sind  hier  nur  die  Landwirtschaftsschulen, 
höheren  Handelsschulen  und  bayerischen  Industrieschulen,  die  auch  die 
allgemeine  Bildung  stark  betonen.  Alle  übrigen  Fachschulen  gehen  über 
die  einseitige  technische  Ausbildung  nicht  oder  nur  sehr  wenig  hinaus. 

Die  Lehr-  Verhältnismäßig  wenige   unter  ihnen  befassen   sich  mit   reiner  Lehr- 

werkstätten f'Jr  1  .,  ,  -1  ri-    1  •    •  11T       1         ■• 

Lehrlinge    liugs ausbildung  m  berutlicli  Organisierten  We rkstattcn ,  abgesehen  von  den 

und  ihre  Be-  ...  r  i 

deutung.       mit  Staatlichen,  militärischen  oder  privaten  Fabriken  verbundenen,  oft  sehr 
gut  ausgebauten  Lehrwerkstätten  zur  Heranbildung  von  Arbeitern  für  die 


Vin.  Der  innere  Ausbau  des  gegenwärtigen  gewerblichen  Erziehungswesens  in  Deutschland.     277 

eigenen  Bedürfnisse.  Auf  Staats-  oder  Gemeindekosten  eingerichtete 
Lehrlingsschulen  finden  wir  nur  für  Tischlerei,  Schnitzerei,  Uhrmacherei, 
Weberei  und  Maschinenbau.  In  der  großen  Mehrzahl  dienen  die  deutschen 
Fachschulen  der  Weiterbildung  des  bereits  ausgebildeten  Lehrlings.  Die 
Erziehung  des  gewerblichen  und  industriellen  Nachwuchses  in  öffentlichen, 
an  staatliche,  kommunale  oder  private  Betriebe  angeschlossenen  Werkstätten 
mit  drei-  bis  vierjähriger  Ausbildungszeit  hat  in  gewisser  Richtung  un- 
verkennbare Vorteile.  Die  Ausbildung  des  Lehrlings  kann  von  vornherein 
gründlich  und  allseitig  angelegt,  schlechter  Einfluß  auf  Charakter  und 
Sitten  kann  ferngehalten,  die  hygienische,  sittliche  und  staatsbürgerliche 
Erziehung  in  der  günstigsten  Weise  beeinflußt  werden,  namentlich  wenn 
solche  Werkstätten  mit  Internaten  verbunden  sind;  das  sind  Vorteile, 
welche  die  Erziehung  draußen  im  praktischen  Leben  nur  mehr  sehr  selten 
dem  jungen  Mann  bietet.  Solchen  Erwägungen  verdanken  insbesondere 
die  fast  durchweg  großartig  angelegten  Ecoles  professionnelles  Frankreichs, 
vor  allem  jene  der  Stadt  Paris,  ihre  Entstehung  und  ihren  Ausbau.  Wer 
tiefer  in  die  Verhältnisse  unserer  Meisterlehre  blickt,  der  muß  sagen,  daß  sie 
heute  noch  einen  sehr  bedenklichen  Tiefstand  aufweist,  daß  sie  immer  noch 
imd  vor  allem  in  den  Großstädten  mit  wenigen  Ausnahmen  jene  Charak- 
teristik verdient,  die  ihr  einst  im  Jahre  1872  Direktor  Gr^ard  in  seiner 
Denkschrift  an  den  Stadtrat  von  Paris  gab,  wo  er  sie  eine  „döplorable 
^cole  de  moeurs  de  privees"  nannte,  „qui  deprave  l'homme  dans  l'apprenti, 
le  citoyen  dans  l'ouvrier  et  ne  forme  merae  pas  l'ouvrier".  Gleichwohl 
würde  eine  Unterrichtspolitik,  welche  die  Ausbildung  von  praktischen 
Handwerkern  vorwiegend  oder  gar  ausschließlich  in  staatlichen  oder  kom- 
munalen Lehrwerkstätten  veranstalten  wollte,  kaum  ihre  Absicht  erreichen. 
Zunächst  lehrt  die  Erfahrung,  daß  so  allseitig  ausgebildete  Lehrlinge  für 
gewöhnlich  dem  praktischen  Handwerk  nicht  zugehen,  wenn  sie  nicht 
eben  mitten  in  der  Praxis  des  Lebens  aufgewachsen  sind.  Nicht  gewohnt 
an  die  oft  sehr  rauhe  Seite  des  öffentlichen  Handwerkerlebens  flüchten  sie 
sich  im  Bewußtsein  ihres  Könnens  nur  zu  gern  in  die  Stellen  des  tech- 
nischen Unteroffiziers  großer  Betriebe,  oder  in  Lehrerstellen  an  den  ge- 
werblichen Schulen,  oder,  wenn  es  ihnen  die  Verhältnisse,  die  Mittel  und 
die  Begabung  erlauben,  in  höhere  Fachschulen.  Das  ist  die  große,  in 
allen  Ländern  mit  guten  Lehrlingslehrwerkstätten  gemachte  Erfahrung.  Die 
Lehrlingslehrwerkstätten  sind  daher  nur  insoweit  eine  wertvolle  Einrich- 
tung für  gewerbliche  Erziehung,  als  sie  den  Bedarf  an  tüchtigen  mitt- 
leren Technikern  decken  helfen  oder  einzelnen  Meistersöhnen,  die  auf 
jeden  Fall  den  Beruf  des  Vaters  ergreifen,  eine  solide,  allseitig  aus- 
gebaute Grundlage  geben.  Für  diese  Zwecke  sind  sie  heute  sogar  un- 
entbehrlich. Je  mehr  ein  Staat  zum  Industriestaat  sich  entwickelt  oder  je 
gründlicher  diese  Entwicklung  gefördert  werden  muß,  desto  notwendiger 
werden  Lehrlingslehrwerkstätten  bei  der  Unfähigkeit  des  heutigen  Hand- 
werks, tüchtige  geschulte  Arbeiter  in  größerer  Zahl  heranzubilden.    Nur 


2-8  Georg  Kerschensteiner :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschuhvesen. 

für  den  kleinhandwerklichen  Agrarstaat  gewinnen  sie  nicht  jene  einst  von 
ihnen  erhoffte  Bedeutung.  Hier  scheint  uns  zunächst  wichtiger  zu  sein, 
das  Interesse  der  Meister  an  der  Erziehung  des  g-e werblichen  Nach- 
\^'uchses  und  die  Fähigkeit  zu  dieser  Erziehung  wieder  zu  fördern.  Eine 
zu  große  Verbreitung  von  Lehrwerkstätten  aber  würde  dieses  Interesse, 
das  durch  die  neuen  Handwerkergesetze  wieder  wachgerufen  und  durch 
alle  möglichen  Veranstaltungen  für  die  Meisterausbildung  stark  g-efördert 
wurde,  noch  mehr  ausschalten,  als  das  heute  schon  der  Fall  ist.  Ins- 
besondere würde  der  Lehrling,  der  doch  in  vielen  Meisterlehren  un- 
entbehrlich ist,  noch  mehr  als  bisher  zum  Handlanger  und  Taglöhner 
herabsinken.  Die  Aufgabe  einer  weitschauenden  Erziehungspolitik  muß 
aber  sein,  "die  Berufskreise  in  weitgehendstem  Maße  für  die  Erziehung 
ihres  Nachwuchses  zu  erwärmen,  nicht  bloß,  weil  die  Ausbildung 
in  einer  wahrhaft  guten  Meisterlehre  in  Verbindung  mit  einer  wohl- 
organisierten fachlichen  Fortbildungsschule  immer  noch  die  beste  Lehr- 
lingserziehung ist,  sondern  auch,  weil  es  im  Interesse  der  sozialen 
und  moralischen  Entwicklung  eines  Volkes  liegt,  eine  möglichst  große 
Menge  von  brauchbaren  Erziehungskräften  auch  außerhalb  der  Schule  zu 
entwickeln.  Denn  das  ist  eine  Eigenschaft  aller  ernsten  Erziehungstätig- 
keit, daß  sie  den  Zögling  wie  den  Erzieher  in  gleicher  Weise  geistig  und 
sittlich  fördert. 

Lehrwerkstätten  Für  die  Fortbildung  aber  von  Gesellen  und  Meistern,  von  Werk- 
Meister,  führem  und  Kleinindustriellen  und  damit  für  die  wirtschaftliche  Entwick- 
lung eines  Landes  sind  wohleingerichtete  Lehrwerkstätten,  welche  die 
kunstgewerbliche  oder  technische  und  wissenschaftliche  Seite  des  Berufes 
fördern,  welche  die  Strebsamen  mit  der  Wirkungsweise  und  dem  Betriebs- 
wert neuer  Werkzeuge  und  Maschinen,  mit  den  Vor-  und  Nachteilen  neuer 
technischer  Verfahren,  mit  den  Eigenschaften  neuer  Rohprodukte  usw. 
vertraut  machen,  für  alle  Zukunft  unerläßlich.  Im  allgemeinen  kann 
man  auch  sagen,  daß  nach  dieser  Richtung  Deutschland  den  Vorsprung 
anderer  Länder  reichlich  eingeholt  hat,  nicht  bloß  durch  sein  gut  ent- 
wickeltes Fachschulwesen,  sondern  auch  durch  eine  beträchtliche  i\nzahl 
wohleingerichteter  Gewerbemuseen,  deren  Ausnutzung  im  Dienste  der 
Gewerbeförderung  freilich  noch  viel  rationeller  gestaltet  werden  könnte. 
In  bezug  auf  diese  Ausnutzung  könnten  unsere  Verwaltungen  von  dem 
Betriebe  des  South  Kensington  Museums  in  London  noch  sehr  viel  lernen. 

Ausbildung  des  Insbesondere  leiden  die  Fachschulen  nicht  an  dem  Mangel  von  tech- 

personais.  nisch  gebildetem  Lehrpersonal.  Wenn  auch  besondere  Ausbildungs- 
anstalten für  Fach-  und  Gewerbelehrer  in  Deutschland  nicht  eingerichtet 
sind,  wie  dies  in  Österreich  und  Frankreich  der  Fall  ist,  so  geht  doch 
die  Ausbildung  der  Schüler  in  vielen  Fachschulen  Deutschlands  weit  genug, 
daß  sie,  nachdem  sie  eine  genügende  Zeit  in  der  Praxis  gestanden  haben, 
wieder  als  Lehrer  an  ihre  Schule  zurückkehren  können.  Auch  bilden  die 
technischen  Hochschulen  im  ganzen  Reich  eine  nicht  unbeträchtliche  An- 


IX.  Schlußbetrachtungen.  279 

zahl  von  Lehrkräften  aus,  die  sich  dem  technischen  Lehrfache  zuwenden. 
Für  den  Unterricht  im  Fach-  und  Freihandzeichnen  haben  übrigens  die 
meisten  deutschen  Staaten  besondere  Bildungsgelegenheiten  und  besondere 
Staatsprüfungen  eingerichtet.  Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  bei 
den  Fortbildungsschulen.  Hier  fehlt  es  fast  durchweg  an  entsprechend 
ausgebildeten  Lehrern.  Was  einzelne  Staaten  und  einzelne  Städte  an 
solchen  Ausbildungsgelegenheiten  geschaffen  haben,  kann  nur  als  Not- 
behelf angesehen  werden.  Mit  sechs-  bis  achtwöchentlichen  Ferienkursen, 
auch  wenn  sie  ein  paar  Jahre  wiederholt  werden,  ist  eine  gründliche  Aus- 
bildung von  FortbildungsschuUehrem  unmöglich  zu  erreichen.  Eine  Aus- 
nahme macht  hier  nur  Baden,  das  besondere,  mehrjährige  Ausbildungs- 
einrichtungen für  seine  Gewerbelehrer  geschaffen  hat. 

Der  Anstellung  von  geeigneten  Aufsichtspersonen  für  das  technische  Aufsicht. 
Unterrichtswesen  in  Deutschland  ist  in  der  neuesten  Zeit  in  den  deutschen 
Staaten,  ausgenommen  in  Bayern,  eine  größere  Aufmerksamkeit  zugewendet 
worden.  Berufsmäßige  Gewerbeschulinspektoren  finden  wir  in  Sachsen, 
Baden,  Hessen,  in  neuester  Zeit  auch  in  Preußen.  Vortrefflich  organisiert 
ist  die  Schulaufsicht  in  Österreich,  in  der  Schweiz,  in  Frankreich,  in 
England. 

IX.  Schlußbetrachtungen.     In    einer    Richtung    aber   leiden    nichtoas  leme  ziei 

°  ^  .  aller  öffentlichen 

bloß  die  Fortbildungsschulen,  sondern  auch  die  Fachschulen  einen  emp-  Emohung. 
findlichen  Mangel.  Sie  sind  heute  in  Deutschland  wie  in  Österreich, 
vielleicht  auch  in  England  und  Amerika,  lediglich  vom  Standpunkt 
des  wirtschaftlichen  Nutzens  aus  organisiert.  Daß  diese  Schulen  auch 
im  Sinne  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  unbedingt  ausgebaut  werden 
können,  ja  ausgebaut  werden  müssen,  das  ist  weder  den  Regierungen 
noch  den  Kommimen,  noch  viel  weniger  den  Privaten  bisher  in  den 
Sinn  gekommen.  Nur  vereinzelt  erheben  sich  da  und  dort  in  der 
Literatur,  auf  Versammlungen,  in  Vereinen  zur  Förderung  dieses  gewal- 
tigen Teiles  unseres  deutschen  Bildungswesens  mahnende  Stimmen.  Die 
bloß  technische  oder  kunstgewerbliche  Ausbildung  eines  Volkes  genügt 
in  kritischen  Zeiten  zur  Sicherung  der  Gesamtwohlfahrt  und  der  Kultur 
eines  Staates  keineswegs.  Sie  fördert  zunächst  nur  die  egoistische 
Seite  im  Menschen.  Nun  geht  aber  das  Bestreben  der  meisten  Berufs- 
schulen und  Fortbildungsschulen  fast  ausschließlich  dahin,  den  Schüler 
für  seinen  Beruf  und  nur  für  diesen  zu  interessieren,  ihn  vorwärts  zu 
bringen,  ihn  mit  geistigen  und  manuellen  Waffen  für  den  allgemeinen 
Wettkampf  mit  Berufsgenossen  auszurüsten.  Jahre  hindurch  gönnen  die 
meisten  nicht  einer  einzigen  Stunde  Raum,  damit  der  Blick  des  jungen 
Mannes  sich  erweitere  und  auf  das  Ganze  richte,  damit  er  verstehen  lerne, 
daß  neben  ihm  und  seinen  Berufsgenossen  noch  andere  Menschen  und 
andere  Berufsarten  vorhanden  sind,  die  auch  Ansprüche  auf  Luft  und 
Sonne    im    Staate    haben,    damit    er    fühlen    lerne,    daß    im    geordneten 


2  8o  Georg  Kerschensteiner  :  Das  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen. 

Staate  die  eigenen  egoistischen  und  beruflichen  Interessen  ihre  Schranken 
finden  an  den  gleichen  Interessen  der  Mitbürger.  Wer  klärt  heute 
die  imgeheuren  Massen,  die  in  Gewerbe,  Industrie,  Handel  und  Land- 
wirtschaft beschäftigt  sind,  über  die  Aufgraben  auf,  die  ein  Staatsver- 
band zu  erfüllen  hat?  Wer  lehrt  sie  die  Segnungen  eines  geordneten 
Staatsverbandes  erkennen  oder  auch  nur  ahnen?  Niemand.  Die  Volks- 
schule kann  es  nicht  wegen  der  mangelnden  geistigen  Reife  der  Schüler; 
die  Fach-  und  Fortbildungsschule  aber  kümmert  sich  nicht  darum,  oder 
glaubt  mit  Verfassungs-  oder  Gesetzeskunde  das  Nötige  getan  zu  haben. 
Man  überläßt  diese  wichtige  Unterweisung  den  politischen  Parteien,  die 
dann  frühzeitig  dem  jungen  Mann  die  gefärbte  Brille  ihres  Parteigötzen 
auf  die  Nase  setzen.  Diese  schwere  Unterlassung  unserer  Schulbehörden 
ist  um  so  sonderbarer,  als  das  vergang-ene  Jahrhundert  dem  Volke  die 
wichtigsten  politischen  Rechte  übertragen  und  es  berufen  hat,  die  Ge- 
schicke des  Staates  mitzubestimmen.  Aber  wie  kann  jemand  die  Geschicke 
eines  Staates  oder  einer  Kommune  bestimmen,  der  das  Wesen  dieser  Ge- 
sellschaftsverbände und  ihre  Aufgaben  nicht  erkannt,  oder  dem  sie  gar 
in  völlig  verzerrter  Gestalt  geschildert  worden  sind?  Wie  kann  jemand 
den  Interessen  anderer  im  Staate  g-erecht  zu  werden  versuchen,  der  nie 
belehrt  worden  ist,  wie  unendlich  mannigfaltig  die  Interessen  aller  Berufe 
im  Staate  miteinander  verflochten  sind,  wie  im  Staats  verbände  jeder  ein- 
zelne von  jedem  einzelnen  abhängig  ist,  wie  die  hartnäckige  Verfolgung 
einseitiger  Partei-  und  Berufsinteressen  nur  eine  beschränkte  Zeit  dem 
Egoisten  nützt,  schließlich  aber  immer  nicht  bloß  den  anderen  Partei-  und 
Berufsgruppen,  sondern  auch  der  eigenen  schadet?  Dieser  grobe  Mangel 
unserer  deutschen  und  österreichischen  Fach-  und  Fortbildungsschulen, 
alles  für  die  technische  x\usbildung  zu  tun  und  nichts  für  die  hygienische 
und  staatsbürgerliche,  haftet  den  französischen  Ecoles  professionnelles  im 
allgemeinen  nicht  an.  Es  gibt  kaum  eine  Schule  dieser  Art,  die  nicht 
neben  der  technischen  Ausbildung  auch  eine  staatsbürgerliche  zu  verbinden 
trachtet,  sei  es  durch  einen  Unterricht  in  Geschichte,  sei  es  durch  Bürger- 
kunde, öffentliches  Recht,  Volkswirtschaftslehre,  und  es  gibt  keine,  die 
nicht  auch  durch  Turnen  und  Gesundheitslehre  für  die  hygienische  Aus- 
bildung ihrer  Schüler  Sorge  trägt.  Selbst  die  Manual  Training  High 
Schools  Amerikas,  eines  Landes,  das  wie  kaum  ein  anderes  auf  praktische 
Zwecke  in  seinen  Schulen  ausgeht,  entbehren  nicht  Geschichte,  Staats- 
kunde und  Wirtschaftslehre.  Und  doch  hätten  es  Völker  mit  so  starkem 
nationalen  Empfinden  wie  Franzosen  und  Amerikaner  weit  weniger  not- 
wendig wie  unser  deutsches  Volk  oder  gar  ein  solches  Konglomerat  von 
Völkern  wie  Österreich.  Dabei  gibt  es  kaum  eine  Schulgattung,  die  den 
Unterricht  im  Sinne  einer  staatsbürgerlichen  Erziehung  wirksamer  ge- 
stalten und  mit  dem  gesamten  Lehrprogramm  enger  verbinden  ließe,  als 
unsere  Fortbildungs-,  Fach-,  Gewerbe-  und  Kunstgewerbeschulen.  Hier, 
wo    alle  Blicke   von  Schülern    und  Lehrern  Tag  für  Tag    auf   die  Güter- 


rX.  Schlußbetrachtungen.  2  8 1 

Produktion  gerichtet  sind,  wo  Technologie,  Waren-  und  Werkzeugkunde 
von  selbst  auf  eine  Entwicklungsgeschichte  unserer  Produktionsweisen  hin- 
führen, wo  die  Gewinnung  von  Rohprodukten,  die  Ein-  und  Ausfuhr, 
die  Zoll-  und  Handelsverhältnisse,  die  Arbeitsteilung,  die  Berechnung  all- 
gemeiner Spesen  und  hundert  andere  Dinge  unwiderstehlich  den  Blick 
auf  die  Abhängigkeit  aller  von  allen  bei  Menschen  wie  Staaten  hin- 
lenken, wo  die  stete  Veränderung  der  Herstellungsarten,  der  Maschinen  und 
der  Arbeitsverhältnisse  das  Auge  zwingen,  in  die  Vergangenheit  wie  in  die 
Zukunft  zu  schauen,  wäre  hier  nicht  der  natürliche  Boden  gegeben,  gleich 
von  vornherein  in  einer  Wirtschaftsgeschichte,  die  in  konkreten  Beispielen 
mitten  durch  die  Kultur  der  Menschheit  hindurch,  von  den  primitiven 
Anfangen  bis  zu  unserer  heutigen  Weltwirtschaft  führt,  das  Verständnis 
der  Schüler  für  das  große  Ganze  anzuregen  und  ihren  Sinn  darauf  zu 
richten?  Das  20.  Jahrhundert  wird  auf  dem  Gebiet  der  staatsbürgerlichen 
Erziehung  noch  unendlich  viel  an  allen  unseren  Schulen  zu  tun  vorfinden. 
Das  letzte  Ziel  aller  Erziehung  kann  nicht  ein  berufliches  sein.  Das 
letzte  Ziel  ist  die  staatsbürgerliche  Erziehung,  die  allerdings  mit 
und  durch  die  berufliche  am  besten  gefördert  werden  kann.  Nur  wenn 
unsere  öffentlichen  Schul-  und  Erziehungseinrichtungen  dieses  letzte  Ziel 
unverrückt  im  Auge  behalten  und  mit  allen  Mitteln  zu  erreichen  streben, 
wird  der  moderne  Staat  die  schweren  Krankheiten  überstehen,  die,  aus 
seinem  eigensten  Wesen  geboren,  ihn  heute  gefährden,  wird  er  in  Wahr- 
heit das  werden,  was  er  so  gerne  sein  möchte:  ein  homogener  Kulturstaat. 


Literatur. 

Über  den  Stand  des  Fach-  und  Fortbildungsschulwesens  am  Ende  des  ig.  Jahrhunderts 
unterrichten  folgende  Werke  und  Schriften  eingehender : 

Deutschland:  Lexis,  Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich,  4  Bde.  (Berlin, 
Asher  &  Co.,  1904).  (Hier  einschlägig  sind  Bd.  II  u.  Bd.  IV.)  —  Pache,  Handbuch  des  deutschen 
Fortbildungsschulwesens  (Wittenberg,  Herrosds  Verlag).  (Bis  jetzt  sind  7  Bändchen  erschienen, 
1896  bis  1905.)  —  Simon,  Das  gewerbliche  Fortbildungs-  und  Fachschulwesen  in  Deutschland 
(Berlin,  Mittler  &  Sohn,  1903).  (Eine  kleine  Broschüre,  die  den  Stoft'  übersichtlich  und  klar 
behandelt.)  —  Kerschensteiner  ,  Die  staatsbürgerliche  Erziehung  der  deutschen  Jugend. 
Von  der  Kgl.  Akademie  zu  Erfurt  gekrönte  Preisschrift  (Erfurt,  Viüaret,  1900).  (Behandelt 
den  zukünftigen  Ausbau  des  Fortbildungsschulwesens  in  Deutschland.)  —  Roscher,  Gewerb- 
licher Unterricht.  (Ein  ausführlicher  Artikel  von  62  Spalten  im  Handwörterbuch  der  Staats- 
wissenschaften von  Konrad  und  Lexis  [Jena,  Fischer,  1900]  Bd.  IV,  mit  sehr  großer  Sach- 
kenntnis geschrieben.) 

Österreich:  KlimburG,  Die  Entwicklung  des  gewerblichen  Unterrichtswesens  in 
Österreich  (Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1900).  (Eine  gute  Monographie.)  —  Centralblatt 
für  das  gewerbliche  Unterrichtswesen  in  Österreich,  im  Auftrage  des  Unterrichtsministeriums 
herausgegeben  seit  1882  (Wien,  Holder). 

Schweiz:  Albert  Hitber,  Schweizerische  Schulstatistik.  8  Bde.  herausgegeben  im 
Auftrage  der  Berner  Regierung.  (Hier  einschlägig  Bd.  V  1895.)  —  Kerschensteiner,  Beob- 
achtungen und  Vergleiche  über  Einrichtungen  für  gewerbliche  Erziehung  außerhalb  Bayerns 
(München,  Carl  Gerber,   1900). 

Belgien:  Carl  Genauck,  Die  gewerbliche  Erziehung  im  Königreich  Belgien  (Reichen- 
berg i.  Böhmen,  Fritsche,   1886). 

Frankreich:  Rapport  sur  l'organisation  et  la  Situation  de  Fenseignement  primaire 
publie  en  France  (Paris,  imprimerie  nationale),  3  Bde.  Einschlägig  hier  Bd.  I  (1900).  (Vom 
Ministerium  herausgegeben.)  —  L'enseignement  technique  en  France  (Paris,  Imprimerie 
Nationale),  5  Bde.  (Vom  Ministerium  herausgegeben.)  —  Ville  de  Paris,  Les  ^coles  et  les 
Oeuvres  municipales  d'enseignement  (Paris,  P.  Mouillet,  imprimeur,  1900).  (Im  Auftrag  der 
Stadt  Paris  herausgegeben.) 

England:  Report  of  the  department  of  Science  and  Art  (London,  printed  for  her 
Majesty's  stationary  office)  by  Eyre  and  Spottiswoode.  (Bis  jetzt  sind  52  Jahresberichte 
erschienen.)  —  Annal  Reports  of  the  Technical  Education  Board  of  the  London  County 
Council  (London,  P.  S.  King  and  Son,  1904).  —  Reports  of  the  Evening  Continuation 
Schools  Committee  (London,  P.  S.  King  and  Son,  Great  Smith  Street,  Westminster,  S.  W.  1904). 
—  Clarence  H.  Creasey,  Technical  Education  in  Evening  Schools  (London,  Swan  Sonnen- 
schein &  Co.,  1905). 

Rußland:  Apergu  du  d^veloppment  de  l'enseignement  industriel  en  Russie  dans  les 
annees  1888 — 1898  (Petersburg,   1900),  herausgegeben  vom  Unterrichtsministerium. 

Amerika:  Monographs  on  Education  in  the  United  States  edited  by  Nicholas 
Murray  Buttler  (1900).  (Vom  Erziehungsdepartement  der  Nordamenkanischen  Staaten 
für  die  Pariser  Weltausstellung  1900  herausgegeben.  Im  ganzen  19  Monographieen.  Hier 
einschlägig    die  Mongraphieen    9  bis  13.)    —    Report  of   the   Commissioner    of  Education 


Literatur.  283 

(Washington,  Govemement,  Printing  Office).  (Eine  klare  und  sehr  reiche  Quelle  für  das 
Studium  des  gesamten  amerikanischen  Schulwesens.  Enthält  auch  wertvolle  Studien  über 
das  Schulwesen  anderer  Staaten.     Die  Berichte  gehen  bis  auf  das  Jahr  1889  zurück.) 

Über  zahlreiche  andere  hier  einschlägige  Einzelbeschreibungen  vergleiche  man  die 
Literaturnachweise  und  Bibliographieen  bei: 

ROSCHER,  am  Schlüsse  des  oben  erwähnten  Artikels  im  Handwörterbuch  der  Staats- 
wissenschaften. 

Petersilie,  Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reiche  und  den  übrigen  europäischen 
Kulturländern,  2  Bde.  (Leipzig,  Hirschfeld,  1892).  (Am  Schlüsse  des  2.  Bandes  ist  eine  um- 
fangreiche Bibliographie  angegliedert ;  doch  ist  das  meiste,  was  auf  gewerbliches  Unterrichts- 
wesen sich  bezieht,  veraltet.) 

Pache,  in  dem  oben  zitierten  Handbuch  und  in  dem  .Artikel  über  Fortbildungsschulen 
in  Reins  Encyklopädischem  Handbuch  der  Pädagogik,  Bd.  II,  2.  Aufl.  (Der  Literatur- 
nachweis könnte  vielleicht  teilweise  etwas  kritischer  gesichtet  sein.) 


DIE  GEISTESWISSENSCHAFTLICHE 
HOCHSCHULAUSBILDUNG. 

Von 
Friedrich  Paulsen. 

I.  Die  Geisteswissenschaften,  ihr  Gegenstand  und  Charakter, 
ihre  Aufgabe  und  Gliederung.  Da  die  Ausbildung  in  einer  Wissen- 
schaft von  der  Natur  des  Gegenstandes  und  der  dadurch  bedingten  Methode 
der  Forschung  abhängt,  so  seien  ein  paar  Bemerkungen  hierüber  voraus- 
geschickt. 
üegensundund  Die  Geisteswissenschaften   stehen  neben  den  Naturwissenschaften   als 

GetSssea-  das  zwcite  große  Gebiet  wissenschaftlicher  Erkenntnis.  Ihr  Unterschied 
Schäften.  .^  Hinsicht  auf  den  Gegenstand  und  die  Methode  läßt  sich  für  unsem 
Zweck  ausreichend  in  folgender  Weise  bestimmen.  Die  Naturwissen- 
schaften haben  die  in  der  sinnlichen  Anschauung  gegebenen  oder  dar- 
stellbaren Objekte  und  Vorgänge  zum  Gegenstand.  Ihre  Erkenntnismittel 
sind:  Beobachtung,  Experiment  und  Mathematik.  Der  Gegenstand  der 
Geisteswissenschaften  ist  das  geistige  Leben,  wie  es  dem  einzelnen  im 
Selbstbewußtsein  gegeben  ist,  wie  es  im  großen  in  dem  geschichtlichen 
Leben  der  Menschheit  sich  entfaltet.  Die  Grundform  ihrer  Methode  ist 
die  Interpretation  an  der  Hand  der  Analogie.  Geistiges  Leben  ist,  ab- 
gesehen von  dem  Inhalt,  den  der  einzelne  im  Selbstbewußtsein  erlebt,  als 
solches  niemals  unmittelbar  gegeben;  es  wird  aus  seinen  Manifestationen 
in  der  physischen  Welt  durch  ein  Interpretationsverfahren,  dem  ein  Ana- 
logieschluß aus  dem  eigenen  Innenleben  und  seiner  Darstellung  in  der 
physischen  Welt  zugrunde  liegt,  erschlossen.  Unter  diesen  Manifestationen 
nimmt  neben  der  Formung  körperlicher  Objekte  durch  menschliche  Arbeit 
die  Sprache  die  erste  Stelle  ein;  sie  ist,  mit  der  Schrift,  ihrem  sekun- 
dären Symbolsystem,  das  wichtigste  Symbolsystem,  worin  geistiges  Leben 
sich  objektiviert.  Und  daher  ist  Sprachkenntnis  erste  Voraussetzung  für 
alles  Erkennen  auf  diesem  Gebiet.  Nennen  wir  die  Fähigkeit  allseitiger 
imd  gesicherter  Interpretation  der  Sprache  Philologie,  so  wird  gesagt 
werden  können,  daß  diese  zu  den  Geisteswissenschaften  in  einem  ähnUchen 
Verhältnis  steht,  wie  zu  den  Naturwissenschaften  die  Mathematik:  Philo- 
logie das  eigentliche  Organon  aller  Geisteswissenschaften. 


I.  Die  Geisteswissenschaften,  ihr  Gegenstand  und  Charakter,  ihre  Aufgabe  und  Gliederung.     285 

Ein  zweiter  Unterschied  ist  der,  daß  die  Naturwissenschaften  es  haupt- 
sächlich mit  gleichförmig  sich  wiederholenden  und  darum  überall  und  stets 
gegenwärtigen  Vorgängen,  die  Geisteswissenschaften  dagegen  mit,  wenn 
nicht  sing^lären,  so  doch  individualisierten  Vorgängen,  den  Vorgängen  per- 
sönlichen Lebens  zu  tun  haben.  Natürlich,  gewisse  Gleichförmigkeiten  sind 
auch  hier  vorhanden,  sonst  wäre  Begriffsbildung  imd  also  Wissenschaft 
auf  diesem  Gebiet  überhaupt  nicht  möglich;  aber  identische  Wiederkehr 
desselben,  wie  in  der  physischen  Welt,  findet  in  der  geistig-geschichtlichen 
Welt  überhaupt  nicht  statt;  jede  Generation,  ja  jedes  Individuum  lebt  ein 
besonderes  Leben,  erlebt  jeden  Tag  ein  neues  Leben.  So  haben  die  ge- 
schichtlichen Wissenschaften  es  stets  mit  Tatsachen  zu  tun,  die  nicht  als 
gegenwärtige  beobachtet  werden  können,  sondern  erst  aus  halb  erloschenen 
Erinnerungen,  Zeugnissen,  Spuren  und  Überbleibseln  der  Vergangenheit 
erschlossen  werden  müssen.  Damit  ist  auch  das  Experiment  ausgeschlossen; 
höchstens,  daß  es  in  dem  Grenzgebiet  anwendbar  ist,  wo  sich  Natur-  und 
Geisteswissenschaft  am  engsten  berühren,  in  der  physiologischen  Psy- 
chologie. 

Mit  alledem  ist   schon  gegeben,   daß   in  der  geisteswissenschaftlichen  Hervortreten 

.      des  subjektiven 

Forschung  der  persönliche  Faktor  eine  viel  bedeutsamere  Rolle  als  m  Moments. 
den  Naturwissenschaften  spielt.  Hat  in  diesen,  soweit  die  Mathematik  imd 
die  anschauliche  Darstellung  herrscht,  das  subjektive  Meinen  und  Vor- 
stellen keinen  Ort  (es  beginnt  erst,  wo  jenseits  dieser  Grenzen  das  Denken 
sich  mit  Hypothesen  und  Vorstellungen  des  Möglichen  anbaut),  so  gibt  es 
in  den  Geisteswissenschaften,  wo  der  Gegenstand  selbst  erst  durch  ein 
subjektiv  bedingtes  Interpretationsverfahren  hervorgebracht  werden  muß, 
überhaupt  kein  Objektives  in  demselben  Sinne  wie  dort,  ein  gleichmäßig 
Gegebenes  oder  von  allen  durch  identische  Produktion  gleichmäßig  Er- 
zeugtes. Die  „persönliche  Differenz"  macht  sich  hier  an  jedem  Punkt 
geltend.  Daher  der  ewige  Streit  an  jedem  Punkt ;  daher  auch  der  Wechsel 
der  Auffassung  mit  dem  Wechsel  der  Zeiten:  jede  Generation  spiegelt 
sich  selbst  in  ihrer  Deutung  der  Vergangenheit  wider.  Und.  noch  ein 
Drittes  kommt  hinzu:  in  den  Geisteswissenschaften  mischt  sich  in  die  Auf- 
fassung der  Gegenstände  regelmäßig  und  unvermeidlich  ihre  Würdigimg; 
sie  werden  als  gut  oder  schlecht,  schön  oder  häßlich  empfunden  und  be- 
urteilt. Die  Affekte,  Liebe  und  Haß,  Verehrung  und  Verachtung  kommen 
ins  Spiel  und  heften  an  die  Auffassung  jedes  Moments  ihre  Gefühlsakzente, 
den  Willen  zur  Verteidigung  und  Propaganda  oder  zur  Abwehr  und  Ver- 
nichtung aufrufend.  Darum  wird  hier  die  wissenschaftliche  Diskussion 
nicht  mit  der  kühlen  Ruhe  geführt,  mit  der  von  Dreiecken  und  Kreisen 
gehandelt  wird.  In  den  Streit  um  wahr  und  unwahr  mischt  sich,  bewußt 
oder  unbewußt,  der  Eifer  für  die  gute,  der  Haß  gegen  die  schlechte  Sache 
und  führt  alsbald  zum  Streit  der  Personen;  der  Angriff  auf  eine  Ansicht 
wird  zugleich  als  Angriff  auf  Geist  und  Gesinnung  dessen,  der  .sie  hat, 
gemeint   und   empfunden.     Wie   die  Geister  jener  auf  den  katalaunischen 


,8^  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Feldern  Erschlagenen,  so  stehen  in  der  Geschichte  die  Geister  derer,  die 
im  Leben  miteinander  stritten,  wieder  auf  und  führen  den  Kampf  in  der 
Luft  mit  derselben  Erbitterung,  mit  der  sie  einst  im  Fleisch  miteinander 
rangen.  Und  darum  ist  die  Geschichte  das  Herrschaftsgebiet  aller  Dä- 
monen des  Kriegs:  des  Hasses,  der  Verleumdung,  der  Lüge  und  wird  es 
ewig  bleiben.  Es  gilt  allgemein,  was  Spinoza  in  dem  7.  Kapitel  des  theo- 
logisch-politischen Traktats  von  den  Theologen  und  ihrer  Interpretation 
der  Schrift  sagt:  „Mit  den  Menschen  ist  es  so  bestellt:  was  sie  mit  dem 
reinen  Verstände  erfassen,  das  verteidigen  sie  auch  allein  mit  dem  Ver- 
stände; die  Meinungen  aber,  die  sie  unter  dem  Einfluß  der  Affekte  bilden, 
die  verteidigen  sie  auch  mit  solchen." 
Beschreibeude  Wir  Wenden  uns  zur  Aufgabe   und  Gliederung  der  Geisteswissen- 

"oeisTesi^^sen- schaffen.  Die  Aufgabe  aller  Wissenschaft  ist  eine  doppelte:  Erfassung 
und  Darstellung  des  Wirklichen  in  concreto  und  Bildung  von  abstrakten 
Begriffen  und  Formeln.  Wir  können  hiemach  beschreibende  und  begriff- 
liche Wissenschaften  unterscheiden.  Verbinden  wir  mit  dieser  Einteilung 
die  nach  dem  Gegenstand,  so  kommen  wir  auf  ein  viergUedriges  Schema, 
wie  es  schon  von  Schleiermacher  aufgestellt  worden  ist:  beschreibende 
und  begriffliche  Naturwissenschaften,  beschreibende  und  begriff- 
liche Geisteswissenschaften.  Ein  Beispiel  bieten  dort  die  topogra- 
phische und  die  allgemeine  Geographie:  jene  ist  gerichtet  auf  die  be- 
schreibende Darstellung  eines  singulären  Tatbestandes,  diese  auf  die  Bil- 
dung allgemeiner  Begriffe  und  Formeln,  worin  die  wiederkehrenden  For- 
mationen, sowie  die  Prozesse,  Kräfte  und  Gesetze  ihrer  Entstehung  dar- 
gestellt werden.  In  den  Geisteswissenschaften  haben  wir  dasselbe  Ver- 
hältnis zwischen  Religionsgeschichte  und  Religionsphilosophie,  Wirtschafts- 
geschichte und  Nationalökonomik:  jene  gehen  auf  die  Beschreibung  des 
religiösen  oder  wirtschaftlichen  Lebens  eines  bestimmten  Volks  oder  Kultur- 
kreises und  seiner  geschichtlichen  Entwicklung,  soweit  möglich  auch  mit 
statistischen  Daten  es  erfassend,  diese  bilden  allgemeine  Begriffe  von 
Formationen  und  Funktionen,  von  Kräften  und  Gesetzen  der  religiösen 
oder  der  wirtschaftlichen  Lebensbetätigung  überhaupt. 

Dabei  ist  einleuchtend,  daß  die  beiden  Formen  wissenschaftUcher  Arbeit 
durchaus  aufeinander  angewiesen  sind:  die  auf  das  Einzelne  gerichtete 
Forschung  liefert  der  Begriffe  bildenden  das  Material,  aber  zugleich  ist 
sie  genötigt,  für  die  Beschreibung  und  Erklärung  des  Besonderen  sich  der 
allgemeinen  Begriffe  und  Formeln  zu  bedienen,  die  jene  hervorbringt.  Es 
handelt  sich  nicht  um  trennende  AbschUeßung,  sondern  nur  um  eine  Ver- 
schiedenheit in  der  Richtung  der  wissenschaftUchen  Arbeit;  das  Ziel  ist 
eines:  die  von  der  begrifflichen  Theorie  ganz  durchleuchtete  Erkenntnis 
der  konkreten  Wirklichkeit. 

Darum  kann  natürlich  auch  nicht  von  einer  Minderwertigkeit  der 
einen  Arbeitsform  gegenüber  der  andern  die  Rede  sein,  beide  sind  gleich 
notwendig  für  das   eine   Ziel.     Nimmt    die    begriffliche    in  Anspruch,    die 


I.  Die  Geisteswissenschaften,  ihr  Gegenstand  und  Charakter,  ihre  Aufgabe  und  Gliederung.      287 

eigentlich  und  allein  wissenschaftliche  zu  sein  —  alle  Wissenschaft  hat, 
nach  dem  Aristoteles,  zum  Gegenstand  das  Allgemeine  — ,  so  kann  die 
auf  das  Besondere  gerichtete  Forschung  dagegenhalten,  daß  ohne  ihre 
Arbeit  jene  überhaupt  keinen  Gegenstand  und  kein  Ziel  hätte:  das  Wirk- 
liche ist  immer  ein  bestimmtes  Dieses;  die  Begriffe  aber  haben  Wert  als 
Werkzeug  für  seine  Erfassung.  Das  gilt  vor  allem  in  der  historischen 
Welt,  die  Erkenntnis  des  konkreten  Einzelnen  ist  das  Ziel.  Wollte  aber 
umgekehrt  die  historisch -philologische  Einzelforschung  gegen  die  nach 
Art  der  Naturwissenschaften  auf  das  Allgemeine,  den  Begriff  oder  das 
Gesetz  ausgehende  Forschung  vornehm  tun:  die  Arbeit  am  Einzelnen 
allein  sei  echte  Forschung,  jene  andere  bringe  es  nur  zu  allerlei  leerer 
Spekulation,  so  wäre  dagegen  zu  sagen:  die  Erkenntnis  des  Einzelnen  als 
solchen  ist  niemals  das  Ziel  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis,  sondern 
die  Erkenntnis  des  Einzelnen  in  seinem  Wesen,  und  diese  ist  nur  durch 
seine  Erfassung  im  Begriff  möglich:  kein  religiöser  oder  wirtschaftlicher 
imd  auch  kein  politischer  oder  militärischer  Vorgang  kann  ohne  das  All- 
gemeine erkannt  werden.  Die  Sache  liegt  übrigens  in  den  Naturwissen- 
schaften nicht  anders:  auch  hier  handelt  es  sich  um  die  Erkenntnis  der 
konkreten  Wirklichkeit;  freilich  hat  hier  das  Einzelne  als  solches  nicht 
die  Besonderheit  und  nicht  die  Bedeutung,  wie  in  der  Welt  des  geistig- 
persönlichen Lebens,  und  so  tritt  hier  die  auf  das  Allgemeine,  den  Begriff 
und  das  Gesetz  gerichtete  Forschung  in  den  Vordergrund.  Zuletzt  aber 
hat  auch  ein  Naturgesetz  Erkenntniswert  dadurch,  daß  es  uns  befähigt,  den 
Einzelvorgang  in  seinem  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  zu  erkennen. 
Das  Gravitationsgesetz  dient  als  Konstruktionsmittel  dieses  konkreten 
tellurisch -kosmischen  Systems. 

Zu  bemerken  bleibt  noch,    daß    es  neben   der  begrifflichen    und    be-    ß"«  No™- 

^  ^       Wissenschaften. 

schreibenden  Form  der  Wissenschaft  noch  eine  dritte  gibt,  das  ist  die 
normative  oder  technologische.  Sie  stellt  in  Form  von  allgemeinen 
Sätzen  Regeln  für  die  Lösung  von  Aufgaben  auf  einem  bestimmten  Gebiet 
dar.  Allerdings  ist  sie  nicht  eigentlich  eine  neue  und  selbständige  Form 
der  Erkenntnis;  die  Normen  oder  Regeln,  sofern  sie  überhaupt  wissen- 
schaftlich begründet  werden,  sind  natürlich  aus  der  Theorie,  aus  der  Er- 
kenntnis des  Wesens  der  Sache  abzuleiten.  In  geschichtlicher  Betrach- 
tung ist  aber  das  Verhältnis  dies,  daß  wissenschaftliche  Erkenntnis  zuerst 
in  der  Form  von  praktisch-technischen  Regeln  zur  Lösung  praktischer 
Aufgaben  hervortritt;  die  Notwendigkeit  der  Meßkunst  hat  die  Geometrie, 
die  der  Heilkunst  die  Kenntnis  des  Leibes  und  Lebens  hervorgetrieben.  Die 
„Technologie"  ist  also  die  älteste  Form  der  Wissenschaft,  die  Regeln  sind 
früher  als  die  Theoreme,  diese  lösen  sich  erst  allmählich  zu  selbständigen 
Systemen  von  jenen  ab.  Das  ist  in  den  Geisteswissenschaften  noch  sicht- 
barer als  in  den  Naturwissenschaften;  die  Grammatik,  die  Logik,  die  Ethik, 
die  Politik,  die  Jurisprudenz,  die  Nationalökonomie,  sie  sind  alle  entstanden 
als  Versuche,    zunächst  einzeln    gefundene   Regeln    zur  Lösung  von  Auf- 


,gg  Friedrich  Paulsen:   Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

gaben  systematisch  darzustellen,  also  als  normative  oder  technologische 
Disziplinen.  Und  die  Scheidung  von  Theorie  und  Technologie  ist  bei  den 
meisten  viel  später  erfolgt  und  viel  weniger  scharf  durchgeführt,  als  im 
Gebiet  der  Naturwissenschaften;  sie  läßt  sich  vielleicht  auch  überhaupt 
nicht  so  scharf  durchführen. 

Was  endlich  die  Gliederung  des  Forschungsgebiets  der  Geistes- 
wissenschaften anlangt,  so  weisen  die  Tatsachen  auf  eine  doppelte  hin, 
die  topographische  und  die  ideographische.  Der  Gegenstand  der 
Geisteswissenschaften  ist,  wie  gesagt,  das  geschichtUche  Leben  der  Mensch- 
heit auf  Erden;  wobei  es  dahingestellt  bleiben  kann,  ob  wir  Grund  haben, 
wie  es  denn  wohl  der  Fall  sein  mag,  geistiges  Leben  auch  außerhalb 
dieses  Kreises  anzunehmen;  für  die  Weltanschauung  ist  das  von  großer 
Bedeutung,  aber  der  wissenschaftlichen  Forschung  bietet  es  keinen  Stoff. 
Das  geschichtliche  Leben  zeigt  nun  jene  doppelte  Gliederung,  die  topo- 
graphische nach  Völkern,  Rassen,  Kulturkreisen,  und  die  ideographische 
nach  Inhalten  und  Richtungen  der  geschichtlichen  Lebensbetätigung. 

Als  die  Träger  alles  geistigen  Lebens  stellen  sich  die  dauernden,  in 
dem  Wechsel  der  Generationen  sich  selbst  erhaltenden  Lebensgemein- 
schaften dar,  vor  allem  die  Nationen.  Der  einzelne  hat  an  dem  geistigen 
Leben  nur  als  Glied  einer  Gemeinschaft  teil,  aus  der  er  es  empfängt,  in 
der  er  es  lebt,  für  die  er  es  erhaltend  schafft  und  mehrt.  Seelisches 
Leben  hat  auch  der  einzelne  als  solcher,  wie  auch  das  Tier  es  hat;  zum 
geistigen  Leben,  zum  reflektierten,  sich  selbst  im  Selbstbewußtsein  er- 
fassenden Leben  erhebt  er  sich  nur,  sofern  er  am  geschichtlichen  Leben 
der  Gesamtheit  teilhat.  Alles  geistige  Leben  ist  daher  ein  national 
diiferenziertes  und  seine  wissenschaftliche  Erforschung  wird  demnach  dieser 
auch  räumlich-zeitlich  dargestellten  Gliederung  folgen. 
Topographische  Die  idcographische  GUederung  folgt  der  Differenzierung  der  geistigen 

pbrscheGifede- Lebensbetätigung.  Als  die  hauptsächlichsten  Organ-  und  Funktionssysteme, 
""^'  in  denen  der  menschliche  Geist  den  Inhalt  des  geschichtlichen  Lebens 
schafft,  treten  hervor:  Familie  und  Sitte,  Gesellschaft  und  wirtschaftliches 
Leben,  Staat  und  Recht,  Kirche  und  Religion,  Geselligkeit  und  Spiel, 
Kunst  und  Poesie,  und  zuletzt,  auf  höchster  Entwicklungsstufe  sich  be- 
sondernd, Philosophie  und  Wissenschaft.  Überall,  wo  menschlich-geistiges 
Leben  aus  und  über  dem  bloß  animalischen  sich  erhebt,  finden  sich  diese 
Grundformen  wenigstens  in  keimhaften  Anfängen.  Die  Sprache  aber  ist 
überall  ihre  Voraussetzung  und  ihr  vornehmstes  Vehikel,  sie  ist  das  Band, 
wodurch  die  Individuen  und  die  Generationen  zur  überorganischen  Einheit 
geistigen  Lebens  verknüpft  sind. 

Für  die  auf  das  Allgemeine  gerichtete  Forschung  wird  das  ver- 
gleichende Studium  der  homologen  Bildungen  bei  den  verschiedenen 
Völkern  und  in  den  verschieden  gearteten  Kulturen  von  besonderer  Wich- 
tigkeit sein:  die  allgemeine  Staats-  und  Rechtslehre,  die  Religions- 
oder   Kunstphilosophie    wird    die    überall    wiederkehrenden    Formationen 


I.  Die  Geisteswissenschaften,  ihr  Gegenstand  und  Charakter,  ihre  Aufgabe  und  Gliederung.      280 

und  Funktionen,  Institute  und  Normen  auf  ihr  allgemeines  Wesen  zu 
bringen  und  in  ihrem  begrifflichen  Zusammenhang  darzustellen  suchen, 
zugleich  den  Bedürfnissen  und  inneren  Triebkräften  nachgehend,  in  denen 
sie  ihre  Wurzeln  haben.  Die  auf  das  Einzelne  gerichtete  Forschung  wird 
in  der  Arbeitsteilung  hauptsächlich  der  topographischen  Gliederung  folgen, 
schon  darum,  weil  die  fruchtbare  wissenschaftliche  Arbeit  an  die  Beherr- 
schung der  Sprachen  geknüpft  ist.  Dazu  kommt  der  innere  Zusammen- 
hang zwischen  allen  Lebensäußerungen  eines  Volks  oder  eines  Kultur- 
kreises: sein  wirtschaftlich -gesellschaftliches  und  sein  politisches  Leben, 
sein  Recht  und  seine  Religion,  seine  Dichtung  und  Kunst  bilden  eine  or- 
ganische Einheit;  jeder  Teil  empfängt  Licht  aus  dem  Ganzen  und  wirft 
Licht  auf  das  Ganze. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  die  Bedeutung  der  Geisteswissen-  Bedeutung  der 
Schäften.  Das  geschichtliche  Leben  der  Menschheit  ist  das  Stück  der  schS^^"'" 
Wirklichkeit,  das  uns  am  intimsten  bekannt  ist  und  am  nächsten  angeht. 
Hier  allein  erreichen  wir  ein  innerliches  Verstehen  des  Wirklichen,  ein 
Verstehen,  das  auf  dem  Mit-  und  Nacherleben  beruht.  Die  Naturwissen- 
schaften führen  nicht  über  ein  äußeres  Begreifen  hinaus,  wie  in  der  Astro- 
nomie und  Physik,  so  in  der  Chemie  und  Physiologie;  Konstellationen 
und  Bewegungen  von  materiellen  Teilen  sind  überall  ihr  Gegenstand.  So 
gerechten  Stolz  die  Astronomie  über  die  Herrschaft  empfindet,  womit  sie 
das  Universum  oder  sagen  wir  bescheidener,  den  kleinen,  uns  von  unserem 
Standort  aus  sichtbaren  Teil  bemeistert  hat,  so  gewiß  ist  andererseits,  daß 
alle  astronomische  Erkenntnis  niemals  mehr  als  ein  äußerliches  mathe- 
matisches Begreifen  von  Erscheinungen  zu  leisten  vermag.  Dagegen  das 
Universum,  das  im  Innern  sich  darstellt,  bietet  erst  die  Wirklichkeit,  wie 
sie  für  sich  selbst  ist;  erst  im  geistig-geschichtlichen  Leben  geht  uns  das 
Verständnis  für  Wesen,  Sinn  und  Wert  des  Wirklichen  auf.  Fiele  es  aus, 
so  wäre,  was  die  Naturwissenschaften  als  solche  von  der  Wirklichkeit  zu 
sagen  wissen,  für  uns  im  Grunde  bedeutungslos.  Und  daher  liegt  der 
Brennpunkt  unseres  Interesses  an  der  Wirklichkeit  in  den  Geisteswissen- 
schaften; das  Wissen  von  der  Natur  erhält  erst  durch  seine  Beziehung 
zum  Geist  eigentlich  theoretisches  Interesse. 

Ich  sage  das  nicht,  um  die  Wichtigkeit  der  Naturwissenschaften  her- 
abzudrücken, sie  ist  groß  und  unwidersprochen,  sondern  um  gegen  eine 
oberflächliche  Betrachtung  Verwahrung  einzulegen,  die,  durch  die  äußere 
Größe  der  Natur  in  Raum  und  Zeit  in  Erstaunen  gesetzt,  die  absolute  Be- 
deutsamkeit des  Geistigen  vergißt.  Gegenüber  einer  Auffassung,  die  den 
Geist  als  ein  geringfügiges  Nebenprodukt  des  Naturberufs  anzusehen  an- 
leitet, die  es  als  verrückten  Größenwahn  ansieht,  wenn  der  Mensch  von 
sich,  vom  Geist  aus  das  Verständnis  der  Wirklichkeit  sucht  (Haeckel  hat 
hierfür  den  Ausdruck  „Anthropismus"  geprägt  und  erblickt  in  seiner  Ab- 
stoßung die  eigentliche  Großtat  der  Wissenschaft  im  19.  Jahrhundert), 
gegenüber    solcher  Verachtung  des  Geistes  wird   immer  wieder  zu  sagen 

DcE  Kultur  der  Gegenwart.    1.  1,  1^ 


2Q0  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

sein:  so  groß  oder  klein  die  Bedeutung  des  menschlichen  Geisteslebens 
für  das  Universum  sein  mag,  für  uns  bleibt  es  auf  jeden  Fall  das  Stück 
der  Wirklichkeit,  das  allein  unmittelbar  Wert  und  Bedeutung  hat,  das 
einzige   auch,  wo  wir  die  Wirklichkeit  unmittelbar,  wie   sie   ist,   erfassen. 

Studium  der  11.  Das  Studium  der  Geisteswissenschaften  in   seiner  gegen- 

^IchXnT"  wärtigen  Gestalt  auf  den  deutschen  Schulen  und  Universitäten, 
"'der" Kursus"" Drei  Stufen  des  Unterrichts  ergeben  sich  aus  der  Natur  der  Sache;  sie 
stellen  sich  in  schematischem  Entwurf  so  dar.  Ein  Elementarkursus  wird 
zur  ersten  Aufgabe  die  Erlernung  des  Lesens  und  Schreibens  und  die  Be- 
festigung in  der  Muttersprache  haben:  die  heimische  Sprache  und  Schrift 
sind  für  jedes  Menschenkind  das  Eingangstor  zur  Welt  des  Geistes.  Es 
folgt  ein  mittlerer  Kursus,  nennen  wir  ihn  den  Gymnasialunterricht,  dessen 
Aufgabe  in  Absicht  auf  die  geisteswissenschaftliche  Ausbildung  vornehm- 
lich der  Unterricht  in  fremden  Sprachen  sein  wird,  den  Sprachen  des 
räumlich  und  zeitlich  erweiterten  Kulturkreises,  dem  das  Leben  der  eigenen 
Nation  angehört.  Die  Einführung  in  die  Literatur  dieser  Sprachen  und 
die  Geschichte  dieser  Völker  wird  sich  damit  naturgemäß  verbinden.  Die 
Form  des  Unterrichts  wird  schulmäßige  Übung  sein.  Selbstverständlich 
kann  der  Gymnasialunterricht  nicht  darauf  verzichten,  auch  die  Elemente 
der  Mathematik  und  Naturwissenschaften  aufzunehmen,  sie  gehören  zu  den 
unentbehrlichen  Voraussetzungen  des  Verständnisses  auch  der  mensch- 
lichen Dinge. 
2.  Hochschule,  Diesem    vorbereitenden    Unterricht    wird    endlich    ein    dritter   Kursus, 

^schaftTicher  das  abschließende  Studium  auf  der  Hochschule  folgen.  Hier  wird  es  sich 
um  eine  eigentlich  wissenschaftliche  Ausbildung  handeln.  Ihre  Aufgabe 
wird  sein,  sich  mit  den  Tatsachen  und  den  Begriffen,  den  Erkenntnis- 
mitteln und  den  Arbeitsmethoden  vertraut  zu  machen,  mit  denen  in  den 
Geisteswissenschaften  Erkenntnis  gewonnen  wird,  bis  zur  Fähigkeit,  durch 
eigene  Arbeit  solche  Erkenntnis  zu  erzeugen.  Wobei  denn  die  Be- 
schränktheit menschlicher  Kraft  Lehrer  und  Schüler  zur  Beschränkung 
auf  einen  mehr  oder  minder  ausgedehnten  Ausschnitt  aus  dem  unendlichen 
Gebiet  des  menschheitlichen  Geisteslebens  nötigen  wird.  Als  Unterrichts- 
formen ergeben  sich  der  Vortrag  und  die  Übungen.  Die  Aufgabe  des 
Vortrags  wird  vor  allem  die  sein,  geformte  Erkenntnis  in  ihrem  inneren, 
systematischen  Zusammenhang  vorzuführen  und  dadurch  die  Neueintreten- 
den in  dem  Gebiet  zu  orientieren;  die  Aufgabe  der  Übungen  wird  sein, 
zum  selbständigen  Gebrauch  der  Erkenntnismittel  und  Arbeitsmethoden 
anzuleiten,  durch  die  aus  gegebenen  Tatsachen  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis erzeugt  wird.  Selbstverständlich  müssen  beide  Formen  des  Unter- 
richts Hand  in  Hand  gehen:  ohne  eigene  Versuche  wird  keine  selbständige 
und  fruchtbare  Erfassung  möglich  sein,  aber  auch  die  vorbildliche  Dar- 
stellung des  Gegenstandes  in  der  „Vorlesung"  wird  nicht  leicht  entbehrt 
werden  können:   wie   der  Hörer   der  lebendigen  Rede  bedarf,   um   an   die 


II.  DasStudium  der  Geistes  wissensch.  in  seiner  gegenwärt.  Gestalt  auf  d.  deutsch.  Schulen  u.Univ.     2g  I 

Sache  zu  kommen,  so  ist  für  den  Lehrer  die  zusammenhangende  Mitteilung 
zugleich  Antrieb  und  Lohn  der  Arbeit. 

Zu  dem  fachwissenschaftlichen  Unterricht  kommt   dann  noch  als  eine  b)  phiiosophi- 

r    •    1  *i-  r-i  r^     ^  •        sches  Studium. 

unentbehrliche  Ausrüstung  für  wissenschaftliche  Arbeit  auf  jedem  uebiet 
die  Philosophie.  Der  akademische  Unterricht  in  der  Philosophie  wird  zu- 
nächst zwei  Aufgaben  haben:  einerseits  die  allgemeinen  Formen  und  Maß- 
stäbe wissenschaftlicher  Erkenntnis  dem  angehenden  Jünger  der  Wissen- 
schaft zu  übermitteln,  sowie  die  Einordnung  der  einzelnen  Wissenschaft 
in  das  System  der  Wissenschaften  aufzuzeigen:  das  Geschäft  der  Logik 
und  Wissenschaftslehre;  andererseits  den  Zusammenhang  alles  Einzelnen 
mit  dem  Ganzen,  alles  Einzelwissens  mit  dem  stets  gesuchten  und  nie  er- 
reichten absoluten  System  einer  Weltwissenschaft  aufzuzeigen:  das  Geschäft 
der  Metaphysik.  Zur  Metaphysik,  wenn  wir  mit  diesem  Namen  die  ge- 
suchte allgemeine  Theorie  der  Wirklichkeit  bezeichnen,  kommt  noch  die 
Ethik,  die,  wie  jeden  Lebensinhalt,  so  auch  die  Wissenschaft  und  ebenso 
jede  berufswissenschaftliche  Tätigkeit  aus  dem  Gesichtspunkt  der  höchsten 
menschlichen  Lebenszwecke  zu  betrachten  Anleitung  gibt.  Für  die  geistes- 
wissenschaftliche Ausbildung  wird  eine  Orientierung  über  die  letzten  Maß- 
stäbe menschlicher  Werte  sich  noch  als  besonders  notwendig  erweisen, 
weil  sich  hier  (es  wurde  schon  oben  berührt)  die  Würdigung  tatsächlich 
niemals  ausschalten  läßt,  wie  es  in  den  Naturwissenschaften  möglich  ist; 
Klarheit  über  die  Maßstäbe  der  Wertung  wird  hier  also  zu  einer  auch 
aus  dem  Gesichtspunkt  der  Wissenschaft  selbst  unerläßlichen  Forderung. 
Endlich  kommt  noch  die  Psychologie  in  Betracht,  welche  die  Grundformen 
und  Gesetze  des  seelischen  Lebens  untersucht,  das  die  Naturgrundlage 
alles  geistigen  Lebens  ausmacht;  alle  Geisteswissenschaften  machen  be- 
ständig von  Begriffen  Gebrauch,  die  in  der  Psychologie  im  Zusammenhang 
untersucht  und  dargestellt  werden. 

So  das  Schema.  Ihm  entspricht  in  den  großen  Zügen  die  Wirklich- 
keit. Auf  den  Elementarunterricht  folgt  überall  eine  Mittelstufe,  wo  der 
Unterricht  in  den  fremden  Sprachen  und  Literaturen  ein  Hauptstück  oder 
das  Hauptstück  des  Unterrichts  bildet.  Gelehrt  werden  die  Sprachen  der 
führenden  Nationen  der  modernen  Kultur,  auf  deren  gemeinsamer  Arbeit 
das  Geistesleben  der  europäischen  Völkerwelt  beruht,  und  die  Sprachen 
der  beiden  großen  Völker  der  Altertums,  durch  welche  die  geistige  Sub- 
stanz geschaffen  oder  bereitet  worden  ist,  mit  deren  Übernahme  und  Ver- 
arbeitung das  geistige  Leben  der  modernen  Völker  beginnt.  Dann  folgt 
das  fachwissenschaftliche  Studium  auf  der  Universität.  In  drei  Fakultäten 
unserer  alten  Universitäten  hat  das  Studium  der  Geisteswissenschaften 
seinen  Ort:  in  der  theologischen,  der  juristischen  und  der  historisch-philo- 
logischen Hälfte  der  philosophischen  Fakultät. 

Zuerst  über  die   beiden  „oberen"  Fakultäten,   die   theologische   und  Theologie  un.i 

...  Jurisprudeoi ; 

juristische,  eine  Bemerkung.  Sie  bieten  jede  einen  relativ  in  sich  ab- 
geschlossenen, fachwissenschaftlichen,  für  einen  praktischen  Beruf  vorberei- 

19* 


202  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

tenden  Studienkursus,  doch  so,  daß  sie  auf  bestimmte  Ergänzungen  aus 
der  philosophischen  Fakultät,  nach  der  philologisch-historischen  und  der 
philosophischen  Seite,  verweisen.  Es  ist  das  ein  Hinweis  darauf,  daß  die 
ganze  Fakultätsgliederung  nicht  aus  dem  Gesichtspunkt  einer  theoretischen 
Einteilung  der  Wissenschaften  getroffen  worden  ist.  In  einer  rein  wissen- 
schaftlichen Anstalt,  wo  der  Studienbetrieb  lediglich  aus  theoretischem 
Gesichtspunkt  geordnet  wäre,  würde  die  Gliederung  eine  andere  sein.  Das 
„theologische"  Studium  würde  hier,  etwa  unter  dem  Titel  einer  religions- 
wissenschaftlichen, das  „juristische"  unter  dem  Namen  einer  rechtswissen- 
schaftlichen Abteilung  innerhalb  der  philologisch-historischen  Hälfte  der 
philosophischen  Fakultät  seinen  Ort  haben;  diese  Fakultät  würde  eben, 
der  ursprünglichen  Bedeutung  ihres  Namens  entsprechend,  überhaupt  alle 
wissenschaftliche  Forschung  umfassen,  in  der  Einheit  der  Forscherarbeit 
darstellend  die  gesuchte  Einheit  der  Wirklichkeitserkenntnis  oder  die 
Philosophie. 
Ihre  systema-  Was  zur  Hcraushcbung  der  Theologie  und  Jurisprudenz  aus  dem  Zu- 

te  ung.  g^j^j^gjjjjj^j^g  ^jjj(j  2^  ihrer  Konstituierung  als  selbständiger  Gebiete  geführt 
hat,  das  ist  natürlich  der  praktische  Gesichtspunkt,  dem,  wie  alle  Berufs- 
bildungsanstalten, so  auch  die  Universitäten  mit  ihren  Fakultäten  Ursprung 
und  Gestalt  verdanken;  für  die  ältesten  und  ersten  öffentlichen  Berufe 
sind  in  der  theologischen  und  juristischen  Fakultät  Fachbildungsanstalten 
geschaffen.  Und  der  praktische  Gesichtspunkt  bestimmt  in  ihnen  auch  die 
Auswahl  des  Lehrstoffs:  jede  hat  die  Fächer  in  sich  aufgenommen,  die  für 
die  entsprechende  Berufsübung  die  notwendigen  wissenschaftlichen  Kennt- 
nisse bieten.  Ganz  ebenso  wie  die  medizinische  Fakultät  die  für  die  wissen- 
schaftliche Ausbildung  des  Arztes  wesentlichen  Studien  in  sich  vereinigt 
hat,  ohne  Rücksicht  auf  ihren  systematischen  Ort,  denn  offenbar  würden 
Anatomie  und  Physiologie  in  einer  systematischen  Ordnimg  innerhalb  der 
biologischen  Wissenschaften  und  zusammen  mit  ihnen  in  der  naturwissen- 
schaftlichen Abteilung  der  philosophischen  Fakultät  ihren  Platz  finden, 
ebenso  hat  die  theologische  Fakultät  die  christliche  Religion  und  ihre 
geschichtliche  Entwicklung  mit  ihrer  Vorgeschichte  im  Judentum  aus  der 
Gesamtheit  religionswissenschaftlicher  Studien  herausgenommen,  alle  übrigen 
Religionen,  griechische  und  römische,  indische  und  persische,  Islam  und 
Buddhismus  der  philosophischen  überlassend,  wo  sie  dann  freilich,  im  Ver- 
gleich mit  jener  bevorzugten,  nur  gelegentliche  und  spärliche  Behandlung 
finden.  Und  das  Entsprechende  gilt  auch  von  der  juristischen  Fakultät. 
Einem  möglichen  Mißverständnis  zu  wehren,  füge  ich  gleich  hinzu, 
daß  dies  nicht  im  Sinne  des  Tadels  gesagt  ist;  es  liegt  mir  fem,  die 
jüngst  erhobene  Forderung  mir  anzueignen,  die  theologische  Fakultät  in 
eine  „religionswissenschaftliche"  umzuwandeln  oder  etwa  sie  als  Abteilung 
unter  diesem  Namen  in  die  philosophische  zu  versetzen.  Wer  das  wollte, 
der  müßte  ein  gleiches  natürlich  auch  für  die  juristische  fordern  und  dann 
wohl   auch    die    weitere   Folge    ziehen,    daß    diese    religions-   oder    rechts- 


n.  Das  Studium  derGeisteswssensch.  in  seiner  gegenwärt.  Gestalt  auf  d.  deutsch.  Schulen  u.Univ.      293 

wissenschaftliche  Abteilung  nun  die  Religionen  oder  die  Rechtssysteme 
aller  Völker  der  Erde,  ohne  allen  Vorzug,  ob  christlich  oder  tibetanisch, 
römisch  oder  babylonisch,  mit  gleicher  Eindringlichkeit  erforsche  und  dar- 
stelle. Und  dasselbe  würde  dann  natürlich  auch  für  die  übrigen  philo- 
logischen und  historischen  Forschungsgebiete  gelten:  für  die  Wissenschaft 
als  solche  liegt  gar  kein  Grund  vor,  der  griechischen  oder  deutschen 
Sprache  und  Literatur  vor  der  ägyptischen  oder  chinesischen  den  Vorzug 
zu  geben.  Solange  alle  Welt  diese  Konsequenz  für  absurd  halten  wird, 
solange  wir  diesen  bestimmten  Ort  in  der  geschichtlichen  Welt  einnehmen 
und  unsere  Lehrer  und  Studierenden  nicht  Menschen  im  allgemeinen  oder 
abstrakte  Subjekte  der  wissenschaftlichen  Forschung,  sondern  individuali- 
sierte und  nationalisierte  Persönlichkeiten  mit  bestimmtem  Interessenkreis 
und  bestimmten  Lebensaufgaben  sind,  so  lange  wird  auch  für  uns  die 
christliche  Religion  im  Mittelpunkt  des  religionswissenschaftlichen  Uni- 
versitätsstudiums stehen,  und  ebenso  im  Mittelpunkt  des  Rechtsstudiums 
das  deutsche  und  römische  Recht. 

Die    Vorherrschaft    des    praktischen    Gesichtspunktes    in    den    beiden  Dogmatischer 

^  o      rc  "°^  historisch- 

„oberen"  Fakultäten  tritt  aber  nicht  nur  in  der  Auswahl  des  Stoffes,  son-   exegetischer 

"  .  Unterricht. 

dem  auch  in  der  Behandlung  zutage.  Zwei  Formen  gehen  hier  von  jeher 
nebeneinander  her:  die  dogmatische  und  die  exegetisch-historische. 
Die  dogmatische  ist  verwandt,  aber  nicht  gleichbedeutend  mit  der,  die 
wir  oben  als  die  begriffliche  ableiteten;  sie  kann  als  eine  Art  Mittelding 
zwischen  der  begrifflichen  und  der  normativen  bezeichnet  werden.  Sie 
stellt  ein  geltendes  Glaubens-  oder  Rechtssystem  in  Gestalt  eines  Systems 
wissenschaftlich  abgeleiteter  Sätze  dar,  aber  diese  Sätze  nehmen  zugleich 
normative  Bedeutung  in  Anspruch:  so  soll  gelehrt  und  geglaubt,  so  soll 
für  Recht  erkannt  werden.  Dabei  bedient  sich  die  dogmatische  Darstel- 
lung der  allgemeinen  Begriffe,  wie  sie  aus  der  bestimmten  Sphäre  abstra- 
hiert sind:  der  religiösen  Begriffe,  wie  sie  im  Christentum,  der  Rechts- 
begriffe, wie  sie  im  römischen  Recht  ausgeprägt  sind.  Die  übrigen  Formen 
der  Religion  oder  des  Rechts  werden  nur  gelegentlich  und  nebenher  in 
Betracht  gezogen,  sonst  aber  der  „vergleichenden"  Rcligions-  und  Rechts- 
wissenschaft überlassen.  Man  wird  darin  eine  Nachwirkung  der  alten 
Anschauung  zu  erkennen  haben,  die  nur  eine  Religion  als  die  wahre,  alle 
übrigen  als  unechte  oder  Aberglaubensformen  ansah;  und  ähnlich  im 
Recht,  wo  nur  eine  Form,  das  römische  Recht,  als  die  vollkommene 
Form  des  Rechts  überhaupt  galt. 

Der  dogmatischen  Behandlung  geht  die  historische  und  exege- 
tische zur  Seite.  In  der  Kirchen-  und  Dogmengeschichte  wird  die  Ge- 
schichte der  christlichen  Religion,  in  der  Rechtsgeschichte  die  Geschichte 
des  römischen  und  deutschen  Rechts  vorgetragen.  Daneben  wird  in  lite- 
rarisch-exegetischen Vorlesungen  über  den  Stand  der  Quellenkunde,  der 
Kritik  und  Hermeneutik  berichtet  und  Ziel  und  Form  der  wissenschaft- 
lichen Arbeit  gezeigt. 


2Q4  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Seminar-  Ncbeii  den  Vorlesungen  sind  in  jüngster  Zeit  die  seminaristischen 

Übungen,  ausgehend  von  der  philosophischen  Fakultät,  auch  in  den 
beiden  oberen  Fakultäten  mehr  und  mehr  in  i\ufnahme  gekommen.  Wir 
begegnen  ihnen  in  drei  Formen.  Dem  dogmatischen  Vortrag  geht  die 
Erläuterung-  und  Einübung  der  gebrauchten  Begriffe  in  Gestalt  von  Be- 
sprechungen zur  Seite,  die  sich  an  die  Vorlesung  oder  an  die  gemeinsame 
Lektüre  eines  dogmatischen  Werkes  anschließen,  in  der  juristischen  auch 
von  vorgelegten  Rechtsfällen  ausgehen.  Neben  den  exegetisch-literarischen 
Vorlesungen  steht  die  Übung  in  der  Interpretation  und  kritischen  Behand- 
lung von  Ouellentexten.  Endlich  haben  wir  in  den  eigentlichen  Seminaren 
die  Anleitung  zu  ersten  selbständigen  Untersuchungen  und  zur  Ausführung 
wissenschaftlicher  Arbeiten.  Doch  ist  die  Zahl  derer,  die  es  hierzu  bringen, 
im  Verhältnis  zur  Gesamtzahl  nicht  groß. 

Philosophische  Wir  wenden  uns  zur  philosophischen  Fakultät.    Hier  tritt  der  Cha- 

rakter der  Universität  als  theoretisch-wissenschaftlicher  Anstalt  am  stärk- 
sten hervor.  Sie  hat  jetzt  zwar  auch  eine  Art  praktischer  Aufgabe,  die 
Vorbildung  von  Gymnasiallehrern  für  ihren  Beruf;  da  sie  aber  diese  Auf- 
gabe, und  nicht  ohne  guten  Grund,  sich  so  auslegt,  daß  sie  die  künftigen 
Lehrer  so  viel  als  möglich  zu  eigentlichen  Gelehrten  auszubilden  sucht, 
ohne  auf  jene  praktische  Bestimmung  direkt  Rücksicht  zu  nehmen,  so  er- 
fährt der  Zug  zur  rein  gelehrten  Ausbildung  von  dieser  Seite  kaum  eine 
Beschränkung.  Am  unbedingtesten  setzt  sich  die  Richtung  auf  rein  theo- 
retische und  universelle  Erforschung  der  Wirklichkeit  vielleicht  in  der 
mathematisch-naturwissenschaftlichen  Hälfte  der  Fakultät  durch.  In  der 
philologisch-historischen   Abteilung    macht    sich    die    Beziehung    zu    jenem 

Die  Gebiete,  praktischen  Beruf  wenigstens  in  der  Auswahl  des  Lehrstoffs  geltend:  die 
Arbeit  konzentriert  sich,  wenn  auch  im  Prinzip  die  Universalität  fest- 
gehalten wird,  tatsächlich  auf  das  Gebiet  geschichtlichen  Lebens,  das  zu 
der  Aufgabe  der  Jugendbildung  in  unseren  höheren  Schulen  nähere  Be- 
ziehung hat,  also  das  klassische  Altertum,  das  Christentum  und  die  Haupt- 
völker der  abendländisch-christlichen  Zivilisation.  Die  Gebiete,  die,  von 
diesem  Mittelpunkt  aus  gesehen,  peripherisch  gelegen  sind,  finden  an  un- 
seren Universitäten  nur  eine  mehr  nebenhergehende  Pflege,  am  meisten 
und  längsten  die  semitische  und  die  indische  Welt,  jene  wegen  ihrer  ge- 
schichtlichen Beziehungen  zum  Christentum  und  Altertum,  diese  vor  allem 
um  der  Sprachverw^andtschaft  willen.  Übrigens  hat  das  19.  Jahrhundert 
den  Kreis  immer  mehr  erweitert;  wie  die  Forschung  einerseits  in  die 
Welt  des  Ostens  immer  weiter  vorgedrungen  ist,  so  hat  sie  andererseits 
die  modernen  Sprachen  und  Literaturen  beständig  fortschreitend  in  den 
Bereich  der  philologischen  Bearbeitung  hineingezogen.  Geschah  es  zu- 
nächst in  rein  theoretischer  Absicht,  so  ist  in  dem  letzten  halben  Jahr- 
hundert durch  das  rasch  wachsende  Bedürfnis  nach  wissenschaftlich  ge- 
bildeten Lehrern  der  großen  lebenden  Kultursprachen  ihrem  Universitäts- 
betrieb  auch   eine   praktische   Aufgabe   zugewachsen.     Es   erscheint   darin 


n.  Das  Studium  derGeisteswissensch.in  seiner  gegenwärt.  Gestalt  auf  d.  deutsch.  Schulen  u.Univ.      295 

die  mit  der  steigenden  Differenzierung  der  Nationalkulturen  in  gleichem 
Schritt  sich  vertiefende  Wechselwirkung.  In  der  Angliederung  eines 
„oriencalischen  Seminars"  an  die  Universität  Berlin  für  die  praktische  Er- 
lernung der  asiatischen  und  afrikanischen  Sprachen,  mit  denen  Handels- 
verkehr und  Kolonialwesen  uns  in  immer  nähere  Berührung  bringen, 
haben  wir  die  jüngste  Wirkung  dieser  Tendenz.  Mit  dem  Weltverkehr 
wächst  sich  der  alte  Name  der  Weltgeschichte  immer  mehr  zur  Wahr- 
heit aus. 

Bemerkt  mag  noch  werden,  daß  die  neuen  Gebiete  der  Philologie 
gewisse  Verschiedenheiten  in  den  Arbeitszielen  mit  sich  gebracht  haben. 
Während  für  die  klassische  Philologie  die  Textkritik,  d.  h.  die  auf  die 
Herstellung  der  verderbt  und  lückenhaft  überlieferten  Schriftwerke  ge- 
richtete Arbeit  ein  sehr  wichtiges  Stück  der  Aufgabe  war  und  ist,  tritt 
diese  für  die  moderne  Philologie,  namentlich  soweit  es  sich  um  gedruckte 
Literatur  handelt,  der  Natur  der  Sache  nach  durchaus  in  den  Hintergrund. 
Dafür  stellt  hier  die  Sprache  selbst  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung 
der  Forschung  ebenso  anziehende  als  lohnende  Aufgaben;  und  auch  die 
literargeschichtliche  Untersuchung,  besonders  auch  in  Absicht  auf  die 
historische  Abhängigkeit  der  Schriftsteller  nach  Stoff  und  Form,  die  Ent- 
wicklung der  Werke  im  Geist  des  Autors  und  ähnliches  ist  hier,  bei  der 
Fülle  der  Überlieferung,  eine  dankbare  Aufgabe.  Für  die  modernen 
Fremdsprachen  hat  sich  endlich  noch  als  ein  wichtiges  Stück  der  Aus- 
bildung auch  die  Fertigkeit  im  lebendigen  Gebrauch  der  Sprache  durch- 
gesetzt. 

Was   im    übrigen  den  Studienbetrieb  anlangt,   so   zeigt  sich  der  Cha-  Der  .studien- 

=  o    '  o  betrieb, 

rakter  der  philosophischen  Fakultät  als  der  eigentlich  theoretischen  auch  die  Seminare, 
darin,  daß  er  mehr  als  in  den  anderen  Fakultäten  auf  die  Anleitung  zur 
selbständigen  Beteiligung  an  der  wissenschaftlichen  Forschung  gerichtet 
ist.  Die  Seminararbeit  erreicht  hier  ihre  größte  Ausdehnung  und  Inten- 
sität. Ausgehend  von  der  klassischen  Philologie,  die  im  Zeitalter  des 
Neuhumanismus  mit  der  systematischen  Heranziehung  der  Studierenden 
zur  Erforschung  des  Altertums  voranging,  hat  sie  sich  allmählich  über  das 
ganze  Gebiet  der  philologischen  Studien  und  ebenso  über  die  historischen 
und  staatswissenschaftlichen,  in  gewissem  Maße  auch  die  philosophischen 
Gebiete  au.sgebreitet.  ÜberaU.  findet  Anleitung  zu  selbständiger  Unter- 
suchung von  Quellen  und  Tatsachen  statt.  In  der  Regel  wird  die  Arbeit 
auf  zwei  Stufen  verteilt,  die  erste  hat  die  mehr  schulmäßige  Einführung 
in  den  Gebrauch  des  notwendigen  Handwerkszeugs  zur  Aufgabe,  auf  der 
zweiten  handelt  es  sich  um  die  mehr  oder  minder  selbständige  Bearbei- 
tung kleinerer  wissenschaftlicher  Aufgaben,  woraus  die  Dissertationen 
her\orzugehen  pflegen,  in  denen,  der  Idee  nach,  die  Legitimation  zur  Mit- 
arbeit an  der  Wissenschaft  erbracht  wird. 

In   demselben   Maße,   als   der   seminaristische   Betrieb   an   Breite   und  des"ijoKnia° 
Bedeutung   gewonnen    hat,    ist    der   eigentlich    dogmatische    Vortrag   der  ,):l^'^H°s"to?r,che. 


2q6  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Wissenschaften,  wie  er  noch  im  1 8.  Jahrhundert  auch  in  der  philosophischen 
Fakultät  herrschend  war,  zurückgegangen.  Er  findet  sich  fast  nur  noch 
in  den  Staatswissenschaften  und  in  der  Philosophie;  und  auch  hier  ist  die 
Wendung  vom  Dogmatischen  zum  Historischen  unverkennbar:  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  htit  die  Metaphysik  und  Ethik,  die  Wirtschafts- 
geschichte die  theoretische  Nationalökonomie,  die  Staatengeschichte  die 
allgemeine  Staatslehre  oder  Politik  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Und 
noch  mehr  ist  die  Abwendung  von  dem  Begrifflich-Doktrinalen  auf  andern 
Gebieten  sichtbar.  Die  Theorie  der  literarischen  Produktion,  wie  sie  früher 
unter  dem  Titel  der  Rhetorik  und  Poetik  gelehrt  wurde,  ist  so  gut  wie 
ganz  verschwunden,  statt  ihrer  haben  wir  in  breitester  Fülle  Literatur- 
geschichte, Kritik  und  Exegese.  Ebenso  hat  die  Theorie  der  Kunst,  die 
Ästhetik,  der  Kunstgeschichte  das  Feld  geräumt.  Vielfach  wird  das  Be- 
dürfnis einer  systematischen  Behandlung  der  Begriffe  des  Gebiets  über- 
haupt gar  nicht  mehr  empfunden;  man  behilft  sich  mit  den  Begriffen,  wie 
sie  im  Umlauf  sind,  oder  bildet  sie,  wie  sie  der  augenblickliche  Gebrauch 
in  diesem  Material  zu  fordern  scheint.  Das  Interesse  ist  durchaus  auf  die 
anschauliche  Erkenntnis  des  Konkreten  und  seiner  geschichtlichen  Zu- 
sammenhänge gerichtet.  Zur  Mitarbeit  auf  diesem  Gebiet  in  Übungen 
und  Seminaren  heranzuziehen,  ist  gegenwärtig  die  Seele  des  geisteswissen- 
schaftlichen Unterrichts  der  deutschen  Universität. 

vorteUe  und  Ohne   Zweifel   hat    dieser  Unterrichtsbetrieb   einen  bedeutsamen  Vor- 

teil; er  führt  den  Studierenden  bald  zu  relativ  selbständiger  Arbeit,  während 
der  alte  dogmatische  Unterricht  allzu  oft  ihn  rein  passiv  ließ.  Freilich 
fehlt  es  auch  nicht  an  Gefahren;  nicht  nur,  daß  das  begriffUche  Denken 
xmd  die  philosophische  Betrachtung  leicht  unentwickelt  bleibt,  so  verführt 
jene  Methode  auch  nicht  selten  zu  einer  Art  Frühreife  und  Pseudoproduk- 
tivität,  die  den  Studierenden  von  freier  Hingabe  an  das  wissenschaftUche 
Studium  abzieht  und  das  gemeine  Wesen  mit  einer  Last  wertloser  „Unter- 
suchungen" heimsucht:  irgendwelcher  Schutt  wird  umgewühlt,  aufs  neue 
durchgesiebt  und  in  Dissertationen  und  Abhandlungen  die  Ausbeute  zur 
Schau  gestellt.  Indessen,  auf  Zweifel  und  Fragen  dieser  Art  will  ich 
später,  am  Schluß  einer  geschichtlichen  Darlegung,  zurückkommen.  Hier 
möchte  ich  noch  das  Folgende  bemerken. 

Die  Vorlesung.  Trotz    der    eben   bezeichneten  Entwicklung   werden    auch    heute    noch 

Klagen  erhoben,  so  von  E.  Bemheim  in  Greifswald,  daß  der  Universitäts- 
unterricht die  Studierenden  allzu  sehr  dem  bloß  passiven  Hören  und  Auf- 
nehmen überlasse;  es  wird  gefordert,  daß  die  Vorlesung  überhaupt  auf  die 
Rolle  einer  bloßen  ersten  Einführung  in  den  Gegenstand  sich  zurückziehe 
und  der  Schwerpunkt  von  Anfang  an  in  die  Übungen  verlegt  werde.  So 
sehr  jede  Ausdehnung  selbständiger  Arbeit  bis  in  die  ersten  Semester 
hinein  Billigung  verdient,  so  wird  meines  Erachtens  von  Bemheim  die 
Bedeutung  der  Vorlesung  stark  unterschätzt;  der  zusammenhängende  Vor- 
trag  seiner  Disziplin   könnte    dem  Universitätslehrer  nicht   aus   der  Hand 


in.  Der  geisteswisscnsch.Untcrr.  i.  seiner  geschichtl.  Entwickl.  u.  d.  Schwierigk.  d.  gegenwärt.  Lage.     297 

genommen  werden,  ohne  den  Unterricht  wichtigster  Kräfte  zu  berauben 
und  ihn  geradezu  zu  degradieren.  Die  Unzuträglichkeiten,  die  ohne  Mangelnde 
Zweifel  hier  vorhanden  sind,  scheinen  mir  nicht  in  der  Natur  der  Vor- 
lesung zu  liegen,  sondern  teils  in  dem  Stoif:  die  Arbeitsgebiete  der  Philo- 
logie und  Geschichte  haben  nicht  den  Vorteil  der  inneren  und  systemati- 
schen Abgeschlossenheit  und  des  natürlichen  Stufengangs,  wie  die  der 
anderen  Fakultäten,  daher  die  Gefahr  des  Irregehens  und  sich  Verlierens 
hier  größer  ist;  teils  aber  auch  in  dem  Mangel  an  äußeren  Mitteln  und 
Hilfskräften.  In  den  medizinischen  und  naturwissenschaftlichen  Gebieten 
nimmt  von  Anfang  an  ein  Institut,  mit  Lehrmitteln  und  Lehrkräften  aus- 
gestattet, den  Studierenden  auf;  ein  Stab  von  Assistenten  und  Kustoden, 
mit  dem  der  Vorsteher  des  Instituts  umgeben  ist,  nimmt  sich  des  Suchen- 
den an  und  leitet  ihn  zum  Verständnis  und  zur  Arbeit.  Die  geisteswissen- 
schaftlichen Studien,  früher  in  Absicht  auf  den  Studienbetrieb  voranstehend, 
sind  jetzt,  man  wird  es  sich  nicht  verhehlen  können,  ins  Hintertreffen  ge- 
raten; der  Aufwand  für  Lehrmittel,  Büchersammlungen,  Seminareinrich- 
tungen und  ebenso  auch  der  Aufwand  für  persönliche  Lehrkräfte  hat  mit 
dem  Aufwand  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  nicht  von  ferne 
gleichen  Schritt  gehalten.  Es  wird  eine  nicht  unwichtige  Aufgabe  der 
Unterrichtsverwaltung  sein,  hier  Abhilfe  zu  schaffen.  Vielleicht  können 
wir  in  diesem  Punkt  von  den  amerikanischen  Universitäten  lernen,  sie 
stellen  auch  für  die  geisteswissenschaftlichen  Studien  dem  Professor  die 
nötigen  Hilfskräfte  zur  Verfügung,  um  den  Unterricht  durch  Besprechungen, 
Wiederholungen,  Ausarbeitimgen  fruchtbar  zu  machen. 

in.    Der    geisteswissenschaftliche    Unterricht    in    seiner    ge-  Geschichtliche 

,.,,.,  -r-  .,,  .«  Entwicklung  des 

schichtlichen  Entwicklung  und  die  Schwierigkeiten  der  gegen- Studienbetriebs, 
wärtigen  Lage.  Zwei  Formen  des  Unterrichts  hat  es,  wie  schon  bemerkt, 
in  den  Geisteswissenschaften  von  jeher  nebeneinander  gegeben:  den  dog- 
matischen und  den  historisch-exegetischen.  Die  Verschiebung  ihres 
Verhältnisses  gegeneinander  macht  eigentlich  die  Geschichte  dieses  Unter- 
richtsbetriebs aus  und  bestimmt  seine  Gestalt  in  der  Gegenwart.  Man 
kann  die  Nöte  unserer  Zeit  nicht  verstehen,  ohne  auf  die  Vergangenheit 
zurückzugehen. 

Am  Anfang  stand  die  dogmatische  Behandlung  durchaus  an  erster  Mittelalter. 
Stelle.  An  den  mittelalterlichen  Universitäten  handelte  es  sich  vor 
allem  und  zuerst  um  die  Überlieferung  und  Einübung  eines  geschlossenen 
begrifflichen  Lehrsystems  von  gebotener  und  anerkannter  Geltung.  Das 
theologische  Studium,  das  die  krönende  Spitze  des  gesamten  Wissenschafts- 
betriebs bildete  und  schon  dadurch  formgebend  auch  auf  die  übrigen  Stu- 
dien zurückwirkte,  war  seiner  Natur  nach  dogmatisch:  seine  Aufgabe  nicht 
die  Entdeckung  neuer  Tatsachen  oder  Wahrheiten,  sondern  die  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  der  ihrem  Inhalte  nach  gegebenen  Kirchenlehre. 
Ein  eigentlich  geschichtliches  Studium  lag  ganz   außerhalb    des  Gesichts- 


2q8  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

kreises  des  durchaus  dogmatisch  gerichteten  Zeitalters.  Freilich  fand  man 
sich  auf  die  Schrift  und  die  Väter  und  damit  auf  die  Interpretation  und 
Geschichte  hingewiesen;  aber  die  Behandlung  war  auch  hier  nicht  histo- 
risch und  philologisch,  sondern  dogmatisch:  sie  ging  darauf  aus,  aus  der 
Schrift,  den  Vätern,  den  Kommentatoren  durch  Anführung  von  Beweis- 
stellen die  Wahrheit  des  eigenen  dogmatischen  Systems  zu  erhärten.  Ein 
ähnliches  Verfahren  war  in  der  Jurisprudenz  herrschend:  auch  hier  Glos- 
sierung und  Kommentierung  von  Texten  in  rein  dogmatischer  Absicht. 
Und  auch  die  beiden  andern  Fakultäten  begründeten  in  derselben  Weise 
auf  kanonische  Texte  ein  dogmatisches  System,  die  philosophische  oder 
artistische  im  besonderen  auf  die  Schriften  des  Aristoteles,  die  in  den 
Vorlesungen  kommentiert  und  systematisiert  wurden.  Auch  die  Disputa- 
tionen, die  neben  den  Prälektionen  das  zweite  Stück  des  Unterrichts  aus- 
machten, zeigen  ganz  denselben  Charakter;  sie  hatten  die  Aufgabe,  zur 
Auflösung  von  Schwierigkeiten  und  der  Widerlegung  falscher  Ansichten 
auf  Grund  des  vorausgesetzten  Wahrheitsbesitzes  anzuleiten. 

i6. und  17. Jahr-  Auch   die  Neuzeit   änderte   hierin   während    der    beiden    ersten  Jahr- 

hunderte noch  nichts  Wesentliches.  Die  Renaissance  und  die  Reformation 
führten  zwar  beide  tiefer  in  das  philologisch-historische  Studium  ein,  aber 
nach  ihrem  innersten  Geist  und  Wesen  blieben  beide  dogmatisch  gerichtet: 
sie  haben  beide  einen  geltenden  Kanon.  Die  Renaissance  hatte  einen 
Kanon  der  künstlerischen  und  literarischen  Vollkommenheit,  nämlich  an 
den  Werken  der  Alten.  Im  Unterricht  stellte  sie  sich,  soweit  sie  denn 
überhaupt  durchgedrungen  ist,  nicht  die  Aufgabe,  zum  historischen  Ver- 
ständnis, sondern  zur  „Imitation"  zu  führen;  die  Werke  der  Alten  als  Muster 
erfassen  und  nachbilden,  darauf  war  das  Studium  durchaus  gerichtet,  in 
der  neulateinischen  Poesie  und  Prunkberedsamkeit  haben  wir  seine  Früchte. 
Und  noch  strenger  gilt  das  von  der  Reformation;  sie  hatte  an  der  Bibel 
den  Kanon  des  Glaubens  und  der  Lehre;  eben  darum  war  die  Auslegung 
der  Bibel,  auf  der  Universität  wie  in  der  Volksschule,  nicht  historisch, 
sondern  dogmatisch.  Dazu  kam  noch  ein  Moment:  der  Universitätsunter- 
richt wurde  jetzt  strenger  als  früher  auf  das  praktische  Ziel  gerichtet: 
tüchtige  und  in  der  rechten  Lehre  wohl  befestigte  Prediger  und  Lehrer, 
bald  auch  fähige  und  des  römischen  Rechts  kundige  Richter  und  Beamte 
des  modernen  Staats  zu  bilden.  Die  freie  Wahrheitsforschung  lag  den 
Universitäten  dieser  Zeit  kaum  näher  als  dem  Mittelalter;  eher  versteifte 
sich  mit  dem  Konfessionalismus  auch  die  dogmatische  Tendenz.  Und 
ebenso  behielt  der  philosophische  Unterricht,  der  auch  jetzt  nicht  über  die 
Bedeutung  eines  propädeutischen  allgemeinwissenschaftlichen  Studiums 
hinausging,  die  überlieferte  Gestalt;  die  gebundene  Lehrnorm  blieb  durch- 
aus herrschend. 

18. Jahrhundert.  Erst   das    achtzehnte    Jahrhundert    hat    den    großen  Umschwung    im 

Leben  der  deutschen  Universitäten  gebracht:  der  Glaube  an  kanonische 
Bücher  und  Lehrautoritäten  fiel,   die    eigene  Vernunft  wurde    als   alleinige 


ni.  Dergeisteswissensch.Untcrr.i.seincrgeschichtl.Entwickl.u.d.Schwierigk.d. gegenwärt. Lage.     2QQ 

Quelle  der  Wahrheit  anerkannt.  Allerdings  wurde  an  dem  dogmatischen 
Lehrbetrieb  auch  hierdurch  zunächst  nicht  viel  geändert.  In  der  Philo- 
sophie trat  an  die  Stelle  der  aristotelischen  eine  neue  dogmatische  Schul- 
philosophie, die  Wolffische,  mit  ihren  „vernünftigen  Gedanken",  das  heißt 
aus  der  Vernunft  mit  logischer  Notwendigkeit  aus  ersten  Begriffen  abge- 
leiteten Lehrsätzen.  In  der  Jurisprudenz  gewann  das  „Naturrecht",  in  der 
Theologie  die  „Vernunftreligion"  gegenüber  der  alten  auf  Offenbarung  ge- 
stützten Dogmatik  anerkannte  Geltung,  beide  wieder  dogmatische  und 
dogmatisch  lehrbare  Systeme  „ewiger  Wahrheiten".  Allerdings  war  damit 
in  der  Theologie  für  eine  philologisch-historische  Behandlung  der  biblischen 
Bücher  Freiheit  geschaffen;  sie  beginnt  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts als  „Bibelkritik"  hervorzutreten.  Und  ebenso  beginnt  mit  Win- 
ckelmann  und  Heyne  ein  geschichtliches  Studium  des  Altertums.  Im 
ganzen  ist  doch  kein  Zweifel,  daß  das  Interesse  des  „philosophischen  Jahr- 
hunderts" nicht  der  historischen,  sondern  der  Vernunfterkenntnis  in  erster 
Linie  zugewendet  war.  Ja  vielleicht  haben  bloß  „historische"  Wahrheiten 
zu  keiner  Zeit  tiefer  im  Kurs  gestanden  als  zur  Zeit  der  Aufklärung.  Be- 
merkenswert sind  in  dieser  Absicht  auch  die  zahlreichen  Versuche,  die 
Geschichte  selbst  in  ein  Sy.stem  einsehbarer  Vernunftwahrheit  zu  bringen, 
denn  so  darf  man  die  auf  eine  „Philosophie  der  Geschichte"  gerichteten 
Bestrebungen  von  Lessing  und  Kant  bis  auf  Fichte  und  Hegel  wohl 
nennen. 

Im  neunzehnten  Jahrhundert  hat  sich  endlich  ein  nochmaliger  großer  iq.  j.-ihrhundert, 

Wendung  zum 

Umschwung  vollzogen,  das  ist  die  Wendung  vom  Dogmatisch-Ratio-    Historischen, 
nalen  zum  Historischen;    und    durch    diesen  Umschwung  ist   die  große 
Wandlung   im   geisteswissenschaftlichen  Unterricht   herbeigeführt  worden, 
die  schon  oben  angedeutet  wurde:  die  Zurückdrängung  des  dogmatischen 
Unterrichts  durch  die  Einführung  in  die  geschichtliche  Betrachtung. 

Das  IQ.  Jahrhundert  beginnt  mit  dem  großen  .Stimmungsumschlag 
gegen  die  „Aufklärung",  den  wir  Romantik  nennen.  Die  mit  Herder 
einsetzende  Reaktion  gegen  den  abstrakten  und  unhistorischen  Rationalis- 
mus, die  ästhetisch-religiöse  Sehnsucht  nach  dem  Positiven  und  Konkreten, 
die  neuhumanistische  Begeisterung  für  das  klassische  Altertum,  die  Schwär- 
merei für  die  Natur,  für  das  Volkstümliche  und  Ursprüngliche,  das  Altertüm- 
liche und  Ferne,  endlich  auch  die  politisch-kirchliche  Reaktion  gegen  den 
rationalistischen  Radikalismus  der  Revolution,  alles  das  wirkte  zusammen, 
um  die  große  Umstimmung  hervorzurufen,  die  das  saeculum  historicum  von 
dem  saeculum  philosophicum  scheidet.  Selbst  die  Philosophie  wendete  sich 
von  dem  Rationalen  zum  Historischen,  von  der  Natur  zum  Geist,  wie  er 
im  geschichtlichen  Leben  sich  auswirkt;  die  .spekulative  Philosophie  ersetzt 
die  an  der  Mathematik  und  Mechanik  orientierte  altrationalistische  Denk- 
weise durch  die  an  dem  Organischen  und  Geschichtlichen  orientierte  dia- 
lektisch-evolutionistische  Betrachtung,  die  auch  die  Vernunft  und  die  Wahr- 
heit selbst  als  ein  Werdendes  faßt    In  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts 


•lOO  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

ist  dann  die  geschichtliche  Forschung'   mehr   und   mehr   in   die  Breite  ge- 
wachsen.    Und  selbst  in  die  Naturwissenschaften   hat   die   historisch-gene- 
tische Betrachtung'sweise  ihren  Einzug-  gehalten. 
Anteil  der  Die  dcutschcn  Universitäten   haben    an    dieser   großen  Wandlung   des 

deotschon  Uni-       ,  ■,      r  -i-    -i  r\       i  iai«  •  11  1  \ 

versitäton.  wissenschaftlichen  Denkens  und  Arbeitens  emen  sehr  hervorragenden  An- 
teil g'ehabt.  Im  Bunde  mit  der  Philologie,  die  immer  neue  Arbeitsgebiete 
in  Anbau  nahm,  machte  sich  die  Geschichte  an  die  Aufgabe,  die  Erkennt- 
nis der  Vergangenheit  unabhängig  von  abgeleiteten  Darstellungen  zu 
machen  und  allein  auf  die  ersten  Zeugnisse  zu  stellen,  Akten,  Urkunden, 
Denkmäler,  Quellen  aller  Art.  Es  begann  die  systematische  Durchforschung 
aller  Archive,  die  Absuchung-  aller  Länder  nach  Denkmälern  und  Inschriften, 
die  Umwühlung  der  Erde  nach  Überresten  der  Vergangenheit,  wie  sie  bis 
auf  diesen  Tag  mit  immer  vermehrten  Kräften  und  unvermindertem  Eifer 
fortgesetzt  wird.  Man  darf  die  Gesamtheit  der  deutschen  Universitäten 
als  die  Zentrale  aller  dieser  Unternehmungen  zur  Erforschung  alles  ge- 
schichtlichen Lebens  auf  Erden  bezeichnen.  Hier  vor  allem  werden  die 
Arbeitsziele  abgesteckt,  die  Methoden  ausgebildet  und  fortgepflanzt,  die 
Kräfte  geschult,  die  dann  in  allen  Ländern  am  Werke  sind. 
Revolution  der  Die  phüosophische  Fakultät  steht  dabei  in  der  vordersten  Reihe,  ihre 

geschichtlichen  .      _-,  ^ 

Weltansicht,  wissenschaftliclien  Seminare  sind  die  Stätten,  wo  die  Forschergenerationen 
sich  die  Hand  reichen,  um  die  Kontinuität  der  Arbeit  zu  sichern.  Sie 
hat  sich  dadurch,  früher  die  untere  und  propädeutische  Fakultät,  zur  füh- 
renden emporgeschwungen,  wie  es  denn  auch  in  ihrem  äußern  Wachstum 
zur  Erscheinung  kommt.  Aber  auch  die  erste  und  zweite  Fakultät  sind 
dem  Zuge  der  Zeit  zur  historischen  Forschung  gefolgt.  In  der  Theologie 
hat  an  Stelle  der  Dogmatik  die  historische  Erforschung  der  Denkmäler 
des  christlichen  Glaubens  und  Lebens  den  ersten  Platz  wie  in  der  wissen- 
schaftlichen Arbeit  und  in  der  allgemeinen  Teilnahme,  so  auch  im  Unter- 
richt erobert.  Und  in  der  Jurisprudenz  ist  derselbe  Umschwung  zu  be- 
obachten; die  „historische"  Schule,  die  hier  das  Naturrecht  aus  seiner  alten 
Geltung  verdrängte,  hat  der  Forschung  neue  Aufgaben  gestellt  und  die 
Einsicht  in  das  geschichtliche  Werden  des  Rechts,  des  römischen  und  vor 
allem  des  germanischen  Rechts,  ungemein  erweitert  und  vertieft.  Und 
auch  hier  ist  der  Unterricht  der  Wissenschaft  gefolgt,  auch  er  hat  die 
Wendung  vom  Dogmatischen  zum  Historischen  mitgemacht,  wenngleich 
hier  die  drängenden  Forderungen  der  Praxis  der  akademischen  Tendenz 
am   fühlbarsten  Schranken  setzen. 

Der  Erfolg  dieser  Arbeit  ist  ein  erstaunlicher  g-ewesen;  das  ig.  Jahr- 
hundert hat  eine  unermeßlich  erweiterte  Ansicht  von  dem  geschichtlichen 
Leben  gewonnen.  Man  darf  die  Revolution,  die  es  in  der  geschichtlichen 
Weltansicht  bewirkt  hat,  neben  die  Revolution  stellen,  die  das  i6.  und 
17.  Jahrhundert  in  der  physischen  Weltansicht  hervorgebracht  haben.  Der 
enge  Horizont  der  alten  biblisch-klassizistischen  „Weltgeschichte"  ist  wie 
ein  Nebelschleier   zerrissen    und    der  Blick   reicht   in   unermeßliche  Tiefen. 


III.  Der  geisteswisscnsch.Unterr.  i.  seiner  geschichtl.  Enhvickl.  u.  d.  Schwierigk.  d.  gegenwärt.  Lage.     30 1 

Und  wo  die  Geschichte  nicht  weiter  sieht,  da  öffnet  die  prähistorische 
Forschung  eine  neue  Aussicht,  und  wo  auch  diese  am  Ende  ist,  da  gibt 
die  biogenetische  Betrachtung  den  Ausblick  in  weitere  dämmerige  Fernen, 
indem  sie  das  geschichtliche  Leben  in  das  Leben  der  Erde  und  zuletzt 
in  das  kosmische  Leben  hineinversenkt  erscheinen  läßt. 

Damit  steht  dann  aber  eine  weitere  höchst  bedeutsame  Wandlung  im 
Zusammenhang:  die  Verdrängung  der  dogmatischen  und  absolutistischen 
Denkweise  durch  eine  historische  und  relativistische.  Eine  frühere  Zeit 
glaubt  an  die  Möglichkeit,  überall,  in  der  Theologie,  in  der  Metaphysik, 
in  der  Ethik,  im  Naturrecht,  bis  herab  zur  Rhetorik  und  Grammatik,  zu 
absoluten  oder  ewigen  Wahrheiten  zu  kommen.  Der  Gegenwart  da- 
gegen stellen  sich  alle  menschlichen  Dinge  als  geschichtlich  gewordene 
und  im  Fluß  des  Werdens  befindliche  dar,  wie  die  Sprache,  so  auch  das 
Recht  und  die  Religion.  Und  damit  schwinden  die  ewigen  Wahrheiten. 
So  wenig  unsere  historische  Sprachwissenschaft  grammatische  Gesetze 
von  absoluter  Gültigkeit  kennt,  so  wenig  gibt  es  für  die  historische 
Rechts-  oder  Religionswissenschaft  die  „ewigen  Wahrheiten"  des  alten 
Xaturrechts  oder  der  alten  Dogmatik.  Wie  die  Sprache,  so  sind  Religion 
und  Recht  ein  ewig  Werdendes,  ein  zeitlich  Bedingtes  und  darum  nicht 
durch  absolute  Formeln  zu  Erfassendes  oder  zu  Bindendes.  Alle  Formeln 
sind  ein  bloß  Provisorisches,  es  gibt  kein  dcfinitivum. 

Es  ist  der  „historische  Sinn",  auf  dessen  Ausbildung  das  19.  Jahr-  "i^.^"^''"";''^*'' 
hundert  stolz  ist,  der  so  spricht;  er  relativiert  mit  Notwendigkeit  alle  Reiativismas. 
Wahrheiten  anf  diesem  Gebiet;  die  Bedingtheit  oder  Zufälligkeit  alles 
Geltenden  ist  sein  Grundprinzip.  Das  Vergangene  verstehen  als  ein  an- 
deres und  doch  als  ein  unter  den  gegebenen  zeitlichen  und  nationalen 
Verhältnissen  Notwendiges  und  Berechtigtes,  so  fordert  es  der  historische 
Sinn,  wie  in  der  Poesie  und  Kunst,  so  in  der  Religion  und  im  Recht. 
Er  nimmt  damit  zugleich  dem  gegenwärtig  Anerkannten  die  absolute 
Geltung;  ist  es  doch  auch  ein  geschichtlich  Bedingtes  und  also  ein  Ver- 
gängliches. Freilich,  das  Zukünftige,  wodurch  das  gegenwärtig  Geltende 
ersetzt  werden  wird,  sehen  wir  nicht  in  concreto;  und  insofern  stellen 
unsere  Anschauungen  und  Gedanken  sich  uns  notwendig  als  die  ab- 
schließenden dar.  Aber  doch  können  wir  uns  dem  übermächtigen  Eindruck 
der  allgemeinen  Vorstellung  nicht  entziehen:  alles  fließt,  es  gibt  im  ge- 
schichtlichen Leben  nichts  absolut  Festes,  auch  nicht  in  der  Wissenschaft, 
es  gibt  nur  „historische  Kategorieen",  fließend  wie  die  Dinge  selbst.  Bis 
in  die  Physik  und  selbst  in  die  Mathematik  hinein  läßt  sich  der  Einfluß 
dieser  veränderten  Denkweise  verfolgen:  die  Begriffe  nicht  starre  Kopieen 
starrer  Wesenheiten,  sondern  Werkzeuge  der  Auffassung  des  W^irldichen, 
die,  wie  dieses  selbst,  beständig  der  Veränderung,  der  verbessernden  An- 
passung unterliegen. 

Von  hier  aus  komme  ich  nun  auf  die  Schwierigkeiten  zurück,  die  Schwierigkeit 

*^  dor  neuen  Lage 

der  geisteswissenschaftlichen  Ausbildung  aus   der  neuen  Lage  erwachsen. 


702  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  namentlich  für  diejenigen,  die  in  der  Folge  nicht 
zur  Forschung,  sondern  zur  praktischen  Wirksamkeit  im  Leben  berufen 
sind,  die  alte  dogmatische  Verfassung  der  Wissenschaft  und  des  akademi- 
schen Unterrichts  in  mehr  als  einer  Hinsicht  einen  sichreren  und  be- 
quemeren Weg  bot.  Vor  allem  machte  sie  es  dem  Jünger  der  Wissen- 
schaft leichter,  einen  festen  Standpunkt  zu  gewinnen,  zu  „notwendigen  Ge- 
danken" zu  kommen.  Sind  solche  die  Unterlage  für  sicheres  Urteil,  feste 
Entschließung  und  kräftiges  Handeln,  so  muß  man  sagen,  das  ig.  Jahr- 
hundert mit  seiner  historischen  Forschung  und  Kritik,  mit  seinem  „histori- 
schen Sinn"  hat  die  Aufgaben  imgemein  erschwert. 

inderTheoiogie,  Am  Unmittelbarsten  und  lebhaftesten  wird  das.  wohl  von  den  Theo- 
logen gefühlt,  die  mit  der  neuen  „historischen  Bildung"  ins  Amt  eintreten. 
Früher  brachten  sie  von  der  Universität  ein  abgeschlossenes  und  befestigtes 
System  mit;  jetzt  werden  sie  in  die  Geschichte  und  Kritik,  in  alle  Probleme 
und  Zweifel,  in  das  brandende  Meer  rastlos  auf  und  abschwankender  historisch- 
kritischer Untersuchungen  und  Meinungen  hineingestoßen:  nirgends  ein 
sichrer  Hafen  mit  festem  Ankergrund,  alles  ewig-  wieder  in  Frage  gestellt; 
was  gestern  die  „Wissenschaft"  definitiv  ausgemacht  zu  haben  schien,  man 
denke  an  die  neutestamentliche  Kritik  der  Tübinger  Schule,  wird  heute 
wieder  in  Zweifel  gezogen  und  bekämpft  und  morgen  ist  es  antiquiert  und 
abgetan.  So  ist  es  mit  dem  Wesen  der  historischen  Forschung'  gegeben. 
Für  eine  Kirche,  die  absolute  Heilsgewißheit  geben  will,  für  einen  Geist- 
lichen, an  dessen  Gewißheit  sich  der  Glaube  anderer  aufrichten  soll, 
scheint  solche  „Wissenschaft"  allerdings  eine  mißliche  Grundlage.  Man 
kann  es  verstehen,  daß  die  katholische  Kirche  es  ablehnt,  diesen  Weg  zu 
gehen;  sie  ist  dogmatisch  geblieben  und  will  nicht  „historisch"  werden, 
und  darum  hält  sie  auch  an  dem  dogmatischen  Grundcharakter  des  Stu- 
diums fest:  ein  entschiedener  Glaube  oder  wenigstens  ein  resoluter  Ent- 
schluß zum  Gehorsam,  der  sich  an  die  dogmatisch  festgelegten  Tatsachen 
und  Formeln  hält,  erscheint  ihr  wichtiger  als  historisches  Wissen  und  die 
Fähigkeit  zur  kritischen  Untersuchung.  Und  es-  hat  in  der  protestantischen 
Kirche  zu  keiner  Zeit  an  Leuten  gefehlt,  es  fehlt  auch  heute  nicht  an 
ihnen,  die  mit  Neid  auf  die  andere  Kirche,  ihren  autoritativ  befestigten 
Wahrheitsbesitz  und  ihren  des  Zweifels  und  der  Kritik  überhebenden 
Unterricht  blicken. 

iu  der  Lehrer-  Ähnliche    Schwierigkeiten    fehlen    doch    auch    auf   anderen    Gebieten 

bildung.  .  ° 

nicht  ganz.  Am  wenigsten  vielleicht  werden  sie  in  der  Jurisprudenz 
gefühlt;  hier  gibt  die  jedesmal  geltende  Rechtssatzung  dem  Richter  und 
Beamten  wenigstens  äußerlich  den  festen  Standort,  von  dem  aus  zu  wirken 
ist.  Freilich  gibt  sie  keine  Gewißheit  ihrer  inneren  Notwendigkeit;  aber 
da  hier  kein  Glaube,  keine  innere  Überzeugtheit  gefordert  wird,  so  ist 
auch  der  Zweifel  weniger  peinigend.  Viel  mehr  macht  sich  die  Schwierig- 
keit dem  Lehrer  und  Jugendbildner  fühlbar.  Wo  sind  die  festen  Ziele, 
wo  die  sicheren  Mittel  der  Wirksamkeit?    Früher  hatte  die  Schule  an  der 


m.  Der geisteswissensch.Unterr. i. seiner  geschichtl. Entwickl. u.  d.Schwierigk. d. gegenwärt.  Lage.     ^03 

Kirchenlehre  und  andererseits  an  dem  klassischen  Altertum  und  seinen 
kanonischen  Werken  ihre  festen  Grundlagen  und  Ziele;  in  der  modernen 
Pädagogik  ist  der  Boden  überall  schwankend.  Freilich  gibt  es  offizielle 
Ordnungen,  aber  auch  hier  wird,  was  heute  gilt,  morgen  in  den  Ofen  ge- 
worfen; ist  doch  die  durchschnittliche  Lebensdauer  der  Lehrpläne  für  die 
höheren  Schulen  neuerdings  auf  unter  zehn  Jahre  herabgegangen.  Woran 
soll  sich  der  denkende  Mann  halten?  Immer  an  die  letzte  Lehrordnung, 
wie  der  Richter  an  die  letzte  Gesetzgebung?  Wenn  es  sich  hier  nur 
nicht  um  so  viel  tiefere  und  innerlichere  Dinge  handelte. 

Und  weiter,  wie    steht  es  um   die  wissenschaftliche   Ausstattung,    die     Maaijei  m 

-•,■  .  ,.  ......  Ol-  -1  1*1         Geschlosseolicit 

em  junger  Mann  von  emem  vier-  bis  sechsjährigen  Studium  in  der  philo-  derAnschauung. 
sophischen  Fakultät  in  die  Schule  mitbringt?  Im  besten  Fall,  so  lassen 
sich  längst  mißgünstige  Stimmen  vernehmen,  hat  der  Studierende  der 
Philologie  oder  der  Geschichte  an  irgend  einem  Punkt  „wissenschaftlich" 
arbeiten  gelernt;  vielleicht  hat  er  in  einer  um  ihrer  Erudition  und  Saga- 
zität  willen  belobten  Dissertation  das  Verhältnis  von  ein  paar  historischen 
Quellenschriften  festgestellt  oder  doch  untersucht,  denn  der  nächste  bringt 
wieder  etwas  anderes  heraus;  oder  er  hat  Beobachtungen  über  den  Sprach- 
gebrauch dieses  oder  jenes  berühmten  oder  unberühmten  Autors,  seine 
Versmaße  oder  seine  Anakoluthieen  zusammengetragen,  oder  er  hat  stati- 
stische Beobachtungen  über  das  Vorkommen  und  die  Verbreitung  einer 
Erzählung  oder  eines  Sprichworts  in  einer  bestimmten  Periode  gemacht  usw^. 
Dazu  hat  er  einen  größeren  oder  kleineren  Besitz  an  Kenntnissen  von 
historischen  Tatsachen  und  Büchern  und,  nicht  zu  vergessen,  von  Mei- 
nungen über  die  Tatsachen  und  Bücher  angesammelt.  Aber  an  Weisheit, 
an  Einsichten  und  Überzeugungen,  mit  denen  man  wirken  kann,  mit  denen 
man  es  auf  Leben  und  Sterben  wagen  mag,  was  bringt  er  mit?  Hat  er 
überhaupt  Überzeugungen,  hat  er  einen  Glauben,  wie  ihn  ehemals  die 
theologische  Dogmatik,  hat  er  eine  feste  und  einheitliche  Welt-  und  Lebens- 
anschauung, ein  System  „vernünftiger  Gedanken",  wie  die  Philosophie 
Wolffs  oder  Kants  sie  als  unverherbaren  Besitz  mitgab?  Oder  hat  er 
wenigstens  ein  konkretes  Lebensideal,  wie  es  der  Jünger  der  humanisti- 
schen Altertumswissenschaft  früher  von  der  Universität  mitbrachte?  Ist 
er  nicht  am  Ende  durch  all  die  betriebsame  Vielgeschäftigkeit  der  „wissen- 
schaftlichen Forschung"  abgehalten  worden,  mit  den  für  den  Menschen 
und  den  Lehrer  eigentlich  wichtigen  Dingen  sich  überhaupt  zu  beschäf- 
tigen? Geht's  uns  nicht  wirklich  manchmal  wie  jenen,  von  denen  der 
Apostel  sagt:  „lernen  immerdar  und  können  nimmer  zur  Wahrheit  kommen"? 
Wer  von  dieser  Not  etwas  gesehen  und  empfunden  hat,  der  kann  es  doch 
auch  heute  noch  verstehen,  warum  das  18.  Jahrhundert  nach  „Vemunft- 
wahrheiten"  so  begierig  war  und  bloß  historische  Wahrheiten  so  gering 
anschlug.  In  der  Tat,  welchen  Gewinn  bringt  es  für  die  Seele,  wenn  nun 
jemand  von  dem  Bestand  und  dem  Abhängigkeitsverhältnis  aller  griechi- 
schen und  römischen  Codices,  oder  von  den  Wandlungen  aller  Buchstaben 


-r,A  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

in  allen  Dialekten  der  englischen  und  deutschen  Sprache  Bescheid  weiß? 
oder  wenn  er  über  alle  Meinungen  Auskunft  geben  kann,  die  jemals  über 
diese  oder  jene  Stelle  der  Schrift  oder  die  Abfassungszeit  und  die  Ver- 
fasser aller  biblischen  Bücher  aufgestellt  worden  sind?  Denn  so  liegt  doch 
die  Sache:  an  keinem  Punkt  hat  es  die  Wissenschaft  auch  nur  in  diesen 
Dingen  zur  Gewißheit  gebracht;  vielmehr  hat  sie  die  Sicherheit  fast  überall, 
wohin  sie  dringt,  zerstört,  indem  sie  das  Ansehen  des  textus  rccepfus  er- 
schütterte oder  die  Überlieferung  als  faile  convenue  beanstandete,  ohne 
doch  etwas  Festes  und  Definitives  an  die  Stelle  setzen  zu  können.  Und 
so  geschieht  es,  daß  das  immermehr  anwachsende  Material,  der  Schwall 
von  Untersuchungen  und  Meinungen  durch  seine  bloße  Masse  die  Sache 
selbst  erstickt  und  zuletzt  alles  Interesse  an  ihr  ertötet.  Es  ist,  wie 
Nietzsche  sagt,  daß  die  Geschichte  nur  von  starken  Persönlichkeiten  er- 
tragen wird,  die  schwachen  löscht  sie  vollends  aus. 
Historismus  und  Die  altc  klassische  Altertumswissenschaft,  die  ließ  sich  noch  ertragen; 

se.ue  Folgen,    g^j^^^^^  ^-^  AlleinherTScherin  war,  hatte  man  den  Vorteil,  in  beschränktem 
Kreis  mit  nicht  gar  zu  umfangreichem  Material   zu   arbeiten;    hier   konnte 
jemand    heimisch    werden    und    das  Gefühl   einer   gewissen    Sicherheit    er- 
langen; dazu  hatte  er  den  Glauben  an  die  einzige  Größe  und  Vortrefflich- 
keit   des   Gegenstandes.     Durch    die    rastlose  Arbeit  der  Wissenschaft  im 
letzten  Jahrhundert  hat  sich  das  alles  verändert,  der  Kreis  des  Altertums  selbst 
ist  ins  Unermeßliche  erweitert,  die  Quellen  zur  Erkenntnis  seiner  Sprache, 
seiner  Literatur,  seiner  Geschichte,   seiner  Beziehungen,   sind   ins  Unüber- 
sehbare gewachsen.     Und  nun    gar   die   neue  Völkerwelt;    hier    geht   jede 
Untersuchung  gleich  ins  Grenzenlose;  das  Quellenmaterial  häuft  sich  berge- 
hoch und  jedes  Jahr  bringt  neue  Massen  von  Editionen,  Urkunden,  Mate- 
riaUen,  Erinnerungen,  Untersuchungen.     Das  Entsetzen  des  Zauberlehrlings 
über  die  Geister,    die  er  rief,    ist  wohl  von  jedem,    der  hier  mitarbeitete, 
nachempfunden  worden.     Und  immer   ist   noch   kein  Ende   abzusehen,    die 
Flut  steigt  rascher  und  immer  rascher,  je  mehr   die  „Forschung"  sich  der 
Gegenwart  nähert.  Was  sollen  unsere  Nachkommen  in  hundert  Jahren  machen, 
wenn  sie  erst  die  Verhandlungen  der  hundert  Parlamente  und  Parteitage,  und 
den  tausendstimmigen  Chorus  der  Zeitungen  dazu  aufzuarbeiten  haben  werden? 
Und  doch  drängt  der  Wissenschaftsbetrieb  unaufhaltsam  dazu.    Mit  demselben 
Hunger,  mit  dem  das  Kapital  neue  Exploitationsgebiete  sucht,  wenn  die  alten 
abgebaut  sind,  sucht  die  „Wissenschaft"  neue  Forschungsgebiete,  Gebiete, 
wo  auch  etwas  zu  machen  ist.    Ob  dabei  wertvolle  Einsichten  zu  gewinnen 
sind,  einerlei,  wenn  sich  nur  Gelegenheit  bietet,  „etwas  zu  machen",  seinen 
Fleiß,    seinen  Spürsinn,    seine  Methode    ans  Licht   zu   stellen.     Auch    die 
Naturwissenschaften  fühlen  die    Beschwerde   des  unablässigen  Indiebreite- 
wachsens,  doch  haben  sie  den  Vorteil,  daß  ihre  Arbeit  unmittelbar  zu  den 
Dingen  selbst  führt  und  auch  in  der  Beziehung  zur  Technik,  zur  schaffen- 
den Tätigkeit  ein  Maß   und  Korrektiv  hat.     In   den  historischen  Wissen- 
schaften   sind    die    Objekte    der   Forschung    Bücher    und    Meinungen,    und 


TTT  Der  geistcswisscnsch.  Unterr.i.  seiner  geschieht!.  Entwickl.  u.  d.  Schwierigk.  d.  gegenwiirt.  Lage.     305 

wieder   Bücher   und  Meinungen.     Und    unter    all    dem  Papier   drohen   die 
Dinge  .selbst  verloren  zu  gehen. 

Wie  sollen  wir  uns  retten?  Durch  Auszüge  und  Übersichten?  durch 
zusammenfassende  Bearbeitungen  und  ins  Allgemeine  strebende  Dar- 
stellungen? Offenbar  verdanken  die  neuerdings  sich  mehrenden  Versuche 
zusammenfassender,  die  Geschichte  unter  Begriffe  und  Ideen  stellender 
Bearbeitung  ihre  Entstehung  dem  Empfinden,  daß  es  mit  dem  ewigen 
Sammeln  und  Stoffanhäufen  nicht  weiter  geht,  daß  dabei  die  Geschichte 
zuletzt  sich  selbst  ad  absurdum  führt,  alle  Möglichkeit  eines  Wissens  von 
den  Dingen  durch  das  Drum  und  Dran  erstickend.  Aber  nun  tritt  ein 
Anderes  und  Seltsames  hervor:  in  der  Geschichte  ist  es  zuletzt  doch  das 
Einzelne,  das  ganz  Besondere  und  Persönliche,  das  lebendige  Teilnahme 
erregt.  Die  Geschichte  wird  erst  interessant,  wenn  man  ins  Detail  geht; 
die  Übersichten,  die  Zusammenfassungen,  die  Schematisierungen,  sie  werden 
bald  matt  und  langweilig.  Es  i.st  die  wunderliche  Antinomie  des  histo- 
rischen Studiums:  geht  es  aufs  Einzelne,  so  zeigt  sich  dieses  endlos,  un- 
erschöpflich, der  Wissenschaft  unerreichbar;  geht  es  aber  auf  das  Allge- 
meine, so  entbehrt  es  der  Anziehungskraft,  die  nur  das  Individuelle  und 
Persönliche  hat. 

Das  ist  die  Lage.  Ich  glaube  auszusprechen,  was  in  weiten  Klreisen  Müdigkeit 
empfunden  wird:  die  enthusiastische  Arbeitsfreudigkeit,  womit  das  junge 
ig.  Jahrhundert  an  die  philologische  und  historische  Forschung  ging,  ist 
vielfach  einer  müden,  resignierten  Stimmung  gewichen:  die  Geschichte  ein 
Labyrinth  ohne  Ausgang,  die  Forschimg  hier  eine  Arbeit  ohne  Ende,  ohne 
feste  und  abschließende  Ergebnisse.  Vielleicht  ist  der  Glaube  an  die 
Wissenschaft  überhaupt  im  Zurückgehen,  rascher  doch  wohl  der  Glaube 
an  die  historischen  als  an  die  Naturwissenschaften.  Nietzsche,  der 
Philolog,  reflektierte  in  jugendlichen  Jahren  über  den  „Nutzen  und  Nach- 
teil der  Historie",  um  sich  bald,  enttäuscht  von  der  hoffnungslosen  Müh- 
sal, von  Grauen  erfaßt  über  die  „Schlaflosigkeit",  womit  der  historische 
Sinn  das  Leben  schlage,  zur  Philosophie,  zur  Prophetie  zu  wenden.  Und 
Nietzsche  ist,  was  immer  er  sonst  sein  mag,  auf  jeden  Fall  ein  guter 
Exponent  der  Zeitstimmungen.  Das  „saeculum  historicum"  scheint  im  Ab- 
laufen. Das  Verlangen  nach  lebendigen,  starken  und  tiefen  Gedanken, 
nach  persönlichen  Überzeugungen,  nach  einem  Glauben  regt  sich  überall. 
Es  ist  mit  dem  Verlangen  nach  Kunst  verwandt,  das  wieder  durch  die 
Seele  der  Völker  geht:  wir  können  nicht  leben  von  der  Wissenschaft, 
von  der  Historie,  von  der  Kritik,  von  der  Quellenuntersuchung,  von  der 
„Andacht  zum  Kleinen",  kurz  von  dem,  was  man  in  jüngster  Zeit  den 
„Großbetrieb  der  Wissenschaft"  nennt,  und  was  in  Wahrheit  der  Fabrik- 
betrieb ist. 

Was  sollen  wir  also  tun?     Umkehren  von  der  historischen  Betrachtung  rmkehr  zum 

J  )0)^matisinus 

der  Dinge  und  wieder  in  die  Dogmen  und  Formeln  eines  Kirchenglaubens    unmöglich. 
oder  einer  Schulphilosophie  hineinschlüpfen?    Wenn  es  nur  möglich  wäre. 

Die  Kultur  der  Gbobswart.    1.  1.  *0 


5o6  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Aber  es  ist  nicht  möglich,  kann  auch  ein  Mensch  wiederum  in  seiner 
Mutter  Leib  gehen?  Wir  können  nicht  aus  der  Weite  des  historischen 
Gesichtskreises  in  die  Enge  eines  unhistorischen,  dogmatischen  Systems 
zurück.  Und  wenn  wir  es  könnten,  wir  wollten  es  nicht.  Wir  wollen 
nicht  auf  den  „historischen  Sinn",  auf  das  freie  Verständnis  und  die  freie 
Würdigimg  für  alle  menschlichen  Dinge  verzichten.  Wir  wollen  nicht 
zu  der  dogmatischen  Denkweise  zurückkehren,  zu  der  mit  ihr  gegebenen 
harten  Ausschließlichkeit,  zu  der  verständnislosen  Gleichg-ültigkeit  gegen 
die  Mannigfaltigkeit  und  den  Reichtum  des  geschichtlichen  Lebens,  end- 
lich nicht  zu  dem  dumpfen  Fanatismus,  wie  er  auf  dem  Boden  des  un- 
historischen Denkens  erwächst,  mag  das  Dogma  als  die  Lehre  einer  allein 
seligmachenden  Kirche  oder  als  die  orthodoxe  Formel  eines  Schulsystems  oder 
als  das  Parteiprogramm  des  jederzeit  neuesten  rationalistischen  Radikalis- 
mus uns  entgegentreten.  Das  unbefangene  Verständnis  für  die  unendlich 
vielgestaltige  Eigentümlichkeit  menschlicher  Lebensbildungen,  die  eine 
Reduktion  auf  einige  dürftige  Formeln  nicht  ertragen,  und  anderseits  die 
praktische  Einsicht,  daß  geschichtliches  Leben  nur  in  stetiger  und  konti- 
nuierlicher Entwicklung  sich  erhalten  kann,  daß,  wie  ein  starrer  Konser- 
vatismus lähmend,  so  ein  unhistorischer  Radikalismus  zerstörend,  nicht  auf- 
bauend wirkt,  das  ist  der  Gewinn,  den  das  ig.  Jahrhundert  der  Vertiefung 
in  die  historische  Forschung  verdankt  und  den  wir  nicht  wieder  fahren 
lassen  können  und  wollen. 
Teilnahme  an  Und   darum   können  und  wollen  wir    auch  die  Ausbildung  der  akade- 

unentbehrlich,  mischcn  Jugcnd  nicht  wieder  auf  den  enggebundenen  dogmatischen  Unter- 
richt zurückführen.  Ist  historisches  Studium  die  notwendige  Voraussetzung 
für  die  Erlangung  historischer  Perspektive,  der  Weg  auch  zur  Bildung 
jener  echt  humanistischen  Gesinnung,  der  nichts  Menschliches  fremd  ist, 
so  ist  sie  damit  als  notwendig  erwiesen.  Und  ein  eigentliches  historisches 
Studium  ist  wieder  nicht  denkbar  ohne  ein  Eintreten  in  die  Arbeit  der 
Forschung:  ein  dogmatisches  System  kann  man  lernen,  Geschichte  kann 
nicht  gelernt  werden,  das  Verständnis  geschichtlichen  Lebens  will  von 
jedem  einzelnen  neu  erarbeitet  sein.  Ob  bei  seiner  Arbeit  ein  bleibender 
Gewinn  für  die  Wissenschaft  herauskommt,  das  kommt  erst  in  zweiter 
Linie  in  Betracht;  das  Erste  und  Wesentliche  ist  der  Gewinn  für  den  Stu- 
dierenden selbst.  Wobei  wir  uns  übrigens  doch  erinnern  wollen,  daß 
Wissenschaft  überhaupt  nicht  wie  ein  fertiges,  ruhendes  Besitztum,  wie 
eine  aufgespeicherte  Ware  Wert  hat,  sondern  nur  als  lebendige  Kraft  des 
Erkennens,  mag  sie  nun  in  der  Betrachtung  und  Forschung  oder  in  der 
Lösung  praktischer  Lebensaufgaben  betätigt  werden.  „Der  Baum  der 
Wissenschaft  trägt  wie  der  der  Hesperiden  seine  goldenen  Äpfel  nur  für 
den,  der  sie  sich  selbst  bricht;  anderen  kann  man  sie  zeigen,  aber  nicht 
geben."  Das  Wort  Mommsens  gilt  von  allen  Wissenschaften,  am  meisten 
doch  von  der  Geschichte.  Wie  die  Geschichte  unter  allen  Wissenschaften 
am  wenigsten  ein  Fertiges  und  Vollendetes  ist,  so  ist  ihr  Wert  am  wenig- 


in.  Dergeisteswissensch.  Unterr.  i.  seiner  geschichtl.  Entwickl.  u.  d.  Schwierigk.  d.  gegenwärt.  Lage.     307 

sten  auf  das  aufbewahrte  Besitztum,  am  meisten  auf  die  lebendige  Energie 
des  Erkennens  und  Verstehens  menschlicher  Dinge  gestellt.     Dient  hierzu 
dem   Studierenden   seine   Arbeit,   so   ist   sie   damit   gerechtfertigt.     Es   ist 
kein  Vorwurf  für  eine  philologische  oder  historische  Dissertation,   daß  sie 
nicht  ein   ewiger  Schatz   für   die  Wissenschaft   ist;   hat   sie   dem,    der   sie 
machte,    den  BUck   für   geschichtliches   Leben  geschärft,    hat    sie    ihn   an 
irgend  einem  Punkt  in  lebendige  und  intime  Berührung  mit  dem  geistigen 
Leben  und  seinem  Werden  und  zugleich  mit  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
der  Gegenwart  gebracht,   so   hat  sie  geleistet,  was  ihre  Bestimmung  war. 
Ein   Lot    selbsterarbeiteter    geschichtlicher    Erkenntnis    ist    mehr    als    ein 
Zentner  gelernter:    durch   jene   lernt   man   geschichtlich    denken    und   Ge- 
schichte verstehen.     Und   nun  kann  man  weiter   sagen:    die   philologisch- 
historische   Forschung    kann    in    Gang    erhalten    werden    nur    durch    um- 
fassende   Unternehmungen,    in    deren    Bearbeitung    die    Kräfte    entwickelt, 
geschult,   geprüft   und  bewährt  werden;   ohne  große  im  ständigen  Betrieb 
und  Abbau   befindliche  Gruben   steht  der  Bergbau   der  Wissenschaft  still. 
Gilt  das  wieder  von  jeder  Wissenschaft,  so  gilt  es  doch  wieder  besonders 
von   der    Geschichte:    sie    setzt,    um    lebendig   zu    bleiben,    einen   stetigen 
Arbeitsbetrieb  voraus,  worin   die  Generationen  sich  zur  Kette  zusammen- 
schließen.    Und  damit  sind  denn  jene  Unternehmungen  gerechtfertigt,  die 
der  Arbeit   des   19.  Jahrhunderts    die   Signatur   geben,   die   großen  Samm- 
lungen  von  Urkunden    und   Inschriften,   von   kritisch   gesichteten  Quellen- 
darstellungen und  Überlieferungen,   die   philologischen  Bearbeitungen  von 
Texten    und    Sprachdenkmälern    usw.     Werden    in    der   Arbeit    an    diesen 
Unternehmungen,   die  ja  denn  auch  Handlangerdienste  fordert,  die  Kräfte 
für   ein   sicheres   und   lebendiges  Erfassen  des  geschichtlichen  Lebens  ge- 
bildet,  so  ist  ihr  Wert  damit  bewiesen,  die  Zukunft  mag  davon  nun  wei- 
teren  Gebrauch    machen   oder   nicht.     Der  Staub,   der  auf  den   Folianten 
mittelalterlicher  Spekulation  ruht,  die  jetzt  ungebraucht  in  unseren  Biblio- 
theken stehen,  ist  kein  Beweis  gegen  ihren  Wert;  hat  das  heiße  Bemühen 
um  die  Wahrheit  den  Geist  jener  Männer  gekräftigt  und  erhoben,  so  ist's 
genug.     Vielleicht  kommt  die  Zeit,   wo  der  Staub  ebenso  auf  unseren  In- 
schriftenwerken und  Monumentensammlungen,   unseren  Editionen  und  kri- 
tischen Untersuchungen  liegen  wird;  hat  ihre  Zusammenbringung  und  Be- 
arbeitung die  Sehkraft  der  Forscher  für  das  Schauen  vergangenen  Lebens 
geübt   und   damit   das   Verständnis    für   menschliche   Dinge    erweitert   und 
vertieft,   so   ist   die   Arbeit   nicht   umsonst   gewesen.     Haben   die  Niebuhr, 
Boeckh,  Ranke,  Waitz,  Mommsen   in  solcher  Arbeit  ihr  geistiges  Wesen 
gewonnen   und   ausgeprägt,   so   ist   das   nicht  das   geringste,  was  die  Be- 
schäftigung  mit   der  Geschichte   leistet:    nicht  um  der  Vergangenheit  und 
nicht   um    der    Zukunft    willen    treiben    wir    Geschichte,    sondern    um    der 
Gegenwart,    um    unserer   selbst    willen.     Und    ist   dann   wieder  durch    die 
Persönlichkeit  und  die  Werke  solcher  Männer  anderen  ihre  Kraft  gemehrt 
worden,   die  Gegenwart   zu   verstehen    und   die  Zukunft   zu  divinieren  und 


■jqS  Friedrich  Paulsen:    Die  gcistcswisscnschartliclu'   liochschulausbililun};. 

2U  bilden,  so  haben  sie  dem  Lobenden  den  größten  Dienst  geleistet,  den 
die  Wissenschaft  zu  leisten  überhaupt  imstande  ist.  Wer  aber  verdankte 
nicht  der  Geschichtschreibung  solchen  Dienst?  Ist  ein  Mann  wie  Bismarck 
oder  der  Freiherr  von  Stein  zu  denken  ohne  Vertiefung  in  geschichtliche 
Studien?  „Politik",  saigt  Sir  John  Seeley,  „ist  vulgär,  wenn  sie  nicht  durch 
Geschichte  veredelt  wird;  und  Geschichte  sinkt  zu  bloßer  Literatur  herab, 
wenn  sie  ihre  Beziehung  zur  praktischen  Politik  aus  dem  Auge  verliert." 
Wir  können  das  Wort  verallgemeinem:  alle  persönliche  Lebensbetätigung 
erlangt  ihre  eigentliche  Bedeutung  erst  dadurch,  daß  sie  sich  in  lebendige 
Beziehung  zur  Vergangenheit  und  Zukunft  setzt,  wie  könnte  sie  es  aber 
tun  ohne  geschichtliche  Basierung?  Und  umgekehrt:  Geschichte  erhebt 
sich  dadurch  über  bloße  Unterhaltungsliteratur,  daß  sie  auf  die  Gegenwart 
und  ihre  Aufgaben  den  Blick  gerichtet  hält. 

In  diesem  Sinne  möchte  ich  auch  das  oft  zitierte  Wort  Goethes  von 
dem  Enthusiasmus  verstehen,  der  das  beste  sei,  was  wir  der  Geschichte 
verdanken:  die  Freude  an  dem  Kräftig-Tüchtigen  der  Vergangenheit,  die 
Sicherheit  und  Selbstgewißheit  gegenüber  den  Aufgaben  der  Gegenwart 
und  der  Mut  zur  Zukunft,  das  sind  die  Inspirationen,  die  wir  dem  rechten 
Studium  der  Geschichte  verdanken. 

Nach  allem  wird  es  sich  also  nicht  darum  handeln  können,  die  Aus- 
bildung- in  den  Geisteswissenschaften  von  dem  Weg,  auf  den  das  letzte 
Jahrhundert  sie  gestellt  hat,  von  der  Einführung-  in  die  Arbeit  der  philo- 
log-isch-historischen  Forschung  überhaupt  wieder  abzubringen  und  auf  den 
alten  Weg  des  rein  dogmatischen  Unterrichts  zurückzuführen.  Die  Auf- 
gabe kann  nur  die  sein,  den  vorhandenen  Studienbetrieb  wirkungsfähiger 
zu  machen  und  vor  den  angedeuteten  Gefahren  zu  bewahren. 
Belebung  des  In  dicser  Absicht  wird    zunächst  die  Wiederbelebung  des   philosophi- 

philosophischen  , 

Sinnes.  schcn  Studiums  von  Bedeutung  sem.  Daß  die  Philosophie,  die  um  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  im  Zeitalter  des  Positivismus  und  der 
Exaktheit,  beinahe  ausgeschieden  und  erdrückt  war  durch  die  herrschende 
Richtung  auf  das  Tatsächliche  und  Einzelne,  wieder  im  Aufsteigen  be- 
griffen ist,  daß  auch  die  Teilnahme  der  Studierenden  ihr  wieder  in  er- 
höhtem Maße  zugewendet  ist,  darf  als  eine  der  erfreulichsten  Wendungen 
im  Geistesleben  der  Gegenwart  bezeichnet  werden.  Ihre  Wirksamkeit  im 
akademischen  Unterricht  wird  vor  allem  darin  sich  geltend  machen,  daß 
sie,  indem  sie  für  die  großen  Fragen  der  Wirklichkeit  und  der  Menschheit 
den  Sinn  auftut,  vor  dem  Versinken  in  einen  selbstgenügsamen,  stumpf- 
sinnigen, das  Gemüt  ausdörrenden,  fabrikmäßigen  Kleinbetrieb  der  Wissen- 
schaft bewahrt,  eine  Gefahr,  die  nicht  am  wenigsten  der  philologischen 
und  historischen  Arbeit  droht  und  durch  einen  Seminarbetrieb,  der  auf 
Dissertationenzüchtung  ausgeht,  begünstigt  wird.  Schleiermacher  hat  sie 
schon  gesehen:  er  warnt  (in  den  Gelegentlichen  Gedanken  über  Universi- 
täten) davor,  voreiligerweise  Akademieen  vorstellen  und  vollendete  Gelehrte 
treibhäuslich    bei    sich   ausbilden    zu   wollen   durch    immer    tieferes  Hinein- 


III.  Dcrfjeisteswissensch. Unterr. i. seiner geschichtLEnt-n-ickl.  u. d. Schwierigk. d. gegenwärt. Lage.    30Q 

führen  in  das  Detail  der  Wissenschaften  und  darüber  es  vernachlässigen, 
den  allgemeinen  wissenschaftlichen  Geist  zu  wecken,  was  die  eigentlichste 
Aufgabe  der  Universität  und  hier  im  besonderen  des  philosophischen 
Unterrichts  sei.  Freilich  sei  hierzu  nicht  tauglich  eine  bloße  gespenster- 
artige Transzendentalphilosophie,  die  sich  gegen  alles  reale  Wissen  iso- 
liert: leerer  lasse  sich  wohl  nichts  denken  als  eine  Philosophie,  die  sich 
so  rein  auszieht  und  wartet,  daß  das  reale  Wissen  als  ein  niederes  ganz 
anderswoher  soll  gegeben  oder  genommen  werden.  Sondern  nur  in 
ihrem  lebendigen  Einfluß  auf  alles  Wissen  lasse  sich  die  Philosophie,  nur 
mit  seinem  Leibe,  dem  realen  Wissen  zugleich  lasse  sich  der  wissenschaft- 
liche Geist  darstellen  und  auffassen.  Warnungen  und  Mahnungen,  die 
auch  heute  nicht  unzeitgemäß  sind. 

Was   aber   den  Studienbetrieb  in  den  einzelnen  Geisteswissenschaften  AbstoSung  des 

Nichtigen. 

anlangt,  so  wird  es  überall  von  entscheidender  Wichtigkeit  sein,  daß  er 
die  Richtung  auf  das  Wirkliche  und  Lebendige  hat.  Es  kann  doch  im 
Grunde  nie  und  nirgends  die  Meinung  der  philologisch-historischen  For- 
schungsarbeit sein,  alles  was  jemals  war  und  geschah,  auch  das  schlecht- 
hin Unbedeutende,  Vergangene  und  Tote  bloß  darum,  weil  es  einmal  war, 
zu  sammeln  und  aufzuheben,  alles  w^as  jemals  getan  und  gesagt,  gedacht 
und  gemeint  wurde,  auch  das  schlechthin  Törichte  und  Nichtige,  noch 
einmal  zu  denken.  Philologie  und  Historie  haben  eine  Neigung  dazu;  das 
Ideal  der  Vollständigkeit  verfolgt  sie;  unter  dem  Titel  der  Gründlichkeit 
der  Forschung  wird  gefordert,  nichts  gering  zu  achten,  auch  das  Unbe- 
deutendste aufzuheben  und  in  Anschlag  zu  bringen.  Was  haben  nicht 
Theologen  und  Philologen  in  ihren  exegetischen  und  kritischen  Vorlesungen 
und  Kommentaren  für  eine  Last  törichten  Meinens  mitgeschleppt,  jede  je- 
mals geäußerte  Ansicht  nochmals  vorbringend,  um  sie  nochmals  zu  wider- 
legen. Hier  gilt:  lasset  die  Toten  ihre  Toten  begraben,  sonst  bringen  sie 
das  Lebendige  ums  Leben.  Geht  die  historische  Arbeit  auf  absolutes  Be- 
halten alles  dessen  aus,  was  jemals  war,  so  läuft  sie  in  sinnloser  Stoff- 
anhäufung sich  selber  zu  Tode.  Man  denke  nur  an  eine  Forderung  wie 
die:  für  eine  Geschichte  des  Unterrichtswesens  alles  Material,  was  in 
Bibliotheken  und  Archiven,  in  Schulschränken  und  alten  verstaubten 
Bücherkisten  auf  allen  Hausböden  steckt,  zusammenzubringen  und  heraus- 
zugeben, von  den  Schulordnungen  und  Schulbüchern  bis  herab  auf  die 
Konferenzprotokolle  und  Schülerexerzitien.  Die  Kraft  des  Historikers 
zeigt  .sich  nicht  im  Behalten,  sondern  im  Vergessen,  dem  richtigen  Ver- 
gessen, so  daß  allein  das  Behaltenswerte  übrig  bleibt. 

Vielleicht  hat  sich  die  historische  Forschung  an  diesem  Punkt  irre- 
führen lassen  durch  die  in  der  Naturforschung  gerechtfertigte  Maxime: 
nichts  gering  zu  achten.  In  der  Natur  ist  jede  Erscheinung  ein  Hinweis 
auf  ein  Allgemeines,  und  gerade  in  den  anomalen  Erscheinungen  verrät 
sie  oft  ihre  sonst  so  gut  gehüteten  Geheimnisse,  man  denke  an  die  Elek- 
trizität   oder    die    Röntgenstrahlen.      In    der   geschichtlichen    Welt    ist    es 


:5io  Friedrich  Paulsen:    Die  geisteswissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

nicht  so;  hier  findet  nicht  gleichförmige  Wiederholung  desselben,  sondern 
unendliche  Variation  eines  Themas  statt:  jeder  einzelnen  Variation  nach- 
gehen führt  hier  nicht  zum  Gesetz,  sondern  zum  Sichverlieren  im  endlosen 
vmd  nie  zu  erschöpfenden  Detail.  Der  Historiker  muß  den  Mut  der  Aus- 
lese, also  auch  der  Ausstoßung  haben,  den  der  Physiker  nicht  haben  darf. 
Richtung  auf  Als  Gcsichtspunkte   aber  für  die  Auslese  scheinen  mir  die  folgenden 

und  Ewige,  hingestellt  werden  zu  können.  Anspruch  darauf,  zum  Gegenstand  philo- 
logisch-geschichtlicher Erforschung  gemacht  zu  werden,  hat  auf  der  einen 
Seite  alles,  was  an  sich  selbst  menschlich  groß  und  bedeutend  ist:  an  ihm 
entzündet  sich  immer  aufs  neue  menschliches  Leben;  auf  der  anderen 
Seite  das,  was  durch  sein  Fortwirken  in  der  Gegenwart  sein  Leben  und 
seine  Wirklichkeit  beweist;  schließlich  ist  das  „Erkenne  dich  selbst!"  doch 
die  innerste  Triebkraft  aller  geschichtlichen  Forschung.  In  einigem  Maße 
scheinen  beide  Momente  zusammenzukommen;  die  Geschichte,  das  Wort 
im  objektiven  Sinne  genommen,  zeigt  eine  erstaunliche  Sicherheit  darin 
das  wahrhaft  Bedeutende,  auch  wenn  es  von  der  Gegenwart  verkannt 
wurde,  zur  Dauer  und  Wirksamkeit  zu  bringen.  Goethe  hat  dies,  auf  ein 
langes  Leben  und  eine  lange  und  eindringende  Beschäftigung  mit  der  Ge- 
schichte zurückblickend,  beobachtet:  „Die  vernünftige  Welt  ist  als  ein 
großes  unsterbliches  Individuum  zu  betrachten,  welches  unaufhaltsam  das 
Notwendige  bewirkt  und  dadurch  sich  sogar  über  das  Zufällige  zum 
Herrn  erhebt." 

Über  das  einzelne  aber  und  seine  Notwendigkeit  aus  diesem  Gesichts- 
punkt werden  verschiedene  immer  verschieden  urteilen;  von  einer  kano- 
nischen Auswahl  kann  ja  überall  nicht  die  Rede  sein.  Darauf  kommt  es 
auch  nicht  an,  wohl  aber  darauf,  daß  diejenigen,  die  als  Lehrer  und  Leiter 
g-eisteswissenschaftlicher  Studien  wirken,  für  ihre  Person  von  dem  Trieb, 
zum  Wesentlichen,  Wichtigen  und  Lebendigen  zu  kommen,  durchdrungen 
sind.  Ja,  man  mag  sagen:  alles  wird  wichtig,  wenn  es  in  Beziehung  auf 
das  werdende  und  sich  vollendende  Leben  jenes  unsterblichen  Individuums, 
von  dem  Goethe  spricht,  betrachtet  wird.  Wo  dagegen  bloßer  toter 
Sammlerfleiß,  bloße  g^elehrte  Betriebsamkeit  herrscht,  da  wird  auch  das 
an  sich  Große  zu  Spreu  und  Häckerling. 

Also,  ein  universalhistorischer,  ein  philosophischer,  ein  von  Ideen  be- 
fruchteter Geist,  ein  Geist,  der  auch  der  Gegenwart  etwas  zu  sagen  hat, 
der  zur  Zukunft  drängt,  der  macht  das  historische  Studium  lebendig,  an 
welchem  Punkt  immer  er  es  angreift.  Wenn  Dahlmann  von  der  deutschen 
Geschichte  forderte,  daß  sie  „mit  kräftigem  Willen  zusammengehalten 
werden  und  in  die  Gegenwart  ausmünden  müsse",  so  werden  wir  diese 
Forderung  als  jeder  historischen  Forschung  und  jedem  historischen  Unter- 
richt gestellt  aussprechen  dürfen. 


Literatur. 

Als  Darstellungen  der  Einrichtungen  des  Unterrichtsbetriebes  der  deutschen  Universi 
täten  sind  in  erster  Linie  zu  nennen  die  beiden  großen  aus  Anlaß  der  Chicago-  und  der 
St.  Louis- Ausstellung  entstandenen,  von  W.  Lexis  herausgegebenen  Werke:  Die  deutschen 
Universitäten  (2  Bde.  1893)  und  Die  Universitäten  im  Deutschen  Reich  (1904). 

Ich  nenne  dann  meine  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  (2  Bde.  2.  Aufl. 
1896)  sowie  mein  Buch:  Die  deutschen  Unversitäten  und  das  Universitätsstudium 
(1902),  in  welchen  beiden  Werken  auch  weitere  Literatur  zur  Geschichte  und  Methodologie 
der  Studien  zu  finden  ist. 

Als  ein  hilfreiches  Nachschlagebuch  für  das  ganze  Gebiet  der  Universitätsliteratur  ist 
endlich  noch  ein  eben  erschienenes  Werk  anzuführen:  W.  Erman  und  E.  HORN,  Die 
Bibliographie  der  deutschen  Universitäten  (2  Bde.  1904/5). 


DIE  NATURWISSENSCHAFTLICHE 
HOCHSCHULAUSBILDUNG. 

Von 
Walther  von  Dyck. 


Die  phiioso-  I.   Die  Entwicklung  bis  zum   i8.  Jahrhundert.     Vor  nahezu  2000 

^s  Ve^mHüerin  JahrsH,   ZU    der    Zeit,    als    der    Einfluß    der  griechischen   Kultur    im    römi- 

dung^ünrais  schcH  Reichc  immer  stärker  hervorzutreten  begann,  hat  sich  der  Begriff 
rufsausbiidung.  einer  allg-emeinen  wissenschaftlichen  Durchbildung,  die  der  praktischen 
Schulung  für  den  speziellen  Beruf  vorauszugehen  habe,  in  einer  Form 
herausgebildet,  welche  auch  für  den  Lehrbetrieb  des  Mittelalters  maß- 
gebend geworden  ist  und  sich  noch  bis  in  unsere  Tage  hinein  in  ihren 
Nachwirkungen  verfolgen  läßt. 

Marcus  Terentius  Varro  Reatinus  gibt  im  ersten  Jahrhundert  v.Chr. 
als  Grundlage  der  gelehrten  Bildung  in  den  „disciplinarum  libri  novem" 
neun  Disziplinen:  die  Grammatik,  Dialektik  und  Rhetorik,  später  als  trivium 
bezeichnet,  Geometrie,  Arithmetik,  Astronomie  und  Musik,  das  spätere 
quadrivium,  und  noch  weiter  Baukunst  und  Medizin.  Des  Marcianus 
Capeila  Einteilung  (De  nuptiis  philologiae  et  Mercurii  de  Septem  artibus 
liberalibus  libri  IX,  etwa  470  n.  Chr.)  schließt  diese  letzteren  aus  „quoniam 
his  mortalium  rerum  cura  terrenorumque  soUertia  est  nee  cum  aethere 
quicquam  habent  superisque  confine". 

Die  Septem  artes  liberales  aber  bilden  den  Inhalt  der  Lehraufgaben 
zunächst  der  Klosterschulen  des  frühen  Mittelalters  wie  der  Gelehrten- 
schulen und  der  Artistenfakultäten  der  um  das  14.  Jahrhundert  auch  in 
Deutschland  entstehenden  Universitäten.  Dabei  erscheinen  sie  auch  in 
diesen  als  die  grundlegende  Vorbildung  für  das  Studium  der  praktischen 
Berufe  der  Theologie,  Jurisprudenz  und  Medizin,  und  die  Promotion  zum 
magister  artium  war  die  Vorbedingung  zum  Eintritt  in  jene  drei  „oberen" 
Fakultäten. 

Das  wesentliche  Merkmal  der  Wissenschaftspflege  jener  Zeit  war  der 
allmählich  immer  mehr  überhandnehmende  Einfluß  des  Aristoteles,  zumal 
als  durch  die  Araber  der  volle  Inhalt  seiner  Werke  dem  Abendlande 
übermittelt  wurde.    So  erweiterte  sich  von  hier   aus  das  Studium  der  Dia- 


I.  Die  Entwicklung  bis  zum   1 8.  Jahrhundert.  -iii 

lektik  zu  dem  der  Philosophie  und  ihr  Überwiegen  schuf  weiterhin  der 
Artistenfakultät  auch  den  Namen  der  philosophischen.  Aus  Grammatik 
und  Rhetorik  erwuchsen  unter  mählicher  Läuterung  und  Verschiebung  des 
Lehrinhaltes,  unter  dem  Einfluß  der  humanistischen  Bewegung  des  15., 
der  neuhumanistischen  des  1 8.  Jahrhunderts  die  philologischen  und  in  Ver- 
bindung damit  die  historischen  Wissenschaften,  während  der  ursprüngliche 
Lehrstoff  an  die  jetzt  vorbildende  Stufe  des  Gymnasiums  überging. 

Die  Interpretation  des  Euklid,  die  sich  zudem  in  der  Regel  nur  auf 
die  ersten  Teile  beschränkte,  bildete,  wenn  auch  nicht  ohne  Widerspruch 
zu  finden,  (so  Petrus  Ramus,  der  Bekämpfer  des  aristotelischen  Systems) 
noch  auf  lange  hinaus  den  Inhalt  des  geometrischen  Unterrichtes  Geometrie. 
der  Universitäten,  sowie  heute  noch  dieser  selbe  StoflF  und  auch  die  Form 
der  euklidischen  Beweisführung  dem  Anfangsunterricht  der  Mittelschule 
zugrunde  liegt.  Darüber  hinaus  erweiterte  sich,  zunächst  ohne  Einfluß 
auf  die  Schule,  der  Gesichtskreis  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  durch 
das  Bekanntwerden  und  die  Durcharbeitung  der  Werke  des  ApoUonius, 
des  Archimedes;  wurde,  auf  die  Kenntnis  der  Araber  (Dschäbir  Ibn 
Aflah)  gegründet,  von  Regiomontanus  und  Kopernikus  die  Trigono-  Trigonometrie, 
metrie  neu  geschaffen,  konnte  der  letztgenannte  nun  an  die  .Stelle  des 
Ptolemäischen  Weltsystems  das  nach  ihm  benannte  setzen. 

Der  Rechenunterricht  erhob  sich  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhun-  Rechen- 
derts  nicht  wesentlich  über  die  Darlegung  der  sechs  Grundoperationen. 
Ihre  Kenntnis  wurde,  den  praktischen  Bedürfnissen  angepaßt,  weiter  hin- 
ausgetragen durch  die  um  diese  Zeit  zahlreich,  auch  in  deutscher  Sprache 
erscheinenden  Volksrechenbücher  mit  ihren  schon  damals  alten  Rechen- 
beispielen, die  wir  auch  jetzt  noch  im  Elementarunterrichte  finden.  Werke 
wie  Paciuolos  Summa  (1494),  Stifels  Arithmetica  integra  (1544)  zeigen 
gegenüber  dem  früher  zugrunde  gelegten  Sacrobosco  (1250)  den  allmäh- 
lichen Fortschritt  des  Unterrichtes.  Weiter  forderten  dann  die  neuen  Lehren 
der  Astronomie  die  Entwicklung  der  Trigonometrie  und  führten  wie  zu 
einzelnen  Kompendien  so  auch  zur  Herstellung  großer  Tafelwerke  für  den 
praktischen  Gebrauch  (Opus  Palatinum  1568 — 1596)  und  in  ihrer  Weiter- 
bildung zu  den  Logarithmentafeln.  Erst  im  Laufe  des  17.  Jahrhunderts 
treten  diese  Gebiete  in  den  Universitätsunterricht  ein,  in  welchem  sie  im 
18.  Jahrhundert  ebenso  wie  die  Elemente  der  Algebra  eine  regelmäßige 
Stelle  gefunden  haben.  Die  neuen  Methoden  der  Analysis  aber  und  der 
Geometrie,  die  sich  an  die  Namen  von  Descartes,  von  Newton  und 
Leibniz  knüpfen,  die  mit  allen  ihren  Anwendungen  die  mathematischen 
Wissenschaften  von  Grund  aus  umgestaltet  haben,  werden  (von  einzelnen 
Ausnahmen  wie  sie  etwa  Christian  Wolffs  mathematische  Lehrtätig- 
keit in  Halle  darstellt,  abgesehen)  regelmäßig  erst  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts in  Vorlesungen  über  die  Elemente  der  Differential-  und  Integral- 
rechnung in  den  Unterricht  einbezogen.  Die  Wissenschaft  wurde  vielmehr 
von   Person   zu  Person   übertragen.     Ihre  Jünger  waren   zunächst  auf  das 


•3]^  Wai.thkr  von  Dyck:    Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildun;;, 

Studium    der    gTundlegcnden    Werke    angewiesen,     zu    dem    im    einzelnen 
Falle  —  wir  gedenken  etwa  Eulers  Jugendverhältnis  zu  Joh.  Bornoulli 
—  der  ältere  Fachgenosse   die  Anleitung  gab. 
Naturlehre.  Die  N atUT  1  e h r c  War  zunächst  in  den  Werken  des  Aristoteles  in  den 

Gesamtplan  eingefügt  iind  die  dogmatische  Form  seines  Lehrgebäudes, 
welche  das  Weltsystem  einem  vorher  entworfenen  Schema  einordnete,  be- 
herrschte Anschauung  vmd  Lehre.  Aber  auch  als  mit  dem  Ende  des 
i6.  Jahrhunderts  die  Beobachtung  der  Einzelvorgänge  in  der  Natur  die 
Naturphilosophie  zu  ersetzen  begann,  als  dann  in  der  Anwendung  und 
Ausbildung  experimenteller  Methoden  zuerst  eine  eigentliche  natur- 
wissenschaftliche Forschung  erstand,  als  das  17.  Jahrhundert  die  ge- 
waltigen modernen  Hilfsmittel  der  Analysis  schuf,  als  das  Weltsystem 
neu  erbaut  worden,  drang  doch  nur  langsam  der  neue  Geist  in  Schule 
und  Lehre. 

Wir  können  allerdings  die  Lehrtätigkeit  Galileis  in  Padua,  die  sich 
weit  über  den  engeren  Kreis  der  Studierenden  hinaus  erstreckte,  in  ihrem 
Einfluß  auf  die  Umgestaltung  der  Naturbetrachtung  nicht  hoch  genug  ein- 
schätzen, auch  werden  wir  etwa  Kirchers  und  seines  Schülers  Schott 
Lehrtätigkeit  in  Würzburg  uns  nicht  völlig  losgelöst  von  ihren  experimen- 
tellen Arbeiten  vorstellen.  Der  Schwerpunkt  der  Interessen  der  Universi- 
täten lag  aber  zu  ausschließlich  auf  theologischem  und  philosophischem 
Gebiete,  war  zu  stark  von  den  hier  entbrannten  geistigen  Kämpfen  be- 
herrscht, der  Organismus  der  Universitäten  war  zu  enge  begrenzt,  zu  starr 
in  seinem  Unterrichtssystem  geworden,  und  so  ging  die  mächtige  Bewegung, 
welche  die  naturwissenschaftlichen  Anschauungen  und  Methoden  so  gänz- 
lich neu  geschaifen,  wohl  nicht  an  den  einzelnen  Gelehrten,  aber  doch 
an  der  Universität  als  Körperschaft  vorüber,  ohne  dort  tatkräftige  Förderung 
und  Verbreitung"  zu  finden. 

Entstehender  IL    Die  Entwicklung  während  des   18.  Jahrhunderts.     Die   For- 

Akailemieen  im  ,       ..      ^  .    ,  .     ^  *~     ,  ,,  .  ^,  i   i     n       i 

17.  und  is.jahr- schung    knupftc    sich    Vielmehr    an    den   allgemeinen    Zusammenschluß    der 
Bedeutung    als  Gelehrten    untereinander,   der    schon    früh    in    einem    lebhaften    Austausch 
lehrten  For-    uiid  W^cttstrclt   der   neuen   Ideen  zum  Ausdruck  kam.     Im   16.  Jahrhundert 
sind  es  bisweilen  geradezu   öffentliche  Turniere  mathematischer  Geschick- 
lichkeit   (Cardano-Tartaglia !) ,    später    werden    neu    gefundene    Sätze    ohne 
Beweis    der    gesamten    Gelehrtenwelt    vom   Entdecker    vorgelegt,    so    von 
Vieta,    von   Fermat,    Huyghens   und   noch  der  Streit   der  beiden  Ber- 
noulli   trägt   diesen   Charakter.     Daneben  vermittelt   ein  reger  brieflicher 
wie  auch  persönlicher  Verkehr  die  rasche  Verbreitung  neuer  Entdeckungen. 
Dieser  Zusammenschluß    der   Forschenden    gewann    seine    äußere  Ge- 
staltung   mit    der   Errichtung    der  Akademieen.     So    erwuchs   aus   den   ge- 
lehrten Zusammenkünften   bei   Mersenne   durch  Colberts   organisatorische 
Initiative  die  Pariser  Akademie  (1666),  wurde  aus  einer  schon  seit  1645 
bestehenden  Privatgesellschaft    1662    die   Royal   Society   in   London   ge- 


n.  Die  EntNvicklung  während  des   1 8.  Jahrhunderts.  315 

gründet,  fanden  Galileis  Schüler  1657  in  der  accademia  del  cimento  ihren 

Vereinigungspunkt.     Den  Akademieen  wies  Leibniz,  der  für  ihre  Errich-      Leibniz. 

tung  und   Gestaltung   so    unermüdlich  wie  erfolgreich   tätige,    die  Aufgabe 

zu,  die  Wissenschaften  in  allen  ihren  Teilen  auszubauen,  ihnen  die  Sorge 

für   ihre  nutzbringende  Anwendung  in  volkswirtschaftlichem  Sinne,   ihnen 

die   Aufgabe,    die  Vermittler    zu    sein  für    die    geistige  Wechselbeziehung 

der  Nationen. 

So  trägt  denn  auch,  im  Gegensatze  zu  dem  partikularistischen  Geiste 
der  mit  den  Landesinteressen  enge  verknüpften  Universitäten,  die  Pflege 
der  Wissenschaften  im  17.  und  18.  Jahrhundert,  der  für  die  mathematisch- 
naturwissenschaftliche Forschung  grundlegenden  Epoche,  einen  internatio- 
nalen Charakter.  Frankreich,  die  Niederlande  und  England,  später  auch 
Rußland  nehmen  mit  Deutschland  daran  teil.  Die  Berliner  Akademie, 
1700  errichtet,  zumal  zeigt  unter  Friedrich  des  Großen  weitblickender 
Fürsorge  schon  in  den  glänzenden  Namen  ihrer  Mitglieder  diese  über  das 
einzelne  Volk  und  den  Staat  hinausgreifenden  Beziehungen.  Dort  wirkten 
neben  dem  trefflichen  Lambert  der  Baseler  Euler,  den  die  Peters- 
burger Akademie  am  Anfang  und  Ende  seines  reichen  Gelehrtenlebens 
zu  den  ihren  zählte,  die  hervorragendsten  Mathematiker  Frankreichs 
D'Alembert,  Lagrange,  Maupertuis. 

An  Plänen,    auch  den  Unterricht    den    neuen  Anschauungen    der   Zeit   Hervortreten 

'  realer  Inter- 

anzupassen,  insbesondere  den  „realen"  Interessen  in  höherem  Maße  Rech-  essen, 
nung  zu  tragen,  fehlte  es  nicht,  aber  man  glaubte  sie  nicht  an  den  Uni- 
versitäten, sondern  nur  in  neuen  Organisationen  verwirklichen  zu  können. 
So  entwirft  Skytte,  wohl  in  Anlehnung  an  die  Ideen  Bacons  (Nova  At- 
lantis), für  den  Großen  Kurfürsten  den  Plan  der  Gründung  einer  internatio- 
nalen wissenschaftlichen  Zentralanstalt,  der  Forschung  und  dem  Unterricht 
gewidmet,  in  welchem  besonders  umfassend  die  naturwissenschaftlichen 
und  technischen  Institute  bedacht  sind.  So  hebt  Leibniz  in  seinen  Ent- 
würfen für  die  Gründung  gelehrter  Gesellschaften  die  Bedeutung  der 
mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Forschung  und  Lehre  besonders 
in  ihrer  Beziehung  zu  sozialen  und  technischen  Aufgaben,  zu  Handel  und 
Gewerbe  immer  wieder  hervor. 

Immerhin  drangen  auch  an  den  Universitäten  gegen  Ende  des  17.  Jahr-  Die  Physik  an 

^  00  ^  j^^  Universi- 

hunderts  die  neuen  physikalischen  Anschauungen  so  weit  durch,  daß  tx-^^  iai,rhu!^ert 
perimentalphysik  im  Unterrichte  eine  elementare  Darstellung  finden  konnte. 
Eine  Anschauung,  wie  weit  etwa  man  hier  gekommen  war,  geben  uns  Peter 
Musschenbroeks  Elementa  physices  (1725),  die  direkt  für  den  akade- 
mischen Unterricht  bestimmt  sind.  Wesentliche  Neugestaltung  des  Stoffes 
ist  dann  im  Laufe  des  1 8.  Jahrhunderts  im  Unterrichte,  der  wie  auch  sonst, 
z.  B.  in  der  Mathematik,  sich  auf  die  Interpretation  eines  Kompendiums 
beschränkte,  nicht  hervorgetreten,  nur  Erweiterung  im  einzelnen,  ohne 
daß  doch  die  großen  Errungenschaften  namentlich  auf  dem  Gebiete  der 
mathematisch-physikalischen  Forschung  des  1 8.  Jahrhunderts  mit  einbezogen 


316 


Wai.thf.r   von   Dyck  :    Die  n:\Uu\vissenschaftlichc   llochsclnihiusbildung. 


Ausbreitung 
naturwissen- 
schaftlichen 
Interesses. 


Ritter- 
akademiecn. 


Technischer 

Unterricht. 

Collegium 

Carolinum  iu 

Braunschweig. 


Frankreich. 


worden  wären.  Dies  schloß  schon  die  Unmöglichkeit  aus,  andere  als  die 
elementarsten  Kenntnisse  der  Mathematik  vorauszusetzen.  So  müssen  wir 
s'Gravesandes  umfassende  Physices  elementa  sive  introductio  ad  philo- 
sophiam  Newtonianam  {1726)  ausschließlich  dem  gelehrten  SpezialStudium 
bestimmt  erachten.  Beachten.swert  ist  dagegen  das  in  weiten  Kreisen  der 
Gebildeten  zutage  tretende  Interesse  für  naturwissenschaftliche  Tatsachen, 
freilich  mehr  in  der  naiven  Freude  am  Merkwürdigen  und  unterhaltend 
Belehrenden  als  an  der  strengen  Forschung.  An  dieses  Interesse  hatten 
sich  schon  Guerikes  berühmte  Experimente  auf  dem  Reichstage  zu 
Regensburg  gewandt,  so  sind  jetzt  Desaguiliers  Vorträge  in  London,  die 
s'Gravesandes  in  Leyden  aufzufassen,  bei  denen  die  Vorführung  von  Ex- 
perimenten (Johann  Musschenbroeks  berühmte  Apparate)  ganz  besonders 
betont  wird.  Im  Anschluß  an  solche  Vorlesungen  entstehen  die  ersten 
Sammlungen  von  Instrumenten  und  Demonstrationsapparaten,  zunächst  fast 
immer  im  Privatbesitz  der  Gelehrten.  Ihr  Ankauf  durch  die  Universitäten 
läßt  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  ersten  physikalischen  Kabi- 
nette entstehen. 

Auch  das  Interesse  fürstlicher  Höfe,  ursprünglich  besonders  der  Astro- 
nomie (und  auch  der  Astrologie)  zugewandt,  dem  die  Wissenschaft  zu  den 
Zeiten  Keplers  und  Tycho  Brahes  so  bedeutsame  Förderung  ver- 
dankt, führt  zur  Begründung  von  astronomischen  Observatorien  und  von 
Sammlungen  astronomischer  und  physikalischer  Instrumente,  wie  auch  na- 
turwissenschaftlicher Kuriositäten,  die  weiterhin  hier  und  dort  an  den  im 
18.  Jahrhundert  entstehenden  Ritterakademieen  für  den  Unterricht  nutzbar 
gemacht  werden.  Diese  Akademieen  fordern  auch  noch  um  deswillen  unser 
Interesse,  als  sich  in  ihnen  —  die  für  den  Adel  des  Landes  auch  die  Uni- 
versitäten ersetzen  sollten  —  ganz  im  Leibnizschen  Sinne  die  Pflege  der 
modernen  und  „eleganten"  Wissenschaften  vorzüglich  mit  Rücksicht  auf 
ihre  Anwendungen  im  Feldmessen,  in  Baukunst,  in  Kriegskunst  und  Be- 
festigungslehre findet;  wie  denn  auch  im  Betriebe  der  übrigen  Gebiete  die 
Bezugnahme  zum  praktischen  Bedürfnis,  zu  volkswirtschaftlichen  und  staats- 
wirtschaftlichen Fragen  im  Vordergrunde  steht. 

Gedenken  wir  vor  anderen  des  Collegium  Carolinum  in  Braun- 
schweig (1745),  so  sehen  wir  hier  die  Ansätze  des  technischen  Unterrichts- 
wesens, das  wir  in  seinen  ersten  Anfängen,  den  elementaren  realistischen 
Schulen,  an  den  Beginn  des  i8.  Jahrhunderts  zu  setzen  haben,  schon  klar 
auf  das  Ziel  einer  höheren  technischen  Ausbildung  gerichtet.  Auch  die 
Universitäten  tragen  diesem  Bedürfnis  der  Zeit  in  ihren  kameralistischen 
Vorlesungen  Rechnung;  ja  die  erste  Vorlesung  über  Ingenieurwissen- 
schaften findet  sich  in  Prag  schon  um  1717.  Ausgeprägter  gestaltet  sich 
dann  der  Charakter  technischer  Schulen  in  den  der  Ausbildung  zum  Berg- 
werksbetriebe dienenden  Fachschulen  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts. 

In  Frankreich  fällt  in  diese  Zeit  die  Errichtung  höherer  Fachschulen 


J 


II.  Die  Entwicklung  während  des    18.  Jahrhunderts.  JI7 

auch  schon  auf  weiteren  Gebieten  der  Technik,  so  der  ecole  des  beaux 
arts  (die  auch  der  Ausbildung  der  Architekten  dient),  der  ecole  des  ponts 
et  chauss6es  und  der  6coIe  des  mines.  In  der  Tat,  in  Frankreich  war  das 
System  gesonderter  Fachschulen  für  den  einzelnen  Beruf  schon  gegeben, 
hatte  doch  dort  jener  Zusammenschluß  der  Fakultäten,  der  zur  Bildung 
unserer  deutschen  Universitäten  geführt  hat,  nur  ganz  äußerlich  statt- 
gefunden, und  ist  z.  B.  auch  heute  noch  die  Verbindung  der  6cole  de 
droit  und  der  6cole  de  medecine  in  der  Pariser  Universität  mit  der  facult6 
des  lettres  und  der  faculte  des  sciences  (Sorbonne)  nur  eine  ganz  lose. 
Dementsprechend  sind  auch  Physik,  Chemie,  wie  die  beschreibenden 
Naturwissenschaften  an  der  medizinischen  Fakultät  ganz  selbständig  ver- 
treten und  mit  Rücksicht  auf  die  hier  gegebenen  engeren  Fachinteressen 
ausgestaltet.  Der  unmittelbare  Anschluß  der  Fachschule  an  die  vorberei- 
tende Mittelschule  ist  dabei  in  Frankreich  auch  noch  durch  den  Umstand 
erleichtert,  daß  die  Lyzeen  in  ihren  Spezialkursen  (cours  des  lettres  und 
cours  des  sciences)  über  die  allgemein  bildenden  Fächer  hinaus  schon  den 
grundlegenden  (hier  den  mathematisch-physikalischen)  Lehrstoff  des  Fach- 
studiums in  einem  weit  größeren  Umfang  vermitteln  als  etwa  bei  uns  die 
Gymnasien  trotz  ihres  allmählichen  Fortschreitens  auch  nach  dieser  Richtung. 

Wir  haben  auf  diesen  bedeutsamen  Unterschied  noch  einmal  zurück-  England, 
zugreifen,  nehmen  aber  hier  Gelegenheit,  des  Vergleiches  wegen  (wenn  auch 
wie  soeben  zeitlich  vorgreifend)  noch  in  einigen  Worten  die  entsprechenden 
Verhältnisse  in  England  heranzuziehen.  Hier  haben  die  Universitäten, 
dem  konservativen  Sinne  des  Engländers  entsprechend,  den  Charakter  der 
mittelalterlichen  Schulen  noch  in  vielen  Organisationen  (so  in  der  Be- 
schränkung der  Bewegungsfreiheit  des  Einzelnen)  beibehalten.  Die  Grade 
des  baccalaureus,  magister  artium  und  doctor  werden  durch  sorgfältig 
geregelte  Examina  erlangt;  die  Vorbereitung  auf  diese  Prüfungen,  durch 
Einstudieren  der  hierzu  vorgeschriebenen  Werke,  durch  Lösen  von  Auf- 
gaben bildet  den  wesentlichsten  Teil  der  Arbeit  im  College.  Darüber  hin- 
aus und  fast  unabhängig  davon  bietet  sich  dem  einzelnen  Gelegenheit  zu 
weiterem  vertieften  Studium  in  gesonderten  Instituten.  Die  Möglichkeit 
zur  unbehinderten  Fortsetzung  wissenschaftlichen  Studiums  ist  durch  die 
für  England  charakteristische  Institution  des  Fellowship  gegeben.  Im 
ganzen  aber  dient  die  Universität  auch  heute  noch  wesentlich  der  Ver- 
mittlung allgemeiner  Bildung  für  den  gentleman,  die  besonders  auch  auf 
körperliches  wie  geistiges  (und  politisches)  training  abzielt.  Die  speziellere 
Fachausbildung  verbleibt  dem  Sonderunterrichte  der  einzelnen  Gelehrten, 
der  Praxis  beim  Arzt,  im  Privatlaboratorium,  beim  Ingenieur,  beim  Archi- 
tekten. So  hatten  sich  denn  auch  im  Gegensatz  zu  Frankreich  Fach- 
schulen erst  in  jüngster  Zeit  unter  dem  Drange  der  praktischen  Notwendig- 
keit entwickelt. 

Unsere   deutschen  Universitäten   aber  haben  durch  die  freie 
Entfaltung  von  Forschung  und  Lehre   ebenso   das  Stadium  eines 


7l8  ^VALTHER  VON   Dyck:    Die  iiaturwissrnscbafüiche  Hochschulausbildung. 

schulmäßigen  Unterrichtsbetriebes  überwunden,  wie  sie  sich 
durch  die  ideale  Auffassung  ihrer  g'emeinsanien  Interessen  vor 
dem  Zerfallt' II   in   l'achschulen  zu   bewahren  wußten. 

Kntstcbou  dor  111.      \)vr     H  a  t  u  r  w  i  s s  f  u s  c  h u  f 1 1  i  c  h  c     U  n  i  V  e  r  s  i  t  ä  t  s  u  n  t  crr  i  c  h  t 

modernen  Uni- 

voraitat.  Halle,  i  m     1 9.  J  a  li  r  h  u  u  d  c  r  t.      Für    die    allmähliche    Wandlung    der    Bedeutung 

Göttingon. 

der  Universitäten  im  wissenschaftlichen  Leben,  wie  im  Leben  der  Nation 
kommt  vor  anderem  die  Errichtung  zweier  neuen  hohen  Schulen  in 
Betracht:  von  Halle,  das  um  die  Wende  des  17.  Jahrhunderts  als 
brandenburgisch -preußische  Universität  ersteht,  und  von  Göttingen,  der 
chrisua.1  WoKf  voniclimen    Universität    des   hannoverisch  -  englischen   Hauses.     Unter    den 

und  Kant.  •         t-»  t  t    ii  i  /-•     • 

Männern,  welche  die  Bedeutung  Halles  als  der  ersten  modernen  Geist 
atmenden  Universität  geschaffen  haben,  haben  wir  für  unsere  Gebiete 
Christian  Wolff  zu  nennen,  der  die  dogmatische  Philosophie  in  seinen 
„Vernünftigen  Gedanken"  durch  eine  auf  die  Naturwissenschaften  gegrün- 
dete Weltbetrachtung  ersetzte  und  jene  mächtige  auch  den  gesamten 
Unterricht  der  Universitäten  durchdringende  Bewegung  auslöste,  welche 
Wachsende     dann  Kant  in  die  klaren  Bahnen  seines  Systems  der  reinen  und  der  prak- 

Jicdeutung  der      .  ^  ^  .  ,"  .  . 

Universitäten  in  tischen    V  emunft   führt.     Die  Bedeutung  Göttingens,   in  dem  sich  bald  die 

der     Öffentlich-  ,  tt .  „        .       . 

keit.  Interessen  der  Universität  mit  denen  der  1751  errichteten  Sozietat  der 
Wissenschaften  verbinden,  bezeichnen  auf  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichem Gebiete  die  Namen  Hallers,  des  Anatomen,  Physiologen,  Bota- 
nikers und  Dichters,  Lichtenbergs,  des  Physikers  und  scharfsinnigen 
Humoristen,  Kästners,  des  Mathematikers  und  Epigrammendichters.  Die 
Bedeutung  dieser  drei  liegt  in  ihrer  wissenschaftlichen  Tüchtigkeit,  noch 
mehr  aber  in  ihrer  Stellung  inmitten  der  allgemeinen  geistigen  Interessen 
jener  Zeit.  Und  noch  ein  weiteres  ist  für  Göttingen  bezeichnend,  „in  allen 
Pflege  der     Teilen  der  Wissenschaften   gleich   aufs  praktische  zu  führen"  (Pütter).     So 

aniiewandton  .  ^  c  ■  •       i  t^        i         i  i  ■ 

Naturwissen-  emchtetc  schou  Segner  ein  zu  astronomischen  Beobachtungen  bestimmtes 
Göttingen.  Observatorium,  das  zugleich  eine  kleine  Sammlung  physikalischer  Appa- 
rate enthält,  Kästner  behandelt  in  seiner  angewandten  Mathematik  die 
Baukunst,  die  Artillerie  und  Fortifikation,  denen  schon  Chr.  \\'olff  in  seinen 
Elementen  einen  so  weiten  Raum  gewidmet  hat;  weiter  finden  wir  dort 
schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  praktischen  Unterricht  im 
F'eldmessen,  im  Entwerfen  von  Hochbauten,  von  Wasser-  und  Brückenbauten. 
Tobias  Mayers,  des  ruhmvollen  Vorläufers  von  Gauß,  Wirksamkeit  ist  in 
seinen  Mondtafeln,  wie  in  seinen  Arbeiten  zur  Theorie  des  Erdmagnetis- 
Gauß  mus  niedergelegt.  Und  wenn  wir  in  diesem  Zusammenhange  schließlich  den 
Namen  von  Gauß  verzeichnen,  so  geschieht  es,  um  die  Bedeutung  des 
Mannes,  welcher  der  mathematischen  Forschung  des  19.  Jahrhunderts  die 
Wege  gewiesen,  auch  auf  den  Gebieten  der  Anwendungen,  die  er  in  allen 
ihren  Teilen,  in  Physik  und  Meßkunst  der  Erde  und  des  Himmels  mit 
neuen  Ideen  befruchtet  hat,  hier  hervorzuheben. 

War   durch    den    geistigen  Einfluß,    den    ein  Mann    wie  Kant   für  das 


m.  Der  naturwissenschaftliche  Universitätsunlerricht  im    19.  Jahrhundert.  31g 

Leben  gewonnen  hatte,  durch  die  geniale  und  tiefgründige  Gedankenarbeit 
eines  Gauß  die  Bedeutung  der  Universitäten  auch  nach  außen  hin  im 
Vergleich  zu  ihrem  Ansehen  zu  Leibniz'  Zeit  von  Grund  aus  geändert, 
so  bedurfte  es  für  sie  doch  noch  eines  wesentlichen  Momentes,  um  in 
ihrem  gesamten  Wirken  den  Lehraufgaben  zu  genügen,  wie  sie  nimmehr 
die  fortschreitende  Wissenschaft  an  sie  stellte:  Es  ist  das  Hervortreten  Di«  ümve™tät 

als  Statte  der 

der    Universität    als    einer  Stätte    der   freien    wissenschaftlichen  frcienForachaag 

and  Lehre. 

Forschung,  die  ihre  Jünger  zu  wissenschaftlicher  Arbeit  erzieht. 

Diese  Erweiterung-  ihrer  Lehrziele  trifft  in  erster  Linie  die  philosophische    Die  pMo»- 

^  .  pbiscnerakaltat 

Fakultät,    die   auch    am  Ende  des    i8.  Jahrhunderts    wesentlich    noch   eme  au  Fichschoie 

'  ...  des  Gclchrteo 

Vorstufe  der  oberen  Fakultäten  ist  und  die  Ubermittlerin  einer,  w^enn  auch    und  u-hrers. 

\  crUcrang  ihrer 

allmählich  gewandelten  und  vertieften  allgemeinen  Bildung.   Jetzt  verschiebt  Lehraufgaben. 

"  °  .  Reakaon  gegen 

sich,  zunächst    in  sprachlicher  Richtung,   ein  Teil  des  Umversitatsunter- die  realistischen 

'  *  ^  .  Tendenzen    des 

richtes  auf  das  auch  äußerlich  als  Vorstufe  wenigstens  für  die  Ausbildung  i8.  jahrhua- 
zum  Staatsdienst  geforderte  klassische  Gymnasium.  In  semer  Neuorgani- 
sation wird,  das  Verdienst  eines  F.  A.  Wolf  und  Friedrich  Thiersch, 
die  Frage  der  Jugenderziehung  wieder  von  einem  höheren  Standpunkte 
aus,  sub  specie  aetemitatis,  erfaßt.  Freilich  betont  sie  zu  ausschließlich 
die  Pflege  der  griechischen  Literatur,  allgemeiner  der  Altertumswissen- 
schaften, als  die  universelle  Vorschule  aller  gelehrten  Bildung.  Aber  die 
hier  geforderte  Vertiefung  führt  doch  auch,  etwa  in  der  Mitte  der  20er 
Jahre,  zu  einem  eindringlicheren  Unterricht  in  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaft auf  den  Gj-mnasien.  So  wird  einerseits  die  philosophische 
Fakultät  eines  großen  Teiles  ihrer  allgemeineren  Aufgabe,  elementare  und 
enzyklopädische  Kenntnisse  als  Vorbereitung  auf  die  Berufswissenschaften 
zu  vermitteln,  entlastet,  andererseits  erwächst  ihr  eben  durch  die  erweiterte 
Organisation  der  Vorschulen  die  Aufgabe,  ihnen  tüchtig  geschulte  Lehrkräfte 
zuzuführen,  an  Stelle  von  Theologen,  welche  bisher  vorzugsweise  und 
als  Vorbereitung  für  ihren  eigentlichen  Beruf  das  Lehramt  versahen,  Fach- 
lehrer der  Sprachen,  Lehrer  der  Mathematik  und  der  Naturwissenschaften 
heranzubilden.  Die  philosophische  Fakultät  tritt  damit  auch  nach  ihrer 
Bestimmung  in  den  Kreis  der  anderen,  der  Fachausbildung  dienenden 
Fakultäten.  Aber  indem  sie  für  die  Lösung  ihrer  Aufgabe  das  Prinzip 
aufstellt,  daß  die  Erziehung  zu  selbständiger  wissenschaftlicher  Arbeit  die 
beste  Vorbereitung  auch  für  den  Lehrer  sei,  daß  die  Elemente  von  einem 
höheren  umfassenderen  Standpunkt  erkannt  sein  müssen,  um  in  der  Schule 
mit  Erfolg  gelehrt  zu  werden,  heischt  sie  die  Vertiefung  des  Universitäts- 
unterrichtes durch  die  Einbeziehung  des  gegenwärtigen  Standes  der  wissen- 
schaftlichen Forschung.  Sie  setzt  sich  damit  in  einen  bewußten  Gegensatz 
zu  einer  auf  die  unmittelbaren  Forderungen  des  späteren  Berufes  gerich- 
teten Einschulung,  ein  Gegensatz,  der  um  so  stärker  betont  wird,  als  ge- 
rade das  vorausgehende  18.  Jahrhundert  das  Utilitätsprinzip  auf  Kosten 
wissenschaftlicher  Vertiefung  für  die  Jugendbildung  hat  hervortreten  lassen. 

Die  neue   Richtung  bezeichnet   vor   anderen    die  Universität  Berlin,*'*'^^""""* 
die  Schöpfung  Wilhelm   von  Humboldts,   und  es  ist  die  dort  glänzend ^BerUn^s 


der  Universität 
10. 


320  Wai.thkr  von  Dyck:    Die  rmtunnsscnschafllichc  Hochschulausbildung. 

und  allseitig  vertretene  Philologie,  bei  welcher  zuerst  Forschung  und 
Lehre  sich  verbindet.  Für  die  mathematisch -naturwissenschaftlichen  Ge- 
biete ist  zunächst  Bonn  mit  dem  1825  errichteten  ersten  naturwissenschaft- 
lichen Seminar,  das  später  durch  Plückers  Lehrtätigkeit  besondere 
Bedeutung  gewinnt,  zu  nennen.  Neben  dem  Vorbild  der  Organisation 
philologischer  wSeminare  macht  sich  hier  wohl  auch  der  Einfluß  französi- 
scher Einrichtungen  an  der  ecole  normale  und  der  ecole  polytechnique 
geltend,  ein  Einfluß,  dem  wir  weiterhin  in  erhöhtem  Maße  begegnen.  Von 
grundlegender  Bedeutung  für  die  wissenschaftliche  Forschung  wie  für  die 
Das  mathe-    Ausbildung  der  Lehrer  wird  dann  Königsberg  und  das  von  Bessel,  Franz 

matisch-natur-  -»t  t  ^  j 

Wissenschaft-  JNeumann  und  Jacobi   1830  gegründete  mathematisch-physikalische 

liehe  Seminar    o  •  '    /-^  ny    ttt-    i  •         • 

in  Königsberg,  oem mar.  ürauD  Wirksamkeit  liegt  in  der  Fülle  und  Tiefe  der  Gedanken, 
durch  welche  er  die  Wissenschaft  in  allen  ihren  Teilen  bereichert,  durch 
welche  er  in  reichstem  Maße  Anregung  zu  weiteren  Forschungen  gegeben 
hat,  ohne  aber  dem  Unterrichte  selbst  besonderes  Interesse  zu  widmen.  Die 
Wirkung  Jacobis  stützt  sich  auf  seine  glänzenden,  analytischen  Arbeiten  und 
vor  allem  auf  seine  unübertrofl'ene  Tätigkeit  als  Lehrer.  Durch  Hinleitung 
zum  Studium  der  Klassiker  der  Wissenschaft  und  vor  allem  durch  die 
Einführung-  in  den  Gedankenkreis  der  eigenen  Forschung  leitet  der  Lehrer 
den  Schüler    zu   selbständiger  Arbeit  an.     Dabei   stellt  sich  noch  ein  wei- 

Persüniiches    tcres  bcdeutsames  Moment  hier  naturgemäß  ein:    das  persönliche  Ver- 

Verhältnis        ,..  ,.  .-  .  ..  ^-,. 

zwischen  Lehrer  haltnis,    welches   sich   ZU   gegenseitigem  Gewinn   zwischen   beiden  auszu- 

und  Schüler,     t«-.,  i"i  i-  .-i«. 

bilden  vermag-,  um  so  hoher  zu  schätzen,  je  schwieriger  es  heutzutage  bei 
dem  an  Zahl  der  Schüler  wie  an  Zersplitterung  des  Inhaltes  so  sehr  ge- 
steigerten Unterrichtsbetrieb  noch  herzustellen   ist. 

Eben  diese  persönliche  Beziehung  zu  seinen  Schülern  gilt  ganz  be- 
sonders auch  von  Bessels  Wirksamkeit,  der,  an  Gauß  anschließend  und 
weiter  bauend,  Königsberg  zum  Ausgangspunkt  der  praktischen  Astronomie 
gemacht  hat.  Franz  Neumann  aber  hat  der  großen  Epoche  der  Franzosen 
ruhmvoll  die  deutsche  Schule  der  mathematischen  Physik  an  die  Seite 
gestellt.  Auch  in  der  Folge  ist  ganz  besonders  der  Einfluß  der  Persön- 
lichkeit bestimmend  für  Inhalt  und  Methode  der  Einzelforschung:  Man 
denke,  um  nur  die  von  Göttingen  und  Berlin  ausgehenden  Gruppen 
noch  zu  nennen,  an  Dirichlet,  Riemann,  Clebsch  und  ihre  Schüler, 
an  die  zeitlich  mit  der  Wirksamkeit  Jacobis,  Dirichlets  in  Berlin  zusammen- 
fallende kraftvolle  originale  Lehrtätigkeit  Steiners,  an  die  von  Weier- 
straß  und  Kronecker  ausgehende  kritische  Schule,  an  Kirchhoff, 
Helmholtz,  Hertz  und  ihren  Wirkungskreis. 

Die  modernen  Im  Bereiche  der  experimentellen  Naturwissenschaften  machte  die  Ver- 

Bedürfnisse des       ....  T-^  .  1,-.^,.  .  .. 

naturwissen-    wirklichuiig  dcr  Forderuug,  Anregung  und  Gelegenheit  zu  eigener  Arbeit 
Unterrichts.    ZU  bieten  und  dazu  vorzubereiten,    Einrichtungen  notwendig,    an  denen  es 
bis    dahin    völlig    gebrach.      Zwar    gab    es    neben    den    Sternwarten    bota- 
nische Gärten,  ursprünglich  medizinischen  und  pharmakologischen  Zwecken 
dienend;  zoologische  und  mineralogische  Museen,  zum  guten  Teil  den  Ra- 


Hr.  Der  naturwissenschaftliche  Univcrsitätsunterricht  im   19.  Jahrhundert.  ^2  1 

ritätenkabinetten  einer  früheren  Periode  entstammend,  waren  wohl  vor- 
handen. Aber  schon  die  Ausstattung  physikalischer  Sammlungen  für 
die  Zwecke  experimenteller  Vorlesungen  war  noch  zu  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts, ja  noch  weiter  hinaus  eine  äußerst  beschränkte;  vielfach  bildeten 
sie  noch  den  Privatbesitz  der  Vertreter  des  Faches,  wie  denn  auch  die 
Vorlesung  selbst  nicht  selten  mangels  geeigneter  Hörsäle  in  der  Wohnung 
des  Dozenten  abgehalten  wurde.  Noch  in  den  vierziger  Jahren  stellt 
Franz  Xeumann,  dessen  lebenslanger  Wunsch,  ein  physikalisches  Labo- 
ratorium zur  Forschung  und  zum  Unterricht  zur  Verfügung  zu  haben,  sich 
nicht  erfüllt  hat,  Garten  und  Haupträume  seines  Hauses  zur  Verfügung, 
um  seinen   Zuhörern  ein   Studium   der  Physik   zu   ermöglichen. 

Auch  die  Chemie,  für  deren  wissenschaftliche  Behandlung  das  Ende  Chemie, 
des  18.  Jahrhunderts  (Lavoisier)  die  Grundlagen  geschaffen,  entbehrte  noch 
der  Arbeitsstätte  an  den  Universitäten  und  war  fast  durchweg  auf  Privat- 
laboratorien, zumeist  der  Apotheken,  angewiesen.  Um  die  Mitte  des 
I Q.  Jahrhunderts  schreibt  ein  Fachmann  in  einer  Broschüre  „Über  die  Stellung 
der  Naturwissenschaften  an  den  Universitäten":  „Es  gibt  in  Preußen  heutzu- 
tage weder  ein  von  Staats  wegen  gegründetes,  nur  nennenswertes  chemisches 
Laboratorium,  und  ebenso  fehlen  ähnliche  Einrichtungen  für  Physik  und 
für  die  experimentelle  Richtung  der  Physiologie.  Die  Universität  Berlin, 
die  erste  Deutschlands,  besaß  bis  vor  kurzem  gar  keine  physikalische 
Sammlung.  Wenn  jetzt  eine  solche,  wie  man  sagt,  aufgekauft  ist,  so  ist 
sie  weder  in  der  Universität  aufgestellt,  noch  haben  junge  Physiker  Ge- 
legenheit, diesen  Apparat  zu  selbständigen  Untersuchungen  zu  benutzen. 
Zu  Halle  und  Greifswald  stand  es  bis  vor  kurzem  nicht  besser;  an  letz- 
terer Universität  hat  das  physikalische  Kabinett  80  Taler  zu  vertun,  wofür 
vielleicht  auch  noch  Heizung  und  Beleuchtung  bestritten  werden  sollen. 
Wieviel  Jahre  muß  wohl  der  Greifswalder  Physiker  sparen,  um  eine 
Luftpumpe  anzuschaffen?" 

Die    entscheidende    Tat   war   hier    die   Schöpfung    des    chemischen  Das  Liebigscho 

X  o  .         Laboratorium  m 

Unterrichtslaboratoriums  in  Gießen,  1825,  durch  Liebig.  Es  ist  Gießen  .825. 
in  seiner  Organisation,  wie  in  den  glänzenden  Leistungen,  die  aus  ihm 
hervorgingen,  das  Vorbild  für  die  im  Laufe  der  folgenden  Jahrzehnte  nun 
allenthalben  errichteten  chemischen  Institute  geworden.  Während  bis  dahin 
Paris  (Lavoisier)  und  Stockholm  (Scheele,  Berzelius)  die  Jünger  der 
aufblühenden  Wissenschaft  versammelte,  entstanden  nun  bei  Liebig  in 
Gießen  und  München,  bei  Bunsen  in  Marburg  und  Heidelberg,  bei 
Wohl  er  in  Göttingen  die  Zentren  und  Schulen  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  in  Deutschland. 

Noch    später    fällt    die  Einrichtung   physikalischer   Laboratorien. ^.Die^phynka-^ 
Wir    müssen    hier    die    hauptsächlichsten    Daten    aus    der    Entwicklungs-  'ä^^^^;^?-^^^'"- 
geschichte  der  physikalischen  Forschung  einschalten.     Mit  seinen  neu  ge- 
schaffenen mathematischen  Hilfsmitteln  war  Newton  imstande  gewesen,  die 
Mechanik  insbesondere  des  Himmels  als  systematisches  und  exakt  aufgebautes 

DiB  Kultur  der  Gbgiikwart.    I.  i.  " 


322 


Wai.thrr  von   Dyck:    Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildung. 


Ganze  darzustellen.  Seine  Nachfolger  im  i8.  Jahrhundert  hatten  das  Werk 
für  die  gesamte  Mechanik  durchgeführt,  d'Alemberts  Prinzip  hatte  den 
Schlußstein,  Lagrange  klassische  analytische  Mechanik,  wie  Poinsots 
geometrische  Behandlung  eine  abschließende  Darstellung  gegeben,  über 
die  später  Grauß,  Hamilton  und  Hertz  doch  nur  in  einzelnen  Richtungen 
oder  nach  der  methodischen  und  prinzipiellen  Seite  hinausgingen.  Da- 
gegen waren  aus  den  anderen  Gebieten  der  Physik  bis  zu  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  nur  vereinzelte  Probleme,  so  von  den  Bernoulli,  von 
Euler,  der  mathematischen  Behandlung  unterworfen  worden.  Auch  auf 
experimentellem  Gebiete  fehlte  es,  so  bedeutende  Resultate  das  18.  Jahr- 
hundert noch  besonders  für  die  Elektrostatik  aufweist,  doch  namentlich 
auf  dem  Kontinent  an  einer  systematisch  umfassenden  Durchforschung-  der 
Erscheinungen  auch  nur  eines  Gebietes.  Mit  dem  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts bemächtigt  sich  die  mathematische  Analyse  in  neuer  zusammen- 
fassender Art  systematisch  der  verschiedenen  Gebiete  der  Physik. 
Nacheinander  werden  die  Wärmelehre,  die  Elastizitätslehre  und  die 
Plydrodynamik,  die  Optik,  die  Potentialtheorie,  die  Lehre  von  der  Elek- 
trizität und  dem  Mag-netismus  und  ihren  Wechselbeziehungen  in  mathe- 
matischer Form  durch  Gleichungen  dargestellt  und  durch  die  gerade  in 
diesen  Gleichungen  auftretenden  Analogieen  zu  einander  in  Beziehung 
gesetzt.  Wir  nennen  hier  nur  die  Namen  von  Fourier,  Navier,  Cauchy 
und  Fresnel,  von  Gauß  und  F.  Neumann  bis  Kirchhoff  und  Helm- 
holtz,  von  Young,  Green,  Stokes  bis  Maxwell  und  Hertz. 

Solche  systematische  Durchforschung  finden  wir  dag^egen  auf  dem 
Gebiete  der  Experimentalphysik  im  allgemeinen  bis  zur  Mitte  des  ig.  Jahr- 
hunderts noch  nicht.  Allerdings  wird  diese  Periode  durch  die  Entdeckung 
einer  Reihe  von  grundlegenden  Naturgesetzen  bezeichnet,  die  gerade 
auch  für  die  ebenerwähnten  theoretischen  Formulierungen  die  Unterlage 
geliefert  haben.  Wir  nennen  etwa  auf  dem  Gebiete  der  Optik  die  Ar- 
beiten von  Malus  (Polarisation),  Fraunhofer  (Spektrallinien)  und  Fresnel 
(Interferenz  und  Beugung);  auf  dem  Gebiete  der  Elektrizität  und  des  Magne- 
tismus Seebeck  (Thermoelektrizität),  O  erste  dt  (Elektromag-netismus),  Biot- 
Savart,  Ampere  und  Ohm  mit  den  nach  ihnen  benannten  Grundgesetzen. 
Für  sich  genommen  aber  erscheinen  diese  Entdeckungen  zunächst  mehr  als 
vereinzelte  Gipfelpunkte,  zwischen  denen  eine  unmittelbare  Verbindung  noch 
nicht  besteht.  Eine  Persönlichkeit  dagegen  wie  Faraday,  die  mit  immer- 
hin bedeutenden  Mitteln  versehen  in  jahrzehntelanger  rastloser  Arbeit  ein 
neues  Gebiet  der  Experimentalphysik  bis  in  seine  dunkelsten  Winkel 
durchforschte  und  auf  die  so  erworbenen  Kenntnisse  ganz  neue  Grund- 
anschauungen aufbaute,  ist  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  eine 
vereinzelte  Erscheinung. 

Einen  neuen  Abschnitt  bezeichnet  das  durch  die  Arbeiten  von  Robert 
Mayer,  Joule  und  Hirn  erwiesene,  durch  Helmholtz  nach  seiner 
vollen    Tragweite    umfassend    formulierte    Gesetz    von    der   Erhaltung    der 


m.  Der  natarwissenschadliche  Universitätsunterricht  im   19.  Jahrhundert.  753 

Energie.  Mit  ihm  ergab  sich  eine  Möglichkeit,  die  physikalischen  Er- 
scheinungen unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkt  des  Austausches  der 
Energie  zusammenzufassen.  Den  größten  Erfolg  brachte  diese  Anschauung 
in  der  auf  Carnot  und  Clausius  zurückgehenden  Thermodynamik;  ihre 
weitgehendste  Konsequenz  zog  sie  in  dem  Versuch,  die  Mechanik  und 
mit  ihr  die  gesamte  Physik  als  Energetik  aufzubauen.  Auf  der  anderen 
Seite  führten  die  atomistischen  Vorstellungen  besonders  in  der  kinetischen 
Gastheorie  zu  neuen  Resultaten,  versuchte  Kelvin  eine  Deutung  der 
Materie  in  seiner  Wirbeltheorie.  Auch  die  moderne  Elektronentheorie 
lehnt  sich  in  mancher  Beziehung  an  atomistische  Vorstellungen  an.  Parallel 
damit  läuft  die  Neigung,  Vorgänge  auch  auf  anderen  Gebieten  der  Physik 
durch  mechanische  Analogieen  zu  veranschaulichen.  Zugleich  aber  führen 
alle  diese  Ansätze  zu  der  Erkenntnis  von  der  nur  relativen  Gültigkeit  der 
einzelnen  physikalischen  Theorieen,  zu  der  Auffassung  auch  der  mathe- 
matischen Formulierungen  als  bloßer  Analogieen  der  Xaturvorgänge  und 
leiten  damit  die  kritische  Periode  der  Physik  ein,  welche  auf  Kirchhoffs 
berühmt  gewordene  Formulierung  ihrer  Aufgabe  als  einer  vollständigen 
und  möglichst  einfachen  Beschreibung  der  Xaturvorgänge  zurückgeht. 
Die  große  heuristische  Bedeutung  aber  solcher  mathematischer  Analogieen 
zeigt  sich  am  besten  auf  der  durch  sie  veranlaßten  Vereinigung  nicht  nur 
der  Lehre  von  der  Elektrizität  und  dem  Magnetismus,  sondern  auch  der 
Lehre  vom  Licht  zu  einem  gewaltigen  Ganzen,  wie  sie  Maxwell,  der 
Beobachtung  vorgreifend  und  ihr  den  Weg  bahnend,  gelungen  ist. 

Man  wird  den  Grund  des  verhältnismäßigen  Zurücktretens  der  syste- 
matischen experimentellen  Forschung  in  der  ersten  Hälfte  des  ig.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  wohl  mit  aus  dem  Fehlen  geeigneter  Arbeitsstätten 
und  größerer  Mittel  zur  Durchführung  breiter  angelegter  Untersuchungen 
und  nicht  zuletzt  auch  aus  der  in  vielen  Richtungen  noch  recht  großen 
Unvollkommenheit  und  Beschränktheit  des  instrumenteilen  Apparates  er- 
klären können.  Man  gedenke  der  geringen  Hilfsmittel,  mit  denen  Ohm 
seine  fundamentalen  Gesetze  nachwies,  der  hohen  technischen  Kunst,  die 
Fraunhofer  erst  auf  die  Verv'ollkommnung  der  optischen  Instrumente 
verwenden  mußte,  ehe  er  durch  seine  Arbeiten  den  Grund  der  Spektral- 
analyse legte,  der  schwerfälligen  Apparate,  mit  denen  Robert  Mayer 
mit  zäher  Ausdauer  die  Versuche  zum  Beweise  seiner  genialen  Kon- 
zeptionen durchführte!  Zu  allseitiger  Durchforschung  eines  größeren  Ge- 
bietes gehört,  und  dies  gilt  um  so  mehr,  je  weiter  die  Wissenschaft  fort- 
schreitet, vor  allem  ein  umfassender  und  systematischer  Apparat,  wie  er 
im  nötigen  Umfang  nur  schwer  von  Einzelnen  beschafft  werden  konnte. 
So  hängt  denn  die  allseitige  Inangriffnahme  experimenteller  Probleme,  wie 
sie  nun  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  einsetzt,  aufs  engste  zu- 
sammen mit  der  Einrichtung  und  Ausgestaltung  der  physikalischen  In- 
stitute. 

An  den  Anfang  dieser  Entwicklung  haben  wir  bedeutungsvoll  Wilhelm  '''"iS".''* 


^■yA  Walthkk  von  Dyck !    Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Webers  Lehr-  und  Forschertätigkeit  in  Göttingen  zu  setzen.  Er  hat  wohl 
zuerst  in  den  dreißiger  Jahren  in  umfassender  Weise  das  physikalische 
w.  Webers  Kabinett  der  Universität,  über  die  Zwecke  der  Demonstration  hinaus,  zu 
i-iböratorium  einem  Institute  der  wissenschaftlichen  Forschung  umgestaltet  und  Gelegen- 
ottingeu.  ^^.^  ^^  einem  physikalischen  Praktikum  für  Anfänger  und  Fortgeschrittene 
geschaffen.  In  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  entstehen  auch  ander- 
wärts, wenn  auch  noch  nicht  in  größerem  Maßstabe,  Einrichtungen  zu 
experimenteller  Schulung  und  für  selbständige  Arbeiten,  und  wird  schon 
bei  Neubauten  für  Anlage  pliysikalischer  Institute  Sorge  getragen.  In  den 
sechziger  Jahren  hat  Magnus  in  BerUn  in  seiner  Privatwohnung  ein 
kleines  Laboratorium  für  experimentelle  physikalische  Untersuchungen  er- 
öffnet. Von  1870  an  findet  dann  in  raschem  Fortschreiten  allenthalben 
der  Ausbau  physikalischer  Institute  statt,  zumal  an  den  großen  Universi- 
täten in  besonders  reicher  und  vielseitiger  Ausgestaltung.  So  ist  es  heute 
möglich,  daß  an  den  einzelnen  Instituten  ein  engerer  Schülerkreis  sich 
um  den  Lehrer  sammelt,  um  sich  an  der  Durchführung  größerer  Probleme 
zusammenwirkend  zu  beteiligen  und  so  für  selbständige  Arbeit  vorzube- 
reiten. In  breiterem  Rahmen  läuft  daneben  die  Aufgabe  der  Ausbildung 
der  Lehrer  der  Naturwissenschaften,  bei  welcher,  nach  dem  Durch- 
laufen einer  allgemeinen  experimentellen  Schulung,  besonders  die  für  den 
einführenden  Unterricht  verwendbaren  beschränkten  Hilfsmittel  und  Me- 
thoden ihre  Beachtung  zu  finden  haben. 

Neben  den  großen  Laboratorien  haben  sich  weiterhin,  wie  schon  früher 
für  Erdmagnetismus  und  Meteorologie,  in  den  letzten  Jahrzehnten  dem 
Eingreifen  der  Physik  in  die  Nachbargebiete  entsprechend  speziellere  In- 
stitute für  die  Pflege  solcher  Grenzgebiete  entwickelt,  so  die  Institute  der 
physikalischen  Chemie,  der  Geo-  und  Astrophysik.  Auf  die  Be- 
ziehung der  modernen  physikaHschen  Forschung  zu  den  Problemen  der 
Technik  und  auf  die  dadurch  gegebene  Erweiterung  ihres  Interesses  nach 
Seite  der  angewandten  Gebiete  (Thermodynamik,  Elektrotechnik)  haben 
wir  noch  später  einzugehen.  Hier  sei  nur  noch  der  großzügigen  Organi- 
sation der  physikalischen  Reichsanstalt  gedacht,  welche  zunächst 
als  Normalprüfungsstation  für  einheitliche  Maße  zu  sorgen  hat,  welche 
aber  darüber  hinaus  gemeinsame  Arbeiten  der  deutschen  Physiker  in 
hohem  Maße  zu  fördern  berufen  ist. 
Experimentelle  Auch    auf   den    Übrigen    Gebieten    naturwissenschaftlicher    Forschung 

den  besuchtet'  treten  die  experimentellen  Methoden   und  damit  das  Laboratorium  in  den 
^sseTschaften.  Vordergrund.     Es  muß  genügen,  hier  nur  einzelnes  hervorzuheben: 
Kristallographie,         Kristallographie,  Mineralogie  und  Geologie    haben   erst  gegen 
öTob^e*'   das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  wissenschaftliche  Behandlung  erfahren.     Sie 
ist   aus    den    praktischen  Bedürfnissen    des    Bergbaues    heraus    erwachsen. 
In  Deutschland  bilden  A.G.Werners  Vorlesungen   an   der  Bergakademie 
in  Freiberg   den   Ausgangspunkt   für   diese   erste   Entwicklung,    deren   Be- 
deutung    durch     die    Schüler    Werners    L.   v.  Buch,    A.    v.    Humboldt, 


rn.  Der  naturwissenschafUiche  Universitätsunlemcht  im   19.  Jahrhundert.  ^25 

Chr.  A\'eiß  u.  a.  gekennzeichnet  wird.  Dann  traten  Geometrie,  Physik 
und  Chemie  der  Reihe  nach  für  die  Vertiefung  ein.  Haug  und  Chr.  Weiß 
gaben  die  Grundgesetze  einer  geometrischen  Kristallographie,  deren  Aus- 
gestaltung zu  einer  vollständigen  Klassifikation  der  Kristallsysteme  auf 
Grund  der  regulären  Punktsysteme  des  Raumes  und  ihrer  Symmetrieeigen- 
schaften führt.  Durch  die  eingehende  Untersuchung  der  thermischen, 
optischen  und  elastischen  Eigenschaften  der  Kristalle  legte  sodann  Franz 
Neumann  den  Grund  einer  physikalischen  Kristallographie,  während  sich 
auf  Klaproths  und  Berzelius'  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Mineral- 
chemie eine  chemische  Kristallographie  aufbauen  konnte,  als  deren  be- 
deutendste Vertreter  wir  die  Schüler  Berzelius'  E.  Mitscherlich  (Iso- 
morphismus), die  beiden  Rose,  Wöhler  und  Bunsen  zu  nennen  haben. 
Von  hier  aus  öffnete  sich  der  Weg  zu  den  physikalischen  und  chemischen 
Methoden  der  Geologie,  die  andererseits  mit  Ausgestaltung  der  Paläon- 
tologie die  zoologischen  und  botanischen  Forschungen  heranzog. 

Mußte  die  gewaltige  Entwicklung  des  gesamten  Lehrgebietes  schon 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zu  einer  Trennung  von  Mineralogie 
und  Kristallographie  einerseits  und  von  Geologie  und  Paläontologie  an- 
dererseits führen,  so  paßte  sich  auch  die  Lehrmethode  der  Ausgestaltung 
an.  Neben  Vorlesung  und  Exkursion  tritt  heute  eine  intensive  Tätigkeit 
im  mineralogischen  und  geologischen  Institut,  dessen  Ausrüstung  ebenso- 
wohl den  physikalischen  und  chemischen  wie  den  spezifisch  mineralogisch- 
geologischen Untersuchungsmethoden  zu  entsprechen  hat.  Daneben  aber 
vermittelt  die  Beziehung  zu  den  geologischen  Landesanstalten,  die  wohl 
zumeist  der  praktischen  Forschung  der  Universitätslehrer  ihre  Entstehung 
verdanken,  wie  die  Verbindung  mit  dem  Bergbau,  der  an  den  Berg- 
akademieen  noch  besonders  auch  dem  Unterrichte  zu  dienen  hat,  neben 
wissenschaftlichen  Exkursionen  und  Expeditionen  ein  reiches  Material  für 
das  Studium. 

Botanik  und  Zoologie  haben  von  zwei  Richtungen  her  Ausbau  und  «ounik  und 

°  '^  Zoologie. 

Pflege  gefunden.  Auf  der  einen  Seite  war  es  die  Aufgabe  der  Beschrei- 
bung und  Klassifikation  all'  der  Mannigfaltigkeiten  der  Pflanzen-  und  Tier- 
welt —  eine  Aufgabe,  welcher  gemäß  noch  heute  diese  Naturwissenschaften 
zusammen  mit  Mineralogie  und  Geologie  als  die  beschreibenden  bezeichnet 
werden  —  die  von  Linnes  Wirksamkeit  an  noch  bis  zur  Mitte  des 
IQ.  Jahrhunderts  vorherrschend  gepflegt  wurde.  Das  zoologische  Museum, 
dem  früheren  Naturalienkabinett  entstammend,  wie  der  nach  systematischen 
Gesichtspunkten  geordnete  botanische  Garten,  aus  dem  früheren  hortus 
medicus  envachsen,  kennzeichnen  diese  Richtung.  Andererseits  war  zu- 
vörderst auf  dem  Gebiete  der  Zoologie  von  Seiten  der  Anatomie  her  eine 
Morphologie  der  Tiere  im  Sinne  Cuviers  erwachsen,  die  zunächst  vor- 
nehmlich in  der  medizinischen  Fakultät  ihre  Stätte  fand.  So  vertreten 
Blumenbach  in  Göttingen  und  vor  allem  Meckel  in  Halle  die  ver- 
gleichend-anatomische Forschung.     In  den  ersten  Dezennien  des   ig.  Jahr- 


^26  W'aLTHKR  von   DycK :    Die  uaturwisscnschafllichc   Ildchbchulausbildunf;. 

hunderts  entwickelte  sich,  wir  nennen  besonders  H.  v.  Mohl,  auf  dem 
Gebiete  der  Botanik  eine  Anatomie  des  fertigen  Pflanzengewebes  und 
des  Zellgerüstes  der  Pflanze,  welcher,  eröffnet  durch  Schleidens  ent- 
wicklungsgeschichtliche Forschungen,  eine  eigentliche  Morphologie  der 
Pflanzen,  geknüpft  an  das  Studium  der  Zelle  und  des  Zellinhaltes,  der  Ent- 
stehung der  Gewebe,  der  Entwicklung  der  Glieder  des  Pflanzenkörpers, 
besonders  durch  Nägelis  und  Hofmeisters  Arbeiten  gefördert,  sich  an- 
schließt. Es  folgen  die  pflanzenphysiologischen  Untersuchungen  Seh  wen- 
de n  er  s,  später  die  von  Sachs,  die  Heranziehung  mechanischer,  physi- 
kalischer und  chemischer  Methode  und  Auffassungsweise;  auf  Darwins 
„Entstehung  der  Arten"  gründet  sich  die  Phylogenie  des  Pflanzenreichs ; 
mit  dem  Studium  der  Anpassungserscheinungen  erhöht  sich  das  Interesse 
für  biologische  Vorgänge. 

In  analoger  Entwicklung  treten  mit  Johannes  Müller  neben  den 
vergleichend-anatomischen  die  physiologischen,  mit  v.  Baer  die  entwick- 
lungsgeschichtlichen Elemente  in  die  zoologische  Forschung  ein,  begrün- 
dete Schwann  die  Zellentheorie  der  tierischen  Gewebe;  während  die 
Darwinsche  Lehre  in  Deutschland  insbesondere  nach  der  morphologischen 
Seite  hin  ihren  Ausbau  fand. 

Das  Ineinandergreifen  so  mannigfacher  Disziplinen  und  Forschungs- 
methoden förderte  eine  möglichst  vielseitige  Entwicklung  der  botanischen 
und  zoologischen  Institute.  So  berichtet  R.  Hertwig  in  seinem  Referat  über 
Zoologie  und  vergleichende  Anatomie  in  Lexis'  Universitätswerk  von  1893 
über  die  Umgestaltung  des  Unterrichtes  und  der  Unterrichtsmittel:  „In  glei- 
chem Maße  als  Anatomie,  Entwicklungsgeschichte  und  Physiologie  der  Tiere 
in  den  Vorderg-rund  traten,  mußte  das  Übermaß  ausgestopfter  Säugetiere 
und  Vögel,  getrockneter  Insekten,  Krebse,  Konchylien  usw.  anatomischen 
und  entwicklungsgeschichtlichen  Präparaten  weichen.  Die  Sammlungen 
der  Wirbeltierskelette  wurden  vergrößert;  zur  Belebung  des  Unterrichtes 
wurden  bildliche  Darstellungen  und  Modelle  angefertigt,  teils  um  Anatomie 
und  Entwicklungsgeschichte  zu  erläutern,  teils  um  von  Tieren,  deren  Form 
und  Farbe  sich  nicht  erhalten  lassen,  richtige  Vorstellung-en  zu  erwecken. 
Vor  allem  aber  entstanden  im  Laufe  der  letzten  30  Jahre  zoologische 
Institute  und  mit  ihnen  neue  Unterrichtsräume,  in  denen  die  Studieren- 
den Gelegenheit  fanden,  sich  in  der  Handhabung  des  so  wichtig  gewor- 
denen Mikroskops  und  im  Beobachten  und  Zergliedern  der  Tiere  zu  üben, 
die  Methode  der  Konservierung  und  wissenschaftlichen  Forschung  kennen 
zu  lernen  und  die  Wissenschaft  durch  selbständige  Forschung  zu  fördern." 

In  ähnlichem  Sinne  haben  sich  auch  die  Hilfsmittel  des  botanischen 
Unterrichtes  erweitert.  Neben  dem  botanischen  Garten,  der  eine  Zeitlang, 
zu  der  Zeit,  als  die  mikroskopische  Forschung  eine  makroskopische  Be- 
trachtung fast  ganz  verdrängt  hatte,  vernachlässigt  war,  dann  aber  durch 
die  Bedeutung  der  biologischen  wie  auch  der  pflanzengeographischen 
Fragen  eine  Neubelebung  erfuhr,  sind  heute  wohl  allenthalben  botanische 


III.  Der  naturwissenschaftliche  Universitätsunterricht  im   19.  Jahrhundert.  ^27 

Institute  getreten  und  nach  den  mannigfachen  Richtungen  der  Forschung 
hin  ausgerüstet.  Wenn  dabei  —  wie  auch  in  anderen  Gebieten  der  Natur- 
wissenschaft —  das  spezielle  Arbeitsgebiet  des  Gelehrten  an  den  einzelnen 
Universitäten  sich  in  der  besonderen  Ausgestaltung  seines  Institutes  für 
eben  diese  Zwecke  bekundet,  so  ist  das  ein  nicht  zu  unterschätzender 
Vorzug,  welcher  der  in  ihrer  Entwicklung  begründeten  Eigenart  der  deut- 
schen Universitäten  voll  entspricht  und  welche  der  Intensität  des  Unter- 
richtes ebenso  wie  der  Forschung  zug-ute  kommt. 

Für  die  Pflege  der  durch  Morphologie  und  Biologie  neu  belebten 
Systematik  haben  dann,  zumeist  wohl  nicht  im  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  dem  Unterricht  die  großen  naturwissenschaftlichen  Museen  an 
Bedeutung  und  allseitigem  Interesse  gewonnen  und  bilden  heute  —  man 
denke  an  London,  Berlin,  Wien  —  Zentralstellen,  welche  der  Forschung, 
besonders  über  die  geographische  Verbreitung  und  die  Lebensbedingungen 
der  Lebewesen  ein  reiches  Material  zur  Verfügung  zu  stellen  vermögen 
und  die  zugleich  der  Verbreitung  naturwissenschaftlicher  Anschauung  im 
Volke  zu  dienen  bestimmt  sind.  Dazu  sind  dann  noch  in  den  letzten 
Jahrzehnten  jene  bedeutsamen  Stationen  getreten,  welche  wie  Neapel, 
Helgoland  für  die  Zoologie,  Buitenzorg  für  die  Botanik  —  in  ähnlicher 
Weise  wie  schon  früher  der  Jardin  d'acclimatisation  zu  Paris,  Kew  garden 
in  London,  der  botanische  Garten  auf  Ceylon  —  wesentlich  für  die  Be- 
arbeitung biologischer  Fragen  bestimmt  sind,  und  weiter  haben  sorgfältig 
und  mit  reichsten  Mitteln  ausgerüstete  wissenschaftliche  Expeditionen  (so 
seit  der  Challenger-Expedition  als  erster  bahnbrechender  Unternehmung 
unter  den  deutschen  die  Planktonexpedition  Hensens,  die  Expedition  der 
Valdivia)  unsere  Kenntnis  auch  nach  der  systematischen  Richtung  hin  in 
hohem  Maße  bereichert. 

Arbeits-   und  Lehrgebiet    des  Mediziners    war  von   alters    her    not-D'enatorwiiscn- 

scliaftlichea 

wendigerweise  enge  verknüpft  mit  den  Naturwissenschaften,    die  ja  lange  Methoden  in  d« 

.  Medizin. 

fast  nur  als  ihre  Hilfswissenschaften  Anerkennung  und  Ausbildung-  er- 
fahren hatten.  Die  große  Bewegung,  welche  um  die  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts die  Naturwissenschaften  neu  gestaltet,  hat  auch  hier  die  alten 
dogmatischen  Systeme  und  eine  bloße  Interpretation  medizinischer  Lehr- 
bücher verdrängt  durch  Einführung  klinischen  Unterrichts  und  anatomischer 
Forschung.  Das  17.  Jahrhundert  bringt  dann  auch  in  Deutschland  in  einem 
reichen  Erfahrungsmaterial  die  Ausgestaltung  der  theatra  anatomica,  wäh- 
rend im  18.  Jahrhundert,  auf  dem  Wege  über  Holland,  die  Einrichtung 
von  Kliniken  beginnt.  Aber  die  nun  selbständig  und  umfassend  sich  ent- 
wickelnde Naturlehre  kommt  doch  zunächst  nur  in  einzelnen  Resultaten 
der  Medizin  zugute.  Von  Vorurteilen  befangene  Auffassung,  von  natur- 
philosophischen Spekulationen  geleitete  Betrachtungsweise  der  Erschei- 
nungen des  Lebens  hemmen  mehrfach  den  freien  und  objektiven  Blick. 
Erst  im  19.  Jahrhundert  beginnt  die  moderne  Entwicklung  der  medi- 
zinischen Wissenschaften   mit   der  Zugrundelegung   der  naturwissen- 


528  Walthek   von   Dyck:  Die  naturwisscnscliaftliche  Hochschulausbildung. 

schaftlichen  Methoden.  Wir  gedenken  hier  vor  allem  des  Tierver- 
suchs als  der  Übertragung  des  Experimentes  in  das  Gebiet  der  innern 
Medizin,  der  physiologischen  Forschung  mit  ihren  engen  Beziehungen 
zu  Chemie  und  Physik,  wie  sie  sich  an  Johannes  Müllers,  an  Wöhlers, 
Liebig s,  Helmholtz'  Namen  knüpft;  der  allseitigen  Wirksamkeit  Vir- 
chows  auf  dem  Gesamtgebiete  der  Pathologie,  der  Arbeiten  von 
Pettenkofer  im  neugeschaffenen  Gebiet  der  Hygiene.  Hand  in  Hand 
mit  dieser  in  die  Tiefe  gehenden  Entwicklung  läuft  eine  weitgehende 
Spezialisierung  und  Differentiierung,  deren  Fortschreiten  einer  gleich- 
mäßigen Gestaltung  des  Unterrichtes,  dem  Ineinklangsetzen  theoretischer 
und  praktischer  Ausbildung  ganz  wesentliche  Schwierigkeiten  bereitet. 

Fügen  wir  hierzu  an,  was  Ziemsse n  (in  dem  schon  genannnten  Lexis- 
schen  Universitätswerke)  über  die  moderne  Ausgestaltung  der  Kliniken 
bemerkt: 

„Wie  die  wissenschaftliche  Methode  ausschlaggebend  gewesen 
ist  für  die  klinische  Medizin  unseres  Jahrhunderts  und  ihre  Entwicklung 
in  naturwissenschaftlichem  Sinne,  so  ist  auch  die  Methode  des  Lehrens 
und  Lernens  auf  den  deutschen  Hochschulen  in  erfreulichem  Fortschreiten 
begriffen.  Die  klinische  Medizin  hat  in  dieser  Beziehung  eine  Erweiterung 
ihres  Arbeits-  und  Lehrbezirkes  erfahren,  welche  in  mancher  Hinsicht 
geradezu  einer  Neugestaltung  gleichkommt.  Wenn  man  die  Verhältnisse 
in  den  klinischen  Lehranstalten  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  vergleicht 
mit  den  Verhältnissen  von  heute,  so  erscheint  vor  allem  eine  Tatsache 
bemerkenswert:  das  Lehr-  und  Arbeitsgebiet  der  klinischen  Medizin,  früher 
auf  das  Krankenzimmer  beschränkt,  erfordert  jetzt  ein  wissenschaftliches 
Institut  mit  einer  vollständigen  Ausrüstung  an  Lehr-  und  Arbeitsmitteln. 
Der  Anschauungsunterricht  beschränkt  sich  nicht  mehr  auf  die  Demon- 
stration von  Kranken,  sondern  er  verlangt  die  Vorführung  der  wissen- 
schaftlichen Methoden,  aus  denen  das  Urteil  über  den  Krankheits- 
prozeß und  die  Richtschnur  für  dessen  Behandlung  g-ewonnen  wird.  Eine 
solche  Demonstration  kann  nicht  mehr  in  Krankenzimmern  stattfinden, 
sondern  erfordert  große,  zweckmäßig  eingerichtete  Hörsäle,  ein  vollstän- 
diges Inventar  an  wissenschaftlichen  Instrumenten  und  Apparaten,  an 
Tafeln  und  Atlanten,  an  Gipsabgüssen  und  Modellen  usw.  —  Und  nicht 
bloß  für  die  Demonstrationen  der  Kliniker  ist  ein  vollständiges  Lehr- 
material vorzukehren,  sondern  auch  für  die  spezialistischen  Kurse  der 
Dozenten  und  für  die  so  wichtigen  praktischen  Übung'en,  deren  Bedeutung 
sich  gerade  in  der  Neuzeit  immer  mehr  in  den  Vordergrund  drängt.  Je 
umfangreicher  und  komplizierter  das  klinische  Studium  sowohl  in  wissen- 
schaftlicher als  in  praktischer  Hinsicht  sich  gestaltet,  um  so  notwendiger 
erscheint  eine  adäquate  Vervollkommnung  der  demonstrativen  Unterrichts- 
methoden, um  so  dringlicher  tritt  die  Notwendigkeit  hervor,  für  die  kli- 
nische Medizin  selbständig-e,  wohleingerichtete  Institute  zu  erbauen!" 

Fassen  wir  zusammen:  Die  glänzende,  allseitig-e  und  vielgestaltig"e  Ent- 


m.  Der  naturwissenschaftliche  UniversitäUunterricht  im   19.  Jahrhundert.  ^2g 

Wicklung,  welche  die  gesamten  Naturwissenschaften  ■ —  und  wir  schließen 
hier  die  medizinischen  mit  ein  —  im  1 9.  Jahrhundert  genommen,  kommt  an 
den  Universitäten  schon  äußerlich  in  dem  reichen  Ausbau,  den  ihre  Lehr- 
attribute gefunden,  in  Umfang  und  Differentiierung  des  dargebotenen  Lehr- 
stoffes zum  Ausdruck. 

An  der  Schwelle  des  Jahrhunderts  begreift  die  Universität  noch 
nicht  wie  heute  in  dem  Umfang  ihrer  Lehre  auch  jeweils  den  Gesamt- 
inhalt  der  wissenschaftlichen  Forschung  eines  Gebietes  mit  ein.  Schon  die 
vielseitige  Lehrtätigkeit  des  einzelnen,  bisweilen  an  die  Mannigfaltigkeit 
der  lectiones  volventes  des  16.  Jahrhunderts  erinnernd,  läßt  erkennen,  daß 
es  sich  doch  in  den  Vorlesungen  zumeist  um  eine  elementare  oder  eine 
enzyklopädische  Darlegung  handelt.  In  Halle  bestand  noch  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  die  medizinische  Fakultät  aus  nur  vier  Dozenten,  von 
denen  der  eine  neben  der  medizinischen  Klinik  noch  Pharmakologie,  Ex- 
perimental  chemie  und  Mineralogie  vertrat;  Meckel  vereinigte  Physiologie, 
Anatomie,  Chirurgie  und  Geburtshilfe;  in  der  philosophischen  Fakultät,  in 
welcher  der  Hallenser  Tradition  gemäß  die  Philosophen  überwogen,  waren 
Mathematik  und  die  gesamten  Naturwissenschaften  durch  je  einen  einzigen 
Fachmann  vertreten.    Ähnliche  Verhältnisse  finden  sich  allenthalben. 

Und  heute  ist  aus  den  damals  in  ihrer  Entstehung  begriffenen  neuen 
Gebieten  zusammen  mit  den  gnmdlegenden  alten  ein  reich  gegliederter 
Organismus  geworden,  der  die  wissenschaftliche  Arbeit  des  Jahrhunderts 
umfaßt.  Der  spezialisierten  Forschung  entsprechend  ist  die  Zahl  der  Do- 
zenten verdreifacht,  vervielfacht,  sind  die  Lehrgebiete  wie  die  ihnen  die- 
nenden Institute  ins  einzelne  gesondert.  So  ist  wohl  allenthalben  ein 
eigenes  „naturwissenschaftliches",  ein  „medizinisches  Viertel"  zu  den 
altehrwürdigen  Universitätsgebäuden  und  zu  den  alten  primitiven  anato- 
mischen und  klinischen  Anstalten  getreten,  und  es  ist  ein  nicht  unbeträcht- 
licher Teil  sorgsamer  Arbeit  auch  der  Gelehrten  selbst,  der  in  der  mög- 
lichst praktischen  und  vielseitigen  Ausgestaltung  dieser  Institute  nieder- 
gelegt ist.  Gedenken  wir  nur  etwa  der  trefflichen  Neuorganisation  der 
naturwissenschaftlichen  Institute  Leipzigs,  Würzburgs,  Tübingens,  der 
umfassenden  medizinischen  Anstalten  Berlins,  Wiens,  der  besonders  die 
angewandten  Gebiete  betonenden  Laboratorien  Göttingens  und  Jenas, 
der   prächtigen  Bauten  des  jungen  Straßburg, 

Und  doch,  der  mannigfaltige  und  reiche  Ausbau,  welchen  die  gesamten 
Naturwissenschaften  durch  die  Vertiefung  von  innen  her,  durch  den  von 
außen  eingedrungenen  Stoff,  durch  die  Wechselbeziehung  der  einzelnen 
Gebiete  untereinander  im  Laufe  des  19.  Jahrhundert  im  Rahmen  der  Uni- 
versitäten gefunden,  erschöpft  noch  nicht  den  ganzen  Inhalt  ihrer  Entwick- 
lung. Er  zeigt  nur  nach  einer  Seite  hin  die  Bedeutung  einer  gegenseitigen 
Befruchtung.  Gerade  das  Einsetzen  mathematischer  Älethoden  und  weiter- 
hin der  experimentellen  ist  bestimmend  geworden  für  den  Ausbau  eines 
neuen  Gebietes  menschlicher  Erkenntnis  und  Betätigung,  welches  an  der 


3  5Q  Walthkk   von   Dvck  :    Die   nuturwissenscbaftliclie   Iluchscliulausbildimg. 

kulturellen  Gestaltung  der  Gegenwart  in  ganz  besonderem  Maße  teil- 
genommen: Es  ist  das  Gebiet  der  Technik  und  der  technischen 
Wissenschaften,  zu  dem  wir  uns,  vornehmlich  mit  Bezug  auf  den  Ent- 
wicklungsgang der  technischen  Hochschulen,  nun  zu   wenden  haben. 

Anfänge  im  IV.    Der    technische   Hochschulunterricht    im   n^.  Jahrhundert. 

'Die\amerai-' Wir  haben  schon  oben  ausgeführt,  wie  die  Betonung  der  praktischen  Auf- 
Land°-°undFor"t- gaben  Und  Ziele  des  Unterrichtes,  welche  für  das  1 8.  Jahrhundert  charakte- 
ristisch ist,  zur  Einrichtung  elementarer  realistischer  Schulen  führte,  und  wie 
sie  auch  im  höheren  Unterricht  durch  die  Aufnahme  einzelner  technischer 
Fächer  hervortrat.  Wir  können  den  Beginn  dieser  Entwicklung  für  die 
Universitäten  in  das  Jahr  1727  verlegen,  in  welchem  Friedrich  Wilhelm  I. 
die  erste  „Professur  in  Ökonomie,  Polizei  und  Kammersachen"  gründete. 
Sie  galt  der  Ausbildung  von  Verwaltungsbeamten  für  eine  rationelle  Be- 
wirtschaftung der  Staatsgüter  und  Bergwerke,  für  die  Förderung  von  Manu- 
faktur und  Kommerz  des  Landes.  Von  diesen  unter  den  Kameralwissen- 
schaften  ursprünglich  zusammengefaßten  Disziplinen  haben  sich  Land-  und 
Forstwirtschaft  selbständig  entwickelt,  zu  einem  Teile  in  gesonderten 
Fachschulen  und  in  Verbindung  mit  Musterinstituten  für  den  praktischen 
Betrieb  (Thaer),  zum  anderen  an  den  Universitäten  in  bedeutsamer  Wechsel- 
wirkung mit  den  naturwissenschaftlichen  Disziplinen  (Liebig).  Volkswirt- 
schaftslehre und  Finanzwissenschaft  sind  heute  zum  Teil  in  Anlehnung  an 
die  juristischen  Fakultäten  in  den  Staatswissenschaften  zusammengefaßt. 
Der  Rest  technischer  und  technologischer  Disziplinen  aber  fristete  noch  bis 
etwa  zur  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts,  in  seinem  Wirkungskreis  beschränkt, 
unbeachtet  und  ungeachtet  ein  kümmerliches  Dasein. 
Selbständige  Zwei  Momente   hatten   aber    inzwischen   die   selbständige  Entwicklung 

"tJ^hnischen""^  technischer  Schulen  in  Deutschland  in  die  Wege  geleitet:  Die  Maschinen- 
industrie Englands  hatte  am  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  eine  völlige  Um- 
wandlung auf  allen  Gebieten  der  Technik  hervorgerufen,  aber  auch  eine 
Abhängigkeit  von  England  in  technischer  und  kommerzieller  Beziehung 
herbeigeführt,  welcher  nur  durch  eigene  Kraft  begegnet  werden  konnte. 
Und  weiter:  Die  um  eben  diese  Zeit,  in  den  Stürmen  der  Revolution  und 
mit  Rücksicht  auf  die  gebieterischen  Forderungen  der  Wohlfahrt  des 
Staates  errichtete  6cole  polytechnique  zu  Paris  bot  das  glänzende  Muster 
für  die  höhere  Ausbildung  des  Technikers. 

Wir  müssen,  um  das  um  die  Wende  des  vorigen  Jahrhunderts  immer 
dringender  herantretende  Bedürfnis  nach  technischen  Fachmännern  zu  ver- 
stehen, uns  vergegenwärtigen,  wie  rasch  in  dieser  Zeit  die  Maschine  in 
allen  Betrieben  ihren  Einzug  fand:  1776  hatte  die  Fabrik  von  Watt  und 
Boulton  in  Soho  ihre  erste  Maschine  geliefert,  in  die  Jahre  von  1767  bis 
1787  fällt  die  Konstruktion  der  Spinnmaschinen  und  ersten  mechanischen 
Webstühle,  durch  welche  die  englische  Textilindustrie  einen  auf  dem  Kon- 
tinent nur  zu  sehr  empfundenen  Vorsprung  gewann. 


IV.  Der  technische  Hochschulunterricht  im   19.  Jahrhundert.  ^jl 

Schon  1780  wurde  dann  in  Deutschland  die  erste  Spinnmaschine  (in 
Augsburg),  1785  die  erste  Dampfmaschine  (in  Hettstädt)  aufgestellt,  aber 
man  war  für  Betrieb  und  Reparatur  der  Maschinen  vollständig  auf  die 
englischen  Techniker  angewiesen! 

So   trieb    denn   zunächst  das   unmittelbare  Bedürfnis   nach  geschulten    Technische 

.  ,-%f-i-  •  •  Mittelschulen. 

Technikern  für  den  Betrieb,  nach  Maschinenmeistern,  andererseits  nach 
Feldmessern,  Land-  und  Wasserbaumeistern,  Baugewerksleuten  zur  Organi- 
sation von  Schulen,  die  wir  heute,  sowohl  was  den  Inhalt  der  als  Vorbe- 
reitung dort  gelehrten  mathematisch -naturwissenschaftlichen  Fächer  als 
den  Umfang  der  eigentlichen  technischen  Lehrgebiete  anbetrifft,  als  mitt- 
lere Gewerbeschulen  bezeichnen  würden. 

Das  Vorbild  Frankreichs  führte  dann  zuerst  in  Österreich  zur  Errich- 
tung polytechnischer  Institute,  deren  reales  Ziel  neben  gründlicher  theo- 
retischer Vorbildung  „die  Emporbringung  der  vaterländischen  Gewerbe 
durch  wissenschaftlichen  Unterricht"  charakteristisch  bezeichnet.  Dem- 
entsprechend war  auch  in  Wien  ein  Konservatorium  für  Künste  und  Ge- 
werbe, ein  Verein  zur  Beförderung  der  Nationalindustrie  angegliedert.' 
Von  der  Bedeutung  dieser  Institute  zeugt  der  Umstand,  daß  mehrfach 
dort  vorgebildete  Techniker  bei  Gründung  und  Neuorganisation  der  deut- 
schen technischen  Schulen  eine  führende  Rolle  übernahmen. 

Langsamer  gestaltete  sich,  aus  inneren  und  äußeren,  zum  Teil  lokalen 
Gründen,  der  Ausbau  höherer  Schulen  in  den  übrigen  deutschen  Staaten. 
Wie  enge  der  Kreis  war,  aus  dem  heraus  die  Entwicklung  erfolgen  mußte, 
geht  beispielsweise  aus  einer  Bestimmung  der  Dresdener  „technischen 
Bildungsanstalt"  hervor,  welcher  zufolge  die  aus  der  Schule  hervorgehen- 
den Techniker  von  den  Beschränkungen,  die  sonst  der  Zunftzwang  den 
Handwerkern  und  Gewerbetreitienden  auferlegt,  befreit  sein  sollten. 

In  München  treten  uns  die  Pläne  für  „eine  Hochschule,  welche  alle 
technischen  Studien  umfassen  sollte"  entgegen  in  einer  trefflichen  Denk- 
schrift Reichenbachs  und  Fraunhofers  aus  dem  Jahre  1823,  aber  sie 
werden  durch  den  Hinweis,  daß  für  den  höheren  technischen  Beamten  die 
kameralistische  Ausbildung  an  den  Universitäten  bestimmt  und  ausreichend 
sei,  vertagt.  Höhere  Gewerbeschulen  treten  allenthalben  auf.  Aber  erst 
Karlsruhe  kann  in  seiner  Organisation  von  1832  als  die  erste  deutsche 
technische  Hochschule  nach  Forderung  und  Leistung  bezeichnet  werden. 
Grundlegende  Bedeutung  gewinnt  es  für  die  technischen  Wissenschaften 
in  den  40er  Jahren  durch  Redtenbachers  Wirksamkeit.  Dann  folgt  1855 
Zürich,  das  von  Anfang  an  durch  eine  glückliche  A-Uswahl  vorzüglicher 
Lehrkräfte  (Zeuner,  Culmann)  eine  hervorragende  Stellung  gewinnt. 

Für  den  nun  folgenden  Umwandlungsprozeß   der  technischen  Schulen    Umwandlung 

.  ^  r  1  ^""^  Hochschule. 

ZU  Hochschulen  zitieren  wir,  was  Grashof  in  einer  im  Auftrag  des  Vereins 
Deutscher  Ingenieure  verfaßten  Denkschrift  „über  die  der  Organisation  der 
pol}'technischen  Schulen  zugrunde  zu  legenden  Prinzipien"  sagt:  „Meines 
Erachtens   ist  es   eine   Lebensfrage   der  polytechnischen  Schulen,   daß  sie 


5^2  Walthek  von  Dvck  :    Die  naturwissenschaftliche  Tlochschuhiusbildung. 

durchaus  den  Charakter  von  Hochschulen  behaupten  resp.  erstreben,  die 
wissenschaftliche  Ausbildung  für  untergeordnete  und  mittlere  technische 
Berufsstellungen  den   Gewerbeschulen  überlassend." 

„Zweck  und  Charakter  der  polytechnischen  Schule  möge  hiernach 
so  zusammengefaßt  werden:  Sie  sei  eine  technische  Hochschule  und  be- 
zwecke die  den  höchst  berechtigten  Anforderungen  entsprechende  wissen- 
schaftliche Ausbildung  für  diejenigen  technischen  Berufsfächer  des  Staats- 
dienstes und  der  Privatpraxis,  welche  die  Mathematik,  die  Naturwissen- 
schaften und  die  zeichnenden  Künste  zur  Grundlage  haben,  sowie  auch 
die  Ausbildung  von  Lehrern  der  an  der  Schule  vertretenen  technischen 
und  Hilfswissenschaften." 

Von  da  ab  datiert  der  zielbewußte  Ausbau  der  technischen  Schulen 
zu  Hochschulen,  für  welchen  zunächst  die  Reorganisation  von  Karlsruhe, 
die  Errichtung  der  Polytechniken  in  München  und  Aachen,  der  Ausbau  von 
Darmstadt,  Dresden,  Hannover,  Stuttgart,  Braunschweig,  endlich  die  Ver- 
einigung" der  Bau-  und  Gewerbeakademie  in  Berlin  in  einem  umfassend 
angelegten  Neubau  den  äußeren,  wesentlich  in  den  70er  Jahren  sich  voll- 
ziehenden Werdegang  bezeichnet.  In  den  letzten  Jahrzehnten  hat  die  stei- 
gende Bedeutung-  der  technischen  Arbeit  im  gesamten  Leben  der  Nation 
und  die  allgemeine  Anerkennung-  ihrer  Leistungen  die  kräftigste  Förderung 
der  derselben  gewidmeten  Bildung'sstätten  zur  Folge  gehabt,  die  besonders 
auch  in  der  jüngst  erfolgten  Gründung  Danzigs  ihren  Ausdruck  findet. 
Darüber  hinaus  aber  hat  sie  zur  Gleichstellung  der  technischen  Hoch- 
schulen mit  den  Universitäten  geführt,  die  zunächst  in  dem  Grundsatze  der 
Lehr-  und  Lernfreiheit,  in  der  äußeren  Stellung  der  Lehrkräfte,  in  der  Ge- 
währung akademischer  Verfassung  ihren  Ausdruck  fand.  Als  dann  in  den 
letzten  Jahren  auch  das  letzte  Vorrecht  der  Universitäten,  das  Recht  der 
Doktorpromotion  den  technischen  Hochschulen  eingeräumt  wurde,  da  sollte 
dies  ein  Zeichen  dafür  sein,  daß  die  volle  Gleichberechtigung  dieser  Stätten 
des  Unterrichts  nach  außen  hin  anerkannt  sei  und  daß  es  sich  jetzt  nur 
noch  um  den  ehrenvollsten  Wettstreit  zwischen  beiden  handeln  könne,  den 
der  inneren  Tüchtigkeit  und  des  geistigen  Lebens. 
Innerer  Ausbau.  Für  die  innere  Gestaltung  der  technischen  Schulen  ist  der  Entwick- 
lungsgang der  technischen  Wissenschaften  selbst  maßgebend,  wie  er  sich 
im  Laufe  des  ig.  Jahrhunderts  vollzieht,  in  seinen  verschiedenen  Stadien, 
nach  seinen  Beziehungen  zu  Mathematik  und  Naturwissenschaften  auf  der 
einen,  zur  technischen  Praxis  auf  der  anderen  Seite. 
Die''grund-  Zunächst  gibt   die  6cole  polytechnique  das  Vorbild  für   die  Ausgestal- 

zipiinen.  tung'  der  grundlegenden  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Fächer,  ge- 
wissermaßen der  philosophica  des  Technikers.  Sie  ist  in  hohem  Maße  eine 
theoretische:  Der  einheitlichen  Auffassung-,  welche  die  Naturerscheinungen 
in  ihrer  mathematischen  Behandlung  in  den  Händen  von  d'Alembert, 
Lagrange,  Laplace  gewonnen,  tritt  die  Entwicklung  einer  technischen 
Mechanik  durch  Navier,   Poncelet,   de  Saint-Venant,  die  Einführung 


rV.  Der  technische  Hochschuluntcrricht  im    19.  Jahrhundert.  333 

graphischer  Methoden  durch  Monge  zur  Seite,  während  in  Deutschland 
Gauß  die  Methoden  der  höhern  Geodäsie  entwickelt  und  bis  zur  prak- 
tischen Verwendung  ausgestaltet.  Das  gab  der  Vorstufe  zum  praktischen 
Beruf  eine  vorwiegend  mathematische  Richtung.  Sie  wurde  in  ihrer  Wir- 
kung noch  verstärkt,  als  in  der  Folge  die  mathematische  Forschung  sich 
immer  mehr  von  den  Problemen  der  Anwendung  entfernte. 

So  entstand  eine  Kluft  zwischen  dem  Lehrinhalt  der  theoretischen 
Vorstudien  und  den  Forderungen,  welche  die  technischen  Fächer  in  ihrer 
Entwicklung  an  das  Anschauungsvermögen,  an  konstruktive  Fertigkeit, 
an  praktisch-venvertbares  Können  stellen  mußten.  Zunächst  tritt  hier 
vermittelnd  eine  weitgehende  Ausgestaltung  und  Ausnützung  der  graphi- 
schen Methoden  ein:  Der  Ausbau  der  darstellenden  Geometrie  nach  selten 
der  Baukonstruktion,  der  graphischen  Statik  (Culmann),  der  Kinematik, 
der  Photogrammetrie  und  der  Kartenprojektion,  die  Anwendung  allgemeiner 
graphischer  Rechenmethoden.  Auch  die  moderne  Entwicklung  all  der 
sinnreichen  Rechenmaschinen,  Meßinstrumente,  Planimeter  und  Integraphen 
ist  in  diesem  Zusammenhange  zu  nennen.  Weiterhin  paßt  sich  aber  auch 
die  Lehrmethode  der  rein  mathematischen  Fächer  dem  Ziele  des  Unter- 
richtes an.  Sie  verzichtet  auf  die  moderne  kritische  Strenge  in  der  Dar- 
legung der  Grundlagen  und  auf  eine  lückenlose  Konsequenz  des  Auf- 
baues; bevorzugt  vielmehr  statt  dessen  eine  anschauungsmäßige  Darstellung 
und  sucht  an  vStelle  einer  nach  der  formalen  Seite  hin  zu  weit  gehenden 
allgemeinen  Behandlung  die  Kraft  ihrer  Methode  durch  das  Anpassen  an 
das  Wesen  der  besonderen  vorliegenden  Fragestellung  zu  gewinnen,  ohne 
dabei  auf  die  künstliche  Ausbildung  von  Hilfsmitteln  zu  verfallen,  welche 
nur  im  Einzelfalle  anwendbar  und  jedesmal  für  einen  solchen  zurecht  zu 
formen  sind.  Das  Heranziehen  einfachster  Beispiele  aus  den  Gebieten  der 
Physik  und  Technik  unter  Verwendung  genäherter  Rechenmethoden  für 
die  volle  numerische  Durchführung  leitet  zu  den  Aufgaben  des  Fach- 
studiiuns  über.  Die  Praxis  stellt  den  Techniker,  so  oft  es  sich  um  neue 
Konstruktionen  oder  auch  nur  um  neue  Anordnimgen  handelt,  immer 
wieder  vor  Probleme,  die  er  in  ihrer  Gesamterscheinung,  und  ohne  die 
Möglichkeit,  vereinfachende  Bedingungen  einführen  zu  können,  zu  erfassen 
und  durchzuführen  hat.  So  handelt  es  sich  für  ihn  darum,  ein  gewisses 
Gefühl  für  das  Herausheben  der  wesentUch  bestimmenden  Größen,  für  den 
Einfluß  der  Begleiterscheinungen  eines  Prozesses  zu  gewinnen.  Erwächst 
ein  solches  erst  im  Laufe  der  ausübenden  Praxis  auf  Grund  gewonnener 
Erfahrung,  so  kann  es  doch  vorbereitet  werden  wie  im  technischen  so  auch 
im  grundlegenden  mathematischen  und  physikalischen  Unterricht  in  An- 
lage   und    Durchführung    der    den    Anwendungen    entnommenen   Beispiele, 

Unter  den  eigentlichen  Fachgebieten  nimmt  die  Architektur  insofern  Architektur, 
eine  gesonderte  Stellung   ein,   als  hier  sowohl  in  der  Vor-  wie  besonders 
auch  in   der   Fachausbildung  als   wesentlich  neu    noch    das    rein    künst- 
lerische Moment  hinzutritt  und   eine   starke  Betonung  auch   im   Unter- 


334 


Walther  von  Dvck:    Die  naturwissenschaftliche   Hochschulausbiklunf;. 


Ingenieur- 

wissenscbaften. 


Theorie  und 
Erfahrung. 


richte  fordert.  F"rüher  haben  (wie  noch  heute  in  Frankreich)  aus  diesem 
Grunde  die  jungen  Architekten  ihre  Erziehung  vielfach  an  den  Kunst- 
akademieen  gefunden,  während  im  Gegensatz  dazu  anderwärts  das  Zu- 
sammenwerfen der  Ausbildung  von  Bauingenieuren  und  Architekten  das 
künstlerische  Element  nicht  voll  entwickeln  konnte;  die  jetzige  Organisation 
der  Architektenabteilung  hält  die  Mitte  und  gewährt  die  Möglichkeit  zu 
individueller  künstlerischer  Entfaltung  ebenso,  wie  sie  die  bei  der  heute 
so  gesteigerten  Stein-  und  Eisentechnik  unerläßliche  theoretisch-konstruktive 
Ausbildung  darzubieten  vermag". 

In  den  Ingenieur  Wissenschaften  tritt  die  Bedeutung  der  theore- 
tischen Forschung  besonders  in  der  Entwicklung  des  Eisenbaues  zutage. 
Hier  hat  die  Theorie  die  volle  Grundlage  des  rationellen  Baues  geschaffen 
und  hängt  die  Weiterentwicklung,  so  kühne  Versuche  man  auch  heute 
etwa  mit  dem  noch  nicht  durchforschten  Eisenbetonbau  macht,  ganz 
wesentlich  mit  der  Weiterentwicklung  der  theoretischen  Berechnungen  zu- 
sammen. So  gewaltige  Werke  wie  die  Müngstener  Brücke  oder  die  Ber- 
liner Hoch-  und  Untergrundbahn  verdanken  Entstehung  und  Durchführung 
ebenso  der  Kühnheit  des  Entwurfes  wie  der  klaren  und  sicheren  theo- 
retischen Bearbeitung.  Eine  wichtige  technische  Grundlage  aber  mußte 
geschaffen  werden:  Kenntnis  der  Elastizitäts-  und  Festigkeitsverhältnisse 
des  Materials.  So  entstanden  Laboratorien  und  Prüfungsanstalten  für 
technische  Mechanik  zunächst  an  den  technischen  Hochschulen  (das  erste 
unter  Bauschinger  in  München),  weiterhin  vereinzelt  als  gesonderte 
Organisationen  des  Staates  (wie  jetzt  die  große  Materialprüfungsanstalt  in 
Berlin-Großlichterfelde),  oder  als  spezielle  Einrichtungen  großer  industrieller 
Werke,  die  hier  wie  noch  nach  mancher  anderen  Richtung  die  technisch- 
wissenschaftliche Forschung  mit  großen  Mitteln  auf  das  wirksamste  zu 
fördern  in  der  Lage  sind. 

Auf  dem  Gebiete  des  Maschinenbaues  verlor  die  von  Redtenbacher 
g'eschaffene  Theorie  der  Maschinenkonstruktion  schon  in  ihrer  weiteren 
Ausbildung  bei  Grashof,  noch  mehr  bei  Reuleaux  zu  sehr  die  Fühlung 
mit  der  rapide  sich  entwickelnden  ausführenden  Technik,  die,  nachdem 
einmal  die  physikalischen  Grundlagen  gegeben  waren,  der  theoretischen 
Entwicklung  weit  vorausgeeilt  war.  So  bedurfte  die  allzu  schulmäßig  ge- 
wordene Theorie  einer  Neubelebung  aus  den  Tatsachen  der  Erfahrung,  aus 
den  Aufgaben  der  Technik  heraus  und  der  Beschneidung  einer  rein  for- 
malen Systematik.  Erfahrungen  aber,  die  nur  zum  Teil  der  Praxis  zu  ent- 
nehmen waren,  mußten  auch  hier  erst  gesammelt  werden.  Es  galt  vor 
allem  in  eingehendem  Studium  alle  beim  Gange  einer  Maschine  —  zu- 
nächst der  Dampfmaschine  —  sich  abspielenden  Prozesse  genau  zu  ver- 
folgen und  so  die  auf  die  klassischen  Arbeiten  von  Carnot,  Clausius  und 
Hirn  gegründete  technische  Thermodynamik  im  Maschinenlabora- 
torium für  alle  Einzelaufgaben  der  Maschinenkonstruktion  auszubauen. 
Von  Zeuners  Arbeiten  beginnend,   erstreckt   sich  heute  diese  der  Physik 


IV.   Der  technische   Hochschuluntcrricht  im    19.  Jahrluindorl.  j^e 

entnommene  und  für  die  großen  Verhältnisse  des  technischen  Experiments 
angepaßte  Untersuchungsmethode  auf  das  ganze  Gebiet  der  Kraft-  und 
Arbeitsmaschinen  und  die  Frage  ihrer  rationellen  Konstruktion,  und  hier 
gibt  die  theoretische  Durchforschung  des  Gebietes  (wir  erinnern  etwa  an 
die  Kältemaschinen)  der  Praxis  die  von  dort  gebotenen  Anregungen  zu 
fruchtbarster  Verwertung  zurück.  Die  Maschinenlaboratorien  gewinnen  in 
der  Folge  auch  für  den  Unterricht  eine  erhöhte  Bedeutung,  ganz  besonders 
seit  der  Vergleich  mit  den  Unterrichtsorganisationen  Englands  und  Amerikas 
den  Wert  praktischer  Ausbildung  für  den  jungen  Techniker  immer  mehr 
in  den  Vordergrund  gerückt  hat. 

Neben  den  Maschinenlaboratorien,  und  zeitlich  zumeist  früher  als  diese 
erstehen,  den  Kraft-  und  Lichterscheinungen  der  strömenden  Elektrizität 
und  des  Elektromagnetismus  gewidmet,  die  Laboratorien  der  Elektro- 
technik. Sie  vor  anderen  zeigen  die  Bedeutung  des  Zusammenarbeitens 
von  Naturwissenschaft  und  Technik.  Den  physikalischen  Forschungen  von 
Ohm,  von  Faraday  und  Joule,  von  Maxwell  und  Hertz  entstammen 
die  Gesetze,  welche  die  Grundlagen  für  die  Anwendung  der  Elektrizität 
im  technischen  Betriebe  bilden.  Umgekehrt  fließt  aus  den  Laboratorien 
eines  Siemens  ein  Starkstrom  in  die  Forscherstätten  der  Physik  und 
der  Chemie  und  veranlaßt  hier,  Versuche  mit  ganz  anderen  Kräften  durch- 
zuführen, als  man  sie  früher  für  möglich  und  für  nötig  hielt.  Auch  noch 
in  mannigfachen  anderen  Richtungen,  so  in  der  technischen  Physik,  in 
der  chemischen  Technik  bewährt  sich  die  Organisation  besonderer  mit 
den  Hilfsmitteln  des  technischen  Großbetriebes  ausgestatteter  Laboratorien 
für  Unterricht  und  Forschung  und  bietet  für  die  allenthalben  in  der  hoch- 
entwickelten Praxis  auftauchenden-  theoretischen  Fragen  die  ergänzende 
Arbeitsstätte. 

So  tritt  die  enge  Fühlung  mit  den  exakten  Wissenschaften  allerorts 
zutage,  und  zeigt  sich  auf  der  anderen  Seite  auch  die  Notwendigkeit 
einer  steten  Bezugnahme  zu  den  Erfahrungen  der  Praxis.  Der  Wett-  Ausgleich, 
streit  beider  Richtungen  hat  unsere  technischen  Hochschulen  zu. dem  ge- 
staltet, was  sie  heute  sind.  Gewiß,  zu  früh  geschaffene  Theorie,  auf  un- 
vollständige Erfahrungstatsachen  gestützte  mathematische  ?~ormulierung, 
in  ihrer  Tragweite  überschätzt,  hat  zu  Mißerfolgen  geführt  und  auch  im 
Unterricht  Sinn  und  Interesse  für  rein  wissenschaftliche  Forschung  stärker 
diskreditiert,  als  eben  nötig  war.  Aber  eine  das  Berechtigte  anerkennende 
Umbildung  des  Lehrinhaltes  der  theoretischen  Wissenschaften,  eine  ge- 
eignete Auswahl  der  Methoden  und  der  Darstellungsform  mit  Rücksicht 
auf  die  Anwendungen  war  die  gute,  die  Forschung  selbst  neu  belebende 
Folge.  Auf  der  andern  Seite,  den  allzu  eng  bemessenen  Forderungen, 
■welche  den  Inhalt  des  Unterrichtes  den  unmittelbaren  Bedürfnissen  der 
späteren  praktischen  Betätigung  anzupassen  wünschen,  gegenüber  ist 
dieses  festzuhalten:  Die  Erziehung  an  der  Hochschule  kann  die  Aus- 
bildung   des    Ingenieurs  nicht  vollenden;    sie   kann,  wie    immer   auch  ge- 


^^(,  Walther  von  Dyck:    Die  naUirwisscnschafUichc  Ilochscliulaiisbildung. 

Staltet,  nur  das  wissenschaftliche  Rüstzeug  bieten,  welches  der  praktischen 
Betätig-ung  zugrunde  liegt ;  sie  muß  es  durchdringen,  verstehen  und 
brauchen  lehren  als  eine  lebendige  Erkenntnis,  gewonnen  nicht  durch 
Aneignung  von  Routine  und  Schablone,  sondern  im  selbständigen  Nach- 
denken, in  eigener,  die  Schwierigkeiten  durchkämpfender,  nicht  beiseite 
schiebender  Arbeit.  Nur  durch  diese  wird  auch  das  Individuelle,  das  Ur- 
sprüngliche des  Schaffens  zur  Erscheinung  und  Entwicklung  kommen, 
dessen  der  führende  Konstrukteur  heute  nicht  minder  als  der  gelehrte 
Forscher  bedarf. 

Die  Aufnahme  dieses  idealen  Zieles,  die  in  Lehre  wie  in 
Forschung  zum  Ausdruck  kommt,  aber  ist  es,  welche  unsere 
Polytechnika  zu  hohen  Schulen  der  Technik  macht. 

Einfiiiß  der  V.   Fragen  der  Gegenwart   und  Forderungen  für  die  Zukunft. 

Technik  auf  den  x  t     * 

Unterricht  der  Die  Universitäten  konnten  von  dem  Hereingreifen  technischer  Probleme 
in  die  Gebiete  der  Mathematik  und  der  Naturwissenschaften'  nicht  unbe- 
rührt bleiben.  Die  Chemie  stand  von  Anfang  an  in  engster  Fühlung  mit 
der  chemischen  Industrie,  die  sie  geschaffen;  ja  selbst  die  wirtschaftlichen 
Fragen  des  Großbetriebs  stehen  hier  in  zu  naher  Beziehung  zu  den  rein 
wissenschaftlichen,  als  daß  sie  sich  abweisen  ließen.  So  ist  denn  auch  der 
Universitätsunterricht  hier  grundsätzlich  nicht  so  wesentlich  von  dem  der 
technischen  Hochschulen  verschieden.  Im  einzelnen  freilich  werden  dort 
die  den  Mediziner  berührenden  Fragen  mit  hereingenommen  werden,  hier 
speziell  die  wichtigsten  Zweige  der  chemischen  Technik  eine  eingehendere 
Behandlung  erfahren. 

Mathematik  und  Physik  kommen  in  ihrem  gesamten  Ausbau  an 
der  Universität  in  erster  Linie  für  den  künftigen  Lehrer  in  Betracht.  Wir 
haben  oben  bezeichnet,  wie  aus  der  Übernahme  der  Aufgabe  der  Lehrer- 
ausbildung durch  die  philosophische  Fakultät  die  wohlerwogene  Tendenz 
einer  begrenzten  und  vertieften  Fachausbildung  erwachsen  ist,  die 
in  ihrer  Abstraktion  und  Konzentration  nach  wissenschaftlicher  und 
indirekt  auch  nach  pädagogischer  Seite  die  besten  Früchte  trug.  Die 
völlige  Loslösung"  der  Probleme  von  allen  Anwendungen,  und  insbesondere 
die  Forderung,  nur  innerhalb  des  notwendigen  und  hinreichenden  Be- 
reiches der  abstrakten  Fragestellung  sich  zu  bewegen,  hat  speziell  in 
den  mathematischen  Wissenschaften  zu  einer  Klarlegung  und  Sicher- 
stellung ihrer  Fundamente  geführt,  zu  einer  Vertiefung  ihrer  Methoden, 
wie  sie  nur  einmal  früher  in  den  Werken  des  Euklid  uns  entgegentritt. 
Ganz  abgesehen  von  der  inneren  Notwendigkeit  und  dem  nicht  hoch 
genug  zu  stellenden  prinzipiellen  und  absoluten  Werte  solcher  Unter- 
suchungen haben  sie  gerade  für  die  Vorbildung  des  künftigen  Lehrers 
ihre  besondere  Bedeutung,  weil  sie  ihn  das  eigene  Lehrgebiet  von  einem 
höheren  und  zusammenfassenderen  Gesichtspunkte  aus  erkennen  und  ver- 
stehen lassen. 


V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Forderungen  für  die  Zukunft.  ^iT 

Aber  die  so  begrenzte  und  vertiefte  Forschung  bedarf  einer  Ergän- 
zung, welche  der  stets  wachsenden  Bedeutung  des  Ineinandergreifens  aller 
naturwissenschaftlichen  und  technischen  Gebiete  Rechnung  trägt,  welche 
das  weite  Feld,  das  hier  eine  gemeinsame  Bearbeitung  verlangt,  zugäng- 
lich macht,  welche  den  Anforderungen  gerecht  wird,  die  von  selten  der 
entstehenden  Fachschulen  an  Kenntnis  und  Verständnis  praktischer  Fragen 
an  die  Lehrer  gestellt  werden  müssen.  So  wird  der  Einfluß  der  tech- 
nischen Wissenschaften  auch  an  den  Universitäten  durch  eine  freilich  nur 
ganz  allmählich  sich  vollziehende  Erweiterung  des  Inhaltes  der  Forschung, 
des  Umfanges  der  Lehrgebiete,  der  Methoden  des  Unterrichtes  bezeichnet. 
Auch  hier  ist,  zumal  in  der  Mathematik,  in  der  Betonung  anschauungs- 
mäßiger Darstellung,  in  der  Verwendung  von  Modellen  und  graphischen 
Hilfsmitteln  der  ursprüngliche  Einfluß  der  6cole  polytechnique  unverkenn- 
bar. Die  weitere  Entwicklung  kommt  in  einer  Ausdehnung  der  Vorlesungen 
nach  Richtung  der  Anwendungen,  wie  in  der  Ausgestaltung  des  Labora- 
toriumsunterrichtes zum  Ausdruck,  der  nun  auch  in  den  Laboratorien  der 
Universitäten  den  erweiterten  Inhalt  der  Forschung  berücksichtigt.  Hier 
ist  es  vor  allem  das  Verdienst  von  Göttingen,  den  Forderungen  einer 
neuen  Zeit  Rechnung  getragen  zu  haben,  durch  die  seit  einem  Jahrzehnt 
geschaffenen  trefflichen  Unterrichtsorganisationen  für  angewandte  Mathe- 
matik und  Physik,  die  speziell  nach  selten  der  darstellenden  Geometrie, 
der  technischen  Mechanik,  der  Thermod3'namik  und  theoretischen  Ma- 
schinenlehre, der  Elektrotechnik,  der  Geodäsie  und  Geophysik  den  früheren 
Lehrinhalt  in  vorzüglicher  Weise  bereichern  und  ergänzen.  Es  knüpft 
Göttingen  damit  an  seine  große  Vergangenheit  an,  an  die  der  reinen  und 
angewandten  Mathematik  in  gleichem  Maße  zugewandte  Lebensarbeit  von 
Gauß. 

Auf  der  anderen  Seite  haben  die  eben  genannten  Gründe  dazu  ge- 
führt, auch  den  technischen  Hochschulen  allenthalben  (wie  seit  langem 
schon  in  Bayern)  wenigstens  zum  Teil  die  Ausbildung  der  Lehrer  der 
Mathematik  und  der  Naturwissenschaften  zu  übertragen.  Dadurch  ist 
AnregTing  und  Gelegenheit  gegeben,  neben  dem  engeren  Fache  noch 
die  angrenzenden  Gebiete  in  ihrer  eigenen  Sphäre  zu  studieren,  und 
besonders  dem  künftigen  Lehrer  an  technischen  Schulen  die  Möglichkeit 
geboten,  an  den  wichtigen  Fragen,  welche  die  Technik  in  mannigfacher 
Gestalt  auch  den  theoretischen  Untersuchungen  darbietet,  mitzuarbeiten. 
Auch  gestattet  eine  Erweiterung  der  Prüfungsordnungen  die  Erwerbung 
einer  besonderen  Lehrbefähigung  für  technische  Fächer.  Damit  erwächst 
zugleich  eine  neue  Beziehung  der  Interessen  der  Lehre  und  der  Forschung 
zwischen  Universität  und  technischer  Hochschule. 

So  ist  auch  an   dieser  Stelle   die  in  jüngster  Zeit  mehrfach   erörterte 
F'rage    nach    einer    Vereinigung    beider    Hochschulen     zu     einer  vc^migung der 
großen    Universität    des    gesamten    menschlichen    Wissens    nahe- HÖcÜjcWcnmit 
gelegt.   Und  man  wird  sagen  müssen,  daß  das  enge  Ineinandergreifen  der     '^"ktca"" 

DiB  Kultur  der  Gegenwart.    I.  i.  22 


7^8  Walther  von  Dvck  :    Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

naturwissenschaftlichen  und  technischen  Gebiete,  die  gewaltige  induktive 
Wirkung,  die  sie  aufeinander  ausüben,  wenn  auch  die  wichtigste,  doch 
keineswegs  die  einzige  Beziehung  ist.  Volks-  und  staatswirtschaft- 
liche Fragen  gewinnen  einen  immer  mächtigeren  Einfluß  im  Entwick- 
lungsgang der  Technik;  nur  im  Zusammenhang  mit  jenen  ist  die  kulturelle 
Bedeutung  der  Technik  zu  verstehen,  nur  auf  ihrer  Grundlage  sind  die  im 
Großbetrieb  der  Industrie  erwachsenen  sozialen  Fragen  zu  lösen.  Rechts- 
kenntnis, Einsicht  in  die  Grundsätze  der  Verwaltung  ist,  wenn  auch 
für  gToße  industrielle  Unternehmungen  der  Jurist  stets  als  Berater  wird 
beigezogen  werden  müssen,  heute  dem  Techniker  in  selbständiger  Stellung 
unentbehrlich,  wie  umgekehrt  der  Jurist  als  Richter,  wie  im  Verwaltungs- 
dienst, der  Finanzbeamte,  der  Volkswirt  spezieller  Einsicht  in  naturwissen- 
schaftliche und  technische  Gebiete  in  mannigfacher  Richtung  bedarf. 

Innere  Gründe  würden  also  nach  wichtigen  Beziehungen  einer  solchen 
Vereinigung  das  Wort  reden,  und  doch  erscheint  eine  solche  (von  An- 
gliederung  einzelner  Institute,  die  [wie  etwa  in  Breslau]  aus  Ort  und  Um- 
ständen sich  zu  beiderseitigem  Gewinn  ergibt,  hier  abgesehen)  auch  da 
nicht  mehr  zu  erreichen,  wo  eine  Zusammenlegung  aus  äußeren  Gründen 
möglich  wäre.  Nachdem  frühere  Versuche,  die  Ausbildung  für  den  tech- 
nischen Staatsdienst  an  die  Universitäten  zu  verlegen,  bei  der  geringen 
Einschätzung  technischer  Arbeit  und  bei  dem  mangelnden  Verständnis  für 
technisches  Wesen  ohne  Erfolg  geblieben  sind,  haben  sich  die  technischen 
Hochschulen  selbständig  in  stetigem  Vorwärtsschreiten  in  ihrer  Eigenart 
entwickelt  und  sich  die  Anerkennung  ihrer  Bedeutung  und  des  wissen- 
schaftlichen Ernstes  ihrer  Forschung  erzwungen.  Sie  bilden  heute  einen 
weit  gegliederten  Organismus,  welchem  der  Rahmen  einer  einzigen  oder 
zweier  Fakultäten  —  das  würde  ihre  Stellung  an  den  Universitäten  sein  — 
zu  enge  geworden  ist.  Das  Ganze  aber  würde  für  eine  einheitliche  Ver- 
waltung ein  zu  großer  Körper  sein,  in  welchem  die  einzelnen  Glieder,  bei 
der  Vielheit,  Verschiedenartigkeit  und  konkurrierenden  Bedeutung  ihrer 
besonderen  Interessen,  doch  weitgehendste  Selbständigkeit  erhalten  müßten, 
um  sich  ihrer  Eigenart  gemäß  voll  entfalten  zu  können.  Gleichwohl,  in 
ihrem  inneren  Ausbau,  in  der  Erfüllung  ihrer  gemeinsamen  Aufgaben 
werden  die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  den  Universitäten  und 
technischen  Hochschulen  mit  dem  Fortschreiten  der  gesamten  naturwissen- 
schaftlichen Forschung,  mit  der  wachsenden  Bedeutung  ihrer  Errungen- 
schaften für  unsere  gesamte  soziale  und  kulturelle  Entwicklung  in  der 
Folge  noch  stärker  hervortreten,  und  um  so  mehr,  je  mehr  unsere  heu- 
tigen Lebensbedingungen  und  Lebensanschauungen  dazu  führen,  Natur- 
und  Geisteswissenschaften  als  gleichberechtigte  Grundlagen  der  Fach- 
ausbildung nicht  allein,  sondern  auch  der  allgemeinen  Bildung  anzu- 
erkennen. 
Vorbildung  für  Der  Einfluß,  den  die  eewaltige  Entwicklung  aller  Naturwissenschaften 

die  Hochscliule.  J  fe  6  o 

und  der  Technik    auf   den    Unterricht    übt,  kommt   außer   in   den   hier  an- 


V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Forderungen  für  die  Zukunft.  ^^g 

gedeuteten  Beziehungen  noch  in  einer  anderen  für  die  gesamte  Kultur 
der  Gegenwart  bedeutsamen,  für  die  Unterrichtsorganisationen  der  Hoch- 
schulen bestimmenden  Frage  zum  Ausdruck,  der  Frage  der  Vorbildung 
für  die  Hochschule.  Die  Frage  ist,  von  ähnlichen,  wenn  nicht  gleichen 
Gründen  und  Strömungen  beeinflußt,  so  alt  wie  die  Hochschulen  selbst; 
aber  mit  dem  wachsenden  Umfang,  mit  der  Differenzierung  aller  Gebiete 
menschlichen  Wissens,  mit  der  Verschiedenartigkeit  der  F'orderungen, 
welche  die  menschUche  Gesellschaft,  der  Staat,  das  praktische  Leben,  der 
gelehrte  Beruf  an  die  Erziehung  zur  geistigen  Arbeit  stellen,  schwieriger 
als  je  und  widerspruchsvoller  geworden. 

In  der  ersten  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts  wurde  die  Vorbildung  zur 
Hochschule  fast  ganz  in  der  Pflege  der  Altertumswissenschaften 
gefunden.  Sie  sicherte  durch  die  engere  Begrenzung  des  Lehrstoffes  wie 
in  altbewährter  Methode  eine  Einheitlichkeit  und  Geschlossenheit  der  Vor- 
bereitung, die  besonders  einem  späteren  geisteswissenschaftlichen  Studium 
zugute  kam,  für  naturwissenschaftliche  Studien  freilich  nur  indirekt  durch 
die  Schärfung  logischen  Denkens  wirkte.  Heute  verlangt  schon  der  Be- 
griff der  allgemeinen  Bildung  eine  gleichmäßige  Berücksichtigung 
der  Natur-  und  Geisteswissenschaften.  Weiter  aber  fordert  die 
Fülle  des  in  allen  Gebieten  auf  der  Hochschule  zu  bewältigenden  Stoffes 
einerseits  die  Aneignung  grundlegender  Kenntnisse  und  anderer- 
seits die  Erlernung  gewisser  technischer  Fertigkeiten  auch  schon 
auf  der  vorbereitenden  Stufe.  Gewähren  die  Hochschulen  bei  den  ge- 
steigerten Anforderungen  .aller  Fachstudien,  unter  dem  Druck  der  Ver- 
hältnisse, welche  die  Studienzeit  nicht  über  das  unmittelbar  notwendige 
Maß  auszudehnen  verstatten,  nur  mehr  geringen  Raum  für  die  Pflege  der 
allgemeinen  Bildung,  so  muß  die  Mittelschule  den  wesentlichen  Teil  dieser 
übernehmen.  So  fällt,  wie  schon  früher  in  sprachlicher  Richtung,  nun 
auch  in  naturwissenschaftlicher  der  vorbereitenden  Stufe  die  Übermittlung 
der  wesentlichen  Grundanschauungen  zu.  Darüber  hinaus  erwächst  dann 
das  Bedürfnis,  wie  bisher  für  die  sprachlichen,  so  auch  für  die  natur- 
wissenschaftlichen Studien  eine  besondere  Vorbereitung  schon  auf  der 
Mittelstufe  zu  erhalten,  in  der  Mathematik  gewisse  über  die  Elemente 
hinausgreifende  Grundvorstellungen  zu  vermitteln,  in  den  Xaturwissen- 
schaften  die  Beobachtungsgabe,  für  die  technischen  graphische  und  tech- 
nische Fertigkeiten  in  höherem  Masse  entvvickelt  zu  sehen.  Die  Vielheit 
dieser  Forderungen  führt  zur  Frage  der  Gabelung  des  vorbereiten- 
den Unterrichts,  wenigstens  für  die  letzten  unmittelbar  zur  Hochschule 
führenden  Jahre;  es  entspringt  der  Wunsch,  der  Wahl  des  künftigen 
Berufes  wie  der  individuellen  Begabung  Rechnung  tragen  zu  können, 
und  im  vorbereitenden  Unterrichte,  sei  es  die  sprachlichen  und  histo- 
rischen, sei  es  die  mathematisch-naturwissenschaftlichen,  die  technischen, 
die  künstlerischen  Elemente  vorzugsweise  hervorheben  zu  können.  Er- 
fordert   die  Vermittlung    allgemein    bildender    Kenntnisse    einen    weiteren 


•?dO  Wai.thf.r  von  Dyck  :   Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

Rahmen  des  Lehrstoffes,  so  erscheint  hier  ein  vertieftes  Eingehen  in 
einzehie  Abschnitte  der  Sondergebiete  geboten.  Kann  eine  einzige 
Schule,  etwa  durch  Einführung  einer  Anzahl  wahlfreier  Fächer,  diese 
verschiedenartigen  Richtungen  und  Lehraufgaben  in  sich  vereinigen, 
können  getrennte,  trotz  der  stärkeren,  wenn  nicht  ausschließlichen  Pflege 
einer  einzelnen  das  gemeinsame  Endziel  einer  gleichwertigen 
Vorbildung  für  die  Hochschule  erreichen?  Inwieweit  kann  den  ver- 
schiedenen gleichwertigen  Richtungen  eine  gleiche  Berechtigung 
für  den  Eintritt  zu  den  verschiedenen  Fachstudien  zugesprochen  werden? 
Kann  die  Hochschule  mit  Erfolg  an  die  verschieden  gearteten  Kennt- 
nisse anknüpfen  und  dabei  die  im  einzelnen  vorhandenen  Lücken  im 
Rahmen  ihrer  Unterrichtsmethoden  ergänzen?  Oder  sollen  die  einzelnen 
Vorschulen  je  nach  ihrem  Charakter  auch  nur  einzelnen  Richtungen 
des  späteren  Studiums  die  Wege  öifnen?  Und  weiter:  wird  durch  die 
auf  der  unteren  Stufe  gebotene  Darlegung  das  Interesse  für  einen  Gegen- 
stand erhöht  oder  stumpft  es  sich  ab,  wenn  nun  die  Hochschule  teilweise 
wiederholt?  Für  die  Fachstudien  insbesondere:  Soll  die  gegebene  Vor- 
bildung es  ermöglichen,  an  einem  höheren  Punkt  den  Unterricht  der  Hoch- 
schule einzusetzen,  oder  soll  sie  vielmehr  nur  eine  bessere  methodische 
Vorbereitung  bieten? 

Zu  all  diesen  Fragen,  deren  Entwicklung  heute  den  Streit  der 
Meinungen  und  Wertungen  Berufener  und  Unberufener  hervorruft,  können 
in  den  Grenzen  des  gegenwärtigen  Berichtes  nur  einzelne  kurze  Be- 
merkungen gemacht  werden:  Der  vornehmste  Gesichtspunkt  für  alle  aus 
den  dargelegten  Gründen  erwachsenden  Organisationen  des  vorbereiten- 
den Unterrichtes  muß  sein  das  Hervorheben  der  idealen  Bedeutung 
allen  wissenschaftlichen  Studiums,  welche  auch  durch  das  Herein- 
greifen speziellerer  Gebiete  und  durch  die  Verschiedenartigkeit  des  dar- 
zubietenden Unterrichtsstoffes  nicht  verkümmert  werden  darf.  Die  Doppel- 
aufgabe der  Vorstufe,  allgemeine  Bildung  nach  verschiedenen  Richtungen 
und  ein  gewisses  Maß  spezieller  Kenntnisse  in  engerem  Rahmen  darzu- 
bieten, muß  sich  mit  der  Forderung  vereinigen,  die  Jugend  mit 
frischen,  empfänglichen  und  geschärften  Sinnen  für  das  freie 
Studium  der  Hochschule  zu  erziehen. 

Dazu  ist  aber  nicht  allein  ein  Überwuchern  rein  philosophischer  Ge- 
lehrsamkeit zu  beschränken,  sondern  auch  die  schwierige  Methodik  des 
naturwissenschaftlichen  Unterrichts  zu  klären,  der  Umfang  dieses  Unter- 
richtes, der  viel,  nicht  vielerlei  darbieten  soll,  richtig  abzugrenzen!  Die 
Vertiefung  des  Unterrichtes  in  den  Naturwissenschaften  drängt  auf  allen 
Stufen  zu  einer  starken  Betonung  der  eigenen  Betätigung  des 
Schülers.  Dies  führt  auf  der  Hochschule  in  steigendem  Maße  dazu,  den 
Unterricht  im  Laboratorium,  im  Konstruktionssaal,  in  der  Form  seminaristi- 
scher Übung  gegenüber  der  Vorlesung  in  den  Vordergrund  zu  stellen  und 
besonders    in   den   Spezialgebieten  solcher  Massen   lebendiges  Verständnis 


V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Forderungen  für  die  Zukunft.  7^1 

und  volle  Durchdringung  des  dargebotenen  Stoffes  zu  erreichen.  Dem 
wird  der  vorbereitende  Unterricht  entgegenkommen,  wenn  er  an  einzelnen 
t}-pisch  gewählten  Aufgaben  den  Schüler  zu  eigener  praktischer  Arbeit 
führt,  denselben  etwa  einzelne  Grundgesetze  der  Ph3-sik  durch  sj-stema- 
tische  Anordnung  der  die  Antwort  vermittelnden  Experimente  selbständig 
auffinden  läßt,  eine  Methode,  die  schon  mannigfach  in  England  in  prak- 
tischen Schülerübungen  eingeführt  ist  und  auch  bei  uns  an  Boden  ge- 
winnt. Die  Schule  muß  dabei  verzichten  auf  eine  Darlegung  des  ge- 
samten Inhaltes  eines  naturwissenschaftlichen  Gebietes,  die  doch  nur  eine 
oberflächliche  sein  könnte,  und  vielmehr  durch  die  eindringliche  Behand- 
lung einzelner  weniger  Abschnitte  Einsicht  in  die  Methode  naturwissen- 
schaftlicher Forschung  gewähren  und  die  Beobachtungsgabe  zu  entwickeln 
suchen.  So  wird  sie  das  Interesse  wachrufen,  das  Verständnis  fördern  für 
eine  umfassende  Vorführung  eines  Gebietes  der  Naturwissenschaften  nach 
seiner  gesamten  Entwicklung  wie  nach  seinen  Beziehungen  zu  den  Nach- 
bargebieten der  Forschung,  die  gründlich  und  erschöpfend  zugleich  nur 
die  Hochschule  darbieten  kann.  Auch  in  der  Mathematik  wird  der  vor- 
bereitende, für  die  Mehrzahl  der  Schüler  ja  auch  abschließende  Unter- 
richt etwa  die  Grundbegriffe  der  analytischen  Geometrie,  der  Analysis 
des  Unendlichen  an  der  Hand  anschaulicher  Probleme  vorführen  können 
und  dadurch  das  Verständnis  besonders  der  phj-sikalischen  Fragen  fördern, 
ohne  doch  der  späteren  umfassenden  und  systematischen  Darlegung  vor- 
zugreifen. Soweit  es  sich  andererseits  um  gewisse  technische  Fertig- 
keiten handelt,  die  auf  der  vorbereitenden  Stufe  gelehrt  werden  können 
(so  neben  dem  Mechanismus  des  elementaren  Rechnens  und  geometrischer 
Konstruktionen  noch  die  Technik  des  Differenzierens  und  Integrierens  der 
elementaren  Funktionen,  die  Technik  des  gebundenen  Zeichnens),  so  wird 
man  zugeben  müssen,  daß  gerade  die  Aneignung  solcher  mehr  mechani- 
schen Fähigkeiten  auf  der  Vorstufe,  in  welcher  der  Schüler  dem  Zwang 
unterliegt,  leichter  erreicht  werden  kann  als  auf  der  Hochschule  mit  ihren 
freien  Institutionen;  ist  doch  auch  im  sprachlichen  Unterricht  gerade  dieser 
technischen  Seite  ein  breiter  Raum  gewährt,  der  der  freier  und  höher 
gehenden  Behandlung  auf  der  Hochschule  zugute  kommt,  ja  eine  solche 
vielfach  erst  ermöglicht.  Auf  der  anderen  Seite  aber  ist  gerade  auf  dieser 
Stufe  die  Aneignung  mechanischen  Wissens  nicht  ohne  Gefahr  für  die 
spätere  vertiefte  Arbeit.  Jedenfalls  muß  solcher  mechanischer  Lehrstoff 
ausgeglichen  werden  durch  Gebiete,  in  welchen  der  Schüler  zu  eigenem 
Nachdenken  und  selbständiger  Arbeit  gebracht  wird. 

Für  die  Organisation  der  vorbereitenden  Schulen  im  ganzen  aber 
wird  man  meines  Erachtens  daran  festzuhalten  haben,  daß  trotz  der  Ver- 
schiedenartigkeit sprachlicher  und  mathematisch  -  naturwissenschaftlicher 
Vorbildung,  welche  die  Ausgestaltung  der  einzelnen  Schulen  mit  sich 
bringen  mag,  doch  ein  Ausgleich  auf  den  Hochschulen  im  Rahmen  der 
dort  gewährten  Freiheit   in   der  Anordnung   der  Studien   sich  ermöghcht: 


5^2  Wai.thek   von  Dyck  :    Die  naturwisscnschaftliclic  Hochschulausbildung. 

So  daß  also,  wenn  auch  im  einzelnen  unter  EinfÜL;ung  ergänzender  Studien 
den  verschiedenen  Gattungen  vorbereitender  Schulen  die  Gleichberech- 
tigung für  die  Zulassung  zu  allen  Hochschulstudien  zu  gewähren 
ist.  Abgesehen  davon,  daß  die  Wahl  des  Berufes  auch  Neigung  und 
Talent  dazu  erwarten  läßt,  wird  die  Möglichkeit  eines  Ausgleiches  ver- 
schiedener Vorbildung  gerade  dadurch  erleichtert,  daß,  wie  schon  erwähnt, 
die  Erziehung  zur  eigenen  Arbeit  heute  im  Hochschulunterricht,  sei  es  im 
Laboratorium  oder  im  Konstruktionssaal,  sei  es  im  Seminar  oder  Prakti- 
kum, für  das  Studium  der  Naturwissenschaften,  der  Medizin,  der  Technik 
ebenso  wie  für  das  der  Jurisprudenz,  der  sprachlichen  und  historischen 
Wissenschaften  in  höherem  Maße  hervortritt  und  eine  individuelle  Behand- 
lung, die  der  vorangegangenen  Studienrichtung  Rechnung  tragen  kann, 
ermöglicht  und  verlangt. 
Weiterbildung  Und    uun    noch    einige   Worte    über    die   Weiterbildung    nach    der 

schule.  Hochschule  sowie  über  die  Ausdehnung  wissenschaftlichen  Unter- 
richtes auf  weitere  Kreise.  Wenn  auch  beide  Aufgaben  nicht  auf 
die  Gebiete  der  Naturwissenschaften  beschränkt  sind,  so  haben  sie  doch 
für  diese  eine  ganz  besondere  Bedeutung. 

Wir  haben  schon  oben  für  den  Techniker  hervorgehoben,  wie  die 
Studienzeit  keineswegs  die  Lehrzeit  abschließt,  und  dies  gilt  wohl  für  alle, 
die  von  der  Hochschule  ins  Leben  treten.  Ein  Teil  der  Aufgabe  dieser 
Fortbildung  für  den  Beruf  muß  noch  als  eine  erweiterte  Aufgabe  der 
Hochschule  selbst  betrachtet  werden:  Neben  der  Aneignung  praktischer 
Lehrbefähigung,  die  die  pädagogischen  Seminare  ermöglichen,  soll  der 
Lehrer  die  Fühlung-  mit  der  fortschreitenden  Wissenschaft  behalten;  der 
Mediziner,  der  die  Praxis  seines  Berufes  nach  dem  Hochschulstudium 
erst  als  Assistenzarzt  am  Krankenbett  erlernt,  bedarf  über  diese  prak- 
tische Schule  hinaus  immer  wieder  der  Erweiterung  seines  in  Klinik 
und  Versuch.slaboratorium  erworbenen  Wissens.  Hier  suchen  die  Ferien- 
und  Fortbildungskurse  der  Universitäten  vermittelnd  einzutreten;  sie  ge- 
währen den  jungen  Lehrern  wie  den  Medizinern  aufs  neue  die  Fühlung 
mit  der  Hochschule  als  der  mütterlichen  Erde,  die  ihnen  in  der  Studien- 
zeit den  besten  Teil  ihrer  Kraft  gegeben.  Hier  erwächst  dem  Hoch- 
schullehrer eine  wichtige  Aufgabe  zu  seiner  engeren  hinzu,  während 
die  andere,  die  Erziehung  für  die  Praxis  des  Berufes  recht  wohl  und 
besser  noch  von  anderen  Kräften  und  von  außerhalb  der  Hochschulen 
stehenden  Organisationen  übernommen  wird.  Wie  sehr  man  auch  diesen 
heute  eine  größere  Bedeutung  beimißt,  zeigt,  neben  der  Ausdehnung  und 
Ausgestaltung  pädagogischer  Seminare  für  die  Lehrer  der  Mittelschulen, 
vor  allem  die  mit  der  Forderung  eines  praktischen  Jahres  für  die  Medi- 
ziner in  Zusammenhang  stehende  Errichtung  von  Akademieen  für  prak- 
tische Medizin,  welche  sich  die  Aufgabe  stellen,  diese  Lehrzeit  durch 
einen  möglichst  intensiv  und  vielseitig  organisierten  praktischen  Unter- 
richt nutzbringend  zu  gestalten.     In   ähnlicher  Weise   müßte  auch  für  den 


J 


V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Forderungen  für  die  Zukunft.  343 

Techniker,  der  nach  oder  inmitten  seines  Hochschulstudiums  seine  prak- 
tische Lehrzeit  in  der  Fabrik  oder  auf  dem  Bau  durchzumachen  hat,  hier 
durch  eine  zweckmäßige  Organisation  eine  möglichst  vielseitige  Unter- 
weisung dargeboten  werden. 

Wir    müssen    der   Beziehung    der    wissenschaftlichen  Arbeit    zu    einer  vcrbindunK  do 

...  .  -f.iT~»ri  1-  -1  Hochschulunter- 

erganzenden  Betätigung  im  praktischen  Berut  noch  nach  einer  anderen  ricius  mit 
Seite  ein  paar  Worte  widmen,  nach  ihrer  für  alle  Gebiete  der  an-  praktischen 
gewandten  Naturwissenschaften  geltenden  Bedeutung  für  den  Hochschul- 
lehrer selbst.  Für  den  Mediziner  hat  diese  doppelte  Betätigung  von 
jeher  bestanden ;  für  den  Techniker  hat  sie  sich  erst  allmählich  mit 
der  Herübernahme  von  inmitten  der  Praxis  stehenden  Ingenieuren  in 
den  Lehrberuf  entwickelt.  Sie  ist  hier  wohl  am  erfolgreichsten  zutage 
getreten  im  Gebiete  der  Baukunst,  wo  der  Hochschullehrer  zumeist 
auch  als  praktischer  Baumeister  wirkt  und  nicht  selten  Gelegenheit  er- 
hält, seine  Kraft  an  monumentalen  Aufgaben  zu  bewähren.  Die  Auf- 
nahme praktisch  wichtiger  Forscherarbeiten  im  Großbetrieb  der  Technik 
selbst,  wie  sie  zumal  die  chemische  Industrie  unternimmt,  wie  sie 
aber  auch  für  den  Maschinen-  und  Eisenbau,  in  der  Elektrotechnik,  im 
Schiffsbau,  der  Waffenkonstruktion  immer  größere  Bedeutung  gewinnt, 
fördert  die  Möglichkeit,  in  Fühlung  mit  der  Praxis  zu  bleiben,  für  den 
Hochschullehrer  (und  hier  kommt  neben  dem  Techniker  auch  der  Che- 
miker, der  Physiker  in  Betracht)  ganz  besonders.  Diese  Fühlungnahme  ist  aber 
für  die  Forscherarbeit  auf  technischen  Gebieten  um  so  wichtiger,  als  die 
wirtschaftliche  Bedeutung  und  Tragw^eite  technischer  Errungenschaften 
nur  in  Berücksichtigung  aller  in  der  praktischen  Durchführung  im  großen 
auftretenden  Momente  klar  hervortritt.  Neben  dieser  besonderen  Rolle, 
welche  den  wirtschaftlichen  Furagen  der  Technik  zukommt,  muß  aber  noch 
eines  Umstandes  hier  gedacht  w-erden,  der  ganz  abseits  der  rein  wissen- 
schaftlichen Aufgaben  der  Technik  liegt  und  ihre  Behandlung  wesentlich 
von  den  allein  um  ihrer  selbst  willen  geführten  naturwissenschaftlichen 
Forschungen,  von  der  allein  dem  Wohl  der  Mitmenschen  gewidmeten 
Forschertätigkeit  des  Mediziners  unterscheidet:  die  Möglichkeit,  ja  Not- 
wendigkeit, manche  Errungenschaften  der  Technik  durch  Fabrikations- 
geheimnis und  Patentschutz  der  offenen  Darlegung  zu  verschließen.  Der 
große  Zug  der  wissenschaftlichen  Arbeit  geht  freilich  über  diese  kleinen, 
auch  zeitlich  sehr  beschränkten  Hindemisse  hinweg,  der  Unterricht  im 
einzelnen  muß  aber  vielfach  darauf  verzichten,  den  neusten  Stand  der 
Technik  darzustellen,  ja  er  muß  —  wie  in  der  Waffentechnik  —  nicht 
unwichtige  Gebiete  völlig  ausschalten. 

Haben  wir  bisher  ausschließlich  diejenigen  Aufgaben  der  Hochschulen  Ausdehnung d« 
,..,  -«.      ,.^^,  wissenschaft- 

betrachtet,  welche   der  Ausbildung  mr  den  Beruf  gelten,  so   müssen  wir  liehen  inter- 

.        .  .       .  .^    .      -        ,  -^  .  rieht«  auf 

jetzt  noch  einer  gerade  in  neuerer  Zeit  bedeutungsvoll  gewordenen  Erweite-  weitere  Kreise: 
rung  der  Lehraufgabe  gedenken,  die  unter  dem  Sammelnamen  des  Volks-     untcrri.ht. 
hochschulunterrichtes,   der   „university  extension"   (weil    wir  Deutsche 


■IAA  Walthf.k  von  Dyck  :   Die  naturwissenschaftliche  Hochschulausbildung. 

SO  gern  ein  Fremdwort  gebrauchen)  zusammengefaßt  werden.  Sie  bezieht 
sich  einmal  auf  die  Darbietung  zwangloser  Vorträge,  in  welchen  neuere, 
besonders  bedeutsame  Errungenschaften  der  Wissenschaft  vor  einem  höher 
gebildeten  Publikum  behandelt  werden,  Einrichtungen,  die  seit  Desaguiliers, 
seit  s'Gravesandes  Zeiten  mehr  oder  weniger  organisiert,  dem  wechselnden 
Geschmack  des  Publikums  unterworfen,  bestanden  haben.  Dann  aber  handelt 
es  sich,  und  dies  entspricht  der  neuerlich  entstandenen  sozialpolitischen  Be- 
wegung, um  größere  Vortragsreihen,  in  denen  fiJr  die  Kreise  des  Volkes,  in 
populärer  Darstellung  bestimmte,  in  sich  geschlossene  Gebiete  eingehend,  sei 
es  mit  der  Absicht  der  Erweiterung  des  speziellen  Fachwissens,  sei  es  zur 
Gewährung  allgemeiner  Übersicht,  vorgeführt  werden.  Zum  Teil  wird  ja 
dem  Zweck,  weitergehende  Belehrung  in  einem  Fachgebiet  auch  den  außer- 
halb des  regulären  Studiums  Stehenden  zu  bieten,  durch  die  Institution 
der  Hospitanten  innerhalb  des  Hochschulunterrichtes  selbst  Rechnung  ge- 
tragen, aber  die  Verschiedenartigkeit  der  Aufgaben  solcher  Hochschul- 
kurse und  die  Verschiedenartigkeit  der  Vorbedingungen,  auf  die  sich  ihre 
Lösung  stützen  muß,  erfordert  doch  eine  freiere  Bewegung,  die  einen 
engeren  Anschluß  an  die  Hochschule  verbietet.  Zudem  beschränken  sich 
die  Pläne  nicht  allein  auf  Vorträge,  sondern  wollen  noch  weiter  in  Museen, 
in  Laboratorien,  durch  Anlage  von  Volksbibliotheken  für  die  Verbreitung 
gründlicher  Bildung-  Sorge  tragen.  Wenn  auch  alle  diese  mannigfaltigen 
Einrichtungen  noch  erst  im  Werden  sind,  wenn  auch  in  jedem  besonderen 
Falle  die  Organisation  des  Unterrichtes,  die  Anordnung  des  darzubietenden 
Stoffes  besondere  Schwierigkeiten  bietet,  wenn  in  den  Naturwissen- 
schaften und  besonders  in  den  medizinischen  die  Gefahr,  Halbwissen 
und  Oberflächlichkeit  zu  verbreiten,  nicht  gering  ist,  so  sind  doch  die 
ernsten  Bestrebungen  des  Volkshochschulunterrichtes  zu  einem  bedeu- 
tungsvollen Faktor  für  die  Volksbildung  wie  im  sozialen  Sinne  geworden, 
und  wichtig  ist  es,  um  Gutes  und  in  gutem  Sinne  darzubieten,  daß  die 
Hochschulen   aktiv   an   der  hier  gegebenen  Arbeit  sich  beteiligen. 

Es  ist  nicht  zufällig,  sondern  steht  mit  dieser  Aufgabe  im  Zusammen- 
hange, wenn  heute  mehr  als  vielleicht  vor  50  Jaliren  der  Schaffung  populär- 
wissenschaftlicher Schriften  über  allgemein  wichtige  Gebiete  in  Natur- 
wissenschaft und  Technik  Interesse  und  Beteiligung  bedeutender  Gelehrter 
gewidmet  ist  und  wir  auch  in  Deutschland,  wie  schon  früher  in  England 
und  besonders  in  Frankreich,  treffliche  Werke  solcher  Art  entstehen 
sehen,  die  richtige  Belehrung  und  Aufklärung  in  weite  Kreise  tragen. 
Sie  entspringen  überdies  demselben  Bedürfnis  nach  zusammenfassender 
Darstellung  der  großen  Errungenschaften  auf  mathematischem,  naturwissen- 
schaftlichem und  technischem  Gebiete,  welche  auch  die  Schaffung  rein 
wissenschaftlicher  Gesamtdarstellungen  größerer  W^issensgebiete  (wir  ge- 
denken hier  vor  anderen  etwa  der  umfassend  angelegten  Enzyklopädie 
der  mathematischen  Wissenschaften  mit  Einschluß  ihrer  Anwendungen  in 
Naturwissenschaft    und   Technik)    unter    der    vereinten    Arbeit    der    besten 


V.  Fragen  der  Gegenwart  und  Forderungen  für  die  Zukunft.  74  = 

Kräfte  herbeigeführt  hat.  In  der  Durchführung  solcher  großer  Aufgaben, 
die  über  die  Kraft  des  Einzelnen  hinausgreifen,  sehen  heute  die  gelehrten 
Gesellschaften  in  nationalem  und  internationalem  Zusammenschluß  ein  be- 
deutungsvolles Feld  der  Tätigkeit,  welches  schon  zurzeit  der  Gründung 
der  Akademieen  einem  Leibniz  vorschwebte. 

Wir  brechen  hier  die  Darlegung  ab,  bewußt,  nur  Unvollständiges,  nur  Einheit  de» 
Vorstudien  zu  all  den  mannigfachen  Fragen  des  natiu-wissenschaftlichen  schuiuntarrichts. 
Hochschulunterrichtes  geboten  zu  haben.  Eine  erweiterte  Betrachtung 
hätte  vor  allem  auch  die  außerdeutschen  Verhältnisse  einer  eingehenden 
Würdigung  zu  unterziehen,  die  wir  hier  nur  an  einzelnen  Stellen  an- 
deutungsweise und  mit  Bezug  auf  ihren  Einfluß  auf  unsere  deutschen  be- 
zeichnen konnten. 

Überblickt  man  zusammenfassend  die  vielgestaltigen  Aufgaben,  die 
heute  an  den  Vertreter  des  gelehrten  Unterrichtes  herantreten,  so  sieht 
man  mit  Sorge,  wie  ein  Übermaß  von  außerhalb  erwachsenden  Forde- 
rungen, welche  praktische,  organisatorische  Betätigung  verlangen,  die 
ruhige  Gelehrtenarbeit  und  die  Versenkung  in  das  engere  Gebiet  rein 
wissenschaftlicher  Forschung  gefährden;  wie  andererseits  in  der  inneren 
Entwicklung  selbst  die  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  des  Stoffes  dem  Ein- 
zelnen den  Überblick  erschwert,  zu  allzuenger  Begrenzung  des  eigenen 
Arbeitsfeldes  und  damit  zur  Isolierung  führt.  Dafür  bietet  der  erweiterte 
Bereich  der  Betätigung  des  Einzelnen  nach  persönlicher  Anlage  und 
Neigung  den  weitesten  Spielraum  dar  und  die  Möglichkeit,  die  besonderen 
Fähigkeiten  am  rechten  Platz  zu  nützen. 

Mehr  aber  als  je  erwächst  heute,  um  zu  innerer  Befriedigung  zu 
gelangen,  die  Notwendigkeit  einer  einheitlichen  Auffassung  aller  dieser 
Aufgaben,  welche  die  getrennt  und  in  verschiedenartiger  Weise  Tätigen 
in  einem  höheren  Sinne  vereinigt.  Sie  kommt,  wie  in  dem  vorhin  er- 
wähnten Bedürfnis  nach  zusammenfassenden  Darlegungen,  so  insbesondere 
in  dem  erhöhten  Interesse  zum  Ausdruck,  welches  gegenwärtig  den  auf 
die  Grundlagen  und  Methoden  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  ge- 
richteten Betrachtungen,  einer  Philosophie  der  Naturwissenschaften 
zugewendet  ist.  Sie  muß  auch  in  der  einheitlichen  Auffassung  des  Unter- 
richtes ihren  Ausdruck  finden.  Läßt  sich  hier-  eine  äußere  Einheit  nicht 
erreichen,  so  müssen  wir  um  so  mehr  an  der  inneren  Zusammengehörigkeit 
des  gesamten  Organismus  unserer  hohen  Schulen  festhalten.  Und  das 
geschieht,  wenn  die  Vertreter  der  verschiedenen  Gebiete,  die  sie  in  sich 
schließen,  ihr  engeres  Werk  als  einen  Teil  aufzufassen  und  im  Zusammen- 
hange zu  verstehen  lehren  des  gesamten  Weltbildes,  das  in  Natur-  und 
Geisteswissenschaft  die  menschliche  Erkenntnis  sich  geschaffen,  und  wenn 
sie  es  in  Einklang  und  in  lebendige  fruchtbringende  Beziehung  zu  setzen 
wissen  zu  der  Welt,  die  uns  umgibt 


Literatur. 

W.  Erman  und  E.  Horn,  Die  Bibliographie  der  deutschen  Universitäten,  3  Bde. 
(Leipzig,  1904/5).  [Die  vollständigste  Zusammenstellung  der  Universitätsliteratur,  aus  welcher 
hier  im  besonderen  die  Geschichte  der  einzelnen  Universitäten  herauszuheben  ist.]  — 
A.  HarNACK,  Geschichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften,  3  Bde.  (Berlin,  1900). 
—  J.  Hart,  German  Universities  (New-York,  1874).  —  Die  Jahresberichte  der  Deutschen 
Mathematiker -Vereinigfung  (Leipzig,  1891  —  1906).  [Enthalten  eine  Reihe  wichtiger  Aufsätze 
zur  Frage  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterrichtes.]  —  G.  Kaufmann, 
Geschichte    der    deutschen    Universitäten,    2    Bde.    (Stuttgart,    1888/96).    —    F.  KLEIN    und 

E.  RlECKE,  Über  angewandte  Mathematik  und  Physik  in  ihrer  Bedeutung  für  den  Unter- 
richt   an    den    höheren    Schulen.      Mit    einem    Wiederabdruck    verschiedener    Aufsätze    von 

F.  Klein  (Leipzig,  1900).  —  W.  Lexis,  Die  deutschen  Universitäten.  Für  die  Universitäts- 
ausstellung in  Chicago  1893  herausgegeben.  2  Bde.  (Berlin,  1893).  —  Derselbe,  Das  Unter- 
richtswesen im  Deutschen  Reich.  Aus  Anlaß  der  Weltausstellung  in  St.  Louis  1904  heraus- 
gegeben (1904).  Bd.  I.  Die  Universitäten.  Bd.  4.  Das  technische  Unterrichtswesen.  Teil  1. 
Die  Technischen  Hochschulen.  [Hier  zahlreiche  Angaben  über  speziellere  Literatur,  insbe- 
sondere für  die  Geschichte  der  technischen  Hochschulen.]  —  F.  PaulSEN,  Geschichte  des 
gelehrten  Unterrichts.  2  Bde.  2.  Aufl.  (Leipzig,  1896).  [Mit  einer  großen  Zahl  weitergehen- 
der Literaturangaben.]  —  Derselbe,  Die  deutschen  Universitäten  und  das  Universitätsstudium 
(Berlin,  1902).  —  Riedler,  Zur  Frage  der  Ingenieur-Erziehung.  [Im  Anschluß  daran  ver- 
schiedene Aufsätze  und  Referate  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  Deutscher  Ingenieure,  in 
denen  die  moderne  Bewegung  für  die  Gestaltung  des  technischen  Unterrichts  (nach  Vor- 
und  Fachbildung)  zum  Ausdruck  gelangt.] 

Über  den  Inhalt  und  Umfang  des  an  den  Universitäten  vorgetragenen  Stoffes  geben 
(außer  Vorlesungsverzeichnissen)  bis  etwa  an  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  die  mannig- 
fachen Kompendien  und  Lehrbücher  Aufschluß,  deren  wichtigste  in  Texte  Erwähnung  ge- 
funden haben.  Später  entfällt  mit  der  freieren  und  wissenschaftlicheren  Gestaltung  des 
Unterrichtes  diese  Beziehung,  aber  man  wird  hier  sagen  können,  daß  die  reiche  Zahl  zu- 
sammenfassender Werke  und  Lehrbücher  auch  über  spezielle  Wissensgebiete  und  über  ein- 
zelne Probleme  der  Wissenschaft,  welche  im  besonderen  unsere  deutsche  Literatur  aus- 
zeichnet, die  enge  Beziehung  der  wissenschafüichen  Forschung  zum  Unterricht,  das  besondere 
Merkmal  der  Hochschule  des   19.  Jahrhunderts,  widerspiegelt. 


KUNST-  UND  KUNSTGEWERBE-MUSEEN. 

Von 
Ludwig  Pallat. 


I.    Die  Entstehung-  der  Sammlungen.     Wer  heute  die  Sammlung  Das  Sammeln 

_.  j     T»     1     1  vonKunstwerkeil 

antiker  Bildwerke  des  Louvre  besucht  und  dann  Genuß  und  Belehrung  im  Aitcnum. 
findet,  sollte  mit  besonderer  Ehrfurcht  und  Dankbarkeit  vor  dem  Porträt 
des  M.  Vipsanius  Agfrippa  stehen  bleiben,  denn  er  ist,  soweit  unser  Wissen 
reicht,  der  erste  gewesen,  der  den  Gedanken»  private  Sammlungen  von 
Kunstschätzen  allgemein  zugänglich  zu  machen,  öffentlich  ausgesprochen 
und  begründet  hat.  Der  Gedanke  lag  nahe  in  einer  Zeit,  die  wie  die 
Augusteische  rückwärts  blickte  auf  die  hohen  Vorbilder,  welche  die  grie- 
chische Kunst  geschaffen  hatte,  und  gleich  Wertvolles  hervorzubringen  sich 
bemühte. 

Die  Fürsten  von  Pergamon  hatten  das  erste  Beispiel  im  Sammeln 
hervorragender  Werke  aus  der  Blütezeit  der  attischen  Kunst  gegeben. 
Mit  der  Unterwerfung  Griechenlands  war  auch  in  den  Römern  der  Sammel- 
eifer erwacht.  Die  Schätze,  die  seitdem  nach  Italien  hinübergeschaflft 
wurden,  hatten  sich  gegen  Ende  des  i.  Jahrhunderts  v.  Chr.  bereits  so 
gehäuft,  daß  man  manches  Museum  mit  Werken  von  künstlerischer  und 
historischer  Bedeutung  hätte  füllen  können. 

Aber  die  Anregung  des  Agrippa  fiel  nicht  auf  fruchtbaren  Boden- 
Über  dem  ausschließlichen  Streben  nach  literarischer  Bildung  wurden 
die  in  der  Kunst  liegenden  kulturellen  Werte  noch  nicht  hoch  genug  ge- 
schätzt. Der  Gedanke,  um  dieser  Werte  willen' Bilder  und  Skulpturen  zu 
verstaatlichen,  war  der  großen  Masse  der  Gebildeten  noch  zu  fremd.  Die 
Kunst  selbst  bedurfte  der  Museen  nicht.  Sie  war  noch  so  lebendig,  daß 
sie  ohne  sie  bestehen  und  sich  entwickeln  konnte;  sie  überwand  den 
Klassizismus  und  schuf  in  freier  Verwertung  der  griechischen  Vorbilder 
Eigenes,  Nationalrömisches.  Zugleich  entfaltete  sie  sich  im  Dienste  der 
Kaiser  in  immer  breiterer  Öffentlichkeit.  Was  der  Laie  zur  Befriedigung 
seiner  Schaulust  oder  auch  aus  künstlerischem  und  Bildungsinteresse  zu 
sehen  wünschte,  das  bot  ihm  der  Schmuck  der  Kaisertoren,  der  Tempel, 
Theater,    Basiliken,    Thermen    usw.   in   vollem    Maße.     Auch  Werke    der 


348 


Ludwig   Pallat:    Kunst-  und   Kunstgewerbe-Museen. 


gTiechischeii  Kunst  standen  dort  in  Originalen  und  Kopieen  zahlreich  zur 
Schau.  \Vie  stark  das  Interesse  dafür  war,  zeigt  die  Nachricht  des  Plinius, 
wonach  das  Volk  den  Apoxyomenes  des  Lysipp  von  Tiberius,  der  ihn  von 
den  Thermen  des  Agrippa  weg  in  seinen  Palast  hatte  bringen  lassen,  zu- 
rückverlangte und  seine  Wiederaufstellung  am  alten  Platze  durchsetzte. 

Kunstgelehrte,  die  ihrer  Studien  wegen  ein  besonderes  Interesse  an 
der  systematischen  Sammlung  von  Skulpturen  und  Gemälden  gehabt 
hätten,  gab  es  in  der  Kaiserzeit  nicht  mehr.  Einige  Ansätze  zu  einer 
Kunstwissenschaft  im  modernen  Sinne,  die  sich  besonders  in  Pergamon 
gebildet  hatten,  waren  längst  abgestorben.  Die  gelehrte  Arbeit  beschränkte 
sich  darauf,  literarische  Angaben  über  Künstler  und  Kunstwerke  zu  sammeln, 
ohne  sie  durch  eigenes  Studium  der  Quellen  und  der  Denkmäler  zu  kon- 
trollieren und  zu  beleben. 
Das  Mittelalter.  Im  Mittelalter  begnügte  man  sich  mit  dem  überlieferten  Wissen.     Es 

fehlte  der  Drang,  durch  Sammeln,  Beobachten  und  Vergleichen  eine  tiefere 
Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge  zu  gewinnen.  Das  Einzige,  was  außer 
kostbaren  Geräten,  Steinen,  Gewändern  u.  dgl.  m.  mit  Leidenschaft  ge- 
sammelt wurde,  waren  Knochen,  Schädel,  Skelette  und  sonstige  Reliquien 
von  Heiligen.  Selbst  in  Konstantinopel,  wo  die  Produkte  des  Orients  zu- 
sammenflössen und  die  Schätze  der  antiken  Kunst  und  Literatur  sich  zum 
letzten  Male  konzentrierten,  blieb  der  fruchtbare  Boden,  aus  dem  eine 
neue  wissenschaftliche  Erkenntnis  hätte  ersprießen  können,  unbenutzt.  Von 
den  Kreuzzügen  durchwühlt  trug  er  auch  in  der  Folgezeit  keine  Früchte; 
aber  seine  Keime  gingen  wenigstens  nicht  ganz  verloren.  Mancherlei 
Kunstwerke,  Manuskripte  uud  seltsame  Naturprodukte  gelangten  durch 
die  Kreuzfahrer  in  das  Abendland  und  weckten  hier  nicht  nur  die  Freude 
am  Besitz,  sondern  auch  das  Verlangen  nach  Belehrung.  So  kam  den 
griechischen  Gelehrten,  die  im  14.  Jahrhundert  ihre  Heimat  zu  verlassen 
begannen,  namentlich  in  Italien  ein  starker  Wissenstrieb  entgegen  und 
bereitete  ihnen  einen  freundlichen  Empfang. 
Die  ersten  Das   Interessc   für   die   griechische   Literatur,   die    man   nun  aus  erster 

Antikensamm- 

langen.  Hand  kennen  lernte,  wurde  bald  so  lebendig,  daß  man  nicht  nur  Manu- 
skripte, sondern  auch  Inschriften,  Münzen,  geschnittene  Steine  und  Bild- 
werke zu  sammeln  begann.  Besonders  beliebt  waren  die  mit  Inschriften 
versehenen  Büsten  und  Hermen  berühmter  Männer.  Gelehrte,  wie  Cyriacus 
von  Ancona,  machten  auf  weiten  Reisen  im  Orient  förmlich  Jagd  auf 
Altertümer,  teils  aus  eigenem  Antrieb,  teils  im  Auftrage  der  Päpste  und 
Fürsten,  die  vom  15.  Jahrhundert  ab  in  rasch  steigendem  Wetteifer  An- 
tikensammlungen zu  begründen  begannen.  War  es  auch  zunächst  nur 
literarisches  Interesse,  das  diesen  Sammeltrieb  erweckte,  so  kam  doch 
mit  dem  Aufblühen  der  bildenden  Kunst  bald  das  ästhetische  Bedürfnis, 
sich  an  den  Schöpfungen  der  Alten  zu  erfreuen  und  von  ihnen  zu  lernen, 
hinzu.  Tatkräftige  Fürsten,  wie  Cosimo  und  Lorenzo  de'  Medici,  denen  es 
nicht  nur  um  den  Besitz  der  alten,    sondern   auch   um    die  Förderung   der 


I.  Die  Entstehung  der  Sammlungen.  xaq 

neuen  Kunst  zu  tun  war,  erwarben  antike  Statuen,  Reliefs,  Mosaiken  usw. 
als  anregende  Vorbilder  für  die  an  ihrem  Hofe  tätigen  Bildhauer  und 
Ziseleure.  Wo  die  Mittel  zur  Beschaffung  wertvoller  Originale  nicht  aus- 
reichten, begnügte  man  sich  mit  Nachbildungen.  So  ließ  sich  der  beson- 
ders rührige  P'ranz  I.  von  Frankreich  durch  den  Bildhauer  Primaticcio 
Gipsabgüsse  berühmter  plastischer  Werke  beschaffen.  Aber  weder  die 
Fürsten  noch  die  Künstler  sahen  zu  der  Höhe  der  Alten  wie  zu  etwas 
Unerreichbarem  hinauf.  Wie  ein  Cellini  in  naivem  Selbstbewußtsein  die 
alten  Toreuten  weit  zu  übertreffen  vermeinte,  so  glaubten  es  die  Fürsten 
den  römischen  Großen  mindestens  gleich  zu  tun,  wenn  sie  ihre  Paläste 
und  Villen  mit  Werken  nicht  nur  der  antiken,  sondern  auch  der  zeit- 
genössischen Kunst  füllten.  Was  nicht  unmittelbar  zum  Schmuck  der 
Architektur  und  der  Gärten  diente,  wurde  in  eigenen  Räumen  als  kost- 
barer Besitz  aufgestellt  und  bei  besonderen  Gelegenheiten  den  Vertrauten 
und  Gästen  des  Hofes  mit  Stolz  gezeigt.  Damit  war  das  erste  Funda- 
ment zu  den  Kunstkammem  und  Gemäldegalerieen  gelegt,  die  später  den 
Grrundstock  der  Kunstmuseen  bilden  sollten. 

In    der    nächsten    Folgezeit    traten    die    Kunstkabinette    in    enge    Ver-  Die  Kunst-  und 

•  1  AI  Raritäten- 

bindung mit  den  eben   damals  entstehenden  Naturaliensammlungen.    Auch      Uammorn. 

auf  dem  naturwissenschaftlichen  Gebiete  war  infolge  der  Kreuzzüge  und 
des  Wiederauflebens  der  Wissenschaften  der  Sammeleifer  erwacht.  Ge- 
lehrte und  Geheimkünstler  waren  die  ersten,  die  teils  zu  praktischen 
Zwecken,  teils  aus  Leidenschaft  für  Kuriositäten  und  abnorme  Bildungen 
zu  sammeln  anfingen.  Tradition  und  Vorbild,  sie  dabei  zu  leiten,  gab  es 
nicht.  Im  Altertum  hatten  zwar  auch  einzelne  (lelehrte  und  Schulen 
Sammlungen  für  Studienzwecke  besessen,  aber  diese  Spezialsammlungen 
waren  nicht  weiter  entwickelt  worden,  und  schließlich  hatte  sich  hier  wie 
auf  dem  Gebiete  der  Kunstgeschichte  allein  die  Buchgelehrsamkeit  be- 
hauptet. Als  dann  durch  Humanismus  und  Reformation  die  Fesseln  der 
Scholastik  gelöst  waren,  drängten  sich  mystische  und  abergläubische  Ten- 
denzen neben  die  freie  Forschung  und  führten  auch  den  neuerweckten 
Sammeltrieb  auf  mancherlei  Abwege.  Das  Verlangen,  in  den  Besitz 
wunderW'irkender  Fähigkeiten  zu  kommen,  füllte  die  Laboratorien  der 
Alchimisten  mit  einem  krausen  Gemisch  von  nützlichen  und  merkwürdigen 
Dingen.  Aber  auch  nüchterne  Spezialsammler,  wie  sie  vornehmlich  aus 
den  Reihen  der  Ärzte  hervorgingen,  richteten  ihren  Blick  zunächst  mehr 
auf  die  absonderlichen  als  auf  die  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis 
wichtigen  Objekte.  Die  Naturaliensammlungen  wurden  so  zugleich  Rari- 
tätenkabinette, und  indem  sie  als  solche  alle  irgendwie  interessanten 
Bildungen  in  Stein,  Metall,  Glas,  Eisen  usw.  aufnahmen,  zogen  sie  auch 
die  bildende  Kunst  in  ihren  Bereich. 

Da  der  Begriff  „Rarität"  alles  umfaßte,  was  aus  den  drei  Reichen  der 
Natur  entweder  in  Europa  sich  selten  fand,  oder  aus  fernen  Ländern  her- 
beigebracht oder  durch  die  Hand  eines  Künstlers  gefertigt  war,  so  gingen 


^co  Ludwig   Pallat:    Kunst-  und   Kunstgewerbe-Museen. 

mit  der  Zeit  die  Naturalien-  und  die  Kunstkammern  eine  so  enge  Verbin- 
dung ein,  daß  es  kaum  eine  Naturalien-  oder  Materialiensammlung  gab, 
die  nicht  zugleich  Kunstgegenstände,  und  keine  Schatz-  oder  Kunst- 
kammer, die  nicht  Naturalien  oder  Raritäten  enthalten  hätte.  An  den 
größeren  Fürstenhöfen  gab  meist  die  Kostbarkeit  der  Kunstobjekte  für 
die  Benennung  „Schatz"-  oder  ,, Kunstkammer"  den  Ausschlag.  So  be- 
klagt sich  J.  D.  Major  1674  in  seinem  „Unvorgreifflichen  Bedenken  von 
Kunst-  und  Naturalien-Kammern  insgemein"  (abgedruckt  in  M.  B.  Valen- 
tinis  Museum  Museorum,  Frankfurt  1704 — 17 14),  daß  die  „Natural-Raritäten 
Gemächer  .  .  .  insgemein  doch  nicht  zum  bequemsten  Kunstkammern  ge- 
nannt" wurden.  Nach  seiner  Meinung  müßten  die  Naturalien  von  den 
Kunstsachen  völlig  getrennt  und  in  besonderen  Räumen  untergebracht 
werden.  Die  Kunst-  oder  Artificialsachen  empfiehlt  er  nach  der  Materie 
zu  ordnen  und  nennt  dabei  folgende  Abteilungen,  die  für  den  Inhalt  der 
im  Laufe  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  entstandenen  Sammlungen  be- 
zeichnend sind:  a)  Antiquarium  für  Gemälde,  Monumente,  Inschriften, 
Statuen,  Aschentöpfe,  Thränengiäser,  Lampen,  Münzen,  Medaillen  usw.; 
b)  Cabinet  für  mathematische,  musikalische,  astronomische  u.  a.  Instru- 
mente; c)  Armamentarium  oder  Rüstkammer;  d)  Technicarcheum  oder 
Technicotheca  für  gewisse  Kunstsachen  geringerer  Qualität,  wie  Wachs- 
bilder, Gläser,  Geschirr,  Kästen,  Laden,  Gewebe  usw.;  e)  Chemische  Kunst- 
sachen, wie  Öle,  Balsame,  Salze,  Tinkturen  usw. 
Der  Name  Unter  den  vielerlei  Namen,  die  solchen  Sammlungen  geg-eben  wurden, 

JVtusßuni. 

erlang-te  der  uns  jetzt  geläufige  „Museum''  vom  Beginn  des  18.  Jahrhun- 
derts ab  allgemeinere  Geltung.  Von  dem  mit  Büchern  und  Raritäten 
gefüllten  Studierzimmer  des  Gelehrten  wurde  er  auf  solche  „Logimente 
und  Kammern"  übertragen,  in  denen  „allerhand  rare  Natur-Sachen  mit  Fleiß 
auffgehoben  und  zu  jedermanns  so  wol  Augen-  als  innerlicher  gut  philo- 
sophischer Hertzens-Lust  dargestellet  werden"  (Major  a.  a.  O.  Cap.  IV,  V). 
In  dieser  Definition  lebt  die  alte  Forderung-  des  M.  Vipsanius  Agrippa, 
die  Privatsammlungen  der  Allgemeinheit  zugäng'lich  zu  machen,  wieder 
auf.  Solange  nur  die  Fürsten  und  einzelne  hochgestellte  Persönlichkeiten 
sich  mit  dem  Sammeln  von  Kunstwerken  und  Raritäten  befaßten,  hatte 
man  darin  ein  Privileg  der  Macht  gesehen  und  einen  Luxus,  an  dem  der 
gemeine  Mann  einen  Anteil  selbstverständlich  nicht  haben  konnte.  Als 
aber  der  Sammeleifer  sich  ausbreitete  und  auch  die  bürgerlichen  Kreise 
ergriff,  da  ward  wie  in  der  augusteischen  Epoche  der  Wunsch  reg'e,  es 
möchte  ein  jeder  an  solchem  Besitz  Freude  und  Nutzen  haben  können. 

IL  Die  Entwicklung  der  Sammlungen  zu  Museen.  In  Italien 
und  Frankreich  waren  im  Verlaufe  des  17.  Jahrhunderts  die  Kunstsamm- 
lungen am  raschesten  an  Zahl  und  Bedeutung  gewachsen.  Aber  während 
man  im  Vatikan  imd  in  den  Palästen  und  Villen  der  Barberini,  Borghese, 
Ludovisi  u.  a.  an  dem  Besitze  allein  und  seiner  möglichst  glänzenden  Auf- 


I 


II.   Die  Entwicklung  der  Sammlungen  zu  Museen. 


351 


Stellung  sich  genügen  ließ,  begann  man  in  P>ankreich  in  weit  höherem 
Maße  noch,  als  es  im  16.  Jahrhundert  der  Fall  war,  den  vorbildlichen 
Wert  der  überlieferten  Kunst  für  die  Gegenwart  zu  schätzen  und  prak- 
tisch auszunützen.  Zum  ersten  Male  wurden  hier  Kunstsammlungen  zum 
Faktor  einer  weitschauenden  Wirtschaftspolitik  gemacht. 

Der  Staat  als  Beschützer  und  Förderer  von  Handel  und  Gewerbe 
nahm  unter  Louis  XJV.  zugleich  mit  der  gewerblichen  auch  die  künstle- 
rische Erziehung  in  die  Hand,  und  Colbert,  der  geniale  Organisator,  war 
es,  der  den  Lernbegierigen  die  königlichen  Sammmlungen  erschloß. 
Künstler  und  Kunsthandwerker  erhielten  im  Louvre  eigene  Ateliers.  Die 
Mitglieder  der  im  Jahre  1663  gegründeten  Akademie  der  Künste  ver- 
sammelten sich  am  ersten  Sonnabend  jeden  Monats  im  großen  Akademie- 
saal oder  in  der  Louvregalerie  imd  diskutierten  nach  einleitenden  Vor- 
trägen über  die  dort  vorhandenen  Kunstwerke.  Von  noch  größerer  Be- 
deutung für  die  Folgezeit  war,  daß  sie  im  Jahre  1667  auf  Betreiben  von 
Colbert  und  nach  einem  von  ihm  entworfenen  Programm  die  erste  Aus- 
stellung ihrer  eigenen  Werke  im  Palais  Royal  veranstalteten.  Von  da  ab 
fanden  solche  Ausstellungen  zunächst  ziemlich  regelmäßig  alle  zwei  Jahre, 
von  1706  an  mit  großen  Zwischenpausen  und  von  1737  ab  wieder  regel- 
mäßig, zuerst  jedes  Jahr,  dann  wieder  alle  zwei  Jahre  statt.  Durch  diese 
Ausstellungen  gewöhnte  sich  das  Publikum  daran,  den  Genuß  der  Kunst- 
werke als  ein  ihm  zukommendes  Recht  zu  betrachten.  Auch  die  im 
Jahre  1662  von  Colbert  ins  Leben  gerufene  Manufacture  Royale  des 
Meubles  de  la  Couronne  trug  dazu  bei,  das  Bedürfnis  und  die  Empfäng- 
lichkeit für  eine  höhere  künstlerische  Kultur  zu  steigern  und  zu  ver- 
breiten. Eine  Zentralwerkstätte  und  -schule  für  alle  Arten  der  dekora- 
tiven Kunst,  wie  wir  sie  uns  heute  noch  zu  wünschen  haben,  nahm  diese 
Anstalt  unentgeltlich  60 — 100  Zöglinge  auf,  bildete  sie  außer  in  ihrem 
Handwerk  allgemein  künstlerisch  durch  Zeichnen  nach  der  Antike  und 
nach  dem  lebenden  Modell  und  entließ  sie  nach  zehn  Jahren  mit  dem 
Meisterrecht  für  ganz  Frankreich.  Diese  Aussaat  trug  reiche  Früchte. 
Im  ganzen  Lande  erwachte  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  das  Interesse 
an  den  Fragen  des  Kunst-  und  Gewerbeunterrichts.  Immerhin  dauerte  es 
fast  hundert  Jahre,  ehe  sich  der  auch  bereits  von  Colbert  entwickelte 
Gedanke  der  Begründung  von  Provinzial-Zeichenschulen  verwirklichte. 
Das  Volk  brauchte  Zeit,  um  mündig  zu  werden,  aber  als  es  sich  seiner 
Kraft  bewußt  war,  verlangte  es  auch  stünnisch  Zutritt  zu  allem,  was 
seine  Bildung  fördern  und  seine  Erwerbstätigkeit  steigern  konnte. 

So  war  es  kein  Zufall,  daß  um  dieselbe  Zeit,  in  der  die  ersten  Pro- 
vinzial-Zeichenschulen ins  Leben  traten,  die  Verwaltung  der  königlichen 
Kunstsammlungen,  dem  Drängen  des  Publikums  nachgebend,  iio  Gemälde 
aus  Versailles  nach  dem  Palais  Luxembourg  bringen  ließ  und  sie  zu- 
sammen mit  der  hier  bereits  befindlichen  Rubensgalerie  vom  14.  Oktober 
1750   ab    am    Mittwoch    und    Sonnabend   jeder  Woche    zugänglich    machte. 


Staatliche 

Kunst-  und 

Gewürbupolitik 

in  Franlüetch. 


Die  erste nKunst- 
ausstellongen. 


Das  Verlangen 
nach  Zugäng- 
lichkeit der 
Kunstsamm- 
lungen. 


Teilweise 
Erfiillnng. 


5C2  Ludwig  Pali.At:    Kunst-  uml   Kunstpewerbe-Museen. 

Zu  gleicher  Zeit  brachte  man  alle  Gegenstände  des  von  Louis  XIV.  in 
Versailles  geschaffenen  Cabinet  de  Raret^s  zusammen  mit  dem  Inhalte 
des  Cabinet  des  Armes  in  den  Garde  Meuble  und  gestattete  am  ersten 
Dienstag  in  jedem  Monat  die  Besichtigung.  So  dankenswert  diese  Maß- 
nahmen für  die  Allgemeinheit  waren,  so  genügten  sie  doch  nicht  ihren 
Ansprüchen.  Sie  hingen  überdies  von  dem  Willen  des  Königs  ab  und 
konnten  jederzeit  zurückgenommen  werden,  was  denn  auch  unter  der 
Regierung  von  Louis  XVI.  geschah.  Unter  demselben  Regime  wurde 
ein  Plan  zu  einer  ständigen  Ausstellung  von  Meisterwerken  der  alten 
und  neuen  Kunst  in  der  großen  Galerie  des  Louvre  zwar  ausgearbeitet, 
aber  in  den  Akten  des  Ministeriums  begraben.  Es  bedurfte  der  Revo- 
lution, um  ihn  aus  dem  Zustande  der  „Erwägung"  zum  Leben  zu  er- 
wecken. 
Das  erste  Staat-  In  England  hatte  bereits  die  Revolution  von  1 64g  zur  Verstaatlichung 

liebe  Aluseum. 

königlichen  Kunstbesitzes  geführt.  Aber  auch  hier  dauerte  es  hundert 
Jahre,  bis  die  Idee  eines  allgemein  zugänglichen  Museums  in  dem  1753 
begründeten  Britischen  Museum  Gestalt  gewann;  und  obwohl  vom  Parla- 
ment ausdrücklich  bestimmt  wurde,  daß  das  Museum  dem  allgemeinen 
Gebrauch  und  Nutzen  des  Publikums  dienen  sollte,  ließ  doch  ebenso  wie 
in  Paris  die  Zugänglichkeit  auf  Jahrzehnte  hinaus  sehr  viel  zu  wünschen 
übrig.  Die  für  einen  Besuch  gewährte  Zeit  betrug  nur  zwei  Stunden. 
Auch  wurden  nicht  mehr  als  15  Personen  zu  gleicher  Zeit  zugelassen. 
Ferner  mußte  man  sich  einige  Tage  vorher  unter  Angabe  von  Tauf-  und 
Zunamen  beim  Pförtner  anmelden  und  durfte  dann  nach  einigen  Tagen 
die  erforderlichen  Billetts  abholen,  auf  denen  Tag  und  Stunde,  wann  man 
zugelassen  werden  sollte,  angegeben  war.  Bei  so  beschränktem  Eintritt 
konnte  dieses  erste  staatliche  Museum  für  die  Entwicklung  der  öffent- 
lichen Sammlungen  nicht  von  einschneidender  Bedeutung  werden,  als 
Kunstmuseum  um  so  weniger,  als  sein  Inhalt  in  der  Hauptsache  nur  aus 
Büchern,  Naturalien  und  kleineren  Altertümern  bestand. 
Die  französisciie  Der   wirkUche   Fortschritt   vollzog    sich    in   Frankreich.     Hier  riß   die 

Revolution.      t-»  -i       •  •       r^    i 

Begründung  des  Revolution  vou  1789  die  Schranken  nieder,  die  das  Volk  von  den  Kunst- 

Musee  National  .       . 

du  Louvre.  schatzen  des  Königs  und  der  Kirche  trennte.  Daß  man  nicht  wild  zer- 
störte und  verschleuderte,  was  man  vorfand,  sondern  auch  in  den  stür- 
mischsten Tagen  der  Nationalversammlung  und  des  Konvents  bestrebt 
war,  zu  erhalten  und  zu  ordnen,  zeigt,  wie  stark  das  Bewußtsein  von  dem 
bildenden  Werte  der  Kunst  und  der  Stolz  auf  ihren  Besitz  das  zur  Macht 
gelangende  Bürgertum  durchdrang.  Man  wollte  nicht  vernichten,  was 
das  Königtum  durch  Aussaat  und  Pflege  geschaffen  hatte,  sondern  die 
Frucht  von  dem  Baume  pflücken,  zu  dem  der  Zugang,  kaum  geöffnet,  von 
einem  kurzsichtigen  Regiment  wieder  verwehrt  worden  war.  Aber  die 
Ernte,  die  man  nun  mit  einem  Male  zu  bergen  hatte,  war  zu  groß,  als 
daß  sie  alsbald  sorgfältig  und  übersichtlich  hätte  geordnet  werden  können. 
Es   bedurfte    einer  Unzahl  von  Dekreten,   Protokollen   und  Berichten,    ehe 


in.  Die  Museen  im    19.  Jahrhundert.  ^; ^ 

das  National-Museum  auf  Beschluß  des  Konvents  vom  27.  Juli  1793  in 
der  großen  Galerie  des  Louvre  eröffnet  werden  konnte.  Damit  hatte 
wenigstens  der  größere  Teil  der  bis  dahin  ohne  Inventare  und  Kontrolle 
an  verschiedenen  Orten  untergebrachten  Kunstschätze  ein  sicheres  Asyl 
gefunden;  aber  wieder  verstrichen  drei  Jahre,  bis  die  Räume  des  Louvre 
so  weit  restauriert  und  die  Objekte  so  weit  geordnet  und  instandgesetzt 
waren,  daß  sie  dem  Publikum,  für  das  sie  bis  dahin  mit  seltenen  Aus- 
nahmen verschlossen  waren,  wirklich  zugänglich  gemacht  werden  konnten. 
Da  der  Louvre  bei  weitem  nicht  alles  fassen  konnte,  was  die  vom 
Konvent    ernannte   Commission  temporaire   des  Arts  als   für  die  Wissen-  dm  Conscn,a- 

toire  des   Ans 

Schaft,  die  Kunst  und  das  Handwerk  geeignet  aus  dem  m  den  Besitz  der  et  iieHers. 
Nation  übergegangenen  Schatze  ausschied,  tat  man  alsbald  den  weiteren 
Schritt  und  schuf  das  Conservatoire  des  Arts  et  Metiers.  In  diesem  ver- 
einigte man  die  von  der  Academie  des  Sciences  in  den  letzten  hundert 
Jahren  zusammengebrachte  Kollektion  von  Maschinen,  die  bis  dahin  im 
Louvre  aufgestellt  war,  mit  der  von  dem  Mechaniker  Vaucanson  im  Jahre 
1775  begründeten  und  bei  seinem  Tode  der  Regierung  vermachten  ersten 
öffentlichen  Sammlung  von  Maschinen,  Instrumenten  und  Werkzeugen. 
Der  Zweck  dieser  Anstalt,  des  Vorbildes  für  alle  späteren  Gewerbe-  und 
Industriemuseen,  war  von  vornherein  ein  erziehlicher.  Durch  praktischen 
Anschauungsunterricht  sollten  Handwerker  und  Industrielle  belehrt  und 
gefordert  werden.  1806  wurde  mit  dem  Museum  eine  Gewerbeschule  und 
181 7  eine  Hochschule  verbunden,  in  der  öffenllich  und  unentgeltlich  die 
Anwendung  der  Wissenschaft  auf  die  Industrie  gelehrt  werden  sollte. 

Diese  Einrichtungen   setzten  Frankreich  in   den  Stand,    mit   der  von   .Beginn  des 

f^  •  1  Übergewichts 

Enerland  auscfehenden   industriellen  Entwicklung  Schritt    zu    halten;    aber  von  Wissenschaft 

ob  ö  _  .       und  Industrie. 

sie  bewirkten  zugleich,  daß  die  von  der  Wissenschaft  genährte  Industrie 
auch  das  Kunstgewerbe  in  Beschlag  nahm  und  seine  natürliche  Verbindung 
mit  der  bildenden  Kunst  löste.  Als  Gegengewicht  gegen  diese  wissenschaft- 
lich-technischen Tendenzen  hätte  man  mit  den  Kunstsammlungen  eben- 
falls Lehranstalten,  und  zwar  solche  für  Künstler  und  Kunsthandwerker 
nach  Art  der  von  Colbert  gegründeten  —  inzwischen  in  ihrem  Betriebe 
auf  die  Teppichwirkerei  beschränkten  —  Manufacture  Royale  des  Meubles 
ins  Leben  rufen  müssen.  Statt  dessen  wurden  die  Künstleratcliers  im 
Louvre  aufgehoben  und  1795  eine  Spezialschule  für  die  hohe  Kunst,  die 
Ecole  des  Beaux-Arts  begründet.  Die  Museen  sollten  natürlich  dem 
Künstler  weiter  als  Studienfeld  dienen;  aber  auch  sie  gerieten  bald  ganz 
in  den  Bann  der  rasch  emporblühenden  Wissenschaft. 

III.  Die   Museen  im    10.  Jahrhundert.     Das  Bedürfnis    nach   einer  SystcmatUche 

Ordnunf;  und 

systematischen  Ordnung  der  Kunst-  und  Raritätenkammern  war  schon  seit    Aufstellung. 

•'  ^  ....  Aufliisunff  der 

langem   empfunden   worden.     Auch  an   praktischen   Ratschlägen    hatte   es'Kunstkammeni. 
nicht  gefehlt;  aber  diese  bezogen  sich  mehr  auf  die  Naturalien  als  auf  die 
Ximstgegenstände.   Bilder  imd  Statuen  dienten  in  erster  Linie  als  Schmuck 

Dra  Kultur  der  Gbgbnwakt.    I.  i.  23 


354 


Ludwig    I'ali.at:    Kunst-  und  Kunstgewerbe-Museen. 


galerieen. 


und  mußten  sich  deshalb  da,  wo  überhaupt  auf  eine  gute  Aufstellung  Wert 
gelegt  wurde,  in  den  geg-ebenen  architektonischen  und  dekorativen  Rah- 
men fügen.  Fragmentierte  Werke  der  antiken  Kunst  wurden  durchweg 
ergänzt,  wobei  neben  dem  dekorativen  Zweck  meist  modische  Liebhaberei, 
wie  die  Vorliebe  für  bestimmte  allegorische  Figuren,  den  Ausschlag  gab. 
Daß  man  damit  viel  anspruchsvolles  und  widersinniges  Flickwerk  schuf, 
des  wurde  man  sich  in  der  Leidenschaft  des  Sammeins  und  Dekorierens 
lange  nicht  bewußt.  Erst  als  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  der  prunk- 
volle Rahmen  sich  löste,  in  den  die  sehr  ungleichwertigen  Kunstschätze 
gefaßt  waren,  und  gleichzeitig  die  archäologische  Wissenschaft  zwischen 
Griechisch  und  Römisch  zu  scheiden  begann,  trat  das  Bedürfnis  nach 
einer  Auslese  und  einer  der  historischen  und  künstlerischen  Bedeutung 
der  Kunstwerke  entsprechenden  Aufstellung  unabweisbar  hervor.  Man 
erkannte  in  einer  solchen  Ordnung  die  notwendige  Grundlage  für  die  er- 
zieherische Wirkung,  die  man  von  den  öffentlichen  Museen  erhoffte. 

Die  GemäJde-  Verhältnismäßig  leicht  ließ  sich  in  den  größeren  Gemäldesammlungen 

Gutes  und  Mittelmäßiges  sondern  und  das  Aufsteilenswerte  nach  Epochen 
und  Schulen  ordnen.  So  geschah  es  z.  B.  in  dem  von  Friedrich  Wilhelm  IIL 
gestifteten  Berliner  Museum,  von  dessen  Gemäldegalerie  schon  bei  der 
Eröffnung  im  Jahre  1830  Wilhelm  von  Humboldt  rühmen  konnte,  daß  sie 
im  Gegensatz  zu  den  meisten,  ja  vielleicht  zu  allen  übrigen  Galerieen, 
welche  nach  und  nach  ohne  bestimmten  Plan  zusammengekommen  seien, 
sich  systematisch  über  alle  Perioden  der  Malerei  ausdehne,  und  daß  die 
Geschichte  der  Kunst  sich  in  ihr  von  ihren  Anfängen  an  verfolgen  lasse. 
Auch  die  für  die  weitere  Entwicklung  der  Museen  wichtige  prinzipielle 
Frage,  ob  die  vorhandenen  Lücken  rasch  durch  Kopieen  oder  allmählich 
durch  Originale  auszufüllen  seien,  wurde  bei  den  Gemäldegalerieen  ver- 
hältnismäßig leicht  zugunsten  der  Originale  entschieden.  Die  relative 
Vollständigkeit  und  der  vorhandene  Bestand  an  wertvollen  Originalen, 
dem  man  nicht  minderwertige  Kopieen  zugesellen  mochte,  gab  dabei  den 
Ausschlag. 

Die  Antiken-  Weit    Schwieriger   war    es    auf  dem  Gebiete    der    antiken  Kunst,    die 

neuen  Grundsätze  ohne  Konzessionen  durchzuführen.  Die  junge  Wissen- 
schaft der  Archäologie  bot  für  die  Scheidung  der  Bildwerke  nach  Stil 
und  Zeit  einstweilen  nur  geringe  Anhaltspunkte,  und  die  Sammlungen 
selbst  waren  zu  sehr  zusammengewürfelt  und  zu  lückenhaft,  als  daß  sie 
sich  in  eine  streng  historische  Ordnung  hätten  bringen  lassen.  Die  Auf- 
stellung wvirde  so  im  günstigsten  Falle  ein  Kompromiß  zwischen  dem  bis 
dahin  üblichen  dekorativen  und  dem  neuen  wissenschaftlichen  Prinzip. 
Vor  allem  fehlte  es  an  Originalen  der  frühen  und  der  reifen  griechischen 
^Kunst.  Um  solche  zu  beschaffen,  bedurfte  es  besonderer  Anstrengungen 
mußte  der  Boden  selbst,  der  sie  erzeugt  hatte,  unter  Aufwendung  großer 
Mittel  durchsucht  werden.  Die  Engländer  und  die  Franzosen  gingen  auf 
diesem  Wege    mit    Energie    voran,    und    bald    füllte    sich    namentlich    das 


museen. 


in.  Die  Museen  im   19.  Jahrhundert.  95 e 

Britische  Museum  mit  den  köstlichsten  Schätzen  aus  allen  Gebieten  der 
orientalisch-griechischen  Kultur.  Von  den  kleineren  Staaten  erhielt  Bayern 
durch  die  Ergebnisse  der  äginetischen  Expedition  einen  Besitz,  der  seine 
1830  eröffnete  Glj'ptothek  gleich  in  die  vorderste  Reihe  der  Antiken- 
museen stellte.  Trotz  dieser  Erfolge  dauerte  es  aber  verhältnismäßig  wisscnschaft- 
lange,  bis  auch  die  übrigen  Museen,  soweit  sie  auf  ihre  Weiterentwicklung  nehmungen. 
bedacht  waren,  sich  zu  eignen  Ausgrabungen  entschlossen.  Mittlerweile 
wuchsen  die  Ansprüche,  welche  die  archäologische  und  die  historische 
Wissenschaft  an  solche  Untersuchungen  stellte.  Während  jene  früheren 
Expeditionen  sich  auf  das  Aufsuchen  von  Museumsstücken  beschränkt 
hatten,  konnten  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  insbesondere  von  Wien 
und  Berlin  aus  organisierten  Unternehmungen  nicht  umhin,  alles,  was  sie 
anfaßten,  nach  jeder  Richtung  hin  auszuschöpfen.  Das  historische  Ge- 
wissen ist  jetzt  so  geschärft,  daß  man  es  als  ein  Verbrechen  ansehen 
würde,  wenn  ein  Museum  eine  Ausgrabungsstätte  aufgeben  wollte,  nach- 
dem es  durch  glückliche  Funde  seinem  eigenen  Bedürfnisse  genügt  hätte. 
Die  Antikenmuseen,  die  einst  reine  Kunstmuseen  waren,  stehen  damit 
ganz  im  Dienste  der  Wissenschaft. 

Neben  den  Originalsammlungen  schuf  das  Bedürfnis  nach  einem  mög-  uie  Abguu- 
lichst  vollständigen  Studien-  und  Lehrmaterial  teUs  in  Verbindung  mit  '""  ""^°"' 
den  Antikengalerieen,  teils  selbständig  oder  im  Anschluß  an  die  Universi- 
täten Abgußsammlungen,  die  bald  ein  übersichtliches  Bild  der  Entwick- 
lung der  antiken  Kunst  darboten.  Wie  diese  Sammlungen  zumeist  un- 
abhängig von  den  schon  früher  vorhandenen  AbgTißsammlungen  der 
Kunstschulen  entstanden,  so  kamen  sie  auch  und  kommen  noch  heut- 
zutage fast  ausschließlich  der  Wissenschaft  zugute,  auf  deren  Boden  sie 
erwuchsen.  Kunst  und  Wissenschaft  sind  hier  so  weit,  als  es  überhaupt 
möglich  ist,  voneinander  abgerückt;  denn  während  der  Archäologe  durch 
die  Abgußsammlungen  rasch  mit  den  neuauftauchenden  Werken  der  origi- 
nalen griechischen  Kunst  vertraut  wird  und  ihren  Wert  gegenüber  dem 
der  späteren  Nachbildungen  und  Kopieen  erkennen  lernt,  zeichnet  der 
junge  Künstler  unentwegt  nach  der  sogenannten  „Antike"  und  kommt 
vielleicht  erst  nach  Jahren  zufällig  zu  der  Einsicht,  daß  die  wirklich  antike 
Kunst  etwas  ganz  anderes  ist,  als  was  er  sich  nach  den  berühmten  Muster- 
beispielen vorgestellt  und  eingeprägt  hat. 

Analog  den  Gipssammlungen  entwickelten  sich  die  Nebonzweige  der  r>ie  Neben- 
alten  Kunstkammern,  die  Antiquarien,  die  Kupferstich-  und  Münzkabinette,  Kunstkammern. 
die  prähistorischen,  ethnologischen  und  ägyptischen  Sammlungen  rasch  zu 
Archiven  und  Arbeitsstätten  der  Wissenschaft.  Der  Sammeleifer  und  der 
Forschungstrieb  fanden  hier  mehr  Genüge  als  in  den  Galerieen  der  hohen 
Kunst  Auch  die  Prinzipien  wissenschaftlicher  Ordnung  ließen  sich  leichter 
als  dort  zur  Geltung  bringen. 

Während    so    in    den    größeren   Residenzen    dank    der   Initiative    ein-  Die  Museen  in 
sichtsvoller  Fürsten  und  Staatsverwaltungen  aus  den  Kunst-  und  Raritäten-      städtoo. 

23* 


356 


Ludwig   Pallat:     Kunst-   iiiul    ICimslf'CWorbc-Miiscen. 


kammcrn  selbständige  Museen  erwuchsen  und  sich  zu  Pflanzschulen  neuer 
Wissenschaftszweige  entwickelten,  fristeten  die  in  den  kleineren  Städten 
teils  in  fürstlichem,  teils  in  städtischem  Besitz  vorhandenen  Sammlungen 
noch  lange  ein  nutzloses  Dasein.  In  Frankreich  hatte  zu  Beginn  des 
neuen  Jahrhunderts  das  Konsulat  Provinzialmuseen  ins  Leben  zu  rufen  ge- 
sucht, indem  es  aus  der  Fülle  der  Kunstwerke,  die  infolge  der  Revolution 
und  der  Krieg"e  Napoleons  in  Paris  zusammenströmten,  einen  Teil  den 
Departements  überwies.  Diese  künstliche  Gründung  hatte  aber  keinen 
dauernden  Erfolg.  Es  fehlte  zu  einer  günstigen  Entwicklung  dieser  Samm- 
lungen noch  an  dem  entgegenkommenden  und  selbsttätigen  Interesse  der 
lokalen  und  provinzialen  Behörden.  Auch  in  Deutschland  wußte  man  mit 
dem  durch  die  Säkularisation  der  geistlichen  Stifte  und  Klöster  frei- 
werdenden Besitz  zunächst  nicht  viel  anzufangen.  Man  begnügte  sich 
nach  wie  vor,  die  in  den  Archiven,  Stadtbibliotheken  usw.  ang'esammelten 
Kunstgegenstände  und  Raritäten  zu  behüten  und  im  übrigen  die  Pflegte 
der  Kunst  und  ihrer  Denkmäler  einzelnen  Privaten  zu  überlassen.  Erst 
im  zweiten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts  wurde  das  Bedürfnis  nach  archäo- 
logischer Belehrung"  und  künstlericher  Anregung  so  allgemein,  daß  es  aus 
sich  selbst  heraus  neue  Formen  der  Sammeltätigkeit  entwickelte.  Es  ent- 
standen die  ersten  Altertums-  und  Geschichtsvereine,  die  ersten  Kunst- 
vereine, Museumsgesellschaften  usw.  Der  Zweck  dieser  Gründungen  war, 
durch  Sammeln,  Ordnen  und  Vorführen  von  archäologischen  und  Kunst- 
gegenständen der  Allgemeinheit  das  zu  bieten,  was  sich  bisher  nur  der 
reiche  Liebhaber  hatte  g-estatten  können. 
Die  Kunst-  Wenn  wir  heute  die  Ergebnisse  der  Tätigkeit  dieser  zum  Teil  noch  jetzt 

bestehenden  Vereine  und  der  später  gegründeten  überblicken,  so  müssen  wir 
sagen,  daß  auch  sie  im  allgemeinen  der  Wissenschaft  mehr  Nutzen  gebracht 
hat  als  der  Kunst.  In  die  Sammlung-en  alter  Gemälde  und  Plastiken  wollte 
Jahrzehnte  hindurch  kein  rechtes  Leben  kommen.  Vielfach  schätzte  man 
die  vorhandenen  Kunstwerke  so  gering  ein,  daß  man  sie  der  öffentlichen 
Zurschaustellung  überhaupt  nicht  für  wert  hielt.  Zur  Vermehrung  fehlte 
es  an  Mitteln  und,  wo  diese  vorhanden  waren,  meist  an  Kritik.  Für  ein 
bescheidenes  Sichbeschränken  auf  die  lokal  oder  landschaftlich  interessan- 
ten Werke  war  das  historische  Bedürfnis  noch  nicht  differenziert  genug. 
Auch  von  der  Pflege  der  neueren  Kunst  läßt  sich  nicht  behaupten,  daß 
ihr  die  Vereinstätigkeit  sonderlich  viel  genützt  hätte.  Das  Interesse  und 
die  Beteiligung  war  hier  wohl  größer,  aber  nicht  der  Effekt;  denn  während 
man  sich  der  alten  Kunst  gegenüber  den  Mangel  an  Sachverständnis  ein- 
gestand und  lieber  auf  jede  energische  Tätigkeit  verzichtete,  als  daß  man 
den  Ankauf  eines  möglicherweise  gefälschten  Werkes  riskierte,  hielt  sich 
zum  Urteil  über  moderne  Kunst  ein  jedes  Vereinsmitgiied  für  berechtigt. 
Für  die  Gestaltung  der  Kunstvereinssammlungen  gab  so  nicht  das  Ver- 
ständnis der  wenigen,  sondern  der  Durchschnittsgeschmack  der  Menge 
den  Ausschlag.     Auch    heute    sind   die   meisten    dieser  Vereine  noch  weit 


vereine. 


III.   Die   Museen  im    19.  Jahrhundert.  -icj 

von  der  Einsicht  entfernt,  daß  es  nicht  die  Kunst  fordern  und  den  Ge- 
schmack des  Publikums  bilden  heißt,  wenn  mah  nur  nach  dem  Namen 
und  der  äußerlichen  Wohlgefälligkeit  kauft.  Die  Mehrzahl  der  Städte, 
die  sich  gegenwärtig  ansehnlicher  Kunstsammlungen  erfreuen,  verdanken 
sie  nicht  dem  Wirken  der  Vereine,  sondern  opferwilligen  Sammlern  und 
freigebigen  Bürgern.  Immerhin  muß  man  als  Leistung  der  Vereine  an- 
erkennen, daß  sie  Interesse  und  Stimmung  geweckt  und  so  die  hervor- 
ragenden Stiftungen  Einzelner  mit  hervorgerufen  haben. 

Das  Gebiet  der  Altertumsfunde  und  der  historischen  Denkmäler  lag  nie  Aiiertums- 
von  vornherein  tur  eine  erfolgreiche  Vereinstätigkeit  günstiger.  Die  ™"""'- 
Schätze,  die  der  heimische  Boden  barg  oder  die  in  Rumpelkammern  Sorg- 
losigkeit und  Nichtachtung  verkommen  ließ,  konnten  mit  verhältnismäßig 
geringen  Mitteln  erworben  und  geborgen  werden,  Dabei  war  es  jedem 
Vereinsmitglied  möglich  mitzuwirken,  indem  es  in  seiner  nächsten  Um- 
gebung nach  Altertümern  spürte  und  dafür  sorgte,  daß  solche,  die  zu- 
fällig zutage  traten,  nicht  verkamen.  Leichter  auch  als  für  die  Kunst 
fanden  sich  unter  Lehrern,  Geistlichen,  Ärzten  usw.,  wenn  nicht  gerade 
Sachverständige,  so  doch  Beobachter,  die  durch  sorgfältige  Sammelarbeit 
der  Wissenschaft  zu  dienen  imstande  waren.  Das  Interesse  der  Vereine 
richtete  sich,  von  der  klassischen  Archäologie  angeregt,  zunächst  auf  die 
römischen  und  vorgeschichtlichen  Altertümer.  Wie  sie  hier  ihre  ersten 
Erfolge  erzielten,  so  haben  sie  auch  in  der  Folge  auf  diesen  Gebieten  das 
meiste  geleistet.  Eine  ganze  Reihe  prähistorischer,  römisch-germanischer, 
römisch-keltischer  usw.  Sammlungen  haben  neben  den  Museen  der  Haupt- 
städte Ansehen  und  selbständige  Bedeutung  für  die  Wissenschaft  ge- 
wonnen. Mit  Genugtuung  dürfen  die  deutschen  Vereine  auf  das  Römisch- 
Germanische  Zentralmuseum  blicken,  das  sie  im  Jahre  1852  in  Mainz  be- 
gründet haben. 

Für  die  Kulturdenkmäler  der  geschichtlichen  Zeit  wurde  das  Interesse  DieiGeschichw- 
erst  durch  die  Romantik  rege.  Erst  aus  der  Schwärmerei  für  die  natio- ersten*  Betnünt 
nale  Vergangenheit  entsprang  der  Wunsch,  möglichst  viel  von  dem  zu  ' "^naimu»cel ° 
erhalten,  was  sich  aus  dem  Mittelalter  und  der  Renaissance  durch  die 
Stürme  der  Jahrhunderte  hindurch  gerettet  hatte.  Soweit  dies  durch 
Sammeln  geschehen  konnte,  waren  Privatleute  die  ersten,  die  sich  mit 
Erfolg  betätigten:  so  der  Marquis  von  Sommerard,  der  1833  ™  Hotel 
de  Cluny  die  Sammlung  mittelalterlicher  und  Renaissance-Gegenstände 
begründete,  die  nach  seinem  Tode  der  Staate  erwarb;  so  der  Freiherr  von 
Aufseß,  der  schon  in  den  zwanziger  Jahren  die  Anfänge  seiner  kultur- 
und  kunstgeschichtlichen  Sammlungen  schuf,  die  später  den  Grundstock 
des  von  ihm  ins  Leben  gerufenen  Germanischen  Museums  in  Nürnberg 
bilden  sollten.  Für  die  Vereine  war  das  Sammeln  kulturgeschichtlicher 
Denkmäler  zunächst  nur  ein  Beiwerk  zu  ihren  lokalhistorischen  For- 
schungen. Und  auch  für  den  Freiherm  von  Aufseß  standen  bei  der  Be- 
gründung des  Nationalmuseums,   die  auf  seinen  Antrag   1852  in  Dresden 


Tcg  Ludwig  Pallat:    Kunst-  und  Kunstgeweibe-Museen. 

von  den  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsforschern  beschlossen  wurde, 
die  Kunst-  und  Altertumssammlungen  erst  in  zweiter  Linie  hinter  der 
Sammlung  des  Quellenmateriales  für  die  deutsche  Geschichte.  Erst  in 
den  sechziger  und  siebziger  Jahren  beg-annen  sich  die  kulturhistorischen 
Museen  selbständig  zu  entwickeln.  Außer  der  Hebung  des  National- 
gefiihls  kam  ihnen  die  neueinsetzende  kunstgewerbliche  Bewegung  zugute. 

Die  kuDst-  Weite  Gebiete  des  Kunsthandwerks  waren  seit  Beginn  des  Jahrhunderts 

Bewegung,  von  der  Industrie  in  Beschlag  genommen.  Die  Vertreter  der  hohen  Kunst 
hatten  es  leichten  Herzens  geschehen  lassen.  Auch  bei  den  Museums- 
gründungen waren  aller  Augen  auf  die  Gemälde  und  die  antiken  Skulp- 
turen gerichtet.  Daneben  fanden  allenfalls  noch  die  Antiquarien  Inter- 
esse. Der  sonstige  Bestand  der  alten  Kunstkammern  wurde  weiter  auf- 
bewahrt, aber  einen  besonderen,  bildenden  Wert  maß  man  ihm  nicht  bei. 

Die  Welt-  Dieser  Zustand  dauerte,  bis  durch  die  Weltausstellung  in  London  vom  Jahre 
London  185 1.  1851  aller  Welt  klar  wurde,  daß  es  mit  der  Vernachlässigung  des  Kunst- 
handwerkes so  wie  bis  dahin  nicht  weitergehen  dürfe.  Unter  den  Ein- 
sichtigen, die  zur  Umkehr  mahnten,  erhob  besonders  klar  und  eindrucks- 
voll Gottfried  Semper  seine  Stimme.  Er  erkannte  scharf  die  Ursachen 
des  offenkundigen  Niederganges  und  gab  mit  überzeugenden  Worten 
Mittel  und  Wege  zum  neuen  Aufstieg  an.  Eine  seiner  Forderungen  war 
die  Begründung  von  Museen,  die  dem  Handwerker  gute  Beispiele  der 
einzelnen  Zweige  des  Kunstgewerbes  vorführen  und  ihm  das  Studium 
derselben  möglichst  leicht  machen  sollten.  Dieser  Gedanke  fiel  vor  allen 
anderen  auf  fruchtbaren  Boden.  Die  Meinung  von  dem  bildenden  Werte 
der  Museen  und  ihrer  Wirkungsmöglichkeit  war  so  hoch  gestiegen,  daß 
man  sich  ohne  weiteres  von  ihnen  auch  die  beste  Hilfe  für  die  Wieder- 
belebung des  Kunsthandwerks  versprach.  Schon  1852  wurde  in  London 
als  ein  Teil  des  großen  Zentralinstitutes  für  Kunst  und  Wissenschaft, 
des  South-Kensington-Museums,  ein  Museum  für  omamentale  Kunst  ge- 
gründet. Die  Begeisterung,  aus  der  diese  Schöpfung  entstand,  griff  bald 
auch  auf  den  Kontinent  über  und  rief  hier  in  rascher  Folge  eine  statt- 
liche Zahl  von  Gewerbe-  und  Kunstgewerbemuseen  ins  Leben. 

Die  Kuust-  Die  neuen  Museen  sollten  in  erster  Linie  den  allgemeinen  Geschmack 

gewer  emuseen.  ^^^^^^  indem  sic  ihn  von  den  kunstverlassenen  Erzeugnissen  der  Industrie 
auf  die  Meisterwerke  des  guten  alten  Kunsthandwerkes  hinlenkten.  Daß  man 
sich  hierbei  nicht  auf  das  bloße  Zurschaustellen  beschränken  durfte,  hatte 
man  schon  an  den  Kunstmuseen  erfahren.  Es  mußten  neue  Formen  der 
Belelu-ung  und  Anregung  geschaffen  werden.  Auch  der  gemeine  Mann,  der 
den  Schätzen  der  großen  Galerieen  scheu  und  verständnislos  gegenüber- 
stand, sollte  sich  in  den  neuen  Museen  heimisch  fühlen  und  Nutzen  daraus 
ziehen  können.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  gemeinverständliche  Führer 
herausgegeben,  die  einzelnen  Gegenstände  mit  erklärenden  Bezeichnungen 
versehen  und  Vorträge  und  Vortragszyklen  in  den  Museen  selbst  ein- 
gerichtet.    Eine   weitere  Aufgabe  war,   das  Publikum   mit  den  im  Privat- 


ni.  Die  Museen  im   ig.  Jahrhundert.  350 

oder  sonstigen  Besitz  befindlichen  Schätzen  alter  Kunst  und  mit  den 
Fortschritten  der  Gegenwart  bekannt  zu  machen.  Die  in  dieser  Absicht 
zuerst  beim  South-Kensington-Museum  eingerichteten  Leihausstellungen 
und  permanenten  Vorführungen  neuer  Erzeugnisse  des  Kunsthandwerkes 
wurden  mit  der  Zeit  das  beste  Agitationsmittel  der  Kunstgewerbemuseen 
und  zugleich  eines  der  Hauptmerkmale  des  in  ihnen  neugeschaffenen 
Typus  des  „arbeitenden  Museums".  Weniger  allgemein  haben  sich  die 
ebenfalls  von  dem  Londoner  Museum  zuerst  veranstalteten  Wanderaus- 
stellungen eingebürgert.  Je  zahlreicher  Kunstgewerbemuseen  auch  in  den 
Provinzen  eingerichtet  wurden,  desto  geringer  wurde  das  Bedürfnis  nach 
Ausstellungen  von  Gegenständen  aus  dem  Besitze  der  Zentralsammlungen. 

Waren    diese   Leih-    und  W^anderausstellungen    ein    völlig   neuer   Ge-  Kunstgcwcrbe- 

-III*        T^  11  !•  -IT»*-  schulen  in   Ver- 

danke, so  suchte  man  durch  die  Kunstschulen,    die    man  mit  den  Museen  bindung  mit  den 

verband,  Anschauung  und  Unterricht  in  einer  Weise  zu  vereinigen,  wie 
sie  für  Gewerbe  und  Industrie  in  dem  Conservatoire  des  Arts  et  Metiers 
bereits  vorbildlich  gegeben  war.  Man  hoffte  damit  am  ehesten  den 
Schaden  auszugleichen,  den  die  Loslösung  des  Handwerkes  von  der 
Kunst  und  die  Übermacht  der  Maschine  gestiftet  hatte.  Die  Sammlungen 
selbst  sollten  das  Studienmaterial  für  die  Schule  bilden,  für  deren  Zwecke 
es  jederzeit  zur  Verfüg"ung  stand.  Neben  den  Originalsammlungen  wurden 
besondere  Sammlungen  von  graphischen  Vorbildern  und  Gipsabgüssen 
angelegt,  die  im  Verein  mit  Fachbibliotheken  sowohl  der  Schule  als  auch 
den  Besuchern  des  Museums  dienen  sollten.  An  einigen  größeren  An- 
stalten hat  sich  aus  diesen  Nebenzweigen  ein  lebhafter  Vertrieb  von 
Lehrmitteln  an  die  Museen  der  Provinz  und  des  Auslandes  entwickelt. 

So  praktisch  alle   diese  Maßnahmen  gedacht  waren,  so  verhinderten  Entwicklung  m 

11-1  ifti-  •  i-'i  TT-  1  •  *i        historischen 

Sie  doch  nicht,  daß  die  eigentlichen  Kunstgewerbemuseen,  wie  sie  sich  Mnseen. 
unter  Beiseitesetzung  der  gewerblich-technischen  Interessen  namentlich  in 
Norddeutschland  entwickelten,  bald  ebenso  wie  die  Kunstsammlungen  in 
die  rein  wissenschaftliche  Richtung  gedrängt  wurden.  Im  allgemeinen  voll- 
zog sich  die  Entwicklung  so,  daß  man  die  Restbestände  der  alten  Kunst- 
kammem  und  was  sonst  aus  öffentlichem  und  privatem  Besitze  überwiesen 
wurde,  systematisch  sowohl  nach  technologischen  wie  nach  historischen 
Gesichtspunkten  ordnete.  Indem  man  dann  die  vorhandenen  Lücken  durch 
tj'pisch  und  künstlerisch  wertvolle  Objekte  zu.  ergänzen  suchte,  kam  man 
immer  mehr  zu  der  Einsicht,  daß  die  Bedeutung  der  Einzelstücke  nur  in 
dem  Rahmen,  für  den  sie  geschaffen  waren,  voll  gewürdigt  werden  könnte. 
Je  weiter  diese  Erkenntnis  vorschritt,  desto  mehr  erhielten  die  Samm- 
lungen kulturgeschichtlichen  Charakter  und  berührten  sich  bald  eng  mit 
den  Nationalmuseen,  die  ihrerseits  durch  das  kunstgewerbliche  Interesse 
stark  gefördert  und  in  ihrer  Gestaltung  beeinflußt  wurden.  Diese  Ent- 
wicklung hatte,  solange  das  Kunsthandwerk  sich  in  historischen  Bahnen 
bewegte,  nichts  Bedenkliches,  wenn  man  auch  manchem  Museum  vielleicht 
mit  Recht  den  Vorwurf  machen  konnte,  daß  es  das  Interesse  der  Samm- 


,Aq  Ludwig   Pallat:    Kunst-  und   ICunstgcweibc-Museen. 

lung  dem  des  Handwerks,  das  es  fördern  sollte,  voranstellte.  Seit  aber 
infolge  der  kunstgewerblichen  Bewegung  der  letzten  Jahre  das  Interesse 
an  den  historischen  Vorbildern  erheblich  gesunken  ist,  haben  die  Kunst- 
gewerbemuseen zum  Teil  die  Fühlung  mit  den  Bedürfnissen  der  Gegen- 
wart verloren  und  werden  von  den  Vorwürfen  mitgetroffen,  die  man  gegen 
die  historischen  Kunstmuseen  erhebt. 

Die  Museums-  IV.    Dic  Museen  in  der  Gegenwart.     Ausblicke.     Man  ist  unzu- 

geiehrten.     jy^g^jg^^    ^^^^   ^^^   Museen  —  trotz   ihrer   glänzenden  Entwicklung,    auf  die 
man  nebenher  natürlich  stolz  ist.     Die  letzten  Gründe  dieser  Unzufrieden- 
heit   sind    Empfindungen    und    Anschauungen,    die    sich    nicht    gegen    die 
Museen   allein  richten.     Man  klagt  über  einseitige  Verstandesbildung  und 
wünscht   mehr  Kultur   des  Gefühls   und    mehr  Entwicklung   der   schöpferi- 
schen   Kräfte.      Von    den    Museen    heißt    es    darum:    sie    seien    nicht    der 
Wissenschaft  und  der  Kunsthistoriker  wegen  da.    Dabei  vergißt  man  frei- 
lich,  daß    es  viele  Museumsgelehrte  gibt,    die  ihre  Erfahrung  und  ihr  Ur- 
teil  nicht   in   wissenschaftlichen  Büchern   vergraben   oder  nur  wieder  dem 
Museum   zugute   kommen   lassen,   sondern   energisch   in  die  Breite  wirken 
und   an    ihrem   Teil   dazu   beitragen,    den  Sinn   für  Kunst   zu   beleben  und 
zu   vertiefen.     Schon   ist  ein  ganzer  Stamm  von  solchen  Gelehrten  in  und 
durch   die  Museen   erwachsen;   und   wir  Deutsche  können  mit  besonderem 
Stolze   auf  die  KönigUchen  Museen   in  Berlin  blicken,   die  in  den  letzten 
25  Jahren   unter   der  Leitung  von   Richard  Schöne   sich   nicht  nur   zu   be- 
deutenden Arbeitsstätten    der  Wissenschaft,   sondern   auch  zu  einer  hohen 
Schule  des  Geschmacks  für  die  an  ihnen  wirkenden  jungen  Gelehrten  ent- 
wickelt haben.    In  keinem  anderen  Lande  der  Welt  greifen  die  Museums- 
beamten  so    tatkräftig,    so    fördernd    und   in   so    großer   Zahl   in   den  Gang 
der  Kunst   und   des  Kunstgewerbes    ein.     Man  braucht  nur  an  die  Kunst- 
ausstellungen   in    Dresden    zu    erinnern,    die    wesentlich    infolge    der    Mit- 
wirkung   von   Kunsthistorikern    sich    weit    über    das   Niveau    der   nur   von 
Künstlern   veranstalteten  Ausstellungen   erhoben   haben,   oder  an  die  viel- 
seitigen Anregungen,  die  unser  Kunstgewerbe  durch  Museumsbeamte  er- 
halten hat.     Gerade  die   inmitten  des  historischen  Kunstgewerbes  wirken- 
den Männer   waren   es,    die  mit  als  die  Ersten  erkannten,   welches  Unheil 
die    äußerliche    und   überhastete   Imitation    der   verschiedenen   historischen 
Stilarten    anrichtete.      Gegen    die    Ornamentierungswut    erhoben    sie    von 
neuem  die  Sempersche  Forderung,   daß  nicht  im  Beiwerk,  sondern  in  der 
allgemeinen    Erscheinung    eines    Gegenstandes    die   Kunst    zum   Ausdruck 
kommen    müsse;    und    im    Sinne    dieser    Forderung,    nicht    aus    modischer 
Neuerungssucht,   ermunterten   und   förderten    sie  die  jungen  Künstler,   die 
auf  den  Boden    des  Handwerks   traten   und  Gebrauchsgerät   zu    entwerfen 
begannen.     Der    große    Erfolg,    den  das   moderne   Kunstgewerbe   auf  der 
Weltausstellung    in    vSt.   Louis    erworben    hat,    bedeutet    so    auch    für    die 
Museumsbeamten  einen  Sieg. 


IV.  Die  Museen  in  der  Gegenwart.     Ausblicke.  ^öl 

Aber  auch  wenn  man  die  Arbeit,  die  der  Einzelne  leistet,  gebührend  Die  Kunst- 
schätzt, bleibt  von  der  Kritik,  die  an  den  Museen  geübt  wird,  noch  genug  Avirkung  kuf 
Beherzigenswertes  übrig.  Es  ist  leider  wahr,  daß  die  Mehrzahl  der  großen 
Museen  durch  die  Masse  ihres  Stoffes  wie  durch  Anlage  und  Aufstellung 
den  Beschauer  rasch  ermüdet  oder  zu  llüchtigem  Durcheilen  geradezu 
herausfordert.  Wie  dem  abzuhelfen  sei,  ist  schon  viel  hin  und  her  er- 
örtert worden.  Als  naheliegender  Ausgleich  zwischen  den  Interessen  der 
Laien  und  denen  der  Wissenschaft  hat  der  Vorschlag,  nach  dem  Vor- 
bilde, das  zuerst  L.  Agassiz  im  naturhistorischen  Museum  zu  Cambridge, 
Mass.,  geschaffen  hat,  Schausammlung  und  wissenschaftliche  Sammlung 
zu  trennen,  viel  Anklang  und  auch  Nachfolge  gefunden,  £;in  wohltuendes 
Beispiel  einer  solchen  Trennung  ist  das  Berliner  Pergamon-Museum,  dessen- 
Schausammlung  in  dem  Altaraufbau  zugleich  den  Vorzug  eines  stark 
wirkenden  Mittelpunktes  hat.  Ferner  wird  mit  Recht  die  eintönige  Flucht 
großer,  ineinander  gehender  Säle  getadelt,  wie  sie  sich  in  den  meisten, 
nach  dem  herkömmlichen  Palastschema  erbauten  Museen  zum  Leidwesen 
der  Direktoren  und  zum  Überdrusse  des  Publikums  findet.  Wie  angenehm 
ein  von  diesem  Tj'pus  abweichendes  Museum  wirken  kann,  zeigt  das 
Thermenmuseum  in  Rom,  das  durch  die  reizvolle  Abwechselung  und  das 
Behagen  seiner  aus  Thermenüberresten  für  Klosterzwecke  umgestalteten 
Anlage  den  Beschauer  zum  Verweilen  einlädt.  Hier  war  auch,  wenigstens 
in  der  ersten  Zeit  seines  Bestehens,  als  die  Menge  von  kleineren  Räumen 
noch  eine  gesonderte  Aufstellung  der  dem  Museum  zuwachsenden  Fund- 
stücke gestattete,  eine  andere  Forderung  unserer  Museumskritiker  erfüllt: 
das  einzelne  Kun.stwerk  konnte  still  für  sich  oder  im  Rahmen  nicht 
störender  oder  seinen  Reiz  erhöhender  Gegenstände  genossen  werden. 
Man  erholte  sich  dort  förmlich  von  dem  Vielzuviel  der  vatikanischen 
und  kapitolinischen  Museen.  Große  historische  Sammlungen  in  dieser 
Weise  aufzustellen,  ist  freilich  eine  sehr  viel  schwierigere  Aufgabe.  Der 
Versuch,  den  man  im  neuen  Kaiser  Friedrich-Museum  in  Berlin  gemacht 
hat,  ist  leider  nur  zum  Teil  gelungen.  Alte  und  neue  Prinzipien  liegen 
hier  in  einem  Widerstreit,  der  den  Wendepunkt,  an  dem  unsere  Museums- 
technik angelangt  ist,  recht  deutlich  kennzeichnet:  das  Museum  ist  weder 
ein  reiner  Palastbau,  in  dem  die  Kunstwerke  nur  zur  Dekoration  von 
Prunksälen  dienen,  noch  ist  es  ein  Studienbau,'  der  nur  wissenschaftlichen 
Bedürfnissen  Rechnung  trägt,  noch  ist  es  ein  Kunstbau,  für  dessen  Ge- 
staltung Gehalt  und  Stimmung  des  Einzelwerks  den  Ausschlag  geben  — 
es  ist  von  allem  etwas  und  macht  dadurch  auf  den  kunstliebenden  Be- 
schauer einen  unharmonischen,  seine  Stimmung  bald  erhebenden,  bald 
lähmenden  Eindruck. 

Li  den  an  Kunstwerken  übervollen  Museen  wird  in  der  Regel  noch 
eins  vermißt:  ein  monumentaler  Haupteindruck,  der  den  Eintretenden 
mit  Staunen  und  Ehrfurcht  erfüllt  und  seine  Seele  beim  Umher- 
wandern   und    auch    noch    lange,   nachdem    er   das  Museum  verlassen  hat. 


0^2  Ludwig  Paixat:    Kunst-  und  Kunstgewerbe-Museen. 

gefangen  hält.  Wie  man  solche  Wirkung  erzeugt,  können  die  i.\rchitekten 
von  unseren  Ausstellungskünstlern  lernen.  Die  große  Halle  mit  Bartho- 
lom6s  „Monument  aux  Morts"  auf  der  Dresdener  Internationalen  Kunst- 
ausstellung von  1901  und  der  mächtige  Mittelraum  der  deutschen  kunst- 
gewerblichen Abteilung  auf  der  Weltausstellung  in  St.  Louis  von  1904 
bleiben  für  den,  der  sie  gesehen  hat,  unvergeßliche  Eindrücke.  Auch  wie 
man  um  so  wuchtige  Räume  kleinere  gruppiert  und  zur  Wirkung  bringt, 
ist  auf  mancher  Kunst-  und  Kunstgewerbeausstellung  für  den,  der  lernen 
will,  zu  sehen.  Auch  auf  die  Kirchen  möchte  man  hinweisen,  die  in 
natürlicher  Entwicklung  zu  Museen  geworden  sind  —  aber  da  fallen 
einem  g-leich  alle  die  Sünden  ein,  die  man  um  der  Museen  willen  an  den 
.öffentlichen  Monumenten,  „den  eigentlichen  Lehrern  der  Kunst",  wie  sie 
Semper  nannte,  begangen  hat.  Kirchen,  Klöster,  Villen  usw.  haben  ihr 
Bestes  hergeben  müssen.  Aus  lebendigem  Zusainmenhange  hat  man  es  in 
stimmungslose  Räume  versetzt,  wo  ein  Werk  das  andere  um  seine  Wirkung 
bringt.  Neuerding's  sucht  man  künstlich  die  alte  Stimmung  wiederher- 
zustellen, indem  man  stilechte  Ensembles  schafft  und  in  diese  die  Bilder 
und  Statuen  einordnet.  Aber  das  bleibt  im  Grunde  doch  ein  frostiges 
Mittel.  Das  einzelne  Kunstwerk  läuft  dabei  Gefahr,  zum  bloßen  Dekora- 
tionsstück erniedrigt  zu  werden;  und  das  Publikum,  das  dafür  gewonnen 
werden  soll,  geht  vorbei  und  sagt  sich  weise:  „das  ist  romanisch,  das  ist 
gotisch,  das  ist  barock"  usw.  Das  trifft  allerdings  mehr  die  kultur- 
geschichtlichen als  die  Kunstmuseen.  Im  Kaiser  Friedrich -Museum  in 
Berlin  lassen  die  mit  Geschmack  und  Zurückhaltung  verteilten  Möbel  die 
Zeitbestimmung  nur  leise  anklingen. 
Wechselnde  Um  das  Interesse  des  Publikums  anzuregen,  hat  man  auch  daran  ge- 

Ausstellungen,  . 

dacht,  in  den  Kunstmuseen  durch  wechselnde  Ausstellungen  neue  Em- 
drücke  zu  schaffen.  Das  scheint  plausibel,  ist  aber  nur  in  beschränktem 
Umfange  ausführbar.  Ein  Kunstwerk  will  Ruhe  haben.  Wenn  es 
einen  guten  Platz  gefunden  hat,  so  soll  man  es  dort  lassen.  Man 
kann  sich  die  Venus  von  Milo  nicht  gut  im  Louvre  herumwandernd 
denken.  Gleichwohl  sollte  jedes  Museum  einen  oder  mehrere  vSäle  be- 
sitzen, in  denen  es  entweder  eigene  zurückgestellte  Bestände,  um  ihre 
Wirkung  zu  erproben,  oder  neue  Erwerbungen  oder  aus  Privatbesitz  ge- 
liehene Werke  dem  Publikum  abwechselnd  vorführen  kann.  Diese  Räume 
dürften  aber  nicht  vom  am  Eingang  oder  abgesondert  liegen,  sondern 
so,  daß  der  Besucher  auf  dem  Wege  zu  ihnen  den  Haupteindruck  des 
Museums  in  sich  aufnimmt.  Für  Städte  mit  bescheidenen  Sammlungen 
sind  die  wechselnden  Ausstellungen  von  weiter  greifender  Bedeutung. 
Sie  vermitteln  dem  Publikum  die  Bekanntschaft  mit  Kunstwerken,  die 
sonst  nicht  in  seinen  Gesichtskreis  treten  würden,  und  können,  wenn  gut 
organisiert,  zur  Hebung  des  Geschmacks  in  der  Regel  mehr  beitragen 
als  die  Museen  selbst.  In  vielen  Städten  täte  man  sogar  besser,  die 
vorhandenen    geringen    Mittel    auf    solche    Ausstellung-en    zu    verwenden, 


IV.  Die  Museen  in  der  Gegenwart.     Ausblicke.  363 

anstatt  die  Gemäldesammlungen  mit  Werken  zweiten,  dritten  und  noch 
niedrigeren  Ranges  zu  füllen. 

Aber   nicht   nur   das  Publikum,    auch   die  Kunst   selbst   verlangt  von  Wirkung  auf  die 

.  Kunst. 

den  Museen  stärkere  Anregung  und  Förderung.  Sie  hat  dazu  em  ge- 
wisses Recht;  denn  die  Museen  im  allgemeinen  und  namentlich  die  für 
moderne  Kunst  haben  einen  Teil  der  Pflege  zu  ersetzen,  die  vor  der 
Umwandlung  der  Hofmuseen  in  Staatsmuseen  Fürsten  und  Magnaten  der 
Kunst  ihrer  Zeit  zuteil  werden  ließen.  Leider  haben  die  Museen 
für  neuere  Kunst  von  vornherein  viel  zu  sehr  den  alten  Galerieen 
nachgeeifert.  Sie  beanspruchten  dieselbe  Art  von  Palästen  wie  diese 
und  mühten  sich  ab,  es  ihnen  auch  an  Charakter  und  Wert  gleich  zu  tun. 
Angesehene  Namen,  stattliche  Formate  und  historischer  Charakter  der 
Bilder  werden  deshalb  bevorzugt.  Wenn  man  einmal  die  Kunst  des 
19.  Jahrhunderts  aus  weiterem  Abstand  überblickt,  wird  man  den  neuen 
Galerieen  vielleicht  den  Vorwurf  nicht  ersparen  können,  daß  sie  die  ge- 
sunde Malerei,  deren  sich  Deutschland  trotz  der  Kartonkunst  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  erfreute,  zum  guten  Teil  haben  mit 
erdrücken  helfen.  Jedenfalls  erkennt  man  schon  jetzt,  daß  eine  ganze 
Reihe  von  Künstlern,  deren  Schaffen  wertvoll  war  und,  wenn  es  geför- 
dert worden  wäre,  noch  wertvoller  hätte  werden  können,  in  unseren 
Museen  nicht  vertreten  sind;  von  anderen  fehlen  bezeichnende  W^erke. 
Was  sich  noch  erreichen  läßt,  muß  oft  mit  vielem  Gelde  aufgewogen 
werden,  während  man  es  seinerzeit  mit  bescheidenen  Mitteln  hätte  er- 
werben können.  Leider  sind  wir  trotz  dieser  Erfahrung  auch  heute  nicht 
klüger  —  und  daran  ist  noch  immer  das  Vorbild  der  alten  Galerieen 
schuld.  Man  kann  die  Kunst  .der  Gegenwart  nicht  fördern,  wenn  man 
sich  immer  ängstlich  fragen  muß,  ob  ein  Werk  auch  schon  abgeklärt 
genug  ist,  um  in  einer  monumentalen  Galerie  dauernd  Aufnahme  finden 
zu  können.  Das  Beispiel  von  Frankreich,  das  die  für  den  Staat  erwor- 
benen Kunstwerke  zunächst  in  das  Palais  de  Luxembourg  bringt  und 
erst  nach  30  Jahren  die  für  würdig  befundenen  in  den  Louvre  aufnimmt, 
hat  darum  viel  für  sich;  nur  brauchte  man  für  solche  Durchgangsmuseen 
ganz  andere  Gebäude  und  Einrichtungen. 

Notwendig  wäre  auch,  daß  man  den  Männern,  die  man  im  Vertrauen 
auf  ihre  Tüchtigkeit  zu  Leitern  solcher  Sammlungen  berufen  hat,  mög- 
lichst freie  Hand  ließe.  Ihre  Tätigkeit  wird  schon  durch  das  Publikum, 
die  Presse  und  andere  Faktoren  so  stark  kontrolliert,  daß  man  sie  nicht 
noch  durch  Sachverständigen-  oder  Museumskommissionen  einengen  sollte. 
Diese  hindern  nur  jedes  rasche  Zugreifen  und  jedes  W^agnis  und  einigen 
sich  gewöhnlich  nicht  auf  das  Beste,  sondern  auf  den  Durchschnitt. 
Auf  der  Mannheimer  Museumskonferenz  von  1903  hat  ein  Redner  ge- 
äußert, man  sei  versucht  zu  sagen,  daß  der  eine  Graf  Schack,  der  uns 
Feuerbach  und  Böcklin  rettete,  für  die  deutsche  Kunst  mehr  getan  habe 
als  alle  bildersammelnden  Kunstvereine  zusammen.    Vor  noch  nicht  langer 


564 


Ludwig  Pai.kat:    Kuusl-  und  Kunstgcwcrbe-Musccn. 


Zeit  hätte  man  das  auch  von  den  modernen  Galerieen  behaupten  können. 
Zum  Glück  haben  neuerdings  einige  energ-ische  und  gewandte  Direktoren 
ihren  Willen  durchzusetzen  und  damit  viel  Versäumtes  auszugleichen 
vermocht.  Einer  davon  wenigstens  verdient  mit  Namen  genannt  zu 
werden:  Alfred  Lichtwark  in  Hamburg;  denn  er  hat  nicht  nur  für  die 
künstlerische  Erziehung  des  Publikums  die  meisten  Anregungen  gegeben, 
sondern  ist  auch  in  vorbildlicher  Weise  bemüht,  die  lokale  Kunstbetäti- 
gung zu  stärken  und  zu  entwickeln.  Gäbe  es  nicht  solche  Direktoren, 
so  könnte  man  sich  mit  Recht  fragen,  ob  es  nicht  besser  wäre,  der 
lebendigen  Kunst  auf  anderem  Wege  als  durch  Museen  zu  helfen. 
Die  Kunst-  Auch  die  Kunstgewerbemuseen  müssen  aus  zurückblickenden  voraus- 

gewerbemuseen.  ,       _.         ,  ,  t-^  ,  ,  ,  ^.  .  . 

Wirkung  auf  die  schauende  Institute  werden.  Darum  braucht  man  denen,  die  rem  wissen- 
schaftliche und  kunsterhaltende  Zwecke  verfolgen,  die  Existenzberechtigung 
noch  nicht  abzusprechen.  Man  hat  sie  nur  auszuscheiden  aus  der  Zahl 
derer,  die  nach  der  ursprünglichen  Bestimmung  der  Kunstgewerbemuseen 
Handwerk  und  Industrie  künstlerisch  befruchten  sollen.  Im  letzten  Jahr- 
zehnt haben  gerade  die  bedeutendsten  dieser  Museen  viel  an  Wirkungs- 
kraft eingebüßt.  Der  Handwerker  kümmert  sich  wenig  um  sie,  und  der 
Industrielle  so  gut  wie  überhaupt  nicht,  und  doch  tut  beiden  —  dem 
Industriellen  noch  mehr  als  dem  Handwerker  —  Erziehung  des  Geschmacks 
ebenso  not  wie  anno  1850.  Um  wieder  neuen  Einfluß  zu  erlang-en,  werden 
die  Museen  vor  allem  das  Mittel  der  wechselnden  Ausstellungen  noch 
mehr  ausnutzen  müssen  als  seither.  Den  im  Konkurrenzkampf  stehenden 
Fabrikanten  kann  man  nur  gewinnen,  wenn  man  ihm  in  auffälliger  Weise 
Dinge  vorführt,  die  momentan  im  Zentrum  seines  Interesses  liegen.  Solche 
Gegenstände  brauchen  nicht  immer  allerneueste  Schöpfungen  zu  sein. 
Geschmack  und  Mode  bringen  es  mit  sich,  daß  auch  heute  Vorführungen, 
wie  die  von  alten  schönen  Drucken  und  Schriftarten,  von  seltenen  Stoffen 
u.  a.  m.  lebhaften  Anklang  finden.  Aber  der  Museumsdirektor  muß  wie 
ein  Unternehmer  auf  der  Warte  stehen  und  ausspähen,  womit  er  sein 
Publikum  —  und  als  solches  sollte  er  in  erster  Linie  die  Industriellen 
betrachten  —  anziehen  und  wie  er  seinen  Geschmack  heben  kann.  Der- 
artige aktuelle  Ausstellungen  bieten  ihm  dann  auch  die  Möglichkeit,  seine 
eigenen  Bestände  zur  Geltung  zu  bringen,  indem  er  alte  und  neue 
Lösungen  derselben  Aufgabe  vergleichsweise  nebeneinander  stellt.  In 
Österreich  hat  man  bereits  eine  Art  Museumsausdehnung  ins  Werk  ge- 
setzt, indem  man  von  der  Hauptstadt  aus  wohlvorbereitete  Ausstellungen 
durch  die  Provinzen  wandern  läßt.  Für  die  Museumsdirektoren  ist  das 
etwas  bedenklich.  Es  wird  ihnen  fertig  dargeboten,  was  ein  jeder  aus 
den  Bedürfnissen  seiner  Stadt  oder  seiner  Provinz  heraus  selbst  erarbeiten 
sollte.  Sie  werden  dadurch  auch  leicht  bequem,  im  Ausstellen  sowohl  wie 
im  Interessieren  des  Publikums.  Solches  Nachlassen  aber  wäre  gefähr- 
lich; denn  die  Kunstgewerbemuseen  haben  noch  schwere  Arbeit  vor  sich. 
Sind    sie    doch    selbst    mit    daran    schuld,    daß    trotz   aller  Fortschritte  der 


IV.  Die  Museen  in  der  Gegenwart.     Ausblicke.  365 

letzten  Jahre  das  Ideal  der  Erzeugung"  zweckmäßiger  und  zugleich  ge- 
schmackvoller Gebrauchsgegenstände  wenig.stens  in  Deutschland  noch 
lange  nicht  erreicht  ist.  Ihre  Stilsammlungen  haben  die  Aufmerksamkeit 
viel  zu  sehr  auf  das  Äußerliche,  das  Ornament,  und  viel  zu  wenig  auf 
den  organischen  Aufbau  von  Kunstgegenständen  gelenkt.  Die  Anschauung, 
daß  das  Ornament  die  Kunst  im  Gewerbe  ausmacht,  ist  zu  einer  förm- 
lichen Krankheit  geworden,  von  der  sich  gerade  die  Länder  mit  Kunst- 
gewerbemuseen nur  sehr  schwer  erholen  können.  Die  Gesundung  dauert 
um  so  länger,  als  das  historisch  gebildete  Publikum  auf  die  Bemühungen 
der  Künstler,  einfach  und  geschmackvoll  zu  arbeiten,  überlegen  lächelnd 
herabblickt. 

Die  üble  Wirkung  kunsthistorischer  Kennerschaft,  die  nicht  nur  hier,  Führungen  in 
sondern  auch  auf  dem  Gebiete  der  freien  Kunst  den  Fortschritt  hemmt, 
erweckt  starke  Bedenken  gegen  die  an  Zahl  immer  mehr  zunehmenden 
Vorträge  und  Führungen,  durch  die  man  die  Kreise,  die  den  Museen 
bisher  femer  gestanden  haben,  insbesondere  die  der  Arbeiter,  dafür  zu 
gewinnen  sucht.  Es  wird  zwar  versichert,  daß  es  in  vielen  Fällen  ge- 
linge, den  Sinn  für  künstlerische  Werte  in  den  Zuhörern  zu  erschließen; 
aber  die  Gefahr  liegt  doch  sehr  nahe,  daß  nur  die  Zahl  derer  vermehrt 
wird,  die  über  Kunst  mitreden,  ohne  ihr  innerlich  nahe  gekommen  zu 
sein.  Der  Abstand  von  dem  kunstlosen  Zustande,  in  dem  der  gemeine 
Mann  aufwächst,  bis  zu  den  Höhen  der  Zentralmuseen  ist  zu  groß.  Rasch 
gewonnene  Überblicke  gehen  ebensobald  wieder  verloren.  Man  sollte 
Wege  und  Brücken  schaffen,  die  einen  zwar  langsamen,  aber  tiefere  Ein- 
drücke gewährenden  Aufstieg  ermöglichen. 

Einiges   ist   in   dieser  Richtung   schon    angebahnt.     Man  hat  nament-  Die  Kunst  in 
lieh  in  England  und  Amerika  begonnen.  Schulen,  Volksbibliotheken,  Ver-   vierteln  der 

11"  •  Ti*ii  -rr.i  1  ,         Großstadt. 

sammlungshauser  usw.  mit  guten  Bildern  auszustatten,  viel  tut  dort  auch 
die  zwar  schlichte,  aber  geschmackvolle  Ausstattung,  in  die  sich  die 
Bilder  wie  etwas  Selbstverständliches  einordnen.  Das  Wohlgefühl,  das 
solche  Räume  hervorrufen,  bedeutet  schon  künstlerischen  Gewinn.  Der 
nächste  Schritt  ist  dann  leicht  getan.  In  dem  Volkshause  —  um  alle  in 
Betracht  kommenden  Anstalten  mit  diesem  Worte  zusammenzufassen  — 
wird  eine  kleine,  sei  es  wechselnde,  sei  es  dauernde  Ausstellung  von 
guten  Reproduktionen  und,  wenn  es  angeht',  auch  von  Originalen  einge- 
richtet. So  haben  bereits  Toynbee  Hall  und  andere  University  Settlements 
angefangen,  Ausstellungen  von  guten  Werken  der  neueren  englischen 
Kunst  für  den  Osten  von  London  zu  veranstalten.  Auch  die  großen 
Zentralmuseen  könnten  sich  mit  ihrem  Überflusse  nützlich  betätigen. 
Viele  Gegenstände  —  namentlich  aus  graphischem  und  kunstgewerb- 
lichem Gebiete  —  die  dort  nicht  zur  Geltung  kommen  oder  von  denen, 
die  sie  angehen,  nie  gesehen  werden,  würden  in  Fachschulen,  Gewerbe- 
sälen, Schulmuseen,  Volksbibliotheken  usw.  viel  mehr  Interesse  finden 
und   weit  bessere  Dienste  tun,   als  in  übervollen  Museumsschränken.     Ob 


,A(^  Ludwig  Pau.at:    Kunst-  und  Kunstgewerbe-Museen. 

man    so    weit    gehen    soll,    in    den    Arbeitervierteln    selbständige    Museen 
nach   Art  des  Bethnal  Green  Museums  in  London  oder  des  Ruskin  Mu- 
seums in  Sheffield  zu  errichten,   steht  nach  den  mit  diesen  Anstalten  ge- 
machten Erfahrungen  noch  sehr  in  Frage. 
Die  Volks- und  Aus    dem  Streben    nach  Belehrung    weiterer  Kreise    hat    sich    in    den 

Heimatmuseen,  j^^^^^^  Jahrzehnten  auch  ein  neuer  Museuinstypus  zu  entwickeln  be- 
gonnen, das  sogenannte  Volksmuseum.  Den  Anstalten  dieser  Art,  wie 
sie  sich  namentlich  in  Amerika  und  in  Skandinavien  finden,  ist  die  Ab- 
sicht gemeinsam,  das  Volk  durch  möglichst  anschauliche  Vorführungen 
zu  interessieren  und  unmittelbarer  zu  bilden,  als  es  durch  die  gelehrten 
Sammlungen  möglich  ist.  Soweit  sie  historisch-volkskundliche  Gebiete 
pflegen,  gehen  diese  Museen  zugleich  als  Lokal-,  Provinzial-  oder  Landes- 
museen darauf  aus,  Kultur-  und  Kunstdenkmäler  der  Heimat  im  weitesten 
Umfange  zu  sammeln  und  zu  erhalten.  Die  naturkundlichen  Museen  oder 
Museumszweige  stellen  ebenfalls  die  Heimat  in  den  Mittelpunkt  und 
regen  zur  Beobachtung  ihrer  Bodenbeschaffenheit,  ihrer  Flora  und  ilirer 
Fauna  an.  In  den  Sammlungen  oder  Abteilungen  von  mehr  gewerblich- 
technischem Charakter  w-erden  Handel  und  Gewerbe  durch  Rohprodukte, 
Halbfabrikate  und  fertige  Erzeugnisse,  durch  geographisch-ethnologische 
Bilder,  durch  Modelle  von  Maschinen,  industriellen  Anlagen  usw.,  ver- 
anschaulicht. 

Bei  der  Gründung  solcher  Museen  war  man  sich  klar,  daß  es  „arbei- 
tende Museen"  sein  mußten.  Man  entnahm  deshalb  aus  dem  Programm 
der  Gewerbe-  und  Kunstgewerbemuseen  die  Bibliotheken,  die  Lese-,  Vor- 
trags- und  Arbeitssäle,  sowie  die  belehrende  Etikettierung,  die  Führungen, 
die  Vorträge  und  die  wechselnden  Ausstellungen.  Eine  in  Amerika  dazu 
gekommene  Spezialität  sind  die  Kinderabteilungen,  die  schon  die  heran- 
wachsende Jugend  an  einen  verständigen,  nutzbringenden  Besuch  der 
Museen  gewöhnen  sollen.  Aber  auch  ohne  diese  Besonderheit  dürften 
gut  eingerichtete  Volksmuseen  für  die  junge  Generation  verständlich  und 
von  großem  Nutzen  sein.  Vielleicht  ist  es  sogar  richtiger,  bei  der  ganzen 
Anlage  des  eigentlichen  Schaumuseums  mehr  an  die  Kinder  als  an  die 
Erwachsenen  zu  denken;  denn  diese  können  in  der  Regel  eher  von  jenen 
lernen  als  umgekehrt.  Selbstverständlich  muß  sich  auch  die  populärste 
Aufstellung  auf  wissenschaftliche  Erkenntnis  gründen.  Liebhaberei  und 
Dilettantismus  wären  hier  ebenso  gefährlich  wie  in  den  großen  Museen. 
Schon  die  Schausammlung  muß  zum  Beobachten  und  Vergleichen  anregen. 
Daneben  dürfen  aber  auch  systematische  vSammlungen  nicht  fehlen,  damit 
diejenigen,  die  sich  für  besondere  Gebiete  interessieren,  Anleitung  zu 
wissenschaftlichen  Arbeiten  oder  Hilfe  beim  Sammeln  erhalten  können. 
Freiluftmuseen.  Die    wissenschaftlichc    Betätigung   bildet    zugleich    ein   Gegengewicht 

gegen  Übertreibung  des  den  Volksmuseen  zugrunde  liegenden  Prinzips. 
Das  Streben,  anschaulich  zu  sein  und  womöglich  jeden  Gegenstand  in 
den   Zusammenhang    zu    bringen,    in    dem    er    entstanden    oder  gebraucht 


rV.  Die  Museen  in  der  Gegenwart.     Ausblicke.  307 

worden  ist,  ist  gewiß  berechtigt,  und  Schöpfungen,  wie  die  von  Artur 
Hazelius  begründete  Freiluftabteilung  „Skansen"  des  Nordiska  Museet  in 
Stockholm  und  die  anderen  ähnlichen  Museen  des  skandinavischen  Nor- 
dens mit  ihren  ländlichen  Originalgebäuden,  mit  ihren  Tieren  und  Pflan- 
zen, ihren  Volk.sfesten  und  -spielen  sind  als  lebendige  Kulturbilder  der 
hohen  Bewunderung,  die  ihnen  gezollt  wird,  zweifellos  wert  —  aber  damit 
ist  auch  die  äußerste  Grrenze  erreicht.  Wenn  man  erst  anfängt,  künstlich 
Ensembles  zu  schaffen  mit  neuen,  aber  alt  aussehenden  Häusern,  mit 
Straßen,  Plätzen  usw.,  dann  werden  aus  den  Museen  Schaustellungen, 
denen  ähnlich,  die  unter  den  Namen:  Venedig,  Alt-Berlin,  Tiroler 
Alpen  usw.  die  Massen  der  Großstädte  wohl  interessieren,  sie  aber  gegen- 
über Natur,  Land,  Volkskunst  und  allem,  was  damit  zusammenhängt,  wo- 
möglich noch  blasierter  machen,  als  sie  an  sich  schon  sind.  Und  nicht 
nur  das.  Dieselben  Stadtleute,  die  sich  auf  Ausstellungen  dieser  Art  gut 
unterhalten,  lassen,  wenn  es  in  ihrem  geschäftlichen  Interesse  liegt,  rück- 
sichtslos alte  Bau-  und  Kulturdenkmäler  beseitigen  und  sagen  dabei: 
wozu  erhalten,  was  man  in  Museen,  Ausstellungen,  Panoptiken  usw.  „ebenso 
schön"  sehen  kann! 

Museen  für  Volks-  und  Heimatkunde  sollten  überhaupt  —  sofern  es  Lokaimusecu. 
nicht  Museen  für  die  Geschichte  einer  bestimmten  Stadt  sind  —  nur  da 
geschaffen  werden,  wo  noch  ein  gewisser  Zusammenhang  zwischen  Stadt- 
und  Land  besteht.  Sie  dürfen  andererseits  auch  nicht  dem  Lande  zu  nahe 
rücken  oder  gar  auf  das  Land  selbst  verlegt  werden.  Das  „Dorfmuseum'', 
das  man  neuerdings  fordert,  ist  die  andere  Sorte  Verirrung,  zu  der  das 
Volksmuseum  führen  kann.  Dem  Bauer  nahe  legen,  sich  seines  alten  Be- 
sitzes zugunsten  solcher  Museen  zu  entäußern  —  und  das  wird  schließ- 
lich, wenn  es  auch  nicht  sein  soll,  jeder  rege  Museumsleiter  tun  —  heißt 
ihn  doch  gewaltsam  von  der  lebendigen  Tradition,  die  man  erhalten  sehen 
möchte,  losreißen;  und  was  tatsächlich  nicht  mehr  lebendig,  d.  h.  außer 
Gebrauch  gesetzt  oder  außer  Übung  ist,  das  trägt  auch  in  solchen  Museen 
keine  Früchte  mehr  und  findet  im  Zusammenhange  von  Landesmuseen 
eine  bessere  und  zugleich  gesichertere  Stätte.  Durch  Museen  läßt  sich 
auch  nicht  verhindern,  daß  sich  die  schlechten  Ableger  gfroßstädtischer 
Kultur  in  Bauten,  Geräten,  Schmuck  usw.  auf  dem  Lande  breit  machen. 
Den  Bauer  und  kleinen  Städter  in  der  Anhänglichkeit  an  altem  Besitz 
bestärken  und  daneben  die  Architekten  und  die  Industrie  zu  einfacher, 
geschmackvoller  Art,  die  gar  nicht  gesucht  bäuerlich  zu  sein  braucht, 
erziehen,  das  ist  weit  notwendiger  und  auch  weit  aussichtsvoller  als  die 
Gründung  von  noch  mehr  Lokalmuseen.  ^lan  braucht  sich  nur  einige  der 
vorhandenen  anzusehen,  um  sich  rasch  zu  überzeugen,  wie  wenig  Nutzen 
aus  solchen,  dem  Zufall  und  dem  Laien  anheimgegebenen  Sammlungen 
herausspringt.  Sie  bedeuten  bei  allem,  was  man  dafür  anführen  mag,  doch 
nur  eine  Zer.splitterung  von  Kraft,  die  in  Landschafts-  oder  Provinzial- 
museen  gesammelt  breiter  und  tiefer  wirken  könnte. 


368 


Ludwig  Paixat:    Kunst-   und   Kunstgewerbe-Museen. 


L.indesmusee.1.  VoH  den  Laiidesmuseen  müßte  man  allerdings  veflangen,  daß  sie  durch 

geschickte  Organisation  alles  in  ihr  Bereich  zu  ziehen  suchen,  was  wirk- 
lich zu  verkommen  oder  verschleudert  zu  werden  droht.  Viele  davon 
tragen  jetzt  noch  die  Spuren  ihrer  Entstehung  aus  fürstlichen  oder  privaten 
Raritätenkammern  zu  deutlich  an  sich  und  beschäftigen  sich  mit  zu  vielerlei, 
anstatt  ein  bestimmtes  Ziel  —  und  da  wäre  doch  wohl  die  Heimatkunde  das 
Gegebene  —  klar  ins  Auge  zu  fassen.  Hier  sind  die  Stellen,  an  denen  der 
von  den  Volksmuseen  gegebene  Anstoß  Leben  wecken  kann.  Auch  die 
bereits  mit  dem  wissenschaftlichen  Ausbau  heimatlicher  Sammlungszweige 
beschäftigten  Provinzial-  oder  größeren  Lokalmuseen  können  in  bezug  auf 
Belehrung  des  Publikums  vieles  lernen.  Manche  Leiter  solcher  Samm- 
lung-en  glauben,  sie  genügten  ihrer  Pflicht,  wenn  sie,  den  wissenschaftlichen 
Zentralmuseen  nacheifernd  und  zum  Teil  mit  ihnen  konkurrierend,  sich 
einseitig  mit  der  systematischen  Vervollständigung  ihrer  Sammlungen  be- 
schäftigten. Dieser  Wetteifer  wird  um  so  verhängnisvoller,  je  mehr  er 
dahin  führt,  Gegenstände  und  Einrichtungen,  die  in  ihrer  ursprünglichen 
Umgebung  noch  am  Platze  und  auch  vor  Zerstörung  gesichert  sind,  fort- 
zunehmen und  in  Museen,  die  im  Grunde  nur  für  den  wissenschaftlichen 
Fachmann  da  sind,  unterzubringen.  Wenn  man  damit  bezweckte,  alles 
historisch  Wertvolle  wie  in  Archiven  zu  sammeln  und  damit  die  Bahn 
frei  zu  machen  für  eine  neue  Kultur,  daim  ließe  sich  der  exklusiv  wissen- 
schaftliche Standpunkt  wohl  rechtfertigen;  aber  einstweilen  sind  die  Ver- 
bindungen von  der  Vergangenheit  zur  Gegenwart  noch  nicht  abgerissen, 
und  wir  haben  trotz  aller  schöpferischen  Kräfte,  die  sich  regen  und  be- 
tätigen, noch  lange  laicht  selbsterrungenes  Kapital  genug,  um  davon  allein 
leben  zu  können.  Wir  können  also  auf  der  einen  Seite  die  stille  Wirkung 
der  Denkmäler  und  auf  der  anderen  die  anregende  Tätigkeit  der  Volks- 
museen neben  den  rein  wissenschaftlichen  Museen  nicht  entbehi'en. 
Sind  Museen  Aber  SO  wcit  stehen  wir  doch  bereits  auf  eigenen  Füßen,  daß  wir  uns 

"""^  bei  der  Neugründung  von  Museen  ernstlich  fragen  müssen,  ob  überhaupt 
ein  zwingender  Grund  dafür  besteht,  ob  man  die  Ziele,  die  man  vor  Augen 
hat,  nicht  besser  und  billiger  durch  wechselnde  Ausstellungen,  durch  Fach- 
schulsammlungen, durch  künstlerischen  Wandschmuck  in  Schulhäusern 
und  andere  Wege  dieser  Art  erreichen  kann,  und  schließlich,  ob  man 
nicht  vielleicht  Faktoren  schafft,  die  wie  das  überkluge  Publikum  der 
Großstädte  die  weitere  Entwicklung  eher  hemmen  als  fördern.  Bei 
allem,  was  man  für  und  in  den  Museen  tut,  sollte  man  dies  nicht  ver- 
gessen: wir  brauchen  ein  Volk,  das  die  Natur  und  die  Heimat  liebt,  die 
Denkmäler  der  Vergangenheit  ehrt  und  Verständnis  hat  für  die  ernste 
künstlerische  Arbeit  der  Gegenwart  —  ohne  sich  etwas  darauf  ein- 
zubilden. 


Literatur. 

Eine  umfassende  Geschichte  der  Museen  ist  noch  nicht  geschrieben.  Der  kürzlich 
erschienene  Abriß :  David  Murray,  Museums  their  history  and  their  use  I — III  (Glasgow, 
1904)  behandelt  zwar  neben  den  naturwissenschaftlichen  auch  die  prähistorischen  und  histo- 
rischen Museen,  schließt  aber  die  Bilder-  und  Skulpturgalerieen  aus.  Der  2.  und  3.  Band 
enthält  eine  Bibliographie,  die  sich  auch  auf  die  Kunstsammlungen  erstreckt.  Von  kürzeren 
Darstellungen  der  Geschichte  der  Kunstsammlungen  ist  bemerkenswert: 

E.  CURTIUS,  Kunstsammlungen,  ihre  Geschichte  und  ihre  Bestimmung,  in :  E.  CURTIUS, 
Altertum  und  Gegenwart  I  (Berlin,   1875),  S.  94  fr.; 

G.  Hirschfeld,  Zur  Entwicklungsgeschichte  von  Kunstsammlungen,  in  ,,Nord  imd  Süd" 
(Januar  1890); 

A.  FURTWÄNGLER,  Über  Kunstsammlungen  in  alter  und  neuer  Zeit.  Festrede,  gehalten 
in  der  Kgl.  Bayr.  Akademie  der  Wissenschaften  (München,  1899). 

Aus  der  Fülle  von  Büchern,  Schriften  und  Aufsätzen,  die  einzelne  Epochen  oder 
Sammlungen,  die  Organisation  der  Museen,  ihre  Aufgaben  und  ihre  Betätigung  behandeln, 
seien  hier  einige  wichtigere  genannt.  Die  Ordnung,  in  der  sie  aufgezählt  werden,  entspricht 
dem  Gang  der  Darstellung  in  dem  vorstehenden  Aufsatz. 

E.  BoNNAFFIi,  Les  coUectionncurs  de  l'ancienne  Rome  (Paris,  1867). 

L.  Friedländer,  Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms,  Bd.  III. 

F.  JaCOBI,  Grundzüge  zu  einer  Museographie  der  Stadt  Rom  zur  Zeit  des  Augustus  I. 
{Speyer,   1884). 

F.  Grecoroviu-S,  Geschichte  der  Stadt  Rom  im  Mittelalter  (Stuttgart,  1886—96). 

F.  K.  V.  DUHN,  Über  die  Anfänge  der  Antikensammlungen  in  Italien  (Berlin,  1880). 
E.   MüNTZ,  Les  arts  ä  la  cour  des  Papes  pendant  le  XVe  et  le  XVI«  sifecle.  11.  1879 

Cap.  Ml  Essai  sur  l'histoire  des  CoUections  italiennes  d'art  et  d'arch^ologfie  depuis  les  debuts 
de  la  Renaissance  jusqu'ä  la  mort  de  Paul  II  (1470). 

Derselbe,  Les  collections  des  Mddicis  au  XV'  si^cle  (Paris,   1888). 

A.  Michaelis,  Geschichte  des  Statuenhofes  im  \'aticanischen  Bclvedere,  im  Jahrbuch 
d.  Archaeol.  Instituts  V  (1890),  S.  5  ff. 

A.  B.  Valentini,  Museum  Museorum  oder  Natur-  uhd  Materialienkammer  (Frankfurt, 
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S.  219  ff.  (Stuttgart,   1906). 

Kunsthandbuch  für  Deutschland  (Berlin,   1904). 

Handbuch  der  Kunstpflege  in  Österreich  (Wien,   1902). 

Museumskunde,  Zeitschrift  für  Verwaltung  und  Technik  der  öffentlichen  und  privaten 
Sammlungen.  Herausgegeben  von  Dr.  H.  Koetschau.  Erscheint  seit  1905,  jährlich  i  Band 
von  4  Heften. 


24» 


NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE  MUSEEN. 

Von 
Karl  Kraepelin. 


I.  Die  Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen  Museen.  Die 
Entwicklung  der  naturwissenschaftlichen  Museen  umfaßt  nur  die  verhältnis- 
mäßig kurze  Spanne  Zeit  von  wenig  mehr  als  drei  Jahrhunderten.  Die 
vielversprechenden  Anfänge  wissenschaftlichen  Natur erkennens,  wie  sie 
dvurch  Aristoteles  geschaffen,  waren  in  den  Wirren  der  Völkerwanderung 
und  unter  dem  Drucke  des  kirchlichen  Regiments  in  Europa  völlig  ver- 
loren gegangen:  Niemand  kannte,  niemand  achtete  die  Natur,  und  nur 
hie  und  da  waren  in  Kirchen  und  Klöstern  heilkräftige  und  wundertätige 
Naturobjekte,  wie  Giftpflanzen,  Mineralien,  Donnerkeile,  Elefantenzähne 
usw.  aufbewahrt.  Selbst  Albertus  Magnus  (1193 — 1280)  schrieb  sein 
großes  Opus  naturarum,  ohne  sich  dabei  auf  bestehende  Sammlungen 
stützen  zu  können. 
Mittelalter.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte    des   15.  Jahrhunderts,  als  der  von  Italien 

her  vordringende  Humanismus  das  Geistesleben  der  Völker  aus  fast  andert- 
halb Jahrtausende  langem  Schlummer  erweckte  und,  nicht  zum  wenigsten 
mit  Hilfe  der  schnell  emporblühenden  Buchdruckerkunst,  allerorten  neues 
Wissen,  neue  Ideen  verbreitete,  begann  man,  auch  den  Objekten  der  um- 
gebenden Natur  seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Es  war  ein  glück- 
liches Zusammentreffen,  daß  gerade  um  diese  Zeit  die  für  die  Aufbewah- 
rung von  Naturalien  so  wichtige  konservierende  Eigenschaft  des  Alkohols 
entdeckt  und  auch  das  alte  Pergament  durch  billiges  Leinenpapier  ersetzt 
wurde.  So  konnte  denn  der  erwachte  Sammeleifer  zahlreicher  Forscher, 
unter  denen  namentlich  Conrad  Gesner  (1515 — 66)  eine  führende  Rolle 
spielt,  in  ausgiebiger  Weise  an  Tieren  und  Pflanzen  sich  betätigen,  viel- 
fach angeregt  durch  die  großen  geographischen  Entdeckungen  am  Aus- 
gange des  15.  Jahrhunderts  und  die  reichen  Mittel,  die  durch  sie  nach 
Europa  flössen.  Überall,  in  Italien,  der  Schweiz,  in  Deutschland,  Holland, 
Frankreich,  England  usw.  entstanden  Privatsammlungen,  zunächst  von 
hervorragenden  Gelehrten  und  begüterten  Kaufleuten  zusammengebracht, 
bald  aber  auch  von  geistlichen  Schulen    (Collegium  Romanumi  in  Rom), 


I.  Die  Entwicklong  der  naturwissenschaiUichen  Museen.  7-j  i 

von  Fürsten  und  Herren,  die  nicht  selten  bedeutende  Summen  für  solche 
Kollektionen  oder  gar  für  einzelne ,  besonders  begehrte  Stücke  veraus- 
gabten. Eine  reiche  Literatur  kam  bald  zur  Blüte,  in  welcher  die  Schätze 
dieser  „Kunst-  und  Raritätenkammern"  beschrieben,  resp.  die  hervor- 
ragendsten Sammlungen  der  Reihe  nach  aufgezählt  wurden.  Der  älteste 
jener,  in  der  Folgezeit  oft  genug  zu  prächtigen  Kupferwerken  ausgestal- 
teten Kataloge  datiert  bereits  aus  dem  Jahre  1565,  während  das  älteste 
Verzeichnis  der  wichtigsten  Sammlungen  im  Jahre  1649  veröffentlicht 
wurde.  Sogar  eine  Abhandlung  über  den  Ursprung  und  die  Entwicklung 
der  Museen  von  Joh.  Daniel  Major  liegt  schon  aus  der  zweiten  Hälfte 
des   17.  Jahrhunderts  (1674)  vor. 

Noch  waren  die  zur  Modesache  gewordenen,  mit  Kunstschätzen  mannig- 
facher Art  vergesellschafteten  naturhistorischen  Sammlungen  wenig  mehr 
als  eine  „Gemüts-  und  Augenergötzung",  eine  Anhäufung  verschiedenster 
Kuriositäten  und  Seltenheiten  ohne  logisches  System,  ohne  wissenschaft- 
liche Durchgeistigung.  Allein  dem  unaufhaltsamen  Fortschreiten  der  Natur- 
erkenntnis ist  es  zu  danken,  daß  auch  hierin  im  Laufe  der  folgenden  zwei 
Jahrhunderte  von  Grund  aus  Wandel  geschaffen  wurde. 

Bereits  die  Entdeckung  des  zusammengesetzten  Mikroskops  am  Be- 
ginn des  17.  Jahrhunderts  eröffnete  den  Forschem  eine  neue  Welt  des 
Kleinen  (Swammerdam  1637 — 80,  Leeuwenhoek  1632  — 1723  usw.); 
überraschende  anatomische  (Harvey  1578 — 1657)  und  biologische  (Reau- 
mur  1683 — 1754,  Roesel  1705 — 5g)  Entdeckungen  schlössen  sich  an;  ein 
reiches  Material  von  Formen  aus  fremden  Zonen  wie  aus  der  Heimat  er- 
heischte wissenschaftliche  Vertiefung,  und  die  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  gegründeten  Akademieen  (Leopoldina  1652,  London  1660, 
Paris  1670)  nebst  den  im  18.  Jahrhundert  reformierten  Universitäten  trugen 
mächtig  dazu  bei,  diesem  Bedürfhisse  gerecht  zu  werden.  Nachdem  schon 
beim  Ausgange  des  17.  Jahrhunderts  John  Ray  (1627 — 1707)  den  für  die 
systematische  Wissenschaft  so  wichtigen  Speciesbegriff  aufgestellt  und 
die  Terminologie  durch  Einführung  schärferer  Definitionen  reformiert 
hatte,  war  dann  endlich  der  Zeitpunkt  gekommen,  wo  Carl  von  Linn6 
(1707 — 1778)  durch  die  Schaffung  seines  tiefdurchdachten,  alle  Natur- 
reiche umfassenden  Systems,  verbunden  mit  der  Anwendung  der 
binären  Nomenklatur,  die  so  lange  entbehrte  Ordnung  in  die  chao- 
tische Mannigfaltigkeit  der  Naturgebilde  brachte  und  damit  auch  den 
Museen  die  Möglichkeit  bot,  sich  ganz  in  den  Dienst  der  Wissenschaft 
zu  stellen. 

Das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  und  auch  noch  die  erste  Hälfte  des  Neoerc  zeit. 
I  g.  Jahrhunderts  stehen  zum  großen  Teil  unter  dem  Einflüsse  dieses  hervor- 
ragenden Mannes.  Die  mit  dem  Wandel  der  politischen  Verhältnisse  aus 
Privathänden  mehr  und  mehr  in  den  Besitz  der  Staaten,  Städte,  Hoch- 
schulen usw.  übergehenden  Museen  werden  allerorten  von  Schülern  Linn^s 
oder  doch  im  Linne sehen  Geiste  reformiert,  das  Ordnen,  Bestimmen,  Be- 


■ijA  Kam.  Kraepelin:  Naturwissenschaftlich-technische  Museen. 

schreiben  der  Naturkörper  feiert  seine  Triumphe;  der  Systematiker  be- 
herrscht das  Feld  und  zeigt  sich  nicht  selten  gegenüber  der  Laienwelt 
von  einer  ihochmütigen  Ausschließlichkeit,  die  das  Museum  allein  dem 
Fachgelehrten  vorzubehalten  wünscht. 

Jedoch  auch  diese  Periode  wird  schnell  überwunden.  Die  großartigen 
Gesichtspunkte  eines  Cuvier  (1773 — 1838),  der  die  vergleichende  Ana- 
tomie begründete,  der  unvergleichliche  Einfluß  Alexander  von  Hum- 
boldts (1769 — 1859),  der  seine  Feder  in  den  Dienst  der  allgemeinen  Volks- 
belehrung —  im  edelsten  Sinne  des  Wortes  —  stellte,  wirkten  mächtig 
auf  die  Hebung  des  Naturinteresses  ein;  Vereine  und  Gesellschaften  mannig- 
facher Art  traten  zusammen,  um  sich  und  weitere  Kreise  der  Bevölkerung 
in  der  Kenntnis  der  Natur  zu  fördern,  und  überall  in  den  Großstädten 
wuchsen  stattliche  Bauten  empor,  um  in  lichtvollen  Sälen  die  Wunder- 
werke der  Natur  dem  Publikum  vor  Augen  zu  führen. 

Das  beginnende  Zeitalter  des  Dampfes  brachte  mit  seinen  hundert- 
fach gesteigerten  Beziehungen  zu  fernen  Ländern  zunächst  nur  gewaltige 
Massen  bis  dahin  unbekannter  Formengebilde  und  ein  hierdurch  bedingtes, 
fast  beängstigendes  Anwachsen  der  Museumsbestände.  Eine  neue,  letzte 
Epoche  in  der  Geschichte  der  Museen  aber  beginnt  erst  mit  der  Wieder- 
belebung der  Lamarck  sehen  Theorie  von  der  phylogenetischen  Ent- 
wicklung der  Organismen  durch  Charles  Darwin,  eines  Gedankens, 
dessen  außerordentliche  Tragweite  nicht  nur  für  die  Wissenschaft,  son- 
dern für  alle  Verhältnisse  der  menschlichen  Gesellschaft  von  Tag  zu 
Tag  mehr  hervortritt.  Er  hat  auch  den  Museen  neue  und  bedeutende 
Aufgaben  zugewiesen,  die  zu  erfüllen  man  allerorten  mit  rastlosem  Eifer 
bestrebt  ist. 

11.  Die  naturwissenschaftlichen  Museen  als  Bildungsmittel. 
Eine  Untersuchung  der  Frage  nach  der  Bedeutung  der  naturwissenschaft- 
lichen Museen  für  unsere  moderne  Kultur  führt  zu  dem  Schluß,  daß 
Wissenschaft,  Unterricht  und  Volksbildung  gleicherweise  in  ihnen 
ein  hervorragendes  Förderungsmittel  zu  erblicken  haben. 
Museen  als  I,    Die    Wisse ns chaf t.     Die    Naturwissenschaft,    deren    beispiellose 

iiche''Archive.  Fortschritte  der  Gegenwart  ihr  Gepräge  gegeben,  gewinnt  ihren  Einblick 
in  das  innere  Getriebe  des  Weltganzen  keineswegs  in  erster  Linie  durch 
allgemeine  Abstraktionen,  sondern  sie  bedarf  dazu  der  Kleinarbeit,  in- 
dem sie  mit  unermüdlicher  Sorgfalt  nicht  nur  die  mannigfachen  Vorgänge 
des  Naturgeschehens  beobachtet  und  analysiert,  sondern  auch  die  hundert- 
tausendfältigen Gestaltformen  der  organischen  und  der  unorganischen 
Natur  nach  Art  und  Wesen  zu  erkennen  strebt.  Diese  verwirrende  Fülle 
der  den  Forschem  sich  darbietenden  Objekte  läßt  es  zur  Ermöglichung 
des  notwendigen  Gedankenaustausches  als  ein  erstes  unerläßliches  Er- 
fordernis erscheinen,  daß  ein  jeder  Naturkörper  wiedererkennbar  be- 
schrieben   und    gekennzeichnet    sei.     Die    durch   Linn6    begründete 


II.  Die  naturwissenschafUichen  Museen  als  Bildungsmittel.  375 

internationale  Nomenklatur  der  Organismen,  verbunden  mit  einer  mög- 
lichst scharfen  Charakterisierung  derselben,  ist  daher  als  der  Grundpfeiler 
jeder  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Systematik  zu  betrachten.  Leider 
stellte  sich  bei  dem  allmählichen  Bekanntwerden  immer  neuer  Zehn- 
tausender von  Tieren  und  Pflanzen  gar  bald  heraus,  daß  die  Beschreibungen 
der  älteren  Autoren,  infolge  von  Nichtberücksichtigung  wichtiger  Merk- 
male, den  Ansprüchen  auf  „Eindeutigkeit"  nur  selten  genügen,  wenn  die 
Aufgabe  gestellt  wird,  neu  entdeckte  Formen  mit  früher  beschriebenen 
zu  identifizieren  oder  von  ihnen  abzutrennen,  und  daß  es  daher  neben  den 
Schriften  jener  Forscher  vor  allem  der  von  ihnen  untersuchten  Ori- 
ginalstücke selbst  bedarf,  sollen  die  immer  mehr  sich  häufenden  Kon- 
troversen über  Nomenklaturfragen  endgültig  erledigt  werden.  Die  pietät- 
volle, auch  auf  die  Etikettierung  seitens  des  Beschreibers  sich  erstreckende 
Aufbewahrung  der  alten,  als  Unterlage  für  systematische  Arbeiten  be- 
nutzten Sammlungen  erwies  sich  daher  in  der  Folge  als  von  nicht  hoch 
genug  anzuschlagendem  Nutzen  für  die  Wissenschaft,  während  es  anderer- 
seits kaum  tief  genug  beklagt  werden  kann,  daß  die  eminente  Wichtig- 
keit der  „Originalexemplare"  vielfach  erst  zu  spät  erkannt  wurde,  daß 
hochwichtige  Sammlungen  unserer  bedeutendsten  Systematiker  achtlos  ver- 
zettelt, zerstört  oder  von  unberufener  Hand  umetikettiert  wurden,  und  daß 
somit  das  wichtigste  Mittel  zum  richtigen  Verständnis  ihrer  Arbeiten  für 
immer  verloren  ging. 

Die  erste  Aufgabe  der  naturwissenschaftlichen  Museen  müssen  wir 
nach  dem  Gesagten  darin  erblicken,  daß  sie  als  die  Archive  dienen  für 
alle  von  der  Forschung  bereits  beschriebenen  und  registrierten  Formen 
der  Naturkörper,  deren  zweckentsprechende  Aufbewahrung  und  Bereit- 
stellung für  Nachuntersuchung  und  Vergleichung  allein  imstande  ist,  der 
leidigen  Verwirrung  in  der  Namengebung  der  Naturobjekte  Einhalt  zu  tun. 

Doch  nicht  nur  die  Originaltj'pen  der  zum  erstenmal  beschriebenen 
Formen  gilt  es  in  den  naturwissenschaftlichen  Museen  aktenmäßig  festzu- 
legen, sondern  nicht  minder  alles,  was  in  den  verschiedenen  Gebieten  des 
Naturw'issens  auf  Grund  positiver  Unterlagen  erarbeitet  ist,  mag  es  sich 
dabei  um  die  Ethnographie,  die  Fauna,  die  Flora,  den  Mineralreichtum,  den 
geologfischen  Aufbau  eines  Landes  handeln,  oder  um  die  Ergebnisse  einer 
Tiefbohrung,  einer  Forschungsreise,  einer  Meeresuntersuchung.  In  allen 
diesen  Fällen  ist  die  Aufbewahrung  des  den  wissenschaftlichen  Ar- 
beiten zugrunde  liegenden  Materials  das  beste  Mittel,  begangene 
Irrtümer  aufzuklären  und  weiterer  Forschung  zur  Basis  zu  dienen,  ganz 
abgesehen  von  den  zahlreichen  Fällen,  wo  durch  Untergang  oder  teil- 
weise Zivilisierung  eines  Naturvolkes,  durch  Aussterben  einer  Tier-  und 
Pflanzenart  jede  Möglichkeit  geschwunden  ist,  neues  Untersuchungsmate- 
rial herbeizuschaffen. 

Stellen  so  die  Museen  die  Magazine  dar,  in  denen  gewissermaßen  die 
Akten    der    gesamten    Forschungsgeschichte    niedergelegt    werden. 


^76  Karl  Kraepeun:   Naturwissenschaftlich-technische  Museen. 

SO    sind   sie   andererseits    in    hohem    Grade    berufen   und    befähigt,    unser 
Wissen  von  der  Natur  auf  Grund  eigener  Forschung  zu  fördern  und 
zu  vertiefen. 
Museen  als  Daß  die  rein  systematische  Klassifizierung  und  Beschreibung 

mittel.  der  Tier-  und  Pflanzenformen,  der  Mineralien  und  der  Erzeugnisse  der 
Naturvölker  nicht  möglich  ist  ohne  ein  ausgiebiges  Material  realer  Ob- 
jekte, bedarf  keiner  weiteren  Ausführung.  Allein  eine  solche  Tätigkeit 
des  reinen  Beschreibens  und  Rubrizierens,  wie  sie  besonders  zu  den  Zeiten 
Linnes  und  seiner  Nachfolger  fast  ausschließlich  geübt  wurde,  konnte  beim 
Fehlen  allgemeinerer  Gesichtspunkte  auf  die  Dauer  nicht  wohl  als  echte 
Wissenschaft  anerkannt  werden.  Es  kam  eine  Zeit,  in  der  man  der  sog, 
„deskriptiven"  Naturwissenschaft  und  somit  auch  den  ihrer  Pflege  dienen- 
den Museen  jeden  höheren  Wert  absprach  und  den  weiteren  Ausbau  des 
trockenen  Systems  in  erster  Linie  den  dilettierenden  Naturfreunden  zu- 
weisen zu  können  glaubte.  Diese  Auffassung  gewann  um  die  Mitte  des 
verflossenen  Jahrhunderts  um  so  mehr  an  Boden,  je  mehr  die  neu  erstan- 
denen Disziplinen  der  Anatomie,  Physiologie,  Embryologie,  Biologie  die 
Kräfte  und  das  Interesse  der  Forscher  in  Anspruch  nahmen.  Erst  die 
Darwinsche  Epoche  mit  ihrer  Wiederbelebung  des  Entwicklungsgedankens 
brachte  auch  der  lange  mißachteten  Systematik  neue,  hochwichtige  Auf- 
gaben, zu  deren  Lösung  vor  allem  die  Museen  mit  ihren  reichen  Schätzen 
berufen  sind. 

Während  man  bis  dahin  allein  das  Trennende  der  Formen  zu  finden 
sich  bemüht  hatte  und  in  der  Einreihung  derselben  in  das  „System"  sein 
Genüge  fand,  verlangte  die  total  veränderte  Fragestellung  jetzt  gerade  im 
Gegenteil,  die  Brücken  zu  suchen,  die  alles  Lebendige  in  der  Gegenwart 
wie  in  grauer  Vorzeit  miteinander  verknüpfen,  den  tausendfaltigen  Ur- 
sachen nachzuspüren,  welche  die  Wandlung  der  Formen,  ihre  Speziali- 
sierung, ihre  Verbreitung  über  den  Erdball  bewirkt  haben.  Eine  ganz 
neue,  fast  möchte  man  sagen,  jungfräuliche  Wissenschaft  mit  klaren  Zielen 
und  allgemeinen  philosophischen  Gesichtspunkten  erwuchs  so  aus  dem 
Wurzelstock  der  alten  Systematik,  die,  ehedem  ein  ödes  und  geistloses 
Fachwerk,  heute  in  ihren  idealen  Zielen  als  der  höchste  und  letzte  Aus- 
druck aller  der  Ergebnisse  erscheint,  die  Morphologie,  Anatomie  und  Ent- 
wicklungsgeschichte, Variationslehre,  Paläontologie  und  geographische 
Verbreitungslehre  bei  ihren  Spezialforschungen  zutage  gefördert  haben. 
Und  zur  Erfüllung  dieser  ihrer  hohen  Aufgabe  bedarf  sie,  gleich  allen 
ihren  Hilfswissenschaften,  nicht  nur  des  bescheidenen  Materials  der  alten 
Museen,  sondern  sie  vervielfacht  ihre  Ansprüche  und  fordert  für  die 
Lösung  einer  einzelnen  Frage  etwa  aus  dem  Gebiete  der  Variations- 
statistik oder  der  geographischen  Verbreitung  eine  Bereitstellung  von 
Individuenmassen,  die  für  die  frühere  Auffassung  von  der  Konstanz  der 
Art  als  völlig  unerhört  erscheinen  müssen.  Nur  Magazine  von  gewaltigen 
Dimensionen   werden   daher   den  Forderungen   der   modernen  Systematik 


II.  Die  naturwissenschaftlichen  Museen  als  Bildungsmittel.  ?7y 

gerecht  werden  können,  und  eine  weitgehende  Arbeitsteilung  nach  Län- 
dern und  Objektgruppen  wird  in  der  weiteren  Entwicklung  kaum  zu  ver- 
meiden sein. 

2.  Unterricht.  Daß  jede  Belehrung  über  die  Gebilde  der  Natur  an 
die  Objekte  selbst  anzuknüpfen  hat,  ist  ein  Satz,  der  seit  Überwindung 
des  mittelalterlichen  Scholastizismus  wohl  kaum  von  irgend  einer  Seite 
in  Zweifel  gezogen  wird.  Universitäten,  Akademieen  und  Schulen  be- 
dürfen daher  naturwissenschaftlicher  Sammlungen,  die  den  Vortrag  des 
Lehrers  erläutern  und  dem  Lernenden  die  Möglichkeit  eigenen  Beobachtens 
und  eigenen  Untersuchens  gewähren.  Nur  so  ist  der  leidigen  Wortgläubig- 
keit zu  begegnen,  nur  so  wird  der  künftige  Forscher  zu  selbständigem 
Können  auf  dem  Boden  der  realen  Wirklichkeit  erzogen  werden.  Natur- 
gemäß dürfen  diese  Sammlungen  nur  eine  bescheidene ,  aber  sorgfältige 
Auswahl  der  überhaupt  existierenden  Naturkörper  und  ihrer  Derivate  ent- 
halten, um  den  Lernenden  nicht  durch  die  Masse  des  Gebotenen  zu  er- 
drücken, und  diese  Auswahl  wird  je  nach  den  Zielen  des  Unterrichts  eine 
verschiedene  sein.  Der  Universitätslehrer  wird  für  seine  allgemeinen  und 
speziellen  rein  wissenschaftlichen  Vorlesungen  anderer  Demonstrations- 
und Untersuchungsobjekte  bedürfen  als  der  Landwirt,  der  Forstmann,  der 
Berg-  und  Hüttenmann.  Dem  jungen  Kaufmann  wird  vor  allem  eine 
Sammlung  einheimischer  und  fremdländischer  Handelsprodukte,  dem  Ge- 
werbetreibenden eine  solche  von  Rohstoffen  und  Halbfabrikaten  von  Nutzen 
sein,  und  von  allen  diesen  Spezialmuseen  wird  man,  sofern  sie  in  richtigem 
Geiste  geleitet  und  benutzt  werden,  sagen  können,  daß  sie,  neben  den 
Studien  am  lebenden  Objekt  in  Forst  und  Feld,  in  botanischen  Gärten 
und  an  biologischen  Stationen,  neben  dem  Besuch  der  Bergwerke  und 
technischen  Betriebe,  für  die  Berufsbildung  der  kommenden  Generation 
von  fundamentaler  Bedeutung  sind. 

3.  Volksbildung.  Wie  die  Kunstmuseen  seit  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  mehr  und  mehr  der  Allgemeinheit  zugänglich  ge- 
macht wurden,  so  auch  glaubte  man,  die  mit  der  Erleichterung  des  Ver- 
kehrs rapide  wachsenden  und  sich  differenzierenden  Naturaliensammlungen 
dem  Publikum  zu  freier  Belehrung  eröffnen  zu  sollen.  Der  Gedanke  an 
sich,  daß  auch  dem  Laien  eine  gewisse  Kenntnis  der  Naturgebilde  von 
Nutzen  sei,  muß  fraglos  als  berechtigt  anerkannt  werden,  allein  von  einem 
greifbaren  Erfolge  in  dieser  Richtung  konnte  nicht  wohl  die  Rede  sein, 
solange  man  sich  damit  begnügte,  die  für  wissenschaftliche  oder  Lehr- 
zwecke in  meist  unzulänglichen  Räumen  aufgespeicherten  Objekte  als 
Ganzes  der  Schaulust  des  Publikums  preiszugeben.  Eine  schier  sinn- 
vervvirrende  Menge  von  Einzelobjekten,  ohne  andere  leitende  Gesichts- 
punkte als  den  des  Systems  aneinandergereiht,  mochte  im  Einzelfalle  wohl 
Staunen  oder  Bewunderung  über  Größe,  Farbe  und  Gestaltung  besonders 
in  die  Augen  fallender  Naturkörper  hervorrufen;  eine  wirkliche  Beleh- 
rung über  das  Wesen  der  Dinge   und  selbst  nur  über    deren   systema- 


378 


Karl  Kraepelin:   Naturwissenschaftlich-technische  Museen. 


Moderne 
Forderungen. 


tische  Gruppierung  war  um  .so  weniger  möglich,  als  jene  Sammlungen 
fast  ausnahmslos  nicht  einem  emstdurchdachten  Plane,  sondern  dem  blinden 
Zufall  ihre  oft  genug  nur  die  äußere  Hülle  der  organischen  Naturkörper 
darbietenden  Schätze  verdankten. 

Auch  hier  hat  erst  die  durch  Charles  Darwin  ausgelöste  Bewegung 
auf  dem  Gebiete  der  biologischen  Wissenschaften  neue  Ideen  geweckt 
und  zur  Verwirklichung  gebracht.  Wie  der  ,3alggelehrte"  vergangener 
Zeiten  allmählich  zum  Forscher  wurde,  dem  das  Problem  des  Lebendig- 
seins  der  Organismen  mehr  und  mehr  in  den  Vordergrimd  trat,  wie  der 
Geologe,  der  Paläontologe  erkannte,  daß  das  Studium  der  wirksamen 
Kräfte  und  deren  Betätigung  im  Laufe  der  Erdgeschichte  seine  vor- 
nehmste Aufgabe  sei,  so  auch  begann  man  für  den  gebildeten  Laien  nicht 
allein  und  nicht  in  erster  Linie  eine  oberflächliche  Kenntnis  der  toten 
Formen  zu  fordern,  sondern  ein  Eindringen  in  das  Geheimnis  des  Lebens, 
ein  Verständnis  der  Gesetze,  welche  den  Mechanismus  des  Einzelwesens 
wie  die  tausendfältigen  Beziehungen  der  Organismen  zueinander  regeln, 
einen  Überblick  über  die  wichtigsten  Etappen,  welche  die  Geschichte 
des  Erdkörpers  und  seiner  Bewohner  bis  zu  deren  jetziger  Gestaltung  und 
geographischen  Verbreitung  durchlaufen  hat.  Indem  man  sich  selbst  als 
ein  den  Gesetzen  des  Naturgeschehens  unterworfenes  Wesen,  als  letztes, 
höchstes  Glied  in  der  Reihe  der  organischen  Entwicklung  fühlen  lernte, 
wuchs  das  Verlangen,  durch  tieferes  Eindringen  in  das  Getriebe  des  Natur- 
ganzen zu  einer  klareren  Auffassung  der  Stellung  des  eigenen  Ich  im 
Universum  emporzusteigen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diesem  stets  weitere  Kreise  erfassenden 
Verlangen  nach  ernsterer  Belehrung  über  die  Ergebnisse  der  modernen 
Naturforschung  in  erster  Linie  nur  durch  eine  vertiefte  Behandlung  des 
naturwissenschaftlichen  Unterrichts  Genüge  getan  werden  kann.  Da- 
neben aber  wird  man  die  Bedeutung  der  naturhistorischen  Museen  für 
dieses  Streben  nicht  unterschätzen  dürfen,  zumal,  nachdem  man  seit  etwa 
einem  Vierteljahrhundert  begonnen,  durch  weitgehende  Reformen  in  den 
für  die  breite  Öffentlichkeit  bestimmten  Schausälen  der  Museen  wirk- 
liche Belehrung  zu  bieten  und  allgemeine  Ideen  zum  Ausdruck  zu 
bringen. 
Schaasamm-  Das  crstc  Erfordernis  bei  diesem  Reformwerk  war  natürlich  die  voU- 

lungen  und  .  iri'ioj'j" 

deren  Aus-    Ständige   Abtrennung    der    allem    dem    wissenschaitlichen  btudmm    die- 

gestaltung,  ,.,  ,  -i-,"  ••  ttj_  1  J 

nenden,  m  besonderen  Räumen  magazmierten  Hauptsammlung  von  der 
lediglich  für  das  Publikum  bestimmten  Schausammlung.  Auf  diese 
Weise  war  es  möglich,  zunächst  in  der  rein  systematischen  Abteilung 
unter  weitgehender  Beschränkung  nur  diejenigen  Formen  vorzuführen, 
welche  gewissermaßen  als  Paradigmen  für  die  verschiedenen  Kategorieen 
der  Naturobjekte,  als  Charaktertypen  für  die  Klassen,  Ordnungen,  Familien 
der  Naturreiche  zu  gelten  haben.  Durch  sorgfältigste  Präparation  und 
Konservierung,   durch  weitläufige,  jedes  Einzelobjekt  zur  vollen  Geltung 


n.  Die  naturwissenschafUichen  Museen  als  Bildungsmittcl.  -i^g 

bringende  Aufstellung,  durch  zweckentsprechende  Etikettierung,  geogra- 
phische Kartenskizzen  und  erläuternde  Abbildungen  gelingt  es,  selbst  föir 
diesen  trockenen  Wissenszweig  von  der  Formgestaltung  der  Naturkörper 
und  deren  systematischer  Gruppierung  ein  gewisses  Interesse  zu  erwecken 
und  den  Beschauer  zu  eingehenderem  Studium  anzuregen.  Besonders  gilt 
dies  auch  für  Sammlungen,  welche  die  Tiere,  Pflanzen  und  Mineralien 
der  engeren  Heimat  in  übersichtlicher,  ästhetisch  ansprechender  Weise 
vor  Augen  fuhren  und  so  dem  Besucher  den  Gedanken  nahelegen,  diesen 
Gebilden  draußen  in  der  freien  Natur  mehr  als  bisher  sein  Augenmerk 
zuzuwenden,  oder  wohl  gar  durch  eigene  Sammeltätigkeit  einen  tieferen 
Einblick  in  deren  Formenmannigfaltigkeit  zu  gewinnen. 

Neben  dieser,  das  System  der  Naturkörper  veranschaulichenden  Auf- 
stellung finden  sich  in  allen  modernen  Schaumuseen  weitere  Abteilungen, 
die  dem  Belehrung  suchenden  Laien  die  wichtigsten  Ergebnisse  auch 
der  übrigen  naturwissenschaftlichen  Disziplinen,  der  Ontogenie,  Phylogenie, 
Biologie,  Paläontologie  usw.  zu  übermitteln  bestrebt  sind. 

Als  ein  noch  der  Lösung  harrendes  Problem  dürfen  wir  zunächst  wohl 
die  Veranschaulichung  der  geographischen  Verbreitung  der  Tiere 
und  Pflanzen  betrachten,  da  ein  einfaches  Nebeneinanderstellen  der  für 
irgendeine  „Region"  charakteristischen  Formen  nicht  allein  wegen  der 
Verschiedenheit  der  zu  berücksichtigenden  Objekte  nach  Grüße  und  Kon- 
servierung —  vom  Elefanten  bis  zum  Sandfloh  —  seine  Schwierigkeiten 
hat,  sondern  auch  wenig  anschaulich  wirkt,  da  die  Eigenart  des  land- 
schaftlichen Gepräges  fehlt.  Auch  die  Versuche,  die  wichtigsten  Charakter- 
formen eines  Gebietes  zu  einer  umfangreicheren  Gruppe  zu  vereinigen, 
wie  dies  namentlich  im  Museum  zu  Darmstadt  versucht  ist,  wollen  nicht 
völlig  befriedigen.  Vielleicht  ist  es  der  Zukunft  vorbehalten,  mit  Zuhilfe- 
nahme der  Malerei  für  die  eindrucksvolle  Darstellung  zoologischer  und 
botanischer  Charakterbilder  aus  fernen  Zonen  in  besonderen  Hallen  ähn- 
liche Dioramen  zu  schaffen,  wie  sie  seinerzeit  auf  der  internationalen 
Gartenbauausstellung  in  Hamburg  im  Jahre  1897  für  die  Haupttj^Den 
fremdländischer  Vegetation  vorgeführt  wurden. 

Ungleich  leichter  lassen  sich  andere  allgemeine  Gesichtspunkte  aus  den 
Gebieten  der  biologischen  Wissenschaften  zur  Anschauung  und  zum  Verständ- 
nis bringen.  Dahin  gehört  in  erster  Linie  ein  Einblick  in  die  verschiedenen 
Organisationspläne  der  Tiere  mit  Einschluß  des  Menschen,  ihren  ana- 
tomischen und  histologischen  Bau,  durch  Aufstellung  instruktiver  Präpa- 
rate und  Demonstrationsmikroskope.  Hieran  schließt  sich  die  Darstellung 
der  Anpassungserscheinungen  an  die  umgebenden  Medien,  an  Luft, 
Erde,  Wasser,  an  Licht,  Wärme,  Klima,  der  Beziehungen  der  Organis- 
men zueinander,  die  in  den  mannigfachen  Mitteln  des  Schutzes  und  des 
Kampfes,  der  Mimikry,  des  Parasitismus,  der  Symbiose  usw.  zum  Aus- 
druck kommen,  die  wichtigsten  Beweismittel  der  Darwinschen  Lehre, 
wie  sie  durch  Beispiele  der  Variation   und  Rassenbildung,   durch   ontoge- 


^8o  Karl  KrabpeliN:  Naturwissenschaftlicli-technische  Museen. 

netische  und  phylogenetische  Entwicklungsreihen  zur  Anschauung  gebracht 
werden  können. 

Auch  ohne  diese  Bezugnahme  auf  die  Deszendenzlehre  dürfen  einige 
Beispiele  des  Entwicklungsganges  der  Organismen  vom  Ei  bis  zum 
vollendeten  Geschöpf  im  modernen  Schaumuseum  nicht  fehlen,  während 
Geologie  und  Paläontologie  berufen  sind,  den  Beschauer  einen  Blick  in 
den  Werdegang  unserer  Erdrinde,  in  die  Vorgeschichte  der  heutigen 
Lebewelt  tun  zu  lassen. 

Mehr  praktische  Zwecke  verfolgen  sodann  die  Zusammenstellungen 
der  wichtigsten  Schädlinge  des  Menschen,  seiner  Haustiere  und  Kultur- 
pflanzen, der  in  den  Wohnungen  verbreiteten  Tiere,  der  mannigfachen 
Naturkörper  und  Naturprodukte,  die  wirtschaftlich  nutzbringend  sind 
oder  sonstwie  aus  irgendeinem  Grunde  das  besondere  Interesse  des  Men- 
schen herausfordern.  Ist  es  doch  nicht  allein  für  den  Land-  und  Forst- 
mann, den  Obst-  und  Weinbauer,  den  Berg-  und  Hüttenmann  von  Be- 
deutung, daß  er  über  die  sein  Wohl  und  Wehe  bedingenden  Naturobjekte 
eingehendere  Belehrung  empfängt,  sondern  für  alle,  die  als  Kaufleute, 
Industrielle,  Lehrer,  Handwerker  direkt  oder  indirekt  zu  ihnen  in  irgend- 
einer Weise  in  Beziehung  stehen,  wofern  nicht  gar,  wie  beispielsweise 
bei  den  Parasiten  des  Menschen,  ein  jeder  ohne  Ausnahme  Schädigungen 
seitens  gewisser  Geschöpfe  zu  fürchten  hat. 
Biologische  Eine  ganz   besondere  Anziehungskraft  auf  das  große  Publikum  üben 

Gruppen. 

aber  die  im  letzten  Viertel  des  verflossenen  Jahrhunders  mehr  und  mehr 
in  Aufnahme  gekommenen  biologischen  Gruppen  aus,  d.  h.  Dar- 
stellungen der  Tiere,  Pflanzen  und  Menschenrassen  in  der  natürlichen 
Umgebung,  in  welcher  der  Kreislauf  ihres  Daseins  sich  abspielt.  Die 
ersten  dahinzielenden  Versuche,  dem  Beschauer  mit  dem  Naturobjekt  zu- 
gleich auch  ein  Bild  von  dessen  Tätigkeit  und  dessen  ökologischen 
Beziehungen  zu  geben,  reichen  allerdings  noch  in  eine  frühere  Periode 
zurück;  allein  sie  konnten  nur  wenig  befriedigen,  solange  die  Häufung 
unvereinbarer,  weil  in  Wirklichkeit  zusammen  nicht  vorkommender  Formen 
und  die  völlig  unzureichende  Technik  in  der  Wiedergabe  der  zu  charak- 
terisierenden Örtlichkeit  den  Mangel  an  Naturwahrheit  allzusehr  hervor- 
treten ließen.  Erst  das  Vorbild  der  berühmten  „Collection  of  British  birds" 
im  Britischen  Museum  hat  auf  diesem  Felde  neue  Bahnen  eröfi^net.  Nicht 
nur  das  Tun  und  Treiben  der  Naturvölker  mit  ihren  Wohnstätten  und 
Arbeitsgeräten,  die  Kunsttriebe  und  sonstigen  Lebensäußerungen  der 
höheren  Tiere  sucht  man  heute  in  künstlerisch  vollendeten,  mit  höchster 
Naturtreue  ausgeführten  Einzelgruppen  zur  Anschauung  zu  bringen,  son- 
dern auch  die  vielgestaltigen  Formen  der  Insektenwelt  und  die  Lebens- 
gemeinschaften des  Meeres,  am  seichten  Ebbestrand,  auf  hoher  See,  wie 
in  der  Tiefe  des  Grundes.  Besonders  viele  amerikanische  Museen  (New- 
York,  Chicago,  Washington,  Carnegie  Museum  usw.)  wenden  für  die  Her- 
stellung derartiger,   oft  riesige  Dimensionen  annehmender  Gruppen  fabel- 


II.  Die  naturwissenschaftlichen  Museen  als   Bildungsmittel.  ^S  I 

hafte  Summen  auf;  aber  auch  in  Deutschland  (Bremen,  Hamburg,  Institut 
für  Meereskunde  in  Berlin)  hat  das  Beispiel  des  Britischen  Museums  ver- 
ständnisvolle Nachahmung-  gefunden,  ja  im  Museum  zu  Altona  ist  die 
Vorführung  von  Lebensbildern  zum  alleinigen  Prinzip  der  Aufstellung 
erhoben. 

Man  könnte  einwenden,  daß  der  Versuch,  in  der  angedeuteten  Weise 
das  Leben  der  Tiere  zur  Darstellung  zu  bringen,  die  Mühe  nicht  lohne, 
da  ein  solches  „nachgemachtes"  Leben  unmöglich  das  wirkliche  Leben 
ersetzen  könne,  und  daß  demnach  jeder  zoologische  Garten  in  dieser  Hin- 
sicht tmendlich  viel  wert\roller  und  lehrreicher  sei.  Demgegenüber  darf 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  der  zoologische  Garten  zwar  für  das 
Studium  der  geistigen  Fähigkeiten  des  lebenden  Geschöpfes,  für  dessen 
Bewegnngsformen,  Gewohnheiten,  Charakter  willkommene  Gelegenheit 
bietet,  daß  er  aber  nur  selten  in  der  Lage  ist,  das  natürliche  „Milieu",  in 
dem  das  Tier  in  der  Freiheit  lebt,  wiederzugeben,  daß  viele  Tiere  sich 
der  Beobachtung  zu  entziehen  bestrebt  sind,  und  daß  vor  allem  gerade 
die  charakteristischsten  Momente  ihrer  Lebensführung,  wie  Nahrungs- 
erwerb, Nestbau,  Brutpflege  usw.,  in  der  Gefangenschaft  kaum  je  unter 
natürlichen  Bedingungen  zur  Anschauung  gelangen,  ganz  zu  schweigen 
davon,  daß  die  große  Masse  der  an  biologisch  interessanten  Erscheinungen 
so  reichen  niederen  Tierwelt  schon  wegen  ihrer  Kleinheit  zu  Schau- 
stellungen in  den  zoologischen  Gärten  nur  wenig  geeignet  ist.  Unter 
diesen  Umständen  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  Dar- 
stellung der  Tiere  in  den  interessantesten  Momenten  ihrer  Lebensbetäti- 
gung und  in  der  für  sie  charakteristischen  Umgebung  ein  nicht  zu  ver- 
achtendes Surrogat  für  die  wirkliche  Naturbetrachtung  ist,  dessen  wohl- 
verstandene Anwendung  um  so  berechtigter  erscheint,  je  mehr  den 
Bewohnern  der  modernen  Großstädte  die  Möglichkeit  einer  intimeren 
Beschäftigung  mit  der  Natur  selbst  genommen  ist.  Jedenfalls  tritt  dem 
Beschauer  das  auf  diese  Weise  dargestellte  Geschöpf  nicht  mehr  als  ein 
nur  nach  Form  und  Farbe  zu  betrachtender,  dem  leblosen  Stein  oder 
Kunstprodukt  vergleichbarer  Körper  entgegen,  sondern  es  wird  in  ihm 
mit  zwingender  Kraft  die  Vorstellung  von  der  Eigenart  des  organischen 
Lebens  geweckt,  von  dem  Ringen  und  Kämpfen  ums  Daseih,  der  Sorge 
um  die  Familie,  dem  bestimmenden  Einfluß  der  äußeren  Lebensbedingungen, 
und  aus  diesem  Vorstellungskreise  heraus  erwächst  ein  ungleich  tieferes, 
weitere  Belehrung  heischendes  Interesse  für  die  Natur,  als  es  durch 
einfache  Aneinanderreihung  der  Naturkörper  gewonnen  werden  kann. 
Von  besonderem  Werte  dürften  solche  „Ausschnitte  aus  dem  Getriebe 
des  Naturganzen"  sich  erweisen,  soweit  sie  die  Gebilde  der  engeren 
Heimat  zum  Vorwurf  wählen,  so  daß  hier  den  Landes-  und  Provinzial- 
museen  ein  weites  Feld  der  Tätigkeit  offen  steht.  Für  die  überreiche 
Formenwelt  fremder  Zonen  wird  man  sich,  selbst  im  günstigsten  Falle, 
mit  wenigen  ausgewählten  Beispielen  begnügen  müssen. 


igj  Karl  Kraepeun:  Natunvissenschaftlich-technische  Museen. 

Führungea  u.ij  Daß  bcl  allen   den  bisher  geschilderten  Darbietungen  des  modernen 

Schaumuseums  auf  die  Auswahl  der  Objekte,  die  Etikettierung,  die  Er- 
läuterung durch  Skizzen  und  Modelle,  wie  auf  die  Herstellung  allgemeiner 
und  spezieller  Kataloge  oder  „Führer"  die  höchste  Sorgfalt  verwendet 
werden  muß,  ist  selbstverständlich,  da  hierdurch  vor  allem  dem  Besucher 
die  Möglichkeit  gegeben  wird,  die  den  Ausstellungen  zugrunde  liegenden 
Ideen  auch  wirklich  zu  erfassen.  Geteilter  sind  die  Ansichten  über  den 
Nutzen  der  sogen.  Führungen  durch  die  Museumsräume  seitens  sach- 
kundiger Fachmänner.  Nach  dem  Vorgange  Kopenhagens  sind  solche 
Führungen  in  neuerer  Zeit  mehrfach  eingerichtet,  und  sie  haben  auch, 
was  die  Besucherzahl  anlangt,  nicht  unbedeutende  Erfolge  erzielt,  wie 
2.  B.  in  Berlin.  Ob  es  möglich  ist,  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  durch 
einmalige  oder  selbst  durch  „Reihenführungen"  ein  tieferes  Verständnis 
für  die  Werke  der  Malerei  und  Plastik  zu  erwecken,  mag  zweifelhaft  er- 
scheinen. Etwas  günstiger  liegen  die  Verhältnisse  jedenfalls  für  die  natur- 
wissenschaftlichen Museen,  deren  Objekte  eine  auch  dem  naiven  und 
ungeschulten  Geiste  verständliche  Sprache  reden,  deren  der  Schaustellung 
zugrunde  liegende  allgemeine  Ideen  ohnehin,  wenigstens  zum  Teil,  in 
weite  Schichten  des  Publikums  eingedrungen  sind.  Immerhin  mag  es 
geraten  sein,  auch  hier  die  Erwartungen  nicht  zu  hoch  zu  spannen  und 
den  größeren  Erfolg  von  solchen  mit  den  Museen  verknüpften  Institu- 
tionen zu  erhoffen,  die,  unter  Zugrundelegung  ihres  reichen  Demonstra- 
tionsmaterials, eine  weitergehende  Belehrung  in  dauernden  Unter- 
richtskursen und  Vorlesungen  anstreben.  Daneben  wird  es  sich 
empfehlen,  besondere  Führungen  durch  die  Schausammlungen  für  Lehrer 
und  Lehrerinnen  einzurichten,  die  hierdurch  die  Fähigkeit  gewinnen, 
nun  auch  ihrerseits  die  im  Museum  veranschaulichten  Ideen  im  Sinne  der 
Museumsleitung  ihren  Zöglingen  zu  erläutern. 

Der  soeben  berührte  Gedanke  von  der  Bedeutung  der  naturwissen- 
schaftlichen Museen  für  die  heranwachsende  Generation  bedarf  noch 
einer  kurzen  Erörterung.  In  seinem  „Scope  and  functions  of  Museums" 
spricht  Ray  Lancaster  es  aus,  daß  die  Museen  „not  a  place  for  children 
or  school  teaching"  seien,  sondern  „a  place  for  the  delight  of  grown-up 
men  and  women".  Mag  man  diesem  Satze  auch  zustimmen,  sofern  damit 
gesagt  ist,  daß  die  ernste  Wissenschaft  nicht  zum  Spielzeug  der  Kinder 
herabgewürdigt  werden  solle  und  sich  daher  in  erster  Linie  in  ihren  Dar- 
bietungen an  den  gereiften  Erwachsenen  zu  wenden  habe,  so  wird  man 
doch  andererseits  den  Besuch  der  naturhistorischen  Museen  seitens  der 
Jugend  keineswegs  als  etwas  Unerfreuliches  oder  gar  zu  Verhinderndes 
betrachten  dürfen.  Gerade  in  der  frischen,  offenäugigen  Jugend  feiert  die 
Liebe  zur  Natur  ihre  höchsten  Triumphe,  bei  ihr  finden  wir  den  Trieb 
zum  Beobachten,  zum  Sammeln,  zu  eigener  Betätigung  am  lebendigsten; 
von  ihr  wird  mit  wärmstem  Interesse  aufgefaßt  und  weiter  verarbeitet, 
was  den  im  Kampfe    des  Lebens  mürbe   gewordenen  und  abgestumpften 


III.  Die  Haupttypen  der  naturwissenschaftlichen  Museen  und  deren  Aufgaben.  583 

Erwachsenen  kaum  noch  tiefer  zu  berühren  vermag,  wie  denn  wohl  so 
mancher  Naturforscher  freudig  bekennen  wird,  daß  er  die  stärksten  und 
nachhaltigsten  Eindrücke  für  seinen  Beruf  als  Knabe  in  der  ungebundenen 
Zeit  des  fröhlichen  Umherstreifens  und  Sammeins  in  Wald  und  Heide 
gewonnen  hat.  Wir  betrachten  daher  die  naturhistorischen  Museen  als 
eine  Bildungsanstalt,  die  der  heranwachsenden  Generation  keineswegs 
vorenthalten  werden  darf,  in  der  sie  Anregung  und  Belehrung  findet,  sei 
es,  daß  sie  darin  auf  eigene  Hand  ihre  kleinen  Entdeckungen  macht  und 
das  in  der  freien  Natur  Erschaute  auf  Grund  der  im  Museum  gebotenen 
Belehrung  zu  geordnetem  geistigen  Besitztum  verarbeitet,  sei  es,  daß  sie 
unter  der  Führung  des  Lehrers  zu  tieferem  Eindringen  in  die  Probleme 
modemer  Naturforschung  geleitet  wird.  Vielleicht  ist  es  angezeigt,  wie 
dies  in  den  Vereinigten  Staaten  geschehen,  für  das  frühere  Jugendalter 
in  den  Museen  eigene  Kinderabteilungen  mit  Vorträgen,  Preisauf- 
gaben usw.  einzurichten.  Wo  derartige  Institutionen  aber  fehlen,  sollte 
man  in  bezug  auf  den  Besuch  der  Kinder  die  weitestgehende  Liberalität 
walten  lassen  und  es  nicht  als  eine  Entweihung  der  Wissenschaft  be- 
trachten, wenn  hie  und  da  die  erläuternde  Etikette  der  Schausammlung 
sich  sogar  dem  Verständnisvermögen  des  halbwüchsigen  Jungen  anpaßt. 
Auch  der  Mann  aus  dem  Volke  wird  dabei  gewinnen,  dessen  Auffassungs- 
fähigkeit ja  oft  genug  kaum  über  das  des  geweckten  Knaben  hinausgeht. 

in.  Die  Haupttypen  der  naturwissenschaftlichen  Museen  und 
deren  Aufgaben.  Die  im  vorigen  Abschnitte  entwickelten  Gesichts- 
punkte gestatten  es,  darüber  ein  Urteil  zu  gewinnen,  welche  Hauptformen 
der  naturwissenschaftlichen  Museen  als  berechtigt  bzw.  entwicklungs- 
fähig anzuerkennen  sind,  und  welchen  besonderen  Zielen  sie  ihre  Kraft 
zu  widmen  haben.  Entsprechend  der  im  früheren  skizzierten  Bedeutung 
der  Museen  für  Wissenschaft,  Unterricht  und  Volksbildung  ergeben  sich 
ohne  Zwang  auch  drei  Haupttypen  naturwissenschaftlicher  Sammlungen, 
deren  Aufgaben  zwar  in  mancher  Hinsicht  sich  decken,  immerhin  aber 
durch  das  Vorwalten  einer  bestimmten  Richtung  weitgehende  Verschieden- 
heiten der  gesamten  Organisation  erheischen.  Wir  wollen  diese  Haupt- 
typen, die  selbstverständlich  heute  noch  vielfach  ineinander  übergehen,  kurz 
als  Zentralrauseen,  Unterrichtsmuseen  und  Provinzialmuseen  unterscheiden. 

I.  Zentralmuseen.  Den  großen  Zentral-  oder  Landesmuseen  fällt 
vor  allem  die  Pflege  der  Wissenschaft  zu.  Sie  sind  die  Archive,  in 
denen  die  Ergebnisse  der  bisherigen  Forschung  gehegt  werden,  und  die 
berufen  sind,  mit  Hilfe  ihrer  reichen  Bestände  nicht  nur  der  modernen 
Systematik,  sondern  auch  den  mit  ihr  in  engem  Konnex  stehenden  Wissens- 
zweigen der  geographischen  Verbreitung  der  Organismen,  der  Morphologie, 
Anatomie,  Biologie  usw.  usw.  als  Grundlage  zu  dienen.  Den  heutigen  An- 
forderungen entsprechend  verlangen  sie  gewaltige,  nicht  prunkvolle,  aber 
zweckentsprechende  Magazine,   einen  großen  Etat  für  Ankauf  und  Aptie- 


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Karl  Kraepei.in:  Natunvissenschaftlich-technische  Museen. 


der   Zentral- 
museen. 


rung-  der  Naturobjekte,  zahlreiche  Arbeitsräume  und  einen  nicht  zu  gering 
zu  bemessenden   Stab   von  Beamten,    die,    in  fester,  sorgenfreier  Lebens- 
Stellung,  zur  Verwaltung  dieses  Riesenarchivs  und  zur  Lösung  der  hohen 
wissenschaftlichen  Aufgaben  des  Museums  berufen  sind. 
Differenxierung  Bei   der  fast  Unübersehbaren  Mannigfaltigkeit  der  Naturobjekte  ver- 

steht es  sich  von  selbst,  daß  derartige  Zentralmuseen  von  vornherein  nur 
eine  oder  wenige  Hauptgruppen  des  Gesamtforschungsgebietes  umfassen 
können,  daß  also  ethnographische,  anthropologische,  zoologische,  bota- 
nische, mineralogische  Museen  usw.  zu  unterscheiden  sein  werden.  Aber 
auch  mit  dieser  primären  Gliederung  dürfte  die  notwendige  Differenzie- 
rung der  Sammlungen  noch  nicht  zum  Abschluß  gelangt  sein.  Schon 
treten  besondere  Museen  für  Entomologie,  für  Kolonial-  und  Meereskunde 
auf  den  Plan,  und  selbst  für  die  mit  den  bedeutendsten  Mitteln,  den  zahl- 
reichsten Arbeitskräften  ausgestatteten  Institute  ist  es  unmöglich  geworden, 
alle  Zweige  der  Spezialwissenschaft  in  gleichem  Maße  zu  pflegen.  Zwar 
ergibt  sich  als  willkommenes  Hilfsmittel  wenigstens  für  die  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  gewisser,  mit  den  Kräften  des  Museums  nicht 
zu  bewältigender  Formengruppen  ohne  weiteres  die  Heranziehung  aus- 
wärtiger Spezialforscher,  sowie  vor  allem  der  rege  geistige  Austausch 
zwischen  den  Instituten  derselben  Art:  ob  aber  hiermit  der  Entwicklungs- 
prozeß bereits  seinen  Abschluß  gefunden  hat,  oder  ob  man  nicht  viel- 
mehr dazu  gelangen  wird,  auch  das  Arbeitsmaterial  selbst  miteinander 
auszutauschen,  derart,  daß  beispielsweise  das  eine  Museum  nur  für  gewisse 
Tiergruppen  eine  führende  Stellung  erstrebt,  während  es  das  Material 
aus  anderen  Gruppen  im  Interesse  der  Konzentrierung  einem  befreundeten, 
gerade  hierin  dominierenden  Zentralinstitute  überläßt,  dürfte  heute  kaum 
zu  entscheiden  sein. 

Als  die  gegebenen  Örtlichkeiten,  an  denen  die  Zentralmuseen  zu 
errichten  sind,  resp.  gedeihlich  sich  fortentwickeln  können,  haben  einer- 
seits die  Hauptstädte  größerer  Staaten,  andererseits  die  wichtigsten  Em- 
porien  des  überseeischen  Handels  zu  gelten.  Ein  großer  Teil  der  Kultur- 
produkte fremder  Länder  und  Völker,  der  tausendfältigen  Gestaltformen 
der  organischen  wie  der  unorganischen  Welt  ist  nicht  einfach  durch  Kauf 
zu  erwerben,  sondern  gelangt  auf  sehr  verschiedenen  Wegen,  durch 
Schiffsoffiziere,  Matrosen,  Passagiere,  überseeische  Pflanzer  und  Kaufleute 
über  den  Ozean,  um  dann  in  den  großen  Kulturzentren  Europas  sich  an- 
zusammeln. Diesen  nie'  versiegenden  Strom  wissenschaftlich  nutz- 
baren Materials  richtig  zu  leiten  und  der  Allgemeinheit  dienstbar  zu 
machen,  ist  die  Aufgabe  der  in  diesen  Kulturzentren  errichteten  Museen, 
denen  gleichzeitig  auch  alle  die  zahlreichen  und  nicht  selten  hoch- 
bedeutenden Privatsammlungen  zufallen,  in  denen  oft  die  ganze 
Lebensarbeit  eines  opferwilligen  Naturfreundes  verkörpert  ist.  Die  Klein- 
stadt mit  ihren  engen  Verhältnissen  wird  auf  die  Gewinnung  derartiger 
Hilfsquellen  nur  selten  zu  rechnen  haben. 


in.  Die  Haupttypen  der  naturwissenschaftlichen  Museen  und  deren  Aufgaben.  igj 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich,  daß  wir  eine  ausschließliche  Ver- 
bindung der  Zentralmuseen  mit  den  Universitäten  weder  für  nötig  noch 
auch  für  ersprießlich  halten.  Wohl  ist  es  wünschenswert,  daß  wenigstens 
an  einigen  Hochschulen  der  Großstädte  derartige  Institute  vorhanden 
sind,  schon  um  der  nach  unserer  Auffassung  so  wichtigen  Systematik  den 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Disziplinen  der  Naturwissenschaft  zu 
wahren  und  die  Möglichkeit  einer  Lehr-  und  Lerntätigkeit  auch  auf 
diesem  Gebiete  an  ihnen  zu  bieten;  kleinere  Universitäten  aber  mit  ihren 
bescheidenen  Mitteln  werden  auf  weitergehende  Pflege  der  systematischen 
Wissenschaft  und  ihrer  Nebenzweige  verzichten  müssen.  Andererseits 
kann  es  jedenfalls  nicht  zum  Schaden  der  Wissenschaft  sein,  wenn  nun 
auch  in  NichtUniversitäten  Institute  emporblühen,  die  vermöge  des  reichen 
Stromes  ihrer  Hilfsquellen  imstande  sind,  aus  eigener  Kraft  auf  weiten 
Gebieten  der  Forschung  sich  zu  betätigen,  zumal  deren  Beamte  nicht,  wie 
die  Hochschullehrer,  durch  umfangreiche  Lehrtätigkeit  in  ihrer  wissen- 
schaftlichen Arbeit  behindert  sind. 

Freilich  wird  auch  das  ganz  auf  sich  allein  gestellte,  keinem  höheren  Lehrtätigkeit. 
Lehrkörper  verbundene  Zentralmuseum  nicht  völlig  auf  jede  Lehrtätig- 
keit verzichten  wollen.  Wie  es  der  gegebene  Mittelpunkt  ist  für  die 
nach  Übersee  gehenden  Sammler,  für  die  zahlreichen  Naturfreunde  der 
Großstadt,  die  hier  sich  Rat  und  Anregung  holen,  so  auch  wird  es  das 
Interesse  und  das  Verständnis  für  die  Natur  in  weitere  Kreise  des  Volkes 
hinauszutragen  bestrebt  sein.  Die  in  den  Großstädten  mit  so  großem 
Beifall  und  reichem  Erfolge  ins  Leben  gerufenen  Volkshochschulkurse 
liefern  den  Beweis  für  die  Wichtigkeit  der  hier  in  der  Lösung  begriffenen 
Aufgabe.  Die  Männer  der  Wissenschaft  selbst  aber,  die  auf  so  einsame 
Posten  gestellt  sind,  entgehen  durch  eine  derartige,  vornehmlich  die  all- 
gemeinen Gesichtspunkte  der  Wissenschaft  berücksichtigende  Lehr- 
tätigkeit der  Gefahr,  in  einseitigem  Spezialistentum  zu  verknöchern  und 
den  Blick  für  das  große  Ganze  zu  verlieren. 

Nur  kurz  sei  zum  Schluß  noch  hervorgehoben,  daß  ein  jedes  Zentral- schausiramiung. 
museum,  entsprechend  der  in  einer  Großstadt  vereinigten  Fülle  von  In- 
telligenz, nun  auch  selbstverständlich  eine  Schausammlung  zu  ent- 
wickeln hat,  die  den  im  vorhergehenden  Abschnitt  dargelegten  Anforde- 
rungen entspricht  und,  neben  einer  Berücksichtigung  der  Interessen 
aller  Bevölkerungskreise,  in  bezug  auf  Räumlichkeiten  und  Anordnung 
auch  den  Ansprüchen  eines  verfeinerten  Geschmacks  gerecht  wird.  — 
In  der  Abteilung  der  heiniischen  Naturobjekte  dürfte  die  Fauna,  Flora 
und  Geologie  des  Gesamtstaates  zu  berücksichtigen  sein. 

2.  Unterrichtsmuseen.  Die  Hauptaufgabe  der  Unterrichtsmuseen 
liegt,  wie  schon  ihr  Name  sagt,  in  der  Unterstützung  und  Belebung  des 
naturwissenschaftlichen  Unterrichts.  Sie  liefern  dem  Dozenten  das 
notwendige  Demonstrationsmaterial  für  seine  Vorträge  und  bilden  eine  not- 
wendige  Ergänzung    der   Laboratorien,   botanischen   Gärten,  Exkursionen 

Die  Kultur  dhr  Gbcenwart.    L  t.  25 


,g(,  Karl  Kraepklin:  Naturwissenschaftlich-technische  Museen. 

und  sonstiger,   die  genauere  Bekanntschaft  mit  den  realen  Objekten   der 
Wissenschaft  bezweckenden  Übungen. 

Entsprechend    dem   sehr    verschiedenen   Charakter  naturwissenschaft- 
licher Lehrinstitute  muß  der  Inhalt  dieser  Lehrsammlungen  ein  sehr  ver- 
schiedener   sein;    in    jedem   Falle   aber    wird    die    bestmögUche    Unter- 
stützung  des  Lehrzieles    als    oberste  Norm  seiner  Fortentwicklung  zu 
gelten   haben.     Der   großen  Gefahr,    daß   in   solchen  Lehrsammlungen  im 
Laufe    der   Zeit    durch    Schenkung,    Gelegenheitskäufe,    persönliche    Lieb- 
habereien   des  Leiters  usw.  vielfach  Objekte    sich    anhäufen,    die    zu   den 
speziellen  Aufgaben  in  nur  lockerer  Beziehung  stehen,  ist  mit  Nachdruck 
zu  begegnen,  ohne  daß  deshalb  unter  allen  Umständen  die  Ausgestaltung 
der  Sammlung  für  wissenschaftliche  Spezialstudien  als  unerwünscht 
zu  bezeichnen  wäre.     So  muß  es  dem  Universitätslehrer  freistehn,  je  nach 
seinen  Neigungen  auf  rein  systematischem  Gebiete  sich  zu  betätigen  und 
hierfür    die    nötigen  Unterlagen    zu    sammeln,    sofern   dazu    nicht  größere 
Mittel    und  Aufstellungsräume    erforderlich    sind.     Noch    näher    liegt    die 
wissenschaftliche     Ausnutzung    und     Vervollständigung     der    Unterrichts- 
museen auf  den  mehr  praktischen  Gebieten    der  Land-  und  Forstwirt- 
schaft, des  Garten-  und  Obstbaus,  des  Fischereiwesens,  Bergbaus,  der  In- 
dustrie- und   Handelsprodukte,    bei   denen    man    zur   weiteren  Vertiefung 
der  Spezialforschung   fast    mit    Notwendigkeit    zu    einer  Entwicklung  der 
Sammlungen   kommt,    die   weit   über    das  Bedürfnis    der    einfachen  Lehr- 
tätigkeit hinausgeht.     In  allen  diesen  Fällen  wird  zum  mindesten  dafür 
Sorge  zu  tragen  sein,  daß  die  Übersichtlichkeit  der  für  Studienzwecke 
bestimmten  Objekte  nicht  durch  die  Fülle  des  Materials  verloren  geht. 

Ob  die  zunächst  ausschließlich  für  fachmännische  Studien  geschaffenen 
Lehrsammlungen  nun  auch  berufen  sind,  die  Allgemeinbildung  zu 
fördern,  kann  zweifelhaft  erscheinen.  In  WirkUchkeit  pflegen  ja  derartige 
Museen  an  Universitäten,  Akademieen  usw.,  wenigstens  in  beschränktem 
Maße,  dem  großen  Publikum  zugänglich  zu  sein;  es  darf  aber  nicht  außer 
acht  gelassen  werden,  daß  Fachbildung  und  Allgemeinbildung  zwei  recht 
heterogene  Dinge  sind,  und  daß  die  wissenschaftliche  Unterrichtssamm- 
lung nur  in  sehr  bescheidenem  Maße  den  Anforderungen  des  Laien- 
publikums sich  anpassen  kann.  Am  meisten  Gewinn  dürfte  das  letztere 
noch  aus  solchen  Museen  davontragen,  die  der  angewandten  Wissen- 
schaft dienen  und  demgemäß  Objekte  vor  Augen  führen,  die  auch  für 
das  praktische  Leben  Interesse  bieten. 

3.  Provinzialmuseen.  Diese  dritte  Hauptgruppe  der  naturwissen- 
schaftlichen Museen,  die  nach  langer,  kümmerUcher  Daseinsfristung  erst  in 
der  Gegenwart  zu  ungeahnter  Blüte  gelangt,  hat  die  Erweckung  und 
Belebung  des  Interesses  für  die  Natur  in  den  breiten  Schichten  des 
Volkes  zum  Zielpunkte.  Dementsprechend  muß  sie  den  Schwerpunkt 
ihrer  Tätigkeit  auf  die  Ausgestaltung  der  Schausammlung  legen,  die 
in   ansprechenden  Räumen  je   nach   Maßgabe   der  aufzuwendenden  Mittel 


III.  Die  Haopttypen  der  naturwissenschaftlichen  Museen  und  deren  Aufgaben.  ^jg? 

alle  die  verschiedenen  Gesichtspunkte  zu  berücksichtigen  hat,  die  wir  im 
früheren  als  für  die  Anbahnung  eines  tieferen  Verständnisses  des  Natur- 
ganzen  maßgebend  hervorhoben.  Im  Gegensatz  zu  den  Zentral-  und  den 
Unterrichtsmuseen  wird  die  Differenzierung  der  Provinzialmuseen  keine 
sehr  weitgehende  sein,  wenn  auch  die  Verschiedenheit  der  zu  Gebote 
stehenden  Mittel,  die  spezifischen  Neigungen  des  Leiters  und  der  Be- 
völkerung, wie  vor  allem  die  lokale  Eigenart  der  Umgebung,  ob  Küste, 
Flachland  oder  Gebirgsgegend,  mannigfache  Unterschiede  bedingen 
werden. 

Eine  wenn  auch  beschränkte  Lehrtätigkeit  durch  „Führungen"  und 
populäre  Vorträge  wird  das  Provinzialmuseum  kaum  entbehren  können, 
sofern  es  die  Sphäre  seines  Einflusses  nach  Möglichkeit  zu  erweitem 
strebt. 

Aber  auch  auf  wissenschaftliche  Tätigkeit  soll  und  darf  es 
keineswegs  völlig  verzichten.  Als  natürlicher  Mittelpunkt  für  die  natur- 
wissenschaftlichen Interessen  der  umgebenden  Landschaft,  deren  Sammler 
und  Naturfreunde  es  beraten  und  zur  Mitarbeiterschaft  anregen  soll,  hat 
es  vor  allem  den  Naturobjekten  der  Heimat  seine  Aufmerksamkeit  zuzu- 
wenden, dieselben  archivmäßig  zu  sammeln  und  so  für  die  geographische 
Verbreitung  der  Formen,  deren  Abhängigkeit  von  Boden  und  KJima, 
deren  wirtschaftliche  Bedeutung  usw.  usw.  feste  Unterlagen  zu  schaffen. 
Auch  Grund  und  Boden  des  Landes,  Vorgeschichte  und  Volkskunde 
bieten  dem  Provinzialmuseum  reiche  Gelegenheit  zu  wissenschaftlicher 
Betätigung,  während  es  andererseits  mit  rücksichtsloser  Entschiedenheit 
alles  von  sich  fernhalten  sollte,  was  der  Natur  der  Sache  nach  in  die 
Zentralmuseen  gehört.  Ist  doch  gerade  in  dem  nutzlosen  Ballast,  den  die 
meisten  Provinzialmuseen  in  Form  von  Geschenken,  Vermächtnissen,  Ge- 
legenheitskäufen usw.  fort  und  fort  in  sich  aufnehmen,  das  wesentlichste 
Hemmnis  für  die  energische  Durchführung  der  ihnen  nächstliegenden,  so- 
eben skizzierten  Aufgaben  zu  erblicken. 

Diese  Aufgaben  erscheinen  nach  unserem  heutigen  Standpunkte  so 
wichtig,  daß  man  dem  Gedanken,  es  sei  ein  planmäßig  angelegtes  Netz 
von  miteinander  in  reger  Wechselbeziehung  stehenden  Provinzial-  und 
Landschaftsmuseen  über  das  Gesamtgebiet  des  modernen  Kulturstaates  zu 
erstreben,  schwerlich  seine  Zustimmung  versagen  kann.  Ob  man  indes, 
wie  manche  wollen,  im  Verfolg  dieser  Idee  dereinst  auch  bis  zur  Er- 
richtung von  Kleinstadt-  oder  gar  Dorfmuseen  fortschreiten  wird,  darf 
billig  bezweifelt  werden. 


»S* 


Literatur. 

Im  folgenden  sind  einige  der  wichtigsten  Arbeiten  über  Bedeutung  und  Organisation 
der  Museen  in  historischer  Reihenfolge  aufgeführt.  Ein  uinfangreiches ,  aber  keineswegs 
vollständiges  Verzeichnis  aller  auf  Museen  bezüglichen  Schriften  findet  sich  in  Mxjrray; 
Museums  their  History   and  their  Use  Vol.  II  u.  III  (Glasgow,   1904). 

J.  D.  Major,  Unvorgreiflfliches  Bedencken  von  Kunst-  und  Naturalien-Kammern  ins- 
gemein (Kiel,   1674). 

M.  B.  Valentini,  Museum  museorum,  2  Vol.  (Frankfurt  a.  M.,   1714). 

C.  F.  Neickelius,  Museographia,  oder  Anleitung  zum  rechten  BegfrifF  und  nützlicher  An- 
legung der  Museorum  oder  Raritätenkammern  (Leipzig,   1727). 

M\D0NETTI,  Discours  sur  l'utilit^  des  cabinets  d'histoire  naturelle  dans  un  ^tat,  et  prin- 
cipalement  en  Russie  (St.  Petersbourg,  1766). 

A.  Agassiz,  On  the  Arrangement  of  Natural  Histoi-y  CoUections  in  Ann.  Mag.  Nat.  Hist. 

(3)  IX  (1862),  8.415-419. 

J.  E.  Gray,  On  Museums,  their  Use  and  Improvment  etc.  in  Ann.  Mag.  Nat.  Hist.  (3) 
XIV  (1864),  S.  283—297. 

A.  H.  Hagen,  Historical  Sketch  of  the  development  of  Natural  History  Museums  in 
Proc.  Boston  Soc.  Nat.  Hist.  XVII  (1874—75),  S.  387- 

Derselbe,  The  History  of  the  Origin  and  Development  of  Museums  in  Amer.  Natur.  X 

(1876),  s.  80—89,  135—148. 

W.  E.  Winks,  Local  Museums,  their  purpose  and  management  in  Rep.  and  Trans. 
Cardiff  Nat.  Soc.  IX  (1878),  S.  83—90. 

A.  C.  L.  G.  GÜNTHER,  Museums,  their  Use  and  Improvment  in  Rep.  50.  Meeting  Brit. 
Assoc.  (1880),  S.  591  —  598. 

E.  PiNDER,   Die  Aufgaben  der  Provinzial-Museen  (Leipzig,   1881). 

W.  A.  Herdmann,  On  an  ideal  Natural  Histoi-y  Museum  (Liverpool,   1887). 

H.  Dewitz,  Die  Aufgaben  großer  zoolog.  Landesmuseen,  in  Zool.  Anz.  (1888),  Nr.  281. 

A.  Fritsch,  Prinzipien  der  Organisation  der  naturhistorischen  Abteilung  des  neuen 
Museums  zu  Prag  (Prag,  1888). 

K.  Kraepelin,  Die  Bedeutung  der  naturhistorischen,  insonderheit  der  zoologischen 
Museen,  in  Naturw.  Wochenschr.  (1888)  Nr.  10,   II,   12. 

Sir  W.  Flower,  Museums,  their  rise,  use  etc.,  in'Brit.  Assoc.  Addr.  at  Newcastle  upon 
Tyne  (1889). 

K.  Moebius,  Die  zweckmäßige  Einrichtung  großer  Museen,  in  Deutsche  Rundschau, 
(1891),  S.  352—360. 

W.  B.  Dawkins,  The  Museum  Question,  in  Proc.  Mus.  Assoc.  (Manchester,  1892),  S.  13. 

F.  E.  Weiss,  The  Organisation  of  a  Botanical  Museum  ibid.  (Manchester,   1892),  S.  25). 
Sir  W.  Flower,  Modem  Museums,  in  Mus.  Assoc.  (London,   1893),  S.  21. 

G.  Br.  GoODE,  On  the  Classification  of  Museums,  in  Science  N.  S.  III  (1895),  S.  154 — i6i. 
A.  L.  Herrera,  Les  Mus^es  de  I'avenir,  in  Mem.  y  Rev.  Soc.  Cient.  „Antonio  AJzale". 

Mexico,  IX  (1896),  S.  221—251. 

Sir  W.  Flower,  Essays  on  Museums  and  other  Subjects  connected  with  Natural 
History  (London,   1898). 


Literatur.  380 

L.  P.  Gratacap,  Natural  History  Museums,  in  Science  N.  S.  VIII  (i8g8),  S.  29—37,  61—68. 

A.  König,  Ziele  u.  Aufgaben  naturhistorischer  Museen,  in  Naturw.  Wochenschr.  XIII 
(1898),  S.  71. 

E.  Hecht,  Quelques  id^es  sur  I' Organisation  [des  Musdes  d'histoire  natur.,  in  Feuill. 
jeun.  Natur.  (Sept.  1899). 

K.  Kraepelin,  Das  Naturhistorische  Museum  in  Hamburg  |Und  seine  Ziele  in  Verh. 
D.  Zool.  Ges.  (Hamburg,   1899),  S.  7—18. 

T.  VlGNOLl,  I  musei  modemi  di  storia  naturale,  in  Rend.  Ist.  Lomb.  (2)  XXXIII  (19CX)), 
S.  246—251,  332—344,  504—510. 

E.  Ray  Lancaster,  Scope  and  functions  of  Museums,  in  Nature  (1901),  S.  91. 

A.  B.  Mayer,  Über  Museen  des  Ostens  der  Ver.  Staaten  v.  Amerika  I  u.  II,  in  Abh. 
zool.  anth.  ethn.  Mus.  Dresden  IX  und  Beiheft  (1901). 

A.  Fritsch,  The  Museum  Question  in  Europe  and  America,  in  The  Museums  Journal 
(1904),  S.  247. 

D.  Murray,  Museums  their  History  and  their  Use,  3  Vol.  (Glasgow,   1904). 

An  periodischen  Schriften  sind  zu  nennen : 

Die  Schriften  der  Museums  Association,  und  zwar: 

a)  Report  of  Proceedings  of  the  Meetings  (seit  i8go). 

b)  The  Museums  Journal  (seit  1901). 

Museumskunde,  Zeitschr.  f.  Verwaltg.  u.  Technik  der  öffentl.  u.  privaten  Sammlungen. 
Herausgegeben  von  K.  Koetschau  (Berlin,  seit  1905). 


KUNST-  UND   KUNSTGEWERBE- 
AUSSTELLUNGEN. 

Von 
Julius  Lessing. 


Grundzüge.  I.  We s 6 n  Und   Aufgabe   der  Ausstellungen.     Die  Ausstellungen 

des  letzten  Jahrhunderts  haben  sich  in  unzähligen,  großen  und  kleinen 
Veranstaltungen  zu  einer  treibenden  Kraft  in  der  Entwicklung  von  Kunst 
und  Kunstgewerbe  entwickelt.  Für  das  nie  i-astende  Fortschreiten  bieten 
sie  Anhaltspunkte,  welche  das  Rückblicken  und  das  Vorwärtsblicken  er- 
möglichen. Aber  die  kleineren  Anhaltspunkte  mit  ihrem  feinen  Netze 
von  Beziehungen  ballen  sich  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  in  den  Welt- 
ausstellungen zu  großen  festen  Stufen  zusammen.  Erst  von  diesen  aus 
wird  das  Getriebe  der  Ausstellungen  verständlich.  Diese  sind  eines  der 
merkwürdigsten  Produkte  der  modernen  Zeit,  nicht  nur  in  ihrer  Anlage, 
in  der  Anhäufung  der  Waren  und  in  dem  Verkehr  der  Besucher,  sondern 
in  ihren  Grundbedingungen,  in  welchen  alle  Fäden  des  modernen  Lebens 
zusammengefaßt  sind. 

Wir  denken  bei  Weltausstellungen  an  einen  möglichst  großen  Aufbau 
von  künstlerischer  und  gewerblicher  Arbeit,  an  eine  grandiose  Gelegen- 
heit, seine  eigene  Fähigkeit  zu  zeigen  und  die  Fähigkeit  anderer  Völker 
kennen  zu  lernen.  Frühere  Kulturperioden  haben  nichts,  was  man  diesen 
Veranstaltungen  gleichstellen  könnte.  Man  darf  sich  wohl  der  Messen 
erinnern,  die  von  der  ältesten  Zeit  her  in  den  Hauptstädten  des  Verkehrs 
abgehalten  wurden  und  die  Kaufleute  aus  aller  Herren  Ländern  zu- 
sammenführten; sie  schlössen  sich  an  die  kirchlichen  Feste,  welche  einen 
Zusammenfluß  der  Menschen  sicherten,  bis  in  die  neueste  Zeit  haben  sie 
den  Namen  der  Michaelismesse,  Ostermesse  u.  a.  behalten.  Aber  diese 
Messen  bedeuteten  die  direkte  Anfuhr  von  Waren,  sie  gehören  in  eine 
Zeit,  welche  den  Kredit  und  das  kaufmännische  Vertrauen  nicht  kannte; 
man  mußte  die  Ware  vor  sich  haben,  um  sie  zu  erwerben;  man  hoffte 
und  erwartete,  daß  der  fremde  Kaufmann,  der  sie  bringt,  von  der  eigenen 
Ware  in  nahezu  gleichem  Betrage  mit  nach  Hause  nehme:  ein  Rest  des 
alten  Tauschhandels.     Alles  das  hat  sich  gewaltig  geändert.     Wir  wissen 


I.  Wesen  und  Aufgabe  der  Ausstellungen.  sgi 

jetzt  weit  über  die  Meere  hin,  was  ein  Land,  was  eine  Stadt,  ja  selbst 
ein  einzelnes  Geschäftshaus  zu  leisten  vermag;  große  Bankhäuser  ver- 
mitteln den  Geldverkehr  von  einem  Weltteil  zum  andern,  und  so  genügt 
in  vielen  Fällen  ein  Musterlager,  um  daraufhin  mit  vollem  Vertrauen  auf 
Monate  und  Jahre  hinaus  Lieferungen  zu  bestellen.  Und  selbst  diese 
Musterlager  braucht  der  Käufer  nicht  mehr  aufzusuchen.  Ein  Heer  von 
Geschäftsreisenden  durchzieht  die  Welt  und  knüpft  mit  emsigen  Händen 
das  große  Maschennetz,  welches  ganze  Schiffsladungen  zu  genau  abge- 
grenzten Zeitpunkten  von  Stelle  zu  Stelle  schiebt.  Nur  wo  noch  Reste 
mittelalterlicher  Unbeholfenheit  andauern,  erhält  sich  die  Messe  im  alten 
Sinne;  in  Nischni-Nowgorod  entsteht  in  jedem  Juli  eine  große  Budenstadt, 
wo  die  Karawanen  des  Orients  mit  Kamelen  und  Dromedaren  hoch- 
beladen einziehen,  Teppiche  und  Sämereien  durch  Steppen  und  Hoch- 
gebirge heranbringen  und  die  bedruckten  Kattune  und  Stahlwaren  Europas 
in  ihre  ferne  Heimat  zurückführen.  In  Europa  ist  diese  Art  der  Messen 
nahezu  verschwunden,  die  alten  Kaufhäuser  in  Leipzig  und  Naumburg 
stehen  leer.  Übrig  bleiben  nur  diejenigen  Stücke,  die  man  im  einzelnen 
prüfen  muß  und  auf  Proben  hin  nicht  ankaufen  kann,  von  den  gröberen 
Waren  hauptsächlich  die  Pelze.  Aber  vorgeführt  für  das  Urteil  und  die 
Kauflust  müssen  schließlich  alle  diejenigen  Waren  werden,  welche  ein 
künstlerisches  Element  bergen.  Läßt  sich  die  Form  einigermaßen  durch 
Kataloge  und  Preislisten  erkennen,  so  bleibt  doch  der  Grad  der  Aus- 
führung, die  Wirkung  des  Materials  zugleich  mit  der  Kunstform  zu  prüfen. 
Die  früheren  Jahrhunderte  mochten  dazu  besonderer  Veranstaltungen 
entraten,  der  Bürger  bestellte  sich  seine  Hausausstattung  bei  dem  Nachbar 
Tischlermeister,  jeder  kannte  den  andern  und  für  die  hinzureisenden 
Fremden  wurden  an  einzelnen  Stellen  kleine  Lager  fertiger  Waren  ge- 
halten. Für  die  Güte  der  Waren  bürgte  in  den  meisten  Zweigen  die 
Zunft,  welche  das  einzelne  Stück  prüfte  und  abstempelte.  Diese  Art 
direkter  Bestellung  ging  bis  in  das  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  hinein. 
Die  Könige  von  Frankreich,  welche  die  Kunstformen  für  ganz  Europa 
angaben,  sicherten  sich  die  Arbeit  hersorragender  Meister,  denen  sie 
besondere  Rechte  und  den  Arbeitsplatz  in  ihren  Schlössern  gaben.  Die 
königliche  Manufacture  des  Gobelins  in  Paris  stellte  keineswegs  nur  die 
Wandteppiche  her,  welche  jetzt  ihren  Namen  führen,  sondern  Möbel, 
Bronzen,  Silberwaren  im  größten  Stile,  welche  kaum  käuflich  waren  und 
nur  als  Geschenke  an  die  Höfe  abgegeben  wurden.  Li  der  eigentlichen 
Kunst  mochte  es  den  Meistern  einfallen,  rein  persönlichen  Eingebungen 
zu  folgen.  Der  Bildhauer  arbeitete  fast  selbstverständlich  nur  im  Auf- 
trage, der  Maler  dagegen  hatte  es  leichter,  freie  Schöpfungen  herzustellen; 
auch  er  konnte  im  wesentlichen  darauf  rechnen,  daß  seine  Gönner  ihn  in 
der  Werkstatt  aufsuchten  und  die  fertigen  Bilder  erwarben.  Aber  für  ihn 
mußte  doch  ein  Bedürfnis  eintreten,  auszustellen,  und  so  werden  wir  den 
Anfangen  der  Kunstausstellungen  im   17.  Jahrhundert  begegnen. 


5Q2  Julius  Lessing;  Kunst-  und  Kunstgewerbe- Ausstellungen. 

II.  Gewerbeausstellungen.  Um  die  eigentlichen  gewerblichen 
Ausstellungen  entstehen  zu  lassen,  mußte  erst  das  Gerüst  der  alten  Gesell- 
schaft mit  ihren  reichen  und  vornehmen  Bestellern  zerbrochen  werden. 
Frankreich.  Die  fratizösische  Revolution  tritt  auch  hier  zerstörend  und  schaffend  zu- 
gleich ein.  Die  vornehme  Gesellschaft  Frankreichs,  für  welche  recht 
eigentlich  die  hochentwickelte  Industrie  arbeitete,  war  verschwunden. 
Patriotisch  gesinnte  Männer  sahen  mit  Betrübnis,  wie  sich  in  den  Werk- 
stätten der  Pariser  Handwerker  die  herrlichsten  Teppiche,  Bronzen  und 
Kunstmöbel  anhäuften,  die  niemand  zu  kaufen  wagte.  Im  Jahre  1798 
errichtete  man  auf  dem  Marsfelde,  das  seitdem  eine  so  unendliche  Reihe 
von  Ausstellungen  beherbergt  hat,  eine  Verkaufsstelle  mit  wenigen 
Budenreihen;  11  o  Aussteller  waren  vertreten,  drei  Tage  dauerte  das 
ganze  Unternehmen,  aber  es  war  von  Erfolg  gekrönt  und  wurde  wieder- 
holt. Im  Jahre  1801  sah  man  bereits  220  Aussteller,  die  im  Hofe  des 
Louvre  ihre  Waren  sechs  Tage  lang  ausgebreitet  hatten,  1802  sind  es 
540  Aussteller  und  sieben  Tage.  Dann  griff  1806  Napoleon  I.  ein  und  gab 
die  Esplanade  des  Invalides  her,  man  zählte  1422  iVussteller  während 
24  Tage.  Bei  dieser  Ausstellung  ging-  man  bereits  über  Paris  weit  hin- 
aus, die  Departements  waren  aufgefordert,  sich  zu  beteiligen,  und  so 
sehen  wir  hier  die  eig'entliche  Wurzel  der  Landesausstellungen,  welche 
nunmehr  in  rascher  Folge  bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  in  allen 
Kulturstaaten  Europas  abgehalten  wurden.  In  Frankreich  selbst  wieder- 
holte man  diese  Ausstellungen  in  kurzen  Intervallen  von  vier  bis  fünf 
Jahren.  Zumeist  handelte  es  sich  um  Erzeugnisse  der  eigentlichen  Luxus- 
industrie, dessen,  was  wir  heute  Kunstgewerbe  zu  nennen  pflegen,  aber 
auch  Gebrauchsgegenstände  von  guter  Ausführung,  Werkzeuge  und  halb- 
verarbeitete Produkte  wurden  allmählich  herangezogen. 

Suchte  bis  dahin  der  Käufer  die  Waren,  so  fing  nunmehr  die  Ware 
an,  den  Käufer  zu  suchen. 

Es  war  auch  dies  nicht  zufällig,  sondern  ganz  wesentlich  die  Folge 
der  Maschinenindustrie,  welche  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
einsetzte.  Die  kostspielige  Anlage  der  Maschinen  erforderte  einen 
größeren  Absatz  der  Waren,  und  war  auch  die  kunstgewerbliche  Produk- 
tion in  ihren  Spitzen  auf  die  Arbeit  der  Hand  angewiesen,  so  war  doch 
die  Grundlage  der  Arbeit  durch  die  Arbeitsmaschine  so  wesentlich  er- 
leichtert, daß  die  Zahl  der  in  gleicher  Zeit  hergestellten,  selbst  künst- 
lerisch verzierten  Stücke  sich  in  schnellster  Folge  verdoppelte,  verdrei- 
fachte, bis  in  das  Hundertfache  stieg.  Der  Weg  vom  Kattundruck  mit 
Handmodeln,  bis  zum  Druck  mit  Dampfwalzen,  die  in  einem  Tage  in 
Meilenlängen  bedruckte  Stoffe  herzustellen  vermochten,  und  der  damit  zu- 
sammenhängende Massenimport  englischer  Manufakturwaren  ist  ein  spre- 
chendes Beispiel.  Man  ward  gezwungen,  der  Bevölkerung  zu  zeigten,  was 
und  wie  billig  man  zu  leisten  vermochte.  Selbst  in  dem  Bannkreise  der 
einzelnen     Stadt    hatte     die     Fühlung     des    Bürgers     mit    den     einzelnen 


n.  GewerbeaussteUungen.     ITI.  Weltausstellungen.  ßgj 

Gewerbtreibendan     aufgehört,     das    Ausstellen    war    zur    Notwendigkeit 
geworden. 

In   Deutschland    bot   München    1818    die    erste   bemerkenswerte   Aus-     Cewerbe- 

ausstollungen. 

Stellung.  Dann  folgt  über  alle  Länder  Europas  hin  eine  Flut  von  üeutscUani 
städtischen,  provinzialen  und  Landesausstellungen,  durch  welche  in  den 
Zentren  des  Gewerbes  die  Bevölkerung  allmählich  lernte,  sich  in  die 
neuen  Herstellungsweisen  einzugewöhnen.  Eine  Art  von  politischer  Be- 
deutung hatte  Mainz  1842  nach  Begründung  des  Zollvereins,  hier  war 
zum  ersten  Male  der  Versuch  gemacht,  Deutschland  als  einen  einheit- 
lichen Staat  zu  behandeln.  Berlin  1844  blieb  noch  Generationen  hindurch 
lebendig  in  der  Erinnerung  der  Bevölkerung,  man  sah  hier  in  der  Haupt- 
stadt des  preußischen  Staates  zum  ersten  Male,  was  man  zu  leisten  ver- 
möge; eine  große  Menge  von  Waren,  besonders  Stoffe  und  Eisen,  welche 
bis  dahin  als  englische  Ware  auf  dem  Markte  waren,  wurden  als  heimische 
Erzeugnisse  erkannt. 

Diese  Ausstellungen  unterschieden  sich  erheblich  von  den  alten 
Messen.  Natürlich  sollten  sie  dem  Arbeiter  und  Fabrikanten  einen  Ab- 
satz bringen;  es  war  und  blieb  bis  zum  heutigen  Tage  ein  Ehrentitel 
für  die  ausgestellte  Ware,  Käufer  gefunden  zu  haben;  aber  die  Aussicht 
auf  den  direkten  Verkauf  war  doch  schon  nicht  mehr  das  einzige,  was 
zum  Ausstellen  veranlaßte.  Man  sagte  sich,  daß  es  dem  Vaterlande 
zum  Ruhme  gereiche,  eine  groß  entfaltete  Industrie  vorzuführen,  und  man 
erkannte  auch  bereits,  daß  der  moralische  Erfolg  materiellen  Vorteil 
brächte.  Dringt  das  Bewußtsein  durch,  daß  die  deutsche,  die  preußische, 
die  westfälische,  die  Berliner  Arbeit  auf  gewissen  Gebieten  Vorzügliches 
leistet,  so  kommt  das  jedem  Einzelnen,  auch  dem  Geringsten,  zugute  und 
drückt  sich  allmählich  in  dem  Absatz  aus.  So  bemühen  sich  denn  der 
Staat  und  die  Gesellschaft,  die  Ausstellung  durch  besondere  Zuwendungen 
zu  bereichern.  Man  macht  Bestellungen  für  öffentliche  Zwecke,  um  sie 
zunächst  auf  der  Ausstellung  vorführen  zu  können.  Der  Handwerker 
macht  den  Bestellern  mäßigere  Bedingungen,  wenn  er  das  Recht  hat, 
die  betreffenden  Prachtstücke  noch  vor  der  Ablieferung  öffentlich  vorzu- 
führen. 1844  räumt  man  in  Berlin  das  Zeughaus,  die  Hochburg  des 
waffenstarrenden  Preußens,  der  Landesausstellung  ein  und  gibt  ihr  somit 
von   vornherein   in   den  Augen   der  Bürgerschaft  eine  erhöhte  Bedeutung. 

III.  Weltausstellungen.    Diese  Landesausstellungen  stehen  noch  im       wcit- 

^  ...  y^  ausatclluDgen, 

Bannkreis  lokaler  Anschauungen,  aber  es  keimt  in  ihnen  der  Gedanke 
der  Weltausstellungen.  Um  ihn  zur  Reife  zu  bringen,  bedurfte  es  noch 
großer  umwälzender  Ereignisse  auf  dem  Gebiete  des  Verkehrs,  es  bedurfte 
der  Eisenbahnen,  die  1835  begannen  und  im  Laufe  der  vierziger  Jahre 
im  schnellen  Fortschreiten  alle  Hauptstätten  zunächst  einmal  der  euro- 
päischen Kultur  miteinander  verbanden.  Jetzt  zum  ersten  Male  durfte  man 
daran    denken.   Völkerfeste    zu    veranstalten,    welche   nicht    einzelne   Ver- 


,Q^  Jixius  Leasing:   Kunst-  und  Kunstgewerbc-Ausslellungen. 

treter,  sondern  ganze  Scharen  der  Bewohner  in  BewegTing  setzen  sollten. 
In  diese  Entwicklung  der  Eisenbahnen  hinein  fiel  die  Ausbildung  der 
elektrischen  Telegraphie,  die  im  Laufe  von  wenigen  Minuten  Kunde  zu 
geben  vermochte  von  dem  fernsten  Punkte  des  Erdballes  her,  hier  hinein 
fiel  die  Erfindung  der  Photographie,  welche  das  Bild  des  Auges  festhielt. 
Die  Unterwerfung  der  Naturkräfte  in  den  Dienst  der  Menschheit,  die 
ungeheuere  Ausbildung  der  Maschinen  brachte  eine  so  vollständige  Um- 
wälzung aller  Vorstellungen  von  Kraft  und  Leistungen,  daß  aus  diesem 
an  Keimen  überreichen  Boden  weltbewegende  Gedanken  emporsprießen 
konnten,  die  ein  früheres  Jahrhundert  niemals  zu  fassen  imstande  gewesen 
war.  Vor  diesem  übermächtigen  Strome  brachen  auch  die  Schranken 
engherziger  Zollpolitik  zusammen.  Der  Freihandel  wurde,  wenn  auch  noch 
nicht  völlig  erreicht,  so  doch  als  das  große  erstrebenswerte  Ziel  der  Neu- 
zeit verkündet. 

Auf  diesem  Boden  ist  die  Weltausstellung  von  London  1851  er- 
wachsen. 

I.  London  1851.  Wenn  jemals  in  der  Kulturgeschichte  ein  großer 
neuer  Gedanke  wie  eine  edle  Frucht  am  Baume  der  Menschheit  aus- 
gereift ist,  wenn  jemals  die  Ziele  klar  vorbereitet,  alle  Wünsche  und  Be- 
dingungen dem  bestimmten  Ziel  unterworfen,  wenn  jemals  ein  solches 
Ziel  auch  klar  und  voll  erreicht  ist  und  in  klar  erkennbarer  Weise  seine 
Wirkung  auf  die  Mitzeit  und  ihre  Nachfolge  ausgeübt  hat,  so  ist  es 
diese  erste  Weltausstellung  von  London  185 1.  Es  ist  das  unsterbliche 
Verdienst  des  Prinzgemahls  Albert  von  England,  in  seiner  hohen  Seele 
den  Gedanken  einer  Weltausstellung  rein  erfaßt  und  ohne  Rücksicht  auf 
kleinliche  Bedenken  auf  das  ideale  Ziel  hingelenkt  zu  haben.  Es  handelte 
sich  für  ihn  nicht  nur  um  ein  lehrreiches  Nebeneinander  der  Gewerbe- 
erzeugnisse aller  Völker;  ihm  bedeutete  das  Zusammenführen  der  Arbeit 
der  ganzen  Welt  auf  einen  einzigen  Punkt  die  Vereinigung  des  Menschen- 
geschlechtes in  friedlicher  Arbeit.  Nicht  aufgehoben  werden  sollten  die 
Einzelheiten;  jedes  Staatswesen  sollte  zu  seinem  vollen  Rechte  kommen. 
Niemand  sollte  beraubt,  sondern  jeder  bereichert  zurückkehren  von 
einer  Ausstellung,  in  der  er  sein  Bestes  eingesetzt,  um  auch  das  Beste 
anderer  Völker  frei  nach  Hause  führen  zu  können. 

Der  hochsinnige  Aufruf,  den  Prinz  Albert  erließ,  fand  einen  begei- 
sterten Widerhall.  Wer  sich  die  Mühe  gibt,  die  Zeitungen  des  Jahres 
1850  durchzusehen,  wird  eine  wahre  Hochflut  der  Gedanken  finden.  Das 
Jubiläum  der  Arbeit  werde  gefeiert  werden.  Einst  habe  Rom  es  ver- 
mocht, unter  der  Weltherrschaft  des  Papstes  Jubiläumsjahre  einzurichten, 
zu  denen  Pilger  aus  allen  Weltteilen  zusammenströmten:  aber  was  wollten 
diese  Pilgerscharen  sagen  gegen  die  Fluten  der  Völker,  die  nunmehr 
nach  London  strömen  würden;  welche  Schätze  würde  man  zusammen- 
bringen; wie  müßte  alles  dagegen  verschwinden,  was  die  Geschichte  uns 
erzählt    von    den    Beutemassen,    welche    römische    Imperatoren    und    die 


III.  Weltausstellungen.  ige 

Satrapen  des  Ostens  über  Blut  und  Leichen  herangeschleppt  hätten.  Was 
hier  zusammenkäme,  müßte  eine  so  ungeheure  Wirklichkeit  haben,  daß 
alle  Phantasie  früherer  Jahrhunderte  dagegen  lahm  erschiene.  Das  ganze 
Menschengeschlecht  sollte  sich  an  dieser  Stätte  fühlen  wie  eine  einzige 
große  Familie,  und  die  Arbeit  sei  ihre  Mutter.  Lothar  Bucher,  der  1851 
als  politischer  Flüchtling  in  London  lebte,  hat  diesen  Anschauungen  die 
klaren  Worte  verliehen  und  die  kulturhistorische  Bedeutung  der  Welt- 
ausstellung in  voller  Größe  erkannt.  Er  schrieb  damals:  „Es  gibt  Ereig- 
nisse in  der  Geschichte  des  Menschengeschlechtes,  in  denen  das  stille 
Wachstum,  welches  selbst  Stürme  und  Ungewitter  nicht  zu  hindern  ver- 
mögen, plötzlich,  wie  das  Pflanzenleben  im  Aufbruch  zur  Blüte,  zur  pracht- 
vollen Entwicklung,  zum  gebieterischen  Beweise  seines  Daseins  kommt. 
Das  sind  Knotenpunkte  des  Geschichtslaufes;  sie  scheiden  ein  Zeitalter 
vom  andern,  indem  sie  die  Leistungen  einer  abschließenden  Periode  zur 
Anerkennung  und  zum  Bewußtsein  des  Geschlechtes,  das  aus  ihr  hervor- 
geht, bringen  und  in  Kopf  und  Herz  desselben  zugleich  den  Samen  für 
die  Zukunft  ausstreuen." 

Dieser  großen  Anschauung,  aus  welcher  der  Ausstellungsgedanke 
hervorging,  entsprach  die  Ausführung.  In  acht  Monaten  war  alles  voll- 
endet. „Ein  Wunder,  das  nun  Geschichte  ist."  Eine  hohe  Begeisterung 
hatte  alle  Kreise  des  englischen  Gewerbes  erfaßt.  Es  war  die  Zeit,  in 
der  England  fast  ohne  Nebenbuhler  im  Großgewerbe  dastand  und  seine 
Waren  als  die  vorzüglichsten  der  Welt  überallhin  ausschüttete.  Wenn  es 
gelang,  die  Bevölkerung  des  Weltalls  nach  London  zu  führen,  so  durfte 
auch  der  materielle  Nutzen  für  die  englische  Bevölkerung  nicht  aus- 
bleiben. Mächtig  hob  sich  der  Stolz  des  Bürgertums.  Im  Kern  der  Be- 
wegung steht  der  Grundsatz,  daß  nicht  der  Staat,  sondern  lediglich  die 
freie  Tätigkeit  der  Bürger  ein  derartiges  Werk  hervorbringen  müsse. 
„Der  gegenseitigen  Hilfeleistung  menschlichen  Fleißes  über  die  ganze 
Welt  kann  der  Eingriff  durch  Anordnungen  außerhalb  der  freien  Privat- 
tätigkeit nur  schaden."  Zwei  Privatleute  erboten  sich  sofort,  auf  ihre 
eigene  Gefahr  einen  Palast  für  eine  Million  Mark  zu  bauen.  Man  ent- 
schloß sich  aber  zu  einem  noch  größeren  Maßstabe  und  der  dafür  not- 
wendige Garantiefonds  war  in  allerkürzester  Frist  gezeichnet. 

Für  den  großen  neuen  Gedanken  fand  sich  die  große  neue  Gestalt. 
Der  Gärtner  Paxton  erbaute  den  Kristallpalast.  Wie  etwas  Märchen- 
haftes klang  die  Kunde  durch  alle  Lande,  daß  man  aus  Glas  und  Eisen 
einen  Palast  bauen  würde,  der  18  Morgen  Landes  bedecke.  Paxton 
hatte  nicht  lange  vorher  eines  der  Treibhäuser  in  Kew,  in  dem  die  Palmen 
übermächtig  emporschössen,  mit  einem  gewölbten  Dache  aus  Glas  und 
Eisen  überdeckt,  und  das  gab  ihm  den  Mut,  an  die  neue  Aufgabe  heran- 
zutreten. Als  Stätte  für  die  Ausstellung  wählte  man  den  stattlichsten 
Park  von  London,  den  Hydepark,  der  in  der  Mitte  eine  weit  ausgedehnte, 
freie  Wiese  bot,  die  nur  in  ihrer  kurzen  Achse  von  einer  Allee  herrlicher 


5q5  Julius  Lf.ssinü;   Kunst-  und   Kunstgewerbe- Ausstellungen. 

Ulmen  durchquert  wurde.  Aus  dem  Kreise  der  Angstlichen  erscholl  der 
Schreckruf,  daß  man  einem  Phantasiegespinst  zuliebe  diese  Bäume  nicht 
opfern  dürfe.  So  werde  ich  die  Bäume  überwölben,  war  die  Antwort 
Paxtons,  und  er  entwarf  das  Querschiff,  das  in  einer  Wölbung  von  1 1  2  Fuß 
Höhe  —  höher  als  das  Berliner  Schloß  —  die  ganze  Baumreihe  in  sich 
aufnahm. 
Kuustformon.  Es   ist   im    allerhöchsten    Grade   merkwürdig  und   bedeutungsvoll,   daß 

diese  Weltausstellung  von  London,  die  erwachsen  war  auf  den  technischen 
Errungenschaften  der  Dampfkraft,  der  Elektrizität  und  des  Verkehrs,  daß 
diese  zugleich  für  den  Umschwung  der  Kunstformen  innerhalb  dieser 
ganzen  Periode  den  großen  entscheidenden  Schlag  geführt  hat.  Einen 
Palast  zu  bauen  aus  Glas  und  Eisen,  das  war  damals  der  Welt  wie  eine 
Art  phantastischer  Eingebung  für  einen  Gelegenheitsbau  erschienen.  Wir 
erkennen  jetzt,  daß  es  der  erste  große  Vorstoß  ist  auf  dem  Gebiete  einer 
völlig  neuen  Formengebung.  Wenn  frühere  Jahrhunderte  sich  damit  be- 
gnügen mußten,  die  Spannweite  der  Gebäude  und  die  Form  ihrer  Teile 
danach  zu  bemessen,  was  Stein  und  Holz  an  Länge  und  Tragkraft  her- 
gaben, so  sind  wir  jetzt  dieser  Fessel  entbunden.  Mit  dem  Eisen  als 
Alaterial,  mit  der  Maschinenkraft  als  schaffendem  Diener  sind  wir  in  der 
Lage,  Räume  zu  überspannen,  von  denen  frühere  Jahrhunderte  keine 
Ahnung  hatten. 

Alles  dies  durfte  zunächst  als  eine  rein  technische  Errungenschaft 
gelten.  Bis  in  die  zweite  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts  hinein  war  man 
noch  geneigt,  die  ganze  Eisenkonstruktion  nur  als  Gerüst  anzusehen 
für  die  eigentlichen  Kunstformen  altgewohnten  Materials.  Nur  ganz  all- 
mählich drang  die  Überzeugung  durch,  daß  auf  dieser  mechanisch  ent- 
standenen Grundlage  auch  neue  Kunstformen  erwachsen  könnten  und 
müßten.  Die  vollständige  Umbildung  des  Konstruktionswesens  muß  zu- 
nächst das  Haus,  dann  aber  alle  Teile  unseres  Hausrates  in  die  Um- 
wälzung hineinziehen.  Lauter  und  lauter  erschallt  in  unseren  Tagen  der 
Ruf,  daß  wir  uns  einer  modernen  Kunst  zuzuwenden  haben,  bei  der  jedes 
Gerät  aus  seinem  Zweckbedürfnis  und  aus  den  technischen  Voraus- 
setzungen heraus  konstruiert  sein  müsse.  Der  konstruktive  Stil  gegen- 
über dem  historischen  ist  das  Stichwort  der  modernen  Bewegung  ge- 
worden, und  der  Punkt,  von  dem  aus  dieser  Gedanke  zum  ersten  Male 
siegreich  in  die  Welt  hineinstrahlte:  es  ist  der  Kristallpalast  zu  London 
im  Jahre  1851.  Und  wieder  eine  neue  grandiose  Blüte  dieses  Gedankens 
ist  von  der  Pariser  Ausstellung  im  Jahre  1889  der  Eiffelturm,  ein  unge- 
heueres Ausrufungszeichen  der  neuen  Periode,  welche  sich  nicht  nur  regt, 
sondern   bereits  mit  festem  Fuß  in  der  Wirklichkeit  steht. 

Im  Jahre  1851  hatte  man  zuerst  nicht  einmal  glauben  wollen,  daß  es 
technisch  möglich  sei,  mit  Glas  und  Eisen  einen  Palast  kolossaler  Ab- 
messungen zu  erbauen.  In  den  Veröffentlichungen  jener  Tage  finden  wir 
als  Merkwürdigstes   die  Verbindung  der  Eisenglieder  dargestellt,   die  uns 


in.  Weltausstellungen.  397 

jetzt  etwas  Alltägliches  geworden  ist.  England  durfte  sich  rühmen,  in 
den  vorhandenen  Fabriken  ohne  Anspannung  weiterer  Kräfte  dieser 
ganz  neuen  und  unerhörten  Aufgabe  in  der  Zeit  von  acht  Monaten  ge- 
recht geworden  zu  sein.  Triumphierend  rief  man  aus,  wie  es  Jahrtausende 
gebraucht  habe,  um  das  Glas  seines  Charakters  einer  besonderen  Kost- 
barkeit zu  entkleiden,  wie  noch  im  16.  Jahrhundert  ein  kleines  verglastes 
Fenster  ein  Luxusgegenstand  gewesen  sei,  und  wie  man  jetzt  ein  Ge- 
bäude, das  18  Morgen  bedeckt,  ganz  aus  Glas  herzustellen  vermöge.  Ein 
Mann  wie  Lothar  Bucher^war  sich  klar,  was  diese  neue  Konstruktion 
bedeute.  „Dieses  Gebäude  ist  der  ungeschmückte ,  von  allem  Schein 
befreite,  architektonische  Ausdruck  der  Tragkräfte  in  schlanken  Eisen- 
gliedem."  Über  diese  Bezeichnung,  die  geradezu  das  Programm  der 
Zukunft  enthielt,  weit  hinaus  ging  der  phantastische  Reiz,  den  dieser 
Bau  auf  alle  Gemüter  ausübte.  „Es  ist  nüchterne  Ökonomie  der  Sprache, 
wenn  ich  den  Anblick  des  Raumes  unvergleichlich,  feenhaft  nenne,  es 
ist  ein  Stück  Sommernachtstraum  in  der  Mittagssonne."  (L.  B.)  Diese 
Empfindungen  zitterten  nach  in  der  ganzen  Welt.  Das  Wort  „Kristall- 
palast" erinnerte  an  eine  ferne  Märchenwelt,  und  selbst  jetzt  noch,  da 
nur  Trümmer  des  Palastes  in  Sydenham  stehen,  erfüllen  sie  uns  mit 
einem  Schauer  der  Ehrfurcht  und  reinem  Entzücken.  Diesem  großen 
Zuge  des  Kristallpalastes  entsprach  der  äußere  Erfolg.  17000  Aussteller 
waren  beteiligt,  darunter  9730  Engländer,  36  Millionen  Besucher  waren 
erschienen,  5  Millionen  Überschuß  blieben.  Man  erwarb  für  künftige 
Unternehmungen  ähnlichen  Charakters  ein  mächtiges  Gelände  in  South 
Kensington,  welches  somit  der  Nährboden  für  gewerbliche  und  wissen- 
schaftliche Entwicklung  auf  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  hin  wurde. 
Was  man  mit  der  Weltausstellung  zunächst  bezweckt  hatte,  erfüllte 
sich  in  glanzvollster  Weise.  Die  Nationen  sahen  zum  ersten  Male  ihre 
Erzeugnisse  nebeneinander  stehen;  in  diesem  Ringen  aller  gegen  alle 
erkannte  man,  wcis  die  eigene  Arbeit  wert  sei.  So  manches,  was  man  zu 
Hause  als  besonders  Herrliches  empfunden  hatte,  schwand  zusammen,  und 
selbst  der  mächtigste  aller  vertretenen  Faktoren,  die  englische  Fabrik- 
industrie, lernte  erkennen,  was  ihr  fehlte.  Ihre  Produkte  mochten  tüchtig 
sein  für  das  tägliche  Bedürfnis,  aber  es  fehlte  ihnen  der  künstlerische 
Reiz,  der  in  alter  Tradition  die  Arbeiten  Frankreichs  wie  mit  einem 
goldenen  Glanz  umstrahlte.  England  zog  aus  dieser  Betrachtung  die 
praktische  Lehre.  Man  erkannte,  daß  man  in  der  einseitigen  Maschinen- 
industrie ein  köstliches  Gut,  die  künstlerische  Ausbildung,  preisgegeben 
hatte  und  setzte  sofort  alle  mächtigen  Hebel  des  reichen  und  einsichts- 
vollen Landes  in  Bewegung,  um  die  fehlende  Tradition  durch  künstliche 
Mittel  zu  ersetzen. 

Man  hätte  sich  die  Frage  aufwerfen  können,  ob  es  möglich  wäre, 
aus  den  neugewonnenen  Formengrundsätzen  des  Eisenbaues  eine  neue 
Formensprache    zu    erfinden,    welche    als    der    natürliche    und    notwendige 


agg  JvLius  Lkssing:  Kunst-  und  Kunstgewerbe- Ausstellungen. 

Ausdruck  des  Maschinenzeitalters  seinen  Siegeslauf  durch  die  Welt  halten 
müßte.  Aber  so  weit  war  man  damals  noch  nicht.  Man  hielt  sich  zu- 
nächst an  das  Hergebrachte  und  bemühte  sich,  an  Beispielen  alter  Kunst 
ein  möglichst  großes  Material  zusammenzutragen  als  das  wahre  Lebens- 
element der  heimischen  Kunst.  So  entstand  die  eigentümlich  rückwärts 
gewendete  Bewegung,  welche  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  aus- 
gefüllt hat  und  erst  jetzt  ganz  allmählich  im  Schwinden  begriffen  ist.  Man 
errichtete  das  South-Kensington-Museum,  jetzt  Viktoria-  und  Albertmuseum 
genannt,  häufte  die  unendlichen  Schätze  aus  den  alten  Kulturländern  zu- 
sammen, schuf  Leih-  und  Wanderausstellungen  und  einen  Kunstunterricht 
über  das  ganze  Land  hin.  In  weniger  als  zehn  Jahren  hatte  sich  das 
Bild  der  englischen  Abteilung  auf  den  weiteren  Ausstellungen  vollständig 
verwandelt;  das  Künstlerische  trat  in  den  Vordergrund,  das  Technische 
wich  in  die  Maschinenhalle  zurück.  Das  im  South-Kensington-Museum 
gegebene  Beispiel  wurde  das  rückhaltlos  anerkannte  Vorbild  für  ganz 
Europa.  Was  in  jener  Zeit  in  Wien,  in  Berlin,  in  München,  dann  auch 
in  den  nordischen  und  schließlich  in  den  romanischen  Ländern  an  kunst- 
gewerblichen Museen  entstanden  ist,  geht  alles  bis  in  die  Kleinigkeiten 
hinein  auf  das  South-Kensington-Museum  zurück,  und  jedes  der  unzähligen 
Programme  jener  Jahre  beginnt  seine  Betrachtung  naturgemäß  mit  der 
Weltausstellung  von  1851,  aus  der  die  Erkenntnis  auf  diesem  Gebiete 
hervorgewachsen  sei. 

In  dieser  Rückbewegung  nach  den  alten  historischen  Formen  von 
dem  Boden  der  allermodernsten  Schöpfung  des  Kristallpalastes  heraus 
sehen  wir  jene  Schraubenbewegung  der  Entwicklung,  die  scheinbar  zu 
einem  früheren  Punkte  zurückkehrt,  aber  doch  immer  aufwärts  strebt. 
Auch  für  andere  Punkte  der  Erkenntnis  war  London  1851  von  durch- 
schlagender Bedeutung.  Hier  wurden  zum  ersten  Male  in  großer  Menge 
die  Erzeugnisse  der  Kolonieen  zur  Darstellung  gebracht.  Man  sah  die 
herrlichen  Teppiche  von  Indien  im  Gegensatz  zu  den  europäischen 
Teppichen  mit  Blumenmustern  in  buntschreienden  Farben;  man  sah,  was 
in  Kanada  und  den  Südsee-Inseln  Völker  schaffen,  die  man  einfach  zu 
den  Wilden  zählte,  und  deren  Waffen  und  Schmuck  bis  dahin  nur  ver- 
einzelt in  den  Raritätenkabinetten  aufbewahrt  wurden.  Leute  mit  weit- 
schauendem Blick  erkannten  damals  schon  in  diesen  primitiven  Werk- 
stücken eine  lebendige  und  frische  Äußerung  des  Kunstgefühls,  welches 
unbelastet  von  Traditionen  auf  einfache  und  konstruktive  Formen  hinaus- 
geht. Wenn  jetzt  unsere  modernste  Richtung  wieder  auf  derartig  Primi- 
tives zurückgreift,  so  ist  auch  hierfür  London  1851  der  Ausgangspunkt. 
In  dem  grundlegenden  Werke  für  alle  unsere  Arbeit,  dem  'Stil'  von 
Gottfried  Semper,  der  einer  der  eifrigsten  Mitarbeiter  des  Prinzgemahls 
war,  ist  bereits  im  Jahre  1860  dieser  Anschauung  der  vollbewußte  Aus- 
druck gegeben. 

Die    erste  Weltausstellung   in   London    ist    der    wichtigste    Merkstein 


III.  Weltausstellungen.  ^jng 

in    der   gewerblichen    und    kunstgewerblichen    Entwicklung    des     ig.  Jahr- 
hunderts. 

2.  Paris  1855.  Der  wunderbare  Erfolg  der  ersten  Weltausstellung 
mußte  naturgemäß  dahin  fuhren,  daß  alle  Kulturstaaten  sich  des  neuen 
Gedankens  bemächtigten,  nicht  nur  um  eine  Pflicht  zu  erfüllen,  sond  ern 
um  direkt  handgreifliche  Erfolge  einzuheimsen.  Am  nächsten  lag  dieser 
Gedanke  für  Frankreich,  welches  sich  innerhalb  der  kunstgewerblichen 
Produktion  bis  zum  gewissen  Grade  als  Siegerin  in  London  betrachtet 
hatte.  Daß  der  Grundgedanke  der  englischen  Ausstellung  ein  wesentlich 
modemer  war,  daß  England  seine  Arme  über  alle  Kontinente  ausbreitet  e, 
daß  die  Ausstellung  gerade  auf  technischen  Errungenschaften  wurzelte, 
in  denen  England  zweifellos  die  Führung  ausübte:  das  alles  verstand 
man  in  Frankreich  nicht.  In  Frankreich,  das  ganz  wesentlich  von  der 
alten  Tradition  zehrte,  hätte  der  Weltgedankc  185 1  niemals  aufkommen 
können,  am  wenigsten  in  den  Wirren  der  Republik;  aber  um  so  üppiger 
konnten  die  Wünsche  emporschießen,  als  Napoleon  III.  1852  das  Kaiser- 
reich errichtet  hatte.  Die  feste  Regierung  sollte  den  Gewerbebetrieb 
und  die  Wohlhabenheit  des  Landes  in  ungewohnter  Weise  heben.  Für 
ein  beweiskräftiges  Friedensfest  war  nichts  geeigneter  als  eine  Weltaus- 
stellung. Die  Eitelkeit  mischte  sich  hinein.  Wie  man  1866  von  einer 
revanche  pour  Sadowa  sprach,  so  sprach  man  1851  in  Paris  von  einer  re- 
vanche  pour  Londres.  Auch  in  Paris  entschloß  man  sich,  die  Ausstellung 
in  den  vornehmsten  Park  der  Stadt  zu  stellen.  Der  Eingang  der  Champs 
Elys^es,  anstoßend  an  den  Konkordienplatz,  wurde  dazu  ausersehen  und 
hier  wurde  das  umfangreiche  Gebäude  errichtet,  das  Palais  de  ITndustrie. 
Die  Erfahrung  von  London,  daß  man  einen  weiten  Raum  mit  Glas  und 
Eisen  einzudecken  vermöge,  wurde  benutzt,  aber  doch  nur  um  eine  mitt- 
lere Halle  herzustellen,  welche  mit  massiven  Bauteilen  umkleidet  wurde. 
Dieses  sehr  stattliche,  aber  keineswegs  übergroße  Gebäude  wurde  dann 
noch  durch  Hallen  ergänzt.  Das  Unternehmen  als  Weltausstellung  gelang 
nur  mäßig.  Das  Vertrauen  zu  Frankreich  war  noch  nicht  genügend 
wiederhergestellt.  Das  Ganze  schloß  mit  einem  Fehlbetrage  von  acht 
Millionen.  Aber  zehnfach  und  hundertfach  wurde  dieses  Defizit  einge- 
bracht durch  den  Bestand  jenes  Palais  de  1' Industrie.  Paris  hat  vierzig 
Jahre  die  Möglichkeit  gehabt,  in  jeglicher  Art  von  Ausstellung  sich  breit 
entfalten  zu  können.  Dreißig  Jahre  hintereinander  hat  hier  in  jedem  Mai 
der  Salon  stattgefunden.  Die  mächtige  Längshalle  ward  alsdann  mit 
grünen  Gewächsen  gefüllt,  ein  vortrefflicher  Hintergrund  für  die  Masse 
statuarischer  Bildwerke.  Nach  Belieben  hatte  man  die  unendliche  Reihe 
von  Sälen  für  tausende  und  abertausende  von  Bildern  zur  Verfügung. 
Waren  die  Kunstwerke  wieder  fortgeräumt,  so  war  Platz  für  jegliche 
andere  Art  von  Ausstellungen,  für  Pflanzen,  Ackerbau-Erzeugnisse,  Vieh, 
Pferde  usw.  Allmählich  wurde  es  Sitte,  im  April  jeden  Jahres  hierhin 
den  vornehmen  Sport  zu  verlegen,   die  Concours  hippiques,   den  Sammel- 


jQO  Julius   Lkssinc.  :  Kunst-  und   Kuiislgcwcrbe-Ausstellungen. 

punkt  der  eleganten  Welt,  wo  ausgesprochenermaßen  in  einer  Ausstellung 
auf  lebenden  Modellen  die  Mode  für  den  kommenden  Frühling-  festgelegt 
wurde.  Wer  die  einschlägigen  Verhältnisse  kennt,  der  weiß  sehr  wohl, 
daß  auch  die  vortrefflichsten  Schneider  und  souveräne  Damen  eine  Mode 
nicht  persönlich  feststellen  können,  sondern  daß  es  immer  des  Zusammen- 
flusses einer  großen  Menge  von  Beteiligten  bedarf,  um  zu  einem  ab- 
schließenden Ergebnis  zu  gelangen,  und  ebenso  wissen  die  Beteiligten, 
wie  unendlich  weite  Kreise  in  jeder  Industrie  dadurch  berührt  werden, 
daß  das  führende  Land  auch  nur  wenige  Wochen  früher  als  die  übrigen 
weiß,  was  es  für  das  laufende  Jahr  an  Industrieerzeugnissen  für  die 
moderne  Tracht  zur  Verfügung  zu  stellen  hat. 

Ziele.  Frankreich  hatte  somit  aus  dem  großen  idealen  Plan,  welcher  die  Welt- 

ausstellung von  185 1  zu  einem  mächtigen  Ehrendenkmal  für  alle  Ziele  der 
modernen  Zeit  machte,  sich  ein  brauchbares  Stück  herausgeschält,  nicht 
sowohl  für  die  Bedürfnisse  der  Welt  als  für  die  speziellen  Bedürfnisse 
Frankreichs,  und  es  hat  wiederum  im  allerhöchsten  Maße  zweckmäßig  mit 
diesem  Pfunde  für  seine  eigenen  Bedürfnisse  gewuchert  und  hat  dieses 
System  fortgesetzt  bis  in  unsere  Tage  hinein. 

3.  London  1862.  In  London  durfte  der  unvergleichliche  Erfolg 
des  Unternehmens  von  1851,  dazu  der  Besitz  großer  Grundstücke,  ganz 
naturgemäß  dazu  ermutigen,  es  zu  wiederholen,  nicht  ohne  den  Neben- 
gedanken, dem  wettbewerbenden  Frankreich  die  eigene  Übermacht  zu 
zeigen.  Der  Tod  des  Prinzgemahls  Albert  von  England  im  Dezember 
1861  war  ein  schwerer  Schlag.  Es  fehlte  der  ideale  Mittelpunkt,  welcher 
alle  Kräfte  hätte  einigen  können,  die  Sonderinteressen  einzelner  Gnappen 
traten  schärfer  in  den  Vordergrund.  Selbst  äußerlich  fehlte  es  an  dem 
alten  Aufschwung.  Der  große  vollendet  siegreiche  Gedanke  des  Kristall- 
palastes mit  seiner  einzigartigen  Modernität  ließ  sich  nicht  überbieten: 
man  kehrte  zu  den  historischen  Formen  der  alten  Baustile  zurück,  um  in 
South-Kensington  einen  Palast  herzustellen,  dessen  Hauptmassen  auch  für 
spätere  Ausstellungen  erhalten  bleiben  konnten.  Hier  hatte  das  Pariser 
Vorbild  eingewirkt.  Diese  Galerieen  mit  mäßigen  Kuppeln  an  den  Ecken 
waren  wie  ein  Bleigewicht,  nichts  mehr  von  der  leichten  Freudigkeit  des 
auch  anderwärts  niemals  wieder  erreichten  Kristallpalastes.  Die  Organi- 
sation war  erheblich  straffer,  die  einzelnen  Staaten  Europas  hatten  bereits 
gelernt,  sich  auf  das  Ereignis  vorzubereiten,  ihre  Erzeugnisse  zu  ordnen. 
Viel  Sehenswertes  war  vorhanden,  aber  zu  einer  gehobenen  Feststimmung 
wollte  es  nicht  kommen.  Immerhin  hatte  die  Ausstellung  einige  sehr 
bemerkenswerte  Ergebnisse.     Man  hatte  die  Kunst  stärker  herangezogen. 

Orient.  Man  hatte  sich  bemüht,  die  Kultur  der  Orients  zur  Anschauung  zu  bringen, 
und  Indien,  welches  bereits  aus  dem  Besitze  der  Compagnie  in  die  volle 
Staatsverwaltung  übergegangen  wai-,  hatte  reichlich  eingeschickt.  Weitaus 
die  größeste  Überraschung  bot  China.  Bis  dahin  hatte  in  unserem  Jahr- 
hundert Europa  von  der  chinesischen  Kunst  nur  das  gesehen,  was  in  den 


III.   Weltausstellungen.  Aöi 

wenigen  Hafenstädten  für  die  Schiffer  als  kurio.se  Marktware  feilgeboten 
wurde.  Nun  aber  hatte  der  englisch-chinesische  Krieg  sich  abgespielt; 
man  hatte  den  prächtigsten  Fürstensitz  der  Welt,  das  Sommerpalais,  zur 
Züchtigung,  wie  es  hieß,  niedergebrannt.  In  Wahrheit  aber  war  es  den 
Engländern,  noch  mehr  als  den  dabei  beteiligten  Franzosen,  gelungen, 
große  Massen  von  den  dort  aufgehäuften  Schätzen  zu  entführen,  und  diese 
Schätze  waren  1862  in  London  zur  Schau  gestellt.  Hier  enthüllten  sich 
nun  die  Wunder  einer  Kunst,  welche  fast  ein  Jahrtausend  älter  war  als 
unsere  europäische.  Die  Teppiche,  die  Porzellane,  die  Bronzen,  die 
Arbeiten  in  Gold  und  edeln  Steinen,  alles  von  erlesenster  Technik,  von 
wunderbarer  Pracht  der  Farbe,  in  wunderlicher,  aber  die  Phantasie  mächtig 
anregender  Form  erfüllte  mit  Staunen  und  erschloß  völlig  neue  Vor- 
stellungen über  die  Alöglichkeiten  dekorativer  Kunst.  Von  jener  Zeit 
an  beginnt  die  tiefgreifende  Befruchtung  des  modernen  europäischen 
Geschmackes  durch  die  Werke  orientalischer  Kunst,  und  keine  der  nach- 
folgenden Weltausstellungen  hat  es  versäumt,  aus  diesem  Gebiete  der 
Welt  Neues  vorzuführen. 

Mit  dem  Jahre  1862  tritt  London,  welches  so  gewaltig  eingesetzt 
hatte,  aus  der  Führerschaft  im  Ausstellungswesen  zurück;  es  hat  das  Ex- 
periment einer  Weltausstellung  nicht  noch  einmal  gemacht.  Es  muß  also 
wohl  eingesehen  haben,  daß  ein  greifbarer  Nutzen  nicht  herausspränge, 
es  hat  sich  selbst  an  den  französischen  und  sonstigen  Ausstellungen 
keineswegs  mit  der  Kraft  beteiligt,  welche  aufzuwenden  es  sehr  wohl  im- 
stande gewesen  wäre.  Politische  Erwägungen,  wie  1867  in  Paris,  mochten 
dahin  führen,  einige  große  Paradesäle  zu  errichten,  aber  die  Großindustrie 
stand  seit  jener  Zeit  ziemlich  abseits. 

4.  Paris  1867.  Das  Ausstellungswesen  für  Europa  fiel  im  wesent- 
lichen Paris  zu;  man  hat  es  ihm  nicht  ernstlich  abzunehmen  versucht. 
Napoleon  IIL  hatte  sich  durch  den  Mißerfolg  von  1855  nicht  abschrecken 
lassen;  nach  Beendigung  des  .Krimkrieges,  des  chinesischen,  des  italie- 
nischen Krieges  fühlte  er  sich  auf  der  Höhe  seiner  Macht;  die  Souveräne, 
die  ihn  noch  1855  als  einen  Par\'enu  verschmäht  hatten,  waren  durch 
Bündnisse  und  gemeinsame  Interessen  an  ihn  gefesselt,  er  durfte  auf  ihren 
Besuch  rechnen.  Für  sein  Ansehen  im  Innern  Frankreichs  konnte  er  sich 
zeigen  an  der  Spitze  von  ganz  Europa.  So  bekam  die  Ausstellung  ein 
neues  Gepräge,  sie  sollte  nicht  nur  der  Mittelpunkt  der  Belehrung  und 
des  friedlichen  Wettstreits,  sondern  auch  der  Mittelpunkt  der  Weltlust 
sein  für  die  ganze  Erde.  Als  der  Kaiser  von  Rußland  zum  offiziellen 
Besuch  der  Ausstellung  in  Paris  eintraf,  hatte  er  bereits  für  denselben 
Abend  sich  die  Theaterloge  für  die  Grande-Duchesse  de  Gerolstein 
bestellt. 

Diese  starke  Betonung  eines  leichtfertigen  Elements  hinderte  aber 
nicht,  daß  man  das  eigentliche  Programm  der  Ausstellung  in  großen 
Zügen  entwarf. 

Die  KuLTt'R  dur  Gegenwart,    L  i.  26 


402  Julius  Lf.ssino:  Kunst-  und  Kunstncwerbe-Ausstellungen. 

Daß  in  dem  alten  Palais  de  l'Industrie  kein  Raum  sei,  war  selbst- 
verständlich. Von  1867  an  wurde  nunmehr  das  Marsfeld  der  eigentliche 
Mittelpunkt  der  Pariser  Ausstellungen.  Die  Anlage  des  Gebäudes  1867 
war  sehr  geistreich.  Es  war  ein  längliches  Rund,  dessen  Galerieen  kon- 
zentrische Ringe  bildeten;  von  diesen  Ringen  war  der  innerste,  der 
kleinste,  für  die  Ausstellung  alter  Kunstwerke  bestimmt,  der  nächste 
etwas  weitere  Kreis  für  die  moderne  Kunst,  der  noch  weitere  für  deko- 
rativ angewandte  Kunst,  Möbel,  Bronzen,  Porzellane;  schließlich  kamen 
die  großen  Ringhallen  für  die  Maschinen  und  für  die  Rohprodukte.  Von 
diesem  großen  Feld  bekam  jedes  Land  einen  Ausschnitt,  wie  das  Stück 
einer  Torte,  das  außen  breit,  innen  spitz  verlief,  jedes  Land  nahm  somit 
an  allen  Ringen  teil.  Ging  man  von  außen  nach  innen,  so  übersah  man 
die  gesamte  Industrie  des  betreffenden  Landes;  bewegte  man  sich  in 
dem  Ringe,  so  hatte  man  die  gleichen  Industrieen  aller  ausstellenden 
Länder  hintereinander  in  klarer  Übersicht.  Es  ist  kaum  möglich,  eine 
schönere  Lösung  des  Gedankens  zu  finden,  aber  schließlich  hat  sie  den 
Fehler,  daß  als  Maßstab  für  die  Größe  der  einzelnen  Ringe  doch  nur 
das  Verhältnis  hatte  dienen  können,  in  welchem  diese  verschiedenen 
Zweige  gerade  innerhalb  Frankreichs  zueinander  stehen.  Für  Deutschland, 
Belgien  und  die  Schweiz  traf  dies  noch  leidlich  zu,  allenfalls  noch  für 
England,  dagegen  schon  gar  nicht  für  Italien,  wo  die  Kunst  stark,  die 
mechanische  Industrie  überhaupt  nicht  vorhanden  war,  ebensowenig  für 
Rußland,  wo  das  Verhältnis  das  umgekehrte  war,  ganz  zu  schweigen  von 
den  halbzivilisierten  und  orientalischen  Ländern.  Um  dieses  nun  einiger- 
maßen auszugleichen,  war  man  genötigt,  besondere  Bauten  aufzuführen, 
die  als  Annexe  bezeichnet  wurden,  aber  sich  an  vielen  Stellen  zu  großen 
selbständigen  Gebäudemassen  entwickelten.  So  ergab  sich  für  den  Park, 
der  ungefähr  zwei  Drittel  des  Marsfeldes  einnahm,  eine  unendliche  Fülle 
von  Baulichkeiten,  und  wenn  die  Staaten,  die  diese  errichtet  hatten, 
einigermaßen  die  Aufmerksamkeit  auf  diese  außerhalb  des  Palastes  ge- 
legenen Teile  hinlenken  wollten,  so  mußten  sie  wohl  oder  übel  besondere 
Anziehungsmittel  aufwenden.  Schließlich  kam  man  dazu,  das  ethnogra- 
phische Moment  und  noch  mehr  das  Moment  des  rein  äußerlichen  Ver- 
gnügens in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Rußland  hatte  ein  ganzes  Dorf 
errichtet  mit  Stallungen  und  Bauernhäusern,  mit  Aufführungen  von  Kosaken 
und  Tscherkessen,  russischen  Bauernkapellen,  Stutenmilch  und  bäuerlichen 
Spitzen.  Den  allergrößten  Aufwand  trieb  der  Vizekönig  von  Ägypten, 
der  damals  in  den  Geldern  des  Suezkanals  schwamm:  Moscheen,  Caf6s 
mit  nubischen  und  äthiopischen  Tänzern  und  Tänzerinnen,  daneben  aber 
auch  eine  wunderbare  Vorführung  der  altägyptischen  Kunst  in  Nach- 
bildungen berühmter  Bauwerke;  aus  dem  Museum  in  Bulak  hatte  man 
die  herrlichsten  Stücke  hervorgeholt,  die  erst  während  des  letzten  Jahr- 
zehnts in  den  großen  durch  Franzosen  geleiteten  Ausgrabungen  ent- 
deckt worden  waren.     So  brachte  diese  Weltausstellung  einen  Einblick  in 


III.  Weltausstellungen.  403 

eine  Welt,  die  um  mehr  als  viertausend  Jahre  zurücklag.  Erst  aus  diesen 
Funden  des  altägj'ptischen  Reiches  erkannte  man  die  Höhe  der  ägyp- 
tischen Kunst. 

Hiermit  war  im  großartigsten  Stile  die  Periode  eröffnet,  welche  für  die 
Weltausstellungen  ein  ganz  besonderes  Reizmittel  forderte,  den  sogenannten 
clou,  Ausblicke  in  das  Archäologfische,  Antiquarische  und  das  Exotische 
hinein.  Die  ideale  Aufgabe  von  1851,  die  Aufgabe  eines  grandiosen  Ver- 
gleiches der  Werktätigkeit  aller  Völker  hatlo  sich  erweitert  in  die  Auf- 
gabe, auch  alle  Zeiten  vorzuführen,  ja,  auch  darüber  hinaus  in  ganz  be- 
stimmte Aufgaben  moralischer  oder  nationalökonomischer  Art.  Man  sollte 
sinnfällig  sehen,  wie  Kunst  und  Arbeit  am  Wohle  der  Menschheit  tätig 
seien,  vornehmlich,  in  wie  hohem  Grade  der  Kaiser  bemüht  sei,  für  das 
Wohl  seiner  Untertanen  zu  sorgen,  vor  allem  der  Arbeitermassen,  welche 
damals  zu  bedrohlichen  Gruppen  heranzuwachsen  begannen.  Es  kam  in 
den  Plan  das  Kapitel  der  Histoire  du  travail  hinein.  Sowenig  das  Pro- 
gramm erfüllt  wurde,  so  brachte  der  Versuch  immerhin  einige  wichtige  Baucmkunst 
Anregungen.  Die  einzelnen  Staaten  sollten  zeigen,  in  welcher  Weise  die 
mäßiger  begüterten  Klassen,  besonders  die  Arbeiter,  wohnten  und  lebten. 
Man  kam  darauf,  Modelle  von  Bauernhäusern  aufzustellen.  Diese  sollten 
eigentlich  nur  als  Folie  dafür  dienen,  wie  vorzüglich  das  Normalhaus 
des  französischen  Arbeiters  wäre,  welches  der  Kaiser  Napoleon  vor- 
geblicherweise für  das  ganze  Land  plante.  Aber  diese  Bauernhäuser 
brachten  merkwürdige  Überraschungen.  Man  hatte  in  den  betreffenden 
Ländern  zusammengerafft,  was  sich  an  bäuerlichem  Gerät  fand,  Gegen- 
stände, die  man  aus  freien  Stücken  niemals  als  würdig  einer  Ausstellung 
betrachtet  haben  würde.  Französische  Ingenieure,  welche  in  Spanien 
Eisenbahnen  ausführten,  hatten  aus  weltabgelegenen  Dörfern  Töpferwaren 
herangeschleppt,  welche  nicht  nur  Traditionen  der  maurischen  Industrie 
aus  dem  früheren  Mittelalter  enthielten,  sondern  ein  ganz  direktes 
Nachleben  altrömischer  Kunstformen  aufwiesen.  Ebenso  kamen  aus 
den  slawischen  Ländern  Töpfereien,  Stickereien  und  primitive  Metall- 
arbeiten herbei,  welche  eine  unglaubliche  Fülle  ungeahnten  Kunstmaterials 
erschlossen.  Ähnlich  war  es  mit  den  Schmucksachen  aus  orientalischen 
Landen  und  aus  bäuerlichem  Betrieb.  Bedenkt  man,  daß  in  jener  Zeit 
künstlerisch  bereits  das  Stichwort  ausgegeben  war,  zurückzugehen  zu  den 
Formen  früherer  Zeit,  zu  der  Väter  Werken,  so  mußten  diese  Arbeiten, 
welche  zeigen,  daß  unter  den  Händen  gewöhnlicher  Bauern  solche  klas- 
sischen Kunstformen  praktisch  bis  in  unsere  Tage  weiter  zu  leben  imstande 
waren,  eine  glänzende  Note  hergeben  in  dem  Kriegsruf:  Auf  zur  Wieder- 
eroberung des  alten  Formenschatzes! 

Auch   das   direkte  Hinwenden    nach   dem   Orient   nahm   seinen  galten    Der  Orient 
Fortgang.     Die  Arbeiten  am  Suezkanal  unter  starkem  Vorherrschen  fran- 
zösischen Einflusses  innerhalb  des  türkischen  Reiches  führton  große  Massen 
lehrreichen   Materials    herbei.     Für  den  Weg  nach   Ostindien   hin    fanden 

26* 


404  Juliiis  Lessinc.  :  Kunst-  iiml  Kunstgewerbe-Ausstellungen. 

Japan.  sich  ncuc  Stationen.  Zum  er.sten  Male  trat  ferner  Japan  in  den  Kreis 
der  au.s.stcllenden  Kulturvölker,  allerdings  noch  in  bescheidenem  Umfange. 
Aber  mit  höchstem  Staunen  sahen  die  Völker  Europas  die  unendliche 
Feinheit  der  dortigen  Arbeit,  die  Überwindung  technischer  Schwierig- 
keiten mit  den  ureinfachsten  Mitteln  und  zugleich  den  ganz  besonderen 
feinen  Geschmack,  der  völlig  unberührt  von  den  abgelebten  Traditionen 
des  alten  Europas  in  vollkommener  Frische  und  Naivität  die  Naturgebilde 
heranzog,  um  sie  in  phantastischer,  leicht  spielender  Weise  mit  zierlicher, 
fast  kindlicher  Anmut  über  ihre  Geräte  und  Gefäße  auszubreiten. 

Alles  dieses  waren  Erscheinungen,  die  man  dankenswert  verzeichnen 
mag,  und  welche  auch  der  Ausstellung  von  1867  einen  ehrenvollen  Platz 
in  der  europäischen  Kunstentwicklung  begründen.  Daneben  aber  wucherte 
ein  giftiges  Element,  die  ganz  unverhohlene  Absicht,  die  Welt  nach 
Paris  zu  ziehen.  Was  die  Ausstellungen  lehren  sollten,  wurde  schließlich 
fast  gleichgültig.  Vor  allem  sollte  der  Fremde  sich  in  Paris  vergnügen, 
sein  Geld  dort  lassen  imd  in  seiner  Heimat  den  Ruf  verbreiten,  daß  hier  das 
eigentliche  Vergnügen  auf  Erden  sei.  Die  bedenklichsten  Mittel  wurden 
nicht  gescheut.  In  der  Ausstellung  selbst  waren  an  allen  Ecken  und 
Enden  Verkaufsstätten,  Buden,  Theater;  um  das  ganze  Rund  der  Aus- 
stellung war  ein  Kranz  von  internationalen  Restaurants  gelegt,  welche  ein 
gefälliges  Bindeglied  zwischen  der  Arbeit  im  Innern  des  Palastes  und  der 
Erheiterung  außerhalb  desselben  bildeten.  Niemals  vorher  oder  nachher 
war  das  Leben  auf  einer  Ausstellung  lustiger  als  damals  im  Jahre  1867  in 
Paris,  und  dieses  Leben  ging  hinüber  in  die  Stadt.  Der  Festjubel  jener 
Tage  klingt  bis  heute  in  den  Offenbachschen  Operetten  nach.  Von  einem 
Defizit  der  Ausstellung  war  nicht  mehr  die  Rede,  der  Überschuß  betrug 
sogar  mehr  als  drei  Millionen.  Der  Ruf  von  Paris  als  Weltausstellungs- 
stadt war  festgelegt. 

5.  Wien  1873.  Zunächst  galt  der  Erfolg  der  Aus.stellung  von  1867 
noch  nicht  ohne  weiteres  als  ein  Erfolg  von  Paris.  Man  meinte,  die 
Weltausstellung  an  sich  habe  eine  volle  Lebensfähigkeit  erwiesen,  es 
müsse  nun  eine  Art  Wechsel  eintreten,  zum  mindesten  zwischen  den  euro- 
päischen Hauptstädten.  Man  dachte  an  Berlin,  aber  der  Krieg  von  1870/71 
machte  ein  Friedensfest  an  dieser  Stelle  unmöglich.  Die  Stadt  Wien 
hatte  den  Mut,  in  einer  Periode  großen  wirtschaftlichen  Aufschwunges 
für  1873  eine  Weltausstellung  einzuberufen.  Es  ist  ihr  schlecht  bekommen. 
Die  Ausstellung  selbst  durfte  als  wohlgelungen  bezeichnet  werden,  glän- 
zend war  die  Ausdehnung  nach  dem  Orient  hin.  Die  Hungersnot,  welche 
in  Persien  eingesetzt  hatte,  brachte  unendliche  Massen  alten  wertvollen 
Gutes  auf  den  Markt,  für  die  nahegelegenen  slawischen  Länder,  auch 
Griechenland  und  die  Türkei,  waren  Lebens-  und  Handelsbeziehungen 
günstig,  Japan  trat  mit  besonderem  Glänze  auf.  Es  waren  große  An- 
strengungen gemacht,  viel  guter  Geschmack  entwickelt,  aber  es  zeigte 
sich,  daß  der  Stadt  doch  die  Grundbedingungen  für  eine  Weltausstellung 


III.  Weltausstellungen.  405 

fehlten.  Will  man  die  Welt  zusammenrufen,  so  muß  auch  für  sie  gesorgt 
sein.  Wien,  das  eben  erst  aus  dem  Zuschnitt  einer  Kleinstadt  sich 
herausgewunden  hatte,  entbehrte  aller  großen  Anlagen  für  einen  mächtig 
gesteigerten  Verkehr,  es  mußten  gewaltsame  Anstrengungen  gemacht 
werden  für  schwindelhafte  Hotelbauten  und  Speisehäuser,  die  Arbeits- 
löhne stiegen  in  das  Unsinnige,  der  Handwerkerstand  wurde  aus  seinen 
Fugen  gerissen,  alles  trug  dazu  bei,  den  lange  schon  lauernden  Börsen- 
krach herbeizuführen,  der  in  den  Beginn  der  Ausstellung  fiel.  Dazu  kam 
noch  äußeres  Mißgeschick,  Ansätze  zur  Cholera,  und  so  hinterblieb  für 
Wien  statt  des  gehofften  Segens  eine  böse  Zerrüttung.  Als  in  kom- 
menden Jahrzehnten  in  Berlin  einzelne  Heißsporne  eine  Weltausstellung 
forderten,  hatten  die  Besonneneren  eine  weise  Lehre  gezogen,  der  Ge- 
danke hat  in  Berlin  nie  feste  Wurzel  fassen  können. 

6.  Paris  1878,  1889,  igoo.  Den  Kriegsjahren  1870/187 1  war  eine 
leidliche  Beruhigung  gefolgt.  Frankreich,  das  in  seinem  politischen  An- 
sehen so  furchtbare  Schläge  erlitten  hatte,  wollte  zeigen,  daß  es  künst- 
lerisch und  vor  allem  gesellschaftlich  auf  der  alten  Höhe  geblieben,  und 
so  hatte  es  den  stolzen  Wagemut,  eine  neue  Weltausstellung  für  das 
Jahr  1878  in  das  Werk  zu  setzen.  Trotz  aller  Gegnerschaft,  Zweifel  und 
Bedenken  war  die  Ausstellung  gelungen.  Eine  Weltausstellung  im  Sinne 
der  älteren  war  es  nicht,  die  Lücken  waren  gar  zu  groß,  aber  das  für 
Frankreich  Wichtigste  ging  in  Erfüllung:  Paris  war  wieder  feierlich  ein- 
gesetzt als  die  Welthauptstadt  für  den  Luxus  und  jegliche  Art  von  Lebens- 
lust. Und  nach  demselben  Schema  konnte  man  elf  Jahre  später,  1889, 
bereits  wieder  an  eine  Weltausstellung  denken.  Etwas  über  das  Niveau 
hinaus,  aber  im  wesentlichen  immer  wieder  eine  spezifische  Pariser  Aus- 
stellung blieb  auch  die  von  1900,  an  welcher  auch  Deutschland  in  wür- 
diger Weise  teilnahm.  Bei  jeder  dieser  Veranstaltungen  hatte  man 
vorausgesagt,  die  Sache  gehe  zu  Ende,  das  Interesse  werde  erlahmen, 
aber  es  war  nicht  der  Fall.  Das  Ausstellungsfeld  dehnte  sich  weiter  und 
immer  weiter  aus,  zog  die  benachbarten  Hügel  und  Esplanaden  hinzu. 
Im  Jahre  lyoo  steigerte  sich  der  Besuch  auf  49  Millionen.  Das  Geschäft 
von  Paris  blühte.  Man  hatte  es  geschickt  genug  angelegt,  von  jeder 
dieser  Ausstellungen  hatte  man  etwas  Greifbares  zurückbehalten,  1878 
den  großen  Palast  des  Trocadero,  1889  den  Eiffelturm,  der  bis  heute  wie 
ein  ungeheures,  alle  Dome  und  Pyramiden  der  Welt  überragendes  Sieges- 
zeichen die  Phantasie  der  Menschheit  erfüllt.  Der  in  London  1851  an- 
geschlagene Ton,  aus  der  modernen  Technik  heraus  Wunder  der  Archi- 
tektur zu  schaffen,  brachte  es  hier  zu  einer  glänzenden  Fortentwicklung. 
Fast  ebenso  bedeutend,  wenn  auch  weniger  augenfällig,  war  nach  der 
Richtung  der  Eisenkonstruktion  das  Palais  der  Kunstausstellung,  dessen 
Treppenanlagen  für  die  Konstruktion  der  modernen  Warenhäuser  wichtige 
Typen  geschaffen  haben.  Das  Jahr  1900  ließ  das  alte  Palais  de  l'Industrie 
verschwinden,  dafür  aber  für  die  verschiedensten  Ausstellungszwecke  zwei 


.Q^  Julius  Lessing:  Kunst-  und  Kunsißcwerbc-Ausstellungen. 

prachtvolle  Gebäude,  das  große  und  kleine  Palais  in  den  Champs  Elysees, 
entstehen. 

Welchen  Einfluß  diese  alle  elf  Jahre  sich  wiederholenden  großen 
internationalen  Völkerfeste  schließlich  auf  die  Vorstellungen  der  Mensch- 
heit diesseits  und  jenseits  des  Ozeans  geübt  haben,  läßt  sich  zurzeit  noch 
kaum  übersehen.  Jedenfalls  ist  es  klar,  daß  die  Bedürfnisse  der  Mensch- 
heit eine  starke  internationale  Mischung  erfahren  haben.  So  begann  1867 
in  der  österreichischen  Bierhalle  von  Dreher  das  deutsche  Bier  seinen 
Triumphzug  nach  Frankreich  und  durch  die  ganze  gebildete  Welt.  An 
die  Ausstellungen  schlössen  sich,  von  Jahr  zu  Jahr  steigend,  Kongresse. 
Die  Juries  allein  führten  Hunderte  intelligenter  Männer  aller  Nationen  zu 
gemeinsamer  Arbeit  in  stetige  Berührung.  Die  Lotterieen  streuten  Zehn- 
tausende von  Kunstwerken  in  alle  Welt  hinaus.  Selbst  der  jahrmarkts- 
mäßige Anstrich  wirbelte  alle  möglichen  Elemente  des  Völkervergnügens 
stark  durcheinander.  Das  Wort  „Weltausstellung"  blieb  eine  Art  Zauber- 
wort; selbst  unbedeutenden  Veranstaltungen  hing  man  dieses  Wort  an, 
indem  man  einiges  Wenige  aus  aller  Welt  herbeiholte.  So  hatten  wir 
1905  eine  Weltausstellung  in  Lüttich,  selbst  ein  Vorort  in  Berlin  heftete 
das  Wort  internationale  Ausstellung  an  seine  Pforten.  Natürlich  setzte 
auch  der  Schwindel  ein,  der  mit  der  Eitelkeit  der  Menschen  ~  nie  erfolg- 
los —  rechnet.  So  manche  der  goldenen  Medaillen  auf  den  Briefköpfen 
der  Industriellen  könnten  eine  Nachprüfung  auf  ihre  Herkunft  nur  schlecht 
vertragen. 

7.  Überseeische  Weltausstellungen.  Weltausstellungen  in  Amerika, 
in  Australien,  zunächst  mit  großem  Pomp  angekündigt,  Newyork  1853, 
Melbourne  1866,  1880,  1888,  Philadelphia  1876,  Sidney  1879  waren  für 
Europa  nicht  sonderlich  lehrreich.  Amerika  hatte  noch  nichts  zu  zeigen; 
was  Europa  hinschickte,  waren  Exportlager  für  die  fremden  Weltteile,  die 
man  sich  als  halb  barbarisch  vorstellte.  Deutschland  hatte  die  sprungweise 
Entwicklung  der  Vereinigten  Staaten  nicht  verfolgt  und  holte  sich  in  Phila- 
delphia 1876  eine  derbe  Lehre  auf  das  Stichwort  „cheap  and  nasty".  Seit 
jener  Zeit  wuchs  Amerika  mächtig  empor;  seine  Industrie,  frei  von  den 
Vorurteilen  der  historischen  Stile,  entwickelte  sich  in  der  modernen  Tech- 
nik derart  glänzend,  daß  es  Europa  mit  seinen  Waren  zu  überschütten 
begann.  Chicago  1893  zeigte,  wie  in  Europa  das  Verständnis  gestiegen 
war;  speziell  Deutschland  hob  sich  zu  einer  glanzvollen  Leistung,  um  den 
amerikanischen  Markt  wieder  zu  erobern,  und  auch  nach  St.  Louis  1904  führte 
man  große  Massen  vortrefflicher  Arbeiten,  so  daß  hierdurch  die  Absatz- 
fähigkeit Deutschlands  nach  fernen  Ländern  hoch  gesteigert  und  die 
geistigen  Wechselbeziehungen  auf  das  lebhafteste  gefördert  sind.  Nicht 
zu  übersehen  ist  es,  daß  Chicago  in  der  Architektur  vollständig  in  die 
historischen  Formen  zurückgegangen  war  und  ein  Gesamtbild  von  einer 
Großartigkeit  geschaffen  hat,  wie  es  die  Welt  seit  dem  Forum  romanum 
nicht  mehr  gesehen  hatte. 


rV.  Landesausstellungen  seit   1875.     V.  Kunstausstellungen.  407 

IV.  Landesausstellungen  seit  1875.  Seitdem  man  in  Europa,  außer- 
halb Frankreichs,  auf  die  Weltausstellungen  verzichtet  hatte,  wuchsen  die 
Landesausstellungen  wieder  auf  das  üppigste  in  die  Höhe.  Es  gibt  keine 
größere  Stadt  Deutschlands,  welche  nicht  in  der  letzten_Generation  eine 
oder  mehrere  Ausstellungen  für  größere  oder  kleinere  Kreise  veranstaltet 
hätte.  Die  wichtigste  von  ihnen  war  die  in  München  1876,  in  welcher 
das  Kunstgewerbe  von  Deutschland  und  Österreich  übersichtlich  zusammen- 
gefaßt wurde.  Man  war  in  einer  siegesbewußten  Strömung,  zu  einem  selb- 
ständigen deutschen  Kunststil  zu  gelangen,  indem  man  auf  die  Formen 
der  alten  deutschen  Renaissance  zurückgriff,  und  sah  in  München  die  Er- 
folge zum  ersten  Male  vereint. 

Es  mußte  der  Gedanke  auftauchen,  unter  der  Beibehaltung  des  inter-  j^^^^^l^'^^^^'^^-jj;^^ 
nationalen  Charakters  einzelne  Zweige  herauszuheben,  London  hatte  da-  Zweige, 
mit  begonnen,  hatte  187 1  eine  Weltausstellung  für  Töpferei,  1875  eine 
gleiche  für  wissenschaftliche  Instrumente  angeregt,  aber  der  Versuch  miß- 
lang völlig.  Erfolge  wurden  nur  erzielt,  wenn  man  sich  an  neuauftretende 
Industriezweige  hielt,  welche  gebieterisch  eine  große  lehrreiche  Vorführung 
verlangten,  wie  die  Kraftmaschinen,  die  elektrischen  Anlagen,  die  Fahr- 
räder, schließlich  die  Automobilausstellungen,  die  von  aller  Welt  eifrig 
beschickt  und  gewöhnlich  mit  Rennen  und  dergleichen  verbunden  wurden. 
Auch  für  Gärtnerei  und  landwirtschaftliche  Bedürfnisse  wurden  und  werden 
internationale  Veranstaltungen  getroffen. 

Sehr  beschränkte,  fast  nur  lokale  Bedeutung  haben  permanente 
Ausstellungen,  wie  man  sie  in  Stuttgart  gepflegt  hat.  Eigentlich  sind 
es  nxir  Musterlager.  Die  sogenannten  Wanderausstellungen,  von  denen 
man  jetzt  wieder  in  Amerika  spricht,  haben  keine  ernstliche  Bedeutung, 
sie  müssen  auf  eine  mehrjährige  Rundreise  hergerichtet  werden  und  was 
man   1900  zusammengestellt,  ist  igo2  nicht  mehr  modern. 

V.  Kunstausstellungen.  Daß  die  Maler  und  Bildhauer  Gelegen- 
heit haben  müssen,  die  Schöpfungen  der  einsamen  Werkstatt  weiten 
Kreisen  vorzuführen,  ist  selbstverständlich.  Solange  die  Kunst  vornehm- 
lich auf  monumentale  Wirkungen  in  Kirchen  und  Palästen  angewiesen 
war,  stand  sie  den  Beteiligten  vor  Augen;  die  Kabinetsmalerei  dagegen 
bedurfte  der  Vorführung.  In  Paris  haben  Ausstellungen  in  den  Sälen  des 
Louvre  bereits  1663  angefangen;  bereits  1667  veranstaltete  die  Akademie 
regelmäßig  alle  zwei  Jahre  in  der  Osterwoche  Ausstellungen,  schon 
1673  erschienen  Kataloge,  1699  illustrierte.  Das  intelligente  Paris  sah 
hier  nicht  nur  einzelne  schöne  Bilder,  sondern  empfand  den  Gang  des 
Kunstlebens,  dies  klingt  in  den  Berichten  eines  Diderot  wieder.  Die 
Revolution  brachte  seit  1793  jährliche  Ausstellungen.  Aus  den  politischen 
Wallungen  Frankreichs  drangen  merkwürdige  Blasen  an  die  Oberfläche, 
die  Egalite  der  Revolution  von  1848  schaffte  die  Jury  ab  und  wälzte  eine 
trübe  Flut  von  mehr  als  5000  Bildern  durch  den  Salon.    Nach  1852  wird 


^o8  Julius  Lessing:  Kunst-  uml  Kimslgewcrbe-Ausstelhmgen. 

wieder  eine  strammere  Zucht  eingeführt,  die  Akademie  herrscht  un- 
beschränkt. An  die  Bilder  und  Skulpturen  schließen  sich  die  Pläne  der 
Architekten,  die  Kupferstiche,  dann  auch  die  künstlerischen  Prachtwaren 
der  Staatsmanufakturen,  der  Gobelins,  von  Sevres,  von  Beauvais.  Die 
starre  Herrschaft  der  Akademie,  welche  ihren  Mitgliedern,  selbst  den  ganz 
greisen   und    welken,    die    Ehrenplätze    einräumte,    führt    zur   Abtrennung 

Sezession,  junger  lebenskräftiger  Elemente  in  der  Sezession,  die  in  Paris  seit  1883 
einsetzt.  Alle  modernen  Gedanken  der  Kunstentwicklung  lassen  sich  auf 
diesen  Ausstellungen  vSchritt  für  Schritt  verfolgen.  Man  kommt  zu  der 
Erkenntnis,  daß  die  Kunst  nicht  nur  in  Bildern  und  statuarischen  Werken 
wurzele,  sondern  daß  jedes  Gerät,  von  der  menschlichen  Hand  hergestellt, 
ein  Stück  des  modernen  Kunstempfindens  in  sich  tragen  könne,  und  so 
halten  allmählich  die  Schnitzereien,  die  Töpferwaren,  die  Gläser,  vor  allem 
die  künstlerisch  durchgeführten  Metallarbeiten  ihren  Einzug  in  die  Paläste 
der  Kunstausstellungen  und  bringen  es  neben  den  jährlichen  großen  Aus- 
stellungen auch  noch  zu  besonderen  Veranstaltungen  der  Arts  d^coratifs, 
der  Arts  du  metal  und  dergleichen. 

Was  im  übrigen  Europa  sich  vollzieht,  folgt  im  wesentlichen  dem 
Schema  von  Paris.  In  München,  in  Wien,  in  Berlin  haben  wir  dieselben 
Gärungen  und  Erfolge;  streng  konservativ  im  alten  Sinne  ist  fast  nur 
London  geblieben.  Bei  allen  Kunstausstellungen  ist  es  verhältnismäßig 
leicht,  aus  dem  Rahmen  der  nationalen  Grenzen  herauszugehen.  Man 
zieht  entweder  einzelne  Gruppen  auswärtiger  Künstler  heran  oder  ver- 
anstaltet auch  internationale  Kunstausstellungen,  oft  großen  Stiles,  welche 
alle  Hauptstädte  Europas  durchwandern.  Kleinere  Gruppen  dieser  oft 
unerhörten  Massen  schwer  verkäuflicher  für  Ausstellungszwecke  gemalter 
Bilder  wandern  alsdann  in  die  mittelgroßen  Städte.  In  den  Haupt- 
städten bilden  sich  daneben  ganze  Reihen  von  Privatunternehmungen. 
Den  Künstlern  der  Sezession  sind  auch  ihre  engeren  Räume  bereits  viel 
zu  weit  und  öffentlich,  sie  machen  intime  Privatausstellungen  in  vornehm 
hergerichteten  Salons,  und  gerade  diese,  deren  Leiter  mit  den  zahlkräftigen 
Herren  der  ganzen  Welt  in  naher  Fühlung  stehen,  befördern  den  Absatz 
und  die  steigende  Preisbildung  am  allermeisten. 

Werke  alter  Die   ausgcsprochcne    Strömung   unserer   Zeit,    sich    den  Werken   alter 

Kunst  als  Vorbildern  zuzuwenden,  führte  naturgemäß  dazu,  die  im  Privat- 
besitz verteilten  unendlichen  Massen  solchen  Erbes  in  Leihausstellungen 
zusammenzubringen.  Um  die  vornehmen  Besitzer  zur  Hergabe  zu  be- 
stimmen, schrieb  man  patriotische  oder  philanthropische  Ziele  auf  das 
Programm.  So  entstand  für  hungernde  Fabrikarbeiter  die  erste  große 
Ausstellung  dieser  Art,  die  von  Manchester  1854,  die  für  Elsaß-Lothringen 
in  Paris  1874.  München  1876  gab  unter  dem  Stichwort  „Unserer  Väter 
Werke"  der  nationalen  deutschen  antiquarischen  Richtung  ein  starkes 
Rückgrat.  Keine  der  großen  Weltausstellungen  hat  es  versäumt,  die 
alten    Kunstwerke   als    kräftiges   Anziehungsmittel    in   ihr    Programm  auf- 


Kunst. 


Schluß. 


409 


zunehmon.  London  hatte  bereits  1862  die  Silberschätze  von  Alt-England 
%"orgefiihrt. 

In  London  gibt  es  jetzt  jährlich  Veranstaltungen  lediglich  auf  Grund 
alter  Kunstwerke  aus  Privatbesitz.  Diese  und  ähnliche  Ausstellungen 
haben  sich  allmählich  zu  einem  Markt  entwickelt,  welcher  die  Waren  aus 
dem   festen  alten  Privatbesitz  herauslockt  und   dem  Kunsthandel   zuführt. 

An  Museen  und  öffentliche  Sammlungen  treten  fortwährend  die  Auf- 
forderungen heran,  kleinere  Gewerbeausstellungen  in  den  Provinzen  durch 
LIerleihen  älterer  Stücke  zu  unterstützen,  kritiklose  Ansinnen,  denen  man 
kaum  noch  irgendwo  nachkommt. 

Allmählich  bildet  sich  aus  diesem  Wirrsal  mancherlei  Verständiges 
heraus.  Man  sucht  bestimmte  historische  und  kunsthistorische  Gruppen, 
deren  Werke  sich  in  den  Sammlungen  aller  Welt  zerstreut  finden» 
gelegentlich  zusammen  zu  bringen.  Ein  glänzendes  Beispiel  dafür  ist 
die  Ausstellung  der  Primitifs  Flamands  in  Brügge  IQ03,  ebenso  die 
l^rimitiven  Franzosen  in  Paris  1904,  l'art  bruxellois  in  Brüssel  1905, 
Spezialausstellungen,  wie  die  von  Siena,  wie  die  Ludwigsburger  Porzellane 
in  Stuttgart,  dann  wieder  bestimmte  Kulturperioden,  wie  die  Columbus- 
ausstellung  Madrid  1893,  welche  zum  ersten  Male  die  mittelalterlichen 
Schätze  Spaniens  an  das  Licht  brachte,  die  Kongreßausstellung  in  Wien. 
Ganz  besonders  wichtig  kann  die  Ausstellung  für  einzelne  Meister  werden, 
wie  die  für  Holbein  Dresden  1871,  für  Jordaens  Antwerpen  1905.  Von 
den  Sammlungen  für  moderne  Kunst  wird  bei  Todesfällen  oder  Jubiläen  die 
Lebensarbeit  gefeierter  Meister  vorgeführt,  in  Berlin  in  glanzvollster  Weise 
Adolf  von  Menzel  1905.  Hier  ergibt  sich  ein  wissenschaftliches  Material, 
dessen  Würdigung  der  kunsthistorischen  Forschung  überlassen  bleiben  muß. 

Schluß.  Die  Ausstellungen,  welche  vor  kaum  mehr  als  hundert 
Jahren  schüchtern  begannen  und  vor  erst  fünfzig  Jahren  mit  der  Welt- 
ausstellung in  die  Zeit  der  Reife  eintraten,  sind  für  die  moderne  Kultur 
einer  der  wichtigsten  Faktoren  geworden.  Sie  konnten  und  mußten  es 
werden,  weil  sie  ihre  Entstehung  nicht  einer  Laune  verdanken,  sondern 
der  lebendige  Ausdruck  des  Jahrhunderts  wurden,  welches  mit  Recht  als 
das  Jahrhundert  des  Verkehrs  bezeichnet  wird.  Wenn  eine  Kultur  sich 
unter  dem  Druck  großer  Neuerungen  in  raschen  Zügen  umbildet,  so  bedarf 
sie  gewisser  Haltepunkte,  von  denen  aus  man  überschaut,  was  wirklich 
geschaffen  ist.  Es  ist  ein  gewichtiger  Vorteil  für  dieses  Erkennen,  daß 
jede  große  Ausstellung  durch  das  Zusammenraffen  aller  Kräfte  die  Ent- 
wicklung der  nächsten  Periode  vorwegnimmt;  solche  Ausstellungen  sind 
Stichtage  des  gewerblichen  Lebens,  hier  wird  der  Kurs  festgestellt,  zu 
welchem  die  Ware  jeden  Landes  für  die  nächsten  Jahre  marktgängig  ist. 
Hier  wird  erkannt,  welche  Länder  in  die  Konkurrenz  des  Weltmarktes 
eintreten,  wo  die  Anstrengungen  einzusetzen  haben,  um  alten  Besitz  zu 
festigen  und  neue  Gebiete  zu  erobern. 


AlO  Julius  Lkssing:  Kunst-  und  Kunstgewerbe- Ausstellungen. 

Durch  das  Herbeiströmen  der  Menschenmassen  aus  allen  Teilen  des 
Erdballs  erwächst  eine  unvergleichliche  Bereicherung  der  Anschauungen, 
eine  Sichtung  der  Werte,  die  Möglichkeit  zu  beurteilen,  was  die  eigene 
Arbeit  wert  ist,  was  sie  aus  der  internationalen  Arbeit  zu  lernen  vermag. 
Diese  Anschauung  wird  bestimmend  auch  für  die  Kunstformen,  in  denen 
die  Welt  in  der  nächsten  Periode  sich  zu  bewegen  hat. 

Eine  Absonderung  des  einzelnen  Landes  gibt  es  nicht  mehr,  es  ist 
merkwürdig  genug,  wie  selbst  im  1 8.  Jahrhundert,  als  die  Verkehrsverhält- 
nisse noch  sehr  unvollkommen  waren,  ja  wie  selbst  schon  im  17.  und 
16.  Jahrhundert,  ausgehend  von  einzelnen  Höhepunkten  der  Macht,  von  den 
Höfen  der  deutschen  Kaiser,  später  von  den  Höfen  der  Könige  von  Frank- 
reich, sich  die  Kunstformen  über  die  ganze  Welt  verbreiteten.  Aber  wenn 
es  fast  hundert  Jahre  bedurfte,  ehe  die  bald  nach  1400  entstandenen 
Formen  der  italienischen  Renaissance  sich  in  die  deutsche  Renaissance 
um  1520  umsetzten,  so  entspricht  es  den  modernen  Verhältnissen,  daß  jetzt 
innerhalb  weniger  Wochen  die  Modeformen,  die  schließlich  doch  weiter 
nichts  sind  als  die  stufenweisen  Übergänge  zu  den  Stilformen,  sich  von 
einem  Weltteil  zum  andern  verbreiten,  in  einer  Bewegung,  der  niemand 
zu  widerstehen  vermag.  Es  ist  das  Charakteristische  der  Ausstellungen, 
daß  das  Jüngstgeborene,  das  Werdende  sich  am  meisten  bemerkbar  zu 
machen  sucht;  das  Alteingesessene,  durch  akademische  Ehren  und  fürstliche 
Aufträge  reichlich  belohnt,  glaubt  der  Anstrengungen  einer  Ausstellung 
nicht  zu  bedürfen;  das  noch  nicht  Beglaubigte  stürmt  vor,  um  sich  seinen 
Platz  an  Licht  und  Sonne  zu  erwerben.  Alles  geht  vorwärts,  jeder  Ansatz 
von  Kraft  und  Geschick  meldet  sich  und  wird  auf  dem  großen  Markte 
der  Ausstellungen  gesichtet,  zu  Ehren  und  zur  Geltung  gebracht, 
veröffent-  Man   macht   auch    ernstliche   Versuche,    alles   was   hierbei   gearbeitet 

wird,  sorgfältig  zu  registrieren.  Die  amtlichen  Berichte  über  die  einzelnen 
Gruppen  der  Ausstellungen  werden  in  Dutzenden  von  gewaltigen  Folianten 
niedergelegt.  Die  Tausende  von  Beamten  und  Arbeitern,  die  zur  Be- 
sichtigung der  Ausstellungen  entsandt  werden,  sind  verpflichtet,  schrift- 
liche Berichte  abzustatten.  Möglich  ist  es  ja,  daß  diese  Papiermassen  mit 
ihrer  Fülle  gewissenhafter  Arbeit  späteren  Zeiten  zur  Fundgrube  von 
wichtigen  Beobachtungen  werden;  zunächst  ist  das  Voranschreiten  der 
Bewegung  so  gewaltig,  daß  die  Berichte  ständig  überholt  sind,  ehe  sie 
auch  nur  abgeschlossen  im  Drucke  erscheinen. 


Literatur. 

I.  Allgemeines. 
W.  F.  EXNER,  Die  neuesten  Fortschritte  im  Ausstellungswesen  in  Beziehung  auf 
Sicherheit,  Zweckmäßigkeit  usw.  (Berlin,  1868).  —  Derselbe,  Die  .A.ussteller  und  die  Aus- 
stellungen (Berlin,  1868).  —  BRUNO  Bucher,  Zur  Reform  des  Ausstellungswesens  (Wien, 
1880).  —  P.  DuPRli,  Traite  de  l'administration  des  beaux  arts.  2  Bde.  (Paris,  1885).  — 
Julius  Lessing,  Das  halbe  Jahrhundert  der  Weltausstellungen  (Berlin,   1900J. 

II.    Amtliche  Berichte  über  Weltausstellungen. 

1.  London  1851.  Official  descriptive  and  illustrated  catalogue  of  the  great  exhibition 
of  the  works  of  industry  of  all  nations  1851.  4  Bde.  (London,  1851).  —  Reports  by  the 
juries  on  the  subjects  in  the  thirty  classes  into  which  the  Exhibition  was  divided 
(London,   1852). 

2.  Paris  1855.  Catalogue  officiel  de  l'Exposition  des  produits  de  l'industrie  de  toutes 
les  nations  1855  (Paris,  1855).  —  Exposition  universelle  de  1855.  Rapport  du  jury  mixte 
international.     2  Bde.  nebst  Atlas  (Paris,   1856). 

3.  London  1862.  Reports  of  the  juries  (London,  1863).  —  Waring,  Masterpieces  of 
Industrial  art  and  sculpture  International  exhibition  1862. 

4.  Paris  1867.  Rapports  du  jury  international  de  l'Exposition  universelle  de  1867. 
13  Bde.  (Paris,  1868).  —  Bericht  über  die  Weltausstellung  zu  Paris  im  Jahre  1867.  Heraus- 
gegeben durch  das  k    k.  Central-Comite  (Wien,   1869). 

5.  Wien  1873.  Officieller  General  -  Catalog  der  Weltausstellung  1873  in  Wien  (Wien, 
1873).  —  Amtlicher  Bericht  über  die  Wiener  Weltausstellung  im  Jahre  1873.  5  Bde.  (Braun- 
schweig, 1875). 

6.  Paris  1878.  Die  Pariser  Welt-Ausstellung  1878.  Illustrierte,  von  der  Kommission 
autorisierte  deutsche  Ausgabe.  2  Bde.  (1878).  —  Rapports  sur  TExposition  universelle 
intemat.  de  1878  h.  Paris.     16  Bde.  (Paris,  1880—85). 

1889.  Catalogue  gdndral  officiel  de  l'Exposition  Universelle  Internationale  de  188g 
ä  Paris.     8  Bde.  (Lille,   1889). 

ige».  Catalogue  officiel  illustrd  de  l'exposition  retrospective  de  l'art  frangais  des  ori- 
gines  ä  1800  (Paris,  igoo).  —  Catalogue  officiel  illustrt-  de  l'exposition  centennale  de  l'art 
frangais  de  1800  ä  i88g  (Paris,  1900).  —  Amtiicher  Katalog  der  Ausstellung  des  Deutschen 
Reiches.  Weltausstellung  in  Paris  1900  (Berlin,  1900).  —  ALFRED  Picard,  Rapport  gdneral 
administratif  et  technique  (im  Erscheinen). 

7.  Chicago  1893.  Official  Catalogue  of  the  World's  Columbian  Exposition  Chicago 
1893.  13  Parts  in  1  vol.  (Chicago,  1893;.  —  Amtlicher  Katalog  der  Ausstellung  des 
Deutschen  Reiches  auf  der  Columbianischen  Ausstellung  in  Chicago  (Berlin,  1893).  —  Amt- 
licher Bericht  über  die  Weltausstellung  in  Chicago  1893,  erstattet  vom  Reichskommissar. 
2  Bde.  (Beriin,  1894). 


NATURWISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE 
AUSSTELLUNGEN. 

Von 
Otto  N.  Witt. 


Vorläufer  I.   Die  E 11 1 s 1 6 h u  11  g    und    Entwicklung    der    Ausstellungen. 

TuVsteii'angfn!"  Die  Veranstaltung  von  Ausstellungen  ist  eine  Errungenschaft  des  19.  Jahr- 
hunderts, wenn  auch  Anläufe  zu  denselben  bis  ins  18.  Jahrhundert  zurück- 
reichen. 1757  hielt  die  Society  of  Arts  in  London  eine  Ausstellung 
kunstgewerblicher  Erzeugnisse  ab,  und  etwa  gleichzeitig  wurde  eben- 
daselbst die  erste  Kunstausstellung  durch  die  Royal  Academy  ins  Leben 
gerufen.  1789  kam  in  Paris  eine  Ausstellung  von  Gobelins  und  Sevres- 
Porzellan  in  der  ausgesprochenen  Absicht  zustande,  die  ausgestellten 
Objekte  zu  verkaufen  und  damit  den  notleidenden  Arbeitern  der  beteiligten 
Fabriken  zu  helfen.  1798,  1801,  1802  und  1806  folgten  ähnliche  Aus- 
stellungen in  Paris,  und  1819  fand  eine  besonders  große  Ausstellung 
ebendaselbst  statt,  welche  die  gesamten  Erzeugnisse  des  französischen 
Handwerkerstandes  umfaßte.  Bei  einer  im  Jahre  1849  veranstalteten  der- 
artigen Ausstellung  waren  schon  4494  einzelne  Aussteller  beteiligt.  Die 
erste  deutsche  Ausstellung  fand  1842  in  Mainz  statt. 
Grundidee  und  Trotz    dieser    und    anderer  Vorläufer    kann    man   indessen   doch   wohl 

sagen,  daß  die  Ausstellungen,  wie  wir  sie  heute  kennen,  eine  Schöpfung 
der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  sind.  Der  ihnen  zugrunde  liegende 
Gedanke  entsprang  ohne  Zweifel  aus  der  Beobachtung  der  guten  Erfolge, 
welche  die  Errichtung  und  Pflege  ausgedehnter  Museen  und  Sammlungen 
gezeitigt  hatte.  Wie  sich  unsere  derzeitigen,  bestimmten  Wissensgebieten 
gewidmeten  und  systematisch  geordneten  Museen  aus  den  älteren  Rari- 
tätenkabinetten entwickelt  haben,  in  denen  planlos  alle  möglichen  Kuriosi- 
täten zusammengetragen  wurden,  so  entsprangen  auch  wohl  die  ersten 
Ausstellungen  nur  dem  Gedanken,  möglichst  viel  Sehenswürdiges  an  einer 
Stelle  zu  vereinigen,  jedoch  mit  der  Maßgabe,  daß  das  zur  Schau  Ge- 
stellte nur  eine  gewisse  Zeitlang  beisammenbleiben,  dann  aber,  falls  es  nicht 
auf  der  Ausstellung  verkauft  wurde,  an  die  Stelle  seiner  Herkunft  zurück- 
kehren sollte,  um    dort  geeignete  Verwendung  zu   finden.     Während  also 


Definition. 


I.  Die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Ausstellungen.  41  j 

die  Museen  sich  in  den  vollen  Besitz  der  in  ihnen  zur  Schau  gestellten 
Objekte  setzen  und  eine  dauernde  Fürsorge  für  dieselben  übernehmen, 
erscheinen  die  Ausstellungen  als  zeitweilige  Unternehmungen,  deren  Um- 
fang beliebig  groß  gewählt  werden  kann,  weil  sie  ihren  Veranstaltern 
dauernde  Verpflichtungen  nicht  auferlegen. 

Maßgebend  für  die  Grüße  der  Ausstellungen  war  zunächst  das  Gebiet,  Entwicklung 
aus  welchem  die  auszustellenden  Objekte  herangeholt  werden  konnten,  ausstciiuns.-n. 
Indem  man  dieses  Gebiet  mehr  und  mehr  erweiterte  und  schließlich  über 
die  ganze  Erdoberfläche  ausdehnte,  entstand  der  Gedanke  der  Universal- 
oder Weltausstellungen,  welcher  seine  erste  großartige  Verwirklichung  in 
der  Londoner  Weltausstellung  von  1851  fand.  Dieselbe  wurde  mit  einem 
für  die  damalige  Zeit  unerhörten  Aufwand  an  Mitteln  (Ausgaben  339  334, 
Einnahmen  512  632  Pfd.  St.)  in  Szene  gesetzt,  und  für  ihre  Aufnahme 
wiirde  der  noch  jetzt  existierende  Krystallpalast  erbaut,  dessen  Umfang 
uns  gestattet,  uns  Rechenschaft  von  dem  seither  erfolgten  Anwachsen 
derartiger  Veranstaltungen  zu  geben.  Der  große  Erfolg  der  Weltaus- 
stellung zu  London  führte  dazu,  daß  schon  im  Jahre  1855  eine  ähnliche 
Ausstellung  zu  Paris  stattfand,  welcher  in  den  Jahren  1867,  1878,  1889 
und  igoo  gleichartige  Unternehmungen  ebendaselbst  folgten,  so  daß  sich 
endlich  die  Regel  herausbildete,  daß  alle  elf  Jahre  eine  Weltausstellung 
zu  Paris  stattfindet.  1862  wurde  eine  weitere  Weltausstellung  in  London 
veranstaltet,  1873  folgte  die  Weltausstellung  zu  Wien,  1876  diejenige  zu 
Philadelphia,  1893  fand  eine  Weltausstellung  zu  Chicago  und  1904  eine 
solche  zu  St.  Louis  statt.  Andere  Ausstellungen,  welche  ebenfalls  als 
Weltausstellungen  bezeichnet  wiu-den,  beschränkten  sich  in  Wirklichkeit 
auf  ein  engeres  Gebiet  und  mögen  daher  unerwähnt  bleiben. 

Verfolgt  man  die  Serie  dieser  Weltausstellungen  unter  Berücksichti-  Einteilung. 
gung  der  für  sie  getroffenen  Veranstaltungen  und  der  bei  ihrer  Einrich- 
tung in  den  Vordergrund  gestellten  Prinzipien,  so  erhält  man  ein  inter- 
essantes Bild  der  allmählichen  Entwicklung  der  Ausstellungsidee.  Mehr 
und  mehr  macht  sich  das  Bestreben  geltend,  selbst  bei  diesen  Unter- 
nehmungen, die  doch  im  Prinzip  alles  zur  Ausstellung  zulassen,  eine 
gewisse  Einteilung  vorzunehmen,  so  daß  das  Ganze  nur  noch  als  ein 
Konglomerat  von  verschiedenen  Spezialausstellungen  erscheint,  deren  Be- 
sucher und  Besichtiger  verschiedenen  Lebens-  und  Interessensphären  ent- 
stammen. Die  im  Anfang  allein  maßgebende  Einteilung  der  Ausstellung 
nach  Ländern  wird  zwar  nicht  aufgegeben,  tritt  aber  in  den  Hintergrund 
gegenüber  dem  Bestreben,  die  verschiedenen  Arbeits-  und  Schaffens- 
gebiete stärker  zu  betonen.  Auf  der  Wiener  Weltausstellung  1873  wurde 
der  Versuch  gemacht,  gewisse  Arbeitsgebiete,  wie  z.  B.  die  Landwirtschaft 
und  das  Maschinenwesen,  abzusondern  und  in  besonderen  Palästen  zur 
Schau  zu  .stellen,  welche  ebenso  wie  das  Hauptgebäude  nach  den  Ur- 
sprungsländern der  au.sgestellten  Objekte  in  einzelne  Teile  zerlegt  waren. 
In    den    nachfolgenden  Ausstellungen    tritt    das    gleiche  Bestreben    immer 


AiA  Otto  N.  Witt:  Naturwissenschaftlich-technische   Ausstellungen. 

deutlicher  zutage.  Die  in  mancher  Hinsicht  vorbildliche  Aus.stellung  von 
Chicago  1803  bildete  eine  vollständige  Stadt  von  Gebäuden,  von  denen 
jedes  einzelne  einem  besonderen  Arbeitsgebiet  gewidmet  war,  so  daß  die 
Einteilung  nach  der  Provenienz  für  den  Beschauer  mehr  und  mehr  zurück- 
trat. Eine  vollständige  Unterdrückung  der  Frage  nach  dem  Ursprungs- 
lande der  ausgestellten  Objekte  ist  natürlich  unmöglich,  da  Weltaus- 
stellungen immer  als  ein  friedlicher  Wettstreit  der  verschiedenen  Nationen 
aufgefaßt  werden  müssen.  Bei  aller  Hervorhebung  systematischer  Ge- 
sichtspunkte wird  daher  die  Provenienz  der  Objekte  in  der  Einteilung  der 
Ausstellung  und  namentlich  bei  den  Arbeiten  der  Preisgerichte  genügend 
betont  werden  müssen,  um  einen  Vergleich  der  verschiedenen  Nationen 
in  ihren  Leistungen  auf  verschiedenen  Schaffensgebieten  zu  ermöglichen. 
Wirkungen.  Es    kann    nicht   bestritten    werden,    daß    die  Weltausstellungen    einen 

außerordentlich  großen  Erfolg  zu  verzeichnen  haben.  Sie  haben  sich  nicht 
nur  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  finanziell  mit  Vorteil  durchführen  lassen, 
sondern  sie  haben  auch  indirekt  sehr  großen  Nutzen  gestiftet,  indem  sie 
als  mächtige  Triebfeder  für  den  industriellen  Unternehmungsgeist  der 
Völker  wirkten,  die  Reiselust  in  Kreise  trugen,  welche  sie  vordem  gar 
nicht  gekannt  hatten,  den  persönlichen  Verkehr  zwischen  Fachgenossen 
der  verschiedensten  Länder  anbahnten  und  dem  Handel  neue  Absatz- 
gebiete eröffneten.  Die  Weltausstellungen  wirkten  in  allen  Kreisen  so 
anregend,  daß  sich  nach  und  nach  in  den  verschiedensten  Schichten  der 
Völker  ein  vollständiges  Bedürfnis  nach  der  Besichtigung  von  Aus- 
stellung-en  herausbildete.  Diesem  Bedürfnis  wird  entsprochen  durch  die 
zahlreichen  Landes-,  Provinzial-  und  Fachaus-stellungen,  welche  gegen- 
wärtig in  jedem  Sommer  in  den  verschiedensten  größeren  Städten  statt- 
finden. Einen  besonderen  Wert  erlangen  solche  in  engerem  Rahmen 
veranstaltete  Ausstellungen,  wenn  sie  sich  auf  die  möglichst  vollständige 
und  umfassende  Vorführung  eines  oder  einiger  Sondergebiete  beschränken. 
Als  mustergültig  können  in  dieser  Hinsicht  genannt  werden:  die  Aus- 
stellung wissenschaftlicher  Apparate  zu  South  Kensington  1876,  die 
Fischerei-  und  Hygieneausstellungen  zu  London  und  zu  Berlin  u.  v.  a.  m. 
Manchen  dieser  Ausstellungen  ist  ein  Umfang  gegeben  worden, 
welcher  den  der  ersten  Weltausstellung  erreicht  und  sogar  übertrifft.  Es 
sei  hier  an  die  Ausstellungen  zu  Berlin,  speziell  diejenige  vom  Jahre 
1896,  erinnert,  an  die  Ausstellung  zu  Manchester  1887,  zu  Brüssel  1897 
und  Lüttich  1905,  an  die  nordischen  Ausstellungen  zu  Kopenhagen  1889 
und  Stockholm   1899,  sowie  an  die  Ausstellung  zu  Düsseldorf  1902. 

Organisation.  IL.    Einrichtung    und    Betrieb    der    Ausstellungen.      Im    Laufe 

der  Zeit  hat  sich  ein  vollständiges  System  für  die  Veranstaltung,  Durch- 
führung und  Abwicklung  von  Ausstellungen  herausgebildet.  Unter  allen 
Umständen  tritt  zunächst  eine  Ausstellungskommission  zusammen,  deren 
erste    Sorge    es    ist,    die    finanzielle    Grundlage    des    Unternehmens    zu 


11.  Einrichtung  und   Betrieb  der  Ausstellungen.  4IS 

schaffen.  Für  diesen  Zweck  wird  gewöhnlich  von  selten  wohlhabender 
Personen  ein  Garantiefonds  gezeichnet,  der  nach  Bedarf  in  Anspruch 
genommen  wird.  Für  größere  Ausstellungen,  welche  ein  ganzes  Land 
umfassen,  oder  gar  den  Charakter  der  Weltausstellungen  tragen  sollen, 
ist  es  üblich,  bei  den  betreffenden  Parlamenten  um  Gewährung  ansehn- 
licher Zuschüsse  vorstellig  zu  werden.  Nachdem  ein  geeigneter  Platz 
für  die  Ausstellung  gefunden  und  der  allgemeine  Plan  für  dieselbe  unter 
Berücksichtigung  des  Geländes  ausgearbeitet  ist,  ergehen  Einladungen 
an  die  beteiligten  Kreise.  Bei  Weltausstellungen  werden  die  Einladungen 
auf  diplomatischem  Wege  zunächst  den  einzelnen  Ländern  übersandt, 
welche  dann  ihrerseits  Kommissionen  für  die  Beschickung  der  Ausstellung 
erwählen,  Geldmittel  flüssig  machen  und  den  Verkehr  mit  den  Ausstellern 
in  die  Wege  leiten.  Bei  Weltausstellungen  ist  es  femer  üblich,  daß  jedes 
Land  durch  einen  zu  diesem  Zwecke  ernannten  Kommissar  sich  vertreten 
läßt,  welcher  nach  Feststellung  der  Beteiligung  in  seinem  Lande  früh- 
zeitig den  Ausstellungsort  aufsucht,  um  sich  daselbst  den  nötigen  Raum 
zu  sichern  und  im  Interesse  der  von  ihm  vertretenen  Aussteller  tätig 
zu  sein. 

Auf  Grund  der  eingehenden  Anmeldungen  wird  für  jede  Ausstellung  Kauiogc. 
rechtzeitig  ein  möglichst  vollständiger  Kattilog  vorbereitet.  Bei  Weltaus- 
stellungen ist  es  seit  langer  Zeit  üblich  geworden,  daß  heben  dem  von 
der  Ausstellungsleitung  herausgegebenen  Generalkatalog  noch  besondere 
Kataloge  der  einzelnen  Länder  erscheinen,  welche  genauere  Angaben 
über  die  Aussteller  und  die  von  ihnen  vorgeführten  Objekte  machen.  Auf 
den  letzten  Weltausstellungen  enthielten  die  Spezialkataloge  der  meisten 
Länder  auch  noch  ausführliche  Abhandlungen  über  die  industrielle  Ent- 
wicklung des  betreffenden  Landes  und  der  einzelnen  von  ihm  gepflegten 
Gewerbszweige.  Bemerkenswert  war  in  dieser  Hinsicht  der  Spezialkatalog 
des  Deutschen  Reiches  auf  der  Kolumbischen  Weltausstellung  zu  Chicago 
und  in  noch  höherem  Maße  der  deutsche  Katalog  der  Pariser  Weltaus- 
stellung von  1900,  welcher  auch  durch  seine  originelle  typographische 
und  künstlerische  Ausgestaltung  auffiel. 

Es  ist  ferner  üblich  geworden,  die  Ergebnisse  einer  bedeutenden  Aus-  Ausstciiungs- 
Stellung,  welche  ja  am  Schlüsse  der  für  sie  festgesetzten  Zeit  wieder  ver- 
schwindet, wenigstens  in  der  Weise  dauernd  festzuhalten,  daß  von  der 
Ausstellungsleitung  sowie  mitunter  auch  von  den  Ausstellungskommissionen 
der  einzelnen  Länder  ein  eingehender  Bericht  erstattet  wird.  Durch  be- 
sondere Ausführlichkeit  und  glänzende  Ausstattung  zeichnet  sich  der  von 
der  Generalkommission  der  Pariser  Weltausstellung  iqoo  erstattete  Be- 
richt aus. 

Daß  jede  Ausstellung  neben  den  erwähnten  offiziellen  Druckschriften 
noch  eine  privater  Initiative  entspringende  umfassende  Literatur  hervor- 
bringt, ist  selbstverständlich. 

Die  finanziellen  Hilfsmittel    einer  Ausstellung    setzen    sich   zusammen    cf,!^*dfagen. 


4i6 


Otto  N.  Witt:  Naturwissenschaftlich-technische  Ausstellungen. 


Dauernde 
Schöpfungen. 


Ausstellungs- 
bauten. 


aus  den  von  den  Au.sstellern  erhobenen  Platzmieten  und  den  Eintritt.s- 
geldem  der  Besucher.  Beide  Einnahmequellen  ergeben  bei  geschickter 
Inszenierung  und  günstiger  Lage  der  Ausstellung  sehr  bedeutende  Er- 
träge. Bei  einzelnen  Ausstellungen  sind  außerdem  auch  noch  Lotterien 
und  andere  gewinnbringende  Veranstaltungen  zu  Hilfe  genommen  worden. 
Schon  die  Londoner  Weltaus.stellung  von  1851  schloß  mit  einem  so  be- 
deutenden Überschuß  ab,  daß  nicht  nur  auf  die  Inanspruchnahme  des 
Garantiefonds  verzichtet  werden  konnte,  sondern  daß  außerdem  auch  noch 
Mittel  verfügbar  blieben,  welche  in  der  Errichtung  des  South  Kensington- 
Museums  eine  überaus  segensreiche  Verwendung  gefunden  haben.  Von 
den  nachfolgenden  Weltausstellungen  haben  insbesondere  diejenigen  zu 
Paris  meist  ein  günstiges  finanzielles  Resultat  geliefert,  aber  selbst  in  dem 
Falle,  wo  bei  Ausstellungen  die  Zeichner  des  Garantiefonds  stark  in  An- 
spruch genommen  werden  mußten,  läßt  sich  im  allgemeinen  aus  der  Zu- 
nahme des  Verkehrs  und  dem  Gewinn  vieler  Gewerbetreibenden  ein  in- 
direkter erheblicher  Vorteil  für  den  Sitz  der  Ausstellung  ableiten.  Die 
Veranstaltung  einer  Ausstellung  wird  gewöhnlich  zur  Ursache  zahlreicher, 
oft  groß  bemessener  gewerblicher  Unternehmungen,  wie  Hotels,  Theater, 
Vergnügungsorte,  welche  häufig  dem  Ausstellungsorte  dauernd  erhalten 
bleiben  und  zum  Nutzen  und  zur  Verschönerung  gereichen. 

Bei  den  fegelmäßig  wiederkehrenden  Pariser  Ausstellungen  ist  es 
üblich  geworden,  einige  der  für  Ausstellungszwecke  errichteten  Bauten  in 
solcher  Weise  auszuführen,  daß  sie  der  Stadt  erhalten  bleiben.  Die  An- 
regung dazu  ergab  sich  aus  der  dauernden  Erhaltung  des  Londoner 
Krystallpalastes  von  1851  nach  seiner  Übertragung-  aus  dem  Hydepark 
in  die  zu  seiner  Aufnahme  hergerichteten  Parkanlagen  von  Sydenham. 
Auch  der  Münchener  Gla.spala.st,  welcher  jetzt  für  die  alljährlich  wieder- 
kehrenden Kunstausstellungen  benutzt  wird,  ist  ursprünglich  für  die  dortige 
Ausstellung  von  1854  erbaut  worden.  Der  aus  der  Pariser  Ausstellung 
von  1867  stammende  Ausstellungspalast  der  Champs  Elysees  ist  bei  Ver- 
anstaltung der  Ausstellung  von  iqoo  abgebrochen  worden.  An  seine  Stelle 
traten  neue,  aus  den  Mitteln  der  Ausstellung  von  igoo  errichtete  Pracht- 
bauten, das  Grand  Palais  und  das  Petit  Palais,  welche  jetzt  Ausstellungs- 
und Museumszwecken  gewidmet  sind,  sowie  die  neue  Brücke,  der  Pont 
Alexandre  III.  Von  der  Ausstellung  des  Jahres  1878  blieb  der  jetzt  als 
Museum  dienende  Trocaderopalast,  während  die  Ausstellung  von  1889  den 
Eiffelturm  als  weithin  sichtbares  Wahrzeichen  hinterließ. 

Abgesehen  von  derartigen,  aus  den  Erträgnissen  der  Ausstellungen 
bestrittenen  Monumentalbauten  ist  der  großen  Mehrzahl  der  für  Aus- 
stellungszwecke errichteten  Gebäude  eine  sehr  ephemere  Existenz  be- 
schieden. Für  die  Herstellung  derselben  hat  sich  eine  eigene  Technik 
herausgebildet,  welche  unter  Verwendung  zerlegbarer  Stahlgerüste  von 
genügender  Tragkraft  den  äußeren  Schmuck  der  Gebäude  fast  ganz  aus 
mit   Gipsstuck  überzogenem  Drahtgeflecht   und    zum   Teil   sogar    aus  be- 


n.  Einrichtung  und  Betrieb  der  Ausstellungen.  d.  I  7 

malter  Leinewand  herstellt.  Die  Leichtigkeit,  mit  der  diese  Materialien 
sich  handhaben  lassen,  gestattet  den  weitesten  Spielraum  für  die  Errich- 
tung großartiger  und  unter  Umständen  sogar  stylistisch  gewagter  Bauten. 
In  unübertroffener  Weise  ist  die  so  gegebene  Gelegenheit  bei  Errichtung 
der  noch  unvergessenen  „weißen  Stadt"  im  Jacksonpark  zu  Chicago  aus- 
genutzt worden,  in  welcher  vielfach  antike  Motive  zur  Verwendung  kamen 
und  gleichzeitig  auch  das  von  zahlreichen  Wasserläufen  durchflossene  Ge- 
lände so  glücklich  ausgenutzt  und  der  Architektur  dienstbar  gemacht 
wurde,  daß  das  entstehende  Gesamtbild  trotz  aller  Vergänglichkeit  zu  den 
großartigsten  Leistungen  gerechnet  werden  muß,  welche  die  Architektur 
je  hervorgebracht  hat 

In  Chicago  kam  auch  wohl  zum  erstenmal  das  seither  bei  allen  Aus- 
stellungen wiederkehrende  Prinzip  voll  zum  Ausdruck,  daß  jedes  beteiligte 
Land  neben  seinen  Ausstellungen  in  den  einzelnen  großen  Palästen  sich 
auch  noch  ein  eigenes  Haus  errichtete,  in  welchem  die  Arbeitsräume 
seines  Kommissariats  und  außerdem  einzelne  besonders  wichtige  und 
charakteristische  Ausstellungsobjekte  untergebracht  waren.  In  Chicago 
ging  dieses  System  so  weit,  daß  jeder  einzelne  der  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  sein  besonderes  Haus  besaß.  Die  Häuser  der  einzelnen 
Nationen  pflegen  auf  Weltausstellungen  in  eine  oder  mehrere  Straßen  ge- 
ordnet zu  sein  und  es  ist  üblich,  denselben  Formen  zu  geben,  welche  für 
die  Eigenart  des  Landes  charakteristisch  sind  und  den  Baustil  desselben 
unverkennbar  zum  Ausdruck  bringen.  In  diesem  Sinne  sind  die  Häuser 
des  Deutschen  Reiches  zu  Chicago  1893  und  Paris  1900  in  Anlehnung 
an  süddeutsche  Renaissancebauten  errichtet  worden,  während  auf  der 
Weltausstellung  zu  St.  Louis  das  deutsche  Haus  dem  Mittelbau  des  Char- 
lottenburger Schlosses  nachgebildet  war.  Das  deutsche  Haus  auf  der 
Weltausstellung  zu  Paris  enthielt  in  seinem  Obergeschoß  Prunkräume, 
deren  Motive  den  Schlössern  Friedrichs  des  Großen  entnommen  waren 
und  in  denen  dank  der  besonderen  Huld  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
Wilhelms  II.  die  erlesensten  Kunstwerke  der  Fridericianischen  Zeit  als 
eines  der  wertvollsten  und  meistbewunderten  Ausstellungsobjekte  aufge- 
stellt waren.  In  ähnlicher  Weise  enthielt  das  englische  Haus  der  Pariser 
Weltausstellung  eine  unschätzbare  Sammlung"  von  Originalwerken  der 
großen  englischen  Maler  des  18.  Jahrhunderts,  das  spanische  Haus  die 
Waffen  und  Gobelins  Karls  V.  usw. 

Die  Grundidee  jeglicher  Ausstellung  ist  die  eines  Wettkanipfes  auf  AusstciiunKcn 
allen  Gebieten  der  menschlichen  Arbeit.  Jeder  Produzent  soll  durch  die  wcukdmpfc. 
Hoffnung,  als  erster  Meister  seines  Faches  anerkannt  zu  werden,  zur  Ent- 
faltung seiner  höchsten  Leistungsfähigkeit  angespornt  werden.  Auf  klei- 
neren Ausstellungen  vollzieht  sich  so  ein  Wettstreit  zwischen  den  Ver- 
tretern jedes  einzelnen  Faches,  auf  größeren  tritt  noch  der  Wetteifer 
zwischen  ganzen  Produktionsgebieten  oder  Industrieländern  hinzu.  Solche 
Wettkämpfe  aber  haben  nur  dann  einen  Sinn  und  einen  Nutzen,  wenn  sie 

Da  KULTI-K  DER  Gbgbnwakt.      I.   1.  2  7 


^l8  Otto  N.  Witt:  Natiirmssenschafllich-technische  Ausstellungen. 

schließlich  zu  einer  Entscheidung  führen.  Seit  Beginn  der  Ausstellungs- 
untemehmungen  ist  man  daher  darauf  bedacht  gewesen,  Preisgerichte  zu 
erwählen,  durch  deren  Urteil  ein  endgültiges  Urteil  über  die  vorgeführten 

Pr&miierung.  Leistungen  zustande  kommt.  Die  Einrichtung-  und  Zusammensetzung 
dieser  Preisgerichte,  die  Art  und  Weise,  wie  ihre  Entscheidung  zum  Aus- 
druck gebracht  wird,  ist  der  Gegenstand  vielfacher  Untersuchungen  und 
Neuerungen  gewesen,  bis  sich  auch  auf  diesem  Gebiete  ein  gewisser  Usus 
herausgebildet  hat,  der  trotz  mancher  noch  bestehender  UnvoUkommen- 
heiten  der  überaus  schwierigen  Aufgabe  einer  vorurteilslosen  Prämiierung 
einigermaßen  gerecht  wird. 

Aossteihmgs-  Bei  den  Vorarbeiten  für  die   erste   große  Weltausstellung  zu  London 

1851  bestand  zunächst  die  Absicht,  durch  Aussetzung  großer  Geldpreise 
für  die  vollkommensten  Ausstellungsobjekte  die  Schaffenslust  anzuregen 
und  Erfinder  dazu  zu  veranlassen,  Dinge  auszuführen,  deren  Herstellung 
im  gewöhnlichen  Laufe  der  gewerblichen  Arbeit  zu  kostspielig  und  daher 
für  eine  gewinnbringende  Verwertung  aussichtslos  gewesen  wäre.  Aber 
noch  ehe  die  Ausstellung  vollendet  war,  wurde  dieser  Gedanke  als  un- 
durchführbar verlassen  und  statt  dessen  derjenige  einer  Gewährung  von 
Ehrenpreisen  in  Form  von  Medaillen  aufgegriffen.  Bei  dieser  Form  der 
Prämiierung  sind  dann  alle  nachfolgenden  Ausstellungen  stehen  geblieben. 
Die  meisten  derselben,  speziell  die  bezüglich  ihrer  Organisation  muster- 
gültigen Pariser  Ausstellung-en  haben  Medaillen  verschiedenen  Grades  ver- 
teilt, deren  wachsender  Wert  durch  das  zu  ihrer  Herstellung  benutzte 
Metall  —  Bronze,  Silber,  Gold  —  angedeutet  wurde.  Später  trat  dann 
noch  als  höchster,  über  der  goldenen  Medaille  stehender  Preis  das  große 
Ehrendiplom,  Grand  Prix,  hinzu.  Die  Wiener  Weltausstellung-  von  1873 
verteilte  nur  Ehrendiplome,  was  vielfach  zur  Unzufriedenheit  Veranlassung 
gab.  Andere  Ausstellungen  haben  im  Hinblick  auf  den  hohen  Wert  der 
zur  Ausprägung  der  höheren  Preise  erforderlichen  Edelmetalle  mitunter 
nur  Bronzemedaillen  verteilt,  dabei  aber  den  Empfängern  silberner  und 
goldener  Medaillen  das  Recht  gegeben,  dieselben  in  dem  betreffenden 
Metall  gegen  Erstattung  der  Kosten  für  dasselbe  zu  beziehen.  In  der 
künstlerischen  Ausführung  der  Medaillen  haben  die  einzelnen  Ausstellungen 
miteinander  gewetteifert  und  sich  zu  überbieten  gesucht.  Die  größten 
Künstler  wurden  für  die  Herstellung  der  erforderlichen  Entwürfe  heran- 
gezogen. Die  schönsten  Medaillen  sind  wohl  diejenigen  der  beiden  Pariser 
Weltausstellungen  von  1878  und  igoo.  Namentlich  die  letztgenannte 
hat  auf  diesem  Gebiete  Außerordentliches  geleistet,  indem  sie  außer 
den  an  die  Aussteller  verteilten  Medaillen  noch  für  Personen,  die  sich  um 
die  Ausstellung  besondere  Verdienste  erworben  hatten,  außerordentlich 
schöne  und  wertvolle  Plaketten  in  Silber  und  Sevres-Porzellan  ausführen  ließ. 

Preisgerichte  Die  Mitglieder  der  Preisgerichte  werden  gewöhnlich  von  den  an  der 

und    Organisa-  j         •     i  r 

tion  derselben.  SpitzB  dcr  Ausstellung  Stehenden  Kommissionen  erwählt  und  emberuten. 
Bei  Weltausstellungen,  die  naturgemäß  auch  an  die  Zusammensetzung  ihrer 


IL  Einrichtung  und   Betrieb  der  Ausstellungen.  ^10 

Preisgerichte  die  weitgehendsten  Anforderungen  stellen,  gesellen  sich  zu 
den  von  der  Ausstellungskommission  berufenen  einheimischen  Preisrichtern 
noch  diejenigen  der  auswärtigen  Staaten,  welche  auf  Grund  einer  durch 
Vermittlung  der  Kommissariate  ergehenden  Einladung  von  den  Regie- 
rungen dieser  Staaten  ernannt  und  an  den  Ausstellungsort  entsandt  werden. 
Das  Preisgericht  muß  unter  allen  Umständen  so  frühzeitig  zusammentreten, 
daß  es  volle  Zeit  hat,  die  gesamte  Ausstellung  gründlich  zu  studieren  und 
seine  Arbeiten  rechtzeitig  für  die  kurz  vor  Schluß  der  Ausstellung  statt- 
findende Preisverteilung  abzuschließen.  Die  Organisation  des  Preisgerichtes 
ist  bei  verschiedenen  Ausstellungen  eine  verschiedene  gewesen;  am  voll- 
kommensten und  daher  am  häufigsten  angewandt  ist  wohl  die  Einteilung, 
wie  sie  regelmäßig  bei  den  Pariser  Weltausstellungen  stattfindet.  Die 
Preisrichter  werden  nach  den  Fächern,  welche  sie  vertreten,  in  ebenso 
viele  einzelne  Preisgerichte  eingeordnet,  als  Klassen  für  die  verschiedenen 
Ausstellungsobjekte  vorhanden  sind.  Auf  der  Pariser  Weltausstellung  von 
1900  waren  im  ganzen  126  Klassen  vorhanden,  und  ihnen  entsprachen 
ebenso  viele  Preisgerichte.  Jedes  derselben  studiert  an  Hand  der  Aus- 
stellungskataloge und  der  ihnen  zugänglich  gemachten  nachträglichen  Be- 
richtigungen derselben  alle  in  ihrer  Klasse  ausgestellten  Objekte,  diskutiert 
den  Wert  derselben  und  bringt  bestimmte  Auszeichnungen  in  Vorschlag. 
Das  Resultat  dieser  Arbeiten  wird  den  Gruppenpreisgerichten  vorge- 
legt, welche  in  kleinerer  Zahl  vorhanden  sind  und  von  denen  jedes  eine 
Reihe  von  Klassen  in  sich  begreift.  Diese  letzteren  sind  in  dem  Gruppen- 
preisgericht vertreten  durch  die  Präsidenten,  Vizepräsidenten  und  Schrift- 
führer der  einzelnen  Klassenpreisgerichte.  Die  Präsidenten  der  Gruppen- 
preisgerichte werden  in  Paris  von  der  französischen  Regierung  ernannt, 
können  aber  ebensowohl  Ausländer  wie  Einheimische  sein.  Auf  der 
Pariser  Weltausstellung  von  igoo  waren  im  ganzen  18  Gruppenpreis- 
gerichte vorhanden,  deren  Aufgabe  es  war,  die  von  den  Klassenpreis- 
gerichten gemachten  Prämiierungsvorschläge  nochmals  auf  das  genaueste 
zu  prüfen  und  auf  Grund  weiteren  herbeigeschafften  Materials  wenn  nötig 
zu  berichtigen.  Es  sind  die  Gruppenpreisgerichte,  denen  weitaus  die  um- 
fangreichsten und  verantwortlichsten  Arbeiten  auf  diesem  Gebiet  zufallen. 
Als  oberste  Instanz  des  ganzen  Preisgerichtes  fungiert  die  sogenannte 
Jury  superieur,  welche  sich  aus  den  Präsidenten  und  Vizepräsidenten  der 
Gruppenpreisgerichte,  den  Chefs  der  AusstcUungskommission,  sowie  den 
Kommissaren  der  einzelnen  auf  der  Ausstellung  vertretenen  Staaten  zu- 
sammensetzt und  an  deren  Spitze  wiederum  ein  Präsidium  steht,  dessen 
Mitglieder  von  der  französischen  Regierung  ernannt  werden  und  zumeist 
aus  hohen  Staatsbeamten  bestehen.  Die  Jury  superieur  beschließt  end- 
gültig über  die  Zuerkennung  der  von  den  Gruppenpreisgerichten  in  Vor- 
schlag gebrachten  Preise.  Die  Verteilung  derselben  erfolgt  in  Form  einer 
großartigen  Festlichkeit  durch  den  Präsidenten  der  Französischen  Republik 
in   eigener  Person.     Da   es   indessen  bei  dem   Umfang,    den   die  Weltaus- 

27* 


A20  Otto  N.  Witt:  Naturwisscnschaftlich-teclinische  Ausstellungen. 

Stellungen  jetzt  angenommen  haben,  unmiiglich  wäre,  die  überaus  zahl- 
reichen Preise  den  einzelnen  Ausstellern  selbst  einzuhändigen,  so  geschieht 
die  Preisverteilung  symbolisch,  indem  der  Präsident  jedem  der  Präsidenten 
der  Gruppenpreisgerichte  ein  Verzeichnis  der  auf  seine  Gruppe  entfallen- 
den Preise  einhändigt.  Die  Zustellung  der  zuerkannten  Medaillen  und  zu- 
gehörigen Diplome  erfolgt  dann  gewöhnlich  erst  nach  Schluß  der  Aus- 
stellung durch  die  Ausstellungsleitung. 

Wirkungen  der  Es  Ucgt  auf  der  Hand,  daß  die  bei  solchen  Ausseilungen  stattfindende 

ciung.  pJ.g^J^^JJgJ-^J^g.  keine  durchaus  gerechte  sein  kann.  Insbesondere  bringt  die- 
selbe die  relative  Leistungsfähigkeit  der  verschiedenen  Aussteller  nur  in- 
soweit zur  Geltung,  als  dieselbe  sich  an  den  ausgestellten  Objekten  er- 
kennen läßt.  Unter  Umständen  kann  daher  ein  Aussteller,  der  an  sich 
sehr  leistungsfähig  ist,  bei  Beschickung  der  Ausstellung  aber  nur  beschei- 
dene Anstrengungen  gemacht  hat,  von  einem  anderen  überflügelt  werden, 
der  bei  geringerer  gewerblicher  Bedeutung  sich  eine  sehr  glänzende  Ver- 
tretung auf  der  Ausstellung  hat  angelegen  sein  lassen.  Derartige  Miß- 
verhältnisse werden  allerdings  auf  Grund  der  Sach-  und  Fachkenntnis  der 
einzelnen  Mitglieder  des  Preisgerichtes  mit  in  Rechnung  gezogen,  trotz- 
dem aber  ist  eine  gewisse  Ungleichheit  bei  der  Zuerkennung  der  Preise 
gar  nicht  zu  vermeiden.  Im  allgemeinen  geht  die  Tendenz  der  Preisge- 
richte auf  Ausstellungen  darauf  hinaus,  eine  möglichst  milde  Praxis  zu 
üben,  d.  h.  alle  irgendwie  erkennbaren  Verdienste  durch  Zuerkennung 
eines  Preises  auszuzeichnen  und  nur  durch  die  verschiedene  Höhe  der 
Preise  den  relativen  Wert  der  ausgestellten  Objekte  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Das  Resultat  solcher  Maßnahmen  ist  die  auf  allen  neueren  Aus- 
stellungen beobachtete  Tatsache,  daß  weitaus  die  größte  Zahl  aller  vor- 
handenen Aussteller  mit  Preisen  bedacht  wurden  und  nur  ganz  wenige 
leer  ausgingen.  Damit  sinkt  bei  Ausstellungen,  welche  überhaupt  nur 
einen  Preis  gewähren,  die  Preisverteilung  fast  auf  das  Niveau  einer  Farce 
herab  und  die  mühsamen  Arbeiten  der  Preisgerichte  erscheinen  eigentlich 
als  überflüssig.  Wo  aber,  wie  dies  doch  bei  ernsthaften  Ausstellungen  zu- 
meist geschieht,  verschiedene  in  ihrem  Werte  abgestufte  Preise  verteilt 
werden,  da  hat  trotz  der  vielbekrittelten  Freigebigkeit  der  Preisgerichte 
die  Preisverteilung  immer  noch  eine  sehr  erhebliche  Bedeutung,  welche 
auch  dadurch  nicht  abgeschwächt  wird,  daß  die  große  Zahl  derer,  welche 
auf  die  Beschickung  einer  Ausstellung  nicht  die  erforderlichen  Unkosten 
und  Bemühungen  verwenden  wollen,  eifrig  bestrebt  ist,  den  Wert  der  auf 
Ausstellungen  erworbenen  Auszeichnungen  herabzusetzen. 

Stellung  außer  Da  die  Preisgerichte  aus  sachverständigen  Personen  bestehen  müssen 

und  da  eine  genügende  Zahl  solcher  sich  nur  finden  läßt,  wenn  man  auch 
die  Kreise  der  Produzenten  zur  Ausübung  des  Preisrichteramtes  mit  heran- 
zieht, so  ist  es  nicht  zu  vermeiden,  daß  auch  Aussteller  gelegentlich  zu 
Preisrichtern  ernannt  werden.  Um  selbst  den  Schein  zu  vermeiden,  als 
könnten  dieselben   das   ihnen  übertragene  Amt    zum    eigenen  Vorteil  aus- 


IT.  Einrichtung  und  Betrieb  der  Ausstellungen.  4  2  I 

nutzen,  ist  auf  allen  Ausstellungen  die  Einrichtung  getroffen,  daß  ein 
Aussteller,  der  ins  Preisgericht  berufen  wird,  aus  der  Bewerbung  um  einen 
Preis  ausscheidet.  Hierauf  bezieht  sich  die  auf  allen  Ausstellungen  häufig 
sichtbare  Bezeichnung  irgend  welcher  Objekte  als  „hors  concours"  oder 
„außer  Wettbewerb".  Da  nun  aber  die  Berufung  ins  Preisgericht  an  sich 
schon  eine  Anerkennung  besonderer  Tüchtigkeit  oder  Sachkenntnis  dar- 
stellt, so  hat  man  sich  gewöhnt,  die  Bezeichnung  „außer  Preisbewerb" 
ihrerseits  als  eine  Auszeichnung  anzusehen  und  Aussteller,  welche  sich 
für  hervorragend  tüchtig  hielten,  oder  auch  solche,  die  Gründe  hatten,  an 
dem  schließlichen  Ausfall  der  Preisverteilung  Zweifel  zu  hegen,  haben  sich 
mitunter  als  hors  concours  erklärt,  ohne  daß  dazu  die  obenerwähnte  Ver- 
anlassung der  Berufung  ins  Preisgericht  gegeben  war.  Um  dem  auf  solche 
Weise  entstehenden"  Unfug  zu  steuern,  ist  sehr  vernünftigerweise  bei  ein- 
zelnen Ausstellungen,  speziell  auch  bei  derjenigen  zu  Paris  iqoo,  die  eigen- 
mächtige Erklärung  des  Ausscheidens  aus  dem  Preisbewerb  durch  die 
Aussteller  verboten  worden.  Andrerseits  hat  dieselbe  Pariser  Ausstellung 
die  Härte,  welche  in  der  gezwungenen  Hors  concours-Stellung  liegt,  da- 
durch zu  mildem  versucht,  daß  sie  eine  besondere  Hors  concours-Medaille 
verteilte,  welche  an  alle  diejenigen  verliehen  wurde,  die  infolge  ihrer  Be- 
rufung ins  Preisgericht  aus  dem  Wettbewerb  ausschieden. 

Eine   reichliche  Verteilung  von  Preisen,    deren  Besitz    für    den   Aus- Beanspruchung 

der  Austeller. 

steller  zweifellos  eine  dauernde  und  wertvolle  geschäftliche  Empfehlung 
bildet,  erscheint  schon  deshalb  angezeigt,  weil  die  Anforderungen,  welche 
durch  Ausstellungen  und  namentlich  durch  Weltausstellungen  an  die  be- 
teiligten Aussteller  gemacht  werden,  für  diese  eine  große  und  schwer- 
wiegende Last  bedeuten.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  nur  um  die  meist 
reichlich  bemessene  Platzmiete,  um  die  Aufwendungen  für  die  zur  Ein- 
richtung, Instandhaltung  und  Abräumung  der  Ausstellung  erforderlichen 
zahlreichen  Reisen  und  längeren  Aufenthalte  am  Ausstellungsorte,  sondern 
auch  um  die  oft  sehr  großen  Kosten  der  Herstellung  von  Ausstellungs- 
objekten, für  die  in  den  meisten  Fällen  kein  Besteller  vorhanden  ist  und 
die  daher  beim  nachträglichen  freihändigen  Verkauf  häufig  bloß  Preise  er- 
zielen, die  geringer  sind  als  die  tatsächlichen  Herstellungskosten.  Hierzu 
kommen  dann  noch  bei  großen  Objekten  die  oft  sehr  bedeutenden  Fracht- 
spesen, während  die  bei  Weltausstellungen  regelmäßig  gewährte  zollfreie 
Einfuhr  in  das  Ausstellungsland  nur  dann  in  Wirkung  tritt,  wenn  das  ausge- 
stellte Objekt  nach  Beendigxing  der  Ausstellung  wieder  in  das  Ursprungsland 
zurückkehrt  und  somit  erneute  Frachtspesen  verursacht.  Da  in  den  fünfzig 
Jahren,  während  welcher  Ausstellungen  regelmäßig  abgehalten  werden,  ein 
Wetteifer  nicht  nur  auf  den  einzelnen  Ausstellungen  stattfindet,  sondern 
auch  jede  neue  Ausstellung  alle  ihre  Vorgängerinnen  zu  übertreffen  sucht, 
so  sind  die  Aufwendungen,  welche  von  einzelnen  Ausstellern  bei  den  ver- 
schiedenen Ausstellungen  gemacht  worden  sind,  schließlich  zu  außerordent- 
licher Höhe  herangewachsen.    Es  sei  in  dieser  Hinsicht  an  die  Ausstellung 


422 


Otto  N.  Witt:  Naturwisscnschaftlüh-technischc  Ausstellungen. 


der  Firmen  Krupp  und  Stumm  in  Chicago,  an  diejenigen  von  Borsig  und 
der  Allgemeinen  Elektri/.itätsgesellschaft  zu  Paris  1900  und  an  viele  andere 
erinnert,  deren  Herstellungskosten  in  die  Hunderttausende  gingen.  Im 
Verhältnis  vielleicht  noch  anstrengender  sind  die  Aufwendungen,  welche 
industrielle  Unternehmungen  mittlerer  Größe  für  Ausstellungen  zu  machen 
haben,  und  welche  in  ihrer  ständigen  Wiederkehr  eine  nicht  zu  verachtende 
Belastung  derselben  bedeuten.  Hierdurch  sowie  durch  die  Störung  des 
Geschäftsbetriebes,  welche  die  Vorbereitung  einer  Ausstellung  zweifellos 
mit  sich  bringt,  ist  die  oft  erwähnte  Ausstellungsmüdigkeit  zu  erklären, 
welche  sich  in  einzelnen  industriellen  Kreisen  und  mitunter  sogar  in  ganzen 
Ländern  geltend  macht.  Den  prägTiantesten  Ausdruck  findet  eine  der- 
artige Ausstellungsmüdigkeit  in  der  gelegentlich  stattfindenden  Ablehnung 
irgendeines  Landes,  sich  an  einer  Weltausstellung  zu  beteiligen.  Eine 
solche  Ablehnung  erfolgte  beispielsweise  von  Seiten  des  Deutschen  Reiches 
für  die  Pariser  Weltausstellungen  von  1878  und  1889.  Wenn  auch  vielleicht 
politische  Gesichtspunkte  bei  diesen  Ablehnungen  mit  in  Betracht  gezogen 
worden  sind,  so  unterliegt  es  doch  keinem  Zweifel,  daß  auch  die  damals 
nicht  sehr  günstige  Lage  der  deutschen  Industrie  für  die  getroffene  Ent- 
scheidung mit  maßgebend  war.  Daß  bei  einer  solchen  offiziellen  Nicht- 
beteiligung  für  einzelne  Firmen,  welche  gerne  ausstellen  möchten,  dpch 
immer  noch  Mittel  und  Wege  vorhanden  sind,  ihre  Erzeugnisse  den  Be- 
suchern der  Ausstellung  vorzuführen,  mag  hier  nur  erwähnt  werden, 
sammei-  und  Aus    dem    Streben    nach    einer    Herabminderung    der    dem    einzelnen 

AussteUung  und  Ausstcller    erwachsenden    Kosten    ist     die    Einrichtung     der    Sammelaus- 
ihnen  zugrunde-  Stellungen   hervorgegangen,    welche    immer   größere   Beachtung   gefunden 

liegenden  Ideen.  ,--,..,  .  ,,  .  ..,.,-,,. 

hat  und  daher  bei  jeder  neuen  Ausstellung  immer  starker  in  Erscheinung 
tritt.  In  ihrer  ursprünglichen  Form  kam  die  Sammelausstellung  in  der 
Weise  zustande,  daß  namentlich  in  gewissen,  einer  und  derselben  Industrie 
gewidmeten  Bezirken  alle  Gewerbetreibenden  gleicher  Art  sich  zusammen- 
taten und  in  gemeinsam  beschafften  Ausstellungsschränken  oder  sonst  er- 
forderlichen Hilfsmitteln  eine  Ausstellung  veranstalteten,  die  als  Ganzes 
groß  genug  war,  um  die  Aufmerksamkeit  der  Ausstellungsbesucher  auf 
sich  zu  ziehen,  in  der  aber  jeder  einzelne  Fabrikant  mit  nur  einem  oder 
einigen  wenigen  Objekten  vertreten  war,  die  seinen  Namen  trugen.  In 
dieser  Weise  haben  z.  B.  die  Thüringer  Spielwarenindustrie  und  die  Nürn- 
berger Metallindustrie  fast  alle  Ausstellungen  beschickt,  auf  denen  sie  ver- 
treten waren.  Besonders  großartig  gestalteten  sich  femer  durch  ein  solches 
gemeinschaftliches  Vorgehen  bei  den  letzten  Weltausstellungen,  ebenso 
wie  auf  der  deutschen  Ausstellung  zu  Berlin  die  Vorführungen  der  deut- 
schen Feinmechanik  und  Optik. 

Im  Laufe  der  Zeit  aber  ist  die  auf  solche  Weise  erzielbare  Herab- 
setzung der  Kosten  nicht  das  einzige  Motiv  geblieben,  welches  zu  der 
Herstellung  von  Sammelausstellungen  führte.  Mehr  und  mehr  brach  sich 
die  Überzeugung  Bahn,  daß  durch  den  Zusammenschluß  der  gleichartigen 


IT.  Einrichtung  und  Betrieb  der  Ausstellungen.  423 

Industrie  eines  ganzen  Bezirkes,  einer  Provinz  oder  eines  Landes  ohne 
Benachteiligung  der  Interessen  des  Einzelnen  die  Bedeutung  des  ganzen 
Industriezweiges  besser  zum  Ausdruck  gebracht  werden  kann,  als  bei  un- 
abhängigem Vorgehen  jeder  einzelnen  F"irma.  Auf  solche  Weise  kamen 
Sammelausstellungen  zustande,  bei  welchen  die  einzelnen  Aussteller  oft 
durch  sehr  große  und  zahlreiche  Objekte  vertreten  waren,  bei  denen  aber 
durch  vorherige  Wahl  gleichartiger  Ausstellungsformen  die  Zusammen- 
gehörigkeit des  Ganzen  betont  wurde.  Gleichzeitig  konnten  immer  noch 
gewisse  Ersparnisse  in  der  Weise  realisiert  werden,  daß  die  Einrichtung 
und  Vertretung  der  ganzen  Sammelausstellung  einzelnen  dazu  erwählten 
Personen  übertragen  wurde.  Beispiele  derartiger  Sammel-  oder  richtiger 
Gruppenausstellungen  sind  die  Ausstellungen,  wie  sie  z.  B.  von  der  Kre- 
felder Seidenindustrie  oder  der  deutschen  chemischen  Industrie  auf  der 
Kolumbischen  Weltausstellung  zu  Chicago  1893  veranstaltet  wurden  und 
in  ihrer  Großartigkeit  ein  deutliches  Zeugnis  für  den  Wert  gemeinsamen 
Vorgehens  bei  solchen  Gelegenheiten  ablegten. 

Man  ist  aber  bei  dieser  Entwicklung  der  Sammelausstellungen  noch 
weiter  gegangen,  indem  man  namentlich  auf  den  neueren  Ausstellungen 
mitunter  Vorführungen  veranstaltet  hat,  bei  denen  direkte  geschäftliche 
Interessen  weit  weniger  maßgebend  waren,  als  der  Wunsch,  von  dem 
Stande  irgend  einer  Industrie  oder  eines  Wissensgebietes  weite  Kreise  zu 
unterrichten.  Insbesondere  sind  es  Staatsregierungen  und  Behörden,  oder 
auch  Gemeindeverwaltungen,  wissenschaftliche  Körperschaften  und  Vereine 
gewesen,  welche  die  durch  Ausstellungen  sich  bietende  Gelegenheit  be- 
nutzten, um  von  bestimmten  Bestrebungen  oder  Unternehmungen  öffent- 
lich Rechenschaft  abzulegen.  Aber  auch  die  Industrie  selbst  hat  sich 
unter  Umständen  bei  der  Beschickung  von  Ausstellungen  von  derartigen 
höheren  Motiven  leiten  lassen.  In  großartigster  Weise  hat  dies  die  deutsche 
chemische  Industrie  auf  der  Weltausstellung  zu  Paris  1900  getan.  Im  Be- 
wußtsein ihrer,  die  gleichartige  Industrie  aller  anderen  Länder  überragen- 
den Größe  hat  sie  eine  Sammelausstellung  in  der  Weise  veranstaltet,  daß 
alle  beteiligten  Firmen  die  zu  einer  systematisch  geordneten  Vorführung 
erforderlichen,  oft  sehr  kostbaren  Objekte  beitrugen,  dabei  aber  auf  Nen- 
nung ihres  Namens  verzichteten.  Durch  gleichartige  und  überaus  ge- 
schmackvolle Aufstellung  der  zusammengetragenen  Objekte  und  Erläuterung 
derselben  durch  einen  ausführlichen  Katalog  entstand  ein  Bild  des  Schaffens 
der  Gesamtindustrie  von  überwältigender  Großartigkeit,  welches  zu  den 
am  meisten  besprochenen  und  am  eingehendsten  studierten  Vorführungen 
dieser  gewaltigen  Weltausstellung  gehörte.  Es  wäre  bedauerUch  gewesen, 
wenn  eine  derartige  mit  beispiellosem  Aufwand  an  Mühe  und  Kosten  her- 
gestellte Sammlung,  deren  Wert  auf  etwa  *|^  Millionen  veranschlagt  wurde, 
nach  Beendigung  der  Ausstellung  wieder  zerstreut  worden  wäre.  Es 
wurde  dies  dadurch  verhindert,  daß  die  Aussteller  nach  Schluß  der  Aus- 
stellung  das   Ganze   der  preußischen  Regierung  zum   Geschenk  machten, 


,  ,  ,  Otto  N.  Witt:  Naturwissenschaftlich-technische  Ausstellungen. 

welche  für  seine  Aufnahme  im  Park  der  Technischen  Hochschule  zu  Char- 
lottenburg ein  besonderes  „Chemisches  Museum"  errichtete. 
Bcscinikuiii; vou  Am  hüufigstcii  habcii  wohl  die  Verwaltungen  großer  Städte  von  dieser 

durdi'ncSdcn.  Ausstellungsform  Gebrauch  gemacht,  indem  sie  die  von  ihnen  getroffenen 
gemeinnützigen  Einrichtungen  in  oft  sehr  ausgedehnten  Sammelausstellungen, 
bei  deren  Veranstaltung  die  Mithilfe  vieler  Privatpersonen  und  Firmen 
herangezogen  wurde,  vorführten.  Mehr  und  mehr  aber  haben  sich  auch 
die  Regierungen  der  einzelnen  Länder,  bei  denen  ja  wohl  die  Triebfeder 
des  Wetteifers  in  geringerem  Maße  vorhanden  war,  daran  gewöhnt,  solche 
Ausstellungen  zu  veranstalten.  Das  Vorgehen  deutscher  Ministerien  und 
Reichsbehörden  kann  in  dieser  Hinsicht  als  mustergültig  bezeichnet  werden. 
Das  königlich  preußische  Kultusministerium  beschickte  die  Kolumbische 
Weltausstellung  zu  Chicago  mit  einer  großartigen  Vorführung  der  Hilfs- 
mittel des  gesamten  Unterrichtswesens  und  namentlich  der  Universitäten. 
Eine  nicht  minder  umfangreiche,  aber  anders  geordnete  Ausstellung  ähn- 
licher x\rt,  bei  deren  Veranstaltung  auch  die  deutsche  Industrie  mitwirkte, 
wurde  von  der  gleichen  Behörde  auf  die  Weltausstellung  zu  St.  I.ouis  ge- 
sandt. Großer  Anerkennung  erfreuten  sich  auch  die  vom  Deutschen  Reichs- 
versicherungsamt auf  den  letzten  Ausstellungen  veranstalteten  Vorführungen, 
welche  die  Tätigkeit  dieser  Behörde  in  volkstümlicher  Weise  erklärten 
und  sicherlich  dazu  beigetragen  haben,  die  Idee  des  Arbeiterschutzes  in 
der  gesamten  zivilisierten  Welt  populär  zu  machen.  Wohl  die  umfang- 
reichste und  großartigste  Vorführung  dieser  Art,  die  je  stattgefunden  hat, 
war  diejenige  der  Bundesregierung  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 
auf  der  Weltausstellung  zu  Chicago  1893.  In  einem  ausgedehnten  Palast, 
den  sie  zu  diesem  Zwecke  errichtet  hatte,  stellte  die  Bundesregierung  von 
Washington  mit  einer  bis  in  die  kleinsten  Details  gehenden  Gründlichkeit 
all  die  vielen  Unternehmungen  dar,  in  denen  sie  für  das  Gesamtwohl  der 
vielen  in  ihr  zusammengeschlossenen,  an  sich  aber  vollständig  selbstän- 
digen Staaten  sorgt.  Insbesondere  brachte  sie  dabei  auch  die  von  ihr  mit 
außerordentlicher  Umsicht  und  größtem  Aufwand  an  Mitteln  betriebene 
naturwissenschaftliche  Erforschung  des  weiten  Ländergebietes  von  Nord- 
amerika zur  Kenntnis  weiter  Kreise. 
Retrospektive  Eine  andere  neuere  Errungenschaft  des  Ausstellungswesens,  durch 
-  "^"^  ""^'"welche  die  ethische  Bedeutung  desselben  ganz  erheblich  gewonnen  hat, 
ist  die  der  retrospektiven  Vorführungen.  Während  die  ersten  Ausstellungen 
alles  Vorhandene  als  bekannt  voraussetzten  und  in  erster  Linie  dem  Zwecke 
dienen  wollten,  den  Kreis  unseres  Könnens  zu  erweitem  und  zur  Schaffung 
und  Vorführung  des  bisher  für  unerreichbar  Gehaltenen  die  nötige  An- 
regung zu  geben,  hat  man  später  auch  den  Wert  des  Rückblickens  in  die 
Vergangenheit  mehr  und  mehr  gewürdigt.  Auf  den  letzten  Ausstellungen 
der  achtziger  Jahre,  derjenigen  zu  Manchester  1887  und  der  Weltaus- 
stellung von  Paris  1889  suchte  man  die  Vergangenheit  zu  rekonstruieren, 
indem  man  auf  Grund  alter  Abbildungen  und  Beschreibungen  bestimmte 


II.  Kinrichtung  und  Betrieb  der  Ausstellungen.  425 

Stadtgpgcnden  der  Au.s.stellungsstädte,  einzelne  Straßen  oder  berühmte 
Gebäude  (Bastille)  in  dem  leichten  architektonischen  Material  der  Aus- 
stellungen, aber  in  täuschend  genauer  Nachahmung  der  äußeren  Form 
wieder  aufführte.  Die  Häuser  solcher  alten  Straßen  wurden  zum  Teil  mit 
alten  kunstgewerblichen  Erzeugnissen  ausgestattet,  und  so  zu  einer  Art 
von  Museum  gfemacht,  ja,  man  ging  so  weit,  die  Wächter  und  sonstigen 
Angestellten  des  betreffenden  Ausstellungsteiles  in  dem  Kostüm  der  be- 
treffenden Periode  ihren  Dienst  tun  zu  lassen.  Diese  Maßnahme  fand  so 
viel  Anklang,  daß  die  Vorführung  alter  Stadtteile  zu  einer  stehenden  Ein- 
richtung auf  Ausstellungen  wurde.  Alt-Nürnberg,  Alt-Wien,  Alt-Berlin 
sind  heute  noch  in  jedermanns  Munde  und  man  hat  diese  großen  Aus- 
stellungsobjekte mitunter  noch  nach  Beendigung  der  Ausstellungen,  für 
die  sie  geschaffen  waren,  an  anderen  Orten  neu  aufgebaut  und  zur  Schau 
gestellt.  Freilich  wurde  dabei  die  Rücksichtnahme  auf  historische  Treue 
immer  geringer  und  die  ursprünglich  von  rein  künstlerischen  und  wissen- 
schaftlichen Motiven  getragenen  Rekonstruktionen  alter  Städtebilder  dege- 
nerierten allmählich  zu  Vergnüg-ungslokalen.  Die  Idee  der  retrospektiven 
Vorführungen  aber  machte  sich  in  neuen  ernsteren  Formen  geltend.  Auf 
der  Kolumbischen  Weltausstellung  zu  Chicago  wurden  alle  noch  beschaff- 
baren, auf  die  Entdeckung  Amerikas  durch  Kolumbus  bezüglichen  Objekte 
den  Besuchern  vorgeführt.  Die  Karavellen,  auf  denen  der  große  See- 
fahrer seine  erste  Reise  über  den  Ozean  unternahm,  lagen  nicht  nur  in 
täuschend  genauer  Nachbildung  in  einer  den  Hafen  von  Huelva  vor- 
stellenden Bucht  des  Michigansees  vor  Anker,  sondern  man  hatte  sie  tat- 
sächlich in  Spanien  erbaut  und  kurz  vor  Beginn  der  Ausstellung  die  Fahrt 
über  den  Ozean  vollbringen  lassen.  Und  in  einer  mehr  dem  amerikani- 
schen als  dem  europäischen  Geschmacke  entsprechenden  Weiterführung 
des  Gedankens  war  man  sogar  so  weit  gegangen,  den  letzten  Nachkommen 
des  Entdeckers  der  Neuen  Welt,  den  Herzog  von  Veragna,  auf  Kosten 
der  Ausstellung  aus  Spanien  nach  Amerika  kommen  zu  lassen  und  dort 
gewissermaßen  als  lebendes  Überbleibsel  der  kolumbischen  Zeit  dem 
Publikum  vorzuführen.  Wenn  so  der  Weltteil,  in  dem  die  Ausstellung 
stattfand,  geschichtliche  Gesichtspunkte  in  den  Vordergrund  stellte  und 
dies  auch  in  dem  für  die  Weltausstellung  gewählten  Namen  zum  Ausdruck 
brachte,  so  ist  es  begreiflich,  wenn  auch  die  einzelnen  Staaten  Amerikas 
in  den  Häusern,  welche  sie  sich  erbaut  hatten,  Vorführungen  aus  ihrer 
Geschichte  zu  veranstalten  suchten.  Bei  einzelnen  von  ihnen,  so  z.  B.  bei 
den  Neu -Englandstaaten  und  Kalifornien  konnten  dieselben  auch  ein 
größeres  Interesse  beanspruchen,  während  sie  bei  anderen  Staaten  und 
Territorien,  die  eben  noch  kaum  eine  Geschichte  haben,  mitunter  groteske 
Formen  annahmen. 

In  noch  höherem  Maße  und  in  ganz  systematischer  Weise  wurde  das 
retrospektive  Prinzip  durch  die  Leitung  der  Zentenarausstellung  zu  Paris 
1900   betont.     Hier  wurde,   soweit  es  immer  möglich  war,  in  jeder  ein- 


A2()  Otto  N.  Witt:  NaUinvisscnschaftlicli-technischc  Ausstclhinpcn. 

zeliien  Ausstellungsklassc  eine  retrospektive  Abteilung  eingerichtet,  welche 
in  interessanter  Gegenüberstellung  mit  den  modernen  die  gleichartigen 
Behelfe  früherer  Zeiten  zur  Anschauung  brachte.  Namentlich  von  Seiten 
der  französischen  Einzelkommissionen  für  die  Ausstellung  ist  der  von  der 
Gesamtleitung  gegebenen  Anregung  in  gewissenhaftester  und  weitgehend- 
ster Weise  Rechnung  getragen  worden  und  es  sind  auf  diese  Weise  Vor- 
führungen von  ganz  überraschender  Art  zustande  gekommen.  Es  zeigte 
sich,  daß  unsere  Museen  trotz  ihrer  großen  Zahl  und  ihres  Umfanges  noch 
lange  nicht  über  alles  Rechenschaft  gegeben  hatten,  was  unsere  Vorfahren 
getan  und  getrieben  haben.  Gerade  die  alltäglichsten  Dinge  waren  es, 
bei  denen  die  Vergleichung  des  früher  Üblichen  mit  dem  heute  Einge- 
führten besonders  interessant  sich  gestaltete. 

Vielfach  hat  man  auch  versucht,  den  belehrenden  Charakter  der  Aus- 
stellungen durch  Veranstaltung  von  wissenschaftlichen  Kongressen  und 
Vorträgen  stärker  zu  betonen.  Sehr  glücklich  organisiert  waren  die  täg- 
lichen Vorträge  auf  der  Berliner  Ausstellung  von  1896,  während  die  Welt- 
ausstellungen zu  Paris  igoo  und  St.  Louis  1904  sich  durch  die  große  Zahl 
der  mit  ihnen  verbundenen  Kongresse  auszeichneten. 

Aussteiiungs-  III.   Wirkungen    und    Erfolge    der    Ausstellungen.     Es    liegt 

Vorkehrungen  in   der  Natur   der   Sache,   daß  Ausstellungen    einen    Zusammenfluß    großer 

für  dieselben.  n  r  t  i/^  i*i  •  j^j 

Mengen  von  Menschen  an  den  Orten  bewirken,  wo  sie  stattfinden. 
Sie  sind  von  vornherein  darauf  berechnet,  viele  Besucher  aus  weiter 
Feme  heranzuziehen,  sie  sind  nur  unter  dieser  Voraussetzung  möglich 
und  die  stete  Zunahme  ihres  Umfanges  steht  im  direkten  Verhältnis 
mit  der  Erweiterung,  Verbesserung  und  Verbilligoing  unserer  Verkehrs- 
mittel. Der  Besuch  der  auf  eine  Zeitdauer  von  fünf  bis  sechs  Monaten 
berechneten  Weltausstellungen  hat  bei  jeder  derselben  nach  Millionen  ge- 
rechnet, aber  auch  bei  Landes-  und  Provinzialausstellungen  wird  derselbe, 
wenn  sie  einigermaßen  umfangreich  und  geschickt  inszeniert  sind,  sehr  oft 
durch  sieben-  bis  achtstellige  Zahlen  ausgedrückt.  Für  die  Unterbringung, 
Bewirtung  und  Unterhaltung  derartiger  Menschenmengen  sind  umfassende 
Vorkehrungen  erforderlich,  welche  auch  wieder  nur  möglich  geworden 
sind  durch  die  Hilfsmittel  des  modernen  Verkehrs.  Ganz  abgesehen  von 
der  gesteigerten  Frequenz  des  Personenverkehrs  bewirken  somit  Aus- 
stellungen auch  eine  nicht  zu  verachtende  Belebung  des  Warenverkehrs 
und  Handels. 

Frühzeitig  hat  man  eingesehen,  daß  auch  für  die  Unterhaltung  der 
zahlreichen  Ausstellungsbesucher  gesorgt  werden  muß.  So  kommen  die 
vielen  Vergnügungseinrichtungen  und  Schaustellungen  zustande,  welche 
mit  Ausstellungen  stets  Hand  in  Hand  gehen  und  die  man  von  selten  der 
Ausstellungsleitungen  mehr  und  mehr  auf  bestimmte  Teile  der  Aus- 
stellungen zu  beschränken  sucht,  um  so  der  Hauptveranstaltung  ihren 
ernsthaften  Charakter  zu  wahren.     Charakteristisch  war  in  dieser  Hinsicht 


III.   Wirkungen  und  Erfolge  der  Ausstellungen.  427 

die  Midway  Plai.sance  der  Kolumbischen  Weltausstellung  zu  Chicago,  der 
eine  gleichartige  Abteilung  zu  St.  Louis  entsprach.  Auch  hier  können 
wir  ein  ähnliches  Anwachsen  der  Großartigkeit  der  Vorführungen,  der  auf- 
gewandten Mittel  und  des  stattfindenden  Besuches  verzeichnen,  wie  es  für 
die  Ausstellungen  überhaupt  der  Fall  ist. 

Der  bei   Ausstellungen    hervortretende  Wetteifer    zwischen    einzelnen  v.-r«icicho  mit 

°  rlcn  älteren 

Individuen   und  Firmen,  Körperschaften,  Produktionsgebieten  und  ganzen    Messen  und 

'  '  °  ^  .  Jahrmarkten. 

Ländern  und  Nationen,  die  unverhohlen  ausgesprochene  Tendenz  einer 
Belebung  des  Handels  und  Verkehrs  und  nicht  zum  mindesten  auch  die 
Verquickung  des  Festlichen  und  Lustbaren  mit  den  ernsteren  Motiven  der 
ganzen  Veranstaltung  legen  für  Ausstellungen  jeglicher  Art  den  Vergleich 
mit  einer  uralten  Einrichtung  aller  Völker  und  Zeiten  nahe,  nämlich  mit 
den  Messen  und  Jahrmärkten.  In  der  Tat  sind  die  Ausstellungen  sehr 
häufig  Riesenjahrmärkte  genannt  worden,  am  schroffsten  von  den  Ameri- 
kanern, welche  ihre  eigenen  Weltausstellungen  auch  in  ernsthaften  und 
offiziellen  Veröffentlichungen  nicht  selten  als  „World's  Fair",  „Weltjahr- 
markt" bezeichnet  haben.  Es  lieg^  aber  in  diesem  Namen  eine  Gering- 
schätzung, welche  das  Ausstellungswesen  sicherlich  nicht  verdient.  Denn 
insofern  unterscheiden  sich  die  Ausstellungen,  sie  mögen  nun  Weltaus- 
stellungen oder  auch  Landes-,  Provinzial-  oder  Fachausstellungen  sein, 
sehr  wesentlich  von  den  alten  Jahrmärkten,  daß  sie  nicht  wie  diese  bloß 
einen  zu  bestimmter  Zeit  stattfindenden  planlosen  Zusammenlauf  von  Men- 
schen darstellen,  die  kaufen  und  verkaufen,  schmausen  und  sich  ergötzen 
wollen,  sondern  wohlorganisierte,  mit  großem  Aufwand  an  Scharfsinn, 
Mitteln,  Mühe  und  Arbeit  in  Szene  gesetzte  Vorführungen,  bei  denen  die 
Belehrung  weiter  Kreise  in  einer  für  diese  annehmbaren  und  den  ver- 
schiedensten Geschmacksrichtungen  angepaßten  Form  der  Hauptzweck  ist. 

Daß  dieser  Zweck    erreicht  wird   durch    eine    allmählich    geschaffene    Allgemeine 

Wirkungen. 

Organisation,  welche  gleichzeitig  auch  eine  gesunde  finanzielle  Grundlage 
für  Ausstellungen  bildet,  ist  mit  der  größten  Freude  zu  begrüßen,  denn 
die  Größe  unserer  Ausstellungen  ist  eine  solche,  daß  sie  überhaupt  nur 
möglich  erscheinen,  wenn  die  entstehenden  Kosten  auf  irgend  eine  Weise 
wieder  hereingebracht  werden.  Es  steht  nicht  nur  fest,  daß  derjenige, 
der  eine  Ausstellung  in  vernünftiger  Weise  besucht  und  besichtigt, 
unendlich  viel  auf  derselben  lernen  kann,  sondern  auch,  daß  auf  Aus- 
stellungen vieles  gelehrt  wird,  was  auf  andere  Weise  gar  nicht  oder  doch 
sicherlich  nicht  in  so  bequemer  Weise  zu  erlernen  wäre.  Ausstellungen 
in  der  Form,  wie  sie  ihnen  die  Neuzeit  gegeben  hat,  sind  daher  ein  Kultur- 
faktor von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung,  und  man  kann  sagen,  daß 
es  heutzutage  für  den  gebildeten  Menschen  gar  nicht  mehr  angängig  ist, 
sich  ihrer  nach  Belieben  zu  bedienen  oder  sie  unbenutzt  zu  lassen.  Der 
Besuch  einiger  Ausstellungen  muß  vielmehr  als  durchaus  notwendige  Er- 
gänzung einer  allgemeinen  Bildung  betrachtet  werden,  und  es  entspricht 
vollständig  dieser  Auffassung  von  der  Sachlage,  wenn  es  mehr  und  mehr 


^28  Otto  N.  Witt:  Naturwissenschaftlich-technische  Ausstelhingen. 

Üblich  wird,  daß  Staatsregierungen  und  Behörden,  Gemeindeverwaltungen 
und  Schulen,  Vereine  und  große  industrielle  Unternehmungen  es  für  ihre 
Pflicht  halten,  die  ihrer  Fürsorge  anvertrauten  Personen,  Beamte  und  Mit- 
glieder, Schüler  und  Arbeiter  auf  ihre  Kosten  oder  doch  unter  kräftiger 
finanzieller  Beihilfe  zum  Besuch  von  Ausstellungen  zu  entsenden.  In 
gleicher  Weise  geben  Eisenbahnverwaltungen  und  Schiffahrtsgesellschaften 
ihrer  Auffassung  von  der  hohen  kulturellen  Bedeutung  des  Ausstellungs- 
wesens in  der  Weise  Ausdruck,  daß  sie  bei  Gelegenheit  großer  Aus- 
stellungen sehr  erhebliche  Verkehrserleichterungen  für  Ausstellungsbesucher 
eintreten  lassen. 

Man  kann,  ohne  sich  einer  Übertreibung  schuldig  zu  machen,  sagen, 
daß  der  beispiellose  Aufschwung,  den  namentlich  die  zweite  Hälfte  des 
ig.  Jahrhunderts  gezeitigt  hat,  auf  das  Innigste  mit  dem  Ausstellungs- 
wesen verknüpft  ist.  Die  Ausstellungen  sind  ein  Produkt  der  gesteigerten 
Intensität  der  geistigen  Arbeit  unserer  Zeit,  aber  sie  tragen  ihrerseits 
mächtig  dazu  bei,  zu  immer  weiterer  Steigerung  anzuregen. 


Literatur. 

Die  auf  das  Ausstellungswesen  bezügliche  Literatur  ist  überaus  umfangreich,  kann  aber 
im  einzelnen  kaum  namhaft  gemacht  werden. 

Genauere  Belehrung  über  die  einzelnen  Ausstellungen  gewinnt  man  am  besten  durch 
das  Studium  der  in  den  meisten  öffenüichen  Bibliotheken  erhältlichen  Ausstellungskataloge 
und  Ausstellungsberichte. 

Die    wissenschafüichen    und    technischen    Ergebnisse    einzelner    Gebiete    sind    in    den 
Spezialberichten  der  Fachzeitschriften  niedergelegt. 


DIE   MUSIK. 

Von 
Georg  Göhler. 


Musik  ist 
Ausdnick. 


Khytlimus, 
Melodie, 


I.  Die  Grundlagen  der  musikalischen  Kultur.  Musik  ist  Aus- 
druck; Musik  ist  Sprache.  Auf  dieser  Grundwahrheit  beruht  die  gesamte 
Kulturbedeutung  aller  Musik  seit  ihren  Uranfängen. 

Man  hat  sich  gewöhnt,  in  dieser  Wahrheit,  die  so  alt  ist  wie  die 
Musik  selbst,  eine  Entdeckung  des  Geistes  der  Neuzeit  zu  sehen.  Und 
doch  ist,  was  als  die  Krone  des  altehrwürdigen  Baumes  der  Musik  oder 
als  die  nach  jahrtausendelangem  Wachstum  endlich  erschlossene  Blüte 
gilt,  in  Wahrheit  seine  Wurzel,  aus  der  er  alle  Lebenskraft  sog.  Selbst 
die  einfachste  Musik  der  tiefststehenden  Naturvölker  ist  im  Urgründe 
ihres  Wesens  genau  dasselbe,  was  die  Kunst  Wagners  sein  will:  Aus- 
druck,  Sprache.     Keine  Wesens-,    nur   Gradunterschiede    sind    vorhanden. 

Will  man  die  Kulturbedeutung  der  Musik  im  Leben  der  Menschheit 
verstehen,  so  ist  es  unerläßlich  notwendig,  an  diesem  fundamentalen  Axiom 
festzuhalten.  Nur  dann  deuten  sich  leicht  alle  Phasen  der  langen,  reichen 
Entwicklung. 

Musik  ist  Ausdruck.  Träger  dieses  Ausdrucks  sind  die  beiden 
Grundelemente  aller  Musik,  Rhythmus  und  Melodie;  je  nach  der  beson- 
deren Art  des  Ausdrucks  herrscht  bald  das  eine,  bald  das  andere  vor. 
Die  Harmonie  ist  Resultante  aus  beiden,  also  nicht  primär!  Ob  der 
Rhythmus  als  Prinzip  der  Bewegung  und  bei  weiterem  Fortschreiten  als 
Prinzip  der  Ordnung  in  der  Bewegung  oder  ob  die  Melodie  bei  den 
frühesten  Äußerungen  musikalischer  Art  das  Ausschlaggebende  gewesen 
ist  und  noch  ist,  kann  Spezialuntersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  Völker- 
psychologie überlassen  bleiben.  Nimmt  man  als  Analogon  der  Völker- 
entwicklung die  des  Kindes,  so  erscheint  das  Erfassen  und  Behalten 
rhythmischer  Elemente  als  das  Primäre. 

Karl  Bücher  hat  in  seinem  Buche:  Arbeit  und  Rhythmus  auf  die 
Bedeutung  des  rhythmischen  Elementes  bei  den  verschiedensten  Arbeits- 
leistungen hingewiesen.  Von  den  primitivsten  Zuständen  eines  Volkes  aus 
erhält  sich  diese  Bedeutung  bis  in  die  entwickeltsten  Kulturen  und  findet 


I.  Die  Grundlagen  der  musikalischen  Kultur.  ati 

in  einer  Menge  von  Handwerksliedern  Ausdruck,    die    ihren  charakteristi- 
schen Rhythmus   der  Tätigkeit  des   betreffenden  Handwerkers  verdanken. 

Unter  Melodie  darf  man  bei  Naturvölkern  natürlich  nicht  lange,  ge- 
schlossene Linien  verstehen,  sondern  wird  kurze  Ausrufe,  in  denen  einzelne 
Worte  mit  wechselnder  Tonhöhe  gesprochen  werden,  als  die  ersten  An- 
sätze melodischer  Bildung  anzusehen  haben.  Die  Steigerung  des  Gefühls-  • 
ausdrucks,  für  den  die  gewöhnliche  Sprache  nicht  mehr  ausreicht,  schafft 
diese  Art  primitivster  Musik;  großer  Schmerz,  große  Freude  schafft  sich 
selbst  den  Ton. 

Am  wichtigsten  wird  diese  Art  Musik  und  am  meisten  entwickelt  sie  Götterkultus. 
sich  im  Dienste  der  Gottheit.  Nichts  beweist  mehr  unsere  Behauptung, 
daß  das  Wesen  auch  dieser  Musik  Ausdruck  sei,  als  die  Tatsache,  daß 
für  die  Anrufung  der  Götter  sich  bei  allen  Völkern  sehr  bald  typische 
Tonformeln  bilden,  daß  das  Wort  allein  nicht  genügt,  sondern  daß  der 
Ton  der  Verehrung  der  Überirdischen  einen  besonderen  Nachdruck,  einen 
besonderen  Ausdruck  geben  muß.  Die  Steigerung  des  Gefühlslebens,  die 
der  Verkehr  mit  den  unbekannten  Mächten  hervorruft,  die  Erregung,  die 
selbst  beim  plumpesten  Götzendienst  über  den  Naturmenschen  kommt, 
verlangt  die  Sprache  der  Töne.  Da  im  Kultus  der  meisten  Völker  als 
weiteres  Ausdrucksmittel  zu  der  rhythmisierten  und  melodisierten  Sprache 
(beides  natürlich  in  der  primitivsten  Manier)  meist  die  erregtere  Sprache 
der  Gebärde,  d.  h.  der  Tanz,  hinzutritt,  so  können  wir  in  der  musikalischen 
Kultur  der  Naturvölker  bereits  das  Vorhandensein  aller  der  Elemente 
konstatieren,  die  in  den  größten  Kunstwerken  der  fortgeschrittensten 
Kulturen  eine  Rolle  spielen. 

Der  Völkerpsychologie  wird  dabei  noch  zu  untersuchen  bleiben,  ob  Metaphysik  der 
gewisse  Rhythmen  und  gewisse  Tonverbindungen  konventionell  als  mit 
einem  gewissen  Ausdruck  verbunden  angesehen  werden,  d.  h.  ob  ein 
Volk  durch  Gewohnheit  eine  bestimmte  Sorte  Ausdruck  gleichsam  durch 
die  Art  von  Tonfortschreitungen  symbolisiert,  oder  ob  in  der  Natur  der 
Rhythmen  und  Töne  ein  gewisses  Etwas  ist,  was  notwendigerweise  eine 
für  alle  Menschen  gültige  typische  Gefühlsbedeutung  hat.  Sieht  man 
mit  Schopenhauer  und  Wagner  in  der  Musik  mehr  als  eine  bloße  Nach- 
ahmung, die  nichts  als  Eidola,  Abbilder,  gibt,  sieht  man  in  ihr  eine  un- 
mittelbare Verlebendigoing  der  „Idee",  des  Wesens  der  Welt  oder  des 
Willens,  so  wäre  man  wohl  genötigt,  diese  Einheitlichkeit  der  Verbindung 
eines  Ausdruckswertes  mit  einer  bestimmten  Tonverbindung  anzunehmen. 
Erachtet  man  diese  Theorie  jedoch  lediglich  als  eine  interessante  philo- 
sophische Spekulation,  so  hindert  nichts,  diese  Verbindung  von  Gefühls- 
wert und  melodischer  bzw.  rhj-thmischer  und  harmonischer  Natur  als  durch 
die  Gewohnheit  erzeugt,  als  konventionell  anzusehen.  Wir  würden  dann 
z.  B.  die  gefühlsmäßige  Tatsache,  daß  wir  mit  den  beiden  Tongeschlechtern 
von  Dur  und  Moll  gewisse  Ausdrucktypen  verbinden,  nicht  dem  Wesen 
dieser  Tongcschlechter,  sondern  der  Macht  der  Gewohnheit,  der  Erziehung 


.-2  Georg  Göhler:  Die  Musik. 

zuzuschreiben  haben,  genau  wie  man  es  als  symbolische  Auffassung  be- 
zeichnen kann,  wenn  wir  mit  Farben,  wie  rot  und  schwarz,  einen  gewissen 
Gefühlsausdruck  verbinden,  der  nicht  im  Wesen,  in  der  Idee  dieser  Farben 
selbst  begründet  liegt. 

Na-urvüiker.  IL  Die  Entwicklung  der  musikalischen  Kultur.    Auf  der  primi- 

tiven Kulturstufe  der  Naturvölker  fehlt  natürlich  völlig  die  theoretische 
Erwägung  solcher  Fragen.  Wie  sich  das  ganze  Leben  den  Bedürfnissen 
und  dem  triebmäßigen  Gefühlsleben  gemäß  entwickelt,  so  sind  auch  alle 
musikalischen  Äußerungen  unreflektiert  und  bilden  sich  auf  dem  dunklen 
Boden  des  Gefühlslebens  vielleicht  mit  Nachahmung  der  Töne,  die  die 
umgebende  Natur  dem  Ohre  als  Vorbilder  liefert. 
Hebräer.  Das    erste   Volk,    bei    dem  wir    von    einer    wirklichen    musikalischen 

Kultur  reden  können,  sind  die  Hellenen.  Bei  den  Hebräern  sind  gewiß 
im  Kulte  ihres  Gottes  die  musikalischen  Ausdrucksmittel  schon  ziemlich 
reiche  gewesen;  die  vielen  erhaltenen  Gesänge,  die  Instrumente,  deren 
Namen  genannt  werden,  das  alles  läßt  auf  eine  ziemlich  entwickelte 
Musikübung  schließen.  Auch  daß  die  Macht  der  Musik,  die  Ausdrucks- 
fähigkeit der  Töne  erkannt  war,  beweisen  Erzählungen  wie  die  von 
Davids  Saitenspiel  vor  Saul.  Doch  können  wir  hier,  wo  wir  von  der 
Kulturbedeutung  der  Musik  im  allgemeinen  zu  reden  haben,  ruhig  die 
Musik  der  Hebräer  wie  die  der  alten  Kulturvölker  des  Ostens  unberück- 
sichtigt lassen  und  gleich  die  wesentlichsten  Elemente  der  althellenischen 
Musikkultur  kurz  bezeichnen. 
Musikkultur  Den    Griechen    verdankt    die    musikalische    Kultur    des    Abendlandes 

der  Hellenen,  ^-^veierlei,    zunächst    die  Ausbildung  der  musikalischen  Theorie   und  dann 
die  Grundlegung  der  musikphilosophischen  Spekulation. 

Es  ist  klar,  daß  eine  wirkliche  Entwicklung  einer  Kunst  unmöglich 
ist,  wenn  nicht  die  Grundlagen  ihrer  Technik  theoretisch  festgestellt,  so- 
zusagen lehrbar  gemacht  sind.  Ohne  diesen  theoretischen  Ausbau  eines 
Systems  bleibt  wie  alles  Handwerk  so  auch  alle  Kunst  dem  Zufall  über- 
lassen und  erreicht  sehr  bald  den  toten  Punkt,  von  dem  aus  kein  Fort- 
System  der  schritt  mehr  zu  erzwingen  ist.  Dieses  System  für  die  Musik  geschaffen 
Musiktheorie.  ^^  ^abeu,  ist  das  Verdienst  der  griechischen  Musiktheoretiker.  Von  der 
späteren  abendländischen  Theorie  ist  es  dadurch  völlig  verschieden,  daß 
ihm  der  Begriff  des  Zusammenklangs,  der  Harmonie  gänzlich  fehlt.  Die 
Musikübung  der  Griechen  kannte  nur  einstimmige  Musik;  wirkten  mehrere 
Stimmen  oder  Stimmen  und  Instrumente  zusammen,  so  gab  es  nur  Ver- 
dopplung und  Tonverstärkung  oder  Zufügung  einzelner  Noten,  die  aber 
kein  harmonisches  Ganze  ergaben.  Die  ganze  Theorie  beschränkt  sich 
also  auf  rhythmische  und  melodische  Untersuchungen.  Die  Art  des  Fort- 
schreitens von  Ton  zu  Ton,  die  Beziehungen  der  einzelnen  Melodietöne 
zueinander,  die  Intervallenlehre  wurde  theoretisch  festgelegt.  Dabei 
wurden  so  viele  Ergebnisse  gewonnen,  daß  die  gesamte  Musiktheorie  des 


II.  Die  Entwicklung  der  musikalischen  Kiiltur.  4^^ 

Mittelalters  auf  diesem  in  hellenisch-alexandrinischer  Zeit  gelegten  Funda- 
ment sich  aufbaut  Diese  Tatsache  zeigt  die  Külturbedeutung  dieser  Seite 
der  griechischen  Musikpflege,  die  infolgedessen  im  19.  Jahrhundert  auch 
von  zahlreichen  Forschern,  Musikern  wie  Philologen,  behandelt  worden  ist. 

Verhältnismäßig    zurückgetreten    ist   gegenüber   diesen  Arbeiten    über    Hellenische 

°  °  r.  •  1  l'liilüsophio  der 

die  musiktheoretischen  Leistungen  der  Griechen  das  Studmm  ihrer  speku-  .viuäik. 
lativen  Musikphilosophie.  Erst  in  neuester  Zeit  hat  Hermann  Abert  in 
seiner  „Lehre  vom  Ethos  in  der  griechischen  Musik"  alles  das  zusammen- 
gefaßt, was  griechische  Philosophen  und  Musiktheoretiker  über  dieses 
Thema  geäußert  haben.  Danach  ist  die  hellenische  Musikkultur  bereits 
zu  einer  außerordentlichen  Höhe  philosophischer  Kunstbetrachtung  fort- 
geschritten gewesen,  zu  einer  Höhe,  die  eigentlich  erst  im  19.  Jahrhundert 
durch  die  Betrachtungen  wieder  erreicht  worden  ist,  die  Männer  wie 
Schopenhauer,  Wagner  und  Nietzsche  über  die  Metaphysik  der  Musik 
aufgestellt  haben. 

Schon  bei  den  griechischen  Denkern  begegnen  wir  dem  scharfen  Idealismus  und 
Gegensatz  zwischen  Formalisten  und  Idealisten  in  der  Auffassung  der 
Musik.  Schon  hier  sehen  die  einen  in  der  Tonkunst  nur  eine  Nach- 
ahmung, ein  Spiel  mit  tönenden  Formen,  einen  Sinnenreiz,  der  an  sich 
gleichgültig  ist  und  nur  überschätzt  schädliche  Wirkung  ausüben  kann,  die 
anderen  dagegen  eine  innerliche  Macht,  eine  sittliche,  geistige  Kraft,  ein 
Movens  idealster  Art.  Fast  alles,  was  die  neueste  Musikästhetik  vor- 
gebracht hat,  ist  wenigstens  im  Keime  in  dieser  Kunstlehre  vorhanden. 
Die  Zahlenmystik  der  Pythagoräer,  die  von  dem  tönenden,  harmonischen 
Weltganzen,  von  der  Musik  der  Sphären  reden,  ist  ebenso  bekannt  wie 
die  Bestimmungen,  die  Plato  für  die  Musikpflege  in  seinem  Staat  gegeben 
hat.  Alle  diese  der  idealistischen  Richtung  der  Musikästhetik  angehörigen 
Philosophen  sind  überzeugt,  daß  die  Musik  imstande  sei,  durch  eigene 
Kraft,  durch  das  Wesen  ihrer  Tongeschlechter  auf  das  sittliche  Leben 
der  Menschen  zu  wirken,  und  zwar  nicht  bloß  ganz  allgemein  belebend 
durch  eine  Art  Nervenreiz,  sondern  direkt  bestimmend,  zu  Gut  und  Böse 
anregend,  je  nach  der  Art  ihres  Ausdrucks.  Sowohl  die  einzelnen 
Rhythmen,  als  auch  die  einzelnen  Stimmlagen,  ganz  besonders  aber  die 
einzelnen  Tonarten  haben  eine  ganz  spezifische,  genau  bestimmbare  Wir- 
kung. Plato  verbietet  gewisse  Tonarten  für  seinen  Staat  wegen  ihrer 
entsittlichenden,  verweichlichenden  Wirkung;  in  den  Untersuchungen  der 
Musikphilosophen  nimmt  die  Charakterisierung  dieser  verschiedenen  Ton- 
arten stets  großen  Raum  ein.  Überall  aber  findet  man  die  Kunstlehre 
nicht  vom  ästhetischen,  sondern  vom  ethischen  Standpunkt  genommen 
bei  dieser  Gruppe  von  Philosophen.  Die  Kunst  ist  auf  diese  Weise  mit 
dem  Leben,  mit  der  Gesamtkultur  weit  inniger  verbunden,  als  wir  z.  B. 
in  der  Gegenwart  gewöhnt  sind,  es  zu  empfinden.  Kunstgenuß  ist  nichts 
sittlich  Indifferentes;  die  intensive  Beschäftigung  mit  gewisser  Musik  kann 
sogar  etwas  direkt  Unsittliches  sein. 

Dis  KrcTUR  DER  Gbobkwart,     I,  1.  28 


A-iA  Gkorc.  Göhlek:  Die  Musik. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  gegen  diese  außerordentlich  vertiefte 
Auffassung"  der  Musik  Männer  auftreten  mußten,  die,  weniger  musisch 
veranlagt,  in  dieser  Überschätzung  von  Gefühlswerten  eine  Gefahr  für 
den  denkenden  Menschen  sehen  mußten.  Immerhin  scheinen  diese  For- 
malisten nicht  nur  die  späteren,  sondern  auch  die  für  die  eigentliche 
hellenische  Kultur  weniger  maßgebenden  Geister  gewesen  zu  sein  und 
erst  mit  dem  Niedergange  dieser  Kultur  mehr  Bedeutung  gewonnen  zu 
haben.  Zweifellos  ist,  daß  beide  Gruppen  sich  der  außerordentlichen 
sinnlichen  Wirkung  der  Musik  bewußt  waren.  Während  aber  die  Forma- 
listen dieses  sinnliche  Spiel  mit  Tönen  entsprechend  niedrig  eingeschätzt 
wissen  wollten,  um  den  Verstand  des  Menschen  frei  von  dem  Über- 
wuchern künstlerischer  Elemente  zu  halten,  suchten  die  Idealisten  den 
Grund  dieser  außerordentlich  starken  Gefühlswirkung  der  Töne  in  einer 
geistigen  Kraft,  die  ihnen  innewohne  und  imstande  sei,  den  Charakter 
eines  Menschen  zu  beeinflussen  und  zu  lenken.  Es  ist  einer  der  deut- 
lichsten Beweise  für  den  Reichtum  der  griechischen  Kultur,  daß  derartige 
feine  psychologische  Probleme  bereits  die  Geister  beschäftigten. 

Christentum.  Mit    dem   Zusammeubruch    dieser    alten  Welt   war   natürlich  für  Jahr- 

hunderte ein  Weiterdenken  dieser  Gedankenreihen  unmöglich  geworden. 
Die  christliche  Kultur  hatte  mit  ihrer  Abwendung  von  den  sinnlichen 
Elementen  des  Lebens  keinen  Raum  für  solche  Spekulationen.  Die  ger- 
manischeu Elemente  aber,  die  durch  die  Völkerwanderung  wenig-stens 
vorübergehend  in  den  äußerlichen  Besitz  des  alten  Kulturbodens  gelangten, 
bedurften  jahrhundertelanger  Entwicklung,  ehe  sie  an  ein  Aufnehmen  und 
Weiterbauen  dessen  gehen  konnten,  was  sie  als  Reste  jener  alten  musi- 
kalischen Kultur  vorgefunden  hatten. 

Christlicher  Träger    der    im   Gegensatze    zur    griechischen    natürlich    ziemlich    un- 

bedeutenden musikalischen  Kultur  wurde  zunächst  die  Geistlichkeit.  Wie 
wir  schon  bei  den  Naturvölkern  sahen,  daß  die  Musik  eines  der  wichtig- 
sten Elemente  für  den  Götterkult  ist,  weil  durch  die  Töne  die  gefühls- 
mäßige Wirkung  der  Worte  gesteigert  wird,  so  ist  auch  in  der  christlichen 
Religionsübung  die  Musik  sehr  bald  einer  der  wichtigsten  Faktoren.  Man 
wird  z.  B.  die  Tatsache,  daß  im  Kultus  der  Kirche  alle  Lektionen  aus 
der  Heiligen  Schrift  nicht  gelesen,  sondern  im  Lektionston  gesungen 
wurden  und  werden,  gewiß  damit  erklären  können,  daß  man  fühlte,  wie 
die  Musik  das  Wort  aus  dem  Profanen  des  täglichen  Gebrauchs  in  eine 
höhere  Sphäre  hebt.  Für  den  Ausbau  des  Kultus  der  christlichen  Kirche 
hat  die  Musik  im  Laufe  der  Jahrhunderte  eine  Bedeutung  gewonnen,  von 
der  man  sich  nur  einen  Begriff  machen  kann,  wenn  man  alles,  was  die 
liturgischen  Bücher  der  christlichen  Kirche  enthalten,  überschaut.  Die 
Kirche  ist  sich  der  Macht  der  Töne  über  das  Empfindungsleben  des 
Menschen  auch  jederzeit  bewußt  gewesen  und  hat,  weil  sie  vor  allen 
Dingen  den  fühlenden  Menschen  für  ihre  Feiern  braucht,  ihr  den  breite- 
sten Raum  in  ihrem  Kultus  angewiesen. 


II.  Die  Entwicklung  der  musikalischen   Kultur.  atc 

Theoretische  Grundlage  dieser  christHchen  Musik  bildete  das  Ton-  Nrusikii.corie 
System  der  alten  Griechen,  das  allerdings  wesentlich  umgestimmt  wurde  und  "'  '  '^^  "' 
verändert  werden  mußte,  als  die  Mehrstimmigkeit  sich  einzubürgern  be- 
gann. Noch  ehe  diese  große  und  rasche  Entwicklung  sich  vollzog,  hatten 
aber  auch  die  Träger  weltlicher  Macht  und  Kultur  der  Entwicklung  welt- 
licher Musikübung  den  nötigen  Boden  verschafft.  Träger  dieser  frühesten  Minnesängor. 
deutschen  weltlichen  Musikkultur  sind  die  Fürsten  und  der  Adel  an 
ihren  Höfen.  Man  darf  die  Bedeutung  der  Musik  für  die  Kultur  an  den 
Höfen  der  Minnesängerzeit  nicht  unterschätzen  und  vor  allen  Dingen 
nicht  vergessen,  daß  die  hohe  Entwicklung  der  Lyrik  ohne  die  Musik 
kaum  denkbar  gewesen  wäre.  Denn  jene  Lyrik  ist  doch  keine  Buch- 
lyrik, sondern  Gelegenheitdichtung  zum  lebendigen  Vortrag  gewesen; 
auf  diesen  aber,  wie  auf  den  Aufbau  und  die  Gliederung  der  Gedichte 
haben  musikalische  Elemente  zweifellos  mitbestimmend  gewirkt.  Wenn 
uns  auch  heutzutage,  da  jene  Gesänge  noch  ohne  die  harmonische  Grund- 
lage gedacht  sind,  ohne  die  wir  fast  keine  Musik  empfinden  können,  diese 
Musik  nicht  auf  der  Höhe  der  Dichtungen  zu  stehen  scheint,  so  dürfen 
wir  daraus  doch  nicht  auf  einen  geringen  Zeitwert  dieser  musikalischen 
Leistungen  schließen.  Die  ganze  Literatur  jener  Zeit  spricht  so  viel  von 
Sängern,  von  ihren  Liedern  und  Tönen,  daß  wir  an  jenen  Höfen  eine 
wirkliche  musikalische  Kultur,  die  für  das  gesamte  geistige  Leben  ihre 
große  Bedeutung  hatte,  durchaus  annehmen  müssen.  Auch  daß  sich  dieser 
Kunstübung,  als  die  wirtschaftliche  Bedeutung  des  Adels  durch  das 
Emporkommen  reicher  Bürger  vermindert  wurde,  dann  diese  Bürger  auf 
ihre  Art  annahmen,  daß  dem  Minnesänger  der  Meistersinger  nachfolgte,  be- 
weist,   daß   hier  eine  lebens-,  eine  zeugungsfähige  Kultur  vorhanden  war. 

Freilich  war  für  die  Zukunft  viel  wichtiger,  daß  in  der  Zeit  vom  12.  .Mehrstimmige 
bis  zum  16.  Jahrhundert  die  mehrstimmige  Musik  aus  ganz  unbeholfenen 
Anfängen  sich  rasch  zu  glänzender  Vollkommenheit  entwickelte.  Die 
Geschichte  dieser  Entwicklung  kann  in  un.serem  allgemeinen  Überblick 
nur  insoweit  beachtet  werden,  als  sie  kulturelle  Folgen  gehabt  hat.  Das 
spezifisch  Musikgeschichtliche  und  Theoretische  muß  die  spezielle  Ab- 
handlung über  dies  Gebiet  nachholen. 

Zweifellos  ist  es  für  die  Beurteilung  des  musikalischen  Kulturstand- 
punktes eines  Volkes  sehr  interessant  zu  wissen,  warum  es  nicht  zur 
Mehrstimmigkeit  kommt.  Bei  den  Hellenen  scheint  außer  der  Art  ihrer 
Musikübung,  die  vor  allem  beim  Vokalgesang,  der  überwog,  Deutlichkeit 
des  Wortes  verlangte,  die  Bildung  ihrer  Tongeschlechter  der  Mehr- 
.stimmigkeit  hinderlich  gewesen  zu  sein.  Bezeichnend  ist  jedenfalls, 
daß  mit  der  Entwicklung  der  Mehrstimmigkeit  im  Mittelalter  die  Über- 
windung des  Systems  der  griechischen  Tonarten,  aus  denen  sich  die  so- 
genannten Kirchentonarten  entwickelt  hatten,  und  die  Einführung  des 
modernen  Dur-Moll-S)-.stems  verbunden  war. 

Wie  kam  aber  das  Mittelalter  zur  Mehrstimmigkeit?     Zweifellos  nicht 

28* 


436 


Georg  Göhler:  Die  Musik. 


auf  dem  Wege  theoretischer  Spekulation,  auf  dem  späterhin  manche  neue 
Kunstform  gesucht  wurde,  sondern  durch  die  Praxis  der  Kunstübung. 
Aus  dem  verstärkenden  Begleitinstrument  beim  Gesang  bildete  sich  eine 
neue  Stimme,  und  nun  wurden  gewisse  Arten  von  Zusammenklängen  als 
vorteilhafter,  als  natürlicher  empfunden  als  andere.  Die  Theorie  bemäch- 
tigte sich  des  neuen  Problems  und  bildete  im  Laufe  von  Jahrhunderten 
in  umständlichen  Untersuchungen  die  Regeln  für  den  mehrstimmigen  Satz 
aus.  Noch  nicht  aufgeklärt  sind  die  Gründe,  weshalb  diese  neue  Kunst 
von  England,  Nordfrankreich  und  den  Niederlanden  ihren  Ausgang  nahm. 
Zu  vermuten  ist,  daß  hier,  bevor  die  geistliche  privilegierte  Tonkunst  und 
ihre  Theoretiker  der  neuen  Kunstübung  ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten, 
als  eine  wilde  Pflanze  weltlicher  mehrstimmiger  Gesang  aufgewachsen 
war,  der  sich  unbelastet  durch  theoretische  Untersuchungen  auf  das  Urteil 
des  Ohres  verließ. 
Mensuralmusik.  ErstaunUch   Und   ein  Beweis   für   die  Bedeutung   der  Musik  im  Leben 

jener  Zeit  ist  die  Zahl  oder  besser  Unzahl  von  Kompositionen,  die  in 
diesem  neuen  mehrstimmigen  Satze  geschrieben  wurden.  Da  wir  oben- 
drein annehmen  müssen,  daß  aus  der  Entwicklungs-  und  Blütezeit  der 
kontrapunktischen  oder  Mensuralmusik,  wie  sie  genannt  wird,  besonders 
vor  der  Erfindung  des  Notendrucks  eine  Menge  von  Material  verloren 
gegangen  ist,  kann  man  aus  diesem  Reichtum  an  noch  vorhandenen 
Kunstwerken  den  besten  Schluß  auf  das  musikalische  Leben  der  Zeit 
machen.  Denn  man  darf  nicht  vergessen,  daß  jener  Zeit  unser  Begriff 
der  Musikliteratur  völlig  fremd  ist,  daß  alle  diese  Werke  als  Gelegenheit- 
arbeiten für  den  praktischen  Gebrauch  geschrieben  wurden  und  nicht  wie 
bei  uns  sehr  häufig  als  Handels-  und  Geschäftsartikel.  Wir  werden  auf 
diese  Tatsache,  die  für  die  Einschätzung  des  Kulturwertes  der  Musik 
äußerst  wichtig  ist,  noch  zurückkommen  müssen,  wenn  wir  von  der  Gegen- 
wart reden. 
Die  Kirche  als  Der    größte    Teil    jener    mehrstimmigen    Tonsätze    ist    geistlichen    In- 

"Kunst.  "'  halts.  Die  Kirche  hat  sich  um  die  Entwicklung  der  musikalischen  Kultur 
ein  außerordentliches  Verdienst  dadurch  erworben,  daß  sie  der  Musik  ein 
so  großes  Feld  zur  Betätigung  anwies.  Tat  sie  dies  auch,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  aus  dem  natürlichen  Grunde,  der  alle  Völker  für  ihre  reli- 
giösen Übungen  und  die  Verehrung  der  Gottheit  die  Musik  zu  Hilfe 
nehmen  läßt,  so  ist  doch  die  Bedeutung,  die  der  musikalischen  Erziehung 
bei  der  Ausbildung  für  den  geistlichen  Stand  zugesprochen  w^urde,  be- 
Musikunterricht, sonders  zu  rühmen  und  könnte  für  die  Gegenwart  vorbildlich  sein.  Die 
Musik  nahm  in  den  Lehrplänen  aller  höheren  Schulen  am  Ausgang  des 
Mittelalters  und  zu  Beginn  der  Neuzeit  einen  sehr  wichtigen  Platz  ein. 
Infolgedessen  waren  sehr  viele  gelehrte  Männer  gute  Musiker,  mindestens 
Freunde  der  Musik,  und  fast  alle  Musiker  gleichzeitig  tüchtig  allgemein 
gebildet.  Die  Musik  war  kein  Luxus,  sondern  gehörte  mit  zur  Bildung 
fürs  Leben,  war  ein  wirklicher  Kulturfaktor.    Daran  war  zweifellos  schuld, 


n.   Die   Entwicklung  der  musikalischen   Kultur.  ^^7 

daß  die  Schulen  vor  allen  Dingen  Vorbereitung'san.stalten  fürs  geistliche 
Amt,  als  solche  von  der  Kirche  geleitet  und  dotiert  waren  und  daß  diese 
für  ihren  Kultus  nicht  nur  zur  Leitung  des  Chors,  sondern  auch  der 
reichen  Liturgie  wegen  unter  den  Geistlichen  tüchtige  Musiker  brauchte. 
Selbstverständlich  profitierten  davon  auch  die  Schüler,  die  sich  nicht  dem 
geistlichen  Stande  zuwandten,  und  infolgedessen  war  unter  den  Rats- 
herren und  an  den  Höfen  jener  Zeit  eine  außerordentliche  Menge  gut 
gebildeter  Musikfreunde  zu  finden.  Aber  auch  das  Volk  hatte  Nutzen  wdtiichoMusiic. 
von  diesen  Zuständen.  Eine  Menge  weltlicher  vierstimmiger  Lieder,  die 
nicht  so  sehr  zahlreich  geschrieben  und  gedruckt  worden  wären,  wenn 
man  sie  nicht  gesungen  hätte,  beweisen,  daß  der  weltliche  Gesang  in  den 
Bürgerkreisen  jener  Zeit  sehr  gepflegt  wurde.  Freilich  —  zum  Glück  — 
nicht  in  Vereinen  oder  Konzerten,  sondern  im  Leben.  Bei  frohen  Festen 
in  der  Familie,  in  Dorf  und  Stadt,  bei  Spiel  und  Tanz  sang  man  diese 
„Gassenhawerlin",  von  denen  sich  manche  Weise  volkstümlicher  Art  als 
weltliches  Lied  oder  als  Choral  bis  heute  erhalten  hat.  Der  Unterschied 
„geistlich"  und  „weltlich"  war  damals  in  der  Kunst  wie  im  Leben  noch 
nicht  so  scharf.  Hatte  eine  Weise  als  Liebeslied  Popularität  gewonnen, 
so  fand  sie  mit  einer  „Parodie",  d.  h.  einem  geistlichen  Text,  ihren  Weg 
auch  in  die  Kirche. 

Die  außerordentliche  Macht,  die  damals,  an  der  Wende  von  Mittel-  Reformation, 
alter  und  Neuzeit,  die  Musik  hatte,  ihre  lebendige  Kraft  als  wirklicher 
Kulturfaktor  läßt  sich  mit  nichts  schlagender  beweisen  als  mit  dem  Er- 
folge, mit  dem  sie  Luther  in  den  Dienst  seiner  Reformationsidee  nahm. 
Man  darf  in  Luthers  musikalischer  Begabung  nicht  etwas  Absonderliches, 
Außergewöhnliches  sehen.  Wie  wir  gesehen  haben,  hatten  die  Gebildeten 
jener  Zeit  fast  alle  eine  tüchtige  musikalische  Erziehung  genossen  und 
verstanden  sich  auf  Kunstübung  und  häufig  auch  auf  Tonsatz.  In  einer 
Zeit,  die  so  mit  Musik  aufwuchs,  lag  nichts  näher,  als  die  sammelnde  und 
fortreißende  Kraft  dieser  Kunst  zu  benutzen,  um  eine  große  geistige 
Bewegung  bis  in  die  weitesten  Kreise  des  Volkes  zu  verbreiten. 

Der    Choral,    das    geistliche   Volkslied,    ist    darum    eine    so    mächtige   Der  evange- 

lisctic  Choral. 

Hilfe  bei  der  Propaganda  für  die  Reformation  geworden,  weil  im  Volke 
der  Geist  der  Musik  lebendig  war,  weil  es  in  seiner  Kultur  so  weit  war, 
um  den  Gefühlswert  dieser  Töne  zu  verstehen,  sich  von  ihm  erfassen  zu 
lassen.  Andererseits  hat  diese  Verwertung  der  Musik  zur  Verbreitung 
einer  neuen  geistlichen  Kultur  wieder  die  Folge  gehabt,  daß  die  musika- 
lische Technik  sich  den  Bedürfnissen  der  Bewegung  fügte,  daß  der  Satz 
der  Gesänge  vereinfacht  wurde,  daß  an  die  Stelle  kunstvoller  Kontra- 
punktik schlichter  homophoner  Satz  trat,  der  dann  wieder  den  Sieg  der 
einstimmigen,  begleiteten  Musik  vorbereiten  half.  Jedenfalls  gehört  das 
Refonnationszeitalter  zu  den  Zeiten,  in  denen  die  Musik  eine  außerordent- 
lich wichtige  kulturelle  Rolle  gespielt  hat  und  deren  musikalische  Erzeug- 
nisse infolge  dieses  Erstandenseins   aus  dem  wirklichen  Leben  bleibenden 


438 


Georg  GÖHr.ER:  Die  Musik. 


Kunstwert    behalten    haben.     Denn    nur  was   aus   dem   Leben    geboren  ist, 
hat   Lebenskraft  in  der   Kunst. 
Dio  Renaissance  Kurz   nach    der  Reformationszeit   ereignet    sich    eines    der    eigentüm- 

hchsten  Vorkommnisse  in  der  Kulturontwickkmg  der  Musik.  Die  Speku- 
lation, der  reflektierende  Verstand  wollte  ihr  eine  neue  Bahn  weisen  und 
wies  sie  ihr  auch.  Und  auf  dieser  Bahn  kam  sie  zu  einer  Fülle  neuer 
Möglichkeiten.  Das  scheint  den  eben  ausgesprochenen  Satz  von  der 
Lebensfähigkeit  der  Musik  zu  widerlegen.  Doch  nur  scheinbar.  Es  muß 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  erstens  jene  theoretischen  Versuche  nur 
etwas  künstlich  ausbrüten  wollten,  was  durch  die  natürliche  Entwicklung 
bereits  fast  zur  Reife  gebracht  worden  war,  und  daß  zweitens  gerade  das, 
was  man  hatte  erzielen  wollen,  nicht  erzielt  wurde.  Man  wollte  Indien 
entdecken  und  fand  Amerika. 
Das  Jahr  1600.  Es   handelt   sich   um    die    einstimmige   begleitete  Musik.     Uns   scheint 

das  etwas  so  Einfaches  und  Selbstverständliches  wie  Dampfmaschine  und 
Telephon.  Und  doch  datiert  vom  Jahre  1600,  das  man  als  runde  Zahl  für 
das  Auftreten  der  Monodie  annimmt,  eine  rapide  Entwicklung  der  ver- 
schiedensten Kunstformen,  ein  Fortschritt  im  Kunstleben,  der  wohl  mit  dem 
verglichen  werden  kann,  den  jene  technischen  Erfindungen  im  äußeren 
Leben  hervorriefen. 
Die  Florentiner.  Ich  Sagte,    die   Sache   sei   theoretisch   erklügelt  worden.     Die   Finder 

bildeten  sich  wenigstens  ein,  diese  Neuheit  sei  ihrem  Geiste  zu  danken. 
In  Italien  .stritten  sie  sich  darum,  wer  sie  wohl  zuerst  entdeckt  habe,  die 
nuove  musiche.  Florentiner  Edelleute,  die  das  griechische  Drama  wieder 
lebendig  machen  wollten,  stellten  als  wichtigste  Forderung  auf,  daß  es  zum 
Verständnis  des  Textes  unbedingt  notwendig  sei,  auf  den  künstlichen 
Kontrapunkt  mehrerer  Stimmen  zu  verzichten  und  nur  eine  Stimme  mit 
Begleitung  singen  zu  lassen.  Den  neuen  Stil,  die  Monodie  erfunden  zu 
Die  nuove  haben,  rühmten  sich  aber  bald  auch  andere.  Man  kann  diese  ganzen 
Streitigkeiten  ruhig  übergehen,  wenn  man  bedenkt,  daß  auch  ohne  die 
glücklichen  Finder  die  Entwicklung  der  Musik  zu  diesem  Stil  gekommen 
wäre,  zu  dem  sie  drängte.  Schon  hatte  sich  neben  der  Vokalmusik  die 
Instrumentalmusik  entwickelt;  zur  Stärkung  des  Chors,  zur  Ergänzung 
fehlender  Stimmen  wurden  Streich-  und  Blasinstrumente  und  Orgel  zuge- 
zogen, die  wohl  oft  die  Neben.stimmen  selbständig  ergänzten  und  nur  die 
melodieführende  den  Sängern  überließen;  der  protestantische  Choral  mit 
seinem  einfachen  Satz  lud  direkt  dazu  ein,  alle  Begleitstimmen  einem  In- 
strument zu  übertragen  und  die  Melodie,  die  die  Gemeinde  sang,  darüber 
schweben  zu  lassen;  die  Lautenmusik,  die  sehr  entwickelt  war,  förderte 
diese  Art  der  Musikübung  ebenfalls  aufs  entschiedenste.  Kurz  —  es 
mußte  so  kommen,  auch  wenn  die  Theoretiker  des  griechischen  Dramas 
nicht  gewesen  wären. 

Die  enorm   rasche  Entwicklung   des  neuen  Stils  bestätigt   unsere  Be- 
hauptung,   daß    eine    ihm   günstige  Strömung   bereits   in   der  Luft  lag.     In 


musiche. 


II.  Die   Entwicklung  der  musikalischen   Kultur. 


439 


Sieg  de* 
lividualismus. 


'I'cchaische 
l'orUchrittc. 


einem  halben  Jahrhundert  hatte  er  in  dem  ganzen  kultivierten  Europa  auf 
der  ganzen  l.inie  gesiegt.  Für  die  musikalische  Kultur  war  damit  außer- 
ordentlich viel  gewonnen,  denn  jetzt  erst  war  völlige  Freiheit  der  Ent- 
wicklung nach  allen  Richtungen,  jetzt  erst  die  Möglichkeit  zu  den  ver- 
schiedensten Kombinationen  gegeben. 

Es  war  eine  Art  Befreiung  des  Individuums  aus  dem  Zwange  gesell- 
schaftlicher Gebundenheit,  ein  Sieg  des  Individualismus,  der  jeder  Stimme, 
jedem  Instrument  das  Recht  zu  selbständiger  Entwicklung  gab.  Man  wird 
finden,  daß  dieser  Fortschritt  in  der  Musik  Fortschritten  auf  anderen  gei- 
stigen Gebieten,  wo  dieselbe  Befreiung  bereits  etwas  früher  erreicht  war, 
mit  Notwendigkeit  folgen  mußte.  Die  Musik,  die  am  spätesten  entwickelte 
der  Künste,  konnte  erst  jetzt  in  diese  Phase  eintreten,  nachdem  die  nötigen 
technischen  Grundlagen  für  die  neue  x\usdrucksweise  geschaffen  waren. 

Um  so  rapider  gfing  nun  die  Bebauung  des  gewonnenen  freien  Feldes 
vor  sich.  Notwendigerweise  mußte  die  Befreiung  aus  den  Fesseln  der 
Rücksicht  auf  andere  Stimmen  zu  einem  Kultus,  zu  einem  Sport  in  der 
möglichst  großen  Ausnutzung  dieser  Freiheit,  in  der  möglichst  kühnen 
Betätigung  der  Selbständigkeit  führen.  Die  Anfäng-e  des  Virtuosentums 
im  Gesang  und  auf  den  Instrumenten,  die  bereits  genügend  vervollkommnet 
waren,  mußten  sehr  bald  bemerkbar  werden.  Die  Grundlagen  der  Technik 
der  höheren  Gesang-  und  Geigenkunst  sind  in  jenen  Zeiten  gelegt  worden. 
Waren  die  größten  Auswüchse  reinen  Virtuosentums  späteren  Zeiten  vor- 
behalten, so  war  daran  nur  die  gesündere  musikalische  Gesamtkultur  und 
die  Mangelhaftigkeit  verschiedener  Instrumente  schuld,  die  erst  den  neuen 
Anforderungen  entsprechend  vervollkommnet  werden  mußten. 

Deutschland  blieb  zunächst  dieser  Entwicklung  der  Technik  am  meisten  Deutschland 
fem,  weil  seine  wirtschaftlichen  Verhältnisse  ihm  keine  luxuriöse  Musik- 
pflege gestatteten.  Trotzdem  ist  gerade  in  den  Zeiten  wirtschaftlicher 
Depression,  wie  sie  die  Kriege  des  17.  Jahrhunderts  brachten,  die  Musik 
eine  Macht  gewesen,  die  den  deutschen  Geist  lebendig  erhielt.  Hier 
zeigte  sich  der  Segen  der  guten  Tradition  des  Reformationszeitalters,  das 
in  seinen  Schulen,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  Menge  tüchtiger  Musiker 
erzogen  und  durch  sie  den  Sinn  für  Musik  im  Volke  sehr  lebendig  ge- 
macht hatte.  Die  Kantoreien  in  den  deutschen  Städten  waren  damals 
Schützer  deutscher  Kunst  und  die  Studenten  an  den  deutschen  Hoch- 
schulen die  regsten  Musikfreunde.  Neben  der  geistlichen  Musik,  die,  halb 
in  der  neuen  Form,  halb  in  der  Weise  des  16.  Jahrhunderts  weiter  lebte 
und  überall  rege  gepflegft  ward,  hatte  die  musikalische  Renaissance  von 
1600  den  Deutschen  eine  der  schönsten  Gaben  gebracht,  die  die  Geschichte 
seiner  Musik  seitdem  ziert,  das  Lied.  Diese  anspruchslose  Kunstform,  als 
deren  Vater  man  Heinrich  Albert  nennt,  die  aber  gleichzeitig  an  mehreren 
Orten  aus  vorhandenen  Keimen  sich  entwickelte,  war  im  17.  Jahrhundert 
neben  der  geistlichen  Chormusik  und  der  aufblühenden  Instrumental-  und 
Orgelmusik    der  reichlichste   Bestandteil   der  deutschen   Kunstpflege,   und 


Uu  Lied. 


_,  ,Q  Georg  fiiim.KR:  Die  Musik. 

ist  es  als  spezifisch  deutsche  Kunstform  geblieben.  Es  ist  oft  darauf  hin- 
gewiesen worden,  daß  der  Franzose  einfach  das  Wort  „le  lied"  übernommen 
hat,  wenn  er  bezeichnen  will,  was  wir  unter  Lied  verstehen,  weil  die  Aus- 
drücke seiner  Sprache  den  Begriff  nicht  in  der  gehörigen  Weise  decken. 
Von  der  Kulturmacht  des  deutschen  Liedes  zu  reden  ist  nicht  nötig.  Es 
verdankt  sie  seiner  Anspruchslosigkeit,  dem  Reichtum  seiner  Formen  und 
Farben,  der  Wahrheit  seines  Gefühlsausdrucks  und  hat  mit  ihr  besonders 
in  den  Zeiten,  da  deutsches  Wesen  in  der  Welt  nicht  viel  galt,  den  deut- 
schen Geist  am  Leben  erhalten  helfen, 
itaiisn.  In  Italien  war  die  Entwicklung  der   neuen  Kunst   infolge   der   günsti- 

geren   äußeren    Verhältnisse    weit    glänzender    als    in    Deutschland.      Hier 
wurden  die  großen  musikalischen  Formen   gefunden   und   ausgebildet,   die 
bis  zur  Gegenwart  die  Grundlage   des  musikalischen  Schaffens    geblieben 
sind.     Oper,    Oratorium,   Sinfonie,    die    Namen    stammen    von    daher,    und 
wichtige   Bestandteile    ihrer   späteren   Gestaltung   sind   auf  jene   glänzende 
Entwicklung  zurückzuführen.     Als  musikalisches  Kulturland   stand   damals 
Italien  unbedingt  weit  über  Deutschland,  und  unsere   ganze   musikalische 
Kultur  dankt  jener  Zeit  ihre  wertvollsten  Anregungen.     Träger  der  Kultur 
waren  in  Deutschland  zunächst  wesentlich  die  Gebildeten,  die  Studierten. 
In  Italien  dagegen  einzelne  Mäcene,  die  kleinen  Höfe,  die  reichen  Städte. 
Hier  entwickelte  sich  jene  Kunstgattung,  die  als  Gradmesser  für  musika- 
Die  Oper,     lischc  Kultur  SO  gut  brauchbar  ist,  die  Oper.     Die  Verbindung  von  Szene 
und  Musik  wurde  freilich  nicht  erreicht  wie  bei  den  Hellenen,  deren  Drama 
man  hatte  wieder  beleben  wollen.     Aber  die  neugefundene  Kunstgattung 
erwies  sich  doch  als  so  lebensfähig,  daß  sie  von  Italien  aus  mit  der  italie- 
nischen SjDrache  ihren  Siegeszug  durch  das  ganze  gebildete  Europa  hielt. 
Was  bereits  vor   1600  begonnen  hatte,  wurde  nun   zur   Sitte.     Italien 
zu  bereisen,  dort  Musik  zu  studieren,  dort  Triumphe  zu    feiern,  ward  das 
Ziel  der  weltmännisch  veranlagten  Musiker.     Und  bei  den  Italienern,  dem 
Volk  mit  dem  natürlichen  Instinkt  für  Klang  und  Wohllaut,  bildete  sich 
naturgemäß  auch   zuerst  der  Kultus   der  schönen  Stimme,   der  Virtuosität 
aus.    Es  ist  leicht  verständlich,  daß  diese  Richtung  der  Verflachung  leichter 
ausgesetzt    war    als    die    musikalische    Kultur    der    Deutschen.      Immerhin 
G.  F.  Händel,  war   sic   notwendig.      Und    was    sich    in    ihr    erreichen   ließ,    daß    wirklich 
große,  monumentale,  weltbeherrschende  Kunst  ohne  sie  überhaupt  unmög- 
lich war,  das  zeigt  G.  Fr.  Händel,  dieser  in  der  Schule  der  Italiener  groß- 
gewordene Deutsche,  dessen  universale  künstlerische  Begabung  und  dessen 
außerordentliche  Kulturbedeutung  gerade   für  die  Gegenwart  leider  noch 
viel  zu  wenig-  erkannt  ist.    Die  Mischung  deutscher  und  italienischer  Kunst 
hat   diesen  Großen  künstlerische  Taten  verrichten  lassen,  die  selbst  Beet- 
hoven am  Ende   seines  Lebens  noch  zur  staunenden  Bewunderung'   dieses 
größten   Musikers    veranlaßten.     Wir    haben    in   Händel    den   T3rpus    eines 
Repräsentanten     der     vollendeten    weltmännischen    musikalischen    Kultur, 
der  so  verschieden  von  dem  trotz   einiger  italienischer  Einflüsse  ganz  im 


II.  Die   Entwicklung  der  musikalischen   Kultur.  44 1 

enercn  Bezirke  der  damaligen  deutschen  Kultur  erwachsenen  Bach  ist,  j.  s.  Bich. 
daß  man  beiden  unrecht  tut,  wenn  man  ihre  Naturen  aneinander  mißt. 
Bachs  Leben  und  Schaffen  gibt  die  charakteristischsten  Bilder  aus  der  in 
stiller  Zurückgezogenheit  weiterwachsenden  mitteldeutschen  Musikkultur, 
die  sich  ohne  Berühung  mit  der  an  den  Höfen  eingeführten  italienischen 
Kunst  bei  ihrer  beschaulichen  Geistesrichtung  wohlfühlte. 

Wie  alle  Kulturfortschritte  schließlich  aus  der  Wechselwirkung  ver- 
schieden gearteter  Elemente  erklärt  werden  können,  so  wird  man  auch 
die  Entwicklung  der  deutschen  Musik  bis  zu  Beethoven  so  darstellen 
können,  daß  man  sagt,  die  großen  Formen  der  weltmännischen  italienischen 
Kunst  seien,  als  der  Kultus  des  virtuosen  Elementes  und  die  Verflachung 
und  Veräußerlichung  ihres  Geistes  sie  immer  tiefer  sinken  ließen,  durch 
Berühung  mit  der  in  der  stillen  Zurückgezogenheit  echt  und  kräftig  ge- 
bliebenen   deutschen    Kunst   neu    belebt  worden.      Denn    nichts   wäre   tö-    Mozart  und 

Gluck. 

richter,  als  leugnen  zu  wollen,  daß  in  einem  Künstler  wie  Mozart  eme 
Unmenge  italienischer  Elemente  wirksam  gewesen  sind,  nichts  einfältiger, 
als  verkennen  zu  wollen,  daß  eine  Menge  Anregungen  aus  Frankreich, 
dessen  musikalische  Kultur  auf  italienischer  Grundlage  ruhte,  nach  Deutsch- 
land kamen.  Auch  Gluck  ist  genau  wie  Händel  ohne  den  kosmopolitischen 
Grundzug  seiner  Kunst  nicht  denkbar. 

In  Deutschland  hatten  von  jeher  die  Höfe  die  prunkendere  italienische  nie  deutschen 

Hofe. 

Kunst  vorgezogen  und  fanden  auch  nach  1800  nicht  gleich  den  Weg  zu 
der  neuentwickelten  deutschen  Kunst.  Als  deren  Schirmstätten  muß  man 
in  jener  Zeit  mehr  als  früher  und  mehr  als  gegenwärtig  verschiedene 
Zentren  musikalischer  Kultur  unterscheiden.  Das  wichtigste  war  unzweifel-  wieo. 
haft  Wien;  dort  aber  hat  als  der  bedeutendste  und  regste  Träger  der  musi- 
kalischen Kultur  in  dieser  Glanzzeit  deutsch -österreichischer  Kunst  der 
österreichische  Adel  zu  gelten.  Er  gab  mit  seinen  Privatkapellen  der 
Entwicklung  der  neuen  Instrumentalmusik  die  notwendigen  Pflegestätten, 
er  gewährte  zu  einer  Zeit,  da  die  politischen  Verhältnisse  der  Kunst  wenig 
günstig  waren,  ihr  Heimatrecht  bei  sich. 

Im    bürgferlichen   Xorddeutschland   waren    es    die  Vereinigungen   von       Nord- 

*  .  .  deutschland. 

Studenten  und  Bürgern,  die  die  nötigen  Sammelpunkte  für  die  Musik- 
pflege schufen.  Das  musikalische  Vereinswesen,  Instrumental-  und  Gesang- 
vereinswesen entwickelte  sich  rasch  und  bildete  die  Grundlage  für  das 
moderne  Konzertleben. 

Das  Bild  der  musikalischen  Kultur  wurde  dadurch  außerordentlich  Konzenweicn. 
verändert.  Bi.sher  war  alle  Musik  eigentlich  Gelegenheitmusik  gewesen. 
Am  frühesten  war  wohl  die  Oper,  die  ehemals  auch  für  festliche  Tage  in 
fürstlichen  Häusern  als  besonders  reiche  Gelegenheitmusik  komponiert 
worden  war,  zum  Schaustück  für  Geld  geworden,  das  Opemkomponieren 
also  zur  Spekulation  auf  Erfolg.  Und  doch  waren  auch  die  Werke  dieser 
Gattung  meist  für  ein  bestimmtes  Opernhaus  und  für  ein  be.stimmtes  Spiel- 
jahr geschrieben. 


^,  ,  Georc   Göhi.kk  :   Din   Musik. 

Durch  die  Ausbildung;-  dos  Konzertwesens  wird  nun  dieselbe  Alöglich- 
lichkeit,  Werke  zu  verbreiten,  auch  für  die  Instrumental-  und  Gesangs- 
kompositionen,  die  nicht  für  die  Bühne  bestimmt  sind,  geboten.  Der 
Komponist  schreibt  nicht  mehr  im  Auftrage  oder  von  Amts  wegen,  der 
Zuhörer  verbindet  den  Musikgenuß  nicht  mit  festlichen  Tagen,  sondern 
geht  ex  professo  als  Musikfreund  in  ein  Konzert,  zunächst  meist  als 
tätiges,  spielendes  oder  singendes  Mitglied,  bald  aber  nur  als  Zuhörer,  als 
Genießer.  Die  Musikkultur  des  ig.  Jahrhunderts  ist  charakterisiert  durch 
die  immer  mehr  verbreitete  und  immer  mehr  zur  Mode  gemachte  Sitte 
des  bloßen  Musikgenusses,  durch  die  sich  immer  und  immer  mehrende 
Masse  von  Gelegenheiten  zum  Musikhören,  schließlich  durch  die  immer 
größer  werdende  geschäftliche  Verwertung  künstlerischer  Größen.  Doch 
ehe  wir  diese  Kehrseite  der  Medaille  betrachten,  muß  mit  einigen  Worten 
der  Kulturfortschritte  gedacht  werden,  die  seit  jener  Zeit,  d.  h.  seit  Beet- 
hoven, die  Musik  gemacht  hat. 
Beethoven.  Becthovcu  kann  in  gewissem  Sinne  als  der  Musiker  gelten,  der,  ohne 

sie  gekannt  zu  haben,  die  Lehre  vom  Ethos  in  der  Musik,  von  dem  die 
alten  griechischen  Philosophen  redeten,  wieder  aufnahm,  als  der  erste,  der 
mit  Bewußtsein  philosophische,  metaphysische  Musik  schrieb.  Seine  Musik 
ist  keine  Gelegenheitmusik  im  Sinne  der  früheren  Jahrhunderte  mehr, 
keine  angewandte  Kunst,  sondern  freie  Bekenntnismusik.  In  gewissem 
Sinne  wird  damit  auf  die  Uranfänge  der  Musik  zurückgegangen.  Aus- 
druck dessen,  was  unsagbar  ist,  wofür  das  bloße  Wort  nicht  genügt.  Die 
Tatsache,  daß  Beethoven  für  die  ganze  musikalische  Kultur  des  ig.  Jahr- 
hunderts und  damit  auch  noch  für  weitere  Zukunft  mehr  bedeutet,  als  alle 
früheren  Musiker  zusammengenommen,  ist  nur  dadurch  zu  erklären,  daß 
er  seiner  Musik  den  ethischen,  den  metaphysischen  Hintergrund  gegeben 
hat,  daß  sie  auf  nichts  ruht  als  auf  den  großen,  die  Welt  umspannenden 
Gefühlen  eines  der  tiefst  veranlagten  Menschen. 

Man  kann  auf  diese  Bedeutung  der  Kunst  Beethovens  nicht  nachdrück- 
lich genug  hinweisen.  Die  alles  überragende  Stellung,  die  er  einnimmt, 
ist  mit  Gründen  musikalisch -technischer  Art  nicht  erklärt.  Was  ihn  von 
denen  vor,  um  und  nach  ihm  trennt,  ist  nicht  eine  besondere  Art  Musik, 
sondern  seine  Persönlichkeit,  nichts  Ästhetisches,  sondern  das  Ethische. 
Metaphysik  d«  Als  Musiker  im  Sinne  der  idealistischen  griechischen  Philosophie   ist 

'^""'''  Beethoven  auch  heute  noch  unerreicht,  ist  er  auch  heute  noch  das  größte 
Vorbild  für  alle  künstlerisch  begabten  Menschen,  die  diesen  Kunstgeist 
als  den  einzig  lebengebenden  in  sich  fühlen.  Es  ist  fast  selbstverständlich, 
daß  erst,  nachdem  in  Beethoven  dieser  Geist  wieder  Mensch  geworden 
war,  die  Denker  sich  wieder  den  tiefsten  Problemen  der  philosophischen 
Musikbetrachtung  zuwenden  konnten.  Das  ig.  Jahrhundert  er.st  brachte  so 
die  Renaissance  von  Gedanken,  die  in  der  Ethoslehre  der  alten  Griechen 
bereits  niedergelegt  worden  waren.  Schopenhauers,  Wagners  und  Nietzsches 
Namen  können  hier  nur  genannt  werden,  um  zu  beweisen,  ■  daß  die  Kultur- 


II.  Die   Entwicklung  der  nuisil<nlischcn   Kultur.  443 

bedeutuiij^  dpr  Musik  nach  Beethoven  von  Künstlern  und  Philosophen  auch 
zum  Gegenstände  theoretischer  Untersuchungen  gemacht  wurde. 

Daß  Künstler  wie  Wagner  und  Liszt  diese  Kulturbedeutung  Beet-  Wagnor,  usn. 
hovens  erkannten  und  empfanden,  daß  sie  in  dem,  was  Beethoven  ohne 
Theorie,  allein  aus  seiner  großen  Menschennatur  der  Kunst  gewonnen 
hatte,  das  eigentliche  Wesen  der  Kunst  der  Zukunft  erkannten,  das  machte 
sie  zu  Reformatoren  auf  den  verschiedensten  Gebieten  der  Musik.  Vom 
Künstler  menschliche,  geistige  Größe  und  Freiheit,  von  der  Kunst  Lebens- 
gehalt und  Wahrheit  zu  fordern,  das  wurde  nun  die  Losung  aller,  die  auf 
dieser  Bahn  vorwärts  strebten. 

Man  sieht  immer  noch  bei  der  Beurteilung  der  Kunst  nach  Beethoven 
viel  zu  sehr  auf  Äußerlichkeiten  und  nebensächliche  Dinge  und  verkennt 
den  Fortschritt,  der  in  der  Vertiefung  der  ganzen  Kunstauffassung,  in  der 
Verschmelzung  von  Kunst  und  Leben  beruht,  in  der  sittlichen  Bewertung 
künstlerischer  Äußerungen. 

Gewiß  kann  man  diesen  höchsten  Maßstab  nur  an  ganz  wenig  Kunst- 
werke anlegen,  gewiß  haben  nur  wenig  Künstler  und  Laien  die  geistige 
Größe,  um  diese  Kunstauffassung  zu  teilen,  aber  daß  sie  vorhanden,  daß 
sie  wiedergewonnen  ist,  muß  als  einer  der  wichtigsten  Kulturfortschritte 
in  der  ganzen  Entwicklung  angesehen  werden. 

Daneben   spielen   natürlich  eine   Menge   niederer  Kräfte   und  Mächte  i>as  19.  Jahr- 

^  *  hundert. 

durcheinander,  die  die  Geschichte  der  musikalischen  Kultur  des  19.  Jahr- 
hunderts so  buntscheckig  machen  wie  die  keiner  früheren  Periode.  Es 
wäre  völlig  sinnlos,  wollte  man  diese  Elemente  als  künstlerisch  minder- 
wertig einfach  ausschalten  und  ihre  zum  Teil  ganz  enorme  Wirkungs- 
fähigkeit nicht  anerkennen.  Gerade  daß  gewisse  Kunstrichtungen,  die 
ästhetisch  und  ethisch  tiefer  stehen,  ganze  Jahrzehnte  beherrscht  haben, 
ist  charakteristisch  für  die  gesamte  geistige  Kultur  dieser  Zeiten.  Wer  Mcycrbeer. 
wollte  z.  B.  leugnen,  daß  Meyerbeer  für  ein  gewisses  Zeitalter  als  typischer 
Repräsentant  eines  großen  Bruchteiles  seiner  Gesamtkultur  zu  gelten  hat? 
Wer  wollte  verkennen,  daß  Richtungen  wie  die  Mendelssohns  und  seiner  Mendciwohn. 
Anhänger  und  Nachfolger  ungemein  charakteristisch  für  das  gesarate 
geistige  Niveau  einer  gewissen  Gesellschaftszone  sind  und  da  zur  Aus- 
prägung einer  Abart  von  Kultur  zweifellos  viel  beigetragen  haben?  Aber 
eben  weil  diese  und  manche  andere  Richtungen  in  der  Musik  nicht  im 
Anschlüsse  an  Beethoven  der  Musik  den  Boden  gaben,  aus  dem  sie  einzig 
ewige  Lebenskraft  saugen  konnte,  war  die  größte  Kulturwirkung  dem 
Wagner-Lisztschen  Kreise  vorbehalten,  in  dem  weiter  an  der  Aufgabe  ge- 
arbeitet wurde,  der  Musik  die  Zunge  zu  lösen  zum  Ausdrucke  alles  dessen, 
was  im  Tiefsten  der  menschlichen  Psyche  schlummert  und  was  keine  Rede 
verdeutlichen  kann.  Selbstverständlich  wurde  dadurch  die  Kunst  immer  vcrfcincruog 
komplizierter,  die  Nuancen  der  einzelnen  Gefühlswerte  immer  differen- 
zierter, und  nur  geistig  hochstehende  Menschen  vermochten  ganz  in  ihre 
Geheimnisse  einzudringen.    Der  Reichtum  und  die  Feinheit  dieser  Sprache 


AAA  GK.ORr,  GÖHi.K.K:   Die   Mvisik. 

brachten  es  natürlich  mit  sich,  daß  der  Nervenapparat  des  Menschen  in 
der  denkbar  stärksten  Weise  angespannt  wurde,  und  so  ergab  sich  beim 
Versenken  in  diese  Kunst  häufig-  als  Folge  nervöse  Überreizung-.  Es  ist 
hier  nicht  der  Ort,  zu  entscheiden,  ob  das  nachteilig  für  den  Kulturwert 
dieser  Kunst  ist,  oder  ob  man  abwarten  soll,  ob  Geschlechter,  die  bereits 
moderner  aufgewachsen  sind,  widerstandsfähiger  gegen  diese  Kunst  sein 
werden.  Zum  mindesten  scheint  zu  bedenken,  daß  gewisse  Werke  Beet- 
hovens genau  dieselbe  höchste  Spannung  der  Nerven  verlangen,  wenn 
auch  der  sinnliche  Klangreiz  noch  nicht  in  der  künstlichen  Weise  der 
Neuen  verfeinert  ist. 

vervoiikomm-  Eine  der  Hauptaufgaben  der  Nachfolger  Beethovens  war  ja,  die  musi- 

Technik.  kaiische  Technik  so  zu  vervollkommnen,  daß  die  Musik  zum  Ausdruck 
der  feinsten  Schattierungen  jedes  Gefühls  fähig  wurde,  daß  sie  als  wirk- 
liche Sprache  gebraucht  werden  konnte.  Dabei  wurden  selbstverständlich 
ihre  Grenzen  verschoben,  zunächst  sogar  vielfach  weit  in  das  Gebiet  an- 
derer Künste  hinein.  Alle  Zeiten  des  Fortschritts  sind  Zeiten  der  Ver- 
irrung.  Auf  dem  rechten  Wege  bleiben  da  nur  die  Größten,  und  auch  die 
heutzutage  nicht  mehr  aus  Instinkt,  sondern  bewußt,  aus  Prinzip. 

Alle  Zeiten  des  Fortschritts  sind  Zeiten  des  Kampfes.  Die  Leichen 
auf  den  Schlachtfeldern  der  Musikgeschichte  des  ig.  Jahrhunderts  füllen 
einen  stattlichen  Friedhof.  Requiescant  in  pace.  Sache  der  Musikhisto- 
riker wird  es  sein,  jedem  seinen  Nekrolog  zu  schreiben.  Hier  können  wir 
nur  der  Kämpfe  selbst  gedenken  als  eines  charakteristischen  Merkmals 
für  die  Musikkultur  des  19.  Jahrhunderts.  Auch  frühere  Zeiten  sahen 
schon  einzelne  Fehden  künstlerischer  Richtungen;  in  dieser  Allgemeinheit 
und  mit  solcher  Erbitterung  wie  im  19.  Jahrhundert  war  aber  wohl  noch 
nicht  gekämpft  worden.  Als  Grund  kann  man  wohl  angeben,  daß  wie  die 
allgemeinen  Kulturunterschiede  immer  zahlreicher  und  immer  mehr  abge- 
stuft wurden,  so  auch  die  Unterschiede  im  künstlerischen  Empfinden.  Da- 
durch, daß  einer  Menge  Menschen,  die  überhaupt  in  früheren  Zeiten  nichts 
von  Kultur  wußten,  oft  mit  Gewalt  aufgezwungen  wurde,  was  sie  nie  ver- 
mißt hatten,  kamen  zum  Kunstgenuß  eine  Menge  Menschen,  bei  denen 
die  Organe  dafür  noch  ungenügend  entwickelt  waren.  Die  Mode  fing  an, 
eine  Rolle  zu  spielen,  die  Kunstheuchelei  begann  zu  blühen. 

Proletarisierung  Die  Demokratisierung  des  ganzen  Lebens   führte   zu   einer  Proletari- 

sierung auch  derjenigen  Kunst,  die  dafür  am  wenigsten  geeignet  war. 
Wie  sie  die  höchsten  Höhen  gewann,  so  wurde  die  Musik  auch  in  die 
tiefsten  Tiefen  der  modernen  Kultur  hinabgezogen.  Die  Zeit  der  Wagner- 
festspiele, der  Beethovenfeste  ist  gleichzeitig  die  Blütezeit  des  Berliner 
Gassenhauers.  Von  einer  einheitlichen  musikalischen  Kultur  kann  nicht 
mehr  die  Rede  sein.  In  früheren  Zeiten  waren  im  wesentlichen  einzelne 
Stände  Träger  dieser  Kultur  gewesen,  die  dann  stets  ihre  bestimmte 
Farbe  gehabt  hatte.  Jetzt  haben  wir  ein  buntes  Durcheinander,  ein  un- 
zusammenhängendes   Nebeneinander    der   verschiedensten    Elemente,    und 


in.  Die  Zukunft  der  musikalischen  Kultur. 


445 


wenn  auch  unter  den  Musikern  selbst  die  Gegensätze  der  einzelnen  Par- 
teien nicht  mehr  so  schroif  zu  sein  scheinen,  wie  zu  der  Zeit,  da  die  neu- 
deutsche Kunst  um  die  Vorherrschaft  rang,  so  ist  die  Verwirrung  jetzt 
dadurch  größer,  daß  der  Verbrauch  von  Musik  außerordentlich  gestiegen 
ist  und  daß  für  jede  Art  Lebensauffassung  heutzutage  auch  die  passende 
Art  Musik  von  zahlreichen  Produzenten  und  Reproduzenten  prompt  ge- 
liefert wird. 

III.  Die  Zukunft  der  musikalischen  Kultur.  Die  Zukunft  der 
musikalischen  Kultur  zu  betrachten  ist  unter  diesen  Verhältnissen  keine 
dankbare  Aufgabe.  Zu  weissagen  ist  an  sich  stets  ein  heikles  Ding;  und 
nun  gar  noch  aus  einem  so  tollen  Vielerlei,  wie  es  das  Musikleben  der 
Gegenwart  ist,  herauslesen,  was  fallen,  was  bleiben,  was  werden  wird? 
Und  doch  muß  diesem  kurzen  Überblick  über  die  Entwicklung  und  den 
Stand  der  musikalischen  Kultur  noch  ein  Ausblick  folgen.  Ungefähr  muß 
sich  andeuten  lassen,  nach  welchen  Zielen  die  Kultur,  die  wir  erreicht 
haben,  weiter  zu  lenken  wäre,  wo  ihr  Gefahren  drohen,  wo  ihre  schwachen 
und  starken  Seiten  zu  suchen  sind. 

Es  ist  schon  gesagt  worden,  daß  von  einer  einheitlichen  künstlerischen 
Kultur  keine  Rede  mehr  sein  kann.  Solange  die  ganze  Weltanschauung 
der  Menschen,  ihr  Urteilen  und  Fühlen  dem  Weltganzen  wie  dem  einzelnen 
Menschen  gegenüber  so  zerfahren,  so  ohne  Grund  und  Halt  ist,  solange 
die  widersprechendsten  Lebensauffassungen  die  einzelnen  Kreise  des  Volkes 
beherrschen,  so  lange  ist  an  eine  große  einheitliche,  künstlerische  Kultur 
nicht  zu  denken,  die  eben  nur  auf  dem  Boden  einer  geschlossenen,  großen 
Lebensanschauung  möglich  ist.  Wir  werden  uns  also  damit  begnügen 
müssen,  die  wesentlichsten  Faktoren,  aus  denen  das  Gesamtbild  der  musi- 
kalischen Kultur  sich  ergibt,  einzeln  zu  betrachten.  Dabei  kämen  als 
Schöpfer  der  Kulturwerte  die  Komponisten,  als  Vermittler  alle  reprodu- 
zierenden Künstler,  als  Träger  der  Kultur  aber  die  musikfreundlichen 
Glieder  fast  aller  Stände  in  Betracht 

Es  ist  bereits  angedeutet  worden,  daß  eines  der  Zeichen  der  Zeit  die  überkuUur. 
Tatsache  ist,  daß  künstlerische  Werte  immer  mehr  zu  Geschäft-,  zu  Speku- 
lationsartikeln werden.  Hier  zeigt  sich  aufs  deutlichste  der  Zusammenhang 
der  musikalischen  Kultur  mit  der  allgemeinen,  d.  h.  mit  ihren  Fehlem  und 
Gefahren.  In  der  Musik  ist  dieser  Umstand  der  direkte  Beweis  des  Vor- 
handenseins einer  Überkultur  gewisser  Kreise.  Die  Kunst  ist  ja  heutzu- 
tage gerade  für  die  Menschen,  die  sich  als  Laien  am  meisten  mit  ihr  be- 
fassen, kein  Glied  im  lebendigen  Organismus  des  Lebens  mehr,  kein 
konstruktiver  Teil,  sondern  ein  Anhängsel,  ein  Ornament.  Die  angewandte 
Musik  hat  den  reichen  Boden,  den  sie  besaß,  Stück  für  Stück  verloren, 
und  nun  wird  in  einem  Ziergarten  als  Luxuspflanze  geduldet  und  gehegt, 
was  eine  frische  Feldblume  sein  sollte.  Infolgedessen  sind  die  Vermittler 
der  Kunst,  die  Ausführenden,  für  die  Kunstpflege  außerordentlich  wichtig 


446 


Georg  Göhlf.r;  Die  Musik. 


Schutz  der 
Kuust! 


geworden.  Früher  war  der  Laie  viel  mehr  selbst  tätig"  als  Ausübender, 
jetzt  ist  er's  meist  nur  als  Zahler.  Infolge  der  immer  stärker  werdenden 
geschäftlichen  Einflüsse  ist  dem  Vermittler  immer  mehr  der  Sinn  dafür 
abhanden  gekommen,  was  er  vermittelt,  nämlich  Kunst.  Er  vermittelt 
etwas  Gutbezahltes,  eine  Ware. 
Geschäftskunst.  Unser  ganzes  öffentliches  Musikleben  leidet  seit  Jahren  unter  diesem 

Fluch  des  Geschäftsgeistes.  Die  Mächte,  die  hinter  den  Kulissen  dieser 
weltbedeutenden  Bretter  arbeiten,  die  Agenten  haben  eine  so  außer- 
ordentliche Macht,  daß  eine  große  Anzahl  Künstler  von  Kulturaufgaben 
überhaupt  nichts  mehr  weiß.  Unser  Konzertleben  ist  zur  Hälfte  minde- 
stens ohne  alle  Bedeutung  für  die  musikalische  Kultur  des  Volkes,  ja 
direkt  schädlich,  weil  durch  das  Massenangebot  und  die  oft  widerliche 
Reklame  die  Achtung  vor  dem  Geiste  der  Kunst  immer  mehr  schwindet. 
Wie  kann  auch  ein  Gebildeter  Achtung  vor  einem  Künstler  haben,  dem 
es  erstens  ganz  gleichgültig  ist,  unter  welchen  äußeren  Verhältnissen  er 
sich  produziert  —  der  Artistenausdruck  paßt  sehr  gut  daher!  — ,  in  welcher 
Zusammenstellung-  er  seinen  Zuhörern  Werke  bringt  und  ob  er  mit  minder- 
wertigen Werken  den  Geschmack  des  Publikums  verdirbt. 

Hier  liegen  zweifellos  große  Gefahren  vor,  die  die  deutsche  Musik- 
überkultur nach  und  nach  immer  widerlicher  machen  werden.  Angebot 
und  Nachfrage  ist  in  den  großen  Städten  im  schreiendsten  Widerspruch; 
in  den  kleinen  Städten  aber  liegt  die  Ansteckungsgefahr  durch  den  Ge- 
schäftsgeist der  Zentralen  sehr  nahe,  durch  den  dann  eine  gesunde,  schlichte, 
bodenständige  Kultur  oft  in  wenigen  Jahren  vernichtet  wird. 

Die  Aufgaben,  die  hier  zum  Schutze  der  Kulturwirkung  der  Musik 
vorliegen,  sind  zum  Teil  schon  in  Angriff  genommen.  Die  Proteste  gegen 
die  zwecklose  Konzertiererei  ohne  künstlerische  Absichten  mehren  sich, 
der  Kampf  gegen  die  geschäftlichen  Veranstaltungen  reklametüchtiger 
Agenten  wird  von  verschiedenen  Seiten,  wenn  auch  noch  viel  zu  zaghaft, 
geführt,  die  Forderung  künstlerisch  zusammengestellter  Konzertprogramme 
wird  nicht  nur  erhoben,  sondern  immer  mehr,  wenn  auch  nicht  von  den 
großen  Modegöttern,  erfüllt.  Die  Hausmusik,  die  vor  einigen  Jahrzehnten 
noch  in  den  mittleren  Ständen  die  schönste  Blüte  einer  gesunden  musi- 
kalischen Kultur  war,  findet  wieder  Verteidiger  und  Freunde.  Das  Volks- 
lied, das  dem  Gassenhauer  weichen  zu  müssen  schien,  soll  wieder  an  seinen 
Ehrenplatz  gerückt  werden. 

Das  alles  sind  gute  Mittel,  um  den  Gefahren  der  öffentlichen  Musik- 
pflege zu  begegnen.  Das  alles  muß  kräftig  gefördert  werden,  wenn  die 
Zukunft  der  deutschen  Musik  nicht  der  Mode,  dem  Zufall  und  den  Geld- 
interessen einzelner  überlassen  werden  soll.  Leider  haben  gerade  die 
Großen  im  Lande  der  Kunst  keine  Zeit  für  solche  Kultur  der  Musik, 
sondern  nur  für  die  ihrer  Eitelkeit  und  ihrer  Finanzen. 
Das  Theater.  Neben    dem    Konzertsaal    ist    der  Bühne    die    größte   Macht   über    die 

Menge  gegeben,  die  für  Musik  empfänglich  ist.     Von  der  Bühne  ist  aber 


III.   Die  Zukunft  der  musikalischen   Kultur.  447 

wenig  zu  erwarten.  Die  deutschen  Opernbühnen  leben  von  Wagner  und 
einigen  neuen  und  alten  Schlagern,  sie  sind  fast  alle  auf  Geldeinnahmen 
angewiesen  und  können  Kulturaufgaben  höchstens  nebenher  lösen.  Auch 
über  den  Einfluß  Wagners  auf  weitere  Kreise  gebe  man  sich  keinen  Illu- 
sionen hin.  Künstlerisch  vertiefte  Kultur  darf  man  nicht  nennen,  was  zu 
drei  Vierteilen  leider  Mode  ist.  Die  ständige  Bühne,  die  nur  Werke,  die 
einst  gToßen  Kulturwert  gehabt  haben  oder  noch  haben,  aufführen  könnte, 
i.st  noch  nicht  vorhanden.  Und  wer  wollte  schließlich  leugnen,  daß  der 
„Trompeter  von  Säkkingen"  auch  Kulturwert  hat,  daß  er  wenigstens  einer 
der  wertvollsten  Kulturmesser  ist,  daß  er  für  die  Kultur  des  zwischen 
Bier  und  sentimentalen  Gemütstrieben  hin-  und  herpendelnden  deutschen 
Philisters  die  richtige  Musik  war,  und  daß  die  Tausende  von  Aufführungen, 
die  das  Werk  schon  erlebt  hat,  aufs  deutlichste  beweisen,  wie  viele  Ver- 
treter dieser  Kultur  noch  in  hohen  und  niederen  Volksschichten  vegetieren. 
Das  ist  selbstverständlich  und  nicht  zu  bejammern.  Alle  große  geistige 
Kultur  kann  nur  wenigen  eigen  sein. 

Viel  schmerzlicher  ist's,  wenn  sich  die  wenigen  gerade  nicht  unter  Mangel  an 
denen  finden,  die  Schöpfer  der  Kultur  sein  sollten!  Auf  diesem  Stand-  Persönlich- 
punkte aber  stehen  wir  leider  heutzutage.  Seit  Liszt  und  Wagner,  seit 
ßrahms  und  Brückner  tot  sind,  ist  der  Gedanke  an  künstlerische  Kultur, 
an  geistige  Führerschaft  in  der  Musik  einer  der  wenigst  erfreulichen. 
Sagen  wir's  glatt:  wir  haben  keine  geistigen  Führer.  Sicher  eine  Menge 
stiller,  ernster  Geister,  vielleicht  irgendwo  im  Verborgenen  schon  einen 
Großen,  dessen  Name  noch  völlig  unbekannt  ist,  aber  kein  geistiges  Ziel, 
keine   Kultur. 

Wir  leben  in  den  Tagen  der  Sensation,  der  Mode,  der  musikalischen 
Experimente,  des  Artistentums. 

Alle  großen  Kulturfragen  der  Kunst  werden  ohne  Teilnahme  der 
Mehrzahl  der  Schaffenden  in  Angriff  genommen.  Gedanken,  wie  sie  den 
Wagner-Lisztschen  Kreis  bewegten,  haben  für  viele  der  maßgebendsten 
Komponisten  kein  Interesse.  Ein  geistiger  Stillstand  und  Rückschritt  ist 
ganz  zweifellos  zu  konstatieren.  Denn  die  Sucht  nach  neuen  Reizen  und 
Effekten  hat  mit  geistigem  F'ortschritt  nichts  zu  tun.  Dagegen  nehmen 
materielle  Fragen  einen  großen  Platz  in  der  Diskussion  ein.  Unter  dem 
Schutze  eines  neuen  Urheberrechtsgesetzes,  das  ohne  alles  Verständnis  für 
den  Kulturwert  der  Kunst  und  die  Nationalökonomie  der  geistigen  Güter 
gemacht  ist  und  eine  der  verfahrensten  und  beklagenswertesten  Leistungen 
deutscher  Gesetzgebung  darstellt,  versuchen  eine  große  Anzahl  deutscher 
Komponisten  als  das  Wichtigste  für  die  Zukunft  der  deutschen  Kunst 
die  strenge  Durchführung  eines  rein  materiellen  Geschäftsprinzips  hin- 
zustellen. 

Hier  sind  zweifellos  alle  Zeitalter  der  Kun.stgeschichte  dem  unsrigen 
voraus  und  man  ist  berechtigt,  von  einem  Niedergange  der  künstlerischen 
Kultur  bei   einer  Menge  von  Komponisten   zu  reden.     An  die  Stelle   der 


448 


Georg  Göhlek:  Die  Musik. 


Kunst  und 
Leben. 


Schule. 


Schafteiisfreude,  der  Lust  am  Musizieren,  des  künstlerischen  Bekenntnisses 
ist  in  vielen  Fällen  der  Gedanke  getreten,  für  den  Kunstmarkt  einen  ren- 
tablen Absatzartikel  zu  liefern.  Wie  degenerierend  derartige  Zustände, 
wenn  sie  von  Dauer  sind,  auf  die  gesamte  künstlerische  Kultur  wirken 
müssen,  das  wird  jeder  einsehen,  der  weiß,  wie  sehr  die  Menge  gerade  in 
der  Kunst  der  Führung  durch  große  Idealistermaturen  bedarf. 

Es  scheint  leider  zu  befürchten,  daß  für  eine  Reihe  von  Jahren  von 
den  deutschen  Komponisten  nichts  Ersprießliches  für  die  Pörderung  der 
künstlerischen  Kultur  des  Volkes  zu  erwarten  ist.  Und  deshalb  müssen 
alle  die  guten  Kräfte,  die  in  der  großen  Masse  als  dem  eigentlichen  Sub- 
jekte dieser  Kultur  vorhanden  sind,  von  anderer  Seite  so  energisch  als 
möglich  gefördert  werden. 

Dem  Volke  muß  eine  Kunst  erhalten  werden,  die  nicht  als  äußerlicher 
Flitter  seinem  Leben  lose  aufgeheftet  wird,  sondern  die  in  inniger,  orga- 
nischer Verbindung  mit  diesem  ganzen  Leben  steht.  Ihm  muß  alles  er- 
halten oder  wiedergewonnen  werden,  was  frühere  Zeiten  an  angewandter 
Musik  besaßen,  was  bei  frohen  und  ernsten  Anlässen  die  Stimmung  stei- 
gern, den  Ausdruck  des  Gefühls  vertiefen  und  reinigen  half.  Spiel  und 
Gesang  muß  aus  dem  Leben  mit  Ursprünglichkeit  hervorquellen,  die  Lust 
an  der  Kunst  muß  erhalten  bleiben,  Zwang  und  Überdruß  muß  schwinden 
und  jeder  muß  die  Art  Kunst  pflegen  dürfen  und  können,  die  seinem 
ganzen  geistigen  Niveau  entspricht.  Also  kein  Rückschritt,  keine  Ver- 
dammung des  Neuen  und  Komplizierten,  kein  Dogma,  sondern  nur  keine 
Lüge,  keine  Mode,  kein  toter  Schein! 

Wichtig  ist  vor  allen  Dingen,  daß  jeder  Mensch  die  Art  Musik  als 
tägliches  Brot  erhält,  die  seinem  gesamten  Gefühlsleben  entspricht.  Die 
Musik  kann,  wenn  sie  recht  gepflegt  wird,  dann  eine  soziale  Macht  sein, 
die  belebend  auf  den  ganzen  Körper  des  Volkes  einwirkt. 

Wer  wüßte  nicht,  was  dem  Soldaten  seine  Marschmusik  ist,  wie  die 
Klänge  beleben,  anfeuern,  beglücken,  das  Gefühl  der  Gemeinsamkeit  stärken? 
Man  sollte  diese  zusammenschließende  und  fortreißende  Macht  der  Töne 
mehr  ausnützen,  sollte  sich  der  Reformationszeit  erinnern  und  dem  Volke 
die  Lust  an  der  lebendigen  Pflege  der  Kunst  nicht  verwehren,  sondern 
immer  mehr  erleichtern. 

Eine  der  schönsten  und  wichtigsten  Aufgaben  fällt  zur  Erreichung 
dieses  Ziels  dem  Gesangunterricht  in  den  Volksschulen  zu,  der  die  Liebe 
zum  Gesang  nicht  ertöten,  sondern  beleben,  der  den  Kindern  nur  die 
besten  Volkslieder  und  Choräle  als  unveräußerliches  Eigentum  mit  ins 
Leben  geben  und  alles  streng  verbannen  sollte,  was  jetzt  leider  sehr  oft 
dem  Kind  als  Festmusik  für  allerhand  Schulfeiern  eingedrillt  wird!  Man 
bringe  den  Kindern  durch  die  Art  des  Unterrichts  bei,  daß  ihr  Gesang 
nur  eine  gesteigerte,  gefühlsreichere  Sprache  ist,  lasse  sie  deshalb  nur 
singen,  was  sie  fühlen  können  und  was  echt  gefühlt  ist,  also  vor  allen 
Dingen  Volkslieder    und   Choräle,    und  wecke   das   Gefühl    dafür,    daß   die 


ni.  Die  Zukunft  der  musikalischen  Kultur.  ^^q 

Kunst  eine  Macht  ist,  deren  ethische  Kraft  auch  der  schlichte  Mensch  aus 
dem  Volke  in  vielen  Lebenslagen  erproben  kann. 

Außerhalb  der  Schule  sind  alle  die  Bestrebungen  zu  fördern,  die  chorgesang. 
dieser  Art  Kunstpflege  gewidmet  sind,  also  vor  allen  Dingen  alle  Chor- 
vereinigungen. Denn  das  Wichtigste  ist,  daß  der  Mensch  nicht  bloß  für 
Geld  Musik  hört,  sondern  selbst  mit  hilft,  künstlerisch  tätig  zu  sein;  das 
aber  kann  er  am  besten  im  Chor.  Daneben  ist  allem  häuslichen  Musi-  »..nsmi.sik. 
zieren,  das  nicht  auf  selbstgefälliges  Sichproduzierenwollen  hinausläuft, 
segensreiche  Pflege  zu  wünschen.  Vor  allen  Dingen  aber  hätten  die  vielen 
Tausende  von  Musiklehrern  dafür  zu  sorgen,  daß  alle  ihre  Schüler  nur 
gute  Musik  und  nur  solche  treiben,  die  ihrem  geistigen  Bildungsgrad  ent- 
spricht. Es  nutzt  nichts,  Wagner  Leuten  vorzusetzen,  die  die  inneren 
Mächte,  die  in  dieser  Kunst  leben,  nicht  verstehen,  weil  sie  nicht  die 
ganze  moderne  Kultur  in  sich  aufgenommen  haben.  Man  soll  überhaupt 
die  Massen  viel  weniger  zum  Fortschritt  treiben  als  zur  Bewahrung  aller 
der  großen,  alten  Kunst,  die  Lebensdauer  hat.  In  unserer  raschlebigen 
Zeit  verlischt  vieles  rasch,  was  schön  erscheint  und  blendet;  und  die  Zeit, 
die  der  Laie  darauf  verwendet,  es  kennen  zu  lernen,  ist  nutzlos  verbracht. 
Unsere  modernen  Komponisten  freilich,  die  ja  mehr  auf  ihren  Erfolg  als  SensatioMsucht. 
auf  die  Kultur  des  Volks  bedacht  sind,  und  die  ihnen  befreundeten  Kri- 
tiker verbreiten  die  falsche  Lehre,  die  wahre  moderne  Kultur  bestehe 
darin,  immer  neuen  Sensationen  nachzugehen,  d.  h.  jede  Modetorheit  mit- 
zumachen. Durch  diesen  Irrtum  ist  leider  ein  gxites  Stück  deutscher 
Musikkultur  verloren  gegangen,  denn  diese  Modeexperimente  sind  nicht 
Ausdruck  eines  allgemein -gültigen  oder  besonders  tiefen  menschlichen 
Fühlens,  sind  keine  wahre  Sprache,  sondern  Spielereien  mit  gefühlsarmen 
Wortscherzen;  und  über  dem  Kultus  dieser  Artistenkunst  ist  der  Sinn  für 
die  großen  Wahrheiten  tiefer,  wenn  auch  schlichterer  Kunstwerke  bereits 
vielfach  verloren  gegangen. 

Kulturwert  hat  nur  eine  Kunst,    die   aus   dem  Leben   des  Volkes  er-     Grunjuge 
wächst  und  diesen  Nährboden  nicht  verläßt;  Kulturwert  hat  nur  eine  Musik,  Tis.hor  k."^1„t' 
die  dem  Urgründe  alles  Musikalischen  treu  bleibt,  die  Sprache  und  Aus- 
druck  eines  wirklich   Empfundenen  bleibt  und    aus    dem  Bedürfnisse  ge- 
boren ist,  diesem  tief  Gefühlten  den  einzig  möglichen  Ausdruck,  nämlich 
in  Tönen,  zu  geben. 

Möge  der  Weg  zu  dieser  Art  Musik  und  zu  der  mit  ihr  zu  gewinnen- 
den Höhe  geistiger  Kultur  immer  von  denen  gekannt  werden,  die  dahin 
Führer  oder  Pilger  sein  sollen. 


Die  Kultur  ukr  Gbgbswakt.    I.  i.  29 


Literatur. 

Die  meisten  allgemeinen  Geschichtswerke  und  Musikgeschichten  behandeln  mehr  oder 
weniger  ausführlich  auch  die  Kulturbedeutung  der  Musik.  Ebenso  finden  sich  in  den 
Schriften  von  Philosophen  ältester  und  neuester  Zeit  viele  Gedanken  zu  diesem  Thema. 
Aus  zeitgenössischen  Briefwechseln  ist  auch  mancherlei  für  die  Beurteilung  der  musikalischen 
Kultur  des  betreffenden  Zeitabschnittes  zu  entnehmen. 

Einzelne  Schriften  besonders  hervorzuheben,  würde  bei  der  Allgemeinheit  des  Themas 
und  der  Fülle  des  weitverstreuten  Materials  ein  falsches  Bild  ergeben.  Für  eingehendere 
Untersuchungen  wären  außer  den  Schriften  und  Briefen  von  Musikern  auch  die  zahlreichen 
musikalischen  Zeitungen  —  wenn  auch  mit  Vorsicht  —  als  Hilfsmittel  zu  benützen. 


DAS  THEATER. 

Von 
Paul  Schlenther. 


I.  Religiöse  Ursprünge  des  Theaters.  Das  Theaterspiel  ist  ein 
Kind  des  Gottesdienstes.  Fast  immer  stieg  im  Laufe  der  Kulturentwick- 
lung aus  heiligen  Handlungen  die  dramatische  Kunstübung  zu  ihren  steilsten 
Höhen  empor.  Aus  dem  Opfertische  des  Bakchos  entstand  das  attische 
Schauspielhaus  (Theatron).  Aus  dithyrambischen  Chorgesängen  derer,  die 
zu  diesem  Gott  des  Weines  und  der  Weltlust  lallten,  entstanden  in  Athen 
Komödie  und  Tragödie. 

Ein  anderes  Mal  war  es  kein  weltfroher  Heidengott,  sondern  die  Unterg-ing  dea 
christliche  Kirche  selbst,  die  dem  zerstörten  1  heaterwesen  wieder  einen 
Grund  legte.  Das  lebendige  Kunsttheater  hellenischer  Größe  war  ver- 
sunken, auch  seine  kümmerlichere  römische  Nachahmung'  nahezu  ver- 
schollen. Aischylos,  Sophokles,  Euripides,  Aristophanes  waren  ein  Jahr- 
tausendlang Namen  ohne  Begriff.  Terenz,  Plautus,  Seneca  lebten  nur 
durch  den  toten  Buchstaben  ihrer  Handschriften  in  stillen  Klosterzellen 
fort,  und  es  klingt  wie  ein  Wunder,  wenn  man  hört,  daß  sich  im  lo.  Jahr- 
hundert die  einsame  Nonne  von  Gandersheim  theaterfromd  an  Nach- 
bildungen der  Terenzischen  Muse  vergnügte.  Es  galt  als  ausgemacht, 
daß  die  wenigen  aus  dem  Altertum  erhaltenen  Stücke  für  die  Lektüre, 
höchstens  für  die  V'orlesung  eines  einzelnen  Sprechers  bestimmt  waren. 
Daß  diese  Stücke  Theaterstücke  waren  und  einer  Schauspielkunst  zu 
dienen  hatten,  blieb  unbeachtet.  Der  bühnenfeindliche,  darum  kunstfeind- 
liche Begriff  des  Buchdramas,  des  „kielkröpfigen"  Lesedramas,  wie  Wila- 
mowitz  sagt,  nistete  sich  so  fest,  daß  er  noch  heute  nicht  auszurotten  ist. 

Weitab  von  solchen  gelahrten  Exerzitien  nährte  sich  der  Menschen  spiciicuir. 
angeborener  Spieltrieb,  der  Trieb  zu  Vortrag,  Wechselrede,  Verkleidung 
und  handelnder  Bewegung.  Während  die  alten  Theaterdichter  im  Schutt 
lagen,  befriedigte  fahrendes  Volk  diesen  Trieb.  Es  waren  die  Erben  spät- 
römischer Gaukler.  Sie  rissen  an  den  Höfen  und  bei  städtischen  Lestlich- 
keiten  Possen  tausenderlei  Art,  und  unter  diesen  Varietekünsten  dürften 
schauspielerische  Effekte,   wie  Nachahmung  von  Personen,  Charakteristik 

29* 


,,,  Paui.  Scht.knthf.r:  D.is  Theater. 

durch  Mienenspiel,  Stimmenwochsel  und  Maske  nicht  gefehlt  haben,  aber 
sie    frönten    der    niedrigsten    Schaulust    und    schlössen    ihre    Produktionen 
weder    durch   Form    noch    durch  Tendenz    zu    einem    einheitlichen  Ganzen 
zusammen. 
Gottesdienst.  Erst  an  Gottes  Altären  durch  Diener  Gottes  heiligte  ein  Zweck  diese 

volkstümlichen  Mittel,  Teilnahme  zu  erregen.     Langsam  ordnete   sich  das 
Wirrsal    willküriichen    Schaugepränges    und   Marktgeschreis    zu    einer   ge- 
wissen Gesetzmäßigkeit  innerhalb  bestimmter  Maße  und  Grenzen.    Im  litur- 
gischen Dienst  entwickelte  sich  aus  der  Predigt  ein  Wechselgesang  zwischen 
Priestern    und    Gemeinde    oder    zwischen    zwei    Gruppen    der    Gemeinde. 
Diese   Ansätze    zum    szenischen   Dialog    wurden    dadurch    dramatisch    ge- 
steigert,   daß    sich    der    dialogische   Hymnus    mit  Prozessionen    und   Zere- 
monieen  (Grablegung)  verband.    Es  galt  nicht  nur  Andächtige  in  feierUcher 
Stimmung  zu  halten,  sondern  auch  Gleichgültige  und  Widerspenstige  durch 
äußere  Reizmittel  herbeizuzwingen,    durch  die   Sinne  auf  den  Glauben   zu 
wirken.     Es    war    ein    genialer   Einfall    der   mittelalterUchen    Kirche,    die 
Menge    durch    ihren   Spieltrieb    ins   Gotteshaus    zu    rufen,    die  Bilder,   die 
an    den   Kirchenwänden    hingen,    in    lebendige  Bewegung    zu    setzen    und 
dadurch  ihre  Vorgänge  anschaulicher,   glaubhafter,   überzeugender   zu  ge- 
stalten.    Dieser  propagatorische  Zweck,  der  den  attischen  Dionysosspielen 
vollkommen  fehlte,    wurde  seit  dem   12.  Jahrhundert   überall   erreicht,    wo 
geistliche  Kultur  hindrang:  in  Italien,  in  Frankreich,  in  England,  in  Deutsch- 
land.    Wie   in  Attika  aus   den  Komois    die   Komödie   entstanden  war,   so 
Geistliche     entstanden  auch  hier  aus  feieriichen  Umzügen,  dargestellt  von  Priestern  und 
Spiele.       Klosterschülern,   geistliche  Spiele,    denen   man  den  Zauber  der  Seltenheit 
dadurch    lieh,    daß    man    sie    auf   die  großen  Feiertage  beschränkte.     Die 
Kirchenfeste  mehrten  die  Macht  der  Kirche,  weil  sie  nicht  nur  sammelten 
und   erbauten,   sondern  auch  zerstreuten  und  erfreuten.     Zunächst  trat  nur 
das    Leben    des    Heilands    selbst    in    die    Darstellung.      Man    sah    um    die 
Weihnachtszeit   das  süße  Jesulein  im  Schöße  der  Gebenedeiten,   umgeben 
von  den  Hirten  oder  von  den  prächtig  daherwallenden  drei  Königen;  man 
sah    zu  Ostern    den    Leichnam   Christi    beweint    von   Frauen    und   Jüngern 
und  dann  ihn  auferstehen  in  seiner  Macht  und  Herrlichkeit,  die  sich  schon 
zu  kleinen  Ausstattungskünsten    hergab.     Nicht    nur    die  Geburt,    sondern 
auch    das    Grab    des    Erlösers    bereitete    durch    diese    Spiele    Freude    auf 
Erden;    denn   bloße  Trauerspiele,    bloße  Tränenwirkungen    hätten    auf   die 
Dauer  versagt.     Das  Volk  will  auch  jubeln.     Mit  der  Zeit  erweiterte  sich 
der  Kreis.     Des   Glaubens   liebstes  Kind    ward    und    blieb    durchs    ganze 
Mittelalter  das  Marienmirakel.     Eine  bunte  Fülle  von  Licht  und  LiebUch- 
keit  strömte  vom  Ewig-Weiblichen  herab.     Zu  Christus,  dem  dramatischen 
Haupthelden,  und  seiner  Mutter  traten  die  Heiligen;  ihre  Legenden  gaben 
genug    Stoff,    der    nicht    nur    auf   Herz    und    Geist    wirkte,    sondern    auch 
die   Sinne  reizte.     Um   den  Eindruck  zu  stärken,   wurde   alles  so   augen- 
fällig  wie    möglich   vorgeführt.     Mit   Botenberichten,    Chorbetrachtungen, 


I.  Rcli^ösc  Ursprünge  des  Theaters.  ^  c  5 

geistigen  Diskursen,    wie    sie   das    antike    Drama    liebte,    durfte    man    die 
GafFlust  dieses  Publikums    nicht  abspeisen.     So    gewannen   die   religiösen 
Schauspiele    aus    ihrer    Tendenz    heraus    eine     stark    realistische    Farbe, 
wodurch    sich    ihre    dauerhafte    Wirkung    erklärt.      Je    breiter    aber    das 
Publikum    zuströmte,    um    so    unzulänglicher    erwies    sich    das    Kirchen- 
latcin    dieser    Anfangsdramatik.     Für    entlegenere    Stoffe    konnte    nur    die 
Volkssprache  das  Verständnis  öffnen.     Je  weiter  sich  das  Stoffgebiet  von 
Bethlehem  und  Golgatha  entfernte,  desto  freier  wurden  Wort,  Tracht,  Ge- 
bärde, Handlung.     Der  derbe  Volkswitz  drängte  sich  zu,  der  mit  Vorliebe 
den  bösen  Teufel  zu  einem  dummen  oder  armen  Teufel  umschuf  und  den 
Judas  Ischarioth  antisemitisch  verhöhnte.     Zur  Andacht  trat  der  Übermut, 
zur  Feierlichkeit  der  Schimpf,  zum  Hymnus  die  Vagantenpoesie,  zum  Er- 
habenen das  Tächerliche,  dem  Unterhaltenden  wich  das  Erbauliche.    Unter 
*die  priesterliche  Saat   schien   der  Erzfeind,  vielleicht  ein   Sendbote   jenes 
schwelgerischen    Heidengotts,    sein    heimliches    Samenkorn    geworfen    zu 
haben.     Die  Kirchen    wurden    nicht    nur    zu    klein    für    den   Andrang    der 
Menge,   sondern  auch   in    ihrer  Würde  bedroht.      Denn   schon    zeigte   sich, 
daß    das  Publikum    lieber    auf   die  Sünden    als    auf  die  Buße  Marias   von 
Magdala  einging.     Schon  wurde   beklagt,    daß    diese    spectacula  theatrica 
Teufelswerke    seien    und    das    Gotteshaus    entweihten,    daß    sie    zu    Aber- 
glauben   und    Weltlust     entarteten.      Die    alte    unerloschene    Feindschaft 
zwischen  Theater  und  Mutter  Kirche   hub   an,   das  Drama  wurde  vor  die 
Kirchentür  gesetzt.     In   der  frischen   freien  Luft  konnte  es  erst  zu  selbst- 
ständiger Bedeutung  erstarken.     Während  sich  der  erregte  Spieltrieb  des 
Klerus  unter  strenger  Aufsicht  aus  den  Kirchen  in  die  Klöster  zurückzog 
und    dort    dem    spätem    Schuldrama    den    Boden    ebnete,    warf    sich    die 
Theaterpassion   der  Massen  auf  Markt  und  Straße.     Jetzt  erst  wurden  die 
rechten    Vorbedingungen    zu     einer    Entwicklung    frei.      An    Stelle     des 
Kirchengesangs  trat  die  freie  gesprochene  Rede.    An  Stelle  des  Kirchen- 
latein   traten    die  Volkssprachen,    und    so    zeigten    sich    immer    deutlicher 
nationale    Unterschiede.      Aus    dem    allgemein    mittelalterlich  -  mitteleuro- 
päischen Drama  in  den  Kirchen  wurde    ein    französisches,    ein    deutsches, 
ein    italienisches,    ein   englisches,    ein    spanisches  Volksdrama    und  Volks- 
theater.     Den    kirchlichen    Ursprung   freilich    konnten    diese    Schauspiele 
während  des    ganzen  Mittelalters    nicht  verleugnen.     Noch    immer   trugen 
die  Darsteller  priesterhches  Gewand.     Wieweit  sie  von  Laien  unterstützt, 
oder  wann   sie   von  Laien   verdrängt  wurden,   ist  bei   der  Dunkelheit  des 
geschichtlichen    Befundes    nicht    klar.      Noch    immer    lieferten    Bibel   und 
Legenden    den    Stoff.     Er   war   am  willkommensten,  weil    er    dem   Publi- 
kum, wie  den  Grriechen  ihre  Heldensage,  am  geläufigsten  blieb.     Solange 
die   volkssprachlichen  Dramen   unter  geistlicher  Herrschaft  standen    (etwa 
bis  1400),  bildete  sich  auch  für  die  Darstellungskunst   ein  Unterricht  aus. 
Im  ältesten  französisch  geschriebenen  Drama,  einem  Spiel  von  Adam  und 
Eva,   finden  sich  schon  Regeln  für  Vortrag   und  Geste.     Die  beiden  Ver- 


^-4,  Paih.  Schi.knthhr:  Das  Theater. 

Iricbenen  sollen  mit  kläglicher  Gebärde  auf  ihr  verlorenes  Paradies  zurück- 
blicken und  sich  an  die  Brust  schlagen.  Wenn  der  Mann  dem  Weibe 
die  Schuld  gibt,  soll  er  höchst  mißbilligend  den  Kopf  schütteln.  Wenn 
von  den  Söhnen  dieses  Paares  der  Bruder  den  Bruder  erschlägt,  so  soll 
er  auf  das  Opfer  einen  finstern  Blick  werfen.  Diese  Anweisungen 
stehen  im  Beginn  einer  dramaturgischen  Regiekunst,  deren  intimer 
t'harakler  durch  die  weitere  Entwicklung  des  Dramas,  das  nach  Gassen- 
iind  Massenwirkungen  strebte,  nicht  gefördert  wurde. 

II.  Spiele  im  Mittelalter.  Im  späten  Mittelalter  präsentierte  sich  das 
Drama  als  öffentliche  Festlichkeit  auf  öffentlichen  Plätzen  aufblühender 
Städte.  Tagelang  wurde  gespielt.  Die  Spieler  zählten  nach  Hunderten.  Be- 
hörden und  Bürger  nahmen  gleich  regen  Anteil.  Die  großen  Gemeinwesen 
setzten  einen  Stolz  darein,  bei  diesen  Gelegenheiten  an  Entfaltung  von  Macht 
Myn»ri.,i.  und  Pracht  einander  zu  überbieten.  Für  diese  großen  Spiele  wurde  von  Frank- 
reich her  im  15.  Jahrhundert  der  Name  Mysterien  (eigentlich  Ministerien)  ein- 
geführt. Die  finanzielle  und  darstellerische  Durchführung  so  großer  umständ- 
licher Unternehmungen,  die  ungeheure  Menschenmengen  herbeilockten,  fiel 
immer  mehr  der  Bürgerschaft  zu.  Aber  als  Textdichter,  die  aus  der  latei- 
nischen Kirchenliteratur  schöpften,  und  als  Regisseure  standen  nach  wie 
vor  an  entscheidender  Stelle  die  Geistlichen.  Je  mehr  die  Ansprüche  an 
derlei  Schaustellungen  wuchsen,  desto  dringender  wurde  das  Verlangen 
nach  Arbeitsteilung.  So  kam  es,  daß  die  einzelnen  Gruppen  der  Dar- 
stellung auf  Zünfte  und  Innungen  verteilt  wurden.  Von  unserm  modernen 
Theater  war  die  Vorführung  weit  entfernt.  Entweder  waren  die  einzelnen 
Vorgänge  der  dramatischen  Handlung  auf  verschiedene  Plätze  verteilt,  so 
daß  der  Zuschauer,  oft  innerhalb  einer  Prozession,  von  Ort  zu  Ort  wan- 
dern mußte,  oder  das  Schaugerüst  war  auf  Räder  gelegt  und  wurde  an 
den  dicht  gedrängten  Zuschauermengen  vorüber  gefahren.  Derlei  beweg- 
liche Mysterienbühnen  verdienten  nicht  minder  als  die  halb  mythische  Unter- 
nehmung des  antiken  Ahnherrn  Thespis  den  Namen  Karren.  Da  die  My- 
sterienbühne drei  Welten  vorstellen  und  den  Zuschauer  vom  Himmel 
durch  die  Welt  zur  Hölle  führen  mußte,  so  war  jene  stockwerkartige  Drei- 
teilung geboten,  die  Otto  Devrient  bei  seinen  Weimarer  Faustaufführungen 
1875  nachzuahmen  versuchte.  Die  Form  der  Bühne  hing'  von  örtlichen 
Zufällen  ab.  In  Bourges  benutzte  man  1536  ein  amphitheatralisches  Über- 
bleibsel aus  der  Römerzeit.  In  Cornwall  baute  man  nach  antikem  Muster 
Amphitheater  aus  Stein  und  Erde.  Mit  geschlossenen  Räumen  begnügten 
sich  nur  die  spärlichen  Reste  des  bescheidenen  Kirchenspiels  älterer  Art. 
Da  Publikum  und  Darsteller  denselben  Kreisen  angehörten,  war 
deis  Bedürfnis  einer  Trennung  nicht  vorhanden.  Erst  später  bediente 
man  sich  eines  Vorhanges,  zunächst  aber  nur,  um  während  der  großen 
Mittagspause  die  einzelnen  Schauplätze  mit  ihrem  Apparat  zu  verschließen. 
1  dieser  Apparat  wurde  immer  komplizierter.    Man  überbot  sich  im  Reich- 


n.  Spiele  im  Mittelalter.  455 

tum  der  Kostüme  sogar  auf  Kosten  der  Richtigkeit:  man  umgab  den 
Landpfleger  Pilatus  mit  majestätischem  Prunk.  Man  unterschied  immer 
raffinierter  den  Glanz  des  Himmels  von  den  Greueln  der  Hölle,  man  er- 
kannte früh  den  Stimmungsreiz  der  Musik  für  Schauspiele.  Hierin  be- 
währte besonders  Italien  seine  alte  Vorliebe  für  bunten  Tand.  An  Aus- 
stattungseffekten übertrafen  die  Florentiner  alles  Dagewesene:  Donner 
rollten,  Blitze  zuckten,  Wolken  jagten,  Drachen  spieen  Feuer,  und  der 
Engel  des  Herrn  erschien  im  himmlischen  Licht.  Schon  der  Hang  zum 
Äußerlichen  genügte,  um  den  geistlichen  Vorgang  dieser  Spiele  immer 
mehr  hinter  allerlei  Weltlichkeiten  zu  verstecken.  Schon  die  Art,  wie 
sie  durch  Herolde  in  Stadt  und  Umgegend  bekannt  gemacht  wurden,  hatte 
etwas  Marktschreierisches.  Hierzu  kam,  daß  sie  sich  mit  der  Zeit  von 
den  großen  Kirchenfesten  lostrennten  und  im  Fasching  oder  in  der  warmen 
Jahreszeit  ein  besonderes  Dasein  führten.  Endlich  arbeitete  ihrer  morali- 
schen Tendenz,  durch  Beispiel  oder  Abschreckung  zu  bessern  oder  beim 
Anblick  der  Leiden  Christi  und  heiliger  Martern  durch  Mitleid  zum 
Glauben  zu  bekehren,  die  überwuchernde  Komik  entgegen,  die  schon  längst 
nicht  mehr  den  Zweck  hatte,  das  Böse  lächerlich  zu  machen,  sondern  Spaß 
des  Spaßes  wegen  trieb  und  angesichts  der  großen  Volksmassen,  die  ihn 
bejubelten,  pöbelhaft  roh  werden  konnte,  z.  B.  körperliche  Gebresten  ver- 
höhnte. 

Was  diese  Spiele  und  Spielereien  an  moralisch  -  religiösem  Zweck 
verloren,  erreichten  sie  keineswegs  durch  künstlerischen  Wert.  In  keinem 
der  Kulturländer  ist  während  des  Mittelalters  ein  Dramatiker  aufgestanden, 
der  mit  dem  Ruck  des  Genies  alle  diese  bunten  Werdekräfte  zu  einer 
einzigen  großen  dichterischen  Erscheinung  hätte  zusammenfassen  können. 
Für  das  Theater  der  Gegenwart  ist  kein  einziges  dieser  Spiele  nennens- 
wert. Die  Weltherrschaft  der  Kirche  vermochte  es,  Gedanken  und  Emp- 
findungen der  ganzen  mittelalterlichen  Menschheit  uniformierend,  auf  der 
Grundlage  derselben  Weltanschauung  und  desselben  Bildungstoffs  ein 
europäisches  Schauspiel  ohne  Unterschied  der  Völker  und  Länder  zu 
erzeugen,  aber  sie  vermochte  keinen  Dante  des  Dramas  zu  schaffen. 
Spuren  einer  dichterischen  Kunst  finden  sich  am  ehesten  dort,  wo  der 
ursprüngliche  Zweck  des  Spiels  am  wenigsten  erreicht  wurde:  im  komi- 
schen Beiwerk.  Hier  kam  den  Autoren  das  dankbarste  Publikum  ent- 
gegen, hier  fanden  sie  die  bereitwilligste  Darstellung,  hier  durften  sie  aus 
dem  Leben  schöpfen.  Hier  machten  sich  zuerst  innerhalb  der  kirchlichen 
Universalität  volkstümliche  Eigenheiten  bemerkbar.  Schon  deshalb  lag 
hier  allein  der  Keim  zur  Fortentwicklung  für  das  lebendige  Theater, 
dessen  konservierende  Kunst  die  Schauspielkunst  ist. 

Von    den    Priestern,    den  Klosterschülem,    später    den    Bürgern    und       Komik. 
Handwerkern  wurde  die  Schauspielkunst  dilettantisch  betrieben.     Erst  im 
späten  Mittelalter  zeigen  sich  auch  bei  den  Mysterien  Ansätze   zu   einem 
berufsmäßigen  und  geschäftlichen  Kunstbetriebe.      Die  Behörden   suchten 


456 


T'Aur.  SiHl.ENTUKK:   Diis  The;>ler. 


die  Summen,   die   sie   zu    den  Spielen  beisteuerten,   durch  Eintrittsgelder 
einzutreiben;  hiervon  gaben  sie  den  Darstellern  ein  Trinkgeld  ab,  wodurch 
sich   die  .Spieler   kleinen    Nebongewinn   verschafften,    der    ihren    Eifer   be- 
flügelte.    Auch   Fremdlinge  bewarben   sich  gegen  ein    Geschenk  um  die 
Mitwirkung.     Es  ist   nicht  unwahrscheinlich,   daß   diese  Fremden  oft  jene 
Spielleute   waren,   die    die   mittelalterlichen   anekdotischen   Schwankerzäh- 
lungen   der    dramatischen    Darstellung    annäherten    und    dann    mit    Hand- 
werksburschen   und    Chorschülern,    mit    Studenten,    Geistlichen,    Rechts- 
gelehrten und  andern  Dilettanten  in  Wettbewerb  traten,  um  endlich  nach 
langem  Ringen  das  aufblühende  Schauspiel  für  sich  und  ihr  Geschäft  zu 
ergattern.     Das  Schauspiel   aber  blühte  durch  die  Komik  auf.     Ihre  fort- 
zeugende Kraft  lag  vor  allem  darin,   daß   sie  das  Schauspiel   vom   engen 
Kreis  heiligen  Stoffes  loslöste  und  —  die  große  Errungenschaft  des  i6.  Jahr- 
hunderts —  dort  hineingriff,  wo  das  volle  Menschenleben  am  heillosesten 
war.     Bei  den  Mysterien  hatte  sich  der  Geist  der  Zeit  nur  darin  geäußert, 
daß  man  in  Galiläa  und  Jerusalem  mittelalterliche  Kostüme  trug;  an  Ver- 
suchen,   das    ernste    Schauspiel    auf   Profanstoffe    zu    übertragen,    hat    es 
zwar    nicht    gefehlt:    Frankreich  kann    eine  „Zerstörung  Trojas",    ja  sogar 
mitten  aus  den  Händeln   der   damaligen   politischen  Welt   hergeholt    eine 
„Jungfrau  von  Orleans"  nachweisen;  aber  diese  vereinzelten  Erscheinungen 
blieben    Spreu    im    Wind.      Eine    feste    Grundlage    gab    dem    weltlichen 
Drama   erst  die    derbe  schwankartige  Komik,   wie   sie  sich  in  den  Nürn- 
berger Fastnachtspielen  eines  Folz,  Rosenplüt  u.  a.,  in  den  Sterzinger  und 
Lübecker  Spielen,  am  üppigsten  und   fruchtbarsten  in  den  Pariser  Farcen 
der    Bazoche    entwickelte.      Durch    diese    Gerichtsschreibergilden    wurde 
Paris  zum   erstenmal  für  das  europäische  Drama  tonangebend;    hier  ent- 
stand schon  1470   ein  dramatisches  Meisterstück  derb-possenhafter  Satire, 
das    erste  mittelalterliche  Theaterstück,   dessen  Name   erwähnenswert  ist, 
dessen  Wortwitz    noch   heute   Flügel   hat   (revenons  ä  ces  moutons),    das 
einen  Reuchlin,   dann  auch  einen  Hans  Sachs  zur  Nachahmung  aneiferte, 
das    die  Tradition    für    eine   europäische    Komödie   begründete   und   noch 
heutzutage  hin  und  wieder  auf  einem  Theater   erscheint.     Dieser    klassi- 
sche „Advocat  Pathelin",  unmittelbar  aus  den  juristischen  Fachsimpeleien 
seiner  Autoren  und  Darsteller  hervorgegangen,  in  unbewußter  Anlehnung 
an  Plautus  diesem  gleich,   steht    zwar   an  Kunst  unerreicht  da,   in  seiner 
Art  jedoch  keineswegs  vereinzelt.    Wie  hier  Juristen  eine  juristische  Satire 
zur  Höhe  brachten,   so   versuchten   sich  anderswo  Studenten  und  Schüler 
durch  komische  Unterrichts-  und  Examenszenen;  der  Bürgerstand  verspottete 
hochmütig  den  Bauernstand;  der  Christ  den  Juden  und  auch  den  Türken; 
der  Laie  den  Pfaffen;  schon  tauchten   überall  die  Tj^en  des  neuen  euro- 
päischen   Lustspieles    auf,    in    denen    sich   besonders    das    Familienleben 
beunruhigt  zeigt:  der  g-alante  Beichtvater,  die  treulose  Ehefrau,  die  Xan- 
thippe,  die  bitterböse  Schwiegermutter,     Und   die    Autoren    waren    noch 
immer   nicht   Literaten,    sondern    Leute,    die    mitten   in  den  öffentlich  ver- 


III.  Renaissance. 


457 


spotteten,  heimlich  bejammerten  Qualen  des  Kleinlebens  steckten,  Qualen, 
die  sich  bis  auf  des  Leibes  Nahrung  und  Notdurft,  Notdurft  oft  im  alier- 
leiblichsten  Sinn,  einengten.  Lange  vor  Hans  Sachs  gab  es  in  Avignon 
schon  einen  Schu.ster,  Jean  Belliete,  der  in  drolligen  Farcen  zu  sagen 
wußte,  was  er  und  seine  Nachbarschaft  leiden. 

Der  alte  Zweck  der  Schaubühne  als  moralischer  Anstalt  wurde  durch  Moraiiisico. 
diese  Schwanke,  die  nur  Schadenfreude,  Zotenlust  und  Gelächter  ent- 
fesselten, nicht  mehr  erreicht.  Dazu  diente  eine  andere,  den  Mysterien 
entwachsene  Gattung,  die  jenen  Zweck  schon  im  Namen  deutlich  ver- 
kündete. Es  waren  die  im  Übergange  vom  Mittelalter  zur  Reformations- 
zeit stehenden  „Moralitäten",  worin  Laster  und  Tugenden  allegorisch  als 
Personen  in  reichen  Gewändern  auftraten  und  einander  mit  Gründen 
höherer  oder  niedrigerer  Vernunft  befehdeten,  und  die  ähnlich  wie  die 
Mysterien  aufgeführt  wurden,  aber  auch  bei  fürstlich-feierlichen  Anlässen, 
weniger  durch  das  gesprochene  Wort  als  durch  prunkhafte  Ausstattung, 
zur  Verherrlichung  dienten  und  bis  in  die  Gegenwart  herein  eine  Tra- 
dition für  Festspiele  und  Gelegenheitsstücke  einrichteten.  Die  Gattung 
der  „Moralitäten"  selbst  mußte  sich  freilich  früh  erschöpfen,  denn  sobald 
die  Allegorie  in  Mode  kommt,  legt  sich  die  lebendige  Poesie,  von  der 
allein  das  Theater  atmen  kann,  aufs  Sterbebett.  Da  man  aber  diese 
Moralitäten  überaus  sehenswert  ausstattete  (sogar  Lionardo  da  Vinci  hat 
1489  in  Mailand  dem  Apparat  einer  allegorischen  Szenerie  seine  Kunst 
gewidmet)  und  dem  Auge  Bedeutendes  darbot,  konnte,  bestärkt  durch 
jene  üppige  Schwankproduktion,  die  „moralische  Anstalt"  als  Schaubühne 
wachsen.  Während  in  den  Studierstuben  der  Gelahrtheit  die  wirklichen 
Dramatiker  des  Altertums  ein  papiernes  Scheindasein  führten  und  nur  der 
Moralphilosophie  oder  der  Grammatik  dienten,  hielt  ein  derb  zugreifender, 
wenig  wählerischer  Geschmack  das  Haus  bereit,  worin  die  wiedergeborene 
dramatische  Dichtung  zur  dramatischen  Kunst  erwachen  und  erwachsen  konnte. 

IIL  Renaissance.  Erst  durch  die  frühen  Vertreter  der  Renaissance 
wurden  jene  Fäden  gesponnen,  die  unser  modernes  Drama  vom  antiken  ab- 
hängig machten.  Eine  ununterbrochene  Kette  der  Entwicklung  vom  einen 
zum  andern  gibt  es  nicht.  Wenn  es  den  Humanisten  gelang,  das  antike 
Drama  wenigstens  so,  wie  sie  es  begriffen  oder  mißverstanden,  der  Nachwelt 
zu  vermachen,  so  war  die  antike  Bühne  bis  auf  den  letzten  Grund  unwieder- 
bringlich zerstört.  Mit  dem  modernen  Theater,  das  sich  ganz  aus  eigenen 
Bedingungen  aufbauen  mußte,  hat  sie  nur  den  Namen  gemeinsam.  Darum 
muß  .sich  das,  was  wir  vom  attischen  Drama  auf  unser  modernes  Theater 
retten  möchten,  der  Form  unserer  eigenen  Bühne  unterwerfen.  Nur  so 
ist  eine  dauerhafte  Wirkung  der  großen  alten  Tragiker  in  die  Zukunft 
hinaus  denkbar.  Alle  Versuche,  den  antiken  Theaterbau  wieder  nutzbar 
zu  machen,  werden  scheitern,  weil  sie  nicht  dem  unmittelbaren  leben- 
digen Kunstbedürfnis  dienen,  sondern  archaistischen  Forschungsinteressen. 


,-fi  Paui,  Schlenthkk:  Das  Theater. 

Aber  jene  Übergangszeil  vom  Mittelalter  zur  Renaissance  war  auch  von 
den  Dichtungen  des  Euripides,  Sophokles  und  Aischylos,  die  im  15.  Jahr- 
hundert nur  in  den  Handschriften  italienischer  Bibliotheken  existierten, 
noch  weit  entfernt.  Man  wußte  noch  immer  nicht,  was  eine  Tragödie  sei! 
■ir:iBö,iic.  Diese  gToße  Entdeckung  stand  nicht  nur  dem  neueren  Theater,  sondern 

auch  der  neueren  Literatur  noch  bevor.  Die  römischen  Epigonen  der 
attischen  Komödie  waren  zwar  der  mittelalterlichen  Bühne,  aber  nie 
der  mittelalterlichen  Literatur  ganz  entschwunden.  Während  sich  in 
Italien  nach  den  Mustern  des  Terenz  und  Plautus  eine  comoedia  erudita 
auch  die  Bühne  zu  erobern  begann,  erwachte  langsam  in  den  feinsten 
Geistern  zunächst  erst  eine  Sehnsucht  nach  den  verlorenen  tragischen 
Schätzen.  Schon  zu  Dantes  Zeit  hat  der  Paduaner  Mussato,  der  Ver- 
fasser der  ersten  neueren  Tragödie,  die  sich  von  der  antiken  Ästhetik 
berührt  fühlte  und  zu  ihr  hinstrebte,  es  beklagt,  daß  er  sich  nur  nach 
den  lateinischen  Mustern  habe  richten  können,  nicht  nach  den  Tragödien 
des  Sophokles,  den  er  nur  aus  Zitaten  kannte,  dessen  höheren  Wert  er 
aber  witterte.  Dieselbe  Sehnsucht  nach  den  still  geahnten  tiefsten  Quellen 
der  dramatischen  Poesie  empfand  Petrarca.  Er  stellte  Euripides  nach 
dem  Wenigen,  was  er  von  ihm  wußte,  dicht  hinter  Homer;  als  ihm  sein 
griechischer  Lehrer  Handschriften  des  Sophokles  und  Euripides  aus 
Byzanz  mitbringen  sollte  und  auf  der  Rückfahrt  in  der  Adria  Schiffbruch 
gelitten  hatte,  zitterte  Petrarca  weniger  für  seinen  Freund  als  für  Euri- 
pides und  Sophokles.  Und  dem  er  diese  Sorgen  anvertraute,  war  Boc- 
caccio. Petrarcas,  wohl  auch  Boccaccios  dichterisches  Genie  fühlte  aus 
den  spärlichen  Überresten  heraus,  daß  hier  eine  Größe  lag,  von  der  der 
Allerweltklassiker  Seneca  kaum  den  Schatten  gab.  Das  wurde  allmählich 
klarer,  seitdem  in  den  ersten  Jahren  des  i  ö.  Jahrhunderts  die  ersten  Buch- 
ausgaben von  Sophokles  und  Euripides  erschienen  und  Erasmus  von  Rotter- 
dam einige  dieser  Stücke  in  lateinischer  Sprache  veröffentlichte.  Und  doch 
nannte  noch  der  erste  Herausgeber  des  Euripides  diesen  mit  Geringschätzung 
den  Sohn  eines  Gemüseweibes,  der  seine  Tragödien  in  einer  scheußlichen 
finstern  Höhle  schrieb,  und  errichtete  daneben  dem  Seneca  ein  herrliches 
Postament.  Seneca  war  der  einzige,  der  Praxis  und  Theorie  des  Trauer- 
spiels aus  dem  Altertum  übermittelt  hatte.  Er  galt  als  Kanon  und  Norm. 
Da  seine  Dramen  sich  nur  zum  Lesen  und  Vorlesen  eigneten,  so  wurde  die 
ganze  Gattung  der  Tragödie  für  theaterfremd  gehalten.  Auch  Petrarca 
blieb  im  Bann  dieses  unglücklichen  Irrtums;  auch  sein  Genius  konnte 
und  wollte  die  verderbliche  Kluft  zwischen  Drama  und  Bühne  nicht  über- 
brücken. Das  Drama  stand  ihm  hoch,  die  Bühne  stand  ihm  niedrig;  die 
Bühne  schien  ihm  des  ernsten  Dramas  nicht  würdig,  denn  sie  galt  ihm 
als  der  wüste  Tummelplatz  verächtlichen  Gauklergesindels.  Wie  Dante 
sah  auch  er  in  den  Lustigmachern  Schmarotzer,  die  dem  ernsten  und 
strengen  Dichter  schweren  Schaden  zufügen,  weil  sie  den  Großen  und 
Reichen  dieser  Welt   die  Zeit  vertreiben,  den  Geschmack  verderben  und 


III.  Renaissance.  ^^y 

ihre  Gunst  der  hohen  Literatur  abspenstig  machen.  Wirklich  war  die 
Lu.st  am  dargestellten  Spaß  an  den  Höfen  und  in  den  Palästen  größer  als 
der  Respekt  vor  dem  ßuchdrama.  Jener  erheiterte,  dieses  ermüdete.  Die 
Partie  stand  so  ungleich,  daß  auch  die  erlesensten  Geister  der  italieni- 
schen Renaissance  zu  diesem  heiter -bösen  Spiel  endlich  gute  Miene 
machten  und  ihr  eigenes  Schaffen  dadurch  anregen  ließen.  Während  die 
IVagödie  im  Staube  der  Gelehrtenstuben  ein  aschgraues  Mottenleben 
fristete,  traten  Männer  wie  Machiavell,  Ariost,  Tasse,  Bruno,  deren 
Größe  ganz  anderswo  lag,  gelegentlich  auf,  um  die  Künste  der  Spaßvögel 
durch  Bessermachen  zu  bekämpfen,  teils  durch  Schöpfung  neuer  Gattungen, 
wie  des  Schäferspiels,  aus  dem  dann  die  Oper  hervorging,  teils  im  Wettstreit 
um  die  Palme  des  Plautus,  der  um  die  Mitte  des  Quattrocento  auf  italienisch 
ins  Licht  trat.  Der  erste,  der  einige  dieser  Übersetzungen  aufführen  ließ, 
Herkules  von  Este  in  Ferrara,  wurde  dafür  von  den  Humanisten  als  Erneuerer 
des  lateinischen  Theaters  löblich  besungen.  Wenn  auf  diese  Weise  ein  dem  Komödie. 
„Advokaten  Pathelin"  gleichwertiges  Meisterwerk,  wie  die  „Mandragola"  des 
Machiavell,  gelingen  konnte,  so  geschah  es,  weil  sie  klassizistische  Bildung 
durch  die  lebendige  Tradition  der  mittelalterlichen  Schwanke  befruchten 
ließ.  Der  Vater  der  Mandragola  und  ihrer  Gefolgschaft  war  jener  römische 
Komiker,  der  den  Liebling  Hroswithas  und  aller  mittelalterlichen  Ge- 
lehrtenstuben durch  Saft  und  Kraft  ausstach  und  den  aristophanischen 
Geist  Machiavells  sogar  zum  attischen  Großmeister  der  Komödie  hin- 
leitete; die  Mutter  dieser  neuen  Lustspiele  jedoch  war  der  Volksschwank, 
dem  seit  den  Römerzeiten  italischer  Boden  nie  untreu  geworden  war. 
Das  italienische  Lustspiel  hätte  sich  ohne  plautinische  Einwirkung  nicht 
über  die  mittelalterlichen  Possen  erhoben,  aber  es  hätte  ohne  diese 
Possen  nicht  aus  dem  Mutterschoß  der  heimatlichen  Erde  jene  ur- 
wüchsige Kraft  gesogen,  die  es  fähig  w-erden  ließ,  Bilder  des  eigenen 
Weltlebens  zu  bieten  und  für  die  Kultur  der  eigenen  Zeit  Dokumente 
zu  hinterlassen.  Ein  großer  Schritt  zu  diesem  Ziel  war  die  Wahl  der 
realistischen  Prosa.  Ziemlich  weit  vorgeschritten  treffen  wir  auf  diesem 
Weg  in  die  Zukunft  den  satirischen  Humor  Ariosts,  der  sich  in  seinen 
„Suppositi"  zu  Plautus  verhält,  wie  sich  Plautus  zu  Menander  mag 
verhalten  haben.  In  den  Ansprachen,  mit  denen  Ariost  selbst  als  äußerst 
tüchtiger  und  tätiger  herzoglich  ferraresischer  Hofdramaturg  seine  Spiele 
einleitete,  verteidigt  er  die  Prosa  als  den  natürlichsten  Ausdruck  des  mensch- 
lichen Verkehrs  und  verherrlicht  begeistert  „Muttersprache,  Mutterlaut", 
Während  das  neuere  europäische  Lustspiel,  das  hier  an  die  fröhliche 
Sonne  trat,  im  Dialog  die  volkstümlichen  Traditionen  des  Mittelalters 
übernahm,  bildete  es  seine  Komposition  nach  der  klassizistischen  Kunst- 
technik: der  Stoff  wurde  in  fünf  Akte  eingeteilt  tind  hatte  eine  Verwick- 
lung und  eine  Entwicklung  nicht  nur  der  Ereignisse,  sondern  auch  der 
handelnden  Personen.  Es  lag  im  Zuge  der  neuen,  vom  antiken  Geist  be- 
wegten Zeit,  daß  man  auch  auf  der  Bühne  vom  Allgemeinen  zum  Indivi- 


460 


Paul  Schlenther:  Das  Thcalcr. 


duellcn  t'ortschritt,  und  innerhalb  der  alten  Typen  sich  die  Charaktere  an- 
fingen voneinander  zu  unterscheiden.  Darin  war  der  große  Menschen- 
kenner Machiavell,  den  in  der  lernbaren  Technik  Geringere  übertrafen, 
Meister.  Es  war  ein  entscheidendes  Beispiel  für  die  Kunst,  lebendige 
Menschen  darzustellen,  daß  Machiavell  auch  eine  Komödie  des  Plautus 
in  italienische  Prosa  übertrug  und  die  Handlung  aus  dem  alten  Rom  in 
sein  neues  Florenz  verlegte.  Was  ein  Stück  durch  solche  Ummodelung 
an  Stil  verliert,  gewinnt  es  meist  an  Bühnenfähigkeit.  Darum  werden 
kluge  Theaterpraktiker  immer  wieder  ältere  Muster  in  dieser  Weise 
mundgerecht  machen,  und  nach  einiger  Zeit  werden  immer  wieder 
feine  Kritiker  diese  Gewalttaten  als  blutige  Barbarei  brandmarken.  Der 
Vorgang  wiederholt  sich  oft  in  der  Theatergeschichte.  Vielleicht  läßt 
sich  mancher  fremde  oder  entfremdete  Dramatiker  nur  dadurch  der 
lebendigen  Bühne  zurückerobern,  daß  man  ihn  zunächst  banalisiert  und 
popularisiert.  Mancher  Bühnenfrevel  an  der  Literatur  erhält  aus  der 
Erwägung,  daß  auch  Ballhom  Eroberer  w^erden  kann,  seine  dramatur- 
gische Rechtfertigung.  Noch  näher  als  sonst  im  Leben  liegt  beim 
Theater,  diesem  gesteigerten  Leben,  die  Teufelskralle  neben  dem  Engels- 
fittich. Auch  in  jener  Werdezeit  führte  das  kunstfördernde  Individualitäts- 
bedürfnis zum  pamphletischen  Mißbrauch,  im  bürgerlichen  Lustspiel  stadt- 
bekannte Persönlichkeiten  zu  kopieren,  einem  Mißbrauch,  der  sich  freihch 
auf  das  Beispiel  des  Aristophanes  berufen  konnte.  Und  es  dauert  beim 
Theater  nie  lange,  so  hat  den  Engelsfittich  die  Teufelskralle  zerfedert. 
Auch  damals  dauerte  es  nicht  lange,  so  rostete  und  frostete  die  comoedia 
erudita  ein.  Der  Reiz  der  Neuheit  schwand.  Die  starken  Geister  traten 
ab,  in  den  Händen  der  Macher  blieb  die  Schablone.  Es  ist  bezeichnend, 
daß  der  Naturforscher  Salviani  seiner  einzigen  Komödie  die  geistreiche 
Entschuldigung  voranschickte,  sie  sei  unliterarisch  und  nur  für  die  Bühne 
bestimmt,  wo  Messing  ebenso  glänze  wie  Gold.  Dieser  Schöngeistsdünkel 
gegenüber  der  Bühnenkunst  wiederholt  sich  immer  wieder.  Noch  jetzt 
stößt  man  bisweilen  auf  Hochgebildete,  die  versichern,  daß  ihnen  ein  Stück 
Shakespeares  bei  der  häuslichen  Lektüre  viel  höhere  Freuden  bereite  als 
auf  der  Bühne;  mich  beschleicht  dabei  jedesmal  die  Mutmaßung,  daß 
auch  zu  Hause  Shakespeare  fein  auf  dem  Bücherbrette  bleibt.  Nur  ist 
es  bequemer,  ihn  im  stillen  Kämmerlein  nicht  zu  lesen  als  drei  oder 
conimedia  vicr  Stundcu  im  Theater  zu  sitzen.  Dennoch  ist  es  nicht  immer  ein 
Schade  für  die  Schauspielkunst,  daß  zeitweise  die  hohe  Bildung  ihr 
ferne  bleibt.  Denn  nur  durch  Flegeljahre  kann  sie  sich  verjüngen.  Es 
war  kein  Schade,  daß  in  Italien  im  Cinquecento  hinter  der  abgebleichten 
comoedia  erudita  mit  struppigem,  wohl  gar  etwas  verlaustem  Lockenhaar, 
aber  mit  Erdbeerwangen  und  funkelnden  Augen  ein  wildes  Volkskind  in 
die  Arena  sprang.  So  sicher  Können  im  Theater  mehr  zu  schaffen  hat 
als  Wissen,  so  sicher  war  die  neu  beginnende  commedia  dell'  arte  ein 
Fortschritt  über  die  erudita  hinaus.    Die  erudita  beschränkte  sich  auf  ita- 


deir  arte. 


in.  Renaissance.  461 

lienische  Bühnen,    die    commedia    dell'  arte,    eben    weil    sie    ganz    boden- 
ständig und  wurzelecht  war,  eroberte  Europa. 

Jetzt  erst  trat  der  Schauspieler  in  seine  Rechte.  Die  „histrionische"  Ruiz.mt.-. 
Kunst  des  Roscius,  die  Petrarca  gering  schätzte,  kam  nun  zur  Herrschaft. 
Der  Paduaner  Ruzzante  hat  in  Venedig  Bresche  gelegt,  ein  Komiker  und 
ein  Realist  zugleich,  einer,  der  in  seinen  eigenen  Stücken  um  so  besser 
den  Bauer  darzustellen  vermochte,  da  er  selb.st  Bauernarbeit  geleistet  hatte. 
Wenn  hochmütige  Stadtväter  im  Mittelalter  den  Bauer  verhöhnten  und 
verachteten,  so  wurde  jetzt  sein  Leben  mit  liebevollem  Humor  betrachtet. 
Vom  plautinischen  Vorbild  konnte  vmd  wollte  sich  auch  Ruzzante  nicht 
freimachen,  der  sich  dem  alten  Komiker  wohl  wesensverwandt  fühlte, 
aber  „er  schnitt  sich  aus  einem  Totenkleid  Jacken  für  die  Lebendigen 
zurecht".  Ruzzante  hat  nicht  mehr,  wie  die  größeren  Männer  vor  ihm,  in 
dramatischen  Künsten  dilettiert;  er  hat  nicht  mehr,  wie  die  Höflinge  von 
Ferrara  und  Florenz,  Liebhabertheater  unterhalten,  sondern  er  war  durch- 
aus Bühnenfachmann;  wie  vor  ihm  Aischylos,  wie  nach  ihm  Shakespeare, 
Moli^re  und  Raimund,  sein  eigener  Dichter,  sein  eigener  Dramaturg,  sein 
eigener  Mime. 

Wenn  seine  nachgeborenen  Kollegen  immer  zum  fabelhaften  Thespis 
oder  zum  unkontrollierbaren  Roscius  schwören,  so  sei  ihnen  als  Schutz- 
patron lieber  Ruzzante  empfohlen.  Ruzzante  war  auch  der  Erste  und 
für  lange  Zeit  Einzige,  der  die  Wirkung  des  Tragikomischen  erkannte 
und  zu  erzeugen  wußte.  Eins  seiner  Bauernspiele  enthält  schon  George 
Dandin- Stimmungen;  in  einem  anderen  Stück  wirkt  mitten  unter  drasti- 
schen Effekten  das  Schicksal  eines  von  der  eigenen  Mutter  verkuppelten 
jungen  Mädchens  ergreifend.  Das  war  für  ein  realistisches  Drama 
ganz  neuer  Boden.  Diesen  alten  Komiker  rührte  schon  der  Mensch- 
heit ganzer  Jammer.  Ruzzantes  Beispiel  fand  Nachfolge;  bald  war  in 
Oberitalien  ein  Schauspielerstand  ausgebildet,  der  sich  die  Bühnenkunst 
nach  seinen  praktischen  Bedürfnissen  einrichtete.  Die  einzelnen  Schau- Di»  komUchon 
Spieler  konzentrierten  ihre  Kraft  auf  das,  worin  diese  Kraft  hervor- 
ragte; es  entstanden  nach  bestimmten  Typen  des  allgemein  menschlichen 
Wesens  die  heute  sogenannten  Rollenfächer,  die  nach  einer  besonders 
bedeutsamen  oder  besonders  gut  gespielten  Rolle  benannt  wurden  und 
Traditionen  .schufen.  So  entstand  1567  der  Pantalone.  Nicht  viel  früher 
oder  später  hüpfte  in  seinem  buntscheckigen  Kittel  Harlekin  hervor,  der 
freilich  schon  bei  den  Intermezzi  der  Mysterien  und  Moralitäten  in  anderer 
Form  sein  Wesen  getrieben  hatte  und  nichts  weiter  war  als  der  lustige 
Servus  der  römischen  Komödie.  Neu  aber  war  seine  Begleitung,  die 
ihm  zur  Seite  sprang,  bald  ihn  prügelnd  bald  ihn  küssend  und  ihn  immer 
betrügend,  Colombine,  und  sie  war  ein  wirkliches  Frauenzimmer!  Die 
schönen  Sünderinnen  der  alten  Dilettantenbühne  wurden  mit  vereinzelten 
Ausnahmen  (z.  B.  1555  in  Frankreich)  von  Mannspersonen  dargestellt. 
Solange  Kirche  und  Kloster  die  Aufführung  besorgten,    war  dies    selbst- 


462 


Paui,  Schi.enthkr  :   Das    rhoatcr. 


verständlich.  Als  das  Laienelemcnt  durchdrang-,  mochten  bürgerliche  Zucht 
und  Sitte  die  Teilnahme  der  Frauen  und  Töchter  guter  Häuser  verhindert 
haben.  Dem  Berufsschauspieler  verschlug  es  nicht,  sein  Liebchen  mit 
sich  auf  die  Bühne  zu  nehmen  und  den  Reiz  der  Vorstellung  zvi  erhöhen. 
Damit  war  der  Schauspielerinnenstand  —  wenn  man  so  sagen  darf:  kon- 
solidiert und  dem  modernen  Theater  sein  lockendster  Zauber  geschenkt. 
Aus  dem  Nicht    alle    diese    Komödianten    waren    Dichter    wie    Ruzzante;     die 

wenigsten  waren,  wie  er,  gebildet.  Darum  verloren  sie  immer  mehr  den 
Respekt  vor  der  Literatur;  die  Stücke,  die  sie  aufführten,  dienten  ihnen 
nur  als  Kanevas,  den  sie  mit  ihren  höchst  persönlichen  Spaßen  und  Ein- 
fällen, mit  den  immer  aufs  neu  erprobten  Effekten  ihres  Rollenfaches  so 
durchwirkten,  daß  er  selbst  unsichtbar  wurde.  Je  sicherer  sie  sich  in 
dieser  Wirkung  fühlten,  desto  leichter  vergaßen  sie  den  Text  ihrer  Rolle, 
desto  unbefangener  machten  sie  ihn  sich  mundgerecht,  desto  zuversicht- 
licher verließen  sie  sich  auf  ihre  eigenen  Improvisationen.  So  entstand 
das  Hauptmerkmal  der  commedia  dell'  arte,  das  Stegreifspiel.  Mochten 
diese  Possen  zotig'  und  kotig  sein,  mochte  sich  ein  feiner  Schöngeist  da- 
von abgestoßen  fühlen  und  lieber  aus  seiner  Bücherei  den  Terenz  herbei- 
holen, so  haben  sie  doch  den  Fortschritt  der  dramatischen  Kunst  im  ent- 
scheidendsten Punkte  gefördert.  Immer  breiter  wurde  die  Kenntnis  dessen, 
was  die  Bühne  verlangt  und  versagt,  was  auf  ihr  wirkt  und  was  verpufft. 
Die  commedia  dell'  arte  stärkte  den  Begriff,  daß  das  Bühnenwerk  nicht 
zu  den  literis,  sondern  zu  den  artibus  gehört,  daß  die  Schriftstellerei  nur 
seine  Basis,  nicht  sein  Bau  ist,  daß  ohne  eine  durchgebildete,  ihrer  Wir- 
kungen sichere  Schauspielkunst  auch  das  stärkste  Drama  seinen  eigent- 
schauspipikunst.  liehen  Beruf  verfehlt.  Ein  dramatisches  und  dramatisch  wirkendes  Werk, 
das  nie  auf  dem  rechten  Theater  an  die  rechte  Schauspielkunst  gerät, 
gleicht  jenen  jetzt  so  beliebten  wundervollen  echten  Teckeln,  die  zeit- 
lebens als  Schoß-  und  Stubenhündchen  von  zarter  Damenhand  verhätschelt 
werden,  aber  nie  die  Wonnen  eines  Dachsgrabens  erleben  durften,  also 
ihre  Laufbahn  zimmerrein  und  zierlich,  doch  zwecklos  vollenden.  Die 
höchste  Kunst  des  Schauspielers  besteht  darin,  daß  er  das  eingelernte 
Dichterwort  so  spricht,  als  ob  es  in  diesem  Augenblick  in  seinem  eigenen 
Hirn  oder  Herzen  urwüchsig  entstanden  wäre.  Zu  dieser  höchsten  Kunst, 
ohne  die  es  keinen  Hamlet  und  keinen  Lear  gäbe,  erzieht  eine  sichere 
Improvisation;  denn  Reproduktion,  die  wie  Produktion  erscheinen  soll, 
wird  am  besten  durch  Produktion  geübt.  Seit  Ende  des  1 6.  Jahrhunderts 
zog  auf  dem  Siegeswagen  der  Stegreifposse  eine  routinierte  und  raffi- 
nierte Schauspielkunst  von  Italien  aus  in  alle  Welt. 

IV.  Shakespeare.  Bei  diesem  Siegeszug  war  nicht  das  nationale 
Element  der  Eroberer.  Obgleich  italienische  Artisten  nach  Frankreich  (seit 
1579)  und  Spanien  hinübergelangten  und  sich  dort  einnisteten,  so  war 
das  Entscheidende  ihres  Exempels  der  Sieg  der  schauspielerischen  Künste 


rV.  Shakespeare.  4.63 

Über  die  außerhalb  dieser  Künste  liegenden  Zwecke  und  Tendenzen  dra- 
matischer Literatur;  es  siegte  und  eroberte  das  Spiel  des  Spieles  wegen. 
Wenn  eine  Kunst  zu  lange  die  milchende  Kuh  für  andere  als  künstle- 
rische Zwecke  war,  so  führt  sie  der  Selbsterhaltungstrieb  zur  Parole: 
l'art  pour  l'art. 

Die  Schauspielkunst  hatte  zu  lange  bei  Priestern  und  Mönchen,  bei  Stu- 
denten und  Schülern,  bei  Bürgern  und  Handwerkern  umherdilettierL  End- 
lich mußte  sie  ein  eigenes  Metier,  einen  eigenen  Stand  zeugen,  um  als 
selbständiger  Kulturfaktor  zu  gelten.  Daß  die  Stunde  reif  war,  beweist 
die  rasche  und  weite  Verbreitung  von  Wandertruppen,  deren  Wirkungs- 
kreis weder  sprachlicher  noch  politischer  Grenzen  achtete.  Wie  Italiener 
nach  Paris  zogen,  so  zogen  englische  Komödianten,  unter  ihnen  Pickel- 
häring,  der  anglisierte  Arlechino,  der  aus  deutschem  Fleisch  und  Blut 
unsem  Hanswurst  zeugte,  schon  im  16.  Jahrhundert  auf  das  Festland;  an 
deutschen  P^ürstenhöfen  hießen  hohe  Gönner  sie  willkommen.  Das  früheste 
wüste  Repertoire  dieser  Banden  ist  für  die  Bühne  der  Gegenwart  belanglos. 
Aber  sie  schmiedeten  auch  Werkzeuge  für  das  größte  dramatische  Genie  der 
neueren  Zeiten;  in  ihnen  lag  die  Kraft,  dem  Theater  Europas  einen  englischen 
Komödianten,  namens  Shakespeare  zu  schenken,  der  vielleicht  nie  Theater- 
dichter geworden  wäre,  wenn  er  nicht  Schauspieler  gewesen  wäre.  So  viele 
wundem  sich,  daß  Shakespeares  grenzenlose  Welt  ein  Schauspieler  beleben 
und  beherrschen  konnte;  sie  wollen  es  nicht  glauben;  halten  ihn  für  ein 
untergeschobenes  Kind  der  Muse;  sie  suchen  den  rechten  Erben.  Wer  . 
ein  Werk  Shakespeares  mit  dem  Bühnenblick  durchschaut,  wer  erkennt, 
wie  alle  geistige  Größe,  alle  Weisheit  und  Bildung  darin  von  der  Kennt- 
nis dessen,  was  auf  dem  Theater  wirkt,  noch  übertroffen  ist,  wer  fühlt, 
wie  zwischen  den  Worten,  zwischen  den  Zeilen  des  Textes  diese  Wir- 
kungen heimlich-unheimlich  bloß  auf  den  rechten  schauspielerischen  Aus- 
druck lauern,  um  mit  elementarer  Xaturgewalt  hervorzubrechen,  der  würde 
sich  noch  viel  mehr  wundern,  wenn  es  eines  unschönen  Tages  erwiesen 
wäre,  daß  alles  dies  kein  Bühnenmann,  sondern  Francis  Bacon  geschaffen 
habe. 

Diesen  Standard  works  der  dramatischen  Kunst  waren  jene  Dilet-  Shakespeare. 
tanten,  denen  Mysterien,  Mirakel  und  Moralitäten,  denen  Schulkomödien 
und  Fastnachtspiele  ausreichten,  nicht  mehr  gewachsen.  Diese  ins  Tiefste 
der  menschlichen  Seele  greifenden  Werke  brauchten  eine  berufene,  also 
berufsmäßige  Schauspielkunst  Nur  so  konnten  sie  entstehen,  nur  so  konnten 
.sie  bleiben  und  herrschen  über  den  heutigen  Tag  hinaus  in  die  weiteste 
Zukunft.  Nicht  anders  als  in  England  ging  es  in  Spanien,  dem  Lande, 
wo  zuerst  alle  Blütenträume  von  einer  großen  dramatischen  Kunst  wieder 
Wirklichkeit  wurden.  Lope  de  Vega  und  Calderon  brauchten  so  gut  wie 
Shakespeare  zur  vollen  Erscheinung  ihrer  dauernden  dichterischen  Größe 
eine  entbindende  Schauspielkunst,  eine  ars  pro  arte.  Wir  wissen  nicht, 
wie    Shakespeare     und    Calderon     zu     ihren    Lebzeiten    gespielt    wurden. 


464 


Paul  Schi.enthf.r  :  V>as  Theater. 


Shakespeare  soll  —  ich  weiß  nicht  warum  —  kein  g-uter  Schauspieler  ge- 
wesen sein.  Aber  er  stellte  durch  seine  Werke  die  höchsten  Anforde- 
rungfen  an  diese  Kunst.  Wie  Lessing  sich  als  Dichter  unterschätzte,  so 
mag  Shakespeare  sich  selbst  als  Schauspieler  unterschätzt  haben,  weil  er 
die  höchsten  Ideale  seiner  Kunst  in  sich  trug.  Gerade  dort,  wo  er  in 
Komödie  und  Tragödie  als  Dichter  am  höchsten  steht,  ist  ihm  seine  Dich- 
tung gut  genug,  um  die  Probleme  der  Schauspielkunst  zu  erörtern:  im 
„Sommemachtstraum"  und  im  „Hamlet".  Hier  wie  dort  führt  er  Schau- 
spieler vor.  Dort  sind  es  noch  Dilettanten,  hier  sind  es  schon  Fach- 
leute. Dort  sind  es  plumpe  Handwerker,  die  nie  den  Geist  zu  solcher 
Arbeit  noch  geübt  hatten  und  deren  Gedächtnis  widerspenstig  ist,  die 
ohne  Einbildungskraft  aber  voller  Einbildung  es  mit  ihrer  Mummerei  und 
Mimerei  bitter  ernst  meinen  und  sich  die  Darstellung  der  erhabenen 
Liebe  zwischen  Pyramus  und  Thisbe  zumuten;  die  ihre  Vorbereitungen 
mit  größter  Heimlichtuerei  und  Umständlichkeit  betreiben  und  dabei 
schon  alle  kleinen  närrischen  Eitelkeiten  und  mißlichen  Eigenschaften 
zeigen,  die  man  noch  heute  nicht  nur  berufsmäßigen,  sondern  auch  dilet- 
tierenden  Spielern  nachsagt.  Neben  dem  Spielwütigen,  der  am  liebsten  alle 
Rollen,  auch  die  des  Löwen  selber  geben  möchte,  der  Jüngling,  der  beleidigt 
ist,  daß  er  ein  Frauenzimmer  spielen  soll,  neben  dem  schlechten  Lerner 
der  Zaghafte,  der  dem  Publikum  nicht  allzu  Gräßliches  vorsetzen  möchte, 
und  der  Unbequeme,  der  seine  Mitspieler  durch  üblen  Atem  belästigt. 

So  sehr  Shakespeare  diese  platten  Polterabendgäste  mit  ihrem  un- 
künstlerischen Pseudorealismus  dem  Spotte  preisgibt,  so  verzeiht  er 
durch  den  menschlich  milden  Mund  des  Theseus  doch  ihrem  Eifer  ihre 
Schwäche  und  auch  ihren  Wahn,  durch  dieses  „greiflich  dumme  Spiel"  im 
Zuschauer  jene  Empfindungen  zu  wecken,  in  denen  auch  Shakespeare  die 
tragische  Wirkung  sah:  Reue  und  Mitleid.  Weit  schärfer  geht  er  später 
im  „Hamlet"  mit  Berufsschauspielem  ins  Gericht,  mit  den  bramarbasie- 
renden Maulhelden,  den  Luftdurchsägem,  den  haarbuschigen  Perrücken,  die 
eine  Leidenschaft  in  Fetzen,  in  rechte  Lumpen  reißen,  den  prügelnswerten 
Eisenfressern,  den  Stolzierern  und  Blökern,  den  aufdringlichen  Possen- 
reißern, die  immer  bereit  sind,  ernste  oder  wichtige  Szenen  zu  stören,  kurz 
mit  allen  den  Charlatanen  ihrer  Kunst,  die,  statt  der  Natur  den  Spiegel 
vorzuhalten,  die  Bescheidenheit  der  Natur  überschreiten.  Ihnen  einerseits 
und  den  Matten,  Dürren,  Leblosen  anderseits  stellt  er  den  wahren  Menschen- 
darsteller gegenüber,  der  von  seinem  Gegenstande  selber  tief  ergriffen 
die  Seele  in  seine  eigenen  Vorstellungen  so  zu  zwingen  weiß,  daß  sein 
Gesicht  erblaßt,  sein  Auge  tränt,  seine  Stimme  bricht,  sein  ganzer  Mensch 
sich  nach  seinem  Willen  fügt  und  der  Schmerz  um  Hekuba  echt  wirkt. 
Für  Schauspieler  dieser  Art  fordert  er  gute  Bewirtung  durch  die  Achtung 
der  Welt;  denn  sie  sind  der  Extrakt  und  die'  knappste  Chronik  des 
Zeitalters.  Sie  sind  berufen,  das  allgemeine  Ohr  mit  Grausen  zu  er- 
schüttern,   den    Schuldigen    bis    zum   Wahnwitz    zu    treiben,    den    Freien 


IV.  Shakespeare.  ^^65 

ZU  schrecken,  Unwissende  zu  v-cnvirren  und  zu  betäuben.  Ebenso  wie 
gegen  die  schlechten  Komödianten  macht  Shakespeare  gegen  diese  Un- 
wissenden Front,  die  der  Afterkunst  zujubeln,  gegen  den  Pöbel,  für  den 
wahre  Kunst  Kaviar  ist,  gegen  die  hochgestellten  Poloniusse,  die  zur  Un- 
zeit lachen  imd  gähnen,  die  sich  nur  an  Possen  und  Zoten  ergötzen,  gegen 
die  Gründlinge  im  Parterre,  auf  die  nur  wüstes  Geschrei  oder  eine  ver- 
worrene Pantomime  wirkt.  Wenn  Shakespeare  im  „Sommernachtstraum" 
die  spöttisch  lächelnde,  flach  witzelnde  Hofgesellschaft  noch  schont,  die 
von  echter  Schauspielkunst  nicht  viel  mehr  versteht  als  die  grotesk  tragie- 
renden  Handwerker,  so  sagt  er  durch  den  Mund  des  geistreichen  Dänen- 
prinzen der  Mehrheit  seines  Publikums  die  Meinung  gründlicher.  Was 
Hamlet  seinen  Dänen  vorwirft,  durften  sich  die  Londoner  hinter  die 
Ohren  schreiben.  Ganz  auf  London  und  auf  die  eigene  soziale  Lage 
ist  es  gemünzt,  wenn  Shakespeare  in  einer  der  vielen  autobiographischen 
Anwandlungen,  aus  denen  seine  Bemerkungen  über  Schauspieler  und 
Schauspielkunst  hervorgehen,  das  Umherstreifen  der  Schauspielergesell- 
schaften beklagt  und  ihnen  einen  festen  Aufenthalt  wünscht,  der  sowohl 
für  ihren  Ruf  als  für  ihre  Einnahmen  vorteilhafter  sei.  Die  höchste  Ehre 
aber  erweist  er  seinem  Beruf  dadurch,  daß  er  ihm  im  Mittelpunkte  des 
großen  Dramas  selbst  eine  Mission  zutraut,  die  man  kriminalpolizeilich,  die 
man  aber  auch  im  höchsten  Sinn  ethisch  nennen  kann.  Es  ist  die  verräte- 
rische, das  böse  Gewissen  entlarvende  Gewalt  des  Schauspiels,  das  der  Sonne 
gleich  an  den  Tag  bringt,  was  im  Dunkel  verbrecherischer  Taten  liegt. 
Vielleicht  war  nur  der  Schauspieler  im  Dichter  fähig,  zum  Wendepunkt 
seiner  tiefsten  und  reichsten  Tragödie  die  sittliche  Macht  des  Schauspiels 
zu  wählen.  Das  böse  Gewissen  des  Todfeinds  aufzurütteln,  die  Maske 
des  Mörders  wegzureißen,  dazu  genügt  Hamlets  zarter  Seele  nicht  sein 
eigener  Verdacht,  nicht  sein  eigener  Abscheu,  nicht  einmal  Klage  und 
Anklage  des  ruhelos  begrabenen  Vaters,  der  ein  trügerischer  Geist  sein 
könnte.  Xein!  Das  Schauspiel  sei  die  Schlinge,  in  die  den  König  sein 
Gewissen  bringe!  Er  hat  gehört,  „daß  schuldige  Geschöpfe,  bei  einem 
Schauspiel  sitzend,  durch  die  Kunst  der  Bühne  so  getroffen  worden  sind 
im  innersten  Gemüt,  daß  sie  sogleich  zu  ihren  Missetaten  sich  bekannten". 
Weder  vorher  noch  nachher  ist  der  ethischen  Kraft  des  Theaters  ein  be- 
deutenderer Ausdruck  gegeben  worden  als  hier.  Die  Bühne,  die  vorher 
und  nachher  so  oft  nur  Gouvernante  war,  wird  hier  zur  Eumenidc.  Shake- 
speares „Hamlet"  hat  ihre  kleinbürgerlichen  Moraltendenzen  in  den  höchsten 
Adelsstand  erhoben.  Was  mit  der  attischen  Tragödie  verloren  gegangen 
war,  ist  nun  endlich  wieder  da:  die  Macht  der  Kunst  durch  die  Größe  der 
Kunst.  Und  wenn  sich  auch  der  romanische  Geist  gegen  Shakespeares 
Urgewalten  sträubt,  wenn  höchstens  das  geborene  Volk  der  Schau.spieler, 
die  Italiener,  an  der  Aufgabe,  die  er  ihrer  Schauspielkunst  bietet,  nicht 
vorübergehen  konnte,  so  ist  doch  durch  Shakespeare  für  alle  neueren 
Zeiten  die  Bedeutung  des  Theaters  als  eines  Kulturfaktors  erwiesen. 

Dre  Kultur  dbr  Gbgbnwart,    I.  i.  3Ü 


466 


Paul  Schi.f.ntukr  ;  Das  Theater. 


Die  französisch.-  V.   Frankreichs  klassische   Zeit.     Wemi   nach  Shakespeares  Tode 

"■'8  ■«'•  p^j.js  (jie  theatralische  Weltherrschaft  an  sich  riß  und  auf  anderthalb  Jahr- 
hunderte hinaus  in  scheinbar  andere,  Shakespeare  feindliche  Bahnen  lenkte, 
so  ging  zwar  zunächst  viel  von  der  poetischen  Urkraft  des  britischen  Genies 
verloren,  von  der  Kultur  aber  wurde  das  Theater  —  sei  es  zum  Segen, 
sei  es  zum  Unheil  —  nur  noch  mehr  dadurch  beleckt,  daß  Corneille, 
Racine  und  der  Shakespearefresser  Voltaire  der  humanistischen  Galvani- 
sierung des  antiken  Dramas  im  französischen  Geist  wohl  gebaute  Formen 
und  schön  geschminkte  Farben  gaben. 

Scheint  Shakespeare  nach  Naturgesetzen  geschaffen  zu  haben,  die 
der  Raison  Voltaires  undurchdringlich  blieben,  so  arbeiteten  die  Franzosen 
feinsauber  nach  Kunstregeln.  Jeder  konnte  im  Boileau  nachlesen,  ob 
Racine  seine  Sache  gut  gemacht  habe.  Solange  große  dichterische  Talente 
am  Werke  waren,  hatte  auch  das  seinen  Nutzen,  denn  eine  Kunst,  die 
nicht  behelmt  und  gepanzert  aus  der  Stirn  des  Genies  hervorspringt, 
braucht,  um  durch  Talente  fortbestehen  zu  können,  eines  sicheren  Hand- 
werks als  Unterlage.  Nur  müssen  die  Talente  stark  genug  sein,  um 
diesen  Handwerksboden  durch  Kunst  zu  bebauen  und  dadurch  zu  ver- 
bergen. Das  vermochten  die  Begründer  des  französischen  Theaters.  Sie 
gaben  der  theatralischen  Kunstform  eine  mathematische  Reinlichkeit  und 
Durchsichtigkeit,  und  indem  sie  ihren  feinen  Kunstsinn  noch  vor  Pedanterie 
bewahrten,  errichteten  sie  eine  Schule  für  das,  was  sich  zur  Erzeugung 
bühnenfähiger  Dramen  lernen  läßt.  So  kamen  die  Franzosen  —  man  kann 
auch  sagen  die  Pariser  —  in  den  erblichen  Besitz  einer  Technik  des 
Dramas,  die  durch  zwei  Jahrhunderte  unvergleichlich  war  und  von  der 
unsere  deutschen  mittelguten  Theaterschriftsteller  immer  zu  wenig  profi- 
tiert haben.  Freilich  konnte  durch  diese  künstliche  Kunst  das  Drama 
hohen  Stils  nur  so  lange  lebendig  bleiben,  als  auch  sonst  der  regelmäßige 
Geschmack  herrschend  blieb.  Als  man  die  Allongeperücke,  die  wohl  ein 
Kahlkopf  erfunden  hat,  vom  frei  flatternden  Lockenhaar  wegriß,  als  man 
die  französischen  Gärten  in  englische  Parks  verwandelte,  war  auch  die 
Weltstellung  der  Pariser  Sophoklesse  und  Euripidesse  erschüttert,  und  nur 
in  Paris  selbst,  an  der  klassischen  Stätte  hat  der  französische  Nationalstolz 
das  vieux  jeu  in  einer  so  edlen  und  strengen  Form  konserviert,  daß 
nicht  nur  der  historische,  sondern  auch  der  ästhetische  Sinn  von  dieser 
musterhaften  Stilreinheit  befriedigt  wird.  Man  geht  durch  eine  Toten- 
kammer, aber  schöne  Leichen  liegen  schön  gekleidet  da. 
Moiiere.  Besser  als  der  trag^die  ist  es  auch  in  Frankreich  der  comedie  ergangen. 

Während  sich  in  Shakespeares  wildwachsenem  Humor  die  Grenzlinien 
zwischen  Tragik  und  Komik,  zwischen  Ernst  und  Scherz  nie  geometrisch 
sicher  zeichnen  lassen,  ging  der  französische  Klassizismus  auch  hier  auf 
die  alten  Muster  zurück  und  schied  sorgfältig  Senecas  Erben  von  denen 
des  Terenz  und  Plautus.  Auch  in  dieser  „niedrigem"  Gattung  kam  den 
Franzosen    ihre    durchgebildete    Technik    zugute.     Noch   mehr   kam    ihnen 


V.  Frankreichs  klassische  Zeit.  467 

hier  der  alteingeborene  Gallierwitz  zug;ute,  der  der  strengen  Form  einen 
sprudelnden  und  sprühenden  Inhalt  gab,  der  hoch  über  den  Häuptern 
des  hohen  Stils  einen  Meister  der  Lustspiele  und  Possen  wie  Moliere 
schuf.  In  Molieres  satirischer  Weltanschauung  ist  die  Bühne  nicht  mehr 
Eumenide,  obwohl  seinen  Tartüflf  wenigstens  der  Teufel  der  Polizei  holt, 
aber  sie  ist  noch  nicht  ganz  wieder  zur  Gouvernante  geworden.  Über  dem 
castigare  verlor  er  das  ridere  nicht,  und  er  besaß  so  viel  Größe,  daß  er 
sogar  sich  selbst  und  seine  tiefsten  Schmerzen  auslachen  konnte.  Wieder 
war  es  ein  Schauspieler,  der  eigenhändig  das  Drama  seiner  Nation  nicht 
nur  theatrisch  sondern  auch  dichterisch  auf  die  oberste  Höhe  führte.  Ein 
mächtiger  König  schenkte  ihm  seine  Gunst,  vielleicht  weil  er  ihn  für 
einen  Hofnarren  hielt  und  über  seinen  Spaßen  die  bitteren  Pfeile  ver- 
kannte, die  sich  gegen  Hof  und  Stadt  und  Gesellschaft  spitzten.  Wieder 
stand  in  vollendeter  Kunst  auf  der  Bühne  die  kondensierte  Chronik  des 
Zeitalters,  die  in  einem  Meisterwerke  der  Tragikomödie  prophetische  Per- 
spektiven bis  zum  Wetterleuchten  der  großen  Revolution  hin  aufgestellt 
hat.  Unter  allen  Franzosen  steht  Moliere,  dessen  Witz  beinahe  Humor, 
dessen  Seele  beinahe  Gemüt  ist,  dem  germanischen  Wesen  am  nächsten. 
Darum  wird  er  in  Deutschland  immer  wieder  zum  Vorschein  kommen,  und 
wenn  er,  nicht  anders  als  Shakespeare  selbst,  zeitweise  untertaucht,  so 
werden  sich  seine  bewährtesten  Bühnenstücke,  wie  die  des  Briten,  immer 
wieder  der  jeweilig  modernen  Darstellungsweise  anpassen  können.  Im 
Wiener  Burgtheater  werden  der  „Misanthrop"  und  der  „Tartüff"  in  Fuldas 
deutschen  Versen,  beide  zusammen  binnen  drei  Stunden  desselben  Theater- 
abends, ganz  abweichend  von  der  vortragsmäßigen  Pariser  Tradition  wie 
moderne  Konversationsstücke  in  lebhaftem  äußern  und  Innern  Tempo 
heruntergespielt  und  halten  sich  dauernd  auf  dem  Spielplan.  Dieser 
histrio  gallicus  sine  exemplo,  wie  ihn  schon  sein  frühester  deutscher  Über- 
setzer nannte,  ist  auch  in  Frankreich  beispiellos  geblieben,  aber  sein  frucht-  Die  französische 

'  Komödie. 

barer  Geist  hat  reiche  Nachkommenschaft  erzeugt,  über  alle  die  hervor- 
ragenden einst  höchst  bewunderten  Beherrscher  des  französischen  Reper- 
toire im  18.  Jahrhundert,  die  freilich  für  das  Theater  der  Gegenwart  auch 
in  Frankreich  selb.st  kaum  noch  etweis  bedeuten,  bis  zu  Beaumarchais, 
dessen  Lust.spiele  wenigstens  in  Mozarts  und  Rossinis  Melodiecn  fortleben. 
Auch  Scribe,  der  geschickteste  aller  Handwerksmeister,  durfte  etwas  von 
der  Mohereschen  Ahnherrenkunst  einer  neuen  Generation  überliefern.  Viele 
verstanden  in  Paris  ein  Theaterstück  brillant  zu  bauen,  eine  Idee  darin 
einheitlich  durchzuführen,  aus  dieser  Idee  alle  Motive  herauszuholen,  mit 
dem  vorhandenen  Stoffe  hauszuhalten,  ohne  fremder  Flicken  zu  bedürfen, 
den  Personen  eine  menschenwürdige  Sprache  zu  geben  und  den  Schau- 
spielern Rollen,  in  denen  sie  sich  ausleben  und  entwickeln  können.  Alles 
das  verstanden  auch  die  Marivaux  und  Diderot,  verstanden  womöglich 
noch  besser  die  Augier  und  Labiche,  die  Dumas  und  Sardou.  Dennoch 
ist  der  alle  Histrione  sine  exemplo  geblieben,  und  mit  Recht  belegt  man 

30* 


.Ag  Paut,  Schi.rnther:  Das  Theater. 

noch  heute  in  Paris  das  altehrwürdige  repräsentierende  Theater,  den  Stolz 
der  Nation,  nicht  nur  mit  dem  Namen  Frankreichs,  sondern  auch  mit  dem 
Namen  Moli^res. 

"Wenn  sich  Frankreich  gegen  die  „barbarische  Trunkenheit"  Shake- 
speares immer  spröde  gesträubt  hat,  so  hat  die  germanische  Welt  den 
großen  Parisem,  zumal  Moliere  gegenüber,  durchaus  nicht  gleiches  mit 
gleichem  vergolten.  Im  skandinavischen  Norden  fand  Moliere  seinen  eben- 
bürtigsten Schüler,  der  dem  Meister  seine  Kunstmanier  abguckte,  um  sie 
auf  das  eigene  Volksleben  zu  übertragen.  Dieser  zum  Dänen  gewordene 
Holberg.  Norweger  Ludwig  Holberg  hat  vor  allem  von  Moliere  gelernt,  selbständig 
und  national  zu  sein.  Darum  erinnern  seine  Komödien  trotz  der  franzö- 
sischen Technik  in  der  handfesteren,  individualisierteren  Charakteristik  der 
Personen,  in  ihrer  germanischen  volkstümlicheren  Natur  viel  mehr  an  Shake- 
speare, den  er  nur  mittelbar  kannte,  als  an  Moliere,  den  er  mit  Bewußt- 
sein studiert  hat.  Wie  Molieres  Größe  dem  Th^ätre  Fran9ais  eine  jahrhundert- 
lange Lebensdauer  gab,  so  hat  auch  Holbergs  Landskraft  ausgereicht,  der 
dänischen  Hauptstadt  ein  Nationaltheater  zu  schaffen,  darin  nicht  nur  sein 
eigener  Humor  vielfältig  gestaltet  noch  heute  dramatisch  wirkt  und  seine 
Urkraft  auf  einen  späteren  Meister  wie  Ibsen  entscheidenden  Eindruck  machen 
konnte,  sondern  wo  sich  auch  durch  ihn  ein  realistischer  Darstellungsstil 
ausbildete,  der  jeder  Generation  die  genügende  Zahl  schauspielerischer 
Kräfte  gab  und  noch  heute  das  Kopenhagener  königliche  Theater  zu  einer 
für  das  ganze  Land  maßgebenden,  einheitlichen  Muster-  und  Meisterbühne 
erhebt,    wie    sie    in  Ländern    deutscher  Zunge   niemals  bestanden  hat. 

Zersplitterung  VI.   Das  nouere  deutsche  Theater.     Die  Länder  deutscher  Zunge 

""'konnten  keinen  einheitlichen  Spiegel  des  Lebens  erwerben,  weil  ihrer 
Vielspältigkeit  das  einheitliche  Leben  fehlte.  Es  gab  Länder,  aber  keine 
Nation.  Die  einigende  Macht  des  Mittelalters  war  die  katholische  Kirche 
gewesen,  die  auch  ins  Schaubühnenwesen  eine  große,  obschon  starre  Einheit 
brachte.  Die  Reformation,  die  die  Geister  befreite,  aber  auch  trennte,  war 
der  Zusammenfassung  künstlerischer  Formen  nicht  günstig,  und  das  dicke 
Ende  der  Reformation,  die  dreißig  Kriegsjahre,  zerstörten  vollends  alle 
Keime  zu  einem  deutschen  Nationaltheater,  sofern  überhaupt  etwas  der- 
artiges vorhanden  war.  Denn  weder  das  von  Nürnberger  Kirchtürmen 
beherrschte  Liebhabertheater  der  Fastnachtspiele,  noch  die  Schultheater, 
in  denen  Terenz  auf  lateinisch  traktiert,  allenfalls  imitiert  wurde,  konnten 
eine  große,  das  ganze  deutsche  Leben  umfassende  Nationalbühne  schaffen, 
obgleich  nicht  nur  in  Hans  Sachsens  handlungsreicher  Urwüchsigkeit, 
sondern  auch  in  der  geschlossenen  Form  des  humanistischen  Schuldramas 
einige  Vorbedingungen  dafür  existiert  hätten. 

Denn  hier  wie  dort  überwog  besonders  in  der  schauspielerischen 
Ausführung  der  Dilettantismus,  dem  höchstens  jene  aus  England  einge- 
wanderten Banden  hätten  abhelfen  können.    Sie  waren  wirklich  auf  bestem 


VI.  Das  neuere  deutsche  Theater 


469 


Wege  dazu.    Sie  bauten  eine  Bühne,  die  sich  mit  ihrem  erhöhten  Podium 
und   ihren  Versenkungen   schon  der  modernen  Theaterarchitektur  näherte, 
sie  legten  das  Hauptgewicht  auf  Handlung  und  regten  dichterische  Talente 
zu  eigenen  dramatischen  Schöpfungen  an,  die  auf  Shakespearischem  Wege 
doch  nicht  die  Kraft  hatten,  Shakespeares  Ziel  zu  erreichen.    Alle  Elemente 
zu  einem  großen  deutschen  Dramatiker  waren  vor  Beginn  des  Dreißigjährigen 
Krieges    gegeben,    meint  Scherer.     In    Cassel    war    sogar  schon   ein  Hof- 
theater vorhanden.  Was  der  Dreißigjährige  Krieg  vom  verhofFten  deutschen 
Shakespeare  übrig  gelassen  hatte,  hieß  Andreas  Grj^phius.    Er  schrieb  kon- 
ventionelle  Renaissancetragödien    und  Operetten,    wetteiferte    mit  Shake- 
speare in  der  Komödie  vom  Peter  Squenz  und  dichtete  zweihundert  Jahre 
vor  Gerhart  Hauptmann  ein  realistisches  Bauernstück  in  schlesischer  Mund- 
art, aber  er  fand  keine  unmittelbare  Fühlung  zu  einem  festen  Theater  mit 
festen  Schauspielern  und  festem  Publikum.  Diese  Gunst,  die  aus  Shakespeare, 
Moliere,  Holberg,  dem  Niederländer  Vondel,   dem  Italiener  Goldoni   alles 
hervorholte,  was  in  ihnen  lag,  blieb   den  Deutschen  noch  lange  versagt. 
Das  Beispiel   der  englischen   Gäste  hatte   auch   deutsche   Schauspieler  zu 
Truppen  oder  Banden  vereinigt.    Sie  wurden  während  des  Krieges  von  Ort 
zu  Ort  verschlagen;  nicht  die  saubersten  Geister  mischten  sich  ihnen  bei. 
Der  gute  Bürger  mied  ihren  Umgang  und  verscharrte  ihre  Toten  hinter  der 
Friedhofsmauer,  aber  ihre  Spiele  sah  man  auch  in  ernster  Zeit  doch  gern 
an;  so  trugen  sie    ihr  aus  aller  Herren  Ländern  gemischtes  Repertorium 
in  bessere  Laufte  herüber  und  überstanden  mit  ihren  eigenhändig  zusammen- 
gestohlenen,   auf  Theatereffekt    berechneten    „Haupt-   und  Staatsaktionen"    Haupt-  und 
nicht  bloß  die  Schrecken   des  Krieges,  sondern  auch  die  Konkurrenz  der 
italienischen  Oper,  durch  die  ihnen  Interesse  und  Unterstützung  der  Höfe 
und    des  großstädtischen  Publikums  entzogen    wurde.     Weit   weniger   ge- 
fährlich   konnte    ihnen    der    dilettantische   Eifer   werden,   den   noch   immer 
innerhalb  von  Schulmauem  Meister  und  Schüler  bekundeten,  und  der  in 
Deutschland   ein   so  fruchtbares  Talent  für  hausbackenen  Realismus  her- 
vorrufen konnte,  wie  es  der  Rektor  Weise  in  Zittau  war,  der  sein  Lämp- 
chen  schlecht  und  recht  noch  immer  vom  Öl  der  terenzischen  Muse  nährte, 
aber  mit  gesundem   Blick   ins  nächste  Leben  sah   und   es  auch  nicht  ver- 
schmähte,   die    eigentliche  Zugkraft    der   wandernden  Komödianten,    ihren 
Hanswurst,  in  seine  sonst  so  zünftigen  Stücke  aufzunehmen.  Trotz  derartigen 
gegenseitigen  Annäherungsversuchen  gingen  Drama  und  Bühne  schon  viel    Da*  regei- 
zu    lange  in  Deutschland  getrennte  Wege.     Die    notwendige  Vereinigung 
der  Literatur  mit  dem  Theater,   die   allein  eine  Kunst  zurückführen  kann, 
verkörpert  sich  erst  durch  das  Bündnis,   das  in  Leipzig  ein  Gelehrter  mit 
einer  Schauspielerin    schloß.     Der  Widerspruch,   den  gegen    diese    schön- 
wissenschaftliche  Reform   Gottscheds  und   der  Neuberin   später  der  junge 
Lessing    erhob,    traf  die    pedantisch-dogmatische  Art,  mit   der  Gottsched 
fremde  Schulbeispiele   aufstellte   und   die  Neuberin   zur  pathetischen  Aus- 
treibung   des  Hanswurst    verleitete.     Trotzdem  hat  Gottsched   den  Boden 


,»Q  Paul  Schi.entiier:  Das  Theater. 

geglättet,   worauf  Lessings  hurtiger  Geist  hochbauen   konnte.     Ebenso    ist 
Lessing.      es  ein  Verdienst  der  strengen  Neuberischen  Zucht,  daß  Lessing  schon  einem 
Schauspieler  von  der  Bedeutung  Konrad  Ekhofs  begegnete. 

Der  große  Schtiuspieler  und  der  große  Dramaturg  trafen  sich  (1767) 
in  dem  „gutherzigen  Einfall,  den  Deutschen  ein  Nationaltheater  zu  ver- 
schaffen". Nicht  in  einer  der  zahlreichen  Residenzen  sollte  es  stehen, 
sondern  in  Hamburg,  der  volks-  und  verkehrsreichen,  zahlungskräftigen 
Handelsstadt,  die  vom  lebhaftesten  Thetiterinteresse  bewegt  war. 

Aber  dieses  Interesse  hatte  bisher  fast  ausschließlich  der  Oper  gegolten. 
Es  in  die  Bahnen  reinerer  Kunst  zu  lenken,  wollte  nicht  gelingen;  das 
deutsche  Nationaltheater  verkrachte  schon  nach  einem  Jahr,  und  Lessing 
stand  wieder,  wie  vorher,  „müßig  am  Wege".  Mit  jenem  „Lachen  des 
Menschenhasses",  das  Lessings  Minna  an  ihrem  Teilheim  so  sehr  erschreckt, 
nimmt  er  Abschied  von  dem  Ideal.  Er  erörtert  im  Schlußworte  seiner 
Dramaturgie  die  Ursachen  des  frühen  Verfalls  und  findet  vor  allem, 
daß  wir  Deutsche  noch  keine  Nation  sind,  die  ihrer  eigenen  Kraft,  darum 
ihrer  eigenen  Art  und  Kunst  vertrauten.  Dennoch  war  etwas  Großes 
geschehen.  Es  waren  dem  deutschen  Kunsttheater  Wege  gewiesen  und 
Ziele  gesteckt.  Lessing  selbst  gab  den  Deutschen  mitten  aus  den  Händeln 
ihrer  politischen  und  sittlichen  Welt  heraus  ein  erstes  nationales  Lustspiel, 
worin  sich  alle  überlieferten,  platt  und  leer  gewordenen  Rollenfächer  mit 
neuem,  frischem  Leben  füllten;  ein  Lustspiel  mit  lauter  lebendigen  Menschen, 
die  man  sich  alle  in  unmittelbarer  Wirklichkeitsnähe  des  großen  Königs 
denken  könnte,  der  wie  ein  Schutzgeist  hinter  die  Ereignisse  dieser  heiter- 
rührenden Komödie  gestellt  ist  und  das  Seine  tat,  um  die  Deutschen 
zu  einer  Nation  zu  machen;  der  nicht  deutsche  Kunst  und  deutsche 
Künstler  begünstigte,  aber  weit  wohltätiger  wirkend  diesen  Künstlern 
Stoff  und  Begeisterung  lieh.  Lessing  gab  den  Deutschen  zweitens  als 
praktisches  Resultat  seiner  kritischen  Untersuchungen  über  die  drama- 
tische Kunst  ein  erstes  Musterbeispiel  der  modernen  Tragödie,  die  äußer- 
lich zwar  nach  Italien  und  in  die  Zeit  Ludwigs  XIV.  gelegt  werden  mußte, 
in  Wahrheit  aber  den  kleindespotischen  deutschen  Zeitgenossen  Friedrichs 
des  Großen  im  Sinne  Shakespeares  einen  Spiegel  vorhielt.  Lessing  gab 
den  Deutschen  drittens  ihr  erstes  Drama  hohen  Stils  in  einer  Versform, 
die  für  den  deutschen  Ausdruck  zugleich  natürlich  und  erhaben  ist,  erfüllt 
von  den  Menschheits-  und  Menschlichkeitsidealen,  deren  Realisierung  ihm 
die  geistige  Freiheit  bedeutete.  Alle  Wege,  sagt  Wilhelm  Scherer,  führen 
bei  Lessing  zum  Drama.  Schon  daß  der  letzte,  stärkste  Ausdruck  alles 
dessen,  was  ihn  politisch,  literarisch,  theologisch  und  immer  allgemein 
menschlich  bewegte,  dramatische  Gestalt  annahm,  gab  der  deutschen  Bühne 
ein  Ansehen,  eine  Kulturkraft,  die  nicht  mehr  ganz  sinken  konnte,  die 
nur  noch  in  Frankreich  ihresgleichen  findet.  Erst  durch  Lessing  wurde 
Deutschland  ein  Kulturherd  für  die  dramatische  Kunst.  Er  wies  als  erster 
den  Weg,   auf  dem  Shakespeare   ein  ganz   deutscher  Dramatiker  werden 


VI.  Das  neuere  deutsche  Theater.  47  I 

konnte.  Er  befreite  unsere  arme  gallomanische  Seele  von  den  pseudo- 
aristotelischen Sklavenketten  der  Pariser  Tragödie.  Er  zeigte  den  Schau- 
spielern die  Gesetze  ihrer  Kunst  und  gab  ihnen  zugleich  das  tüchtigste 
Arbeitsmaterial.  Die  Rollen  aus  Minna  und  Emilia  sind  noch  heute  die 
beste  Schulung  für  werdende  Talente,  denn  jedes  Wort,  das  in  diesen 
Texten  steht,  läßt  sich  durch  besondere  Charakteristik  beleben;  alles  braucht 
einen  bestimmten  Ausdruck  und  ist  doch  den  verschiedenartigsten  Indi- 
vidualitäten zugänglich.  Selbst  hat  Lessing  auch  nach  seinen  Lebzeiten 
nie  viel  Glück  auf  dem  Theater  gehabt.  Seine  drei  Meisterwerke  sind 
immer  nur  selten  gespielt  worden.  Sie  liegen  kühl  und  versteckt,  wie  in 
einer  Felsenkluft  die  Quellen,  aus  denen  Ströme  über  das  Land  fluten. 
Wer  von  der  Hochflut  unserer  großen  dramatischen  Dichtung  auf  Lessing 
zurückgeht,  mag  ihn  nüchtern  finden,  obwohl  ihn  im  Lustspiel  keiner  der 
Späteren  erreichte.  Was  Lessing  als  Pfadfinder  und  Schatzgxäber,  als 
Befruchter  dem  deutschen  Drama  bedeutete,  wie  dieser  Bringer  von  Luft 
und  Licht  auch  in  anderen  Ländern  nicht  seinesgleichen  hat,  das  erkennt 
man  erst,  wenn  man  aus  den  urprosaischen  dumpfen  Niederungen  der 
früheren  Zeit  plötzlich  an  ihn  gelangt,  und  nun  mit  einemmal  alles  hell 
und  natürlich  und  geistesfrisch  wird.  Man  sollte  in  deutschen  Landen  der 
Kunst  kein  Theater  bauen,  an  dessen  Pforten  nicht  Lessings  Sinnbild 
stände.  Auch  als  er  sich  nach  der  Hamburger  Katastrophe  geflissent- 
lich von  Theater  und  Schauspielervolk  fernhielt,  fegte  sein  Geist  reinigend 
durch  die  besseren,  in  der  Neuberischen  Spur  wandernden  Truppen. 
Oberall  wirkte  jener  gutherzige  Einfall  nach,  diesen  Truppen  feste  Wohn- 
sitze zu  geben,  sie  künstlerisch  und  sozial  zu  konsolidieren,  aus  den  Wander- 
karren Tempel  zu  bauen.  Es  war  die  Zeit  gekommen,  da  Goethes  Wilhelm 
Meister  „nach  einem  künftigen  Nationaltheater  so  vielfältig  hatte  seufzen 
hören". 

Wohl  ß-eschah  es  schon  früher,  daß  dieser  oder  jener  Truppe  irgend      Prinzipal- 

o  schalten  und 

ein  Mäcen  längere  Unterkunft  gewährte,  aber  günstigstenfalls  dauerte  Nationaltheater. 
es  nur  einige  Jahre,  dann  schlug  den  Unsteten  wiederum  die  Wander- 
stunde, und  die  hervorragendsten,  durch  ganz  Deutschland  und  über  die 
Grenzen  hinaus  berühmtesten  „Prinzipale",  wie  Caroline  Neuber  und  ihr 
Schüler  Schönemann,  bei  dem  Ekhof  begann,  verendeten  im  Elend.  Erst 
seit  dem  Hamburger  Beispiel  hielt  sich  die  Idee  eines  Nationaltheaters 
aufrecht.  In  Hamburg  selbst  sorgte  von  Ekhof  bis  zum  großen  Schröder 
eine  Reihe  starker  schauspielerischer  Talente  dafür,  daß  Lessings  Saat 
auch  ohne  Lessings  Mitwirkung  aufging.  Allmählich  fanden  auch  die 
Höfe,  die  bisher  fast  nur  der  Oper  zugänglich  gewesen  waren,  Geschmack 
am  Schauspiel.  Gotha  ging  1775  mit  bestem  Beispiele  voran,  begründete 
das  erste  deutsche  Hoftheater  modernen  Stils  und  stellte  an  seine  Spitze 
den  Berufensten,  Ekhof  selbst,  dem  dadurch  das  jämmerliche  Schicksal 
der  Neuberin  und  seines  Lehrmeisters  Schönemann  erspart  blieb,  der  als 
verehrter  Mann  in  Amt  und  Würden  sterben  durfte.     In  Wien  griff  Josef 


-,  Paui,  Scill.KNriiKK:    Das  'J'hcatcr. 

4  /- 

der  Zweite  den  Gedanken  auf  und  nahm  das  Burgtheater  in  eigene  kaiser- 
liche Verwaltung;  er  gab  damit  der  deutschen  Schauspielkunst  einen 
Sanimel-  und  Sonnenplatz,  auf  dem  sie  gedeihen  konnte  wie  nirgends 
anders.  Im  Zusammenhange  mit  l.essings  Einflüssen  steht  es,  daß  auch 
der  junge  Schiller  schon  1781  in  Mannheim  ein  Nationaltheater  für  seine 
Erstlinge  bereit  fand.  Kein  wandernder  Prinzipal  hätte  die  „Räuber"  bringen 
wollen  oder  können.  Das  vermochte  erst  die  sichere  Autorität  eines 
Dalberg.  So  bildeten  sich  seit  der  Hamburgischen  Entreprise  die  Formen 
aus,  die  fähig  waren,  den  mächtigen  Inhalt  des  neuen  nun  aufblühenden 
Dramas  zu  fassen,  das  wir  Deutsche  unser  klassisches  nennen.  Die 
großen  Dichter  selbst  schufen  sich  in  Weimar  eine  eigene  Bühne,  auf  der 
sie  ihrem  poetischen  Stil  ein  schauspielkünstlerisches  Ideal  anpaßten. 
Hamburg  u.id  Während  in  Hamburg  die  Lessingsche  Tradition  der  in  Natur  zu  ver- 

we.mar.      ^^.^^j^^gj^^jg^  Kunst  durch  Friedrich  Ludwig  Schröder,  den  größten  Schau- 
spieler  der   Dichterzeit,    gepflegt   wurde,    verlangte    man   in  Weimar   eine 
Verklärung  der  Natur,  eine  Steigerung  des  wirklichen  Lebens  zu  höherer 
Wahrheit.     Gegenüber   der   Prosarede,   in   die  Schröder   den   Shakespeare 
und    den   Calderon    klemmte,    sollte   in  Weimar   der  fünffüßige  lambus  zu 
feineren  oder  schwungvolleren  Rechten  gelangen,   denn  inzwischen  hatte 
Schillers  Pathos  diesen  prosaähnlichen  Nathanvers  mit  mächtigstem  Odem 
erfüllt.     Max,    Mortimer,    Dunois,    die    feindlichen    Brüder,    Arnold    vom 
Melchthal  brauchten    einen    erhabeneren  Ton   und   größere    Gebärden   als 
I^Iinnas  Major  und   der  Prinz   von   Guastalla.     Um   diesen   Stil  zu  treffen, 
mußten    deutsche    Schauspieler     erst     erzogen    werden;    als    Erziehungs- 
mittel   benutzten    die    Weimaraner    —    auch    ein    Beispiel    wellenförmiger 
Entwicklung  —  dieselbe    französische  Tragödie,   die   Lessing   einige  Jahr- 
zehnte   früher  verworfen    hatte.     Wer  Goethes  vielbespöttelte  Regeln  für 
Schauspieler    liest,    möchte    diese   Schulmeisterei    der    freieren  Auffassung 
Lessings  entgegenstellen  und   eine  Abirrung  von  Lessings   rechtem  Wege 
zur  natürlichen  Kunst  beklagen.     Aber   Goethe  löste   mit   diesen  Regeln 
eine    ganz    andere    Aufgabe    als    Lessing    mit    seinen    wenigen    kritischen 
Bemerkungen   in   der   Dramaturgie.     Während  Lessing    als  freier  Kritiker 
vor    die    Öffentlichkeit    trat,    fühlte    Goethe    die  Verpflichtung    zum    Ele- 
mentarschulunterricht.    Er   schrieb   für  Analphabeten  der  Schauspielkunst, 
denen    körperliche    Zucht    und   Bildung    einzutrichtern   war,    die    aus    dem 
rohen    Naturalismus    ihrer    größeren    oder    geringeren    Talente    zu    künst- 
lerischen Formen   emporzuheben    waren.     Wer   aus   praktischer   Erfahrung 
weiß,   daß  jeder   dramaturgische  Unterricht    mit   Abc   und   Einmaleins    be- 
ginnen muß,  daß  auf  dem  Theater  kein  Meister   vom  Himmel  fällt,  wird, 
statt   über  Goethes  Regeln   zu  lachen,   ehrfürchtig  bewundern,   wie  dieser 
unermüdlichste  und  allergründlichste  Erzieher  seiner  Nation  hier  die  müh- 
samste   Pädagogik    selbst    auf   sich    nahm    und    einem   System    zuzuführen 
suchte.     Auch    Schröder    in    Hamburg    stellte    für    seine    Schauspieler   Er- 
ziehungsgrundsätze   auf,    die    mit    den    Goetheschen     oft    übereinstimmen. 


VII.   Das    l'heater  der  Gcycnwarl.  475 

Nur  kannte  Schröder,  weil  er  selbst  Schauspieler  war,  die  Gefahren  einer 
solchen  Systematik  besser  als  Goethe,  und  wußte  vor  den  Übertreibungen 
der  Regel  zu  warnen.  Er  ging  fachmännischer  vor  als  Goethe,  der  der 
Unart  durch  Art  wehren  wollte  und  oft  nicht  sah,  daß  jenseits  der  Art 
gleich  wieder  die  entgegengesetzte  Unart  lauert. 

VII.  Das  Theater  der  Gegenwart.  Der  Gegensatz  der  Hamburger 
und  der  Weimarer  Schule,  der  die  gesamte  deutsche  Schauspielkunst  des 
ig.  Jahrhunderts  beherrschte,  wurde  von  den  Meistern  dieser  Schulen  zwar 
empfunden,  wuchs  sich  aber  erst  später  zu  größerer  Schroffheit  aus. 
Erst  die  Schüler  übertrieben  die  Grundsätze  der  Meister  und  weiterten 
die  Kluft.  Der  Weimarer  Stil  artete  in  hohle  Pathetik  der  Reden  und 
Gesten  aus  und  lieh  den  großen  Ton  und  die  bedeutende  Gebärde  nicht 
mehr  dem  tieferen  Sinn,  sondern  deklamierte  und  gestikulierte  ins  Leere, 
Der  Hamburger  Realismus,  verleitet  durch  eine  platte  Werkeltagsschreiberei, 
entartete  zur  Nüchternheit.  Seelenlos  eins  wie  das  andere.  Dennoch  wirkte 
der  Segen  jener  großen  Kultivierer  der  deutschen  Theater  auf  die  späteren 
Generationen  wohltätig  nach.  Einem  Naturgenie  wie  I-udwig  Devrient 
war  die  Kunstbahn  geebnet;  seine  Kugel  rollte  wild,  aber  sie  rollte  ans 
Ziel.  In  Wien  verschmolzen  unter  Schrey\'ogel  beide  Richtungen  zu  einer 
höheren  Einheit,  die  den  tiefen  Grund  zum  Laubeschen  Burgtheater  legte. 
Auf  diesem  Boden  konnte  der  Zusammenschluß  großer  Talente  einen 
Dichter  vom  Range  Grillparzers  aus  dem  Epigonentum  zu  eigener  Kraft 
geleiten.  Auf  anderen  Bühnen  freilich  fehlte  ein  solcher  Zusammenschluß, 
und  da  es  an  großen  schauspielerischen  Talenten  nirgends  gebrach,  so 
mißbrauchten  diese  ihre  Souveränität  zu  eigenem  Nutzen. 

Es  entstand,  den  Schröderschen  und  Goetheschen  Grundsätzen  gleich  virtuoscmun 
entgegen,  ein  selbstsüchtiges  und  selbstgefälliges  Virtuosentum,  das  Eduard 
Devrient  seinem  großen  Onkel  Ludwig  wohl  mit  Unrecht,  seinem  Bruder 
Emil,  dem  Damenliebling,  gewiß  mit  Recht  vorwarf,  das  die  geniale  Be- 
gabung Bogumil  Dawisons  und  das  Mädchenphänomen  Marie-  Seebachs 
viel  zu  früh  aus  Laubes  strenger  Schule  zur  Wanderschaft  trieb  und 
dem  Einzelnen  zwar  populäre  Erfolge  sicherte,  aber  der  ganzen  Kunst 
schadete.  Denn  was  sich  die  Götter  erlaubten,  wollten  auch  die  Herden- 
tiere haben.  Jeder  Stümper,  jeder  Geck  suchte  durch  abgelauschte  Vir- 
tuosenmätzchen aufzufallen,  riß  Kulissen  und  erging  sich  ohne  Rücksicht 
auf  das  Gesamtbild  in  übertreibenden  Solowirkungen  und  Effekthaschereien. 
Die  Schauspielkunst  hatte  ein  solches  Übergewicht,  daß  sie  sich  auf  Kosten 
des  Dramas  breit  machte,  als  wollte  sie  sich  an  der  Literatur  für  frühere 
Unbill  rächen.  Einem  der  saftigsten  Genies  konnte  Dingelstedt  den  feinen 
Vorwurf  nicht  ersparen:  in  Berlin  spiele  Döring  im  „zerbrochenen  Krug", 
in  Wien  werde  der  „zerbrochene  Krug"  mit  La  Roche  gespielt.  Diesen 
Kultus,  den  Schauspieler  mit  sich  treiben  ließen  und  selbst  trieben,  för- 
derten mittelmäßige  Literaten   durch  Paradereiserollen,   die  sie   ihnen  auf 


,y.  Paul  Schlenther:  Das  Theater. 

die  Leiber  und  Leibchen  schrieben.  Auch  das  Beispiel  fremder  Künstler, 
die  im  Laufe  des  Jahrhunderts  herkamen,  entzündete  die  Mimeneitelkeit. 
Welch  ein  Ziel,  das  schon  im  Anfang  des  Jahrhunderts  Talma  dem  Ko- 
mödiantenehrgeiz gesteckt  hatte,  als  ihn  in  Erfurt  Napoleon  vor  einem 
Parterre  von  Königen  spielen  ließ.  Später  kamen  die  Rachel  und  die 
Ristori,  Salvini  und  Rossi  und  zeigten,  wie  sich  in  anderen  Kulturstaaten 
ein  großer  Mime  durchzusetzen  weiß.  Wer  wollte  da  in  Wien  oder 
München  oder  Dresden  ein  Guter  unter  Guten  bleiben? 

Das  Burg-  Zur  Ehre  deutscher  Schauspieler  sei  es  gesagt,  daß  doch  so  mancher 

diese  Frage  im  künstlerischen  Sinn  beantwortete.  Anschütz,  La  Roche, 
Fichtner,  Ludwig  Loewe,  die  Rettich,  die  Haizinger,  Luise  Neumann 
durften  im  stolzen  Bewußtsein  zur  Ruhe  gehn:  nur  wer  im  Wiener  Burg- 
theater war,  wußte,  was  jeder  Einzelne  von  ihnen  und  was  sie  alle  zu- 
sammen bedeuteten.  Allerdings  lebte  auch  diese  Elitegarde  deutscher 
Schauspielkunst  keineswegs  nur  vom  großen  Drama.  Die  Dutzendware 
beherrschte  das  Repertoire;  die  Nachfolger  Ifflands  undKotzebues  bestellten 
das  Haus;  den  Stil  Schillers  und  Goethes  scheint  man  auch  im  Burg- 
theater Laubes  nicht  mehr  so  getroffen  zu  haben,  wie  einst  im  Burg- 
theater Schreyvogels.  Hatte  dies  der  Hamburger  Einschlag  verschuldet? 
Oder  strebte  die  Zeit  nach  anderen  Zielen?  Auch  auf  den  übrigen 
Theatern  fand  sich  äußerst  selten  eine  glänzende  Begabung,  die  dem 
Weimarer  Idealismus  innerlich  gerecht  wurde.  Wer  diese  Anerkennung 
fand,  wie  Eugen  Dettmer  aus  Dresden  als  Posa  und  Egmont,  entging 
doch  nicht  dem  Vorwurf  der  Manieriertheit  und  Geziertheit. 
Berliner  Im  Berliner  Hoftheater,  das  seit  Fleck  und  Iffland  eine  Fülle  starker 

c  auspie  aus.  g^^g^^gpjgjgj.-gj,j^gj.  Xaleute,  darunter  weithin  ragende  Vorbilder  wie  Seydel- 
mann  und  Dessoir  beherbergt  hatte,  konnte  man  in  der  zweiten  Hälfte 
des  Jahrhunderts  beobachten,  daß  auch  bei  Schiller  die  realistischen  Ge- 
stalten besser  gelangen  als  die  idealen  Helden.  Dort  tüchtige  Kraft,  hier 
affektierte  Schöntuerei,  die  vielen  schon  beim  wirklich  schönen  Emil 
Devrient  unerträglich  war.  Karl  Werder,  ein  echter  Kenner  der  Schau- 
.spielkunst,  erzählte  mit  Humor,  wieviel  vergebliche  Mühe  er  aufwenden 
mußte,  um  dem  weibischen  Hendrichs  die  tänzelnden  Pas  abzugewöhnen 
und  ihm  Schritt  und  Haltung  eines  Columbus  beizubringen.  Hier  scheinen 
Goethes  Regeln,  die  seine  gelehrigsten  Schüler,  das  Wolffische  Ehepaar, 
nach  Beriin  importiert  hatten,  zum  Zerrbild  geworden  zu  sein.  Mehr  Glück 
oder  Verstand  hatte  das  Wiener  Burgtheater,  das  sich  in  Josef  Wagner 
und  einigen  seiner  Nachfolger  Idealisten  von  lebendigstem  Feuer  zu  schaffen 
wußte.  Sie  stellten  nicht  schöne  Bilder  ohne  Gnade  hin,  sondern  schufen 
Menschen,  die  das  Übermenschliche  realisierten.  Das  aber  ist  die  Voraus- 
setzung alles  Idealismus,  sofern  er  Kunst  sein  will.  Gerade  die  Kultur- 
arbeit der  Gegenwart  beweist,  daß  aller  Idealismus,  der  nicht  künstlerisch 
realisiert  werden  kann,  Schwindel  oder  Schwärmerei  ist. 

'^G^genwart'  Vom  Zeitalter  Bisnmrcks,   vom  naturwissenschaftlich-technischen  Zeit- 


VII.  Das  Theater  der  Gegenwart.  475 

alter  darf  man  nicht  verlangen,  daß  die  Schauspielkunst  Schiller  im  Stile 
Weimars  spiele.  Als  Adolf  Menzel,  der  große  Maler  des  modernen 
Realismus,  im  Theater  Wallenstein  sah,  störten  ihm  Maxens  „Privat- 
amouren"  den  interessanten  historischen  Vorgang.  Das  ist  das  Urteil  der 
ehrlichen  Gegenwart  über  abgelegte  Ideale.  Wenn  die  Schauspielkunst 
zugleich  wahr  und  künstlerisch  ist,  so  kann  sie  noch  heute  den  Glauben 
des  Zuschauers  in  die  weitesten  Fernen  der  Phantasie  tragen,  aber  nur 
durch  Mittel  des  Lebens  und  Erlebens.  Von  großer  Poesie  der  Vergangen- 
heit kann  daher  nur  das  auf  die  moderne  Bühne  gerettet  werden,  was 
sich  in  Form  und  Inhalt  nicht  gegen  die  Bedingungen  des  modernen 
Lebens  und  Erlebens  sträubt.  Kann  Max  Piccolomini  nicht  mehr  wie  ein 
lebendiger  Mensch  in  Überlebensgröße  wirken,  so  wird  man  nicht  an  ihn 
glauben,  wie  man  an  seinen  Verwandten,  den  Prinzen  von  Homburg  glaubt, 
den  erst  moderne  Schauspielkunst  auf  der  Bühne  offenbart  hat.  Jede  Zeit 
stellt  auf  ihre  Postamente  diejenige  Unsterblichkeit,  in  der  sie  ihr  eigenes 
Seelenleben  wiederfindet.  Das  läßt  sich  nirgends  so  deutlich  beobachten, 
wie  auf  dem  Theater,  wo  auch  die  Großen  und  Größten  während  be- 
stimmter Zeitläufte  im  Werte  steigen  und  sinken  und  wiederum  steigen. 
Möglich,  daß  eine  Zeit  kommt,  für  die  Theklas  Arie  vom  Schönen  auf  der 
Erde  wieder  das  Höchste  sein  wird.  Von  der  Gegenwart  und  der  nächsten 
Zukunft  darf  man  das  nicht  erwarten  und  auch  nicht  verlangen. 

Unsere  Zeit  ist  wahrlich  unparteiisch  genug.  Sie  hat  auf  allen  Bühnen  vieUeitigkeü. 
deutscher  Sprache  Schillers  Gedächtnis  feierlich  befestigt,  ohne  den  Be- 
geisterungssturm von  1859,  aber  mit  einem  dankbaren  und  tief  verstehen- 
den Pflichtgefühl.  Sie  hat  die  Erkenntnis  gebracht,  daß  auch  Goethe  ein 
Dramatiker  ist,  aber  mehr  im  modernen  als  im  Weimaranischen  Sinn.  Sie 
hat  das  wunderbare  dramatische  Genie  des  „Romantiker.s"  Kleist  erst  dem 
ITieater  geschenkt.  Sie  hat  an  Grillparzer  das  Unrecht  gesühnt,  das 
Grillparzers  eigene  Zeit,  die  nur  seine  Epigonenwerke  anerkennen  wollte, 
ihm  zufügte,  als  er  selbständig  wurde.  Sie  hat  die  Attiker,  Shakespeare, 
Moliere  lebendig  erhalten,  teilweise  erst  wieder  lebendig  gemacht.  Sie 
fördert  mit  mäeutischem  Bemühen  den  schweren  Entbindungsprozeß  ihres 
eigenen  Dramas,  das  die  großen  Konflikte  und  Katastrophen  in  stille  Seelen 
legen  oder  im  sozialen  Kampfe  zeigen  will.  Sie  sucht  den  Ausgleich  zwischen 
großen  Überlieferungen  der  Vergangenheit  und  den  unabweisbaren  Aus- 
drucksformen eines  neuen  veränderten  Lebens.  Diesen  vielseitig  vordringen- 
den, oft  einander  widerstreitenden  Ansprüchen  kommt  keine  Bühne  der  Welt 
so  weit,  so  nachgiebig  entgegen  wie  die  deutsche  Bühne,  die  noch  immer 
unbekümmert  um  politische  Grenzverschiebungen  überall,  wo  deutsche 
Sprache  aufrecht  bleibt,  ihres  nationalen  Dienstes  waltet,  aber  zugleich 
jeder  fremden  Erscheinung  eine  Gastfreundschaft  entgegenbringt,  die  der 
Gastfreund  nur  selten  erwidert.  Wenn  der  Jahresspielplan  eines  großen 
deutschen  Hoftheaters  einmal  besonders  reich,  vielfältig  und  gut  geraten 
sollte,    so  böte   dieses  Repertoire   ein  Bild   der   gesamten    geschichtlichen 


476 


Vaui.  Schi.enthku:   Das  Theater. 


Entwicklung  unserer  gegenwärtigen  dramatischen  Kunst.  Zur  Orestie  des 
Aischylos,  zur  Sophokleischen  Oidipostrilogie,  zur  Euripideischen  „Medea" 
und  zu  einem  Konglomerat  Aristophanischer  Komödien  träte  die  indische 
„Sakuntala".  Ein  verkappter  Plautus  wagte  sich  neben  einen  verschleierten 
Terenz.  Aus  dem  Mittelalter  käme  der  Advokat  Pathelin  mit  der  Mandra- 
gola.  Lope  und  Calderon  lieferten  mehr  als  ein  Zeugnis  ihrer  Fruchtbarkeit. 
Neben  Shakespeares  Meisterwerke  drängten  sich  manche  seiner  vernach- 
lässigten Stücke  und  auch  an  Shakespeares  englischen  Vorläufern  und  Zeit- 
genossen würden  Wiederbelebungen  versucht.  Moliere  käme  blankgeputzt 
und  zöge  manchen  der  Jüngeren  seiner  Nation,  wie  Beaumarchais,  nach  sich. 
Das  Beispiel  der  Düse  genügte,  Goldonis  „Locandiera"  wieder  einzuführen, 
imd  wie  gern  holte  man  den  alten  Holberg  herbei,  wenn  seine  komischen 
Motive  durch  Kotzebue  und  andere  Ausplünderer  nicht  verbraucht  wären. 
Alle  diese  aber  wären  erst  Vorposten  für  die  eigentliche  Festung  des 
Spielplans,  für  unsere  eigenen  großen  Dramatiker  von  Lessing  bis  zu 
Grillparzer,  an  den  sich  spröde  Hebbel  und  Otto  Ludwig  schließen.  Ich 
weiß  aus  eigenster  Erfahrung  nur  zu  wohl,  daß  sich  dieser  Idealspielplan 
in  Jahresfrist  nicht  durchführen  läßt,  denn,  wie  schon  der  Weimarer 
Theaterdirektor  Goethe  einer  hochgeborenen  Petentin  schrieb:  „die  ver- 
schränkten Verhältnisse  theatralischer  Beziehungen  rauben  den  Vorstehern 
derselben  fast  allen  freien  Willen."  Das  Theaterjahr  ist  kaum  ein  Zehn- 
monatsjahr, und  ach!  das  Feld  ist  gar  so  weit.  Das  Feld  wird  aber  noch 
viel  weiter  durch  jene  Gemeinplätze,  worauf  alles  das  wuchert,  was  Goethe 
in  Weimar,  Schröder  in  Hamburg,  Iffland  in  Berlin,  Eduard  Devrient  in 
Karlsruhe,  Laube  in  Wien  so  wenig  entbehren  konnten  wie  wir  Heutigen 
und  was  wir  Heutigen  als  Zug-  oder  Kassenstücke  bezeichnen. 
Zug-  und  Wie    die    heutige  Presse,    auch    die    größte   und  beste,    ihr  Publikum 

ohne  den  Feuilletonroman  nicht  befriedigen  kann,  so  darf  sich  ein  Theater, 
das  auf  ein  breites  mannigfaltiges  Stadtpublikum  rechnet,  den  jeweiligen 
Kotzebues  oder  Birch-Pfeiffers  schon  darum  nicht  verschließen,  weil  jedes 
Theater,  auch  das  subventionierteste  Hof-  oder  Stadt-  oder  Aktientheater, 
auf  geschäftlicher  Grundlage  steht  und  um  so  bessere  Geschäfte  machen 
muß,  je  höher  es  künstlerischen  Idealen  folgt.  Je  mehr  abgearbeitete,  in 
ihren  Nerven  überreizte,  von  ihren  Sorgen  unerlöste  Menschen  den  Schluß 
des  schweren  Tages  im  Theater  verbringen,  desto  größer  wird  das  Be- 
dürfnis nach  leichter  Zerstreuung,  leichter  Anregung,  leichter  Rührung 
und  vor  allem  nach  dem  größten  Sorgenbrecher,  dem  lauten  Gelächter. 
Wenn  das  Kunsttheater  diesem  Bedürfnisse  nicht  entgegenkommt,  so 
würden  es  Singspielhallen,  Tingeltangel  und  Spezialitätenbühnen  vollends 
verdrängen.  Darum  sind  nicht  nur  unter  den  Schauspielern,  sondern  auch 
Das  Lustspiel,  unter  den  Autoren  leichte  flotte  Lustspieltalente,  die  in  guter  Form  über 
Geist,  Geschmack  und  Laune  verfügen,  eine  Wohltat.  Wie  in  der  besten 
Zeit  des  Wiener  Burgtheaters  Bauernfeld  diese  populären  Theaterbedürf- 
nisse   mit   einer   gewissen  Grazie    stillte,    so    möchte    man   wünschen,    daß 


VIT.  Das  Theater  der  Gegenwart.  ^-j-j 

.sich  heutzutage  bühnenkundige  Talente  vom  Range  Ludwig  Fulda.s  oder 
Arthur  Schnitzlers  oder  Max  Dreyers  mit  dieser  dankbaren  und  menschen- 
freundlichen Mission  begnügten,  anstatt  einerseits  nach  Dichterkränzen 
zu  langen,  die  allzuhoch  hcängen,  andererseits  das  Gebiet  der  muntern 
Theaterunterhaltung  handwerksmäßigen  Machern  zu  überantworten.  Nur 
in  Weltstädten,  wie  Berlin  und  Paris,  deren  Theater  nicht  bloß  mit  der Speiiaiisierune. 
einheimischen  Bevölkerung,  sondern  auch  mit  einem  ungeheuren  Fremden- 
zudrang  rechnen  dürfen,  können  sich  einzelne  Bühnen  auf  ein  bestimmtes 
Gebiet  der  dramatischen  Kunst  einschränken.  Auf  diese  Weise  hat  sich 
in  Berlin  seit  Anfang  der  neunziger  Jahre  für  die  psychologische  Kunst 
Ibsens  und  Hauptmanns  ein  Theater  fast  bis  zur  schauspielerischen  Voll- 
endung gebildet.  Ein  anderes  Unternehmen  versteht  es,  nach  Londoner 
Muster  alljährlich  ein  bis  zwei  grosse  Shakespearedramen  mit  allen 
Raffinements  moderner  Techniken  in  Kassenstücke  zu  verwandeln,  so  daß 
Dichtungen  wie  der  „Sommernachtstraum"  oder  der  „Kaufmann  von 
Venedig"  an  zahllosen  Abenden  hintereinander  gegeben  werden  können, 
wie  vormals  nur  eine  zugkräftige  Posse  oder  Operette. 

Diese    Einseitigkeit    des    Spielplanes    ist    der    Schauspielkunst    nicht  Schauspieier- 

^  misere, 

förderlich,  denn  der  Schauspieler  braucht  Abwechslung,  wie  er  sie  in 
Deutschland  an  den  Hoftheatern  und  an  den  Haupttheatern  größerer 
Mittelstädte  noch  findet.  Xur  hier  kann  er  sich  unter  guter  Leitung  vor- 
teilhaft entwickeln.  Leider  ist  in  Deutschland  bei  der  Überfülle  von 
Theatern  das  Material  an  brauchbaren  Schauspielern  viel  zu  gering. 

Der  Theateralmanach,  den  die  Genossenschaft  Deutscher  Bühnen- 
angehöriger, diese  mustergültige  Vertretung  sozialer  Standesinteressen,  all- 
jährlich herausgibt,  verzeichnet  die  deutschen  Bühnen  mit  ihrem  Personal 
auf  373  Seiten  Groß-Oktav.  Wollte  sich  der  Theateralmanach  auf  die- 
jenigen Schauspieler  beschränken,  die  für  ihre  Kunst  von  Belang  sind, 
so  käme  er  mit  einem  Drittel  von  73  Seiten  aus.  Man  kann  sich  vor- 
stellen, wie  schwer  es  unter  diesen  Umständen  ist,  schon  in  Städten 
wie  Leipzig,  Mannheim  oder  Hamburg  für  ein  künstlerisches  Zusammen- 
spiel zu  sorgen  und  diese  alten  Kulturstätten  dramatischer  Kunst  auf  der 
Höhe  zu  halten.  Aber  auch  Altenburg,  Heidelberg,  Harburg  wollen 
daneben  ihr  festes  Theater  haben,  und  das  eigentliche  Schmierenwesen 
herumziehender  Truppen,  dieser  alte  Rest  früherer  Prinzipalschaften,  fängt 
erst  bei  kleinsten  Städten  und  Städtchen  an. 

Bei  so  trauriger  Verzettelung  der  wirklichen  Talente,  die  sich  in 
diesem  weiten,  wüsten  Umhertreiben  nicht  zueinander  finden  können,  die 
durch  schlechtes  Beispiel  zu  verkommen  drohen  und  dadurch  das  geringe 
Vermögen  der  deutschen  dramatischen  Kunst  noch  verkleinern,  liegt  der 
Gedanke  nahe,  die  Zahl  großer  ständiger  Bühnen  herabzusetzen  und  durch 
Verminderung  des  Quantum  das  Quäle  zu  stärken.  An  die  alte  Wander-  Theater- 
kraft  des  Schauspielerbenifes  anknüpfend  möchte  man  im  Zeitalter  der 
Koalitionen   eine   größere  Zahl  von  Xachbar.städten,   von  denen  jetzt  jede 


478 


Paui.  Schlknther:  Das  Theater. 


eine  dürftige  Bühne  hat,  zu  einer  kräftigern  Bühne  unitis  viribus  zu- 
sammentun, z.  B.  am  Niederrhein  Düsseldorf,  Elberfeld-Barmen,  Crefeld  oder 
beim  Mainausfluß  Wiesbaden,  Mainz,  Darmstadt,  oder  in  der  Schweiz 
Bern,  Basel,  Zürich,  oder  im  Norden  Schwerin,  Rostock,  Lübeck.  Was 
wieJer  im  1 8.  Jahrhundert  dem  fahrenden  Volke  der  Schönemanns  und  Acker- 
ruppen.  ^^^^^^^^  mögUch  War,  die  im  Staub  der  Landstraße  quer  durch  ganz  Deutsch- 
land von  Straßburg  bis  Riga  karrten,  das  müßte  im  Zeitalter  des  Verkehrs 
Kinderspiel  sein;  da  die  meisten  Theater  mittlerer  Städte  gleichzeitig  über 
Oper  und  Schauspiel  verfügen,  könnten  sie  innerhalb  der  zwei  Gattungen 
abwechseln.  Wo  bisher  Ansätze  zu  dieser  Freizügigkeit  versucht  wurden, 
hatten  sie  Erfolg.  Schon  in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren  hielten 
die  Meininger  und  die  Münchener  Mundartspieler  ihre  Triumphzüge.  Jetzt 
finden  Berliner  Bühnen  in  Wien,  Wiener  Schauspieler  in  Berlin  die  freund- 
lichste Aufnahme.  Haupthindernis  für  den  Zusammenschluß  von  Nachbar- 
städten dürften  die  verschiedenartig^en  Org^anisationen  der  Theater  sein. 
Die  Höfe  unterhalten  noch  immer  ihre  eigenen  Theater;  und  zwar  sind  diese 
größeren  oder  kleineren  großherzoglichen  und  herzoglichen  Bühnen  noch 
immer  Oasen  in  der  weiten  Wüste  der  Provinzen,  weil  sie  die  Kunst  doch 
in  gewisse  Formen  bannen  und  die  Existenz  bewährter  Schauspieler  sicher 
stellen.  Welche  starke  Blüte  auf  diesem  Boden  noch  der  Kunst  gedeihen 
konnte,  hat  Herzog  Georg  IL  von  Sachsen -Meiningen,  nach  Laube  der 
bedeutendste  deutsche  Theaterführer,  aller  Welt  bewiesen.  Und  jetzt 
sehen  wir  an  den  Beispielen  Dresdens  oder  Stuttgarts,  daß  die  Freiheit 
der  Kunst  in  Hoftheatem  besser  geborgen  ist  als  in  manchem  bürgerlichen 
Theater.  Eine  solche  Hofbühne  wird  sich  aber  schwerlich  mit  einem  ver- 
pachteten Aktienunternehmen  oder  einem  von  der  Stadt  selbst  verwalteten 
Theater  paaren.  Die  höchste  Pflege  der  Schauspielkunst  als  Darstellung 
menschlicher  Sitten  und  Leidenschaften  ist  daher  fast  ausschließlich  den 
ganz  großen  Städten  überlassen. 
AVeitstädte.  Nur  in  Berlin  und  Wien  ist  eine  urteilsfähige  Kritik  zu  höchsten  Maß- 

stäben berechtigt.  So  vollzieht  sich  auch  in  den  Landen  deutscher  Zunge 
ein  Prozeß,  der  in  den  meisten  anderen  Kulturstaaten  längst  entschieden 
ist.  Das  Theater  Frankreichs  heißt  Paris,  das  Theater  Englands  heißt 
London,  das  Theater  Dänemarks  heißt  Kopenhagen,  das  Theater  Nor- 
wegens heißt  Kristiania.  Nur  in  Italien  erhielt  sich  das  Wandertruppen- 
wesen bis  auf  den  heutigen  Tag.  Die  Künstler  gruppieren  sich  hier  nicht 
nach  festen  Wohnsitzen,  sondern  nach  umherziehenden  Gesellschaften,  die 
meistens  von  einer  hervorragenden  Kraft,  wie  Novelli  oder  der  Düse,  be- 
herrscht werden  und  bald  in  Venedig  bald  in  Neapel,  bald  in  Genua 
bald  in  Palermo  ihre  Zelte  aufschlagen.  Die  Stadt  der  Könige  und  Päpste 
spielt  im  italienischen  Theaterwesen  keine  größere  Rolle  als  Mailand  oder 
Florenz.  Die  Schauspielkunst  hat  darunter  nicht  gelitten.  Eines  wahrhaft 
künstlerischen  Genies,  wie  es  Eleonora  Düse  ist,  kann  sich  kein  Theater 
anderer  Nationalität  rühmen.     Auch  für  die,   die   ihre  Sprache   nicht   ver- 


VII.   Das  Theater  der  Gegenwart.  47g 


Stehen,  redet  sie  verständlich,  weil  sie  das  tiefste  Geheimnis  der  Schau- 
spielkunst offenbart,  den  Körper  in  Seele  zu  verwandeln.  Freilich  ist 
auch  ihr  Repertoire  beschränkt  und  ihrer  großen  Kunst  nur  selten  würdig. 
Das  Ideal,  die  größten  Schauspieler  in  größten  Dramen  gemeinsam  zu 
sehen,  erscheint  unerreichbar.  Bisweilen  glaubt  man,  es  werde  nach  dem  F«t.pieihaus. 
Bayreuther  Muster  durch  ein  Festspielhaus  in  sommerlicher  Muße  erreicht 
werden.  Der  Plan  ist  so  schön,  daß  jeder  ihn  fördern  sollte;  auch  der, 
der  zweifelt.  Man  denke  sich  dort,  wo  sich  die  Wege  der  Alpenfahrer 
nach  Tirol  und  in  die  Schweiz  scheiden,  am  Zürcher  See  oder  in  dem 
wundervollen,  obendrein  vom  Theaterwetter  besonders  begünstigten  Salz- 
burg, während  des  Juli  und  August  die  Versammlung  unserer  besten 
Menschcndarsteller,  die  nach  sorgfältigsten  Proben  unter  sachverständiger 
Leitung  in  künstlerischer  Ausstattung  heuer  die  beiden  Teile  des  „Faust", 
übers  Jahr  von  Shakespeare  eine  Tragödie  und  ein  Lustspiel,  das  nächste 
Mal  Schiller,  dann  Ibsens  „Brand"  und  „Peer  Gynt"  einem  von  Berges-  und 
Waldesluft  erfrischten,  den  Sorgen  des  Werkeltags  ferngerückten,  einander 
fremden  und  darum  wenig  durcheinander  voreingenommenen  Publikum 
aufführen.  Welche  Anreg-ung  könnte  jeder  Darstellende  und  Zuschauende 
hiervon  mitnehmen  und  dann  den  Samen  in  die  heimatliche  Erde  pflanzen. 
Bis  dieser  Traum  Wirklichkeit  wird,  möge  er  jeden  ermutigen  und  mahnen, 
zu  Hause  nach  dem  Höchsten  zu  streben,  das  erreichbar  ist.  Man  wird 
dieses  Höchste  auch  künftighin  auf  dem  schmalen  Pfade  zwischen  Schwulst 
und  Schwäche  finden,  der  die  Entartungen  der  Weimarer  Schule  von  den 
Entartungen  der  Hamburger  Schule  trennt,  der  der  Natur  gibt,  was  der 
Natur  ist,  und  dem  Stile,  was  des  Stiles  ist,  der  eine  Tradition  nur  so  lange 
festhält,  als  sie  entwicklungsfähig  bleibt  und  den  Staub  des  Alters  durch 
neue  Lebensbäche  fortspült. 

Festzustellen,  was  die  Schauspielkunst  der  Zeit  und  der  Zukunft  ihren  ^^J™«^^;^ 
Vorfahren  schuldet,  ist  kaum  möglich,  da  niemand  sich's  genau  vorstellen 
kann,  wie  vor  seinen  Lebzeiten  gespielt  worden  ist.  Die  Schlagworte,  die 
wir  lesen,  können  einen  ganz  andern  Sinn  gehabt  haben,  als  den  wir 
ihnen  unterlegen.  Wer  dem  modernen  Realisten  unnatürlich  erscheint, 
mag  auf  den  Romantiker  schon  zu  naturalistisch  gewirkt  haben.  Wenn  wir 
von  Garrick  oder  der  Seyler-Hensel  sprechen,  so  umgaukeln  uns  trotz 
allen  genauen  Schilderungen  bleiche,  ungreifbare  Schatten,  es  bleibt  bei  dem 
traurig-schönen  Trivialwort:  dem  Mimen  flicht  die  Nachwelt  keine  Kränze. 
Eine  Hoffnung,  daß  sich  dies  in  Zukunft  ändern  werde,  leuchtet  aus  den 
Errungenschaften  der  modernen  Technik  auf,  die  wohl  bald  fähig  sein 
wird,  das  bewegte  Bühnenbild  im  Zusammenhang  mit  dem  Klang  und 
der  Artikulation  des  gesprochenen  Wortes  täuschend  festzuhalten.  Bis  da- 
hin müssen  wir  uns  bescheiden,  „des  Augenblicks  geschwinde  Schöpfung" 
durch  getrübte,  von  Zufallsstimmungen  gelenkte  Sinne  zu  empfangen,  im 
unsichern  Gedächtnis  zu  bewahren  und  durch  die  spärlichen  Adjektiva 
unserer  Sprache  zu  deuten. 


Literatur. 

Für  den  besonderen  Zweck  dieser  Skizze,  deren  Niederschrift  nur  in  spärlichen,  oft 
weit  voneinander  abgelegenen  Mußestunden  möglich  war,  konnte  ich  bloß  zwei  größere 
Werke  durcharbeiten.  Das  eine  ist  Eduard  Devrients  ,, Geschichte  der  deutschen  Schau- 
spielkunst", von  der  des  Verfassers  Enkel  Hans  Devrient  leider  keine  verbesserte  und  bis 
in  die  Gegenwart  fortgeführte  neue  Auflage,  sondern  nur  einen  unveränderten  Abdruck  der 
alten  (Berlin,  O.  Eisner,  1905)  herausgegeben  hat.  Das  andere  Werk  ist  Wilhelm  Creize- 
NACHs  ,, Geschichte  des  neueren  Dramas",  von  der  bis  jetzt  (Halle,  Niemeyer,  1893 — 1903) 
die  ersten  drei  Bände  erschienen  sind.  Creizenachs  ebenso  gelehrtes  wie  aufschließendes 
und  anregendes  Werk  liegt  den  historischen  Darlegungen  des  ersten  Teils  meiner  Skizze 
zugrunde.  Was  sich  als  Reminiszenz  aus  früherer  Lektüre  oder  früheren  eigenen  Studien 
hier  mag  eingeschlichen  haben,  kann  ich  nicht  mehr  unterscheiden  und  nachweisen. 


DAS  ZEITUNGSWESEN. 

Von 
PCarl  Bücher. 


I.    Ursprung-  und  Begriff  der  Zeitung.     Drei  Entwicklungsströme     Dreifacher 

'   .  .  ,  .  l'rsprung  der 

der  Kultur  münden  bei  der  Ausbildung  des  Zeitungswesens  m  ein  gemein-  Zeitung. 
sames  Bette,  um  in  diesem  vereint  weiterzufließen.  Der  eine  entspringt 
dem  Bedürfnisse  staatlicher  Organisation,  der  zweite  dem  des  sozialen 
und  wirtschaftlichen  Verkehrs;  der  dritte  sucht  seinen  Ursprung  in  dem 
Streben  nach  Erweiterung  des  Gesichtskreises  der  Individuen,  in  der 
fortgesetzt  wachsenden  Teilnahme  an  den  Schicksalen  und  am  geistigen 
Leben  der  gesamten  Mit-  und  Umwelt. 

Der  Staat  bedarf,  sobald  er  den  Kreis  enger  örtlicher  Gemein- 
schaften überschreitet  und  zur  Aufstellung  rechtsverbindlicher  Regeln  des 
Gesellschaftslebens  gelangt,  eines  Mittels,  um  den  Willen  der  höchsten 
Gewaltträger  durch  Gesetz  und  Verordnung  seinen  Angehörigen  ohne  Ver- 
zug bekannt  zu  machen.  Der  soziale  Verkehr  entwickelt  sich  in  gleichem 
Schrittmaße  mit  der  Ausbildung  größerer  wirtschaftlicher  Gemeinschaften; 
erst  wenn  über  die  Vorstufen  der  Haus-  und  Stadtwirtschaft  hinaus  das 
Zeitalter  der  arbeitsteiligen  Volkswirtschaft  erreicht  ist,  wird  die  öffentliche 
Bekanntgabe  von  Angebot  und  Nachfrage  als  Bedürfnis  empfunden.  Weit 
früher  erwacht  die  rein  geistige  Teilnahme  des  Individuums  an  den  Ge- 
schehnissen der  Mitwelt,  und  wenn  sie  in  ihrer  weiteren  Entwicklung  durch 
die  zunehmende  Ausdehnung  der  Staats-  und  Wirtschaftsgebiete,  durch 
die  Entstehung  von  politischen  und  ökonomischen  Beziehungen  auch  zu 
anderen  Völkern  mit  bedingt  ist,  so  findet  sie  doch  nicht  an  dem  Be- 
stehen solcher  Beziehungen  ihre  Grenze.  Vielmehr  spricht  sich  in  ihr 
immer  auch  ein  Hinausdrängen  des  Einzelnen  über  sein  geistiges  Sonder- 
dasein, eine  Verflechtung  desselben  in  die  Gattungsinteressen  der  Mensch- 
heit aus.  Damit  allein  kann  es  gerechtfertigt  werden,  wenn  hier  das 
Zeitungswesen  unter  den  ,3ildungsmitteln"  behandelt  wird. 

Das    Wort    Zeitung   findet  sich   in    unserer    Sprache    nicht  vor  dem    n^Kriffder 

.         .  Zeitung. 

1 5.  Jahrhundert.  Es  bedeutete  damals  eine  Nachricht  über  ein  Zeitereignis, 
eine  Neuigkeit  und  heftete  sich  bald  als  technische  Bezeichnung  an 
zuerst   geschriebene,    später  auch  gedruckte  Sammlungen    solcher  Nach- 

Db  Kultur  dsk  Gboenwakt.    Li.  3' 


.g2  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

richten.  Heute  verstehen  wir  unter  Zeitung  eine  auf  dem  Wege 
mechanischer  Vervielfältigung  hergestellte,  in  sich  abge- 
schlossene Zusammenstellung  von  neuen  Nachrichten,  welche 
zum  Zwecke  der  Veröffentlichung  in  kurzen  Zeitfristen  fort- 
laufend erscheint.  Der  Begriff  ist  für  uns  unzertrennlich  verbunden 
mit  den  Erscheinungen  des  Papiers  und  des  Druckverfahrens;  ja,  das 
letztere  steht  für  unser  Vorstellungsvermögen  so  sehr  im  Vordergrund, 
daß  das  Werkzeug,  dessen  es  sich  bedient,  die  Presse,  uns  als  Symbol 
des  ganzen  durch  die  Zeitung  bezeichneten  Kulturkreises  dient  und  für 
ihn  den  Namen  abgeben  muß.  Aber  wenn  wir  auf  die  Anfänge  des 
Zeitungswesens  zurückgehen  wollen,  so  werden  wir  uns  von  seiner 
modernen  Erscheinungsform  losmachen  müssen  und  dann  den  Begriff  der 
Zeitung  überall  da  gegeben  finden,  wo  Zusammenstellungen  von  Nach- 
richten über  Zeitereignisse  allgemeinen  Interesses  regelmäßig  einem  un- 
begrenzten Publikum  zugänglich  gemacht  werden.  Daß  dies  in  gewerbs- 
mäßiger Weise  geschehe,  ist  durchaus  nicht  wesentlich;  ebensowenig  ist 
es  von  Bedeutung,  ob  die  Veröffentlichung  zunächst  nur  einem  oder 
mehreren  der  drei  oben  erwähnten  Zwecke  dient. 

Die  ältesten  IL  GeschichtedesZcitungswesens.    Die  ältesten  Veranstaltungen, 

Zeitungen,  ^^^j^j^^  ^j^  Zcitungcn  iu  Anspruch  genommen  werden  müssen,  finden  wir 
bei  den  Römern  und  den  Chinesen.  Beide  Male  sind  es  staatUche  Publi- 
kationseinrichtungen, bestimmt,  einem  weiteren  Kreise  die  Maßnahmen  der 
Staatsleitung  und  Vorgänge,  welche  mit  dieser  zusammenhängen,  bekannt- 
zugeben. In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  Staatswesen  von  großer 
Ausdehnung,  die  zahlreiche  Völkerstämme  zu  einer  gewissen  Gemeinsam- 
keit der  Interessen  verbunden  haben.  Die  Veröffentlichungen  beschränken 
sich  aber  in  beiden  Fällen  nicht  auf  das,  was  heute  den  Inhalt  unserer 
Gesetz-  und  Verordnungsblätter  bildet,  sondern  gehen  erheblich  darüber 
hinaus,  indem  sie  dauernde  geistige  Beziehungen  zwischen  dem  Willens- 
zentrum des  Staates  und  seinen  Untertanen  herzustellen  und  zu  erhalten 
suchen. 
Der  römische  Bei  den  Römcm  hatte  sich  in  der  letzten  Zeit  der  Republik  die  Sitte 

Staatsanzeiger.  j^^gg.g^jj^g^^  ^^Q  jjg  jj^  jjg^  Proviuzen  als  Beamte  oder  Finanzpächter  ver- 
weilenden Angehörigen  des  herrschenden  Standes  sich  in  der  Hauptstadt 
einen  dafür  besonders  veranlagten  Sklaven  oder  Freigelassenen  hielten, 
die  ihnen  über  die  wichtigsten  Tagesvorfälle  regelmäßig  Bericht  erstatteten. 
Dieser  Einrichtung  kam  man  dadurch  zu  Hilfe,  daß  eine  offizielle 
Zusammenstellung  von  Nachrichten  über  solche  Vorgänge,  insbesondere 
über  die  Verhandlungen  und  Beschlüsse  der  Volksversammlung  (acta 
populi  Romani,  acta  urbis,  acta  diurna)  auf  einer  mit  Gips  überstrichenen 
Tafel  verzeichnet  und  so  öffentlich  ausgestellt  wurde,  einerseits,  um  sie 
der  hauptstädtischen  Bevölkerung  in  amtlicher  Form  bekanntzugeben, 
andererseits,  damit  jene  Privatkorrespondenten  Abschriften  nehmen  könnten. 


n.  Geschichte  des  Zeitnngswesens.  ^82 

Von  Caesars  erstem  Konsulat  (59  v.  Chr.)  bis  auf  Augustus  wurde  daneben 
auch  ein  kurzes  Protokoll  über  die  Senatsverhandlungen  (acta  senatus) 
in  der  gleichen  Weise  zur  allgemeinen  Kenntnis  gebracht.  Später  scheint 
der  Inhalt  beider  Publikationen  verschmolzen  zu  sein.  In  der  Kaiserzeit 
woirden  die  Acta  diurna  immer  mehr  zu  einer  Art  Hofjournal.  Neben  den 
kaiserlichen  Dekreten,  Mandaten  und  Edikten  wurden  reichlich  Nach- 
richten von  Audienzen,  Hoffestlichkeiten,  Staatsprozessen,  Hinrichtungen, 
aber  auch  über  Zirkusspiele,  Gladiatorenkämpfe,  Bauten,  allerlei  Natur- 
ereignisse, Wunder  und  Prophezeiungen,  Leichenbegängnisse  vornehmer 
Personen  und  sonstige  Familienereignisse,  ja  selbst  gewöhnlicher  Stadt- 
klatsch aufgenommen.  Ob  eine  amtliche  Ausfertigung  und  Verbreitung 
von  Abschriften  in  Italien  und  den  Provinzen  stattfand,  wissen  wir  nicht; 
sicher  ist,  daß  die  Acta  vervielfältigt  und  an  Abonnenten  versandt  wurden, 
wahrscheinlich  durch  Privatunternehmer.  Selbst  bei  den  Truppen  auf 
entfernten  Stationen  wurden  sie  regelmäßig  gelesen.  Die  Redaktion  führte 
ein  höherer  Hofbeamter  (procurator  Aug.  ab  actis  urbis)  mit  dem  nötigen 
Kanzleipersonal.  Die  ganze  Einrichtung,  deren  Anfangsjahr  sich  nicht 
sicher  bestimmen  läßt,  hat  ohne  Unterbrechung  bis  zur  Verlegung  der 
Residenz  nach  Konstantinopel  bestanden. 

Merkwürdig  ähnlich  ist  dieser  altrömischen  Einrichtung  die  Staats-  Der  staais- 
zeitung  der  Chinesen  (King-pao),  welche  sich  bis  auf  das  S.Jahrhundert  ''"pcklnj^"" 
unserer  Zeitrechnung  zurückverfolgen  läßt  und  seit  dieser  Zeit  ununter- 
brochen erschienen  ist.  Sie  wird  in  zwei  Ausgaben  verbreitet,  einer  ge- 
schriebenen und  einer  gedruckten,  und  zwar  jeden  Tag  mit  Ausnahme 
der  hohen  Festtage.  Die  gedruckte  Ausgabe  erscheint  wegen  des  um- 
ständlichen chinesischen  Plattendruckverfahrens  einige  Wochen  später  als 
die  geschriebene;  auch  ist  sie  ausführlicher  als  diese  und  vor  allem  viel 
billiger.  Der  Inhalt  zerfällt  in  drei  Abteilungen:  Hofnachrichten,  kaiser- 
liche Edikte  und  schließlich  Berichte  und  Denkschriften  der  verschiedenen 
Staatsbeamten  an  den  Thron,  in  der  Regel  mit  den  dazu  getroffenen 
kaiserlichen  Entschließungen.  Die  letzte  Abteilung  ist  die  bei  weitem 
umfangreichste  und  auch  wichtigste;  sie  enthält  nicht  selten  scharfe  Ur- 
teile über  einzelne  Zweige  der  Verwaltung,  Beschwerden  über  bestech- 
liche oder  nachlässige  Beamte,  ja  Eingaben,  in  denen  dem  Kaiser  selbst 
Rat  erteilt  wird.  Bis  auf  die  neueste  Zeit  ist  der  King-pao  die  einzige 
Zeitung  Chinas  geblieben;  die  heute  daneben  noch  bestehenden  wenigen 
Organe,  welche  in  chinesischer  Sprache  nach  europäischer  Weise  mit 
beweglichen  Lettern  gedruckt  werden,  sind  Unternehmungen  von  Aus- 
ländern. 

Trotz    ihres    langen    Bestandes    haben    weder    die    Acta    diurna    der  umcrschicic 
Römer  noch   der  King-pao  der  Chinesen  eine  Entwicklung  durchgemacht;  mod"i"rncn'zei- 
sie    sind    immer    reine    Regierungsinstrumente    gewesen    und    geblieben;         ""'" 
ihren  Lesern  wurde  stets  nur  das  zugänglich,   was  man  sie  wissen  lassen 
wollte;    als  Träger  einer    unabhängigen   öffentlichen  Meinung   können   sie 

31* 


^g,  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

nicht  gelten.  Im  Unterschiede  dazu  hat  das  Zeitungswesen  der  modernen 
Kulturstaaten  einen  in  allen  seinen  Stufen  noch  deutlich  erkennbaren 
Entwicklungsprozeß  durchgemacht.  Derselbe  fällt  einerseits  zusammen 
mit  dem  staatlichen  Zusammenschlüsse  größerer  Territorien,  andererseits 
mit  der  Organisation  eines  regelmäßigen  Verkehrsdienstes,  die  sich  zuerst 
in  fürstlichen  und  städtischen  Botenkursen,  später  in  Reit-  und  Fahr- 
posten vollzog. 
Die  Entstehung  Im  Zusammenhang  mit  dieser  Ordnung  des  Nachrichtenverkehrs 
nen°zeitung.%ehen  wir  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  die  Knotenpunkte  des 
Botenlaufs  wie  die  Mittelpunkte  des  Handels,  der  Kirche  und  des  welt- 
lichen Regiments  zu  Sammelstellen  von  Nachrichten  über  Zeit- 
ereignisse werden.  Staatsmänner,  städtische  Ratspersonen,  Gelehrte  und 
Kaufleute  nehmen  die  Sitte  an,  einander  solche  Nachrichten  in  Briefen 
und  Briefbeilagen  auf  Gegenseitigkeit  mitzuteilen.  Fürsten  bestellen  an 
wichtigen  Verkehrspunkten  eigne  bezahlte  Berichterstatter,  und  diesen 
folgen  bald  selbständige  Gewerbetreibende,  die  in  handwerksmäßiger 
Form  das  Sammeln  und  Übermitteln  schriftlicher  Nachrichten  für  eine 
Mehrzahl  von  Kunden  gegen  in  jedem  Falle  besonders  vereinbarten 
Jahreslohn  übernehmen.  WahrscheinUch  sind  sie  zuerst  in  italienischen 
Städten  aufgekommen,  namentlich  in  Venedig  und  Rom,  wo  sie  den  Namen 
scrittori  d'avisi  (auch  novellanti,  gazettanti)  führen;  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  finden  wir  sie  auch  in  verschiedenen  Städten 
Deutschlands  unter  der  Bezeichnung  Avisenschreiber  (Zeitunger, 
Novellisten);  bald  darnach  treten  sie  in  Paris  auf  als  Nouvellistes  und 
wenig  später  als  News  writers  in  London.  In  Deutschland,  Italien  und 
Frankreich  sind  es  häufig  die  städtischen  Botenmeister  und  die  staat- 
lichen Postmeister,  welche  dieses  Geschäft  übernehmen,  und  dies  hat 
im  Laufe  der  Zeit  dazu  geführt,  daß  die  Post  ein  ausschließliches  Recht 
für  die  Herstellung  und  den  Vertrieb  der  geschriebenen  und  später  auch 
der  gedruckten  Zeitungen  beanspruchte,  wie  denn  auch  ihr  zweifellos  die 
Begründung  eines  regelmäßigen  Austausches  neuer  Nachrichten,  nicht 
bloß  zwischen  verschiedenen  Städten,  sondern  auch  zwischen  verschie- 
denen Ländern  zu  verdanken  ist.  Freilich  ist  sie  mit  ihrem  Monopol- 
anspruche  nirgends  auf  die  Dauer  durchgedrungen. 
Eigentümlich-  Es    sind    verschicdeue    Sammlungen    dieser    geschriebenen    Zeitungen 

keiten  derselben.     ..  .,_  ,,  ,,  .*t  .  vii  t  j'/"\ 

(Avisen,  Nouvelles  a  la  mam,  News  letters)  erhalten,  die  uns  die  Organi- 
sation und  die  Regelmäßigkeit  des  durch  sie  besorgten  Nachrichten- 
dienstes deuthch  zu  erkennen  geben.  Sie  wurden  in  der  Regel  wöchent- 
lich einmal  versandt;  jede  Nummer  läßt  an  den  oft  um  eine  Reihe  von  Tagen 
auseinanderliegenden  Daten  der  Korrespondenzen  aus  den  verschiedenen 
Sammelpunkten  die  Langsamkeit  des  Boten-  und  Postverkehrs,  aber  doch 
auch  die  Geschlossenheit  der  gesamten  Organisation  ersehen.  Der  Inhalt 
beschränkt  sich  auf  tatsächliche  Mitteilungen  über  die  neuesten  politischen 
und    sozialen    Ereignisse.     Abonnenten    waren    die    Fürsten    und    Staats- 


II.  Geschichte  des  Zeitungswesens.  485 

männer.  die  städtischen  Räte,  die  kirchlichen  Würdenträger,  die  Groß- 
kaufleute, in  Frankreich  und  England  auch  der  Landadel,  den  sie  mit 
Hof-  und  Regierungsnachrichten  versorgten.  Es  ist  also  ein  ziemlich  be- 
schränkter Leserkreis,  auf  den  sie  rechnen  konnten,  und  damit  erklärt  es 
sich,  weshalb  man  die  Buchdruckerkunst,  die  zur  Zeit  der  Entstehung  der 
geschriebenen  Zeitungen  längst  bekannt  und  verbreitet  war,  für  ihre  Her- 
stellung nicht  verwendete.  In  neu  besiedelten  Kolonialländern  ist  bis 
auf  die  jüngste  Zeit  Ähnliches  beobachtet  worden. 

Für  die  große  Masse  hat  man  nur  gelegentlich  neue  Nachrichten  D'|^^^° 
über  einzelne  dem  allgemeinen  Interesse  und  Verständnis  naheliegende  Zeitungen. 
Ereignisse  in  den  Druck  gegeben.  Es  sind  das  jene  Einzeldrucke  in 
kleinem  Quartformat,  gewöhnlich  nicht  unter  einem  halben  und  selten  über 
zwei  Bogen  stark,  die  auf  Messen  und  Märkten  verkauft  wurden  und 
von  denen  fast  jede  größere  Bibliothek  in  Deutschland,  Italien,  Spanien, 
Frankreich,  England  Sammlungen  besitzt.  Die  ältesten  uns  erhaltenen  Bei- 
spiele dieser  Gattung  sind  aus  den  achtziger  Jahren  des  15.  Jahrhunderts, 
die  jüngsten  aus  dem  18.  Jahrhundert.  Ein  solches  „fliegendes  Blatt"  oder 
Heftchen  heißt  „eine  Xewe  Zeitung"  (relatione,  discours,  newes);  enthält 
es  mehrere  Nachrichten  über  verschiedene  Ereignisse  „zwo  (drey  usw.) 
newe  Zeitunge".  In  sehr  vereinzelten  Fällen  wurden  über  einen  zeitlich 
fortlaufenden  Vorgang  mehrere  sich  aneinander  anschließende  Zeitungen 
veröffentlicht;  aber  es  fehlt  in  der  Regel  noch  die  Numerierung. 
Überhaupt  entbehrt  das  ganze  Geschäft,  das  von  den  Buchdruckern  nur 
nebenbei  betrieben  wurde,  noch  der  Kontinuität.  Neue  Zeitungen  er- 
schienen, wenn  etwas  Druckenswertes  sich  ereignet  hatte:  der  Einzug 
eines  Fürsten  in  eine  Stadt,  eine.  Krönung,  eine  fürstliche  Hochzeit  oder 
Leichenfeier,  Schlacht  oder  Belagerung,  Mordtat  oder  Hinrichtung, 
eine  seltene  Himmelserscheinung,  Seuche,  Feuersbrunst  u.  dgl. 

Im    alleemeinen   beschränken    sich   auch    diese  Einzeldrucke  auf  tat-  Charakteristik 

ö  T>  •    -L  derselben. 

sächliche  Berichte;  das  Urteil  des  Berichterstatters  hält  sich  im  Bereiche 
hausbackener  moralischer  Nutzanwendungen.  Meist  sind  sie  mit  langen 
marktschreierischen  Überschriften  versehen.  Viele  von  ihnen  bewegen 
sich  ganz  oder  teilweise  in  gebundener  Rede  (in  gesanges  wise);  im 
ersteren  Falle  wird  der  „Ton"  (die  Melodie)  angegeben,  in  dem  sie  zu 
singen  sind.  So  geht  die  gedruckte  neue  Zeitung  in  das  historischeoas^hutorische 
Volkslied  über,  das  insofern  über  die  Prosadrucke  dieser  Gattung  hinaus- 
geht, als  es  im  16.  Jahrhundert  weithin  zum  Träger  der  öffentlichen 
:Meinung  wird.  Was  die  Zeit  stärker  bewegt,  kommt  hier  zum  Worte: 
kirchliche  und  weltliche  Parteiung,  Liebe,  Zorn  und  Haß  gegen  Personen 
und  Institutionen,  Freude  und  Leid,  Hoffnung  und  Klage,  Lob,  Rüge  und 
Spott.  Auch  das  Lied  beschränkt  sich  auf  die  Darstellung  einer  einzelnen 
Begebenheit.  So  dürr  und  unerfreulich  die  meisten  Prosazeitungen  sind 
mit  ihrer  Beschränktheit  und  ihrem  Aberglauben,  so  frisch  und  lebendig 
muten  uns  diese  gereimten  Zeitungen  an;  nur  ;ius  ihnen  läßt  sich  ersehen, 


486  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

wie  Menschen  und  Handlungen  sich  in  der  Auffassung  der  Mitlebenden 
abspiegelten.  Aber  sie  gaben  nicht  bloß  öifentliche  Meinung  wieder, 
sie  machten  sie  auch ;  denn  sie  wurden  tatsächlich  nach  bekannten  Melo- 
dieen  gesungen  und  pflanzten  die  Erinnerung  an  große  Helden  und  Taten 
späterhin  von  Mund  zu  Munde  fort.  Es  sei  an  die  Lieder  vom  Herzog  Ulrich, 
von  Franz  von  Sickingen,  von  Georg  von  Frunsperg,  vom  Pienzenauer 
erinnert.  Zuweilen  nennt  sich  in  der  Schlußstrophe  der  Dichter  und 
vergißt  dabei  selten  hervorzuheben,  daß  er  selbst  an  dem  Ereignisse 
beteiligt  gewesen.  Der  Titel  lautet:  „Ein  Lied",  „Ein  new  Lied",  „Zwei 
schöne  newe  Lieder",  aber  auch  „Newe  Zeitung",  „Warhaftige  newe  Zei- 
tung" usw.  Oft  findet  sich  eine  solche  Zeitung  in  Liedform  auf  demselben 
Blatte  mit  einem  Volksliede  lyrischen  Gehalts  oder  einer  bekannten 
volkstümlichen  Romanze. 
Fliegende  Auch   allerlei  Betrachtungen  über  religiöse  und  weltliche  Zeitfragen, 

Blätter  anderer  °  °       .  O         ' 

Art.  Vermahnungen  an  das  ganze  Volk  oder  bestimmte  Stände,  Klagen  über 
Zeiterscheinungen  haben  die  beliebte  Publikationsform  der  Neuen  Zeitung 
benutzt,  um  den  Weg  ins  Volk  zu  finden.  Es  ist  bekannt,  wie  oft  und 
mit  welchem  Erfolge  die  Reformation  sich  ihrer  als  Kampfmittel  bedient 
hat;  die  Mächtigen  der  Erde  und  politische  Fraktionen  fanden  sie  ge- 
eignet, die  öffentliche  Meinung  zu  beeinflussen.  Auch  hier  könnte  man 
eine  prosaische  und  eine  poetische  Spielart  unterscheiden.  „Leitartikel" 
in  gereimter  Form  —  so  sonderbar  es  klingen  mag-  —  werden  als  flie- 
gende Blätter  hinausgesandt.  Ludwig  XIL  läßt  so  seine  getreuen  Unter- 
tanen über  seine  Händel  mit  dem  Papste  aufklären,  und  ein  Lied,  durch 
welches  die  Opposition  den  in  Pavia  gefangen  genommenen  König 
Franz  L  lächerlich  zu  machen  suchte,  hat  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag 
im  Munde  der  französischen  Kinder  erhalten. 
Weite  verbrei-  Was  aber  bcsondcrs  auffällt,  das  ist  die  Tatsache,  daß  die  gedruckte 
Einzelzeitung  in  der  Form  des  Flugblatts  fast  zu  gleicher  Zeit  in  allen 
Kulturländern  auftaucht;  in  Italien  wie  in  Deutschland,  in  Holland,  Eng- 
land, Frankreich,  Spanien  ist  sie  fast  das  ganze  1 6.  Jahrhundert  hindurch 
die  herrschende  Form  der  Publizistik  und  strebt  sich  auch  zum  Träger 
einer  oft  recht  kräftig  wirkenden  öffentlichen  Meinung  zu  machen.  Über 
manche  Ereignisse  wie  über  die  Schlacht  bei  Pavia  (1525),  den  Seesieg 
bei  Lepanto  (1571)  haben  sich  gleichzeitige  Lieder-  und  Prosazeitungen 
fast  in  allen  Kultursprachen  gefunden.  Nicht  wenige  bezeichnen  sich  selbst 
als  Übersetzungen;  in  anderen  sind  die  Verfasser  mit  Namen  genannt; 
wieder  andere  erklären,  daß  sie  dem  Herausgeber  „zugeschrieben"  seien 
von  einem  guten  Freund,  der  selbst  dabeigewesen,  oder  daß  sie  auf  der  Post 
von  Venedig,  vom  kaiserlichen  Postmeister  in  Rom  eingelangt  seien.  Hier 
verrät  sich  ein  gewisser  Zusammenhang  mit  den  geschriebenen  Zeitungen, 
der  sich  bei  Blättern  mit  vielerlei  Nachrichten  auch  darin  zu  erkennen 
gibt,  daß  die  letzteren  von  denselben  Orten  datiert  sind,  die  uns  als 
Sammelpunkte  von  Korrespondenzen    der  Avisenschreiber   bekannt    sind. 


n.  Geschichte  des  Zeitungswesens. 


487 


Immerhin  war  von  ihnen  bis  zu  periodisch  erscheinenden  Preß-jahrcs-undHaiu- 

,         jabrszeitungea. 

erzeugnissen  der  Weg  noch  ziemlich  weit.  Er  ist  auch  nur  schritt- 
weise zurückgelegt  worden.  In  Deutschland  begann  man  zuerst  mit 
Jahresübersichten  der  politischen  Begebenheiten  in  den  sog. Postreutern; 
ihnen  folgten  in  den  achtziger  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  die  Meß- 
relationen, Halbjahrsübersichten  (Relationes  semestrales) ,  welche  zwei 
Jahrhunderte  hindurch  zu  den  stehenden  Erscheinungen  der  Frankfurter 
Frühjahrs-  und  Herbstmesse  gehörten.  Sie  haben  mancherlei  Nach- 
ahmungen erfahren;  keine  von  letzteren  aber  hat  längeren  Bestand  gehabt. 
Die  Frankfurter  Meßrelationen  dagegen  erschienen  ununterbrochen  bis 
ins  19.  Jahrhundert  hinein,  seit  1628  unter  kaiserlichem  Privilegio. 

Ihre  Ouellen  waren  hauptsächlich  die  geschriebenen  (später  auch  die  Charakteristik 

*  ^  '^  ^  der  letzteren. 

gedruckten)  Wochenzeitungen  und  die  Einzeldrucke;  ihre  Herausgeber 
blieben  aber  auch  um  andere  schriftliche  und  mündliche  Nachrichten  red- 
lich bemüht;  doch  war  es  schwer  für  sie,  sich  dabei  politischen  Beein- 
flussungen zu  entziehen.  Schon  im  März  1599  wurden  sie  vom  Frank- 
furter Rat  konfisziert,  und  später  lastete  auf  ihnen  die  Hand  der  kaiser- 
lichen Bücherkommission.  Sie  erschienen  in  Quartheften,  selten  über 
100  Blätter  stark,  eingeteilt  in  20  (seit  1751  :  15)  Haupttitul:  unter 
jedem  war  ein  Land  oder  eine  Art  von  „seltsamen  Fällen  und  denk- 
würdigen Begebenheiten"  abgehandelt,  trocken  und  nüchtern,  Nachricht 
auf  Nachricht  zusammengestoppelt.  Aber  sie  trugen  doch  das  Interesse 
an  den  Welthändeln  in  weite  Kreise;  freilich  sank  im  Laufe  der  Zeit  ihr 
Niveau  in  dem  Maße,  als  sie  in  tiefere  Volksschichten  herabstiegen. 

Die  ersten  gedruckten  Wochenzeitungen  sind  nicht  erheblich 
jünger  als  die  Meßrelationen.  Der  Streit  zwischen  den  Nationen  um  die 
Ehre  ihrer  „Erfindung"  ist  endgültig  zugiinsten  der  Deutschen  entschieden. 
Man  begreift  freilich  nicht  recht,  warum  man  ihn  geführt  hat.  Denn  der 
Druck  hat  damals  an  dem  Zustande  des  Zeitungswesens  nichts  weiter 
geändert  als  das  Vervielfältigungsverfahren.  Es  sind  nach  Form  und  In- 
halt die  alten  „Ordinari-Avisen"  der  Postmeister  und  sonstigen  „Zeitungs- 
krämer", die  jetzt  auf  typographischem  statt  auf  chirographischem  Wege 
hergestellt  werden.  Die  Nachrichtensammler  sind  die  gleichen  wie 
früher;  die  Korrespondenzorte  bleiben  dieselben  (Rom,  Venedig,  Lyon, 
Wien,  Prag,  Köln,  Antweq^en,  Brüssel  usw.);  von  einer  Redaktion  der  im 
wöchentlichen  Posten-  und  Botenlauf  empfangenen  Nachrichten  ist  noch 
lange  nicht  die  Rede. 

Es  ist  uns  der  Jahrgang  1609  einer  in  Straßburg  gedruckten  Wochen- 
zeitung erhalten,  die  bis  auf  weiteres  als  die  älteste  gelten  muß.  Rasch 
folgten  andere  deutsche  Städte:  Basel  16 10,  Frankfurt  a.  M.  161 5,  Berlin 
161 7,  Köln,  Wien,  Regensburg,  Hildesheim  um  1620.  Aus  den  zwanziger 
Jahren  lassen  sich  in  Wien,  Nürnberg,  München,  Hamburg  je  drei  ge- 
druckte Wochenblätter  nachweisen,  und  das  lebhafte  Interesse  für  die 
Kriegsereignisse   hat    eine  Reihe   anderer    deutscher  Städte    in    die   Zahl 


Gedruckte 
Wochen- 
zcitungea. 


Ausbreitung 
derselben. 


igg  ICakl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

der  Zeitungsdruckorte  eintreten  lassen.  Freilich  waren  die  meisten  so 
entstandenen  Preßerzeugnisse  von  ziemlich  kurzer  Lebensdauer.  England 
sah  nichts  Ähnliches  vor  dem  Jahre  1622,  Holland  1626,  Frankreich  1631, 
Italien  1636,  Portugal  1641,  Schweden  1644  und  Spanien  1661.  In  Eng- 
land brachte  erst  die  Revolution  von  1649  einen  größeren  Aufschwung. 
In  Frankreich  blieb  Renaudots  „Gazette"  (später  „Gazette  de  France") 
anderthalb  Jahrhunderte  hindurch  die  einzige  in  kurzen  Zwischenräumen 
erscheinende  politische  Zeitung.  Dagegen  erfuhr  das  holländische  Zeitungs- 
wesen in  der  freien  Luft  der  Generalstaaten  seit  dem  zweiten  Drittel  des 

17.  Jahrhunderts  eine  reiche  Entwicklung. 

Fortdauer  der  Nirgends  aber  vermochte  die  gedruckte  Wochenzeitung  die  geschrie- 

^"eitungenf"  benc  Zcltung  zu  verdrängen.     Diese   dauerte  vielmehr  bis  zum  Ende  des 

18.  Jahrhunderts  fort,  trotz  aller  Verbote  und  Verfolgungen,  die  ihre 
Verfasser  trafen.  Ja  es  kam  in  Deutschland  wie  in  China  vor,  daß  Zei- 
tungen in  einer  gedruckten  und  einer  ausführlicheren  und  teureren  ge- 
schriebenen Ausgabe  erschienen.  In  England  gab  es  Blätter,  von  denen 
zwei  Seiten  bedruckt  wurden  und  zwei  leer  blieben,  damit  sie  zu  hand- 
schriftlichen Mitteilungen  benutzt  werden  könnten.  Die  Ursache  lag  darin, 
daß  sich  überall  mit  dem  Druck  auch  das  Verlagsprivileg  für  die  perio- 
dische Presse  ausbildete  und  daß  sich  zu  diesem  bald  die  obrigkeitliche 
Zensur  und  die  Beeinflussung  der  Herausgeber  durch  die  Regierungen 
gesellte.  In  allen  Ländern  berichteten  die  gedruckten  Zeitungen  gerade 
über  das  am  wenigsten,  was  ihnen  am  nächsten  hätte  liegen  sollen:  die 
Vorgänge  und  Zustände  des  eigenen  Landes  und  die  innere  Politik;  da- 
gegen ließ  man  ihnen  in  der  Behandlung  auswärtiger  Angelegenheiten 
größere  Freiheit,  und  dies  führte  dazu,  daß  das  Publikum,  wenn  es  sich 
über  das  eigene  Land  unterrichten  wollte  und  nicht  eine  der  geschrie- 
benen Zeitungen  aus  der  Hauptstadt  beziehen  konnte,  fremde  Zeitungen 
halten  mußte.  So  gingen  deutsche  Zeitungen  vielfach  nach  Frankreich; 
ja  in  verschiedenen  Städten  wurden  Blätter  in  französischer  oder  lateini- 
scher Sprache  eigens  für  das  Ausland  gedruckt.  Die  weiteste  Verbreitung 
aber  und  den  größten  Ruf  erlangten  die  in  französischer  Sprache  heraus- 
gegebenen holländischen  Zeitungen,  die  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  und  das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  die  Diplomatie  immer 
wieder  in  Bewegung  setzten.  Auch  in  England  ging  die  freiere  Ent- 
wicklung, welche  die  politische  Wochenpresse  unter  Oliver  Cromwell 
genommen  hatte,  bald  wieder  verloren,  und  es  beginnt  in  der  Restaura- 
tionszeit eine  Periode  der  Unterdrückung,  die  völlig  erst  nach  der  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  überwunden  wird. 

Charakteristik  So    bieten    die    beiden    ersten   Jahrhunderte    der   periodischen   Presse 

Wochen-      ein    wenig   erfreuliches  Bild.     Während  in  Frankreich  und  auch  zeitweise 

in  England   die   ganze  Publizität   auf  ein  privilegiertes  Organ  beschränkt 

war,    beobachten    wir    in    Deutschland,    entsprechend    seiner    politischen 

Zerrissenheit,  eine  Überfülle  armseliger,  auf  schlechtes  Papier  gedruckter 


II.  Geschichte  des  Zeitungswesens.  489 

Blättlein,  oft  an  einem  Orte  mehrere,  und  über  diese  noch  endlose  Streitig- 
keiten um  das  Privileg  der  Herausgabe  zwischen  Postmeistern  und  Druckern 
oder  Buchhändlern.  Die  Organisation  der  Xachrichtensammlung  und 
Übermittelung  ist  allmählich  erstarrt;  man  berichtet  kleinlich  und  leicht- 
gläubig aus  zweifelhaften  Quellen,  „wie  hinten  weit  in  der  Türkei  die 
Völker  aufeinanderschlagen",  um  sich  am  Nächstliegenden  scheu  vorüber- 
zudrücken. Eine  Tendenz  kommt  höchstens  durch  Verschweigen  zum  Aus- 
druck; öfter  noch  ist  es  eine  konfessionelle  als  eine  politische.  Der  Aber- 
glaube macht  sich  in  läppischen  Wunder-  und  Spukberichten  breit.  Die 
Regierungen,  welche  ein  Wochenblatt  privilegierten,  wandten  auf  dasselbe 
das  Handwerksprinzip  des  ausschließenden  Gewerberechts  an:  die  bevor- 
rechtete Zeitung  erhielt  ein  dauerndes  Monopol  für  die  Versorgung  der 
Stadt  und  Landschaft  mit  neuen  Nachrichten;  anderwärts  gedruckte  Blätter 
und  geschriebene  Zeitungen  sollten  von  der  Post  nicht  geliefert,  von  den 
Buchführem  nicht  vertrieben  werden  dürfen.  So  gelangte  keine  Zeitung 
zu  einem  größeren  Leserkreis.  Einflußreichere  Blätter  entstanden  nur  in 
den  Reichsstädten,  in   denen  die  Zensur  etwas  milder  gehandhabt  wurde. 

So  sank  die  deutsche  Zeitungspresse  von  dem  relativ  achtungswerten  riefstand. 
Stande,  den  sie  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  rasch  er- 
klommen hatte,  in  der  zweiten  Hälfte  dieses  und  im  Verlauf  des  folgenden 
Jahrhunderts  immer  mehr  herab.  Allerdings  gründete  man  in  den  zahl- 
reichen kleinen  Residenzen  noch  neue  Blätter,  damit  der  spärliche,  oft 
noch  durch  Privilegientaxen  geschmälerte  Verdienst  am  „Zeitungshandel" 
doch  einem  Landeskinde  zugute  komme,  und  diese  Blättlein  versetzten 
den  mageren  Abhub  der  fremden  Presse,  den  sie  mit  hohem  Privilegio 
ihren  Lesern  servierten,  noch  mit  der  eigentümlichen  Würze  der  heimi- 
schen Hofnachrichten.  Aber  gerade  sie  waren  am  gebundensten,  und 
selbst  Friedrich  IL  hat  sein  bekanntes  Wort  von  den  Gazetten,  die  nicht 
geniert  sein  dürfen,  wenn  sie  interessant  sein  sollen,  an  den  „BerUnischen 
Nachrichten"  am  wenigsten  verwirklicht.  Nicht  besser  stand  es  in  Wien, 
der  klassischen  Stadt  der  Zensur,  wo  man  1722  das  „Wienerische  Diarium" 
zur  offiziellen  Zeitung  gemacht  hatte.  Auch  das  freisinnige  Zensurpatent 
Josefs  n.  vom   11.  Juni   1781   vermochte  darin  keinen  Wandel  zu  schaffen. 

Immerhin    sind  kleine  technische  Fortschritte   in   dieser  Periode   ein-  übcrRang  zur 

Tagesprcssc. 

getreten.  Sie  bestanden  zunächst  in  einer  fortschreitenden  Verkürzung 
der  zwischen  den  einzelnen  Zeitungsnummern  liegenden  Zeit- 
fristen. Schon  im  17.  Jahrhundert  begannen  einzelne  deutsche  Zei- 
tungen zwei-,  drei-  oder  viermal  die  Woche  zu  erscheinen,  oder  sie 
suchten  doch  durch  Extra-Ausgaben  wichtigere  Nachrichten  rascher  an  ihre 
Leser  zu  befördern.  Die  erste  deutsche  Zeitung,  welche  zu  täglichem 
Erscheinen  überging,  war  die  im  Jahre  1660  gegründete  „Leipziger  Zei- 
tung". Das  erste  englische  Tageblatt  war  der  Londoner  „Daily  Courant" 
(von  1702  ab),  das  erste  französische  das  „Journal  de  Paris"  (von  1777  ab). 
Doch  blieben  diese  Beispiele  lange  Zeit  vereinzelt.     Der  „Daily  Courant" 


Annoncen- 
wesens. 


^qo  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

war  dazu  ein  kleines  Blättchen  von  Y^  Bogen,  der  bloß  auf  einer 
Seite  bedruckt  war,  wie  der  Herausgeber  sagte,  „um  dem  Publikum  die 
Hälfte  der  Impertinenzen  zu  ersparen,  mit  denen  die  gewöhnlichen  Zeitungen 
gefüllt  seien".  Es  bedeutete  also  dieser  Fortschritt,  der  nur  der  größeren 
Häufigkeit  des  Postenlaufs  zu  verdanken  war,  nicht  eine  innerliche  Er- 
starkung. 
Entstehung  des  Wichtiger  war  eine  zweite  Neuerung:  die  Aufnahme  des  Annoncen- 

wesens in  die  gedruckte  Zeitung.  Öffentliche  Anzeigen  für  staatliche, 
soziale  und  privatwirtschaftliche  Zwecke  hat  es  gegeben,  solange  es 
größere  soziale  Gemeinschaften  gibt.  Das  älteste  Mittel  dafür  ist  die 
Stimme  des  Herolds  oder  Ausrufers,  neben  dem  schon  im  Altertum  in 
Stein  gemeißelte  oder  an  die  Wände  der  Häuser  gemalte  Inschriften 
reichlich  vorkommen.  Am  Ende  des  Mittelalters  nach  der  Erfindung  des 
Leinenpapiers  tritt  dazu  das  geschriebene  und  im  15.  Jahrhundert  das 
gedruckte  Plakat.  Seit  dem  16.  Jahrhundert  werden  die  obrigkeitlichen 
Bekanntmachungen  (Mandate)  in  Einzeldrucken  verbreitet,  und  es  erhält 
sich  diese  Sitte  auch  noch  die  beiden  folgenden  Jahrhunderte.  Gewissen- 
hafte Leute  haben  Sammlungen  dieser  Mandate  angelegt,  die  sich  neben 
den  Sammlungen  anderer  „Fliegender  Blätter"  noch  in  vielen  Bibliotheken 
finden.  Für  die  Vermittlung  des  Privatverkehrs  entstanden  im  ersten 
Drittel  des  17.  Jahrhunderts  in  Paris  und  London,  später  auch  in  deut- 
schen Städten  eigene  Vermittlungsstellen  (Bureaux  d'adresse  et  de 
rencontre,  Offices  of  intelligence,  Adreß-Komptoire,  Berichthäuser,  Frag- 
und  Kundschafts-  oder  Nachricht-Ämter)  als  konzessionierte  Privatunter- 
nehmungen, bei  denen  Anerbietungen  und  Nachfragen  über  Kauf  und 
Verkauf,  Pacht  und  Miete,  verlorene  und  gefundene  Gegenstände,  Reise- 
begleitung, Abgang  von  Kutschen  und  Frachtwagen  u.  dgl.  gegen  Gebühr 
aufgegeben  und  erfahren  werden  konnten.  Im  Jahre  1633  begann  das 
Pariser  Bureau  seine  Einzeichnungsregister  in  einem  besonderen  periodi- 
schen Druckblatt  zu  veröffentlichen;  bald  folgte  man  in  London  und 
später  auch  in  einzelnen  deutschen  Städten  diesem  Beispiele. 
Intelligenz-  Mit  dcn  SO   entstandenen  Anzeigeblättern  (Feuilles   d'avis,    petites 

affiches,  Intelligencers,  Advertisers,  Intelligenzblätter)  war  eine  neue  Gat- 
tung von  Zeitungen  geschaffen.  In  Deutschland  läßt  sich  keines  der- 
selben vor  dem  Jahre  1680  nachweisen.  Besonders  zahlreich  wurden  sie 
in  Preußen  seit  1727  ins  Leben  gerufen.  Das  Intelligenzwesen  war  hier 
zum  Staatsinstitute  erklärt  worden  mit  Insertionszwang;  seine  Verwaltung 
lag  der  Post  ob.  Allmählich  begannen  die  Intelligenzblätter  ihren  Stoff- 
bereich zu  erweitern,  indem  sie  neben  den  Annoncen  auch  Nachrichten 
über  Trauungen,  Geburten  und  Sterbefälle,  Ämterbesetzungen  und  Be- 
förderungen, Fremdenhsten,  Marktpreise,  allerlei  Stadtneuigkeiten  brachten. 
Annoncen  in  Inzwischcu    hatten   auch    die    politischen   Zeitungen    sich    des  An- 

z°eitungen.     noncenwcseus    bemächtigt.      Seit    der    Mitte    des    17.   Jahrhunderts    finden 
sich    in    englischen  Blättern    einzelne  Anzeigen,   die    sich    bald   vermehren. 


blätter. 


n.  Geschichte  des  Zeitungswesens.  4.gi 

In  Deutschland  tritt  Ähnliches  kaum  vor  dem  Jahre  1700  auf,  und  die 
Sitte  gewinnt  auch  nur  langsamen  Fortgang.  Anfangs  sind  diese  Privat- 
anzeigen wirkliche  „Inserate",  d.  h.  sie  stehen  zwischen  den  politischen 
Nachrichten  und  unterscheiden  sich  von  ihnen  weder  durch  den  Druck 
noch  durch  die  sprachliche  Form.  Von  den  Anzeigenden  ist  immer  nur 
in  der  dritten  Person  die  Rede.  Auch  ist  die  Inanspruchnahme  dieser 
Einrichtung  nur  auf  wenige  Fälle  des  praktischen  Lebens  beschränkt. 
Erst  allmählich  überwindet  das  geschäftslustige  Publikum  seine  Scheu  vor 
der  Öffentlichkeit;  die  Inserenten  beginnen  in  der  ersten  Person  zu  reden. 
Immerhin  spielt  die  hier  neueröffnete  Einnahmequelle  bis  zum  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  für  die  politische  Presse  keine  erhebliche  Rolle; 
höchstens  daß  sie  einer  Anzahl  kleiner  Blätter  das  Leben  verlängerte, 
ohne  zur  Hebung  ihres  sonstigen  Inhalts  beitragen  zu  können. 

Die  ganze  Kläglichkeit  dieser  reinen  Nachrichtenpresso  wird  hin-  Zeitschriften, 
reichend  dadurch  gekennzeichnet,  daß  sie  schon  früh  den  Ansprüchen 
politisch  gebildeter  Kreise  nicht  genügte.  So  kam  es,  daß  bereits  seit 
der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  sich  daneben  politische  Monats- 
schriften entwickelten,  in  welchen  die  zeitbewegenden  Fragen  unter 
höheren  Gesichtspunkten  im  Zusammenhange,  unter  Mitteilung  von  Akten- 
stücken und  mit  selbständigem  Urteil  behandelt  werden  konnten.  Mit 
dem  Erscheinen  des  Journal  des  Savants  (1665)  und  der  Acta  eruditoruni 
(1682)  entstand  daneben  ein  wissenschaftlich- literarisches  Zeit- 
schriftenwesen, das  sich  bald  so  ausbreitete,  daß  kaum  mehr  ein  Fachgebiet 
der  Wissenschaft,  Kunst  und  des  praktischen  Lebens  ohne  Vertretung 
blieb.  Seit  dem  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  bildet  sich  auch  eine 
periodische  Unterhaltungsliteratur  aus,  die  freilich  mit  unseren 
belletristischen  Zeitschriften  nicht  zu  vergleichen  ist,  da  sie  ihr  Absehen 
in  erster  Linie  auf  die  Erziehung  der  Bevölkerung  zum  Gemeinsinn  und 
überhaupt  zu  einem  edleren  Menschentum,  auf  die  Bekämpfung  von  Vor- 
urteil und  Aberglauben  gerichtet  hat.  Es  sind  die  bekannten  Moralischen 
Wochenschriften,  die  mit  dem  „Tatler"  und  „Spectator"  in  England 
beginnen  und  von  denen  Hunderte  in  Großbritannien,  Deutschland,  der 
Schweiz,  den  Niederlanden,  in  Polen  und  selbst  in  Frankreich  bis  zum 
Ende  des  Jahrhunderts  ins  Leben  traten.  In  diesem  vielfach  gegliederten 
Zeitschriftenwesen  kommt  der  kritische  Geist '  des  Aufklärungszeitalters 
in  den  verschiedensten  Formen  zur  Geltung;  in  ihnen  tritt  zuerst  eine 
„öffentliche  Meinung"  zutage,  und  sie  sind  darum  auch  für  die  freiheit- 
liche Gestaltung  des  staatlichen  und  sozialen  Lebens  weit  wichtiger  als 
die  unter  dem  Druck  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Gebundenheit 
verkümmerte  Tagespresse, 

Die    moderne    Gestaltuncr    des    Zeitungswesens    hat    ihre    Wurzel    in  Die  neuere  Em- 

<=>  '^  Wicklung  der 

Eneland.    Hier  hatte  in  den  bewegten  Revolutionsepochen   des   1 7.  Jahr- Presse,  ihr  cng- 

*  .-zj  X  ^        hschcs   Vorbild. 

hunderts  die  üppig  emporgewucherte  Presse  zuerst  den  Boden  der  Dis- 
kussion   betreten;    sie    hatte    sich    mit    den    inneren    Angelegenheiten    des 


AQo  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

Landes  beschäftigt  und  in  dem  Kampfe  zwischen  Parlament  und  König- 
tum Partei  ergrifi"en.  Milton  hatte  1644  seine  berühmten  Flugschriften 
über  die  Freiheit  der  Presse  geschrieben,  und  wenn  auch  gegen  diese 
Forderung  gerade  das  Parlament,  dem  sie  am  meisten  zugute  kam, 
zähen  Widerstand  leistete  und  mit  der  Regierung  in  der  Repression  wett- 
eiferte, so  kann  sie  doch  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  als  tatsäch- 
lich gesichert  gelten.  Die  Presse  erlangt  nun  in  England  denjenigen 
Charakter,  den  sie  später  in  allen  Ländern  angenommen  hat:  sie  über- 
nimmt neben  der  Aufgabe  der  Nachrichtenvermittlung  diejenige  einer 
ernsthaften  Erörterung  politischer  Angelegenheiten,  und  sie  wird 
damit  zur  Stütze  und  Ergänzung  des  parlamentarischen  Regimes.  Ver- 
gebens hat  man  sie  seit  17 12  durch  das  Bleigewicht  der  Stempeltaxe, 
d.  h.  durch  Verteuerung  niederzuhalten  versucht.  Man  konnte  so  wohl 
durch  ein  Jahrhundert  ihr  Eindringen  in  die  breite  Masse  der  Bevölkerung 
hindern;  aber  der  Geist  der  unabhängigen  Kritik  war  nicht  mehr  zu 
bannen,  und  als  1769 — 1772  im  „Pubhc  Advertiser"  die  Junius-B riefe  er- 
schienen, da  feierte  er  einen  Triumph,  dessen  Glanz  bis  in  die  fernsten 
Zeiten  leuchten  wird. 
Der  Grandsau  Überall  wird  seitdem  die  Forderung  der  Preßfreiheit  zu  einem  der 

wichtigsten  Programmpunkte  des  bürgerlichen  Liberalismus.  Zwar  wird 
sie  1789  nur  für  kurze  Zeit  in  Frankreich  verwirklicht;  aber  sie  stirbt 
nicht  mit  ihrer  gewaltsamen  Unterdrückung  durch  das  Direktorium  und 
Napoleon;  nach  des  letzteren  Vertreibung  erhebt  sie  sich  von  neuem,  um 
in  den  Volksbewegungen  von  1830  und  1848  allerwärts  eine  entscheidende 
Rolle  zu  spielen.  Die  polizeistaatliche  Bureaukratie  hat  ein  ganzes 
Arsenal  von  Waffen  gegen  die  Presse  geschmiedet:  neben  der  Zensur 
und  dem  Zeitungsstempel,  die  ihren  Durchzug  fast  durch  ganz  Europa 
hielten,  die  Konzessionspflicht  der  Zeitungsunternehmungen,  den  Kautions- 
zwang, die  Entziehung  des  Postdebits,  das  Verbot  des  Straßenhandels, 
die  administrative  Beschlagnahme.  Jede  Reaktionsperiode  zeugte  neue 
Preßplackereien.  Schließlich  aber  ist  doch  die  Erkenntnis  durchgedrungen, 
daß  die  freie  Presse  die  wirksamste  Garantie  der  bürgerlichen  Freiheit, 
das  unentbehrliche  Sicherheitsventil  der  staatlich  geordneten  Gesellschaft 
sei.  Ihre  Anerkennung  in  der  Gesetzgebung  hängt  aufs  engste  zusammen 
mit  der  Ausbreitung  des  konstitutionellen  Systems,  und  die  meisten  Ver- 
fassungsurkunden, welche  im  19.  Jahrhundert  geschaffen  wurden,  haben 
sie  in  einem  besonderen  Artikel  für  alle  Zeiten  sicherstellen  zu  müssen 
geglaubt.  „Die  Preßfreiheit",  schrieb  1828  Chateaubriand,  „bedeutet  so 
viel  wie  eine  ganze  Verfassung;  Verfassungsverletzungen  wollen  wenig 
besagen,  solange  wir  sie  haben.  Wäre  selbst  die  Verfassungsurkunde 
verloren,  die  Preßfreiheit  würde  sie  uns  wiedergeben." 
Bedeutung  Wenn   einmal   die  Geschichte   der  Presse   im    19.  Jahrhundert  so   ge- 

"""^  ^^'schrieben  wird,    wie   sie  geschrieben  werden  sollte,    so   wird  der  Kampf 
um    die    Preßfreiheit    als    eines    der    wichtigsten    Vehikel    der    modernen 


m.  Das  moderne  Zeitungswesen.  4^3 

Kulturentwicklung  anerkannt  werden,  und  man  wird  vielleicht  die  Epochen 
dieser  Entwicklung  für  die  einzelnen  Völker  nach  dem  jeweiligen  Zu- 
stande der  Preßgesetzgebung  abteilen.  Denn  kaum  steht  etwas  so  fest 
als  die  Tatsache,  daß  diese  Gesetzgebung  den  Zustand  der  Presse  be- 
stimmt und  dieser  wieder  je  länger  je  mehr  das  gesamte  geistige  Massen- 
leben der  Völker.  Gewiß  sind  die  bemerkenswerten  Umbildungen,  welche 
die  Zeitungen  im  verflossenen  Jahrhundert  erfahren  haben,  in  erster  Linie 
auf  allgemeine  politische,  soziale  und  wirtschaftliche  Momente  zurückzu- 
führen. Die  formalrechtliche  Anerkennung  des  Prinzips  der  Freiheit  und 
Gleichheit,  die  Umwandlung  der  Gesellschaft  aus  einer  geburtsständischen 
in  eine  berufsmässige,  der  Übergang  von  der  gebundenen  zur  freien 
Wirtschaft,  von  der  familienhaften  Bedarfs-  und  Kundenproduktion  zur 
untemehmungsweisen  Warenproduktion,  die  Vervollkommnung  der  Ver- 
kehrsmittel und  die  durch  sie  geförderte  Verflechtung  der  Nationen  in 
die  Weltwirtschaft,  nicht  minder  aber  die  Ausbreitung  der  allgemeinen 
Volksbildung  bis  in  die  untersten  Schichten  der  Bevölkerung  und  ihre 
Einbeziehung  in  den  politischen  Interessenkreis  durch  den  Sozialismus  — 
alle  diese  Vorgänge  haben  die  Daseinsbedingungen  auch  für  die  Presse 
völlig  verändert.  Neben  ihnen  darf  man  aber  den  Einfluß,  der  von  den 
Schwankungen  der  Preßgesetzgebung  und  Preßpolizei  ausgegangen  ist, 
nicht  übersehen. 

m.    Das    moderne    Zeitungswesen.      Versuchen    wir    diese    Um- 
bildungen in  einem  flüchtigen  Bilde  zu  umreißen. 

Zunächst  handelt  es  sich  um  eine  Veränderung  in  der  Innern  Orga-    Die  Tages- 

,  .  -VT        1      •    1  schriftstellerei 

nisation  des  Zeitungsdienstes.  In  der  Zeit  der  reinen  Nachrichten-  au  üemf. 
presse  konnte  der  Verleger  einer  Zeitung  seine  Aufgabe  für  erfüllt  an- 
sehen, wenn  er  die  von  den  auswärtigen  Sammelstellen  durch  die  Post 
ihm  zugeführten  Korrespondenzen  dem  Druck  übergeben  und  an  seine 
Abonnenten  befördert  hatte.  Nachdem  die  Zeitung  zur  Trägerin  der 
öffentlichen  Meinung  und  zur  Kampfstätte  der  parteipolitischen  Erörterung 
geworden  war,  bedurfte  es  eines  eigenen  Organs,  um  am  Erscheinungs- 
orte den  Stoff  zu  bearbeiten  und  zur  Willensbeeinflussung  der  Leser  ge- 
schickt zu  machen.  So  entstand  die  Redaktion  und  mit  ihr  die  Tages- 
schriftstellerei  als  Beruf,  der  bald  auch  weitere  Absenker  in  die  Be- 
völkerung hineintrieb.  Es  sind  dies  die  Korrespondenten  und  ständigen 
Mitarbeiter,  welche  mehr  und  mehr  an  die  Stelle  der  früheren  gelegent- 
lichen Mitarbeiter  treten,  die  zwar  nicht  die  Journalistik,  wohl  aber  die 
Staatsgeschäfte  oder  irgend  ein  anderes  Tätigkeitsgebiet  berufsmäßig  be- 
herrscht hatten.  Eine  jede  Zeitung  verfolgt  ein  bestimmtes  Programm, 
und  ihr  Redaktionsstab  wird  normalerweise  der  Überzeugaing  sein,  mit 
diesem  die  höchsten  Interessen  der  Menschheit  zu  vertreten.  Aber  auch 
die  Kunst  des  Journalisten  geht  nach  Brot,  und  dieses  Brot  reicht  zu- 
nächst  der  Zeitungsverleger,    der    ein    mit   der  fortgeschrittenen  Technik 


j^q  ,  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

immer  größer  gewordenes  Kapital  in  der  Unternehmung  angelegt  hat. 
Seine  Interessen  können  in  Widerstreit  geraten  mit  der  überzeugungs- 
treuen Haltung  der  Redaktion.  Wer  wird  als  Sieger  aus  diesem  Kon- 
flikt hervorgehen?  Gewiß,  daß  der  liberale  Beruf  des  Journalisten,  als 
die  moderne  Parteipresse  entstand,  meist  nur  von  Männern  ergriffen 
\vurde,  die  bereit  waren,  für  ihre  Ideale  ihre  Existenz  in  die  Schanze  zu 
schlagen.  Mit  der  Zeit  aber  ist  der  Beruf  zum  Gewerbe  geworden,  das 
von  vielen  nicht  aus  innerem  Drang,  sondern  um  äußerer  Rücksichten 
willen  erwählt  wird.  Die  politischen  Richtungen  haben  sich  vervielfältigt, 
die  großen  prinzipiellen  Gegensätze  abgeschwächt  oder  mit  der  wirtschaft- 
lich-sozialen Interessenvertretung  verquickt.  Und  nun  ist  die  Gefahr  da, 
daß  Journalisten  auftreten,  die  wie  die  Landsknechte  jedem  dienen,  der 
sie  bezahlt,  oder  daß  ihre  Tätigkeit  die  Parteigegensätze  verschärft,  wo 
die  Parteien  selbst  ohne  die  Parteipresse  sich  in  praktischen  Fragen 
leicht  einigen  würden,  weil  sich  nach  einem  bekannten  Worte  Bismarcks 
„die  Meute  nicht  zurückpfeifen"  läßt. 
Erweiterung  des  So  liegt  in  der  Ausbilduug  des  Berufs- Joumalistentums  eine  nicht 
geringe  Gefahr.  Wesentlich  verschärft  wird  diese  durch  die  gewaltige 
Ausdehnung,  die  der  Stoffbereich  der  Zeitung  im  Verlaufe  des  19.  Jahr- 
hunderts erfahren  hat.  Gibt  es  doch  jetzt  kaum  mehr  ein  Gebiet  des 
sozialen  Lebens,  das  nicht  in  irgend  einer  Form  von  ihr  der  Publizität 
dienstbar  gemacht  worden  ist.  „Wer  vieles  bringt  wird  manchem  etwas 
bringen"  ist  leitender  Grundsatz  geworden.  Die  Politik  des  In-  und  Aus- 
lands, Literatur,  bildende  Kirnst,  Theater,  Musik,  Rechtspflege,  lokale  Vor- 
gänge und  Interessen,  Wissenschaft,  Land-  und  Hauswirtschaft,  Gewerbe 
und  Handel,  Sport,  Personalien,  Unglücksfälle,  Verbrechen  und  Skandale 
—  alles  findet  in  der  Tagespresse  seinen  Widerhall  und  damit  wächst 
der  Kreis  der  Interessen,  die  sich  mit  derselben  verknüpfen.  Je  mehr  In- 
teressenten, um  so  mehr  Abonnenten  und  Inserenten.  Beide  bedingen 
einander.  Ein  äußeres  Kennzeichen  dieser  Erweiterung  des  Stoffbereiches 
der  Zeitung  ist  die  Gliederung  ihres  Inhalts  nach  Interessengruppen: 
politischer  Teil,  Feuilleton,  Lokalnachrichten,  Vermischtes,  Handels-  und 
Börsenteil,  Annoncenteil,  jeder  wieder  mit  zahlreichen  Rubriken,  um  die 
Orientierung  zu  erleichtern.  Vielfach  werden  einzelne  Stoffgebiete  in 
besondere  Beiblätter  verwiesen,  die  in  längeren  Perioden  erscheinen: 
belletristische,  wissenschaftliche,  landwirtschaftliche  usw.  Die  Zeitung 
bricht  dadurch  in  den  Bereich  der  Zeitschrift  ein;  ja  damit  nicht  zufrieden, 
zieht  sie  durch  Gewährung  von  Romanlieferungen,  Kunstbeilagen  u.  dgl. 
auch  einen  Teil  des  Buch-  und  Kunstverlags  an  sich.  Sie  wird  zum  Uni- 
versallieferanten geistiger  Nahrung  für  ganze  große  Volksschichten,  der 
nichts  anderes  neben  sich  duldet.  Politische  und  soziale  Willensbeein- 
flussung, Unterhaltung,  Belehrung,  wirtschaftliche  Interessenförderung  — 
dies  alles  vermischt  sich  mit  der  Nachrichtenpublikation  zu  einer  einzigen 
breiten   Masse    des   Lesestoffes,    der    Tag    für  Tag    durch    Tausende    von 


III.  Das  moderne  Zeitungswesen.  aqc 

Blättern,  bald  in  dieser  bald  in  jener  Art  der  Zubereitung,  dem  sozialen 
Körper  der  Kulturmenschheit  zugeführt  wird. 

Hand   in  Hand   mit   dieser  Erweiterung   des  Stoffbereichs   ging   eine    Technische 

Andcrungcti. 

Anzahl  technischer  Veränderungen,  Zunächst  solche  im  Format  der  Format. 
Zeitungsblälter.  Die  älteren  gedruckten  Zeitungen  schließen  sich  eng  an 
die  damals  gebräuchlichen  Buchformate  an  (Quart,  manchmal  sogar  Oktav); 
im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  stellt  sich  eine  DiflFerenzierung  ein.  Für 
das  Buch  wird  das  Oktavformat  zur  Regel,  von  der  nur  in  Ausnahme- 
fällen abgewichen  wird;  für  die  Zeitungen  kommen  immer  ausgedehntere 
Blattgrößen  in  Aufnahme  bis  zu  den  Riesenformaten  der  englischen  und 
nordamerikanischen  Blätter,  die  in  einer  Nummer  so  viel  Schriftsatz  bieten 
wie  ein  mäßig  starkes  Buch.  Zu  der  Vergrößerung  der  Formate  treibt 
einerseits  die  Mannigfaltigkeit  der  Stoffmassen,  anderseits  die  größere 
Billigkeit  der  Herstellung.  Im  Zusammenhang  damit  steht  die  zunehmende 
Häufigkeit     des     Erscheinens.      Tägliche    Ausgabe    wird    die    Regel.  HäaBskcit  des 

fCrsclicincns 

In  England  bildet  sich  daneben  schon  seit  dem  18.  Jahrhundert  eine 
Unterscheidung  in  Morgen-  und  Abendblätter  aus,  die  sich  als  verschie- 
dene Unternehmungen  nebeneinander  entwickeln  und  auch  innerlich  ver- 
schiedene Typen  des  Zeitungswesens  darstellen.  Ahnlich  in  Frankreich, 
Italien,  den  Vereinigten  Staaten,  während  man  im  Deutschen  Reiche  und 
in  Österreich  dazu  übergegangen  ist,  vom  gleichen  Blatte  täglich  mehrere 
Ausgaben  zu  veranstalten.  Zwei  Drittel  der  Wiener  und  die  Hälfte  der 
Berliner  politischen  Tagesblätter  erscheinen  in  je  einer  Morgen-  und  einer 
Abendausgabe;  ja  es  gibt  neun  Zeitungen  in  Deutschland,  welche  täglich 
dreimal  erscheinen  —  alle  außerhalb  der  Reichshauptstadt  (Bremen,  Breslau, 
Essen,  Frankfurt,  Köln,  München), 

In  dieser  starken  Verkürzung  der  Erscheinungsfristen  kommt  das  Aktu.-iiitäts- 
Grundprinzip  der  Zeitung,  die  Aktualität  des  Inhalts,  am  meisten  zur 
Geltung.  Ihre  Voraussetzung  war  einerseits  die  immer  feinere  Durch- 
bildung des  öffentlichen  Nachrichtendienstes  in  Post,  Telegraphie  und 
Telephonie  und  die  Anpassung  dieser  Anstalten  an  die  Bedürfnisse  der 
Presse,  anderseits  die  technische  Vervollkommnung  des  polygraphischen 
Verfahrens,  wie  sie  durch  die  Erfindung  der  Schnellpresse  und  später 
der  Rotationsmaschine  gegeben  war.  Beide  Reihen  von  Fortschritten 
haben  erst  in  ihrem  Zusammenwirken  jene  Beschleunigung  der  Nach- 
richtenpublikation ermöglicht,  die  wenige  Stunden  nach  einem  Geschehnis 
allen  Kulturvölkern  die  Kunde  desselben  in  gedruckter  Form  vor  Augen 
führt.  Dagegen  ist  die  Anwendung  der  Setzmaschine  für  die  Her- 
stellung der  Zeitung  nur  insofern  von  Bedeutung,  als  sie  zur  Verminderung 
der  Kosten  führen  kann,  während  sie  auf  die  Schnelligkeit  keinen  Ein- 
fluß hat.  Die  Raschheit  der  Nachrichten-Beförderung  und  -Vervielfältigung 
wirkt  wieder  zurück  auf  das  Tempo  der  Sammlung  und  der  redaktionellen 
Bearbeitung  der  Nachrichten;  auch  für  sie  wird  der  Gesichtspunkt  der 
Aktualität  ausschlaggebend. 


pnnzip. 


496 


Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 


Bericht- 
erstattung. 


Lokal- 
nachrichten. 


Zwar  die  Nachrichtensammlung  scheint  gegen  früher  kaum  eine 
andere  Veränderung  erlitten  zu  haben,  als  daß  sie  sich  von  der  Post  los- 
gelöst hat  und  zu  einem  selbständigen  Berufe  geworden  ist,  der  in  arbeits- 
teiliger Weise  von  zahlreichen  „Korrespondenten"  ausgeübt  wird.  Die 
letzteren  stehen  bald  in  festem  Kontraktverhältnisse  zu  einem  einzelnen 
Blatte,  bald  dienen  sie  in  freier  Stellung  einer  Mehrzahl  von  Blättern  — 
dieses  namentlich  dann,  wenn  sie  sich  für  eine  bestimmte  Gattung  von 
Nachrichten  (z.  B.  Börsen-,  Theater-,  Sportnachrichten)  spezialisiert 
haben.  Die  großen  Zeitungen  pflegen  einen  vielfältig  gegliederten,  über 
alle  Hauptplätze  der  Welt  zerstreuten  Stab  solcher  Berichterstatter  zu 
unterhalten  und  suchen  es  in  der  Raschheit,  Vielseitigkeit  und  Zuverlässigkeit 
der  Berichterstattung  einander  zuvorzutun.  Bei  außerordentlichen  Ereig- 
nissen entsenden  sie  nach  dem  Schauplatze  derselben,  oft  mit  großen 
Kosten,  Spezialberichterstatter,  und  manche  von  diesen  leisten  Her- 
vorragendes. Es  sei  an  die  berühmten  Kriegsberichte  der  „Times"  und 
der  „Daily  News",  an  die  soziale  Spezialberichterstattung  der  „Pall-Mall- 
Gazette",  an  die  Aussendung  von  eigenen  Forschungsreisenden  durch  den 
„New-York-Herald"  erinnert.  Die  Ausbildung  des  Berichterstatterdienstes 
der  englischen  Presse  seit  dem  Krimkriege  ist  für  das  Zeitungswesen  der 
ganzen  Welt  vorbildlich  geworden,  ohne  daß  sie  irgendwo  bis  jetzt  er- 
reicht worden  wäre.  Die  nordamerikanische  Berichterstattung,  welche  die 
englische  an  Raschheit  und  Findigkeit  manchmal  übertrifft,  bleibt  an  Ernst 
und  Zuverlässigkeit  hinter  ihr  zurück. 

Neben  der  ständigen  und  gelegentlichen  Nachrichtengewinnung  aus 
fremden  Ländern  hat  sich  im  Laufe  des  letzten  Jahrhunderts  ein  neuer 
Zweig  der  Berichterstattung  ausgebildet,  der  von  dem  eigentlichen  Korre- 
spondenzwesen in  mehrfacher  Hinsicht  abweicht.  Es  ist  die  mit  dem  An- 
wachsen der  großen  Städte  zu  einer  höheren  Bedeutung  gelangte  Lokal- 
berichterstattung. Da  diese  sich  vorzugsweise  auf  dem  Gebiete  der 
kleinen  sozialen  Tagesereignisse  bewegt,  bei  denen  die  Tendenz  der  ein- 
zelnen Zeitung  keine  wesentliche  Rolle  spielt,  so  steht  der  Lokalbericht- 
erstatter (Reporter,  Penny-a-liner)  in  der  Regel  nicht  im  festen  Kontrakt- 
verhältnisse eines  einzelnen  Blattes,  sondern  bedient  in  freiem,  oft  wenig 
geachtetem  Gewerbebetrieb  alle  Blätter  der  Stadt,  spezialisiert  sich  wohl 
auch  auf  bestimmte  Arten  von  Nachrichten  und  erlangt  dadurch  einen 
um  so  größeren  Einfluß,  als  Lokalnachrichten  vielfach  einer  redaktionellen 
Bearbeitung  kaum  unterliegen.  Nur  an  einzelnen  Orten  (Paris,  Wien) 
haben  bestimmte  Arten  von  Lokalberichten  sich  eigenartig  entwickelt; 
im  großen  Durchschnitt  sind  sie  auf  dem  niederen  Niveau  einer  geist- 
losen Chronistik  geblieben  oder  bevorzugen  in  korrumpierender  Weise 
das  Sensationelle.  Schnelligkeit  des  Erfahrens  und  Berichtens  ist  für  ihre 
Tätigkeit  noch  in  höherem  Maße  erforderlich  als  für  die  auswärtige  Be- 
richterstattung. 

Was  so  die  Einzelberichterstattung  bei  den  Lokalnachrichten  gewonnen 


III.  Das  moderne  Zeitungswesen.  4gy 

hat    ist  ihr  auf  der  anderen  Seite  bei  der  auswärtigen  Korrespondenz  vor- Untemchmungs. 

'  ,  weise  Organisa- 

loren  gegangen.  Hier  trat  an  ihre  Stelle  eine  .unt'ernehmungsweisetiondcru.-richt. 
Organisation  der  Vermittlung  von  Xachrichtenstoff  an  die  Presse, 
die  wieder  verschiedene  Formen  angenommen  hat,  je  nachdem  sie  sich 
des  Telegraphen  oder  der  Post  zur  Beförderung  ihrer  Nachrichten  be- 
dient. Im  ersteren  Falle  entstehen  Depeschen-Bureaux  oder  Telegraphische 
Agenturen,  im  letzteren  Korrespondenz-Burcaux. 

Die  Teleß-raphischen  Agenturen  gehen  in  ihren  Anfangen  bis  Toiegraphische 
auf  die  erste  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts  zurück.  Heute  sind  sie  in  der 
Regel  Aktiengesellschaften,  welche  mittels  eines  ausgebreiteten  Netzes 
von  Agenturen  und  Filialen  Nachrichten  aus  aller  Welt  sammeln,  um  sie 
an  Zeitungen  und  große  Geschäftshäuser  in  festem  Abonnement  weiter  zu 
geben.  Jede  Nachricht  geht  zunächst  telegraphisch  nach  dem  Hauptsitz 
des  Instituts,  um  auf  dem  gleichen  Wege  von  da  nach  allen  Orten  ge- 
leitet zu  werden,  wo  sich  Abonnenten  befinden.  Hier  werden  sie  even- 
tuell von  Filialbureaux  vervielfältigt  und  an  die  Zeitungsredaktionen  ab- 
gegeben, die  sie  in  ihren  Blättern  zum  Abdruck  bringen.  Fast  jedes 
größere  Land  hat  mindestens  eine  dieser  Anstalten:  England  das  Reuter- 
sche  Bureau,  Frankreich  die  Agence  Havas,  das  Deutsche  Reich  das 
Wolffsche  Bureau,  Italien  die  Agenzia  Stefani,  Österreich  das  Telegraphen- 
Korrespondenzbureau,  Rußland  die  Nordische  Telegraphen-Agentur  usw. 
Alle  größeren  Zeitungen  dieser  Länder  sind  auf  die  Telegramme  der  be- 
treffenden Agentur  abonniert,  und  da  die  Agenturen  untereinander  wieder 
im  beständigen  Nachrichtenaustausch  stehen,  so  gehen  täglich  die  telegra- 
phischen Nachrichten  über  die  wichtigeren  Ereignisse  fast  in  der  gleichen 
Fassung  durch  die  Presse  der  ganzen  Welt. 

Damit  ist  eine  Vereinfachung,  Verbilligung  und  Beschleunigung  der  Charakteristik 
Berichterstattung  erzielt,  wie  sie  großartiger  kaum  gedacht  werden  kann. 
Aber  die  Sache  hat  für  die  Publizität  einen  Haken.  Alle  Depeschen- 
Bureaux  Europas  sind  abhängig  einerseits  von  den  Regierungen  der  be- 
treffenden Länder,  andererseits  von  ihren  Eigentümern,  d.  h.  dem  Groß- 
kapital der  Börse.  Sie  empfangen  direkt  von  Regierungen  und  Be- 
hörden, Erwerbsgesellschaften  und  Instituten  Mitteilungen,  die  man  in 
einer  bestimmten  Form  verbreitet  sehen  will,  und  unterliegen  für  ihren 
sonstigen  Nachrichtenstoff  der  Zensur  oder  doch  einer  weitgehenden  Be- 
einflussung der  leitenden  Kreise,  die  ihnen  dafür  wieder  gewisse  Erleich- 
terungen bei  Benutzung  der  staatlichen  Telegraphenanstalten  zukommen 
lassen.  Nur  die  nordamerikanische  Presse  hat  es  verstanden,  durch  einen 
auf  genossenschaftlicher  Grundlage  beruhenden  gemeinsamen  Depeschen- 
dienst sich  von  offiziöser  Einwirkung  frei  zu  erhalten.  Allerdings  legen 
die  größten  Blätter  in  den  meisten  europäischen  Ländern  einen  gewissen 
Wert  darauf,  durch  „Privattelegramme"  das  von  den  Bureaux  gelieferte 
Material  zu  ergänzen  oder  zu  rektifizieren;  gelingt  es  ihnen  aber,  jenen 
zuvorzukommen    oder    eine    Nachricht    zu    bringen,    die    der    betreffenden 

DiK  Kultur  der  Gegenwart.    I.  i.  3^ 


derselben. 


,„g  Kari,  Bücher:  Das  Zeitungswestn. 

Agentur  entgangen  war,  so  wird  dieselbe  noch  vor  der  Ausgabe  der  sie 
enthaltenden  Zeitungsnumtner  der  Agentur  mitgeteilt  und  von  dieser  als  Mel- 
dung des  betreffenden  Blattes  verbreitet.  So  kommt  schließlich  doch 
wieder  auch  dieser  telegraphische  Spezialdienst  den  Bureaux  zugute  und 
verstärkt  nur  ihren  Einfluß. 
Korrespondenz-  Beschränken  sich  die  Depeschen-Bureaux  auf  die  bloße  Nachrichten- 
bureaui.  ygi-mittlung,  SO  liefcm  die  Korrespondenz-Bureaux  (oft  auch  bloß 
„Korrespondenzen"  genannt)  bereits  verarbeitetes  Material,  „Artikel"  für 
eine  Mehrzahl  von  Zeitungen,  und  zwar  auf  einseitig  bedruckten  oder 
autographierten  Blättern,  die  von  den  Redaktionen  nach  Belieben  und 
ohne  Quellenangabe  wie  Manuskript  benutzt  werden  können.  Sie  haben 
sich  seit  den  dreißiger  Jahren  in  den  Hauptstädten  aller  großen  Länder 
festgesetzt,  um  die  inländische  Provinzialpresse  und  namentlich  die  aus- 
ländischen Zeitungen  mit  druckfertigem  Material  zu  versorgen.  In  der 
Regel  gingen  sie  von  einzelnen  gewandten  Korrespondenten  aus,  die  sich 
mit  anderen,  untergeordneten  Kräften  verbanden,  die  leitenden  haupt- 
städtischen Organe  sofort  nach  ihrem  Erscheinen  ausbeuteten,  vielfach 
aber  auch  von  Regierungen  und  Parteileitungen  Informationen  bezogen 
oder  ganz  in  deren  Dienste  traten.  Einmal  vorhanden,  wurden  sie  zu 
einem  bequemen  Mittel,  um  eine  bestimmte  Auffassung  der  Politik  gleich 
durch  eine  große  Zahl  von  Zeitungen  an  das  Publikum  zu  bringen.  Es 
wurden  offizielle,  offiziöse  und  Parteikorrespondenzen  gegründet;  schließ- 
lich dehnten  sie  ihre  Wirksamkeit  auf  den  ganzen  Stoffbereich  der  Tages- 
presse aus,  und  es  entstand  eine  große  Mannigfaltigkeit  von  Spezial- 
korrespondenzen  nichtpolitischer  Natur:  Feuilleton-,  Theater-,  Sport-,  Ge- 
richtskorrespondenzen usw.  Kürschner  verzeichnet  für  das  Jahr  1901  im 
Deutschen  Reiche  und  Österreich  153  Zeitungskorrespondenzen,  darunter 
48  poUtische  und  parlamentarische,  23  örtliche,  20  für  Gewerbe,  Industrie, 
Wissenschaft,  13  für  Handel,  Börse,  Volkswirtschaft,  4  für  Illustrationen, 
8  für  Rechtsprechung  und  Polizei,  22  für  Unterhaltung  (Belletristik,  Feuille- 
tons) und  15  für  verschiedene  andere  Zwecke. 
Charakteristik  Wie  schon  dlcsc  Zusammenstellung  zeigt,  setzt  sich  das  Korrespon- 

^^"^  ^e°.^en'°'''  denzwesen  aus  sehr  verschiedenartigen  Elementen  zusammen.  Nachrichten 
bringen  alle,  in  dieser  oder  jener  Form,  und  sie  sind  je  nach  ihren  Be- 
zugsquellen mehr  oder  weniger  inspiriert,  bald  von  Regierungen,  bald 
von  Fraktionen  und  einzelnen  Parteiführern,  bald  von  künstlerischen  oder 
literarischen  Kliquen,  bald  von  Interessenverbänden  und  einzelnen  Inter- 
essenten. Das  Offiziösentum  geht  bis  hinab  zu  den  Lokalnachrichten,  die 
von  den  Magistraten  oder  Polizeidirektionen  abhängig  sind.  Manche  be- 
dürfen zur  Stoffgewinnung  eines  ausgedehnten  Apparates  von  Stenographen, 
Journalisten  und  Expedienten,  z.  B.  die  wichtigen  Parlamentskorrespon- 
denzen. Die  wissenschaftlichen  und  technischen  Korrespondenzen  beuten 
hingegen  fast  allein  die  Fachzeitschriften  aus;  die  belletristischen  liefern 
Romane,  Novellen,  zeitgemäße  Feuilleton-Artikel,   Nekrologe,  Modebriefe, 


m.  Das  moderne  Zeitungswesen.  <qq 

Küchenrezepte,  Schachaufgaben  und  Rätsel,  schieben  sich  also  für  einen 
Teil  ihres  Materials  zwischen  Schriftsteller  und  Redaktionen  als  Vermittler 
ein,  wobei  sie  die  Vorsicht  beobachten,  immer  nur  einem  Blatte  an  einem 
Orte  den  Abdruck  zu  gestatten.  Wieder  andere  versorgen  die  haupt- 
städtischen Blätter  mit  Provinznachrichten  oder  die  Provinzialpresse  mit 
hauptstädtischen  Berichten.  Die  meisten  aber  beschränken  sich  nicht  auf 
die  Nachrichtenvermittlung,  sondern  liefern  auch  Besprechungen  der  Zeit- 
ereignisse in  der  Form  von  Leitartikeln,  Wochenübersichten,  Entrefilets, 
Stimmungsberichten  u.  dgl.,  nehmen  also  den  Redaktionen  die  eigentlich 
schriftstellerische  Arbeit  ab  und  lassen  nur  noch  die  mechanische  Ver- 
richtung der  Stoffgruppierung  übrig,  die  auch  ein  intelligenter  Druckerei- 
faktor zur  Not  besorgen  kann. 

Die  Herstellung  der  Zeitungen,  namentlich  derjenigen  von  bloß  lokaler  ihre  Wirkungen. 
oder  provinzialer  Bedeutung,  wird  also  durch  das  Korrespondenzwesen  in 
hohem  Maße  mechanisiert.  Neun  Zehntel  aller  Blätter  halten  gar  keine 
eigenen  Korrespondenten  in  fremden  Ländern,  ja  nicht  einmal  fremde 
Zeitungen;  alles,  was  sie  aus  und  über  dieselben  bringen,  kommt  ihnen 
fertig  zugeschnitten  in  den  deutschen  Korrespondenzen  aus  London, 
Paris  usw.  zu.  Das  gleiche  gilt  von  den  Nachrichten  und  Meinungs- 
äußerungen aus  der  Hauptstadt  des  eigenen  Landes  und  den  wichtigeren 
Berichten  aus  der  Provinz.  Ja  es  haben  sich  sogar  Unternehmungen  ge- 
bildet, welche  den  gesamten,  für  ein  kleines  Blatt  nötigen  Stoff  aus  der 
Hauptstadt  in  Klischees  druckfertig  versenden  (kopflose  Zeitungen), 
so  daß  die  Herausgeber  im  Lande  nur  noch  die  Lokalnachrichten  und 
Annoncen  hinzuzufügen  haben.  So  wird  für  diesen  Teil  der  Presse  das 
Maß  der  geistigen  Befähigung,  das  für  die  Gründung  und  Leitung  einer 
Zeitung  erforderlich  ist,  und  damit  auch  die  eigene  Arbeit  auf  ein  Mindest- 
maß herabgesetzt.  Gewiß  eine  ungeheure  Kostenersparnis,  die  durch 
dieses  System  der  arbeitsteiligen  Massenproduktion  herbeigeführt  wird, 
zugleich  aber  auch  eine  ungeheure  Gefahr.  Die  Hebel,  welche  das  viel- 
verzweigte, aus  zahllosen  und  im  Range  mannigfach  abgestuften  Gliedern 
sich  zusammensetzende,  ganze  Länder  überspannende  Zeitungsnetz  in  Be- 
wegung setzen,  liegen  an  wenigen  Stellen.  Einer  starken  Hand  kann  es 
nicht  schwer  fallen,  sich  ihrer  zu  bemächtigen  und  damit  einen  unberechen- 
baren Einfluß  auf  die  öffentliche  Meinung  zu  gewinnen  —  je  nachdem 
zum  Segen  oder  zum  Fluche  des  Volkes.  Dies  um  so  mehr,  als  viele 
Herausgeber  kleiner  Blätter  das  bequeme  Material  der  ihnen  billig  oder 
umsonst  angebotenen  Korrespondenzen  nehmen,  ohne  auch  nur  eine 
Ahnung  davon  zu  haben,  wem  sie  damit  dienen. 

Gewiß  sind  Gegenwirkungen  nicht  ausgeblieben.    Als  eine  solche  ist  es      ccgen- 
schon  anzusehen,  daß  neben  den  offiziellen  und  offiziösen  Korrespondenzrn 
fast    für   jede    politische    Partei    eine    Korrespondenz    besteht,    daß   jede 
Richtung  in  Politik,  Volkswirtschaft,    Kunst,  Literatur  sich  dieses  publi- 
zistischen  Machtmittels   zu   versichern    bestrebt   ist   und   daß   dir-  Bureaux 

32  • 


tQQ  IsjVKX  BÜCHER:   Das  Zeitimgswesen. 

verschiedener  Richtung"  einander  mit  geistigen  Waffen  bekämpfen.  Die 
kapitalkräftigeren  Provinzialblätter  errichten  wohl  auch,  um  sich  von  den 
Korrespondenzen  unabhängig  zu  machen,  in  den  Hauptstädten  Filial- 
redaktionen (Bureaux),  bestehend  aus  einem  oder  mehreren  tüchtigen 
Korrespondenten  und  dem  nötigen  Hilfspersonal,  um  an  Ort  und  Stelle 
die  Sammlung  und  erste  Bearbeitung  des  Materials  selbst  bewirken  zu 
lassen.  Auch  vereinigen  sich  wohl  mehrere  Blätter  zu  diesem  Zwecke. 
Sie  suchen  endlich  das  Publikum  selbst  zur  Mitarbeit  zu  veranlassen. 
Freie  Bei    der    großen   Bedeutung,    welche    die    politische   Beurteilung   und 

Wegleitung  im  neueren  Zeitungswesen  erlangt  haben,  bei  der  Fülle  des 
belehrenden,  unterhaltenden,  geschäftlich  nutzbaren  Materials,  das  es  Tag 
für  Tag  dem  Publikum  zu  bieten  hat,  ist  es  längst  unmöglich  geworden, 
die  rein  geistige  Arbeit,  welche  die  Tagespresse  erfordert,  in  den  Re- 
daktionen allein  zu  leisten.  Es  bedarf  neben  der  Berichterstattung  der 
produktiv  schriftstellerischen  Mitarbeit  zahlreicher  Sachkundig-er  fast  für 
jedes  Spezialgebiet  der  Staatsverwaltung,  Volkswirtschaft,  Technik,  Wissen- 
schaft, Literatur  und  Kunst,  mögen  dieselben  aktuelle  Fragen  auf  Grund 
ihrer  besonderen  Fachkenntnisse  bearbeiten,  mögen  sie  über  frei  gewählte 
Aufgaben  Beiträge  liefern.  Die  Anforderungen,  die  in  dieser  Rich- 
tung an  ein  größeres  Blatt  oft  unerwartet  gestellt  werden,  sind  außer- 
ordentlich vielseitige.  Heute  fordert  ein  Handelsvertrag  oder  ein  Steuer- 
gesetz fachliche  Beurteilung,  morgen  eine  neue  Erfindung  in  der  Eisen- 
industrie oder  ein  hervorragendes  wissenschaftliches  Werk;  übermorgen 
ist  eine  militärische  oder  nautische  Frage  zu  erörtern,  eine  neue  Oper, 
ein  Schauspiel,  ein  Erzeugnis  der  bildenden  Kunst  zu  besprechen;  alle 
Tage  ist  mannigfacher  Unterhaltungsstoff  zu  liefern,  der  einer  originellen 
Gestaltung  nicht  entbehren  kann.  Ein  Teil  dieser  Mitarbeit  verschmilzt 
mit  der  Tätigkeit  der  Korrespondenten  und  Berichterstatter;  ein  anderer 
wird  von  Personen  geleistet,  die  in  freier  Stellung  spezielle  Aufträge  der 
Redaktionen  übernehmen  oder  noch  häufiger  aus  eigenem  Antrieb  Artikel 
schreiben,  die  sie  den  Redaktionen  zum  Abdruck  anbieten. 

Zwei   Ereignisse    sind    für   die    Notwendigkeit   und   Ausbildung   dieser 
freien   Mitarbeit   der   Zeitungen    entscheidend   geworden:    die    Ausbreitung 
der  Repräsentativverfassung  auf  politischem,   die  Einführung  des  Feuille- 
tons auf  schöngeistigem  Gebiete. 
Einfluß  des  Die    Rep r äs c n tat i V V e r f as suug    zieht    das    ganze    Volk    zur    Mit- 

mus. Wirkung  bei  Entscheidung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  in  Staat  und 
Gemeinde  heran.  Sie  erfordert  eine  weitgehende  Offenlegung-  der  Ver- 
waltung durch  die  Regierungen  gegenüber  den  Parlamenten:  Enqueten, 
Berichte,  Denkschriften  zur  Beleuchtung  von  Zuständen,  zur  Begründung 
von  Gesetzentwürfen.  Damit  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  die  Parlaments- 
verhandlungen durch  Erörterung  der  obschwebenden  Fragen  in  der  Presse 
zu  unterstützen  und  zugleich  Aufklärung  über  sie  in  die  weitesten  Klreise 
des  Volkes  zu  tragen.    Interessen  und  Gesichtspunkte,  die  bei  Regierung 


III.  Das  moderne  Zeitungswesen.  coi 

und  Volksvertretung  übersehen  oder  zu  kurz  gekommen  sind,  werden  in 
der  Presse  noch  zur  Geltung  gebracht.  Durch  sie  werden  Sachkundige 
jeder  Art  zur  freien  Mitwirkung  bei  der  Gesetzgebung  und  zur  kritischen 
Beleuchtung  bestehender  Einrichtungen  befähigt.  Kurz  sie  setzt  das  par- 
lamentarische System  bis  tief  in  die  Gesellschaft  hinein  fort,  oder  schafft 
neben  ihm  eine  Art  Volkstribunat. 

Das  Feuilleton  ist  zuerst  in  Frankreich  um  das  Jahr  1800  auf-  Fcuiiipton. 
gekommen.  Ursprünglich  bloß  für  Theaterberichte  bestimmt,  hat  es  all- 
mählich die  ganze  Kunstkritik,  die  Novelle,  durch  Eugene  Sue  und  Dumas 
noch  den  Roman  an  sich  gezogen,  und  ist  seit  den  dreißiger  Jahren  auch  in 
die  Tagespresse  der  meisten  anderen  Länder  übergegangen.  Dem  schwer- 
fälligen Ernst  des  politischen  und  wirtschaftlichen  Teils  stellte  es  ein 
leichtes,  unterhaltendes  Element  gegenüber  und  hat  darum  nicht  wenig 
dazu  beigetragen,  die  Zeitungen  in  der  Masse  der  Bevölkerung,  nament- 
lich bei  den  Frauen,  einzubürgern.  Dieser  Erfolg  wieder  hat  dazu  geführt, 
ihr  alle  nicht  politischen  oder  geschäftlichen  Stoffe  zuzuführen,  die  sich  in 
selbständiger  belletristischer  Form  und  individueller  Ausprägung  auf 
wenig  Raum  behandeln  lassen.  Dem  populär-wissenschaftlichen  Aufsatz, 
der  Charakterskizze,  der  Novellette  und  Humoreske  hat  es  als  eigenen  jour- 
nalistischen Stilformen  zum  Dasein  verholfen  und  die  Kunst  knapper  Dar- 
stellung und  graziöser,   geistvoller  Behandlung  in  hohem  Maße  gefördert. 

Da  die  Formgebung  im  Bereiche  des  Feuilletons  von  vornherein  eine    Hervortreten 
größere  Rolle   spielte   als   im  politischen  Teile,   so   verstand   es  sich  von  nsche/'pertön- 
selbst,    daß    die   Person    des    Schriftstellers    dort    mehr   zur    Geltung      '"^''''^"• 
kommen  mußte.     In   der  alten  Xachrichtenpresse   spielte  sie  keine  Rolle; 
alle  Artikel  erschienen  anonym  oder  höchstens  mit  einer  beiläufigen  An- 
deutung über  ihre  Quelle.    Daran  etwas  zu  ändern  hatte  man  in  der  politi- 
sierenden  Presse   der  Neuzeit  anfangs  um   so   weniger  Anlaß,    als    es   oft 
nicht  ungefährlich  war,  eine  den  Machthabern  mißliebige  Meinung  öffent- 
lich zu  äußern.    So  ist  die  Anonymität  der  Beiträge  für  den  politischen 
und    volkswirtschaftlichen    Teil    der    Zeitungen    in    den    meisten    Ländern 
herrschendes  Prinzip  geworden   und  ist   es  bis  auf  den  heutigen  Tag  ge- 
blieben.   Für  das  Feuilleton  ließ  sich  dieser  Grundsatz  nicht  durchführen. 
Bei   der  Kunst-   und  Literaturkritik    erfordern    die   einfachsten  Anstands- 
regeln   den  Namen   des  Verfassers.     Bei  Romanen  und   Novellen   lag  die 
Nennung  desselben,   zumal    wenn    es   ein  Schriftsteller   von  Ruf  war,    im 
Interesse   des  Zeitungsuntemehmens;  sie   wirkte  als  Reklame.     Auch  bei 
kleineren  belletristischen  Arbeiten   und  Fachaufsätzen,  bei  denen  persön- 
liche   Auffassung    und   Formgebung  oft   das  Wichtigste   sind,    ließen   sich 
die  Verfasser  nicht  leicht  im  Dunkeln  halten.     So  ist  beim  französischen    Frankreich. 
Feuilleton  die  Sitte  des  signierten  Artikels  aufgekommen;  sie  hat  manch- 
mal   sehr   schnell    talentvollen   Schriftstellern    zur  Berühmtheit    verholfen, 
und  sie   hat   sich   später  auch  auf  die   übrigen  Teile   der  Zeitungen,    ins- 
besondere auf  alle  größeren  politischen  Artikel  ausgedehnt.    Dieser  Sitte 


-Q2  Kari    BiTHER:   Das  Zeitungswesen. 

verdankt  die  französische  Presse  die  hohe  Vollendung  ihrer  journalisti- 
schen Kleinarbeit  und  eine  große  Reihe  berühmter  Namen;  der  Besitz 
eines  derselben  entschied  oft  für  Jahrzehnte  über  den  Erfolg  eines  Blattes. 
Es  braucht  aus  neuerer  Zeit  nur  an  Rochefort,  C16menceau,  Paul  de 
Cassagnac  erinnert  zu  werden.  Und  eben  weil  in  ihr  der  einzelne  Mann 
etwas  bedeutete,  hat  die  französische  Presse  die  Talente  angezogen. 
England.  England  und  nach  seinem  Beispiel  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

kennen  nichts  dem  Ähnliches.  In  ihrer  Presse  herrscht  das  Prinzip  der 
Anonymität  fast  unbeschränkt;  es  verschwindet  jedes  schriftstellerische 
Sonderdasein,  und  demgemäß  ist  die  journalistische  Kunst  auf  niederer 
Stufe  geblieben.  In  England  wiegt  die  Parteipresse  vor,  in  Nordamerika 
die  Geschäftspresse.  Ihr  ganzes  Trachten  ist  auf  das  grob  Tatsächliche 
gerichtet,  auf  Raschheit  und  Grründlichkeit  der  Information,  Nützlichkeit, 
Sensation,  Massenhaftigkeit  des  Lesestoffes.  Die  englische  Presse  hat  in 
ihrer  besten  Zeit  viel  Unerschrockenheit,  Unabhängigkeitssinn,  einen 
natürlichen  Instinkt  für  die  großen  geistigen  Massenbewegungen  im  Volke 
bewährt.  Sie  treibt  auch  heute  noch  die  öffentlichen  Dinge  mit  mehr 
Würde  und  Anstand  als  die  Yankeepresse.  Aber  ihre  guten  Traditionen 
sind  doch  für  den  Zeitungsbesitzer  auch  nur  ein  Teil  seines  Geschäfts- 
kapitals, ähnlich  wie  die  Weltstellung  seines  Landes  oder  die  Firma  seines 
Blattes;  seine  Redaktion  und  deren  Mitarbeiter  sind  nur  die  „Hände", 
welche  die  Ware  produzieren,  die  er  dem  Publikum  verkauft:  alle  Tage 
so  und  so  viel  Quadratzoll  bedruckten  Papiers  mit  Nachrichten  und  Unter- 
haltungsstoff. Die  amerikanische  Presse  treibt  dieses  Gewerbe  nur  offener, 
unverfrorener;  sie  betont  vielleicht  das  Geschäftliche  etwas  mehr;  ja  sie 
gibt  unter  Umständen  für  gute  Originalartikel  und  wissenschaftliche  Auf- 
sätze bedeutende  Summen  aus,  wenn  sie  sich  geschäftlichen  Nutzen  von 
ihnen  verspricht.  Es  ist  bezeichnend,  daß  die  Geschichte  des  englischen 
und  amerikanischen  Journalismus  so  viel  von  findigen  Reportern  und  kühnen 
Spezialkorrespondenten  zu  sagen  weiß  und  so  wenig  von  bedeutenden 
Redakteuren  und  Mitarbeitern. 
Kontinentales  •  Auch     in     der     kontinentalen     Presse     bildet     die     Anonymität    die 

""■opa-i.  j^gggi^  insbesondere  in  der  deutschen.  Doch  erleidet  diese  Regel  Aus- 
nahmen zugunsten  der  Verfasser  größerer  selbständiger  Beiträge.  Die 
Geschichte  der  Wiener  Presse  weist  eine  Anzahl  Namen  von  überaus 
geschickten  Feuilletonisten  auf,  die  in  der  Kunst  pikanter,  witziger  Be- 
handlung sozialer  Themen  der  Pariser  Presse  nahekommen;  viel  seltener 
sind  solche  Erscheinungen  im  Berliner  Journalismus.  Einzelne  hervor- 
stechende politisch -journalistische  Talente  weisen  auch  Rom,  Madrid, 
St.  Petersburg  auf.  Im  ganzen  aber  liegt  bleiern  über  dem  Zeitungs- 
wesen dieser  Länder  das  graue  Einerlei  des  namenlosen  Artikels,  in  dem 
bald  jede  schriftstellerische  Individualität  verschwindet  und  nichts  übrig 
bleibt  als  der  breite  Wortstrom  der  Mittelmäßigkeit.  Merkwürdigerweise 
hat  noch   in   neuester  Zeit   das   Anonymitätsprinzip  Fortschritte   gemacht 


m.  Das  moderne  Zeitungswesen.  5O3 

die  geschäftlich  so  erfolgfreiche  französische  Soupresse  huldigt  ihm  mit 
seltener  Ausschließlichkeit,  durchaus  im  Widerspruche  mit  der  Tradition 
des  französischen  Journalismus. 

Man  hat  zugunsten  der  Anonymität  geltend  gemacht,  daß  eine  Zeitung  Ursachen  und 

.     ,       .      .  ,  /  Folgen  der 

dem  Leser  als  die  Verkörperung  emer  emheithchen  (jrundanschauung  m  Anonymität. 
öffentlichen  Dingen  entgegentreten  solle  und  daß  der  einzelne  Verfasser 
gegen  Verfolgungen,  die  ihm  aus  der  Vertretung  seiner  Überzeugung  er- 
wachsen könnten,  sichergestellt  werden  müsse.  Und  in  der  Tat  mochten 
in  der  Zeit,  wo  der  Kampf  um  die  politischen  Grundrechte  sich  abspielte, 
die  Redakteure  und  sonstigen  Mitarbeiter  einer  Zeitung  eine  solche  Homo- 
genität der  Anschauungen  aufweisen,  daß  alle  hinter  dem  breiten  Rücken 
des  „verantwortlichen  Redakteurs"  Platz  fanden.  Die  Fiktion,  daß  durch 
die  Zeitung  eine  geschlossene  Gruppe,  eine  Partei  spreche,  entbehrte 
wenigstens  nicht  einer  gewissen  tatsächlichen  Grundlage.  Seitdem  aber 
eine  große  Mannigfaltigkeit  verwaltungspolitischer  und  volkswirtschaftlich- 
sozialer Aufgaben  vom  Staate  ihre  Lösung  verlangt,  zu  deren  Behandlung 
spezielle  Sachkunde  gehört,  seitdem  auch  die  Fragen  der  äußeren  Politik 
immer  komplizierter  und  schwieriger  geworden  sind,  ist  keine  Rede  mehr 
davon,  daß  alle  Redakteure  auch  nur  ein  Verständnis  für  die  Tragweite 
dessen  haben  können,  was  der  im  besonderen  Falle  Sachkundige  unter 
ihnen  über  einen  aktuellen  Gegenstand  schreibt.  Die  ganze  Beweis- 
führung, die  literarischen  Nachweisungen  und  Tatsachenbelege,  die  sti- 
listische Gestaltung  des  Stoffes  sind  nicht  Gemeingut,  sondern  geistiges 
Eigentum  eines  bestimmten  Verfassers,  für  den  kein  anderer  eintreten, 
dem  niemand  die  Verantwortung  der  Urheberschaft  abnehmen  kann.  Hier 
muß  mit  Notwendigkeit  die  Anonymität  zur  oberflächlichen,  kritiklosen 
Behandlung  führen,  die  über  den  Mangel  an  Sachkunde  durch  Schlag- 
wörter hinwegzutäuschen  sucht;  sie  öffnet  einer  frivolen  Demagogie,  einer 
gewissenlosen  Afterkritik,  einer  leichtfertigen,  persönlich  verletzenden 
Polemik  die  Tore,  wenn  sie  nicht  gar  die  Korruption  in  die  Reihen  der- 
jenigen trägt,  die  sich  als  Priester  der  Wahrheit,  Gerechtigkeit  und  Un- 
parteilichkeit fühlen  sollen.  Gerade  darin,  daß  der  begabte,  unabhängige 
und  ehrenhafte  Journalist  bei  Nennung  seines  Namens  dem  Publikum 
bekannt  wird,  liegt  für  ihn  ein  Mittel  zum  Emporkommen,  ein  Schutz 
gegen  Herabdrückung  zum  bloßen  „Tintenkuli". 

Gewiß  wird  auch  unter  dem  System  der  Anonymität  viel  tüchtige  schiuSurteii. 
und  ehrenhafte  Arbeit  in  der  Presse  geleistet,  zumal  in  der  deutschen. 
Aber  es  wird  sich  nicht  bestreiten  lassen,  daß  jenes  System,  wo  es  auch 
auf  die  individuell  gestaltende  literarische  Leistung  ausgedehnt  wird,  das 
sittliche  und  intellektuelle  Niveau  der  Zeitungen  herabdrückt,  daß  es  die 
Geistesarbeit  in  eine  hoffnungslose  Abhängigkeit  vom  Zeitungsunter- 
nehmer versetzt  und  daß  es  nicht  dazu  beiträgt,  den  Journalistenstand  in 
der  Achtung  des  Publikums  zu  heben.  Das  führt  dann  wieder  dazu, 
daß    diese    Laufbahn    gerade    für    hervorragend    dazu    befähigte    Kräfte 


-Qj^  Karl  Bvcher:  Das  Zcilungswcscn. 

nicht    verlockend    genug   ist,    während   das    Geistesproletariat    massenhaft 
sich    ihr  zudrängt. 
Gegenmittel.  Daß  diBS  auch  in   denjenigen  Ländern   empfunden  wird,   in   denen  die 

Anonymität  die  Regel  bildet,  ergibt  sich  aus  den  mancherlei  Versuchen 
der  Zeitungsleiter,  Leute  von  anerkanntem  Rufe  zur  Äußerung  ihrer  Mei- 
nung über  einzelne  schwebende  Fragen  zu  veranlassen.  Vereinzelt  sind 
sogar  Blätter  aufgetreten,  die  diese  Art  der  Artikelbeschaffung  zum  herr- 
schenden System  gemacht  haben,  weil  sie  sich  des  Reizes  bewußt  wurden, 
den  das  mehr  oder  minder  autoritäre  persönliche  Element  auf  die  Leser 
ausübt.  Größerer  Verbreitung  erfreut  sich  die  Umfrage  (Enquete),  bei 
welcher  eine  Mehrzahl  von  bekannten  Personen  zur  schriftlichen  Aus- 
sprache über  die  gleiche  Streitfrage  aufgefordert  werden.  Endlich  gehört 
hierher  das  Interview,  bei  dem  eine  gerade  im  Vordergrunde  des  all- 
gemeinen Interesses  stehende  Persönlichkeit  durch  einen  Journalisten 
(Interviewer)  zur  Beantwortung  bestimmter  Fragen  veranlaßt  wird;  das 
Ergebnis  wird  dann  durch  den  Ausfrager  schriftlich  fixiert.  Aber  das 
sind  doch  alles  nur  Notbehelfe,  und  am  guten  Ende  wird  man  doch  immer 
wieder  auf  den  Ausspruch  Scipio  Sigheles  zurückkommen:  „Die  Forde- 
rung, daß  jeder  Artikel  den  Namen  des  Verfassers  trage,  wäre  eine  Schule 
der  Sittlichkeit  und  eine  Bürgschaft  der  Intelligenz." 
Annoncenteil.  Wenn  wir  schon  bei   der  seitherigen  Besprechung  der  neueren  Ent- 

wicklung fast  keinen  Schritt  vorwärts  tun  konnten,  ohne  auf  das  die 
moderne  Volkswirtschaft  beherrschende  kapitalistische  Unternehmertum  zu 
stoßen,  so  gewinnt  dieses  letztere  bei  der  Betrachtung  derjenigen  Seite 
des  modernen  Zeitungswesens,  der  wir  uns  nun  zuzuwenden  haben,  aus- 
schlaggebende Bedeutung.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Sitte  der  öffent- 
lichen Ankündigung  von  Angebot  und  Nachfrage  und  der  öffentlichen 
Bekanntmachung  in  privaten  und  allgemeinen  Angelegenheiten  im  Laufe 
des  letzten  Jahrhunderts  immer  weitere  Kreise  ergriffen  hat.  Die  Ur- 
sachen dieser  Erscheinung  liegen  einerseits  in  der  zunehmenden  Kompli- 
kation der  sozialen  Verhältnisse,  anderseits  in  Publizität  fordernden  Vor- 
schriften des  Rechtes,  endlich  in  dem  allgemeinen  Übergang  von  der 
Kunden-  zur  Warenproduktion.  Die  Geschäftsanzeige  ist  der  Haupthebel 
der  Konkurrenz;  sie  lehrt  Angebot  und  Nachfrage  einander  finden,  weckt 
latenten  Bedarf  und  regt  verborgene  Produktivkraft  an;  sie  erspart  unend- 
lich viel  Zeit  und  Mühe.  Ohne  sie  wäre  unsere  ganze  moderne  Wirt- 
schaftsorganisation undenkbar. 
Verkettung  des  Da  ist   BS   denn   eine  Tatsache  von  weitesttragender  Bedeutung,   daß 

wesens°mirder  die  oben  erwähnten  Ansätze  zu  einer  selbständigen  Entwicklung  eigener 
Ta°ge'sprel$"e.  Anzeigeblätter  früh  verdorrt  sind  und  daß  das  Annoncenwesen  mit  der 
politischen  Zeitung  und  der  belletristischen  und  fachlichen  Zeitschrift  zu 
einem,  wie  es  scheint,  für  absehbare  Zeit  untrennbaren  Ganzen  verwachsen 
ist.  Ausschließliche  Annoncenblätter  bestehen  heute  fast  nur  für  bestimmte 
Geschäftszweige,  und  auch  diese  sehen  sich  noch  oft  veranlaßt,  ihren  Lesern 


III.   Das  moderne  Zeitungswesen.  C05 

durch  Aufnahme  von  unterhaltenden  oder  geschäftlich  nutzbaren  Mit- 
teilungen den  Schein  vorzutäuschen,  als  dienten  sie  auch  höheren  Zwecken. 
In  der  Tat  ist  die  Zusammenkoppelung  eines  den  edleren  Interessen  der 
Menschheit  dienenden  Stoffes  mit  Ankündicfungen  privaten  Erwerbsinter- 
esses der  Kernpunkt  der  ganzen  Einrichtung.  Der  Zeitungsunternehmer 
verkauft  die  durch  jene  höheren  Interessen  bedingte  Publikationskraft 
seines  Blattes  an  jedes  zahlungsfähige  Privatinteresse.  Die  Leser  haben 
nicht  Grund,  dem  zu  widersprechen;  denn  die  Inserate  ermöglichen  es  dem 
Unternehmer  vermöge  ihres  die  Kosten  der  Herstellung  weit  übersteigen- 
den Preises  den  Preis  der  Zeitungsnummem  bis  weit  unter  die  Her- 
stellungskosten des  redaktionellen  Teils  zu  ermäßigen.  Sie  haben  denn 
auch  viel  mehr  zur  Verbilligung  der  Tagespresse  und  damit  indirekt 
zu  ihrer  Verbreitung  beigetragen  als  die  Aufhebung  der  Stempelabgaben 
und  die  technischen  Erfindungen  der  Neuzeit.  Sehr  annoncenreiche  Blätter 
haben  berechnet,  daß  sie  nur  37 — 4o''/o  ihrer  gesamten  Herstellungskosten 
durch  das  Abonnement  decken. 

Die  Anziehungskraft,  welche  eine  Zeitung  auf  das  inserierende  Publi-  KosienRcsctz 
kum  ausübt,  wird  ihrem  Ansehen  als  politisches  Organ  und  ihrer  Ver- 
breitung entsprechen.  Bis  zu  einem  gewissen  Punkte  wird  jedes  Steigen 
der  Abonnentenzahl  eine  noch  stärkere  Vermehrung  der  Annoncen  hervor- 
rufen. Bis  dahin  behält  der  Unternehmer  das  Interesse,  durch  vermehrte 
Aufwendungen  für  den  redaktionellen  Teil  die  Anziehungskraft  des  Blattes 
zu  erhöhen;  ist  aber  dieser  Punkt  erreicht,  so  vermag  keine  Kunst  der 
Welt  die  durch  feststehende  lokale  und  allgemein  wirtschaftliche  Verhält- 
nisse gegebene  Menge  der  Annoncen  entsprechend  zu  steigern.  Jeder 
neue  Abonnent  bedeutet  dann  einen  Verlust  für  den  Unternehmer,  und 
es  schwindet  für  ihn  jedes  Motiv,  auf  Verbesserungen  noch  Bedacht  zu 
nehmen. 

Man  hat  die  Verbindung  des  Annoncenwesens  mit  der  Politik  scharf  Nachteile  der 

11  1  -n     •  'i*^  4  irt.  n        T*Vi      1      ••       ,        1  Verbindung  des 

getadelt,  und  gewiß  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  sie  große  Ubelstande  hat.  Annoncen- 
Zwar  haben  nur  wenige  Länder  die  noch  in  der  nordamerikanischen  Presse  Politik, 
verbreitete  Sitte  beibehalten,  daß  die  Annoncen  zwischen  den  Artikeln 
der  Redaktion  eingereiht  werden;  überall  hat  sich  sonst  ein  besonderer 
Annoncenteil  abgeschieden  und  für  diesen  sich  eine  eigene  Satztechnik 
ausgebildet  Aber  es  ist  daneben  zwischen  dem  redaktionellen  und  dem 
Annoncenteil  die  Reklame  entstanden,  welche  ersichtlich  auf  Täuschung 
des  Publikums  berechnet  ist,  und  vollends  läßt  sich  nicht  verhindern,  daß 
lobende  Besprechungen  im  redaktionellen  Teile  als  Nebenleistung  bei  der 
Aufgabe  kostspieliger  Inserate  ausbedungen  und  gewährt  werden,  oder  daß 
reiche  Annonceneinnahmen  dort  als  Schweiggelder  wirken.  Daß  die  An- 
noncenspalten mancher  Blätter  sich  skrupellos  auch  verwerflichen  Privat- 
zwecken öffnen,  ist  bekannt  genug.  Wesentlich  erhöht  sind  alle  diese 
Gefahren  durch  die  Tatsache,  daß  sich  für  Sammlung  und  Vermittlung  der 
Annoncen    eine    ähnliche    Organisation    ausgebildet  hat,    wie    sie    für    die 


=  o6  Kaki,  Bücher:   Das  Zeitungswesen. 

Nachrichtenvermittlung  in  den  Korrespondenzen  und  Depeschenagenturen 
besteht.     Er  sind  das  die  Annoncenbureaux,  die  viele  Blätter  geradezu 
von  sich  abhängig-  zu  machen  und  sie  zu  manchem  zu  zwingen  vermögen, 
was  dem  wiihren  Beruf  der  Presse  widerstreitet. 
SchiuBurtcii.  Es  wird  immer  als  ein  unerträglicher  innerer  Widerspruch  empfunden 

werden,  daß  in  dem  Tempel,  wo  Gerechtigkeit  und  Freiheit  gepredigt 
werden  sollen,  auch  Käufer  und  Verkäufer  ihre  Tische  aufstellen,  und  daß 
in  Fällen,  wo  das  Volk  den  unbestechlichen  Priester  der  Wahrheit  zu 
vernehmen  glaubt,  nur  die  geschickt  verhüllte  Stimme  des  bezahlten  Markt- 
schreiers ihm  entgegentönt.  Man  kann  darum  immer  zugestehen,  daß  ohne 
die  reichen  Hilfsquellen  des  Annoncenteiles  die  großartige  Organisation 
des  politischen  und  kommerziellen  Nachrichtendienstes  nicht  hätte  ge- 
schaffen werden  können,  daß  unsere  Zeitungen  ohne  sie  weniger  reich- 
haltig, weniger  belehrend,  weniger  wohlfeil  und  darum  weniger  verbreitet 
sein  würden.  Um  dies  zu  begreifen,  genügt  ein  Blick  auf  die  franzö- 
sische Presse,  deren  Annoncenwesen  unentwickelt  geblieben  ist,  und  deren 
Informationsdienst  darum  auch  weit  hinter  dem  der  annoncenreichen  eng- 
lischen und  deutschen  Presse  zurückgeblieben  ist.  Trennen  läßt  sich  die 
historisch  gewordene  Verbindung  von  öffentlicher  und  privater  Publizität 
schwerlich  wieder;  denn  sie  hat  den  Vorzug  ökonomischer  Zweckmäßigkeit. 

Stoffverteilung.  Bei  der  großen  Fülle  von  Materien,  aus   denen  sich  der  Inhalt  einer 

modernen  Zeitung  zusammensetzt,  wäre  es  von  nicht  geringem  Inter- 
esse, das  räumliche  Verhältnis  festzustellen,  in  welchem  bei  verschiedenen 
Völkern  und  bei  Blättern  verschiedenen  Ranges  die  einzelnen  Stoffgebiete 
berücksichtigt  werden.  Für  die  20  bedeutendsten  Pariser  Zeitungen  ist 
eine  solche  Feststellung  auf  statistischem  Wege  durch  Henri  de  Noussanne 
vorgenommen  worden.  Sie  ergab,  daß  30,5 "/(,  des  Raumes  auf  Politik, 
-3)97o  auf  Inserate  und  offene  Reklame,  Jjö"/,,  auf  verhüllte  Reklame,  10"/^, 
auf  Erzählungen  und  Romane,  14,270  auf  Kunst,  Theater,  Sport  entfielen, 
und  daß  Unfälle,  Verbrechen,  Skandale  einen  weit  größeren  Raum  bean- 
spruchen als  Wissenschaften,  Entdeckungen  und  Werke  der  Menschen- 
liebe. Aber  die  Ergebnisse  lassen  sich  nicht  verallgemeinem;  sie  unter- 
liegen an  sich  schon  manchen  Zweifeln. 

Verbreitung  der  Ebensowenig  ist  es  bis  jetzt  gelungen,  die  Verbreitung  der 
Zeitungen  innerhalb  der  Bevölkerung  der  einzelnen  Länder  exakt  fest- 
zustellen. Nicht  einmal  über  die  Zahl  der  Zeitungen  in  den  einzelnen 
Staaten  und  Sprachgebieten  gibt  es  zuverlässige  Ermittlungen.  Alle  be- 
kannt gewordenen  Ziffern  leiden  unter  der  Schwierigkeit  der  Unterschei- 
dung zwischen  Zeitungen  und  anderen  periodischen  Druckschriften;  auch 
enthalten  sie  zahlreiche  Doppelzählungen.  Noch  unzuverlässiger  sind  die 
Angaben  über  die  Höhe  der  Auflagen.  Über  die  Zahl  der  durch  die  Post 
versandten  Zeitimgsnummern  weiß  man  zwar  Genaueres;  aber  sie  geben 
nicht  die  ganze  Verbreitung  der  Blätter  wieder.  Dazu  kommt  die  Ver- 
schiedenartigkeit des  Zeitungsverschleißes  (feste  Abonnements  und  Nummern- 


III.   Das  moderne  Zeitungswesen.  507 

verkauf)  in  den  einzelnen  Staaten.  In  manchen  Ländern  leidet  das  Zei- 
tungswesen unter  großer  Zersplitterung  (Deutschland,  Schweiz,  Dänemark), 
die  leistungsfähige  Unternehmungen  nur  in  geringer  Zahl  aufkommen 
läßt.  In  Frankreich  und  England  haben  die  großen  hauptstädtischen 
Tagesblätter  eine  Auflage  von  Hunderttausenden  von  Exemplaren,  und 
jedes  von  ihnen  versorgt  so  viele  Leser  wie  hundert  und  mehr  kleine 
deutsche  Blätter.  Bereits  im  Jahre  1881  hatte  das  Pariser  Petit  Journal 
mehr  Abnehmer,  als  alle  damals  vorhandenen  (255)  politischen  Blätter  der 
Schweiz  zusammengenommen.  Die  Zahl  der  Zeitungen  in  einem  Lande 
ist   danach  keineswegs   ein  Maßstab   für   die  Intensität  ihrer  Verbreitung. 

Bestände  das  Annoncenwesen  nicht,  so  würde  die  Mehrzahl  der  kleinen  Nachteile  der 

Zersplitterung 

Blätter  nicht  existenzfähig  sein.     Die  meisten  von  ihnen  führen  in   bezug 
auf  den  redaktionellen  Teil  ein  Parasitenleben,  bei   dem  sie   die  von  den 
großen   Zeitungen    geschaffene   und    unterhaltene   Organisation    des  Nach- 
richtendienstes  ausbeuten.     Aber  auch   zu    einer  reinen  Scherenredaktion 
gehört  ein  gewisses  Maß  von  Intelligenz,  Geschmack  und  Unterscheidungs- 
vermögen, über  das  die  Herausgeber  der  kleinen  Lokal-  und  Provinzblätter 
selten  verfügen.  So  sinken  sie  intellektuell  und  ethisch  oft  auf  ein  niederes 
Niveau,  stehen  jedem  zahlungsfähigen  Einflu.sse  oder  einer  gewissenlosen 
Demagogie  offen  und  wirken  mehr  verrohend  als  erziehend.    Wären  nicht 
diese  Schattenseiten  der  Kleinpresse,  so  würde  zwischen  den  Ländern  mit 
wenigen  großen  und  denen  mit  vielen  kleinen  Blättern  kaum  ein  weiterer 
Unterschied  sein,  als  daß  letztere  auch  den  lokalen  Publizitätsbedürfnissen 
in  höherem  Maße  Rechnung  tragen  können.    Für  den  Hauptinhalt  an  Nach- 
richten über  in-  und  ausländische  Verhältnisse  ergibt  sich  keine  so  große 
Verschiedenheit,  da  dieser  durch  die  der  ganzen  Presse  gemeinsamen  Institu- 
tionen der  Depeschen-  und  Korrespondenzbureaux  und  den  internationalen 
Depeschenaustausch  gleichmäßig  gegeben  ist.   Was  aber  sonst  die  großen 
Landes-  und  Weltblätter  an  bedeutsamen  Vorgängen   und  Erscheinungen 
der  fortschreitenden  Kulturentwicklung  in   sich    aufnehmen   und  zunächst 
den  höheren  Schichten  zur  Kenntnis  bringen,  sickert  nur  langsam  bis  in 
die  untersten  Organe  der  Öffentlichkeit  durch.    Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die 
gewaltige  städtische  Agglomeration  der  letzten  Menschenalter  vermöge  des 
wachsenden  lokalen  Anzeigebedürfnisses  vielen  Zeitungen  die  Existenz  er- 
möglicht hat,  die  sie  wegen  ihres  Eigengehalts  nicht  verdienen  würden.    Die 
Konkurrenz  unter  ihnen  nimmt  oft  sehr  unschöne  Formen  an;  sie  läßt  sie 
der    niederen    Sensation    und    den    schlechten    Leidenschaften    des    Publi- 
kums   schmeicheln,    und    so    dürfte,    alles    wohl    erwogen,    der  Vergleich 
schließlich  doch  zugunsten  der  Länder  mit  konzentriertem  Zeitungswesen 
sprechen. 

So    umfassend    und    vielseitig    der   Inhalt   der    modernen  Presse    sich    Allgemeine 

"  -1.  1  FunkUon  der 

entwickelt  und  ausgestaltet  hat,  ihre  Kulturwirkung  ist  und  bleibt  sekun-       Press«, 
därer  Natur.     Sie   ist  nach  Schäffles   treffender  Bezeichnung  ein  Vermitt- 
lungsglied, ein  Leitorgan,  durch  das  die  geistige  Strömung  zwischen  dem 


5o8 


Kakl  BCcher:  Das  Zeitungswesen. 


Presse  und 
öffentliche 
Meinung. 


Die  Presse 

macht  nicht 

öffentliche 

Meinung. 


Volke  und  .seinen  führenden  Geistern  hin  und  hergeht.  Auf  der  Stufe  der 
alten  Staatszeitung  ist  ihre  Wirkung  eine  wesentlich  administrative,  auf 
der  Stufe  der  gedruckten  Nachrichtenpresse  eine  wesentlich  intellektuelle 
(Erweiterung  des  Gesichtskreises),  auf  der  Stufe  der  modernen  politisie- 
renden Presse  eine  politisch  und  sozial  hodegetische,  propagandistische. 
Die  aktiven,  leitenden  Elemente,  von  denen  jene  Strömungen  au.sgehen, 
stehen  über,  nicht  in  der  Presse.  Die  Redakteure  und  Mitarbeiter  haben 
keine  selbständig  schöpferische  und  leitende  Rolle.  Sie  sind  Anpassungs- 
organe. Auch  wo  sie  sich  in  der  Opposition  befinden,  leiten  sie  nur  die 
in  den  Volksmassen  entstehenden  Gegenströmungen  gegen  Maßnahmen  der 
Regierenden  auf  diese  zurück.  Ihre  Tätigkeit  ist  eine  wesentlich  form- 
gebende. Sie  prägen  das  Metall,  welches  die  eigentlich  schöpferische 
Geistesarbeit  in  Politik,  Wissenschaft,  Kunst,  Technik  zutage  fördert, 
in  kleine  Münze  um,  machen  es  also  zirkulationsfähig.  Sie  zerstreuen  die 
geistigen  Anstöße,  die  von  den  politischen  und  kulturellen  Zentren  au.s- 
gehen,  in  die  Massen  und  sammeln  die  von  diesen  ausgehenden  Reak- 
tionen, um  sie  zu  den  Mittelpunkten  der  geistigen  Bewegung  zurück- 
zuführen. 

Damit  ist  bereits  ihr  Verhältnis  zur  öffentlichen  Meinung  gekenn- 
zeichnet. Die  öffentliche  Meinung  ist  das  stark  mit  Gefühls-  und  Willens- 
momenten durchsetzte  Urteil  der  Gesellschaft,  die  massenpsychologische 
Reaktion,  die  sich  zustimmend  oder  ablehnend  gegen  bestimmte  Vorgänge, 
Maßnahmen  oder  Einrichtungen  wendet.  Die  Presse  wird  zum  Organ  der 
öffentlichen  Meinung,  wenn  sie  die  von  den  Massen  ausgehenden  Ideen- 
strömungen aufnimmt,  ihnen  Gestalt  und  Richtung  gibt,  auf  ihrem  Grunde 
Forderungen  an  die  Staatsgewalt  formuliert.  Aber  sie  übt  auch  Einfluß 
auf  die  öffentliche  Meinung,  indem  sie  das  Urteil  Einzelner  oder  ganzer 
Gruppen  der  Masse  suggeriert.  Ein  bekannter  Kunstgriff  aller  Demagogie 
besteht  darin,  subjektive  Ansichten  und  partikulare  Interessen  als  Volk.s- 
ansichten  und  Volksinteressen  darzustellen.  Oft  sind  es  nur  kleine  Frak- 
tionen der  oberen  Schichten,  die  ihre  Meinung  durch  die  Presse  als  die 
öffentliche  Meinung  ausgeben  lassen.  Dazu  ist  diese  Meinung  meist  nichts 
Einheitliches;  das  intellektuelle  Moment  in  ihr  kann  auf  ein  Minimum  re- 
duziert sein;  sie  weist  dann  nur  unklare  Gefühlsströme  auf,  allgemeine 
Unzufriedenheit,  Gedrücktheit,  Opposition,  Begeistenmg,  Nationalgefühl, 
Chauvinismus.  In  diesem  Zustande  läßt  sie  sich  in  bestimmter  Richtung 
„bearbeiten",  nachdem  sie  versuchsweise  vorher  betastet,  sondiert  worden 
ist;  sie  läßt  sich  zu  großen  Volksbewegungen  aufstacheln  oder  auch  be- 
schwichtigen. Grund  genug  für  Machthaber  und  Parteien,  sich  des  Leit- 
organes  der  Presse  zu  bemächtigen,  um  mit  der  öffentlichen  Meinung 
Fühlung  zu  gewinnen  und  sie  im  eigenen  Interesse  zu  lenken. 

Es  ist  darum  noch  nicht  richtig,  wenn  behauptet  wird,  daß  die  Presse 
die  öffentliche  Meinung  „mache"  oder  daß  diese  in  jener  enthalten  sei. 
Sonst  wäre  es  unmöglich,  daß  in  einem  Lande  wie  Rußland,   in  welchem 


III.  Das  moderne  Zeittingswesen.  cqu 

Menschenalter  hindurch  der  Druck  der  Zensur  jede  freie  Erörterung  innerer 
Angelegenheiten  in  der  Presse  unmöglich  gemacht  hatte,  eine  große  revo- 
lutionäre Volksbewegung  hätte  entstehen  können,  die  ohne  eine  ausge- 
sprochen oppositionelle  Grundstimmung  undenkbar  ist.  Auch  die  deutsche 
Arbeiterbewegung  hat  sich  in  den  60  er  Jahren  auf  Grund  einer  im  Gegen- 
satze zur  gesamten  Presse  stehenden,  breite  Schichten  beherrschenden 
Volksanschauung  gebildet;  erst  später  folgte  die  Gründung  einer  Partei 
und  einer  Parteipresse.  Man  hat  also  zu  unterscheiden  zwischen  allge- 
mein verbreiteten  Anschauungen  und  Stimmungen  im  Volke,  die  niemals 
ohne  Ursache  entstehen,  sich  durch  das  Buch,  die  Rede,  Vereine,  die 
Agitation  von  Mann  zu  Mann  ausbreiten,  und  ihrer  öffentlichen  Aus- 
sprache. Die  Volksmeinung  wird  erst  zur  „öffentlichen  Meinung",  in- 
dem sie  in  den  Zeitungen  verlautbart  wird.  Die  letzteren  wirken  dadurch 
verstärkend  auf  sie  zurück,  daß  sie  den  im  Volksbewußtsein  schlummernden 
Empfindungen  einen  adäquaten  Ausdruck  verleihen,  sie  formulieren,  sie 
zur  Höhe  klar  begründeter  Forderungen  erheben.  Eine  Presse,  deren 
Haltung  dem  Volksbewußtsein  widerspricht,  bleibt  wirkungslos,  während 
diejenige  die  größten  Erfolge  erzielt,  welche  weit\erbreiteten,  aber  viel- 
leicht nur  dunkel  empfundenen  Stimmungen  den  glücklichsten  verstandes- 
mäßigen Ausdruck  verleiht.  Irre  leiten  kann  die  Presse  die  „öffentliche 
Meinung"  nur,  wenn  sie  jenem  unklaren  Volksempfinden  eine  unrichtige 
Deutung  gibt,  den  Tatsachen,  welche  das  letztere  hervorgerufen  haben, 
falsche  Ursachen  unterschiebt,  den  allgemeinen  Unwillen  auf  falsche  Ziel- 
punkte hinlenkt. 

Unser  ganzes  politisches,  soziales  und  wirtschaftliches  Leben  beruht  .Massenwirkung 
auf  Massenwirkungen.  Keine  Machtbestrebung  kann  auf  die  Dauer  ge-  "  *"°°^' 
lingen,  wenn  sie  nicht  die  Masse  hinter  sich  hat,  d.  h.  ihre  Empfindungen, 
Anschauungen,  Urteile  beherrscht.  Augenblicks  Wirkungen  auf  den  Geist 
der  Massen  kann  nun  zwar  die  lebendige  Menschenstimme  von  der  Tribüne 
oder  der  Kanzel  noch  in  höherem  Maße  erzielen,  als  die  Presse;  aber  der 
letzteren  Einfluß  wirkt  nachhaltiger.  Tag  für  Tag  lenkt  sie  die  Geistes- 
kräfte von  Tausenden  in  die  gleichen  Gedankenbahnen,  wiederholt  bei 
den  verschiedensten  Gelegenheiten  und  Zusammenhängen  die  gleichen 
Ansichten,  Meinungen  und  Urteile  mit  der  Selbstverständlichkeit  uner- 
schütterlicher Wahrheiten;  schließlich  meint  der  Leser  in  ihr  nur  seine 
eigenen  Gedanken  wiederzufinden.  Hat  ihn  doch  die  alles  sich  unter- 
werfende Macht  des  Aktualitätsprinzips  daran  gewöhnt,  über  jedes  neue 
Ereignis  bereits  ein  fertiges  Urteil  in  der  Tagesübersicht  oder  dem  Leitartikel 
in  derselben  Nummer  seiner  Zeitung  vorzufinden,  die  über  dieses  Ereignis 
die  erste  Meldung  bringt.  Er  behält  gar  nicht  Zeit,  sich  ein  eigenes  Ur- 
teil zu  bilden  und  dieses  dann  etwa  noch  an  fremdem  Urteil  zu  korri- 
gieren. Alles  ist  ihm  bereits  vorgedacht;  in  jeder  Spalte,  in  jeder  kleinen 
Notiz  der  Zeitung  ist  die  Nachrichtenmitteilung  mit  Werturteilen,  An- 
sichten,   Empfindungen    untermischt.     Schließlich    legt    sich    diese    fremde 


c^  I O  Karl  Bücher  :  Das  Zeitungswesen. 

Auffassung  wie  ein  Bleigewicht  über  die  eigene  Urteilskraft.  Mag  die 
aus  flüchtiger  Anschauung  der  Dinge  geschöpfte  Zeitungsmeinung  noch 
so  oberflächlich  sein,  sie  wirkt  mit  der  Suggestivkraft  des  Gedruckten, 
stumpft  die  Aufmerksamkeit  ab  und  lähmt  das  selbständige  Denken.  Dann 
wird  die  Anschauung,  die  zuerst  nur  ein  Einzelner  oder  wenige  in  der 
Presse  vertraten,  zur  Massenanschauung,  seine  Moral  zur  Massenmoral, 
sein  Streben  zum  Massenstreben  aller  oder  doch  der  allermeisten  Leser. 
Sich  dieser  Umklammerung  durch  das  „öffentliche  Urteil"  zu  entziehen, 
ist  außerordentlich  schwer;  wer  sich  ausnahmsweise  in  selbständigem 
Denken  davon  abzuweichen  erlaubt,  erscheint  als  Einspänner  und  Sonderling. 

Urteilslosigkeit  Es  ist  Wahr,    die  allgemeine  Bildung  ist  im  Laufe    des    letzten  Jahr- 

hunderts  unendlich  gewachsen;  ein  weit  ausgedehnteres  Maß  von  Durch- 
schnittswissen ist  auch  in  die  Massen  gedrungen;  der  Boden  ist  vorbereitet, 
um  den  breiten  Saatwurf  neuer  Kulturelemente  aufzunehmen,  der  täglich 
durch  die  Presse  über  ihn  ausgestreut  wird.  Aber  die  Masse  ist  nicht  im- 
stande, sich  dem  auf  sie  eindringenden  Zeitungsurteil  mit  kritischem  Sinne 
entgegenzustemmen;  sie  nimmt  es  mit  gläubigem  Vertrauen  auf  und  ist  nur 
zu  bereit,  sich  willenlos  führen  zu  lassen.  Welch  eine  dankbare  Aufgabe 
für  eine  geistig  hochstehende  Tag-espresse,  die  sich  bewußt  ist,  daß  die 
Masse  dem  Guten,  Schönen  und  Edeln  ebenso  zugänglich  ist  wie  dem 
.Schlechten,  Häßlichen  und  Gemeinen!  Aber  auch  welche  Gefahr  der 
Irreleitung  und  Volks  Verführung;  wie  leicht  kann  die  Presse  zum  An- 
steckungsherde werden  für  Geistesepidemieen,  die  ganze  soziale  Schichten 
ergreifen  und  verderben! 
Geschäfts-  Diesc  Gefahr  wird  dadurch  wesentlich  gesteigert,   daß  die   moderne 

Zeitung  so  vielerlei  Zwecken  dient  und  daß  sie,  um  diese  zu  erfüllen, 
eines  großen  sachlichen  Apparates  und  eines  zahlreichen,  arbeitsteilig  ge- 
gliederten Personals  bedarf  Das  hat  zur  Folge,  daß  sie  als  wirt- 
schaftliche Unternehmung  organisiert  sein  muß,  in  der  bedeutende 
Kapitalien  des  Gewinnes  wegen  umgetrieben  werden.  Dieser  Rücksicht 
wird  der  Unternehmer  nur  zu  geneigt  sein,  alle  anderen  Rücksichten 
unterzuordnen.  Regierungen  und  Parteien  streben  durch  die  Presse  auf 
die  Massen  Einfluß  zu  gewinnen.  Was  hindert  den  Eigentümer,  sich  kaufen 
zu  lassen?  Und  wenn  er  auch  einer  solchen  Zumutung  widersteht,  wenn 
auch  die  gesamte  Redaktion  im  allg-emeinen  Teil  den  höchsten  Interessen 
der  Menschheit  zu  dienen  sucht,  wie  will  sie  es  unmöglich  machen,  daß 
durch  den  Handelsteil  die  Geldmächte  der  Börse  auf  die  Kurse  ein- 
wirken, daß  im  Annoncenteil  der  Unsittlichkeit  oder  Unredlichkeit  Vor- 
schub geleistet  wird?  Der  Schleichwege  gibt  es  zu  viele  für  die  Preß- 
korruption. 

Kuiturfördern-  Somit  kann    das   Urteil    über   die   moderne  Presse   als  Leitorgan   der 

der  Einfluß  der  ° 

Presse.  sozialcu  Willensstrome  nicht  durchweg  günstig  lauten.  Aber  sie  ist  zu- 
gleich auch  Leitorgan  eines  unermeßlichen  Kulturinhaltes,  mit  dem  sie 
Tag    für  Tag    die  Kenntnisse    ihrer  Leser    bereichert   und    ihnen    eine  Er- 


III.  Das  moderne  Zeitungswesen.  5 1 1 

Weiterung  des  Gesichtskreises  ermöglicht,  die  nie  ein  Ende  gewinnt. 
Schon  der  mit  erstaunlicher  Präzision  arbeitende,  politische  Nachrichten- 
dienst der  Presse  wirkt  in  dieser  Richtung.  Er  bringt  die  Völker  mitein- 
ander in  Berührung  und  läßt  sie  gegenseitig  teilnehmen  an  ihren  Erleb- 
nissen und  Schicksalen.  Die  Gegensätze  werden  ausgeglichen;  humanitären 
völkerrechtlichen  Ideen  wird  der  Weg  bereitet;  man  rückt  einander  näher; 
es  entstehen  Gemeinschaftsgefühle.  Noch  viel  mehr  tritt  dies  hervor  bei 
dem  eigentlich  kulturellen  Lesestoff.  Jede  neue  Geistestat,  die  ein  einzel- 
ner Mensch  in  einem  Volke  vollzieht,  wird  durch  die  Presse  nicht  nur 
Gemeingut  aller  Volksgenossen,  sondern  macht  in  kürzester  Frist  die 
Runde  um  die  Erde.  Keine  wissenschaftliche  Wahrheit,  keine  Erfindung 
oder  Entdeckung  kann  verloren  gehen,  wenn  sie  einmal  den  Weg  in  die 
Presse  gefunden  hat,  was  nur  davon  abhängen  wird,  ob  sie  sich  einem 
größeren  Kreise  von  Gebildeten  verständlich  machen  läßt.  Gerade  der 
Umstand,  daß  die  Zeitungen  alles  an  sich  ziehen,  für  das  allgemeines 
Interesse  sich  erwecken  läßt,  wirkt  kulturerhaltend  und  kulturfördernd. 

Aber  freilich  liegt  auch  hier  neben  dem  Segen  der  Fluch.  Die  ^■^^^^^','^^pf"^°e^ 
Kenntnisse,  welche  die  Presse  vermittelt,  müssen  dem  allgemeinen  Ver-  der  Leser. 
ständnis  angepaßt  werden;  sie  können  darum  nur  oberflächlich  sein.  Im 
besten  Falle  geben  sie  Einzelnen  Anregungen  zum  tieferen  Eindringen. 
Auf  die  Masse  stürmt  die  unübersehbare  Stoffmenge  ein,  ohne  sie  tiefer  zu 
ergreifen;  ein  neuer  Eindruck  jagt  den  anderen;  wenige  haften.  So  ent- 
steht ein  Geschlecht,  das  an  allem  nippt  und  nichts  mit  Muße  genießt, 
eine  allgemeine  geistige  Blasiertheit,  die  auch  durch  die  stärksten  typo- 
graphischen Kunstmittel  (man  denke  etwa  an  die  marktschreierischen 
Artikelüberschriften  der  amerikanischen  Blätter)  zu  keiner  Aufmerksamkeit 
mehr  gezwungen  werden  kann.  Auch  das  Wertvolle  geht  in  der  Masse 
des  Gebotenen  unbemerkt  vorüber  oder  kann  von  dem  einzelnen  Inter- 
essenten nur  mit  unverhältnismäßigen  Zeitopfern  gewonnen  werden. 

Unter  diesen  Umständen    ist    es    nicht  zu  verwundem,  daß   auch  das    Zeitunpaus. 

schnittburcaux. 

Zeitungslesen  bereits  zum  Geschäft  geworden  ist,  das  von  Einzelnen  für 
viele  übernommen  wird.  Um  das  Jahr  1870  wurde  von  einem  Deutschen 
namens  Romeike  in  London  ein  Nachrichtenbureau  eröffnet,  das  sich 
hauptsächlich  damit  befaßte,  Politikern  die  sie  interessierenden  Zeitungs- 
artikel zu  übersenden.  Zehn  Jahre  später  entstand  ein  gleiches  Institut  in 
Paris,  das  vorzugsweise  Künstlern  Rezensionen  ihrer  Werke  übermittelte. 
Bald  darauf  wurde  ein  ähnliches  Unternehmen  in  Berlin  begründet,  das 
den  neuen  Geschäftszweig  der  Großindustrie  nutzbar  machte.  Heute 
findet  sich  diese  „Ausschnittindustrie"  in  den  meisten  Hauptstädten  Euro- 
pas vertreten;  sie  hat  ihre  Wirksamkeit  auf  alle  Interessengebiete  aus- 
gedehnt, für  die  sie  zahlimgsfähige  Abonnenten  findet. 

Man  wird  jedoch  die  Zeitung  auch  als  allgemeines  Bildungs-  ^^^  "^l^^;^^„^^' 
Fortbildungsmittel  nicht  unterschätzen  dürfen.     Gewiß  ist,   daß  sie  un-        minei. 
endUch  viel   nutzbare   Zeit   tötet,   daß   sie  dem  Buche,  welches  Vertiefung 


ich: 

Buche 


-j,  Kari.  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

fordert,  eine  verhängnisvolle  Konkurrenz  bereitet,  daß  ihre  Stoffmasse  die 
Aufnahmefähigkeit  auch  der  Gebildetsten  weit  übersteigt.  Aber  es  gibt 
breite  Schichten  der  Bevölkerung,  die  ohne  die  Zeitung  überhaupt  nicht 
zum  Lesen  kommen,  jene  zahlreichen  Abonnenten  der  Kleinpresse,  denen 
durch  sie  immerhin  eine  stete,  wenn  auch  noch  so  bescheidene  Teilnahme 
an  den  Gütern  der  Kultur  ermöglicht  und  die  in  gewissem  Sinne  doch 
auch  über  das  graue  Einerlei  ihrer  Tagesarbeit  und  die  Enge  ihres  Da- 
seins dadurch  erhoben  werden,  daß  die  Zeitung  ihren  Bück  auf  die  Vor- 
gänge der  weiten  Welt  richtet  und  ihren  Gesichtskreis  erweitert.  Er- 
hielte sie  ihnen  auch  nur  die  Kunst  und  Übung  des  Lesens,  so  wäre 
das  immer  ein  Gewinn. 
Verhältnis  der  Es    kann   jcdoch    kaum    einem   Zweifel    unterliegen,    daß   für  die  Ge- 

'''"irift^und^zum  bildeten    das    Überwuchern    der    Zeitungslektüre    einen    Verlust    bedeutet, 
indem  es  denjenigen   literarischen  Publikationsformen,  welche  einer  ernst- 
haften Behandlung  der  großen  Zeitprobleme    gewidmet   sind,    den  Boden 
entzieht.     In  erster  Reihe  stehen  die  Zeitschriften.     Mag  immerhin  ihre 
Zahl    sich   vermehrt,    mag   die  Spezialisation   unter   ihnen  Fortschritte    ge- 
macht haben,  mit  der  Masse  ist  das  Ansehen  der  einzelnen  nicht  gewachsen, 
und    es    ist    auch    bei    ihnen    bereits    insofern    eine    Annäherung    an    das 
Zeitungswesen  zu  beobachten,   als  sich  ihre  Erscheinungsfristen  verkürzen 
und  als  sie  immer  mehr  danach  streben,  dem  Aktualitätsprinzip  Rechnung 
zu    tragen.      An    Stelle    der    Vierteljahrsschrift    tritt    die    Monatschrift,    an 
Stelle    der  Monatschrift   die  Wochenschrift,    und    dem    geringeren  Räume 
der   letzteren    ensprechend    wird    die   Behandlung   der   einzelnen  Themata 
eine    kürzere,    flüchtigere,    gewinnt  der  nachrichtliche  Stoff  der  Abhand- 
lung Boden    ab.     Selbst   die    großen   Revuen  Englands    und    Frankreichs 
leiden  unter  diesem  Entwicklungsprozeß,  durch  den  ersichtlich  die  gründ- 
liche Behandlung  politischer  Zeitfragen  zurückgegangen  ist.    Aber  bereits 
wirkt  der  journalistische  Zug  des  Zeitschriftenwesens  auch  auf  die  Wissen- 
schaft   zurück,    insofern    als    ihre    literarische  Betätigung    der   Buchform 
untreu    zu   werden    beginnt    und    sich   in   steigendem  Maße    der  Zeitschrift 
als  PubUkationsmittel   bedient.     Sogar   die   wissenschaftliche    Monographie 
wird  mehr  und  mehr  in    diesen  Strom   der  periodischen  Literatur  hinein- 
gezogen,   indem  sie  nur  dann  auf  größere  Beachtung  noch  Aussicht  hat, 
wenn  sie  in  einer,  jener  zeitschriftähnlichen  Sammlungen  erscheint,  die  im 
letzten  Menschenalter  wie  Pilze   aufgeschossen  sind.     Schließlich    werden 
der  Publikationsform  des  Buches  nur  noch   der  Grundriß,    das  Lehrbuch, 
die  Enzyklopädie  und   ähnliche    Hilfsmittel   der   gelehrten  Ausbildung  und 
der  Berufsausübung   verbleiben.     Sogar    in    der    schönen   Literatur   weicht 
das   Buch    der   Zeitung    und    Zeitschrift.     Kein  Verleger   würde    es    heute 
noch   wagen,    einen   mehrbändigen  Roman   erscheinen   zu  lassen,    und  die 
meisten    einbändigen    gelangen    nur    auf   Kosten    ihrer    Verfasser    an    das 
Licht  der  Öffentlichkeit.     Zugleich  wird  in  steigendem  Maße    die  Zeitung 
als  Hebamme    für    die   buchhändlerischen  Novitäten  benutzt.     Es  werden 


III.  Das  moderne  Zeitungswesen.  cji 

ihr  einzelne  Kapitel  eines  demnächst  erscheinenden  Ruches  zum  kosten- 
freien Abdruck  angeboten,  oder  wenn  es  erschienen  ist,  werden  mit  den 
Rezensionsexemplaren  Auszüge  an  die  Presse  versandt,  damit  sie  in  der- 
selben Weise  von  ihr  benutzt  werden  wie  die  Korrespondenzen.  Schließ- 
lich reduziert  sich  die  Bücherkenntnis  der  meisten  Menschen  auf  das,  was 
sie  aus  und  über  die  letzten  Neuerscheinungen  in  ihrer  Zeitung  gelesen 
haben.  Im  besten  Falle  wird  die  letztere  für  die  Bücherproduktion  etwas 
Ahnliches  wie  die  Ausschnittbureaux  für  die  Tagespresse:  die  Mitarbeiter 
übernehmen  berufsmäßig  die  Aufgabe,  für  das  Publikum  Bücher  zu  lesen 
und  ihm  den  Extrakt  vorzusetzen  —  je  kürzer,  um  so  besser. 

Schließlich  darf  auch  die  volkswirtschaftliche  Rolle  der  Zeitung  nicht  ihre  ncdeuiuns 
unterschätzt  werden.  Ist  sie  auch  in  dem  großen  Netze  der  Verkehrs-  "  wimchaft.  '" 
mittel  nur  ein  Leitorgan,  so  wäre  doch  ohne  sie  das  Zusammenwachsen 
der  zahllosen  Einzelwirtschaften  zu  dem  einheitlichen  Gebilde  der  Volks- 
wirtschaft, jene  allseitige  Funktions-  und  Arbeitsteilung,  die  unser  Dasein 
so  unendlich  viel  sicherer  und  reicher  gemacht  hat,  undenkbar.  Ohne 
ihre  Handelsnachrichten,  ihre  Saatenstands-  und  Warenmarktsberichte, 
ihre  Mitteilungen  über  den  Lauf  von  Warenpreis  und  Wechselkurs,  über 
Angebot  und  Nachfrage,  ihre  Diskont-  und  Kurszettel,  würde  der  Betrieb 
zahlloser  Unternehmungen  der  nötigen  Sicherheit,  die  Güterversorgung 
der  Nationen  der  Wirtschaftlichkeit  und  Nachhaltigkeit  verlustig  gehen. 
Dazu  kommt,  daß  das  kapitalistische  System  eine  Verzweigung  der  mate- 
riellen Interessen  her\-orgebracht  hat,  die  über  die  ganze  Welt  reicht. 
Die  Kapitalanlage  in  den  industriellen  Großunternehmungen  des  Inlandes 
wie  in  Bergwerken,  Eisenbahnen,  Versicherungs-  und  Industriegeschäften 
des  Auslandes  erfordert  eine  stete  Beobachtung  nicht  bloß  der  gesamten 
wirtschaftlichen,  sondern  sogar  der  technischen,  wissenschaftHchen  und 
nicht  zuletzt  der  politischen  Vorgänge.  So  findet  auch  in  der  Stärke 
und  Weite  der  materiellen  Interessen  die  StofffüUe  der  Zeitungen  eine 
gewisse  Rechtfertigung. 

Und  auch  das  darf  am  Ende  nicht  übersehen  werden,  daß  eine  gut  Bedeutung  der 
entwickelte  Tagespresse  die  geistigen  Kräfte  einer  Nation  entfesselt.  Man  J"""'-^'""''- 
kann  über  die  Tätigkeit  des  echten  Journalisten  nicht  groß  genug  denken. 
Welche  Fülle  von  geistiger  Kraft  und  bereitem  Wissen,  von  Erfahrung 
und  politischem  Takt,  von  Geistesgegenwart  und  Witz,  von  Gestaltungs- 
gabe und  Formgewandtheit  täglich  durch  die  Presse  eines  ganzen  Landes 
umgesetzt  wird,  ist  kaum  zu  ermessen.  Allerdings  kann  man  sagen,  daß 
es  eine  Art  Raubbau  sei,  der  hier  an  der  Samtbefähigung  einer  Nation 
getrieben  werde,  daß  gerade  die  talentvollen  unter  den  Verfassern  Bleiben- 
deres in  das  geistige  Vermögen  ihres  Volkes  hätten  einschießen  können, 
wenn  sie  in  voller  Ruhe  ihre  Kräfte  einem  größeren  literarischen  Werke 
hätten  widmen  können,  und  es  fehlt  ja  auch  nicht  an  beweglichen  Klagen 
über  diesen  scheinbaren  \'erlust.  Aber  wie  viele  Talente  hat  doch  auch 
der  Durchgang   durch  die  Presse  vor  Not  und  Verkümmerung   geschützt, 

Diu  Kultur  der  Gegenwart.    I.  i,  ^j 


SM 


Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 


für  wie  viele  ist  sie  eine  Schule  geworden,  in  der  ihre  Kraft  für  größere 
Aufgaben  erstarkt  ist!  Und  ist  denn  an  sich  der  Beruf  des  Mannes, 
dessen  Wort  durch  die  Zeitung  täglich  Zehntausende  erreicht,  geringer 
zu  schätzen,  als  etwa  der  des  Predigers,  dessen  Worte  nur  Hunderte  hören, 
oder  der  des  akademischen  Lehrers,  der  vielleicht  nur  ein  paar  Dutzend 
um  seinen  Lehrstuhl  versammelt  sieht?  Was  verschlägt  es,  wenn  es 
Alünze  kleinster  Stückelung  ist,  die  er  in  seinen  Artikeln  ausgibt?  Ist  die 
Prägung  gelungen,  ist  ihre  Währung  echt,  so  geht  sie  über  in  den  all- 
gemeinen Kulturschatz  der  Nation,  mag  auch  den  Münzmeister  niemand 
kennen  oder  nennen. 


Literatur. 

1.  Die  alten  Staatszeitungen. 

Über  die  Acta  diurna  der  Römer:  Leclerc,  Des  journaux  chez  les  Romains 
(Paris,  1838).  —  Lieberkühn,  De  diumis  Romanorum  actis  (Vimar.,  1840).  —  A.  Schmidt, 
Das  Staatszeitungswesen  der  Römer  in  s.  Ztschr.  f.  Geschichtsw.  I,  S.  303  ff.  —  Zell,  Über 
die  Zeitungen  der  alten  Römer  und  die  Dodwellschen  Fragmente  in  s.  Ferienschriften 
S.  iff.,  logff.  —  Hübner,  De  senatus  populique  Romani  actis  in  Fleckcisens  Jhb.  f.  Philol. 
Suppl.  111,  S.  564ff.  —  Heinze,   De  spuriis  diurnorum   actorum   fragmentis   (Grcifsw.,   1860). 

Das  Zeitungswesen  in  China:  F.  Hirth  in  der  Üsterr.  Monatsschrift  für  den 
Orient  VII  (1881),  S.  jff.,  jif.  (=  Chinesische  Studien,  S.  zogff.).  —  Tcheng-ki-tong,  Les 
Chinois  peints  par  eu.\  memes  (Paris,  1884),  S.  97  ff.  —  Navarra,  China  und  die  Chinesen 
(Bremen,  1901),  S.  891  ff. 


II.  Die  politischen  Zeitungen  der  neueren  Kulturstaaten. 
A.  Deutsches  Sprachgebiet. 

1.  Geschriebene  Zeitungen:  R.  Grasshoff,  Die  briefliche  Zeitung  des  XVI.  Jahr- 
hunderts (Leipzig,  1877).  —  G.  Steln'Hausen,  Geschichte  des  deutschen  Briefes,  2  Bde. 
(Berlin,  1889/91).  —  CHRISTOPH  Scheurls  Briefbuch,  herausgeg.  von  Sooden  und  Knaake 
(Poudam,  1867/72).  —  Beriiner  geschriebene  Zeitungen  1713  bis  1717  und  1735,  herausgeg. 
von  Dr.  E.  Friedländer  (Berlin,  1901 :    Sehr,  des  Ver.  f.  d.  Gesch.  Berlins.) 

2.  Gedruckte  Zeitungen,  a)  Einzeldrucke:  E.  Weller,  Die  ersten  deutschen 
Zeitungen  1505— 1599  (Tübingen,  1872:  Bibl.  des  Lit.  Vereins  in  Stuttgart  III).  —  O.  L. 
B.  WOLFF,  Sammlung  historischer  Volkslieder  und  Gedichte  der  Deutschen  (Stuttg.,  1830).— 
Fr.  L.  von  Soltau,  Einhundert  historische  Volkslieder  (Leipzig,  1836).  Zweites  Hundert, 
herausg.  von  R.  Hildebr^\nd  (1856).  —  Ph.  M.  Körner,  Historische  Volkslieder  aus  dem 
i6.  und  17.  Jahrhundert  (Stuttgart,  1840).  —  R.  von  Liliencron,  Die  historischen  Volks- 
lieder der  Deutschen  vom  13.  bis  16.  Jahrhundert,  4  Bde.  (Leipzig,  1865/9).  —  F.  W. 
von  Ditfl-RTH,  Die  histor.-politischen  Volkslieder  des  dreißigjährigen  Krieges  (Heidelberg, 
1882)  und  dessen  andere  Sammlungen. 

b)  Periodische.  J.  O.  Opel,  Die  Anfänge  der  deutschen  Zeitungspresse  1609—1650 
(Leipzig,  1879:  Archiv  f.  Geschichte  des  deutschen  Buchhandels  III).  —  Joach.  von  Schwarz- 
kopf, Grundriß  über  Zeitungen  (Frankfurt  a.  M.,  1792).  Ders.,  Über  Zeitungen.  Ein  Beytrag 
zur  Staatswissenschaft  CFrkf.,  1795)-  —  Abhandlung  über  die  Zeitungen,  Intelligenzblättcr  und 
Flugschriften  zu  Frankfurt  a.  M.  (1802).  —  Über  politische  Zeitungen  und  Intelligenzblätter 
in  Sachsen,  Thüringen,  Hessen  usw.  (Gotha,  1802).  —  R.  PRirrz,  Geschichte  des  deutschen 
Journalismus,  Bd.  I  (nicht  mehr  ersch.)  (Hannover,  1845).  —  H.  WunxE,  Die  deutschen 
Zeitschriften  und  die  Entstehung  der  öffentlichen  Meinung  (Leipzig,  1866,  2.  Aufl.  (1875).— 
F.  Stieve,  Über  die  ältesten  halbjährigen  Zeitungen:  Abh.  der  k.  bayerischen  Akademie  d. 
Wiss.  III.  Cl.  XVI,  I  (München,  1881).  —  E.  Milberg,  Die  moralischen  Wochenschriften 
des  18.  Jahrh.  (Meißen,  o.  J.).  —  M.  Kawczvnski,  Studien  zur  Literaturgesch.  des  18.  Jahrh. 
Moralische  Zeitschriften  (Leipzig,  1880).  —  L.  Salo.mon,  Geschichte  des  deutschen  Zeitungs- 

33* 


ejg  Karl  Bücher:  Das  Zeitungswesen. 

Wesens,  3  Bde.  (Oldenburg,  1900/6).  —  J.  WiNCKLER,  Die  periodische  Presse  Österreichs 
(Wien,  1875).  —  K,  Junker,  Die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  und  die  österreichische 
Presse  (Wien,  1901).  —  F.  H.  Quetsch,  Die  Entwicklung  des  Zeitungswesens  (Mainz,   1901). 

—  K.  BÜCHER,  Die  Anfänge  des  Zeitungswesens  in  s.  Entstehung  der  Volkswirtschaft, 
4.  Aufl.  (Tübingen,   1904). 

c)  Zeitungswesen  einzelner  Städte.  E.  W.  Zenker,  Geschichte  der  Wiener 
Journalistik  von  den  Anfängen  bis  zum  Jahre  1848  (Wien  u.  Lpz.,  1892).  —  Zur  Geschichte 
der  Kaiserlichen  Wiener  Zeitung,  Festschrift  (Wien,  1903).  —  J.  Riedl,  Salzburgs  Zeitungs- 
wesen (Salzburg,  1863).  —  Hundertfünfzig  Jahre  Schlesische  Zeitung  (Breslau,  1892).  — 
B.  SchierSE,  Das  Breslauer  Zeitungswesen  vor  1742  (Breslau,  1902).  —  L.  Ennen,  Die 
Zeitungspresse  in  der  Reichsstadt  Köln:  Annalen  des  histor.  Ver.  f.  d.  Niederrhein,  Heft  36. 

—  M.  DuMONT- Schauberg,  Geschichte  der  Kölnischen  Zeitung  (Köln,  1880).  —  C.  D. 
VON  Witzleben,  Geschichte  der  Leipziger  Zeitung  (Lpz.,  1860).  —  Dresdener  Anzeiger. 
Seine  Geschichte  von  1730  bis  zur  Gegenwart  (Dresden,  1903).  —  Ed.  Heyck,  Die  All- 
gemeine Zeitung  (München,  1898).  —  O.  Elben,  Geschichte  des  Schwäbischen  Merkurs 
(Stuttgart,  1885).  —  F.  Mangold,  Die  Basler  Mittwoch-  und  Samstag-Zeitung  1682— 1796 
(Basel,  1900).  —  K.  Eichhorn,  Die  Geschichte  der  St.  Petersburger  Zeitung  (1902). 

B.  Außerdeutsche  Länder. 

E.  H.\tin,  Histoire  politique  et  litteraire  de  la  presse  en  France,  8  vols.  (Paris,  185g — 
1861).  Ders.,  Bibliographie  historique  et  critique  de  la  presse  periodique  francjaise,  pr^cede 
d'un  Essai  historique  et  statistique  sur  la  naissance  et  les  progr^s  de  la  presse  periodique 
dans  les  Deu.x  Mondes  (Paris,  1866).  —  C(AIVIUSAT),  Histoire  critique  des  journeaux,  2  vols. 
(Amsterdam,  1734).  —  M.  C.  LEBER,  De  l'dtat  rdel  de  la  presse  et  des  pamphlets  depuis 
Franijois  1.  jusqu'ä  Louis  XIV.  (Paris,  1834).  —  Gazette  de  la  R^gence,  Janvier  17 15 — ^Juin 
17 19  publiee  par  le  Comte  E.  de  Barthelemy  (Paris,  1887).  —  E.  Mermet,  La  presse, 
l'affichage  et  le  colportage.  Histoire  et  jurisprudence  (Paris,  o.  J.).  —  H.  Avenel,  La  presse 
frangaise  au  vingti^me  sifecle  (Paris,  1901).  —  Ottino,  La  stampa  periodica,  il  commercio 
dei  libri  e  la  tipografia  in  Italia  (Milano,  1875)  —  Piccardi,  Saggio  di  una  storia  sommaria 
della  stampa  periodica  (Annali  di  Statistica,  Roma,  1886).  —  WarzÄe,  Histoire  des  jour- 
neaux beiges  (Bruxelles,  1844).  —  Hatin,  Les  gazettes  de  Hollande  et  la  presse  clandestine 
au  XVIIe  et  XVIII»  si^cles  (Paris,  1865).  —  Stolpe,  Dagspressen  i  Danmark,  2  Bde.  (Kjöben- 
havn,  1879).  —  Key,  Försök  tili  svenska  Tidingspressens  Historia  (Stockholm,  1883).  — 
Alex.  Andrews,  The  History  of  British  Joumalism  from  the  foundation  of  the  newspaper 
press  in  England  to  the  repeal  of  the  stamp  act  1855  (London,  1859).  —  Cucheval-Cla- 
RlGNY,  Histoire  de  la  presse  en  Angleterre  et  aux  Etats-Unis  (Paris,  1857).  —  J.  Grant, 
The  Newspaper  Press.  Its  origin,  progress  and  present  position,  3  vols.  (London,  187 1/2 
[Deutscher  Auszug  von  J.  DUBOC,  Hamburg  1883]).  —  H.  R.  Fox  BOURNE,  English  News- 
papers.  Chapters  in  the  History  of  Joumalism,  2  vols.  (London,  1887). —  Fr.  HudsON,  Jour- 
nalism  in  the  United  States  from  1690  to  1872  (New  York,  1873).  —  Wilkie,  Personal 
Reminiscences  of  thirty-five  years  of  Joumalism  (Chicago,   1891). 

111.  Das  Inseratenwesen. 

Henry  Sampson,  A  History  of  Advertising  from  the  earliest  times  (London,  1874).  — 
J.  H.  Wehle,  Die  Reklame.  Ihre  Theorie  und  Praxis  (Wien,  1880).  —  R.  Gronau,  Das 
Buch  der  Reklame.     Geschichte,  Wesen  u.  Pra-xis  der  Reklame,  5  Abteilungen  (Ulm,  1887). 

—  L.  Munzinger,  Die  Entwicklung  des  Inseratenwesens  in  den  deutschen  Zeitungen  (Heidel- 
berg, 1901),  Diss.  —  F.  Mangold,  Das  Basler  ,, Avis-Blatt"  1729— 1844  (Basler  Jahrbuch  für 
1897).  —  R.  SchmöLDER,  Das  Inseratenwesen  ein  Staatsinstitut  (Lpz.  u.  Köln,  1879).  — 
Alfred  H.  Fried,  Kleine  Anzeigen  (Berlin,  igoo).  —  G.  d'Avenel,  Le  mecanisme  de  la 
vie  moderne,  IV«  serie  (Paris,   1902).  —   Scott,  The  Theory  of  Advertising  (Boston,   1903). 


Literatur.  5  1 7 

I\'.  Gegenwärtiger  Zustand  der  Presse. 
Die  Publizistik  der  Gegenwart.  Eine  Rundschau  über  die  gesamte  Presse  dei' 
Welt  (Würzburg,  Leo  Woerl,  1879,1881).  (Heft  i;  Hessen,  Baden,  H.  2:  Württemberg,  H.  3: 
Schweiz,  H.  4:  Bayern,  H.  5:  Österreich-Ungarn,  H.  6:  Preußen.)  —  Kürschners  Handbuch 
der  (deutschen)  Presse  (Berlin,  Eisenach,  Leipzig,  1902).  —  La  Publicite  en  France.  Guide 
manuel  par  Emile  Mermet  (Paris,  erscheint  seit  1878),  jetzt  u.  d.  T.  Annuaire  de  la  Presse 
frangaise  et  du  Monde  politique.  Directeur  Henri  Avenel.  —  Sells  Dictionary  of  the  Worlds 
Press  and  Advcrtisers  Reference  Book  (London;.  —  Mays  British  and  irish  Press  Guide  and 
Advertisers  Dictionar>'  and  Handbook  (London,  erscheint  seit  1874  jährlich).  —  E.  Steiger, 
The  periodical  Literature  of  the  United  States  of  America  (New  York,  1873).  —  Die  sozial- 
demokratische Presse,  herausgeg.  vom  Vaterlandsverein  (Berlin,   1896). 

V.  Organisation  und  Technik.  Allgemeines. 
J.  H.  Wehle,  Die  Zeitung.  Ihre  Organisation  und  Technik  (Wien,  1883).  —  R.  Wrede, 
Handbuch  der  Journalistik  (Berlin,  1902).  —  G.  Schmidt,  Kauf,  Gründung  und  Finanzierung 
von  Zeitungen  und  Zeitschriften  (Leipzig,  1903).  —  PHILLIPS  and  others,  The  Making  of  a 
Newspaper  (Philadelphia,  1893).  —  Schuman,  Practical  Journalism  (Chicago,  1904).  —  Dana, 
The  Art  of  Newspaper  Making  (New  York,  s.  a.).  —  Byxbee,  Establishing  a  Newspaper 
(Chicago).  —  He.MSTreet,  Reporting  for  the  Newspapers  (New  York,  1901).  —  E.  P.  Ober- 
HOLTZER,  Die  Beziehungen  zwischen  Staat  und  Zeitungspresse  im  Deutschen  Reich  (Berlin, 
1895).  —  F.  TON  Holtzendorff,  Wesen  und  Wert  der  öffentlichen  Meinung  (München, 
1879).  —  J.  J.  Obrecht,  Über  die  öffenüiche  Meinung  und  die  Presse  (Chur,  1885).  — 
EuG.  Tavt.rnier,  Du  joumalisme  (Paris,  1902).  —  R.Jacobi,  Der  Journalist  (Hannover,  1902). 
—  Ch.  Fonsegrive,  Comment  lire  les  joumeau.x?  (Paris,  1903).  —  E.  LÖBL,  Kultur  und 
Presse  (Leipzig,  1903).  —  Schäffle,  Bau  und  Leben  des  sozialen  Körpers  (1875)  I,  S.  442 
— 466.  —  „Der  Zeitungs-Verlag".  Fachblatt  für  das  gesamte  Zeitungswesen,  hrsg.  vom 
Verein  deutscher  Zeitungsverleger  (Hannover,  seit  1900). 


DAS  BUCH. 

Von 
Richard  Pietschmann. 


Anfänge.  Wesen    und    erste    Aufgaben    des    Buches.      Kultur    erfordert 

Zusammenhang  der  Entwicklung,  Überlieferung  der  Errungenschaften. 
Unter  den  Mitteln,  Wissen  und  Erkenntnis  auszubreiten  und  auf  die 
Nachwelt  zu  bringen,  ist  eins  der  wichtigsten  das  Buch  geworden,  wenn 
es  auch  nicht  eins  der  ursprünglichsten  ist.  Auch  hier  gilt:  Im  Anfang 
war  die  Tat.  Voraussetzung  für  das  Buch  ist  das  Vorhandensein  einer 
einigerinaßen  entwickelten  Schrift  —  Litern  scripta  manet  — ,  das  Vor- 
handensein einer  Fertigkeit  im  Herrichten  von  Schreibstoffen,  aber  auch 
ein  Besitz  von  Überlieferungen,  denen  größere  Treue,  längere  Dauer, 
bequemere  Verbreitung  gewünscht  wird,  als  ihnen  durch  mündliche 
Wiedergabe,  durch  die  mnemotechnischen  Notbehelfe  —  Kerbholz,  Knoten- 
schnur, Wampum,  Zeichnung  — ,  schließlich  selbst  durch  die  monumentale 
Amerikanische  Inschrift   Verliehen    zu    werden   vermag.     In   dem  Staate   des   südamerika- 

Völker.  .  „  -  ° 

nischen  Festlandes,  dessen  Organisation  den  spanischen  Entdeckern  die 
höchste  Bewundenmg  abnötigte,  in  dem  Reiche  der  Inka,  war  Schrift 
und  Buch  etwas  Unbekanntes.  Der  mittelamerikanische  Kulturkreis  der 
Azteken  und  der  Maya-Stämme  war  im  Besitze  des  Buches,  würde  aber 
wohl  schwerlich  so  weit  fortgeschritten  sein  ohne  die  Aufzeichnungen 
namentlich  kalendarischer  Art,  die  im  Dienste  einer  unsagbar  grauen- 
haften Religionsübung  hier  gemacht  werden  mußten.  Auch  bleibt  selbst 
in  den  Büchern  der  Maya  der  Text  wenig  mehr  als  eine  Erläuterung  zu 
Reihen  von  Bildern  voll  überladener  Symbolik. 
Alter  Orient.  Gehen  wir  in  der  alten  Welt  zurück  auf  die  Anfänge  geschichtlichen 

Buch  und  °        ^ 

Schrift.  Werdens,  so  finden  wir  in  jedem  der  drei  frühsten  Kulturkreise  des 
Morgenlandes  eine  besondere  Schriftgattung:  bei  den  Ägyptern  die  Hiero- 
glyphik  mit  ihren  verschiedenen  Formveränderungen,  bei  den  Babyloniem 
die  Keilschrift,  die  in  weiten  Gebieten  Vorderasiens  mannigfache  Anwen- 
dungen gefunden  hat,  bei  den  Chinesen  das  Schreibsystem,  das  mit  ihrer 
Gesittung   im   fernen   Osten   Asiens   zur   Herrschaft    gelangt    ist    und    sich 


I.  Wesen  und  erste  Aufgaben  des  Buches.  5  I  g 

dort  noch  darin  behauptet.  In  dem  Wesen  dieser  Schriftgattungen  wie 
der  Kulturen,  denen  sie  entstammen,  spiegelt  ihre  Entstehungsgeschichte 
sich  ab:  erst  anfangerhafte  Versuche  einer  geschichtslosen  Vorzeit,  dann 
eine  Vervollkommnung  in  kleinen  Fortschritten,  die  gleichsam  nach  dem 
Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes  geduldig  und  mit  ängstlichem  Beibe- 
halten des  einmal  Gewonnenen  einen  Notbehelf  an  den  andern  anknüpfen. 
Daher  ein  Übermaß  von  Zeichen,  von  Künsteleien,  von  überlieferten  Un- 
verständlichkeiten.  Von  den  Werken  aber,  die  in  einer  Schrift  dieses 
Gepräges  verfaßt  wurden,  wie  sie  bei  den  Ostasiaten  noch  verfaßt  werden, 
gilt  dasselbe,  was  von  Kulturen  dieser  Gattung  überhaupt  gilt,  die  rechte 
Ausbreitung  und  nachhaltigen  Einfluß  nur  da  gewinnen,  wo  sie  als  Ganzes 
Wurzel  zu  fassen  vermögen.  Es  gehört  völlige  Anpassung  an  das  Chi- 
nesentum  dazu,  wenn  man,  wie  es  die  Anamiten  tun,  seine  Studien  mit 
dem  „Dreisilbenkanon"  beginnen  will,  der  in  den  Augen  der  Chinesen  als 
die  Krone  aller  Elementarbücher  dasteht.  Wie  zäh  sich  dann  ein  solches 
Einleben  bewährt,  das  lehrt  die  Bedeutung,  welche  noch  heute  in  Japan 
die  klassischen  Bücher  der  Chinesen  besitzen.  Das  Ägyptertum  war  zu 
sehr  ein  Erzeugnis  des  Niltals,  als  daß  die  Absonderlichkeiten  des  Toten- 
buches und  der  Literatur  des  ersten  thebaischen  Reichs  hätten  weithin 
Schule  machen  können.  Soviel  auch  Babylonien  für  den  Ausbau  der  Ge- 
sittung der  alten  Welt  beigesteuert  hat.  mit  der  Lektüre  altbabylonischer 
Tontafeltexte  scheinen  sich  doch  nur  Völker  abgemüht  zu  haben,  die  wie 
die  Assyrer  gänzlich  im  Banne  babylonischer  Kulturwirkung  lebten.  Mehr- 
fache Parallelen  anderer  Art  ergeben  sich  für  diese  mit  den  ersten  Ur- 
sprüngen noch  vem-achsenen  Kulturen.  Im  Ägyptischen  wie  im  Chine- 
sischen hat  die  Eigenart  der  Schrift  Stilarten  erzeugt,  die  mehr  für  den 
Leser  als  für  den  Hörer  berechnet  waren.  Je  mehr  die  Schrift  ein  mit 
Schwierigkeiten  zu  handhabendes  W^erkzeug  bleibt,  je  mehr  die  Kenntnis 
des  Herkommens,  die  aus  Schriftwerken  vielfach  altertümlichen  Charak- 
ters schöpft,  zu  Ansehen  und  Amtern  verhilft,  um  so  größer  das  Behagen, 
mit  dem  der  Kundige  in  ungemessener  Verwendung  von  Schreibwerk  sich 
ergeht,  weil  er  auf  den  Vorrang,  den  ihm  seine  Geschultheit  verleiht, 
sich  etwas  zugute  tut,  um  so  mehr  tritt  auch  an  die  Stelle  des  Ver- 
ständnisses vorbildlicher  Bücher  die  gedankenlose  Verehrung  oder  bloß 
spitzfindige  Auslegung.  Schon  auf  den  ältesten  Szenen  ägj'ptischen  Land- 
lebens, die  uns  die  Denkmäler  der  Pyramidenzeit  vorführen,  ist  der  pro- 
tokollierende Buchhalter  die  Mittelsperson  zwischen  dem  vornehmen  Grund- 
besitzer und  dem  Hörigen.  In  dem  Bilde  der  Schriftrolle,  das  allerdings 
ebenso  sehr  das  Aktenstück  wie  das  Buch  vorstellt,  verkörperte  sich  den 
Ägyptern  so  sehr  die  höchste  auffassende  Geistestätigkeit,  daß  es  in 
der  ägyptischen  Schrift  Sitte  geworden  ist,  bei  allen  Worten  für  ein 
geistiges  Geschehen  und  abstrakte  Begriffe  den  Zeichen,  mit  denen  das 
Wort  geschrieben  wird,  als  erläuterndes  Deutebild  das  Bild  der  Schrift- 
rolle  beizufügen.     Der   Schriftgelehrte   Ägj^^tens,    wie    ihn    uns   die   Lob- 


ff,Q  Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 

preisungen  kennen   lehren,   in   denen    dieser  Stand  sich  selbst  verherrlicht 
hat,    ist    in    mehr    als    einer    Hinsicht    ein    Gegenstück    zu    dem    Beamten 
Chinas,    der   statt    zum    technischen   Sachverständigen    zum    Literaten    er- 
zogen wird. 
Buchwesen  und         Bei  viclen  Völkern  hat  das  Buchwesen  sich  in  engem  Bunde  mit  dem 
'"'^"'"'     Religionswesen     entwickelt.      Beschwörungen     prähistorischen     Ursprungs 
zum  Heile  des  Verstorbenen  sind   das  Älteste,  was  wir  an  altäg^-ptischen 
Texten  besitzen.     Eine  Tabelle  von  Wahrsagezeichen  und  eine  Sammlung 
von  Liedern  zur  jährlichen  Ahnenfeier  gehören  zu  dem  Ältesten,  was  aus 
der  chinesischen   Vorzeit  uns   übrig   geblieben   ist.     Was   Gedächtniskraft 
ununterstützt  durch  Schrift  in  der  Erlernung  von  Opferliedern  und  Opfer- 
sprüchen  zu   leisten   vermag,    haben    die   Inder   gezeigt.     Mit   Recht    aber 
sondert   die   religionsgeschichtliche   Betrachtung   die  Religionen,   die  über 
schriftlich  überlieferte  Religionsurkunden  verfügen,  von  den  übrigen.     Auf 
keinem  Gebiete    hat   sich   das  Buch   so  sehr  als   eine  Macht  erwiesen  wie 
auf  dem  der  religiösen  Vorstellungen,   und   der  Wirkungsbereich  des  Re- 
ligionsbuches geht  weit  hinaus  über  das  Gebiet  des  rein  Religiösen.    Was 
bedeutet  das  Alte  Testament,  was  der  Talmud  für  die  Juden,   was  ist  die 
Bibel   gewesen,    was    ist  sie   noch  allen  denen,    die   in   ihr  das  Buch  der 
Bücher  verehren?    Hätte  nicht  den  Goten,  den  Slawen  das  Verlangen  er- 
faßt, das  höchste  Gut,  das  Wort  des  Lebens  ihrer  Nation  in  einem  Buche 
ihrer   Zunge    zu    erschließen,   sie   wären   nie    darauf  verfallen,    Zeichen  für 
die   Laute   ihrer   Muttersprache   zu   erfinden,   eine  regelrechte  Schrift   dar- 
aus   zu   gestalten.     Wie    unbegrenzt    ist   der   Einfluß,    den   der  Koran    auf 
das  gesamte  Leben  und  Denken  aller  Völker  der  mohammedanischen  Welt 
ausübt!     Von  welcher  Tragweite  ist  allein  schon  der  Satz  geworden,  mit 
dem  der  Prophet  den  „Besitzern  des  Buches",  den  Juden  und  Christen,  eine 
Ausnahmestellung  unter  den  Ungläubigen  zugebilligt  hat!    Wie  der  Bibel 
als  der  Grundlage  christlicher  Lehre  zu  danken  ist,  daß  die  Glaubensboten 
des  Christentums   überall,   wo   sie    den  Fuß  hinsetzen,  zugleich  als  Lehrer 
der  Künste  des  Friedens  auftreten  mußten,  wie  durch  die  Heilige  Schrift 
und   alles,   was    daran   anknüpfte,    zugleich   der   Zusammenhang   mit   allem 
gewahrt  worden  ist,  was  von  der  Gesittung  der  Griechen  und  Römer  den 
Untergang  der  antiken  Weltanschauung  überlebt  hat,    so  verbreitet  sich 
mit  dem  Islam  die  Kenntnis   des  Lesens  und  Schreibens  der  arabischen 
Sprache  und  der  aus  dem  Koran  abgeleiteten  mohammedanischen  Rechts- 
grundsätze. 

Papyrus.  IL    Das  Buch  im  Altertum.    Zu  den  wertvollsten  Gaben,  mit  denen 

die  Kultur  der  Griechen  und  Römer  von  Ägypten  her  bereichert  worden 
ist,  gehörte  der  Schreibstoff,  der  aus  dem  Marke  der  Papyruspflanze  ge- 
fertigt wurde.  Auf  dem  Gebrauche  dieses  Materials,  rühmt  Plinius,  be- 
ruhe zumeist  die  menschliche  Gesittung,  jedenfalls  die  geschichtliche  Er- 
innerung, der  Menschen  Unsterblichkeit.     Wann  dieses  Erzeugnis  der  In- 


II.  Das  Buch  im  Altertum. 


521 


dustrie  des  Delta.s  zuerst  in  Griechenland  Abnehmer  fand,  läßt  sich  nicht 
feststellen.  Für  Herodot  liegt  die  Zeit,  in  der  die  loner  noch  auf  Tier- 
häuten schrieben,  in  der  Vergangenheit;  ja  es  ist  uns  aus  dem  11.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  der  Reisebericht  eines  Ägypters  erhalten,  in  dem  unter 
Waren,  die  im  Austausche  für  das  Schiffsbauholz  des  Libanon  den 
Städten  Phöniziens  zugeführt  wurden,  auch  Papyrus  aufgezählt  wird.  Die 
älteste  Handschrift  eines  griechischen  Werkes  auf  Papyrus,  die  auf  uns 
gekommen  ist,  die  in  Ägypten  aufgefundene  Rolle  mit  den  Persern  des  Mi- 
lesiers  Timotheos,  mag  um  die  Wende  vom  4.  zum  3.  Jahrhundert  v.  Chr. 
gefertigt  worden  sein.  Alles  spricht  dafür,  daß  das  Athen  des  Sokrates  Athen. 
mit  Büchern  schon  reichlich  versorgt  war.  Das  Schulbuch  in  der  Hand 
des  Lehrers,  der  daraus  einem  vor  ihm  stehenden  wohlgekleideten  Schüler 
einen  Dichtertext  abhört,  zeigt  uns  ein  attischer  Vasenmaler  des  5.  Jahrhun- 
derts. Eine  schwach  verbürgte  Anekdote  läßt  sogar  Alkibiades  einem  Schul- 
meister, bei  dem  er  vergebens  eine  Ilias  verlangt,  eine  Ohrfeige  versetzen. 
Die  Welt  der  Literatur  der  großen  Zeit  Athens  jedoch  ist  etwas  anderes 
als  eine  Welt  der  Bücher.  Über  Buch  und  Buchwesen  ist  in  ihr  wenig 
ausgesagt.  Bezeichnend  ist  wohl  eine  Auffassung,  nach  der  eine  Rede, 
die  gehalten  worden  ist,  Werke,  die  einer  Versammlung  vorgetragen  sind, 
als  veröffentlicht  gelten. 

Zur  Verwendung  kamen  bei  den  Alten  nur  Papyrusrollen,  die  aus  Dia  BuchroUe. 
Ägypten  bezogen  wurden;  doch  gab  es  in  Rom  eine  Fabrik,  die  des 
Fannius,  die  auch  wenigstens  eine  Sorte  eigens  umarbeitete.  Die  eigent- 
lich für  die  Schrift  bestimmte  Seite  war  die  nach  innen  gerollte,  auf  der 
die  Fasern  des  Pflanzenstoffs  wagerecht  lagen.  Parallel  dem  kleineren 
Durchmesser  der  Rolle  zu  schreiben  oder  in  der  Längsrichtung  der  Rolle 
ohne  Unterbrechung  die  einzelnen  Zeilen  von  einem  Rande  der  Fläche 
bis  zum  andern  zu  führen,  hätte  das  Schreiben  und  Lesen  ausgedehnter 
Schriftstücke  zu  einer  Qual  gemacht.  Man  ließ  daher  die  Zeilen  parallel 
der  Längsseite  verlaufen,  brach  sie  aber  ab  zu  Kolumnen.  Die  fertig  ge- 
schriebene Buchrolle  wurde  mit  dem  Ende  an  einem  Stäbchen  befestigt 
und  wurde  um  dieses  herum  zusammengerollt.  Ein  Anhängsel,  Sillybos 
genannt,  nach  Art  einer  Etikette  außen  befestigt,  erhielt  eine  Aufschrift, 
die  den  Titel  des  Werkes  angab.  Die  Buchrollen  lagerte  man  abteilungs- 
weise übereinander  in  Gestellen  wie  bei  uns  die  Rollen  in  einer  Tapeten- 
handlung liegen,  oder  man  steckte  sie  senkrecht  nebeneinander,  wie  sie 
zusammengehörten,  in  runde  Behälter,  die  durch  einen  Deckel  von  oben 
verschließbar  waren. 

Wer  nicht  selber  sich  das  Werk  abschrieb,  das  zu  besitzen  er  Ver-vcrvicinutiguog. 
langen  trug,  oder  von  einem  dazu  angelernten  Sklaven,  serviis  litcratus, 
es  abschreiben  ließ,  kaufte  sich  eine  der  im  Handel  umgehenden  älteren 
Abschriften  oder  eine  der  neueren,  die  fabrikmäßig  im  Dienste  unterneh- 
mender Verleger  von  Sklaven  eigens  für  den  Verkauf  hergestellt  wurden. 
In  Athen  gab  es  wohl  schon  vor  Piatons  Zeit  solche  Schreibenverkstätten. 


52; 


Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 


Noch  mehr  entwickelten  sich  Verlagsgeschäft  und  Buchhandel  in  Alexan- 
drien,  wo  die  kritische  Gelehrtenarbeit,  die  Mustertexte  schuf,  hinzukam, 
und  vollends  in  dem  Rom  der  Kaiserzeit.  Als  Verleger  Ciceros  finden 
wir  seinen  Freund  Atticus.  Unter  den  Buchhändlern  Roms  brachten  es 
zu  einem  sprichwörtlichen  Namen  die  Sosii.  Werke  viel  gelesener  Autoren 
mögen  in  Auflagen  von  etwa  looo  Exemplaren  und  zu  sehr  wohlfeilen 
Preisen  auf  den  Markt  gebracht  worden  sein.  Auch  für  regelrechte  Ver- 
breitung in  den  Provinzen  war  g-esorgt.  Besondere  Schriften  belehrten 
über  Bücherankauf  und  Bücherauswahl. 
Übergang  zu  Ganz    allmählich    bereitete    sich   eine    Umgestaltung  vor.     Neben  Pa- 

Pergament  uiul  ^  , 

der  heutigen  pyrus   Waren   bei   schriftlichen   Aufzeichnungen    zweifellos   von    vornherein 

Buchform.      ^-'  °  .  . 

auch  andere  Stoffe  in  Gebrauch  gewesen,  namentlich  dazu  hergerichtete 
Holztafeln  und  Tierhäute.  Die  Täfelchen,  mit  oder  ohne  Wachsüberzug 
auf  der  Schreibfläche,  ließen  sich  paarweise,  als  Diptychon,  zusammen- 
fügen, ließen  sich  auch  in  größerer  Anzahl  aufeinander  gestapelt  zu  einem 
Codex,  wie  man  es  nannte,  zusammenstellen.  So  dienten  sie  zu  Beurkun- 
dungen, als  Notiz-,  Anschreibe-  und  Rechnungsbücher,  und  zu  Steuer- 
registern, und  sind  in  dieser  Verwendung  an  einzelnen  Orten  zum  Teil 
noch  über  das  15.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  hinaus  üblich  ge- 
blieben. Das  Schreibleder  war  etwas  längst  Bekanntes,  bevor  es  nach 
dem  Pergamon  der  büchersammelnden  Attaloi  die  Benennung  pcrgamciia 
Pergament,  erhielt,  vou  dem  unser  Pergament  hergeleitet  ist.  Gleich  der  Holztafel 
war  es  ein  Material,  das  man  nicht  erst  von  weither  zu  beziehen  hatte. 
An  sich  ist  Leder  namentlich  in  trockenwarmer  Atmosphäre  weniger  von 
Dauer  als  Papyrus,  wie  die  Funde  in  Ägypten  lehren,  aber  es  ist  wider- 
standsfähiger gegenüber  der  Hand,  die  es  anfaßt.  Pergament  nun  trat 
nach  und  nach  besonders  vom  3.  zum  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  auch  bei 
Büchern  immer  mehr  an  die  Stelle  von  Papyrus,  und  damit  vollzog  sich 
auch  eine  völlige  Umwandlung  in  der  äußeren  Erscheinung  des  Buches. 
Das  Pergamentfell  wurde  in  viereckige  Bogen  zerschnitten,  die  einmal  ge- 
faltet, lagenweise  ineinandergelegt  wurden.  Aus  einem  Aufeinander  zu- 
sammengehefteter Lagen  ergab  sich  so  ein  Gegenstück  zu  dem  Buche 
aus  Holztafeln,  ergab  sich  statt  der  Rolle  der  ungleich  handlichere  Per- 
codex.  gament-Codex.  Während  für  die  Gesetzeshandschriften  der  Juden  die 
Lederrolle  das  allein  Korrekte  blieb,  bürgert  die  Kodexform  sich  ganz 
besonders  ein  als  die  der  christlichen  Bibelhandschrift.  Codices  sind  aber 
auch  die  großen  Sammelwerke,  in  denen  die  mit  allgemeiner  Gesetzes- 
kraft veröffentlichten  kaiserlichen  Erlasse  zusammengestellt  werden,  der 
Codex  Gregorianus,  Hermogenianus,  Theodosianus,  lustinianus.  Die  Aus- 
stattung vervollkommnete  sich.  Schon  Johannes  Chrysostomos  rügt,  wo 
ausnahmsweise  christliche  Bücher,  das  heißt  die  Bücher  der  Bibel, 
in  Häusern  anzutreffen  seien,  lägen  sie  wohlverwahrt  in  Kästen;  es 
komme  dem  Besitzer  nicht  an  auf  den  Inhalt,  sondern  auf  die  Zart- 
heit der  Pergamentblätter  und  die  Schönheit  der  Schrift.     Ähnlich  tadelt 


Iir.  Das  Buch  im  Mittelalter. 


523 


dann  auch  Hieronymus  den  Prunk  der  Gold-  und  Silberschrift  auf 
purpurgefärbten  Membranen,  die  modischen  Uncialbuchstaben,  die  un- 
gefügen Formate  und  juwelengeschmückten  Einbände.  Das  Vorbild  der 
Papyrusrolle  blickt  gelegentlich  noch  in  einer  Einzelheit  durch,  so  da, 
wo  die  Pergamentseite  nicht  in  Zeilen  von  ihrer  ganzen  Breite,  sondern 
in  Kolumnen  beschrieben  wird;  Kolumne  neben  Kolumne,  das  war  der 
Anblick  gewesen,  den  man  in  der  zum  Lesen  aufgerollten  Buchrolle  vor 
sich  hatte. 

Die   Bevorzugung   der   Kodexform,   durch   die    in   ihr   das  Buch  seine  Schicksal  der 

antiken  Lite- 

endgültige  Gestalt  gewann,  war  von  weitgehenden  Folgen  auch  für  das  ratur. 
Schicksal  der  antiken  Literatur.  Unmengen  von  Werken  waren  bereits 
aus  dem  Buchhandel  verschwunden,  waren  zugrunde  gegangen.  Xun 
stellte  sich  auch  noch  ein  handgreifliches  äußeres  Mißverhältnis  ein  zwi- 
schen Altem  und  Xeuem.  Man  prüfte  fortan  genauer,  ob  es  der  Mühe 
lohnte,  eine  abgenutzte  Rolle  durch  Abschreiben  auf  Pergament  zu  er- 
neuem; von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wurde  die  Revision  einer  Bibliothek 
zu  einem  Totengericht.  Was  gab  es  ohnehin  alles  zu  vervielfältigen  an 
frischem  Bücherzuwachs,  seit  der  neue  Glaube  seinen  heiligen  Schriften 
immer  neue  Leser  warb,  seit  er  mit  der  alten  Weltanschauung  und  diese 
mit  ihm  sich  auseinanderzusetzen  begonnen  hatte,  seit  er  sich  in  Lehre 
und  Leben  zu  einer  Einheit  auszugestalten  versuchte.  Verschiedenes  selbst 
aus  der  altchristlichen  Schriftstellerei  ist  in  morgenländischen,  lateinischen, 
slawischen  Übersetzungen  vor  dem  Untergange  gerettet  worden.  Doch  im 
ganzen  war  es  nicht  vorteilhaft  für  die  Erhaltung  griechischer  Original- 
texte, daß  im  Osten  die  Volkssprachen,  zuerst  das  Syrische  und  das 
Koptische,  sich  zu  Kirchen-  und  Literatursprachen  ausbildeten,  und  daß 
im  Abendlande  die  Kenntnis  des  Griechischen  zurückging.  Das  älteste 
datierte  Buch,  das  wir  besitzen,  ist  eine  syrische  Handschrift  vom  Jahre 
411,  welche  Schriften  des  Titus  von  Bostra  und  des  Eusebius  in  sj^rischer 
Übersetzung  enthält.  Als  ein  mißlicher  Vorzug  des  Pergaments  hat  es 
sich  erwiesen,  daß  die  Schrift,  die  darauf  steht,  meist  ohne  Schaden  für 
den  Stoff  sich  durch  Abschaben  beseitigen  läßt,  ein  Mittel,  das  allzu  reich- 
lich angewendet  worden  ist,  wenn  man  um  leeres  Material  in  Verlegen- 
heit war.  Vielfach  lassen  noch  die  Spuren  der  ursprünglichen  Schrift 
unter  Anwendung  von  Chemikalien  sich  auffrischen  und  lesen,  und  sie 
sind  meist,  wenn  auch  nicht  in  allen  Fällen,  uns  wichtiger  geworden  als 
das,  was  jetzt  darüber  steht. 

ill.  Das  Buch  im  Mittelalter.    Wie  die  Literatur  der  ersten  Christ-  Nachwirtuns 
liehen    Jahrhunderte    noch    in    mannigfachstem    Zusammenhange    mit    dem     Tradition. 
Altertum  bleibt,    so  ergibt  sich  vollends  für  das  Buchwesen  dieser  Zeiten 
wenig,  was  nicht  sich  als  Fortsetzung  der  langen  vorangegangenen  Ent- 
wicklung bekundete.    Die  Handschriften,    die    auf  uns  gelangt  sind,  setzen  Älteste  Hand- 
verhältnismäßig spät  ein.    Noch  dem  3.  oder  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  mögen 


1^24  Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 

die  beiden  Yergile  im  Vatikan  angehören,  die  uns  noch  die  Eigenart  an- 
tiker Buchillustration  vor  Augen  führen,  noch  dem  5.  Jahrhundert  Bilder 
aus  einer  Handschrift  der  Ilias,  die  in  der  Ambrosianischen  Bibliothek  zu 
Mailand  aufbewahrt  werden.  Am  längsten,  lebendigsten  und  am  wenigsten 
unterbrochen  bewahrt  sich  ein  Erbteil  alter  Traditionen  in  der  Obhut  von 
Byzanz.  Trotz  der  Ungunst  der  Verhältnisse,  vor  allem  trotz  der  Betä- 
tigung des  Zerstörungstriebes,  den  der  Bilderstreit  entfesselte,  haben  wir 
noch  aus  dem  9.  und  10.  Jahrhundert  einige  herrliche  griechische  Bilder- 
handschriften, in  denen  uns  Darstellungen  alt-  und  neutestamentlichen  In- 
halts begegnen,  wie  sie  nur  ein  Künstler  hat  schaffen  können,  der  sich 
noch  mit  voller  Unbefangenheit  und  Sicherheit  in  der  Auffassung  und 
den  Ausdrucksmitteln  der  Schulüberlieferungen  vorchristlicher  Malerei 
bewegte.  So  fällt  manches  lehrreiche  Streiflicht  von  hier  aus  auch  auf 
das  Altertum  zurück.  Und  als  Ganzes  genommen  gehört,  wie  man  immer 
mehr  würdigen  lernt,  seit  ausreichende  Veröffentlichungen  vorliegen,  die 
Handschriftenausschmückung  im  Mittelalter  zu  den  Gebieten,  auf  denen 
das  Wesen  und  Vermögen  der  Kunst  des  einzelnen  Zeitraums  am  besten 
Tätigkeit  der  sich  ausspricht.  Wie  hohen  Anteil  an  diesem  Vorgange  das  Mönchstum 
hat,  braucht  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Lag  in  den  An- 
fangen des  christlichen  Einsiedlerwesens  etwas  von  einer  Absage,  die  der 
des  letzten  Gerichtes  Heranharrende  der  gesamten  Kulturwelt  zurief,  so 
waren  es,  als  diese  Kultur  wirklich  von  Barbarenhand  zerschlagen  wurde, 
die  Nachfolger  dieser  Weltflüchtigen,  die  Zugriffen,  die  Trümmer  verlore- 
ner Schöne  hinüberzutragen  aus  dem  Zusammenbruche  in  ein  neues  Da- 
sein ;  so  sehr  hatte  inzwischen  in  geistige  Ergebnisse  antiker  Kultur  die 
Kirche  sich  eingelebt.  Schon  die  Mönchsregel  des  Pachomios,  mag  sie 
nun  von  dem  Heiligen  herrühren  oder  nicht,  trifft  Bestimmungen  über 
Bücherlesen.  Geradezu  zur  Pflicht  macht  es  die  Regel  des  heiligen  Be- 
nedikt. Hieronymus  empfiehlt  dem  Anachoreten  das  Abschreiben  von 
Büchern.  Cassiodor  zieht  in  seinem  Vivarium  eine  Schule  dafür  heran. 
Bei  den  Cluniazensern  wurden  zur  Fastenzeit  den  Brüdern  Bücher  zum 
Lesen  ausgeteilt,  und  wer  bis  zur  Verteilung  des  nächsten  Jahres  sein 
Buch  nicht  ausgelesen  hatte,  mußte  das  bekennen  und  um  Vergebung 
bitten.  Der  Sorge  um  das  anvertraute  Gut  des  Wissens  hat  allerdings 
das  Mönchswesen  keineswegs  gleichmäßig  sich  angenommen.  Zeiten,  wie 
sie  Dante  meint,  wenn  er  die  Regel  Benedikts  mit  den  Blättern,  auf 
denen  sie  geschrieben  steht,  Schaden  nehmen  läßt,  haben  sich  ständig 
wiederholt.  Vielfach  war  es  selbst  in  der  großen  Zeit  der  Mönchsorden 
ganz  Sache  des  Vorstehers  des  einzelnen  Klosters,  wie  es  mit  dem  Ab- 
schreiben und  mit  gelehrten  Studien  gehalten  werden  sollte.  Immer  wieder 
wird  der  Argwohn  laut,  daß  über  der  Beschäftigung  mit  diesen  Dingen, 
vor  allem  mit  heidnischen  Schriftstellern,  die  Frömmigkeit  zu  kurz  komme. 
Aber  wenn  das  Mönchstum  eine  Aufgabe  als  geistige  Kulturmacht  erfüllt 
hat,   so   geht  das  nicht  zum  kleinen  Teile   zurück  auf  die  Reformer,    die 


III.  Das  Buch  im  Mittelalter. 


525 


unermüdlich  ihre  Untergebenen  zur  Arbeit  in  den  Schreib.stuben  anhielten, 
die  zum  Ab.schreiben  Bücher  entliehen,  woher  .sie  konnten,  um  so  die 
Klöster  mit  Bibliotheken  zu  versehen. 

Als  ein  Vorbild  hat  im  Abendlande  sehr  früh  der  Eifer  gewirkt,  mit  Iren. 
dem  künstlerisches  Können  und  weltliche  Gelehrsamkeit  in  den  irischen 
Klöstern  hochgehalten  wurden.  Schriftkundiger,  Scriba,  war  hier  ein 
Ehrentitel,  und  vom  Scriba  aus  wurde  mancher  zum  Abt  befördert.  Die 
zahlreichen  Mönche,  die  seit  dem  6.  Jahrhundert  ihre  irische  Heimat  ver- 
lassen, um  auf  dem  Festlande  zu  wirken  oder  nach  Rom  zu  pilgern,  neh- 
men Bücher  mit  auf  die  Wanderschaft.  Alles  was  die  irische  Mönchs- 
welt in  ihrer  räumlichen  Abgeschiedenheit  für  sich  an  geistigem  Besitz 
aufgespeichert  hat,  kommt  so  wieder  zur  Verteilung.  Aus  Anregungen, 
die  noch  das  römische  und  griechische  Buchwesen  bot,  entwickelte  sich 
in  Irland  eine  Buchausschmückung  von  selbständiger  Geschmacksrichtung, 
die  in  der  Linienführung  und  Farbenzusammenstellung  der  Ornamente 
überraschend  schöne  Wirkungen  erzielt.  Von  dieser  Kunst  beeinflußt, 
aber  vielseitiger  in  ihren  Leistungen,  ist  die  der  angelsächsischen  Hand- Angelsächsische 
Schriften.  Der  angelsächsischen  Initialen-Ornamentik  schließt  .sich  zu  einem 
Teil  auch  die  der  karolingischen  Buchmalerei  an,  die  im  übrigen  mit  K.aroiiogische 
voller  Absichtlichkeit  sich  der  Nachbildung  ihr  noch  zugänglicher  Erzeug-  ^^"'^'^^"'^''■ 
nisse  des  Altertums  befleißigt.  Mustergültig  wird  hierin  die  Schule  von 
Tours,  die  Alcuin  begründet.  Bis  ins  11.  Jahrhundert  hinein  wirken  ihre 
Bestrebungen  nach.  Doch  stehen  die  Arbeiten  aus  der  Zeit  der  Ottonen, 
in  der  unmittelbare  Beziehungen  zu  Byzanz  neue  Anregung  schaffen,  zu- 
meist hinter  den  karolingischen  an  objektivem  Wert  zurück.  Gegen  Ende  mute  der  Hand- 
des  12.  Jahrhunderts  bereitet  sich  eine  neue  Blütezeit  der  Handschriften- "''"'"'"""''°''*'" 
maierei  vor,  eine  Kunst,  die  sich  zunächst  in  einem  gebundenen  Stil- 
charakter hält  und  sich  dem  Formempfinden  der  Gotik  anschließt.  Sie 
kommt  zuerst  in  Paris  zur  Geltung,  das  im  13.  Jahrhundert  ja  Pflegestätte 
der  Wissenschaften,  parens  scienfiarum,  ist.  Im  ganzen  kam  bis  dahin 
die  Fürsorge,  die  das  Buch  zum  Kunstwerk  umschuf,  nur  besonderen 
Prachtstücken  zugute,  beinahe  au.sschließlich  Bibeln  und  Teilen  der  Bibel, 
Evangelienbüchern,  Psaltern,  Homilien,  Sakramentarien,  Meßbüchern,  die 
im  Gottesdienste  Verwendung  fanden  oder  im  Kirchen-  oder  Kloster- 
schatze zu  prangen  bestimmt  waren.  Daneiien  tauchen  noch  vereinzelt 
Werke  auf,  die  von  einer  Abschrift  zur  andern  mit  Illustrationen  versehen 
werden,  weil  die  Bilder  unentbehrlich  erscheinen,  so  in  einer  Überlieferung 
die  Komödien  des  Terenz,  die  Psychomachie  des  christlichen  Dichters 
Prudentius  und  eine  Reihe  von  Werken  des  Altertums,  die  einem  tech- 
nischen Können  dienen,  Arzneibücher,  Sternverzeichnis.se,  die  Bücher  der 
Feldmesser.  Eine  Art  von  Enzyklopädie  war  der  Hortus  deliciarum,  ein 
Bilderwerk,  das  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  die  Äbtissin 
Herrad  von  Landsberg  verfaßte.  Je  mehr  aber  das  städtische  Leben  in 
Blüte  kam,  um  so  mehr  bildeten  sich  auch  Schreiber  von  Beruf  aus,  und 


526 


Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 


um  so  weniger  beschränkte  sich  das  Bücherschreiben  auf  die  Klöster  und 
die  Ausschmückung  auf  geistliche  Werke,  Dante  hat  diese  Kunsttätigkeit 
sich  ausgesucht,  um  an  ihr  die  Nichtigkeit  des  Berühmtseins  vorzuführen. 
Er  spricht  im  Purgatorio  einen  Oderisi  an  als  „die  Ehre  von  Agobbio 
(Gubbio)  und  die  Ehre  jener  Kunst,  die  in  Paris  alluminare  genannt  wird", 
erfährt  aber  von  dem  Angeredeten,  daß  er  nur  noch  einen  Teil  der  Ehre 
hat,  die  ganze  hat  inzwischen  Franco  Bolognese  davongetragen,  der  es 
besser  heraushat,  zu  „pinseln",  was  Beifall  findet.  Eine  wichtige  Rolle 
in  der  Weiterbildung  der  Handschriftenmalerei  und  ihrer  Pflege  ist  man 
geneigt,  der  Hofhaltung  der  Päpste  in  Avignon  zuzuschreiben,  von  der 
aus  jedenfalls  Anregung  in  Fülle  weithin  übertragen  wurde.  Einen  Freund 
fand  diese  Kunst  auch  an  Johann  dem  Guten  von  Frankreich,  an  seinem 
Sohn  König  Karl  und  den  andern  Fürsten  seines  Hauses,  so  dem  König 
Burgundische  Ren6,  dem  Herzog  Jean  de  Berry  und  an  den  burgundischen  Herzögen. 
Der  Vorliebe  für  künstlerisch  ausgeschmückte  Bücher,  die  in  dieser  Fa- 
milie sich  forterbte,  verdanken  wir  eine  Anzahl  von  Handschriften,  die  zu 
den  schönsten  gehören,  die  überhaupt  vorhanden  sind.  In  Burgund  be- 
reichert sich  die  Handschriftenmalerei  aus  der  flämischen  Kunst,  ihrem 
Streben  nach  ehrlicher  Naturtreue,  ihrer  lebensfrischen  Auffassung,  und 
bringt  es  zu  einer  bildmäßigen  Ausgestaltung,  die  das  Konventionelle  der 
früheren  Stadien  mehr  und  mehr  aufgibt.  Unmittelbar  zu  den  Meister- 
werken der  sogenannten  nordischen  Renaissance,  die  in  den  Brüdern 
Van  Eyck  ihren  Höhepunkt  findet,  zählen  die  Bilder,  mit  denen  das  Bre- 
viarium  Grimani  geziert  ist.  Die  französische  Handschriftenmalerei  kommt 
durch  die  Plantagenets  nach  England.  Italien  hat  in  der  zweiten  Hälfte 
des    14.    Jahrhunderts    schön    gemalte    Ausschmückungen    namentlich    in 

Handschriften  Dekretalenhandschriftcn    hervorgebracht.      Unter    dem    Einflüsse    des    Hu- 
der Humanisten-  . .        .       ,  rz    • 

zeit.  manismus  kehrt  man  dort  zu  des  Minuskelschnft  des  karohngischen  Zeit- 
raums, der  Antiqtia,  wie  man  sie  nannte  und  wie  sie  deshalb  noch  jetzt 
heißt,  zurück  und  beginnt  die  Handschrift  mit  Ornamenten  und  Bildern 
auszustatten,  die  dem  im  Studium  der  Antike  gebildeten  Geschmacke  ent- 
sprechen. Wie  in  den  burgundischen  x\rbeiten  und  nach  dem  Vorbilde 
der  Italiener  dann  auch  überall,  wohin  der  Einfluß  der  italienischen  Kunst 
sich  fortpflanzt,  kommen  dabei  vielfach  Malereien  zur  Anwendung,  in 
denen  das  regelrecht  durchgeführte  Historienbild  zum  Buchschmuck  ge- 
nommen wird.  Die  Dynasten  ItaUens,  die  Mediceer,  Ferdinand  von  Ar- 
ragon  König  von  Neapel,  Federigo  da  Montefeltro  Herzog  von  Urbino, 
„der  sich  geschämt  haben  würde,  ein  gedrucktes  Buch  zu  besitzen",  die 
Visconti  und  Sforza,  die  Este,  mehrere  der  Päpste,  nicht  minder  bemittelte 
Privatleute  und  hochgestellte  Geistliche,  Gilden  und  Bruderschaften  be- 
eifern sich  in  Aufträgen.  Matthias  Corvinus  König  von  Ungarn  beschäf- 
tigte in  Florenz  Schreiber  mit  der  Anfertigung  von  Handschriften,  die  er 
zum  Teil  von  Attavantes  bewunderter  Künstlerhand  ausschmücken  ließ. 
Den  Abschluß  dieser  Renaissancekunst  in  Italien  bezeichnen  die  Arbeiten 


III.  Das  Buch  im  Mittelalter.  C27 

von  Littifredi  dei  Corbizzi  in  Siena  und  des  Kroaten  Julio  Clovio.  Meister- 
werke in  der  Kunst  des  gemalten  Buchschmucks  werden  noch  geschaffen, 
nachdem  schon  lange  die  Buchdruckerkunst  im  Gange  ist,  so  in  Frank- 
reich das  reizvolle  Livre  d'Heures  der  Königin  Anne  de  Bretagne  und 
die  trefflichen  Arbeiten  des  Jean  Foucquet  aus  Tours.  Kehren  wir  auf  Deutsche 
deutsches  Gebiet  zurück,  so  wird  das  höfische  Leben  um  die  Wende  des 
14.  Jahrhunderts  uns  sehr  anschaulich  vor  Augen  geführt  in  der  Minne- 
sängerhandschrift, die  unter  Kaiser  Friedrich  aus  Paris  nach  Heidelberg 
zurückgegeben  worden  ist  Die  Blüte  der  Kunst  am  Niederrhein  und  in 
den  Niederlanden  hat  uns  auch  mit  einigen  Bilderhandschriften  von  eigen- 
artigem Werte  beschenkt.  Nicht  geringes  Interesse  ferner  bietet  der  Belli- 
fortis  des  Konrad  Kyeser  von  Eichstädt,  ein  Werk,  das  in  einer  Menge 
von  Abbildungen  allerlei  Vorkehrungen  und  Geräte  vorführt,  die  im  Kriege 
zu  brauchen  sein  sollen,  daneben  aber  auch  noch  andere  geheimnisvolle 
Künste  verherrlicht.  Eine  große  Nachfrage  nach  illustrierten  Handschriften 
deutscher  Dichtungen  bestand  zeitweilig  im  südwestlichen  Deutschland, 
bevor  hier  der  Humanismus  andere  literarische  Interessen  mehr  in  den 
Vordergrund  schob.  Es  gab  förmliche  Handschriftenfabriken.  Am  sch\vung- 
haftesten  betrieb  das  Geschäft  Diebolt  Lauber  in  Hagenau  um  die  Mitte 
des  1 5.  Jahrhunderts.  In  den  besseren  Arbeiten  herrscht  eine  zwar  skizzen- 
hafte, aber  gerade  deswegen  oft  recht  angemessene  Durchführung,  etwas 
erfreulich  Ungezwungenes,  ein  ausdrucksvoller  Gestus.  Meist  wird  nicht 
mehr  gegeben  als  eine  angetuschte  Federzeichnung.  Nach  Art  dieser 
Bücher  gestaltet  ist  schon  Ulrich  von  Richentals  lehrreiche  Schilderung 
des  Konstanzer  Konzils.  Auch  Landrechtbücher,  Gerichtsordnungen,  Haus- 
bücher werden  in  diesem  Stile  geziert.  Gute  Beispiele  lokaler  Kunst  vom 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  sind  Konrad  Franckendorfers  Evangelienbuch 
im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg  und  Georg  Becks  Choralbuch  zu 
Augsburg.  In  der  Reformationszeit  schmückt  der  Nürnberger  Nikolas 
Glockendon  ein  Missale  und  ein  Gebetbuch  für  den  Kurfürsten  von  Mainz 
Albrecht  von  Brandenburg,  und  sein  Bruder  Albert  Glockendon  ein  Gebet- 
buch für  Wilhelm  von  Bayern.  Auch  der  Maler  des  „Gänsebuchs"  zu 
Nürnberg  Jakob  Eisner  vertritt  ein  tüchtiges  Können.  Noch  1647  malt 
dann  Friedrich  Brentel  für  seinen  Gönner  Herzog  Wilhelm  von  Baden 
überaus  sorgfältig  ausgeführte  Gebetbuchminiaturen. 

In  diesem  Überblick  über  die  reiche  Betätigung  künstlerischen  Sinnes,    ne.ieutunj 
die    während    des  Mittelalters    aus    dem  Handschriftenwesen    sich    ständig '' Miueuucr!"' 
neu    herausbildet,    ist    zugleich    schon    angedeutet,    wie    mannigfach    das 
geistige  Leben  und  Schaffen,  das  im  Buche  sich  verkörpert  und  fortpflanzt, 
auch  in  diesem  Zeitalter  ist.    Auf  keinem  Gebiete  wird  als  Werkzeug  der 
Überlieferung  das  Buch  so  in  Anspruch  genommen  wie  auf  dem  religiösen. 
Am  selbständigsten  tritt  es  daneben  auf  im  Dienste  des  Rechts.     Als  die  n«  Buch  \^ 
Germanenstämme  sich  heimisch  einrichteten  in  den  Provinzen  des  Römer-  '^'"=''"*'""- 
reichs,  die  ihr  Schwert  ihnen  untervvorfen  hatte,  lernten  sie  sehr  bald  be- 


,,g  Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 

greifen,  daß  unter  diesen  Verhältnissen  ein  bloß  gewohnheitsmäßiges  Her- 
kommen nicht  mehr  ausreichte.  Schon  im  5.  Jahrhundert  wird  daher  der 
Anfang  mit  der  Aufzeichnung  germanischer  Rechtssatzungen,  der  so- 
genannten Leges  barbarorum  gemacht.  Wie  der  Glaube  an  den  Anspruch 
des  römischen  Kaisers  auf  die  Herrschaft  über  den  Erdball  als  Glaubens- 
satz fortlebt,  so  umkleidet  auch  die  Gesetzgebung  Justinians  der  Schimmer 
des  für  alle  Länder  und  Zeiten  gültigen  Weltrechts.  Nie  wieder  ist,  um 
Savignys  Ausspruch  hier  anzuwenden,  eine  Handschrift  mit  solcher  an  das 
Abergläubische  grenzenden  Verehrung  behandelt  worden,  wie  die  große 
Pandektenhandschrift,  die  wahrscheinHch  noch  im  7.  Jahrhundert  in  Kon- 
stantinopel geschrieben  ist  und  im  Besitze  von  Pisa  war,  bis  nach  Unter- 
werfung der  Pisaner  die  Florentiner  sie  entführten.  Feierlich  wie  zu  einer 
Orakelstätte  gingen  vierteljährlich  in  Pisa  Cancellare  und  Notare  hin,  sie 
zu  besichtigen  und  zu  vergleichen;  Vertreter  der  Behörden  und  der  Gilden 
hatten  dabei  zu  sein.  Nur  wem  gleich  den  Rechtslehrem  von  Bologna 
das  Corpus  iuris  der  einzige  Quell  aller  Rechtsweisheit  war,  der  konnte 
darin  so  zu  Hause  sein,  wie  es  die  Glossatoren  gewesen  sind.  Ihre  Aus- 
legungen wiederum  wurden  für  die  nachfolgenden  Generationen  höchstes 
Gesetz.  Es  sei  besser,  heißt  es,  eine  Glosse  für  sich  anführen  zu  können 
als  den  Wortlaut  des  Corpus  iuris,  solcher  Götzendienst  werde  mit  der 
Auslegung  getrieben,  „denn  wie  die  Alten  Götzen  als  Götter  anbeteten, 
so  beten  die  Advokaten  die  Glossatoren  als  Evangelisten  an".  Ein  ähn- 
licher Geist  der  Hingabe  an  Autoritäten  und  an  das  geschriebene  Wort 
herrscht  auf  den  meisten  andern  Gebieten.  Aussprüche  der  Kirchenväter 
werden  denen  der  Bibel  nahezu  gleichgestellt.  Unter  dem  Deckmantel 
eines  gefeierten  Namens  —  Aristoteles,  Dionysius  Areopagita,  Augustinus, 
Isidorus  —  werden  Fälschungen  unbeanstandet  hingenommen.  Anderer- 
seits erhält  sich,  wie  kürzlich  entdeckt  wurde,  ein  ketzerisches  Werk  des 
Iren  Pelagius  unverstümmelt  und  unversehrt,  bloß  weil  die  Abschrift  nicht 
angibt,  wer  der  Verfasser  ist.  Meist  nimmt  man  den  Inhalt  hin,  ohne  sich 
viel  mit  der  Person  des  Autors  zu  beschäftigen.  Es  kommt  vor,  daß  für 
ein  und  dasselbe  Buch  vier  verschiedene  Leute  als  der  Urheber  über- 
liefert sind,  so  für  den  Tractatus  de  oculo  morali.  Am  schlechtesten 
kommen  die  Wissenszweige  fort,  die  nur  als  eine  annehmUche  Bereiche- 
rung der  Vorstellungen  gepflegt  werden,  wie  die  Erdkunde,  in  der  zum 
Beispiel  der  Abriß  des  Ethicus,  als  dessen  Bearbeiter  freilich  Hieronymus 
gilt,  mit  Vorliebe  benutzt  wird,  obwohl  schon  in  einem  alten  Kataloge 
der  Klosterbibliothek  von  St.  Gallen  das  Buch  durch  den  Zusatz  „wert- 
loses Schriftstück"  hinreichend  gekennzeichnet  ist.  Die  Wertschätzung, 
die  das  Mittelalter  dem  Buche  als  solchem  erweist,  findet  ihren  bered- 
testen Ausdruck  in  dem  Philobiblon,  das  nach  der  Schlußschrift  1345  von 
Richard  de  BuryRichard  dc  Bury  Bischof  von  Durham,  Schatzmeister  und  Kanzler  König 
(i=87-.345)-  £^^^,j^j.^g  jjj_  verfaßt  worden  ist.  Obenan  steht  ihm  die  Bedeutung  der 
Bücher,    „vor    denen    die    Armseligkeit    menschlicher    Unwissenheit    ohne 


ni.  Das  Buch  im  Mittelalter.  52Q 

Beschämung    sich    bloßstellt",    dieser    Lehrmeister,    die    ohne    Zuchtruten 
und   Ereifern   uns   unterweisen   und   stets   uns   Rede    und   Antwort    stehen, 
für    die  Welt    der  Offenbarung    und    des   Glaubens.     „Niemand    kann    den 
Büchern  dienen  und  dem  Mammon."    „Bücher",  rühmt  er  femer,  „ergötzen, 
wenn    es    uns    gut,    spenden  Trost,    wenn   es  uns  schlecht  geht,    verleihen 
Kraft   den  Abmachungen,    die  Menschen    schließen,    und    ohne    sie    lassen 
sich    wichtige    Urteile    nicht    fällen.      Auf  Büchern    beruhen    Künste    und 
Wissenschaften,  deren  Ergebnisse    kein  Geist  herzuzählen  ausreicht.     Wie 
wunderwürdig  ist  der  Bücher  Macht,  wenn  wir  durch  sie  die  Grenzen  des 
Erdkreises  und  der  Zeit  erkennen    und    das  was    ist    sowohl    wie  das  was 
nicht  ist    gleichwie  in  einem  Spiegel  der  Ewigkeit  anschauen.     Berge  er- 
steigen wir,    Abgrundtiefen  erforschen  wir,    Fischarten,    derengleichen  der 
Luftbereich  in  keinerlei  Weise  enthält,  sehen  wir  vor  uns  in  Handschriften; 
Besonderheiten    von    Flüssen    und  Quellen    verschiedener   Länder   werden 
uns  klar;    in  Büchern  graben  wir  aus  Metalle  und  Edelsteine,    sowie   jeg- 
liche   Art    von    Mineralstoffen,    über    Kräfte    von    Kräutern,    Bäumen    und 
Gewächsen    belehren    wir    uns;    nach    Gefallen    betrachten    wir    alles    was 
hervorbringen  Neptunus,  Ceres  und  Pluto."     So  urteilt  noch  einer  der  am 
besten  unterrichteten  Männer  Nordeuropas,  fünfzig  Jahre  nachdem  bereits 
das  überlieferte    stark    zusammengeschrumpfte  Weltbild    einen  Teil  seiner 
Ausdehnung   aus    Marco  Polos    Reisen    zurückgewonnen    hatte.     Ein    ver- 
trauteres   als    ein    so    rein    aus    Schriftstellern    erworbenes   Verhältnis    zur 
Natur   läßt   sich   ja   zwar   schon  vorher  bei  Dante  nachweisen.     Doch  nur 
in    vorsichtigem    Fortschreiten    tastet    sich    die  Wissenschaft    des    15.  und 
16.  Jahrhunderts  aus  der  Enge  dieser  lebensarmen  Bücherweisheit  heraus 
an  das  Pleinairstudium  der  Erscheinungswelt. 

Das  Handschriftenwesen  des  Mittelalters  brachte  im  allgemeinen  eine  verbreitunK.- 

^  fahigkeit  der 

geringe  Verbreitungsfähigkeit  des  Buches  mit  sich.  Doch  trat  gelegent-  Handschriften 
lieh  in  erregten  Tagen  eine  Streitschriften-Literatur  hervor,  so  am  Ende 
des  II.  Jahrhunderts  zur  Rechtfertigung  der  Ansprüche  des  Papsttums, 
dann  in  dem  Zerwürfnisse  zwischen  Philipp  dem  Schönen  und  Bonifaz  VIIL, 
in  dem  Kampfe  Ludwigs  des  Bayern  mit  Johann  XXIL  Sorgfältig  ge- 
schriebene Bücher  waren  sehr  kostbar.  Man  entäußerte  sich  eines  kost- 
baren Pferdes,  eines  Weinbergs,  um  eine  Handschrift  zu  erwerben,  die 
einer  Kirche  dargebracht  werden  sollte.  Pergament  war  nicht  leicht  zu 
haben,  daher  fielen  auch  gewöhnliche  Bücher  nicht  wohlfeil  aus,  und  man 
gewöhnte  auch  des  schnellem  Schreibens  halber  sich  allmählich  an  Men- 
gen von  Abkürzungen  und  enge  Schrift.  Trotzdem  befindet  sich  am  Ende 
des  13.  Jahrhunderts  ein  Schulmeister  zu  Augsburg,  Hugo  von  Trimberg, 
wie  er  in  seinem  Gedichte  „Der  Renner"  anführt,  im  Besitze  von  200 
Handschriften.  Wer  sich  einen  Kaplan  hielt,  war  in  der  Lage,  Werke, 
die  er  besitzen  wollte,  sich  durch  diesen  abschreiben  zu  lassen.  Die  Ver- 
wendung von  Papier,  die  das  Buch  ungemein  billiger  herzustellen  ge- 
stattete, kam  in  Deutschland  im   14.  Jahrhundert  auf    Für  den  Bedarf  der 

Die  Kultur  der  Gegenwart.     I.  i.  34 


1-70  Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 

Studenten  an  Lehrbüchern  hatten  auf  den  Universitäten  des  13.  Jahr- 
hunderts die  Stationarii  zu  sorgen,  wie  sie  mit  einem  Namen  benannt 
wurden,  der  sich  noch  in  dem  englischen  Stationer  erhalten  hat  und  von 
Statio,  einer  sehr  alten  Bezeichnung  für  Schreiberwerkstatt,  herkommt. 
„Unbemittelte  Scholaren",  erfahren  wir,  „schreiben  eigenhändig  für  sich 
und  andere,  das  für  sich  getreu,  das  für  andere  hübsch  und  eilfertig".  Es 
gab  nach  der  Schilderung,  die  ein  Predigtbuch  enthält,  auch  in  Paris 
genug  Leute,  die  gern  etwas  Schwarz  auf  Weiß  besaßen,  um  es  nach  Ab- 
lauf der  Studienzeit  daheim  getrost  vorweisen  zu  können,  die  „aus  Kalb- 
fellen mit  breiten  Rändern  große  Bücher  zusammenstellten  und  sie  hübsch 
in  rotes  Leder  binden  ließen;  so  reisten  sie  zurück  zu  den  Eltern  mit 
weisem  Gepäck  und  unweisem  Sinn". 

IV.  Das  Buch  in  der  Neuzeit.  Ist  auch  die  Kulturbewegung,  die 
wir  Renaissance  nennen,  keineswegs  einzig  und  allein  geboren  aus  dem 
Humanismus.  Geiste  des  Humanismus,  so  zählt  er  doch  zu  den  treibenden  Kräften  in 
ihr.  Die  Humanisten  sind  es,  die  zuerst  ein  Schibolet  ausgeben;  es  ist 
die  frohe  Botschaft  von  der  Einzigartigkeit  der  Kultur  des  Altertums,  die 
sie  verkünden.  Nicht  bloß  daß  an  dem  Studium  der  antiken  Dichter, 
Denker  und  Geschichtschreiber  der  Eifer  der  humanistischen  Propaganda 
sich  entfacht;  dieses  Studium  selbst  vielmehr  wird  getrieben  als  das  Mittel, 
sich  und  andere  frei  zu  machen  von  jeglicher  „Barbarei".  Die  Werke  der 
Alten,  soweit  man  ihrer  noch  habhaft  werden  konnte,  zusammenzutragen, 
sie  in  Abschriften  sich  und  den  Gleichgestimmten  zu  sichern,  war  uner- 
läßlich. Den  ersten  Schritt  hierzu  tat  Petrarca.  In  seinem  Sammeleifer 
begegnete  er  sich  mit  seinem  Zeitgenossen  Richard  de  Bury.  Aber  in 
der  Art  wie  Petrarca  über  seine  Leidenschaft  für  Bücher  sich  und  andern 
berichtet,  wie  er  es  als  persönliches  Erlebnis  schildert,  daß  sich  ihm  von 
Ciceros  Schriften  aus  einer  der  Alten  nach  dem  andern  entdeckt,  darin 
zeigt  sich  ein  tiefer  Wesensunterschied;  noch  mehr  vielleicht  in  der  An- 
wendung auf  die  Gegenwart,  die  Petrarca  macht,  in  seinen  Bemühungen, 
eine  Erneuerung  herbeizuführen,  selber  in  eigenem  Schaffen  den  großen 
Vorbildern  es  gleichzutun  und  so  nach  ihrem  Vorgange  Ruhm  und  Un- 
sterblichkeit zu  ernten.  Bloßes  Zusammenhäufen  von  Büchern  verwirft  er, 
allerdings  ganz  ähnlich  wie  sich  schon  Seneca  darüber  ausgesprochen  hat. 
Auch  bildete  das  Quantum  antiker  Werke,  an  dem  anfangs  der  Humanis- 
mus seine  Begeisterung  nährte,  tatsächlich  eine  zwar  gewählte,  aber  keines- 
wegs besonders  reichbesetzte  Tafel;  ohnehin  blieb  ihm  im  Abendlande 
nicht  viel  mehr  als  eine  letzte  Nachlese  übrig.  Das  meiste  aus  der  latei- 
nischen Literatur,  dessen  Untergang  zu  verschmerzen  schwer  fällt,  wird 
schon  Jahrhunderte  vordem  nicht  mehr  als  vorhanden  erwähnt.  Als 
„Schulschriften",  libri  scholastici,  hatte  das  Mittelalter  eine  ganze  Reihe 
antiker  Autoren  beibehalten  oder  doch  geduldet.  Nur  sah  man  jetzt  diese 
mit   andern  Augen    an,   ja   kehrte    die  Rangordnung    um.     Die    Lust    am 


IV.  Das  Buch  in  der  Neuzeit.  55  j 

Sammeln  erfaßte  bald  auch  die  Mächtigen.  Eine  Liviushandschrift,  von 
Cosimo  de'Medici  zur  rechten  Zeit  als  Geschenk  übersandt,  soll  Alfons 
von  Aragon  König  von  Neapel  zu  einem  unvorteilhaften  Friedenschlusse 
bestimmt  haben.  Für  die  Rolle,  die  in  diesem  Zeitalter,  obwohl  es  auch 
das  der  „Redner"  war,  das  Buch  spielte,  ist  bezeichnend,  daß  eine  Fülle 
höchst  wertvoller  Nachrichten  über  die  hervorragenden  Persönlichkeiten 
uns  erhalten  sind  in  Lebensbeschreibungen,  deren  Verfasser  —  Vespasiano 
da  Bisticci  —  zu  sehr  vielen  dieser  Männer  in  unmittelbaren  Beziehungen 
gestanden  hat,  weil  er  mit  Handschriften  Handel  trieb  und  das  Abschreiben- 
lassen von  Handschriften  übernahm.  Daß  einmal  die  planmäßige  Nach- 
forschung nach  den  Überbleibseln  der  Literatur  der  Grriechen  und  Römer 
auf  die  Tagesordnung  kam,  hat  bleibenden  Gewinn  gezeitigt:  manches 
zu  Unrecht  Verschmähte  und  Vergessene  ist  von  neuem  ans  Licht  gezogen 
worden,  das  Wissen  um  die  Vergangenheit  hat  sich  auf  immer  reicher 
ausgestattet,  wenn  auch  mit  diesem  Vorrat  die  Humanisten  der  Renais- 
sance durchaus  nicht  in  allen  Fällen  das  Rechte  anzufangen  wußten.  Wie 
das  neu  erworbene  Gut  aus  der  Welt  der  Bücher  die  Geister  beschäftigte, 
lehrt  der  Ausdruck,  den  etwas  von  dieser  Wiederbelebung  in  Raffaels 
Schule  von  Athen  gefunden  hat,  deren  Gestalten  allerdings  immer  nur 
wenigen  alles  sagen  werden,  was  in  ihnen  ausgesprochen  ist.  Im  Verein 
mit  der  Kunst  erfüllte  die  populäre  Literatur  der  Volkssprachen,  die  im 
Gefolge  des  Humanismus  einherging,  Generationen  hindurch  die  Phantasie 
auch  der  Ungelehrten  mit  Vorstellungen  aus  der  griechischen  und  römi- 
schen Welt,  denen  es  an  Hoheit  und  Größe  nicht  mangelte.  Die  Bergungs- 
und Rettungsarbeit  kam  übrigens  auch  zugute  den  Werken  der  Kirchen- 
väter der  ersten  Jahrhunderte,  nicht  bloß,  weil  auch  sie  als  Meister 
der  Sprache  und  des  Stils,  sondern  zum  Teil  auch,  weil  sie  als  Muster 
für  die  Verschmelzung  von  antiker  Bildung  mit  christlicher  Frömmig- 
keit gelten. 

Ungleich  wichtiger  als  alle  materiellen  und  formalen  Änderungen, 
die  das  Buch  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  erlebt  hat,  war  für  die 
Zwecke,  denen  das  Buch  dient,  die  Neuerung  in  der  Herstellung,  die  mit 
Gutenbergs    Erfindung    des  Satzes    und   Druckes    in    beweglichen    Lettern   Anfamt»  <i<» 

-.. ,  j  -P^         _,     ,  Buchdruck». 

emgeführt  wurde.  Die  Erfindung  kam  zu  günstiger  Zeit.  Es  war  ein  un- 
abweisbares Bedürfnis  geworden,  eine  weniger  mühsame,  zeitraubende  und 
kostspielige  VervielfältigTingsart  als  die  durch  Abschreiben  zur  Anwendung 
zu  bringen.  In  den  ersten  Druckerzeugnissen  spricht  sich  deutlich  die 
Absicht  aus,  nach  dem  neuen  Verfahren  zunächst  Texte  herzustellen,  bei 
denen  auf  großen  Absatz  zu  rechnen  war:  deutsche  Verse  von  volkstüm- 
licher Haltung,  Kalender  und  was  dazu  gehört,  die  Elemente  der  lateini- 
schen Formenlehre  für  Anfänger,  die  lateinische  Bibel  mit  bewunderungs- 
würdiger Vollendung  in  herrlichen  Missaletypen  den  Handschriften  von 
sorgfältigstem  Äußern  nachgeahmt,  Ablaßbriefformulare.  Der  Ausbildung 
und  Verbreitung   der  jungen   Kunst  nachzugehen    ist   hier   nicht   die  Auf- 

34* 


c  ■>  2  Richard  Pietschmann  :  Das  Buch. 

Erst«.  Erfolgt  gäbe.  Ihr  erschloß  sich  auf  dem  Gebiete  der  Kirche,  des  Rechts,  der 
"  Buch"!  '"  Gelehrsamkeit,  auf  dem  die  universelle  Herrschaft  des  Latein  dem  Ver- 
trieb zu  Hilfe  kam,  wie  im  Bereiche  populärer  Belehrung,  Erbauung  und 
Unterhaltung  ein  ungemessenes  Arbeitsfeld.  Man  hat  ausgerechnet,  daß 
von  der  Menge  von  Drucken,  die  noch  im  15.  Jahrhundert  entstanden  sind, 
annähernd  die  Hälfte  auf  die  Bibel,  die  Theologie  und  den  Gottesdienst 
kommt.  Noch  regierte  die  Scholastik.  Mehr  als  zwanzigmal  ist  bis  1500 
das  Catholicon,  eine  im  Mönchslatein  des  13.  Jahrhunderts  abgefaßte 
grammatische  und  lexikalische  Enzyklopädie,  zum  Druck  gebracht  worden. 
Dem  ausreichend  vorhandenen  Lesetrieb  des  Publikums  konnte  nun  eine 
Nahrung  geboten  werden,  die  leicht  erreichbar  war.  Statt  des  ohnehin 
für  den  Druck  weniger  bequem  zu  handhabenden  Pergaments,  das  zwar 
schönere  Wirkungen  abgab,  kam  immer  mehr  Papier  zur  Verwertung. 
Lesenlemen  und  Lesen  wurden  wesentlich  erleichtert,  da  es  beim  Typen- 
satz ökonomisch  und  praktisch  war,  die  Buchstabenverbindungen  und  Ab- 
kürzungen, von  denen  die  Handschriften  oft  geradezu  wimmelten,  bis  auf 
eine  ganz  kleine  Auswahl  in  Fortfall  zu  bringen.  Dazu  kam,  daß  nament- 
lich nach  1462  von  Mainz  aus  die  Drucker  in  die  Ferne  wanderten,  dort 
ihre  Kunst  auszuüben,  und  daß  noch  in  demselben  Jahrhundert  neben  dem 
Buchdruck  der  Buchhandel  sich  zu  einem  selbständigen  Erwerbszweige 
entwickelte.  Auch  politische  Manifeste  begegnen  uns  bereits  in  dem 
Förderung  des  Mainzer   Bistumstreite.     Besondern  Vorteil    aber   hat    von    der    neuen  Er- 

Humanismas. 

findung  die  jugendlichste  literarische  Richtung  des  Tages  gehabt,  die 
humanistische.  Schon  1465  gab  Peter  Schöffer  Ciceros  Bücher  „von  den 
Pflichten"  heraus;  sie  fanden  so  viel  Absatz,  daß  schon  1466  eine  neue 
Auflage  notwendig  wurde.  Ganz  überwiegend  den  humanistischen  Be- 
strebungen gewidmet  war  die  Tätigkeit  der  ersten  Deutschen,  die  in 
Italien,  zunächst  in  Subiaco,  bald  darauf  in  Rom  druckten.  Bei  ihnen 
erschien  unter  anderm  die  Streitschrift  des  Kardinals  Bessarion  „wider 
die  Verleumder  Piatons".  Der  erste  Drucker  Venedigs  beginnt  mit  den 
Briefen  Ciceros;  und  mit  den  Briefen  eines  italienischen  Humanisten  fängt 
die  Reihe  der  Pariser  Drucke  an. 
DasBuchinder  Volleuds  nicht  ZU  denken  ist  die  deutsche  Reformation  ohne  die  Mit- 

Reformations-         ,  . 

zeit.  Wirkung  des  gedruckten  Worts,  ohne  die  Unternehmungslust  der  Presse, 
den  geschäftigen  Nachdruck,  die  Umsicht  der  „Buchführer".  Seit  den 
Tagen  von  151 7,  in  denen  das  Flugblatt  mit  den  95  Thesen  binnen  vier 
Wochen  nach  dem  Ausdruck  eines  der  Reformatoren  „schier  die  ganze 
Christenheit"  durcheilte,  „als  wären  die  Engel  selbst  Botenläufer",  wirkt 
Jahrzehnte  hindurch  Luthers  machtvolle  volkstümliche  Persönlichkeit  all- 
gegenwärtig in  seinen  Schriften.  Zu  ihnen  gesellen  sich  die  Erzeugnisse 
leidenschaftlichster  Parteinahme,  in  der  seine  Gegner  und  Anhänger  sich 
überbieten.  Die  Zahl  der  deutschen  Drucke  wuchs  in  dieser  Zeit  von 
Jahr  zu  Jahr  bis  ums  achtfache.  Die  4000  Exemplare  der  ersten  Auflage 
der  Schrift  „An  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation"  waren  in  wenigen 


r\".  Das  Buch  in  der  Neuzeit. 


533 


Tagen  vergriffen.  Mit  Luthers  Schriften,  vornehmlich  mit  seiner  Bibel- 
übersetzung, dem  Hauptbuche  und  lange  Zeiten  hindurch  neben  dem 
Katechismus  und  dem  Gesangbuche  oft  auch  dem  einzigen  Buche  des 
protestantischen  Hauses,  haben  die  Deutschen  eine  Schriftsprache  erhalten 
und  als  die  ihre  bewahrt 

In   ihrer  Tragweite   genommen   sind  Luthers   Schriften   etwas  Einzig-  Wirkung  des 
artiges,  sind  sie  weltgeschichtliche  Ereignisse,  mehr  Ereignisse,   als  es  je 
die  Schriften  irgend   eines   andern  Sterblichen  gewesen  sind.     Angesichts 
des   Gesamtbildes    ihres  Eindrucks   und  Erfolges   stehen  wir  wie  vor  dem 
Resultate  eines  einmaligen  Natur\*organgs  von  grundwegs  umgestaltender 
Gewalt,    für    dessen  Beurteilung    nichts  vorliegt    als    das  Unvergleichliche 
der  hervorgerufenen  Veränderung.    Vergeblich  sehen  wir  uns  nach  einem 
Gegenstück  dazu  in    der  ganzen  Literaturentwicklung   um.     Alles,  was  da 
Großes  gewirkt  hat  und  noch   bleibend  fortwirkt,    hat  andere  Wirkungs- 
art und  begrenzteres   andersartiges   Gebiet.     Wohl  hat  man  von  Voltaire 
und  von   Rousseau   gesagt,    daß    sie   mit  ihren  Schriften   die   französische 
Revolution  geschaffen  haben,  sie  nehmen  aber,  soweit  diese  Ansicht  über- 
haupt zutrifft,   zu   den  Ereignissen  keine  andere  Stellung  ein   als  die  vor- 
bereitende,   die   bei   der  Reformation   etwa    die   literarische  Tätigkeit  des 
Erasmus  hat.     Doch   wollen  wir  auch   hier,    wo   es   darauf  ankommt,    das 
Buch  nach  seinem  Kulturwert  zu  würdigen,   noch  wenigstens   einiger  der 
Werke  gedenken,  die   als   ein  Vermächtnis   der  Vergangenheit  ihre  Kraft 
fort  und   fort   bewährt   haben   und   noch   ausüben  in  der  Gegenwart.     An 
den  Elementen   des  Eukleides,    an   den  Werken   des   Aristoteles,    an   dem 
hochgesinnten  Wahrheitsstreben  Piatons  hat  immer  von  neuem  das  Denken 
sich  geschult  und  gebildet,  sie  enthalten  Grundlagen  so  bleibend,  wie  sie 
für   Erkennen    und   Sittlichkeit    nur    noch  Kants  Arbeit   wieder  geschaffen 
hat.      Enthalten    auch    die    Muqadamät   des    Ibn  Khaldun    Betrachtungen, 
die  der  Geschichtsauffassung  des  Aristoteles   nicht   unebenbürtig  sind,   so 
bleiben  sie  doch  nichts  als  ein  Denkmal  einsamer  Größe.    Erst  im  Weiter- 
geben der  Fackel   von    einem    der    dem   Ziele   Zustrebenden   zum    andern 
pflanzt   eine  Wirkung   durch    die   Zeiten    sich   fort.     Wohl  wirkt  auch  das 
eine  und  das  andere  Werk  in  seiner  Vereinzelung.     Mark  Aureis  Büchlein 
der  Einkehr  bei  sich  selbst  gehört  für  viele   zu   der  Klasse  von   Büchern, 
die  Montaigne  den  „notwendigen  Vorrat  für  die  Lebensreise"  nennt,   noch 
mehr   gilt   das   von    den   Konfessionen    des   Augustinus,  von   der  Iviitatio 
Christi  des  Thomas  a  Kempis.     Eine   unvergängliche  Sprache   aber  redet 
das  Buch  des  Dichters.     Homeros,   die  griechischen  Tragiker,    die  ganze 
dichterische  Kunst  des  Altertums  erleben  immer  neue  Auferstehung.    Wie 
die  Divina  commedia   bald    nach   Dantes  Tode    schon    die   Auslegung  be- 
schäftigte,  so  gibt  es  noch  gegenwärtig  nicht    nur  bei    uns    eine   Dante- 
gemeinde,   sondern    selbst   in    Boston   und   an    Hochschulen    Xeuenglands. 
Die  Gestalten  Shakespeares  haben  ein  Leben   für  sich,    wie   es  auch    die 
Person  des  sinnreichen  Hidalgo  Don  Quijote  noch  weiter  fortbesitzt,  nach- 


c-i,  Richard  Pietschmann:  Das  Ruch. 

dem  längst  die  Ritterbücher,  die  Cervantes  abstrafen  wollte,  nur  noch 
von  Literarhistorikern  und  Kuriositätensammlern  angesehen  werden;  eine 
eigene  Daseinskraft,  wie  sie  auch  einigen  von  den  Gebilden  spanischer 
Dramatiker  innewohnt.  Als  eine  Macht  hat  das  Buch  sich  recht  oft  er- 
wiesen, nicht  bloß,  wenn  es  das  Werk  des  Genius  war,  wie  das  von  Swifts 
unnachahmlichen  Schöpfungen,  von  den  Lettres  persanes  Montesquieus, 
auch  wohl  von  den  „Juniusbriefen"  zu  sagen  ist,  sondern  auch  nicht  selten 
ein  nichts  weniger  als  bedeutendes  Erzeugnis,  wenn  es  wie  „Onkel  Toms 
Hütte"  zu  rechter  Zeit  einer  hochgespannten  Erregung  Ausdruck  lieh.  In 
welchem  Maße  hat  Pierre  Bayles  Dictionnaire  historique  et  critique,  hat 
Diderots  Enzyklopädie  die  Anschauungen  im  großen  und  im  einzelnen 
umg-estaltet. 
Zensur.  Omnium  malorurn  antidotum,  „aller  Übel  Gegenmittel"  zu  werden,  er- 

klärt Richard  de  Bury,  dazu  habe  Gott  das  Buch  bestimmt.  Oft  ist  es 
zu  einer  scharfen  Waffe  geworden,  nicht  selten  auch  ist  es  als  eine 
Gefahr,  als  ein  Übel  erschienen.  Schon  die  römische  Kaiserzeit  kennt 
die  Unterdrückung  mißliebiger  Werke.  Eine  Beaufsichtigung  der  Ver- 
öffentlichungen wurde  zu  einer  stehenden  Einrichtung  bald  nach  Ein- 
führung der  Druckerpresse.  Am  i8.  März  1479  erhält  die  Universität 
Köln  vom  Papst  das  Recht  der  Zensur,  am  24.  März  1564  stellte  das 
Konzil  von  Trient  den  ersten  Index  verbotener  Bücher  auf.  Ganz  all- 
mählich und  erst  in  der  Neuzeit  hat  auch  ein  Recht  des  Buches  und  an 
dem  Autor-  und  Verlagsrecht  ein  wichtiger  Zweig  des  Urheberrechts  sich 
ausgebildet. 

Vermehrte  V.    Das  Buch   in  der  Gegenwart.     Schon  das  Altertum  hatte  sehr 

Bedeutung  des  .^,,_  .  t-»"i  ••  tt-it- 

Buches  in  der  mannigfache  Kategorieen  von  Buchern  gezeitigt.  Viele  Literaturgattungen 
sind  im  Mittelalter  abgestorben.  Verschiedenartiger  als  je  zuvor  wurde 
der  Inhalt  wieder  seit  dem  Buchdruck.  Die  Bücherproduktion  der  Neu- 
zeit zeigt  ein  zwiefaches  Bestreben.  Auf  der  einen  Seite  verzweigt  sie 
sich  bis  ins  Einzelne.  Immer  tiefer  aber  auch  immer  enger  werden  die 
Schachte,  in  denen  die  Einzelarbeit  vorgeht.  Aber  den  Antrieb  und  Plan 
erhält  sie  vielfach  aus  der  Kombination  der  Ergebnisse  und  der  Methoden. 
Nicht  weniger  als  durch  den  Schwärm  der  Monographieen  wird  der  Gang 
der  Entwicklung  bezeichnet  durch  zusammenfassende  Darstellungen,  durch 
Lehr-  und  Handbücher,  Nachschlagewerke,  Übersichten,  Enzyklopädieen, 
Unternehmungen,  bei  denen  Aufgaben,  die  zu  lösen  nicht  mehr  in  des 
Einzelnen  Kraft  liegt,  durch  die  vereinte  planmäßig  geleitete  Arbeit  vieler 
verwirklicht  werden  sollen.  So  ist  es  nicht  bloß  im  eigentlichen  Bereiche 
der  Wissenschaft,  sondern  weit  darüber  hinaus.  Unendliche  Füllen  von 
Stoif  werden  alljährlich  in  Zeitschriften  der  allerverschiedensten  Art  nieder- 
gelegt. Fast  unübersehbar  wird  die  Zahl  der  Veröffentlichungen  auf  dem 
Gebiete  der  Schul-  und  Jugendschriften,  auf  dem  der  technischen  und 
industriellen  Berufsarten.     Orientierend  greifen   da  in  dieses  Übermaß  die 


V.  Das  Buch  in  der  Gegenwart.  535 

kritischen  Zeitschriften  ein,  die  Fachberichte  über  das  Ergebnis  der  jähr- 
hch  herausgekommenen  Veröffentlichungen.  In  analogem  Sinne  ist  überall 
die  Bibliographie  an  der  Arbeit  In  keinem  der  Länder,  deren  Buch- 
handel in  Betracht  kommt,  fehlt  es  ganz  an  Verzeichnissen,  aus  denen  er- 
sehen werden  kann,  was  erscheint.  Daneben  stehen  die  bibliographischen 
Zusammenstellungen  über  die  Tätigkeit  auf  den  einzelnen  Gebieten,  selbst 
zum  Teil,  wie  z.  B.  der  internationale  Katalog  der  naturwissenschaftlichen 
Literatur,  Unternehmungen  größten  Umfanges. 

Seiner   höchsten   Aufgabe   wird    das  Buch    gerecht,  wenn    es    erhebt,  Das  Buch  als 

°  -ITT  1-  Kunstwerk. 

läutert,  veredelt,  wenn  es.  Schule  und  Kirche  ergänzend,  die  Weltanschauung 
des  Einzelnen  ausgestalten  und  bereichern  hilft.    Wie  von  dem  Bestreben 
aus,  den  Text  verständlicher  zu   machen,   eine   dem  würdigen  Inhalt  ent- 
sprechende würdige  Erscheinung,    eine   den  gebildeten  Kunstsinn   anspre- 
chende Ausschmückung  zu  geben,  die  Handschrift  eine  Entwicklung  nahm, 
bei  der  sie  vielfach  ganz   ins  Kunstwerk  überging,    ist    schon    dargestellt 
worden.     Die    ältesten   Drucke    sollten    nur  Nachbildung   von    Handschrift 
sein  und  wurden    anfänglich    noch    durch   Handschrift    und  vielfach    auch 
vom  Rubrikator  und  Illuminator  ergänzt.     Prachtvolle,  mit  höchster  tj^po- 
graphischer    Sorgfalt    in    Kot    und   Blau    gedruckte  Initialen    hat  Schöffer 
bereits   1457   und  1458   in   seinem  Psalter  und   Canon  missae  zur  Anwen- 
dung gebracht,  und  schon  im  Beginn  des  nächsten  Jahrzehnts  macht  Pfister 
in  Bamberg  den  ersten  Versuch,   den  Holzschnitt  für  das  deutsche  Volks- 
buch auszunutzen.     Noch  vor  Ablauf  des  Jahrhunderts  entstanden  Meister- 
werke    der    Buchillustration    wie     die    trefflichen    Darstellungen    in    der 
Lübecker    Bibel    von     1494,    Erhard    Reuwichs    Bilder    zu    Breidenbachs 
Reise,   die   reichillustrierte  Weltchronik  Hartmann  Schedels,   der  von  Jo- 
hann Grüninger  in  Straßburg  herausgegebene  Virgil,  in  Italien  Zeichnungen 
von  berückender  Schönheit  der  Komposition  und    der  Linie   in   der  Hyp- 
nerotomachia    des    Polyphilus.      Aus    dem    16.  Jahrhundert    nenne  ich  nur 
die  Illustrationen  des  Hans  Schäufelein  zum  Theuerdank,  und  als  da.s  Fein- 
fühligste und  Künstlerischste,   was  wohl  je  in   der  Ausschmückung  eines 
Buches  hervorgebracht  worden  ist,  die  Randzeichnungen  Dürers   zu   dem 
Gebetbuche  Kaiser  Maximilians.    Der  Holzschnitt  wird  im   17.  Jahrhundert 
und  vollends  im  18.  vielfach  durch  die  Radierung  ersetzt,  in  der  ja  unter 
andern  Daniel   Chodowiecki    sein    großes  Talent   betätigt.     Bei    uns   wird 
danach  der  Holzschnitt  wieder  zu  Ehren  gebracht  vornehmlich  durch  Ludwig 
Richter.     Aus    höchster    künstlerischer  Individualität   heraus    schafft    dann 
Adolf  Menzel    eine    neue    malerisch    durchgebildete  Holzschnittillustration. 
Mitten  in  einer  Bewegung,  in  angestrengten  Versuchen  zu  einer  Erneuerung 
des  gesamten  künstlerischen  Gepräges  des  Buchs  befindet  sich  die  Gegen- 
wart; bei  uns,  in  England,  in  den  Vereinigten  Staaten,  überall   ein  reger 
Wettstreit,  in  dem  noch  keine  Richtung  den  Ausschlag  gegeben  hat.    Alle 
Mittel  der  mannigfachen  graphischen  Verfahren,  alle  technischen  Vervoll- 
kommnungen werden  zuhilfe  genommen.    Sorgfältig  werden  die  Leistungen 


536 


Richard  Pietschmann:  Das  Buch. 


früherer  Jahrhunderte  zu  Rate  gezogen,  werden  alle  Formen,  die  zur  Wahl 
stehen,  selbst  die  des  fernsten  Inselvolkes  Asiens,  ausgeprobt.  Künstler 
von  großem  Können  leihen  ihre  Hand.  Immer  allgemeiner  wird  an- 
erkannt, daß  die  Aufgabe  sein  wird,  Papier,  Tj'pe,  Satz,  Inhalt,  Buch- 
schmuck, Einband,  alles  auf  einen  Eindruck  zu  stimmen,  um  als  höchstes 
Erzeugnis  der  Buchkunst  das  Buch  zu  einer  künstlerischen  Einheit  zu 
gestalten.  Das  Problem  ist  hier  dasselbe,  dem  unsere  Kunst  in  allen 
Lebensäußerungen  gegenübergestellt  ist,  das  Problem  eines  zeitgemäßen 
Stils,  einer  uns  eigensten  Kunst.  Möge  der  schöpferische  Geist  sich 
finden,  dem  der  große  Wurf  gelingt. 


Literatur. 

Die  ganze  Überfülle  von  Literatur  über  das  Buch,  namentlich  die  große  Zahl  von 
Unterhaltungsbüchem  für  Bücherfreunde  und  Bibliomanen  kann  hier  nicht  inventarisiert 
werden.  Nicht  uner%vähnt  möchte  ich  lassen:  Albert  Cim,  Le  Livre,  i.  2  (Paris,  1905); 
wird  fortgesetzt.  —  Octave  Uzanne,  Nos  amis  les  livres,  Causeries  sur  la  littdrature  an- 
cienne  et  la  librairie  (Paris,  18661.  —  Ernest  LEGOtn^,  L'Art  de  la  lecture  (Paris,  1877): 
erschien  in  19  Auflagen,  dazu  ein  Complement  (1879). —  Anton  E.  Schönbach,  Lesen  und 
Bildung,  Umschau  und  Rat,  7.  Aufl.  (Graz,  1905).  —  Gesammelte  Aufsätze:  E.  Egger, 
Histoire  du  livre  depuis  ses  origines  jusqu'ä  nos  jour,  2.  6d.  (Paris,  i88o).  —  Einen  Aufsatz 
Boois  enthält  Rau»H  Waldo  Emersons  Society  and  Solitude.  Die  Fragen  How  and 
IVhat  to  Read  und  IVhy  to  Read  behandelt  JOHN  Ruskin  in  seinem  Sesam  and  Lilies. 
Auskunft  über  alle  möglichen  Stoflfe,  auf  denen  je  geschrieben  worden  ist,  gibt  das  Buch 
von  G.  F.  Weihrs,  Vom  Papier  (Halle,  1779);  nebst  Supplementen  (1790). 

Schrift  und  Buchwesen  des  Altertums:  Jacobi  Martorellii,  de  regia  theca 
calamaria.  I  (Neapoli,  1756).  —  S.  C.  G.  Schwarz,  de  omamentis  librorum  et  varia  rei  librariae 
veterum  suppeUectile  (Leipzig,  1756).  —  H.  Geraijd,  Essai  sur  les  livres  dans  l'antiquitö,  parti- 
culierement  chez  les  Romains  (Paris,  1840).  —  Th.  Birt,  Das  antike  Buchwesen  in  seinem 
Verhältnis  zur  Literatur  (Berlin,  1882).  —  K.  DziATZKO,  L'ntersuchungen  über  ausgewählte 
Kapitel  des  antiken  Buchwesens  (Leipzig,  1900);  dazu:  Th.  Birt,  Zur  Geschichte  des  antiken 
Buchwesens  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen,  Bd.  17  (Leipzig,  1900),  S.  545  —  565.  — 
Ges.  Paou,  Del  papiro,  specialmente  considerato  come  materia  che  ha  servito  alla  scrittura, 
in  den  Pubblicazioni  del  R.  Istituto  di  Studi  superiori  in  Firenze,  Sezione  di  filosofia  e  di 
filologia  1878.  In  derselben  Serie  erschien  von  Paoli  auch  das  Programm:  Materie  scrit- 
torie  e  librarie  (Florenz,   1894):    deutsch  von  K.  Loh.meyer  (Innsbruck,   1895). 

Als  dem  Leser  bekannt  vorausgesetzt  und  daher  nicht  wiederholt  habe  ich,  was 
Ulrich  von  Wilamowitz  in  der  Abteilung  VIII  des  I.  Teiles  der  „Kultur  der  Gegenwart" 
über  Buchwesen  mitteilt.  —  Weitere  Literatur  ist  in  dem  Aufsatze  „Buch"  von  Dziatzko  in 
der  Realenzyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft  von  Pauly -Wissowa  aufgezählt. 

Schrift  und  Buchwesen  des  Mittelalters:  W.  Wattenbach,  Das  Schriftwesen 
im  Mittelalter,  3.  Aufl.  (Leipzig,  1896).  Die  beste  Ausgabe  des  Philobiblon  des  Richard 
de  Bury  ist  die  von  Ernest  C.  Tho.mas  (London,  1888),  die  eleganteste  die  des  Grolier  Club 
(New- York,   1888). 

Handschriften  des  Mittelalters  und  der  Renaissancezeit:  Die  schönste  Ver- 
öffentlichung auf  diesem  Gebiete,  aber  sehr  selten  und  vollständig  nur  in  dem  Exemplar  der 
NationalBibliothek  zu  Paris,  ist  das  Werk  des  Comte  Auguste  de  Bastard  D'Estang,  Peintures 
et  Omcments  des  Manuscrits  (Paris,  1832 — 69:. —  Einen  Begriff  von  dem  Eindruck,  den  die 
Originale  machen,  geben  auch  die  Abbildungen  in  der  Paleographie  universelle  von  J.  B.  SiL- 
vestre  (Paris,  1841);  femer  J.  O.  Westwood,  FacSimiles  of  Miniatures  und  Ornaments  of 
AngloSaxon-  and  Irish-Manuscripts  'London,  1868);  und  George  F.  Warner,  Illuminated 
Manuscripts  in  the  British  Museum,  4  Bde.  (London,  [1899 — ]i903);  auch  die  VeröfTent- 
lichungen   von  Montecassino  CPaleografia ,   1882.     Le  Miniature  nei  codici   Cassinesi  [1887]). 

Vortreffliche  Veröffentlichungen  sind  auch  die  Werke:  F"ac-similcs  des  miniatures  des 
plus  anciens  manuscrits  grecs   de   la  Bibliotheque  nationale  publ.  p.  Henry  O.MONT  (Paris, 


538 


RicHAKD  Pietschmann:   Das  Buch. 


1902).  —  L601'.  Uelisle,  Notice  de  douze  livres  royaux  (Paris,  1902).  —  Beschreibendes 
Verzeichnis  der  Illuminierten  Handschriften  in  Österreich,  herausgeg.  von  F.  Wickhoff 
(Leipzig,  1905);  bis  jetzt  2  Bde.  —  F.  Carta,  C.  Cipolla  e  C.  Frati,  Monumenta  Palaeo- 
graphica  Sacra,  Atlantc  paleografico-artistico  (Torino,  1899).  —  Stephan  Beissel,  Vatica- 
nische  Miniaturen  (Freiburg  i.  Br.,  1893).  —  Seit  1897  erscheinen  die  beiden  Serien:  Codices 
graeci  et  latini  photographice  depicti  dir.  Gull.  Nie.  Du  Rieu  (Leiden)  und  Codices  e  Vati- 
canis  selecti  photographice  expressi  consilio  et  opera  Curatorii  Bibliothecae  Vaticanae.  — 
Hauptsächlich  aus  der  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München  entnommen  ist  das  Werk  von 
Luise  V.  Kobell,  Kunstvolle  Miniaturen  des  4.  bis  16.  Jahrhunderts  (München,  1890).  Ein 
Verzeichnis  der  im  Handel  vorrätigen  Photographieen  aus  Handschriften  dieser  Bibliothek 
steht  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen,  Bd.  19,  S.  229 — 248. 

Zu  erwähnen  sind  femer:  W.  G.  Searle,  The  lUuminated  Manuscripts  in  the  Library 
of  the  Fitzwilliam  Museum  (Cambridge,  1876).  —  Walter  de  Gray  Birch,  Early 
Drawings  and  Illuminations,  An  Introduction  to  the  Study  of  Illustrated  Manuscripts;  with 
A  Dictionary  of  subjects  in  the  British  Museum  (London,  1879).  —  J.  W.  Bradley,  A 
Dictionary  of  Miniaturists,  3  Bde.  (London,  1887—89).  —  Henri  Bordier,  Description  des 
peintures  et  autres  Ornaments  contenus  dans  les  manuscrits  grecs  de  la  Bibliotheque  natio- 
nale (Paris,  1883).  —  Karl  Lamprecht,  Initial-Ornamentik  des  VIII.  bis  XIII.  Jahrhunderts 
(Leipzig,  1882). 

Zusammenfassende  Darstellungen:  A.  Lecov  de  la  Marche,  Les  Manuscrits  et  la 
miniature  (Paris,  1884).  —  J.  Henry  Middleton,  lUuminated  Manuscripts  inclassical  and 
mediaeval  times,  their  art  and  their  technique  (Cambridge,  1892).  —  Molinier,  Les  Manu- 
scrits et  les  miniatures  (Paris,  1892).  —  Alphonse  Labitte,  Les  Manuscrits  et  l'art  de  les 
omer  (Paris,  1893).  —  Malan  Falconer,  Books  in  Manuscript  (London,  1893).  —  John 
W.  Bradley,  lUuminated  Manuscripts  (London,    1905). 

Eine  vortreffliche  Übersicht  über  die|lHandschrifteii-Nachbildungen  gewährt  das  Ver- 
zeichnis der  National-Bibliothek  zu  Paris,  das  H.  Omont  im  13.  Jahrgange  der  Revue  des 
bibliothfeques  (1903)  herausgegeben  hat. 

Buchdruckerkunst;  J.  Christ.  Freyherr  v.  Aretin,  Über  die  frühesten  universal- 
historischen Folgen  der  Buchdruckerkunst  (München,  1808).  —  Zusammenfassende  geschicht- 
liche DarsteUungen  gaben;  KARL  Falkenstein,  Geschichte  der  Buchdruckerkunst  (Leipzig, 
1840);  und  Paul  Dupont,  Histoire  de  I'imprimerie,  2  Bde.  (Paris,  1854).  Dem  heutigen 
Bedürfnisse  genügen  beide  nicht  mehr  ganz. 

Buchillustration  und  Buchschmuck;  Walter  Crane,  On  the  decorative  iUustration 
of  books  old  and  new  (London,  New- York,  1896).  —  Alfred  Pollard,  Early  lUustrated  Books 
(London,  1893). —  RUDOLF  K.\UTZSCH,  Die  deutsche  Illustration  (Leipzig,  1904). —  RICHARD 
Muther,  Die  deutsche  Bücherillustration  der  Gothik  und  Frührenaissance  (1460 — 1530), 
Bd.  I — 2  (München — Leipzig,  1884).  —  Leo  Baer,  Die  illustrierten  Historienbücher  des 
15.  Jahrhunderts  (Straßburg,  1903).  —  Albrecht  Dürers  Randzeichnungen  aus  dem  Gebet- 
buche Kaiser  MaximiUans  (München,  1850).  —  Das  Diurnale  oder  Gebetbuch  Kaiser  Maxi- 
milian I.  Von  Ed.  Chmelarz,  im:  Jahrbuch  der  Kunsthistorischen  Sammlungen  des  Aller- 
höchsten Kaiserhauses,  Bd.  3  (Wien,  1885).  —  Otto  GrautOFF,  Die  Entwicklung  der  modernen 
Buchkunst  in  Deutschland  (Leipzig,  1901).  —  Die  neue  Buchkunst,  Studien  im  In-  und  Aus- 
land, herausgegeben   von  Rudolf  Kautzsch  (Weimar,  Gesellschaft  der  Bibliophilen,   1902). 

Buchhandel;  AlbrECHT  Kirchhoff,  Beiträge  zur  Geschichte  des  deutschen  Buch- 
handels, I.  2.  (Leipzig,  1851  —  53).  —  Friedrich  Kapp,  Geschichte  des  deutschen  Buch- 
handels, Bd.  I.  2  (Leipzig,  1886).  —  Henri  BaillI^RE,  La  Crise  du,  livre  (Paris,  1904).  — 
Karl  Bücher,  Der  deutsche  Buchhandel  und  die  deutsche  Wissenschaft,  3.  Aufl.  (Leipzig, 
1904). 


DIE  BIBLIOTHEKEN. 

Von 
Fritz  Milkau. 


I.  Was  die  Bibliotheken  sind.  Die  Stellung-  der  Bibliotheken 
in  der  Reihe  der  Kulturfaktoren  wird  bestimmt  durch  das  Maß  ihrer 
Leistungen  für  die  Sammlung,  Erhaltung  und  Nutzbarmachung  der  schrift- 
lich niedergelegten  Erzeugnisse  des  menschlichen  Geistes. 

Die  Bedeutuncr  der  schriftlichen  Überlieferung   als  Kulturmittels  läßt  BedcutunE  der 

*  ...  .  schriftlichen 

sich   ereschichtlich  so  wenisj  entwickeln  wie  die  der  Sprache,    indem    alle   Überlieferung 

°  *  ^  für  die  Kultur. 

Kulturen,  welche  selbständig  zu  völliger  Durchbildung  gelangt  smd,  die 
Kulturen  Ägj'ptens,  Babyloniens  und  Chinas,  der  historischen  Forschung 
sofort  ganz  und  fertig  und  in  festem  Besitze  der  Schrift  entgegentreten. 
Für  einen  Zweifel  an  ihrer  Größe  bleibt  darum  kein  Raum.  Wir  ver- 
stehen das  Wort,  mit  dem  Plinius  die  Umständlichkeit  seiner  Darstellung 
der  Papyrusbereitung  begründet:  „Cum  chartae  usu  maxime  humanitas 
vitae  constet",  d.  h.  weil  die  schriftliche  Überlieferung  es  ist,  auf  der  vor- 
nehmlich die  Kultur  beruht. 

Ist  die  lebendige  Rede  verhallt,  so  bleibt  dem  Hörer  nur  die  Erinne- 
rung; jedem  eine  andere,  nach  seines  Geistes  Kraft  und  Richtung.  Und 
wird  sie  weitergegeben  von  Mund  zu  Mund,  wie  bald  wird  ihre  Klarheit 
getrübt,  ihre  Prägring  verwischt!  Xoch  haben  die  Lippen,  denen  sie  ent- 
strömte, sich  kaum  geschlossen,  und  Entstellung  oder  Vergessenheit  ist 
ihr  Los.  Unwandelbar  aber  und  unvergänglich  ist  das  geschriebene  Wort; 
äußerlich  starr  und  tot,  und  doch  lebenskräftiger  als  alles,  was  atmet. 
Die  Stürme  von  Jahrhunderten  und  Jahrtausenden  gehen  darüber  hin, 
und  es  spricht  zu  uns,  wo  immer  wir  es  vernehmen  wollen,  so  frisch, 
so  unmittelbar,  als  wäre  es  eben  erst  geboren.  So  hat  die  Schrift  die 
engen  Schranken  niedergelegt,  in  die  die  Körperlichkeit  des  Menschen 
gebannt  ist;  sie  hat  die  Macht  der  Zeit  gebrochen,  den  Raum  besiegt. 
Ihr  danken  wir  es,  wenn  aus  längst  versunkenen  Zeiten  dem  forschenden 
Blick  sich  klare,  lebensvolle  Bilder  entrollen,  wo  die  Augenzeugen,  von 
der  Erscheinung  geblendet  und  von  der  Unrast  des  eigenen  Herzens  ver- 
wirrt,  nur  beschränkte  Ausschnitte   in  irreführender  Beleuchtung  vor  sich 


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Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 


sahen;  wenn  Gedanken,  mit  denen  ihrer  Zeit  vorausg'eeilte  Geister  in 
schwerer  Vereinsamung  blieben,  von  uns  erfaßt  und  dankbar  genützt 
werden.  Jahrtausende  hat  sie  zu  unsern  Lehrmeistern  gemacht.  Ge- 
schlechter um  Geschlechter  zerfallen  zu  Staub,  und  mit  ihnen  ihrer  Hände 
Werk.  Unvergänglich  aber  ist  die  köstlichste  Frucht  ihres  Lebens:  ihre 
Mehrung  des  überkommenen  Reichs  der  Ideen.  Und  hierin,  in  der  Er- 
haltung der  Errungenschaften  des  Geistes  von  Generation  zu  Generation, 
wie  erst  die  Schrift  sie  ermöglicht  hat,  liegen  die  stärksten  Wurzeln 
unserer  Kraft.  Hierin  beruht  der  Reichtum  unseres  Lebens,  hierauf  unsere 
Hoffnung  für  die  Zukunft. 

Denn    wie    wir    der    Arbeit    derer,    die    vor    uns    waren,    alles    Licht 
schulden,  das  um  uns  ist,  und  alle  Billigkeit,  die  in  uns  wohnt,  so  gibt  es 
keine   Steigerung    der    erreichten  Höhe    ohne   Anknüpfung   an   die   Über- 
lieferung.    Wohl    erkennen    wir    immer    deutlicher,    in    wie    hohem    Grade 
wir  für  allen  geistigen  Fortschritt  unseren  Großen  verpflichtet  sind.    Aber 
wir    wissen    auch,    daß    die    Entwicklung    unserer    Erkenntnis    so    wenig 
Sprünge  macht  wie  die  Natur.     Auch  für  jene  großen  Entdeckungen,  die 
auf  den   ersten  Blick  jedes  Zusammenhanges  mit  der  Vergangenheit  ent- 
behren  und    die   Mitstrebenden    mit    der  Plötzlichkeit    des  Blitzes  treffen, 
gilt  das  Goethesche  Wort,  daß  das  Erfinden  der  Abschluß  des  Gesuchten 
sei.    Und  die  Voraussetzung  alles  Suchens  ist  die  Kenntnis  des  Errungenen. 
Nur   dem,   der  das  Ererbte    erworben   hat,   kann   die  Mehrung   des  Erbes 
gelingen.     Die  Überlieferung  ist  der  Riese,  zu  dessen  Höhe  emporwachsen 
muß,    wer  weiter  zu  sehen  strebt  als  sie;  emporwachsen,  indem  er  für  sich 
die   Entwicklung   wiederholt,    zu    der    der  Riese  Jahrhunderte    und   Jahr- 
hunderte gebraucht    hat.     Wer  sich  damit  begnügt,  die  gewonnenen  Er- 
kenntnisse   einzusammeln,    wird    ein  wissenschaftlicher  Handwerker,  nicht 
mehr.     Aus  dem  eingefahrenen  Geleise  findet  er  nicht  heraus.    Er  gleicht 
nach    dem  schönen  Bilde  Harnacks   dem  Gärtner,    der  seinen   Garten  mit 
abgeschnittenen   Blumen    bepflanzt.      Daher    bleibt   jede    Arbeit,    die    aus 
wahrem,    tiefem   Ernst    geboren    ist,    in    der    eine   Individualität   sich   zum 
Ausdruck  gebracht,  etwas  von  ihrem  Herzblut  zurückgelassen  hat,  für  die 
Forschung  unentbehrlich,  mögen  die  Ergebnisse  auch  längst  überholt  oder 
zurückgewiesen  sein.     Und  so   wenig  Regesten  die  Urkunden  überflüssig 
machen,  so  wenig  können  Zusammenfassungen  der  Resultate  jene  Arbeiten 
ersetzen.     Wir  sehen  es  täglich,  wie  leicht  überliefertes  Wissen  sich  trübt, 
wie  gern  es  dogmenhaft  erstarrt,  wie  oft  es  als  dürres  Gestrüpp  das  Auf- 
sprießen   neuer   Erkenntnis    zurückhält.     Immer    wieder    ist    es   daher   not- 
wendig,   zu   den  Quellen   zurückzukehren,    in  denen  das  Gewonnene  sich 
noch    als  Erlebnis    darstellt,  nicht  als  starre  Tatsache.     Sie    sind    es,    die 
das   befreiende  und  befruchtende  Bewußtsein  des  „geschichtlichen  Werdens 
der    großen    geistigen    Wahrheiten"    erzwingen.      Sie    allein    bilden    und 
fördern.     Sie    allein    geben    den    sicheren   Boden    unter    die   Füße,   liefern 
den    rechten  Maßstab,   das   eigne   Ziel  zu    stecken,    den   eignen  Erfolg  zu 


I.  Was  die  Bibliotheken  sind.  54 1 

messen.  Sie  allein  lehren  jene  Bescheidenheit,  jene  Achtung-  vor  den 
Problemen,  die  seit  jeher  für  eines  der  vornehmsten  Kennzeichen  und  Er- 
fordernisse wahrer  Wissenschaftlichkeit  gilt. 

Wenn  so  die  Überlieferung  alle  menschliche  Erkenntnis  sichert  und 
ihre  Verbreitung  und  Mehrung  gewährleistet:  wer  wollte  sie  darum  geringer 
achten,  daß  sie  es  andererseits  ist,  die  dem  Irrtum  zu  einem  sonst  un- 
begreiflich zähen  Leben  verhilft,  die  das  geistige  Wachstum  ganzer 
Generationen,  welche  kraftlos  sich  von  ihr  beherrschen  lassen  statt  sie 
zu  beherrschen,  unterdrückt?  Büßt  sie  darum  an  ihrer  Bedeutung  ein, 
daß  sie  auch  minder  lautere  Zuflüsse  aufnimmt  und  neben  dem  Echten 
das  innerlich  Unwahre  eine  Zeitlang  fortträgt,  bevor  sie  es  sinken  läßt? 
Tut  es  ihrer  Wichtigkeit  Abbruch,  daß  sie  der  Kraft  und  Wirksamkeit 
der  lebendigen  Rede  entbehrt?  Wenn  Goethe  erzählt,  seine  Freunde 
behaupteten,  was  er  spreche  sei  besser,  als  was  er  schreibe,  so  gilt  das 
keineswegs  von  ihm  allein.  Jeder  erfährt  es  an  sich,  wie  selten  dem 
Gedanken  die  Sprache  restlos  sich  fügt  und  wie  schwer  trotz  alles 
Ringens  bei  der  Festlegung  durch  die  Schrift  ein  weiterer  Verlust  an 
Klarheit,  Frische,  Unbefangenheit  vermieden  wird.  Wer  aber  möchte 
darum  ein  Wort  der  Überlieferung  missen?  Der  Mensch  sei  besser  als 
der  Dichter,  so  wurde  weiter  über  Goethe  geurteilt,  und  das,  was  er 
lebe,  besser  als  was  er  dichte.  Daß  wir  aber  imstande  sind,  dies  Urteil 
zu  unserm  eigenen  zu  machen  und  uns  an  seinem  Leben  als  an  dem 
köstlichsten  seiner  Werke  aufzuerbauen,  auch  das  verdanken  wir  der 
Überlieferung,  die  uns  in  den  zahllosen  Berichten  der  Zeitgenossen  die 
tausend  Züge  aufbewahrt  hat,  aus  denen  wir  das  strahlende  Bild  zu- 
sammenfügen. Und  nirgends  vielleicht  stehen  wir  stärker  unter  dem  E  in- 
druck  eines  schweren  Verlustes,  als  wo  wir  Persönlichkeit  und  Lebens- 
führung eines  der  großen  Befreier  und  Wohltäter  der  Menschheit  in  hoff- 
nungsloses Dunkel  gehüllt  finden.  Was  könnten  Plato  und  Aristoteles 
uns  sein,  was  Shakespeare  oder  Cervantes!  Ersetzen  kann  freilich  die 
Überlieferung  den  Menschen  nicht.  Soweit  ihn  aber  etwas  ersetzen  kann, 
ist  es  allein  sie.  Als  der  Geist  der  antiken  Welt,  nach  jahrhundertelangem 
Schlummer  zu  neuer  Blüte  erwachend,  das  Abendland  von  dem  Phantasie- 
leben des  Mittelalters  befreite,  da  war  es  nicht  die  gewaltige  Sprache  der 
Bauten,  die  dies  Wunder  vollbrachte,  nicht  die  leuchtenden  Marmorbilde  r, 
sondern  die  aus  dem  Staube  der  Vergessenheit  hervorgezogenen  Bücher. 
Alle  geistigen  Kräfte  des  Menschen,  sie  sind  lebendig  und  bleiben  wirk- 
sam im  Buche.  Wie  wäre  es  sonst  zu  erklären,  daß  ihm,  solange  es 
existiert,  Liebe  und  Haß  zuteil  geworden  sind  wie  nur  dem  Menschen 
selbst?  Nur  die  Geschichte  des  Buches  weiß  wie  die  des  Menschen  von 
Verfolgung  und  Verbannung,  von  Schandpfahl  und  Scheiterhaufen  zu  be- 
richten. Aber  auch  nur  sie  von  tiefer,  herzlicher,  ehrfürchtiger  Liebe. 
Und  gern  wird  man  eine  Bedeutung  darin  sehen,  daß  im  allerersten  An- 
fang dieser  wechselvollen  Geschichte  ein  Wort  der  Liebe  steht:  „Man  soll 


C42  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

es  bei  sich  tragen  und  man  soll  es  lesen,  gleichwie  es  geschrieben  steht. 
Besser  ist  es  für  die  Seele  des  Menschen  als  alles  andere,  was  im  ganzen 
Lande  ist."  So  klingt  es  durch  fünf  Jahrtausende  zu  uns  herab  von  dem 
Weisheitsbuche  Kagemn'es,  das  uns  der  Papyrus  Prisse,  „das  älteste  Buch 
der  Welt",  aufbewahrt  hat. 
Bedeutung  der  DicsB  Bedeutuug    der   schriftlichen   Überlieferung    für    die    Stetigkeit 

di<."krLuanr  dcr  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  muß  man  vor  Augen  haben, 
de? schriftlichen  um  für  die  Beurteilung  der  Bibliotheken,  zunächst  als  bloßer  Erhaltungs- 
ericerung.  ^j^gj^j^gj^^  jjgj^  richtigen  Standpunkt  zu  gewinnen.  Denn  dem  stolzen 
Spruche  Hrabans  „Grammata  sola  carent  fato  mortemque  rrpellunt" 
kommt  nur  eine  bedingte  Geltung  zu,  selbst  nachdem  Gutenbergs  Kunst 
den  Einfluß  zerstörender  Gewalten  auf  die  Erhaltung  des  geschriebenen 
Wortes  so  stark  beschränkt  hat.  Und  nicht  die  Vergänglichkeit  des 
Stoffes  allein  ist  es,  die  seinem  Leben  so  oft  verhängnisvoll  geworden  ist. 
Wenn  die  Verbrennung  der  Schriften  des  Sophisten  Protagoras  auf  dem 
Marktplatze  von  Athen  im  Jahre  411  das  älteste  Beispiel  i.st,  das  uns  für 
die  planmäßige  Vernichtung  von  Büchern  überliefert  wird,  so  ist  damit 
nicht  gesagt,  daß  dies  überhaupt  die  erste  derartige  Exekution  gewesen 
sei.  Von  Nachahmungen  dieses  Beispiels  aber,  auch  in  größerem  und 
größtem  Stil,  zieht  sich  eine  kaum  unterbrochene  Kette  bis  in  unsere 
Tage  hinein.  So  haben  religiöse  Unduldsamkeit  und  politische  Beschränkt- 
heit, Machthaberwillkür  und  der  Haß  des  Barbaren  gegen  die  überlegene 
Bildung  sich  zu  den  allem  Menschenwerk  feindlichen  Wirkungen  der  Zeit 
gesellt,  um  den  Schatz  des  schriftlichen  Vermächtnisses  zu  verringern. 
Nicht  immer  war  man  dabei  so  gründlich  wie  Leo  der  Isaurier,  von  dem 
eine  allerdings  schlecht  verbürgte  Nachricht  meldet,  er  habe  die  ganze 
Kaiserliche  Bibliothek  in  Konstantinopel  samt  ihren  zwölf  gelehrten  Vor- 
stehern den  Flammen  überliefert.  Aber  darum  ist  der  Erfolg  doch  traurig 
genug.  Kaum  übersehbar  sind  die  Verluste,  die  wir  beklagen.  Sie 
wären  unermeßlich  größer  ohne  die  Bibliotheken. 

Nicht  als  ob  das  Buch  allen  Stürmen  entzogen  wäre,  sobald  es  hier 
seinen  Platz  gefunden.  Nur  in  Trümmern  ist  die  antike  Literatur  auf  uns 
gekommen,  trotz  aller  Bibliotheken  der  alten  Welt  mit  ihrem  so  oft  an- 
gestaunten Reichtum.  Hat  es  doch  auch  die  Schriften  des  Tacitus  vor 
diesem  Schicksal  nicht  bewahren  können,  daß  der  Kaiserliche  Namens- 
vetter sie  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  ihre  Dauer  für  alle  Zeiten  zu 
sichern,  von  Staats  wegen  in  allen  Bibliotheken  und  Archiven  des  Reichs 
aufstellen  ließ.  Und  wie  vieles  uns  von  den  Schätzen  verloren  ist,  die 
noch  die  mittelalterhchen  Bibliotheken  wohlbehütet  in  ihre  Mauern 
schlössen,  darüber  sind  wir  durch  Zeugnisse  aller  Art  gut  genug  unter- 
richtet. Wo  ist  die  einst  vielbewunderte  Klosterbibliothek  von  Fulda, 
von  der  schon  ihr  Schöpfer,  derselbe  Hraban,  mit  demselben  Stolze 
rühmen  konnte,  daß  sie  alles  berge,  was  Gott  von  der  Feste  des  Himmels 
in  heiligen  Worten  verkündet  und  was  die  Weisheit  der  Welt  im  Wechsel 


I.  Was  die  Bibliotheken  sind.  543 

der  Zeiten  hervorg-ebracht?  Die  wenigen  Stücke,  welche  mühselige  ge- 
lehrte Arbeit  als  dorther  stammend  in  fremdem  Besitz  bisher  hat  nach- 
weisen können,  geben  kaum  noch  eine  Vorstellung  von  dem  alten  Glanz. 
Und  dieses  Schicksal  ist  eher  die  Regel  als  eine  Ausnahme.  Waren  es 
nicht  Flammen,  Plünderung,  Bilderstürmerei,  so  waren  es  Sorglosigkeit 
und  Unwissenheit  der  Hüter,  die  die  Bestände  dezimierten  und  so  manches 
wertvolle  Stück  der  Überlieferung  dem  Untergang  preisgaben. 

Und  doch  sind  es  zuletzt  die  Bibliotheken,  denen  wir  es  zu  danken 
haben,  daß  so  viel  erhalten  ist.  Schon  dadurch,  daß  sie  in  ihrer  Existenz 
unabhängig  sind  von  Leben  und  Tod,  entrücken  sie  das  Buch,  dem  sie 
Unterkunft  gewährt  haben,  tausend  Gefahren.  Laune,  Wechsel  der  Nei- 
gnng  und  Änderung  der  Wertschätzung,  Überdruß  am  Besitz  und  was 
weiter  ihm  gefährlich  werden  kann,  solange  der  Einzelne  darüber  verfügt, 
das  alles  ist  hier  ausgeschaltet.  Hier  kann  es  in  Ruhe  abwarten,  bis 
seine  Zeit  gekommen  ist.  Hier  ist  es  im  Hafen;  nicht  vor  allen  Stürmen 
geborgen,  aber  doch  im  Hafen.  Und  je  mehr  ihrer  beisammen  sind, 
desto  stärker  wird  nach  geheimnisvollem  Gesetz  die  Anziehung,  die  sie 
auf  ihresgleichen  ausüben.  Und  desto  größer  zugleich  wird  ihre  Kraft, 
die  Zeiten  zu  überdauern.  Es  ist  fast  wie  mit  den  einzelnen  Ruten  und 
dem  Rutenbündel.  Auch  hier  g^lt  es:  Vereinte  Kraft  macht  stark.  Wie- 
viele von  den  zwanzigtausend  Tontafeln  aus  Kujundschik,  denen  wir  das 
Beste  unseres  Wissens  von  der  babylonisch  -  assyrischen  Geschichte  und 
Literatur  danken,  hätten  sich  durch  die  Jahrtausende  auf  uns  behauptet, 
hätte  sie  nicht  Aschurbanipal  in  seine  Bibliothek  vereinigt?  Die  Biblio- 
theken der  alten  Welt  haben  es  nicht  verhindern  können,  daß  die  zahl- 
losen Papyrusrollen,  die  ihre  Gestelle  füllten,  spurlos  zerstoben  sind. 
Wem  anders  aber  als  ihnen  sind  wir  dafür  verpflichtet,  daß  im  Beginn 
des  Mittelalters  bei  jener  großen  Umwälzung,  da  der  Kodex  an  die 
Stelle  der  Rolle  trat,  noch  so  viel  durch  Übertragung  von  dem  vergäng- 
lichen Papyrus  auf  das  zähe  Pergament  gerettet  werden  konnte?  Weder 
der  Friede  der  Mauern,  noch  die  eisernen  Ketten,  mit  denen  man  die 
Bücher  festschloß,  haben  die  Klosterbibliotheken  vor  schweren  Verlusten 
geschützt.  Was  wir  aber  von  der  klassischen  Literatur  und  von  den  un- 
schätzbaren ältesten  Zeugnissen  literarischer  Tätigkeit  der  auf  dem  Boden 
des  Römischen  Reichs  erwachsenen  Nationen  besitzen  und  was  heute 
den  wertvollsten  Bestand  und  den  eigentlichen  Ruhm  unserer  großen  Biblio- 
theken ausmacht,  dessen  Erhaltung  schulden  wir  wesentlich  ihrer  Hut. 
Gewiß  hat  die  Erfindung  des  Buchdrucks  diese  Bedeutung  der  Biblio- 
theken stark  in  den  Hintergrund  gedrängt,  und  niemand  zweifelt  daran, 
daß  jene  Schöpfungen,  die  den  Reiz  und  die  Kraft  ewiger  Jugend  in 
sich  tragen,  seitdem  ihren  Weg  durch  die  Jahrhunderte  auch  ohne  die 
Bibliotheken  gefunden  hätten  und  finden  werden.  Wenn  wir  aber  mit 
einigem  Recht  sagen  können,  daß  uns  seitdem  von  den  wirklich  lebens- 
würdigen  Büchern    nur    verschwindend   wenig   verloren    gegangen   ist,   so 


r,A  Fritz  JTilkau:  Die  Bibliotheken. 

danken  wir  auch  dies  den  Bibliotheken,  die  immer  weitherzig  auch  dem 
seinen  Platz  gegönnt  haben,  wovon  die  Meinung  des  Tages  wie  von  etwas 
Überlebtem  sich  abgekehrt  hatte.  Nicht  deutlicher  aber  läßt  sich  dies 
Verdienst  zur  Anschauung  bringen  als  negativ  durch  den  Hinweis  auf  die 
Tatsache,  daß  wir,  seitdem  die  Kunst  Gutenbergs  in  Übung  ist,  nirgends 
größere  Verluste  festzustellen  haben  als  bei  jenen  für  das  Bedürfnis  des 
Tages  berechneten  und  in  Massen  verbreiteten  Erzeugnissen,  die  wir  heute 
mit  Gold  aufwiegen,  den  Kalendern  und  Fibeln,  den  wahrhaftigen  Historien 
und  den  neuen  Zeitungen,  den  neuen  schönen  Liedern  usw.,  d.  h.  also  bei 
der  Literatur,  die  die  Bibliotheken  erst  sehr  spät  als  Literatur  erkennen 
und  behandeln  gelernt  haben. 

So  sind  die  Bibliotheken,  um  mit  Leibniz,  dem  größten  unter  den 
großen  Bibliothekaren  zu  reden,  die  „Schatzkammern  aller  Reichtümer  des 
menschlichen  Geistes".  Nicht  Schatzkammern,  die  ihre  Pforten  ängstlich 
verschließen,  um  gierige  Hände  fernzuhalten,  sondern  Schatzkammern, 
die  darauf  angelegt  sind,  ihre  Schätze  freigibig  mitzuteilen,  weil  sie  um 
so  reicher  werden,  je  mehr  aus  ihnen  geschöpft  wird.  Wo  sie  unter  ver- 
ständnisvoller Pflege  emporwachsen,  da  glüht  ein  still  brennendes  Feuer 
auf,  an  dem  die  Berufenen  ihre  Fackel  entzünden,  um  das  Licht  in  die 
Dunkelheit  zu  tragen.  Die  ersten  Ptolemäer  vereinigen  in  Alexandria 
alle  Bücher,  deren  sie  auf  alle  Weise  habhaft  werden  können,  und  ihre 
Schöpfung  wird  der  Mittelpunkt  großartiger  wissenschaftlicher  Bestre- 
bungen, wird  der  Ausgangspunkt  eines  blühenden,  die  ganze  bewohnte 
Erde  in  seinen  Kreis  ziehenden  Buchhandels,  wird  die  kräftige  Stütze  der 
Herrschaft  des  griechischen  Geistes.  Aus  Orient  und  Okzident  lassen 
Cosimo  und  die  Seinen  durch  Freunde  und  Geschäftsträger  zusammen- 
bringen, was  um  Goldgulden  und  Gefälligkeiten  von  Büchern  zu  erlangen 
ist;  in  bürgerlichem  Gemeinsinn  und  mit  fürstlicher  Munifizenz  stellen  sie 
die  kostbare  Nahrung  der  unter  einer  neuen  Sonne  aufkeimenden  freien 
Wissenschaft  zu  freier  Benutzung,  und  jetzt  erst  wird  Florenz  in  vollem 
Sinne  das  neue  Rom,  dessen  Geist  Italien  und  durch  Italien  den  Erdkreis 
erobert.  Im  Schatten  der  neuen  Ruprechtsuniversität  ersteht  unter  den 
sorgenden  Händen  der  pfälzischen  Kurfürsten  die  Palatina,  die  „Mutter 
aller  Bibliotheken  in  Teutschland";  der  ihr  später  so  verhängnisvoll  ge- 
wordene Ruhm  des  optimtts  Germaniae  literatae  Thesaurus  zieht  von  allen 
Seiten  erleuchtete  Geister  an,  und  Heidelberg  wird  einer  der  Hauptsitze 
wissenschaftlicher  Bildung  in  Europa.  Für  die  Bibliothek  des  altberühmten 
Benediktinerklosters  Saint-Germain-des-Pr^s  in  Paris  beginnt  um  die  Mitte 
des  17.  Jahrhunderts,  wo  sie  ein  neues  Haus  bezieht,  ein  neues  Leben: 
von  Bibliothekaren  wie  Dom  Luc  d'Achery,  dem  Vater  der  gelehrten 
Studien  in  der  Kongregation  vom  heihgen  Maurus,  mit  glühendem  Eifer 
ergänzt  und  glänzend  verwaltet,  wächst  sie  mit  einer  für  jene  Zeit  bei- 
spiellosen Schnelligkeit  und  wird  in  wenigen  Jahrzehnten  das  wundervolle 
Arsenal,  ohne  das  jene  für  alle  Zeiten  staunenswerten  Werke  nicht  hätten 


I.   Was  die  Bibliolhekcn  sind. 


545 


entstehen  können,  die  Gallia  christiana,  der  Recueil  des  historiens  des 
Gaules,  die  Histoire  litteraire  de  la  France  und  wie  sie  weiter  heißen, 
Werke,  die  den  Namen  Saint-Germain-des-Pr^s  verehrungswürdig  machen, 
solange  es  eine  Wissenschaft  gibt.  Als  dem  Freiherm  von  Münchhausen 
die  Sicherung  der  Bülowschen  Bibliothek  gelungen  ist,  meldet  er  erfreut 
nach  London:  „Es  ist  dieses  eine  ungemeine  acquisition  vor  die  neue 
Universität,  welcher  dadurch  ein  desto  größeres  lustre  zuwächst,  als  in 
Teutschland  keine  Universität  ist,  welche  sich  rühmen  kann,  mit  einer  so 
nombreusen  und  selecten  Bibliothec  in  omni  scibili  versehen  zu  seyn",  und 
in  der  Tat  ist  es  die  Vortrefflichkeit  der  Bibliothek,  der  nach  dem  Ur- 
teile keines  weniger  Berufenen  als  Wilhelm  von  Humboldts  Göttingen 
„alles"  zu  danken  hat.     Wo  gäbe  es  solcher  Beispiele  ein  Ende? 

So  sind  die  Bibliotheken  die  Bildungsanstalten,  die  die  Freiheit  und 
Unbefangenheit  der  Lehre  in  einem  Grade  durchgeführt  zeigen,  wie  er  in 
keiner  Unterrichtsanstalt  der  Welt  anzutreffen  ist.  Was  aus  lebendigem 
Munde,  von  der  Lehrkanzel  verkündet,  unerträglich  war  oder  unerträglich 
wäre,  hier  darf  es  geduldet  werden  und  wird  es  geduldet.  Hier  gibt  es 
keine  Intoleranz,  hier  keine  Tendenz.  Hier  stehen  die  Lehrer  nicht  unter 
dem  Einfluß  der  Tagesrichtung;  hier  wird  das  Neue  nicht  einseitig  ver- 
folgt, nicht  das  Alte  vergessen.  Heic  fnortui  vivunt,  muti  loquuntur.  Sie 
drängen  sich  nicht  auf;  sie  haben  Zeit,  weil  sie  ein  langes  Leben  haben. 
Aber  zu  jeder  Stunde  sind  sie  bereit,  ihre  Stimme  zu  erheben,  und  durch 
ihre  bloße  Gegenwart  hindern  sie,  daß  überwuchernd  emporwachse,  was  der 
Tag  auf  den  Schild  erhoben,  oder  daß  ewiger  Vergessenheit  verfalle,  was 
lediglich  durch  die  Ungunst  der  Zeiten  aus  dem  Kreis  des  Lebendigen 
gedrängt  wurde.  Wie  es  Jahrhunderte  gegeben  hat,  in  denen  Homer  zu 
einem  Schatten  verblaßt  war,  so  gibt  es  Jahrhunderte,  aus  denen  kaum 
eine  dunkle  Kenntnis  von  der  Existenz  des  Nibelungenliedes  nachzuweisen 
ist.  Und  wer  vermöchte  die  Wirkung  solcher  Wiederbelebung  ganz  zu 
ermessen?  Als  der  große  König  1784  dem  Professor  Myller  das  Dedika- 
tionsexemplar  seiner  Nibelungenausgabe  wieder  zur  Verfügung  stellte,  weil 
er  „dergleichen  elendes  Zeug"  in  seiner  Büchersammlung  nicht  dulden 
könne,  da  ahnte  niemand,  mit  welchem  Feuereifer  schon  nach  einem 
kurzen  Menschenalter  eine  Schar  begeisterter  Jünger  den  Zeugnissen 
vaterländischen  Altertums  in  den  Bibliotheken  nachgehen  würde,  von 
jedem  altdeutschen  Buche,  wie  Jakob  Grimm  mit  einem  Platonischen 
Gleichnisse  von  sich  selbst  berichtet,  unwiderstehlich  durch  das  Land  ge- 
lockt, nicht  anders  wie  hungerndes  Vieh  durch  einen  grünen  Laubzweig, 
den  die  Hirten  ihm  vorhalten;  niemand,  welche  gewaltigen  Kräfte  diese 
innige  Versenkung  in  die  schönere  und  größere  Vergangenheit  zur  Ent- 
faltung bringen  sollte.  Niemals  aber,  soweit  wir  zurückblicken,  ist  das 
Vertrauen  in  diese  stille,  ausgleichende,  zuletzt  den  Sieg  des  Echten  und 
Wahren  erzwingende  Wirksamkeit  der  geistigen  Schätze  bewußter  und 
vornehmer  zugleich  betätigt  worden,    als  in  unseren  Tagen:    als  Deutsch- 

Dn  KuLTtm  dbk  Gboinwakt.    I.  i.  35 


c  ,5  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

land  sich  genötigt  sieht,  zum  Schutze  seines  Wesens  und  seiner  Art  gegen 
fremden  Einfluß  an  der  Westgrenze  und  in  der  Ostmark  seine  besten  Kräfte 
aufzurufen,  da'  sind  sie  es,  diese  „stummen  Lehrer",  auf  die  hochsinnige 
Männer  den  Blick  der  Nation  lenken,  und  durch  opferfreudiges  Zusammen- 
wirken weitester  Kreise  erstehen,  heute  bereits  reich  an  Früchten  und 
reicher  noch  an  Hoffnungen,  die  Bibliotheken  in  Straßburg  und  in  Posen. 
So  nehmen  die  Bibliotheken  im  Organismus  des  geistigen  Lebens  eine 
Stellung  ein,  deren  Bedeutung  um  so  allgemeiner  und  stärker  empfunden 
wird,  je  mehr  die  wissenschaftliche  Arbeit  an  Umfang  und  Tiefe  gewinnt, 
je  gewaltiger  die  Masse  des  Überlieferten  anschwillt,  und  je  hoffnungs- 
loser demgemäß  der  Einzelne  der  Aufgabe  gegenübersteht,  das  unentbehr- 
liche Rüstzeug  aus  eigenen  Mitteln  zu  beschaffen  oder  auch  nur  durch 
eigene  Kraft  sich  in  der  Wildnis  zurechtzufinden.  Und  in  demselben  Grade 
steigert  sich  naturgemäß  das  Interesse  der  Wissenschaft  daran,  wie  diese 
Organe  arbeiten,  wie  sie  ernährt  werden  und  wie  sie  sich  entwickeln. 
Für  das  Verständnis  dieser  Fragen  aber  ist  es  nötig,  wenigstens  im  Fluge 
zu  streifen,  wie  sie  geworden  sind. 

IL  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  Die  Geschichte  der 
Bibliotheken  ist  noch  zu  schreiben,  und  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  sie 
einmal  geschrieben  werden  wird,  verringert  sich  in  dem  Maße,  als  das 
durch  die  Fülle  von  Einzeluntersuchungen  zutage  geförderte  Material  un- 
gefüger wird.  Die  zahlreichen  Darstellungen  der  Geschichte  einzelner 
Bibliotheken  aber  wie  die  Ansätze  zur  Geschichte  der  Bibliotheken  eines 
Landes  zeigen  mit  wenigen  Ausnahmen  diesen  Grundfehler:  indem  sie  auf 
die  Feststellung  der  äußeren  Schicksale  der  Sammlungen  den  Hauptnach- 
druck legen,  nicht  selten  bis  zur  Erstickung  im  Detail,  vernachlässigen 
sie  die  freilich  ungleich  schwerer  zu  erschließende  innere  Geschichte:  den 
Geist,  der  die  Bibliothek  beseelte,  die  Wirkung,  die  von  ihr  ausging,  den 
Einfluß,  den  umgekehrt  die  Gestaltung  des  wissenschaftlichen  Betriebes 
auf  ihre  Entwicklung  ausübte,  die  Anregung,  die  sie  aus  ihrer  Arbeit 
heraus  zur  Förderung  des  gesamten  Bibliothekswesens  beisteuerte.  Unter 
diesen  Umständen  wird  selbst  der  Versuch,  auch  nur  in  groben  Strichen 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Bibliotheken  aus  der  Vergangenheit  zu  ent- 
wickeln, nicht  ohne  Schwierigkeiten  sein. 
Altertum  und  GlückHcherweise  ist  es  dazu  aber  weder  erforderlich,  über  Entstehung, 

Begriff  und  Arten  der  Bibliothek  die  wohlbekannten  Selbstverständlich- 
keiten vorzutragen,  noch  Zahlen  und  Namen  zu  häufen,  wie  jedes  Kon- 
versationslexikon sie  bereitstellt,  noch  endlich  so  weit  zurückzugehen  wie 
Joachim  Johann  Maderus,  weiland  Professor  der  Historie  zu  Helmstedt, 
der  seine  zuerst  1666  erschienene  Sammlung  von  Traktaten  über  Biblio- 
theken und  Archive  mit  einer  tiefgelehrten  Abhandlung  De  bibliothccis 
antediluvianis  einleitet;  und  auch  das  Beispiel  Diderots  und  seiner  zahl- 
reichen Nachfolger  in  der  enzyklopädischen  Behandlung  des  Gegenstandes, 


II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  c^t 

die  unfehlbar  von  der  'lepä  BißXio9r|Kr|  des  dunklen  Königs  Osymandias  in 
Theben  mit  der  schönen  Aufschrift  H'uxnc  'larpeiov  ihren  Ausgang  nehmen, 
zwingt  sich  als  vorbildlich  hier  nicht  auf.  Von  den  Bibliotheken  der  alten 
Welt  leitet  kein  Faden  hinüber  zu  denen  der  neuen.  Man  müßte  ihn 
denn  darin  erkennen,  daß  die  Idee  der  öffentlichen  Bibliothek,  d.  h.  einer 
Bibliothek,  deren  Benutzung  jedem  Wissensdurstigen  freisteht,  wie  sie  der 
neuen  Zeit  in  voller  Klarheit  zuerst  bei  Petrarca  und,  in  die  Wirklichkeit 
übersetzt,  zuerst  in  der  1444  durch  Cosimo  de'  Medici  als  den  Testaments- 
vollstrecker Niccolo  Niccolis  begründeten  jMarciana  entgegentritt,  doch 
wohl  als  ein  Vermächtnis  der  antiken  Kultur  aus  dem  alten  Rom  über- 
nommen ist.  Hier  war,  nachdem  Asinius  PoUio,  glücklicher  in  der  Aus- 
führung seiner  Absicht  als  Cäsar,  im  Tempel  der  Libertas  die  erste  öffent- 
liche Bibliothek  errichtet  hatte,  in  schneller  Entwicklung  eine  Gründung  der 
andern  gefolgt,  und  wie  die  Notitia  für  den  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts 
die  Zahl  der  öffentlichen  Bibliotheken  in  der  einen  Stadt  auf  nicht  weniger 
als  achtundzwanzig  angibt,  so  scheint  es  damals  in  den  weiten  Grenzen 
des  Imperium  Romanum  kaum  einen  größeren  Ort  gegeben  zu  haben,  dem 
die  öffentliche  Bibliothek  gefehlt  hätte.  Aber  noch  bevor  die  Flut  herein- 
bricht, die  das  Römische  Reich  in  Trümmer  schlägt,  sind  die  Bibliotheken 
selbst  in  der  Hauptstadt  zu  bloßen  Scheinexistenzen  herabgesunken:  sepul- 
crorum  ritu  in  perpetuum  clausae,  wie  Ammian  aus  dem  Ende  des  vierten 
Jahrhunderts  eindrucksvoll  berichtet;  und  wenn  sich  dann,  was  von  der  zer- 
trümmerten Welt  unvergänglich  war,  in  den  Schutz  klösterlicher  Mauern 
geflüchtet  hat,  die  es  uns  treulich  gehütet  haben,  bis  unsere  Augen  klar 
genug  geworden  sind,  seinen  Wert  zu  erkennen,  so  kann  darum  doch 
zwischen  jenen  reichen  öffentlichen  Anstalten,  den  Sammelpunkten  eines 
freien  wissenschaftlichen'  und  literarischen  Arbeitens  und  Genießens,  und 
den  mehr  zufällig  entstandenen  als  planmäßig  eingerichteten,  äußerlich 
wie  innerlich  eng  gebundenen  Klosterbibliotheken  von  einem  Zusammen- 
hange nicht  wohl  die  Rede  sein. 

Wie  in  den  unzähligen  Kirchen  und  Klöstern,  die  mit  dem  Vordringen 
des  Christentums  sich  über  die  Länder  breiten,  ganz  allgemein  und  aus 
dem  nächsten  Bedürfnis  der  Kleriker  heraus  Bibliotheken  entstehen  und 
aufblühen ;  hier  beschränkt  auf  die  biblischen  Bücher  und  die  Väter, 
dort  auch  die  weltliche  Literatur  und  vornehmlich  die  Werke  der  „er- 
leuchteten Heiden"  als  Unterrichtsmaterial  duldend  oder  in  stiller  Neigung 
pflegend;  genährt  hier  durch  die  pflichtmäßigen  Gaben  der  Novizen  und 
durch  Geschenke  frommer  Gastfreunde  und  Gönner,  dort  eifrig  und  plan- 
voll durch  Abschrift  und  Kauf  vermehrt;  in  ihrem  Umfang  alle  Stufen 
aufweisend  von  dem  Dutzend  liturgischer  Bücher  in  armen  Häusern 
bis  zu  dem  Reichtum  von  Monte  Cassino  und  Bobbio,  von  Fleury  und 
Corbie,  von  Canterbury  und  York,  von  Reichenau  und  St.  Gallen,  von 
Fulda  und  Corvey;  wie  diese  Bibliotheken,  häufig  die  Stützpunkte  ange- 
sehener Schulen,    eine  um  so   stärkere  Wirkung  entfalten,    als  außerhalb 

35* 


548 


Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 


ihrer  Mauern  ein  nennenswerter  Bücherbesitz  nur  sehr  selten  anzutreffen 
ist;  und  wie  sie  schließlich  aus  den  Zeiten  sorgsamster  Pflege  und  höchster 
Wertschätzung,  wo  das  Claustrum  sine  armario  quasi  casirum  sine  arma- 
ineiifiirio  aufkommt,  mit  dem  sittlichen  und  wissenschaftlichen  Verfall  der 
Klerisei  zu  der  tiefen  Vernachlässigung  herabsinken,  die  uns  in  den  Klagen 
Richards  de  Burj^  und  Poggios  so  anschaulich  entgegentritt  und  die  Boc- 
caccio bei  seinem  Besuche  in  Monte  Cassino  zu  Tränen  zwingt:  das  alles 
ist  für  die  Geschichte  der  Bibliotheken  und  ihrer  Bedeutung  für  die  Kultur 
von  höchstem  Interesse.  Vergebens  aber  würde  man  in  der  Verwaltimg 
jener  armaria,  die  ihre  Bücher  mit  Ketten  an  die  Pulte  schließen  und 
nur  ausnahmsweise,  jedenfalls  nicht  ohne  Hinterlegung  eines  vollwertigen 
Pfandes  einen  Band  zum  Studium  oder  zur  Abschrift  ausleihen,  nach 
Ansätzen  suchen,  von  technischen  Dingen  natürlich  abgesehen,  die  in 
ihrer  Entwicklung  zur  modernen  Bibliothek  hinüberführen.  Nichts  wesent- 
lich anderes  aber  läßt  sich  von  den  Bibliotheken  der  mittelalterlichen 
Universitäten  sagen,  die  zwar  hier  und  da  einen  etwas  freieren  Zug 
zeigen,  —  so  wenn  sie  nach  dem  Vorgang  der  berühmten  Stiftung  Roberts 
de  Sorbona  den  geschworenen  Inhabern  des  Schlüssels  zur  Bibliothek  die 
Einführung  rechtschaffener  Fremder  gestatten  — ,  in  der  allgemeinen  Auf- 
fassung ihrer  Aufgabe  jedoch,  wie  das  auch  bei  dem  damaligen  Unter- 
richts- und  Wissenschaftsbetrieb  nicht  wundernehmen  kann,  sich  über  die 
Kirchen-  und  Klosterbibliotheken  kaum  merklich  erheben. 
Humanismus  und         Mit  dem  ausgehenden  Mittelalter   allerdings   beginnt,    wenigstens   so- 

Reforination.  .  .  ^     .  n  •  k      r      a 

weit  das  äußere  Bild  in  trage  kommt,  eine  Zeit  großartigen  Autschwungs. 
Die  Renaissance  rettet,  wie  schon  berührt,  mit  dem  Schatz  der  antiken 
Überlieferung  den  Gedanken  der  dem  gemeinen  Nutzen  bestimmten  Biblio- 
thek, und  ihre  „beiden  großen  Passionen,  Bücher  und  Bauten",  gewinnen 
dauernden  Ausdruck  in  einer  Reihe  glänzender  Bibliotheken,  die  über  die 
Grenzen  Italiens  hinaus  ■ —  man  denke  an  die  berühmte  Schöpfung  des 
Königs  Matthias  Corvinus  zu  Ofen  —  für  neue  Gründungen  vorbildlich 
werden;  die  Reformation,  hierin  mit  dem  Humanismus  zusammentreffend, 
fordert  das  freie  und  vorurteilslose  Studium  der  Überlieferung,  und  ein- 
dringlich mahnt  Luther,  „das  man  fleys  und  koste  nicht  spare,  gutte 
librareyen  odder  bücherheuser,  sonderlich  ynn  den  grossen  stedten,  die 
solichs  wol  vermügen,  zu  verschaffen";  in  demselben  Grade,  in  dem  der 
Klerus  sich  den  Studien  entfremdet  hat,  sind  wissenschaftliche  Bildung 
und  damit  wissenschaftliche  Bedürfnisse  in  die  Laienkreise  gedrungen;  die 
Erfindung  des  Buchdrucks  hat  die  Möglichkeit  des  Erwerbens  und  Sam- 
meins ins  ungeahnte  gesteigert;  die  Städte  sind  wirtschaftlich  und  politisch 
erstarkt,  Bürgerstolz  und  bürgerlicher  Gemeinsinn  sind  erwacht;  die  Landes- 
hoheit hat  sich  kraftvoll  befestigt,  und  das  auf  diesem  Fundament  in  den 
protestantischen  Territorien  im  Anschluß  an  die  neue  Lehre  errichtete 
landesherrliche  Kirchenregiment  zieht  den  gelehrten  Unterricht,  die  Reform 
der  alten  und  die  Gründung  neuer  Universitäten  in  den  Kreis  seiner  Auf- 


II.   Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  j^^g 

gaben:  der  Bücherbesitz  in  den  Händen  Privater,  so  oft  der  Anfang  und 
Grundstock  öffentlicher  Bibliotheken,  wächst  gewaltig;  aus  den  aufge- 
hobenen Klöstern  und  Stiftern  ergießt  sich  eine  Fülle  wertvoller,  halb 
vergessener  Bücher  an  das  Licht  des  Tages,  und  allerorten  stehen  ver- 
lassene Ordenshäuser  den  neuen  Herren,  den  Fürsten  und  Städten,  zu 
freier  Verfügung:  das  etwa  sind  die  Grundlagen,  auf  denen  die  lange 
Reihe  der  heutigen  Stadt-,  Hof-  und  Universitätsbibliotheken  sich  er- 
hebt, die  ihr  Dasein  aus  dem  15.  und  16.  Jahrhundert  herleiten.  Eine 
diesem  Aufschwung  entsprechende  Steigerung  des  inneren  Lebens  der 
Bibliothek,  der  Erkenntnis  ihrer  Fähigkeiten  und  Aufgaben  läßt  sich  indes, 
wenn  man  von  dem  schnell  verflackerten  Feuer  absieht,  das  der  italienische 
Humanismus  entzündet  hatte,  nicht  nachweisen.  Das  Gebiet,  das  hier  in 
Betracht  kommt,  ist  freilich  so  schwer  zu  übersehen  und  die  Fülle  der 
Verschiedenheiten  von  Ort  zu  Ort  so  groß,  daß  ein  zusammenfassendes 
Urteil  auf  unbeschränkte  Geltung  keinen  Anspruch  erheben  kann.  Unter 
solchem  Vorbehalt  kann  aber  doch  festgestellt  werden,  daß  die  Bibliothek 
während  dieser  Ära  der  großen  Gründungen  im  Verhältnis  zu  der  starken 
Betonung  ihrer  Wichtigkeit  durch  die  geistigen  Fülirer  der  neuen  Zeit  in 
ihrer  inneren  Entwicklung  auffallend  geringe  Fortschritte  gemacht  hat. 
Die  Bibliotheca  publica  begegnet  jetzt  allerdings  oft;  im  allgemeinen  be- 
steht aber  die  Öffentlichkeit  nur  darin,  daß  nach  dem  bereits  erwähnten 
Brauch  bestimmte  Personen,  deren  Interessen  es  zu  fordern  scheinen,  unter 
bestimmten  Voraussetzungen  den  Schlüssel  zur  Bibliothek  erhalten,  und 
daß  auch  sonst  die  Benutzung,  wie  dies  übrigens  die  Bibliotheken  der 
geistlichen  Körperschaften  nicht  anders  gehalten  haben,  dem  durch  seinen 
Beruf  Legitimierten  nicht  leicht  versagt  wird.  Aber  noch  ist  in  der  Regel 
von  der  Hinterlegung  eines  Pfandes  bei  der  Entleihung  die  Rede,  noch 
werden  schwerfällige  Vorsichtsmaßregeln  beobachtet,  und  noch  ist  es 
keine  Ausnahme,  wenn  es  in  dem  Marburger  Statutenentwurf  von  1559 
heißt:  Libri  sint  alligati  catenis.  Auch  in  dem  wichtigsten  Punkte,  in 
der  Ausstattung  mit  regelmäßigen  Einnahmen  zur  Erhaltung  und  Ver- 
mehrung der  Sammlung,  bleibt  es  bei  vereinzelten  Bemühungen,  die  weder 
Bestand  noch  Nachfolge  haben  und  kaum  als  eine  Fortbildung  der  schon 
hier  und  da  bei  den  mittelalterlichen  Korporationsbibliotheken  anzutreffen- 
den Ansätze  angesehen  werden  können.  Von  einer  stetigen ,  an  bestimmte 
Gesetze  gebundenen  Verwaltung  ist  überall  wenig  zu  merken,  und  wo  im 
Eifer  der  Gründung  oder  des  neuen  Besitzes  eine  unternehmende  Ordnung 
erlassen  oder  gar  eine  bestimmte  Dotierung  vorgesehen  wird,  da  ist  es  in 
der  Regel  auffallend  zu  beobachten,  wie  vieles  auf  dem  Papier  bleibe  und 
wie  bald  mit  verheißendem  Anlauf  begonnene  Neuerungen  in  Vergessen- 
heit geraten. 

Und   bei   diesem   zögernden   Gange    der  Entwicklung   bleibt   es   noch  ^\lh  J**"' 
sehr  lange.     So  berührt  es  trotz  der  glänzenden  Anfänge   in   der  Renais- 
sance kaum  noch  befremdlich,  wenn  wir  im  Ausgang  des  16.  Jahrhunderts 


cco  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

sehen,  wie  selbst  ein  so  gefeierter  Gelehrter  wie  Guido  Panciroli  sich 
über  die  Schwierigkeit  des  Zutritts  zu  den  sogenannten  öffentlichen 
Bibliotheken  Italiens  zu  beklagen  hat.  Und  noch  bezeichnender  ist, 
wie  die  Zugänglichkeit  der  drei  großen  Bibliotheken,  die  der  Beginn 
des  17.  Jahrhunderts  erstehen  sieht,  der  Bodleiana  in  Oxford,  der  Ange- 
lica  in  Rom  und  der  Ambrosiana  in  Mailand,  von  den  zeitgenössischen 
Gelehrten  als  die  Betätigung  unerhörter,  noch  nicht  dagewesener  Groß- 
herzigkeit gepriesen  wird,  zumal  wenn  man  sich  an  dem  Beispiel 
der  bedeutendsten  dieser  Schöpfungen  klar  macht,  worin  die  Neuheit 
Bodleiana  in  besteht.     Sir  Thomas  Bodley  hat  bestimmt,    daß  seine  Sammlung  täglich, 

Oxford  (1602).  ^  et  o 

wenigstens  im  Sommerhalbjahr,  von  acht  bis  elf  und  von  zwei  bis  fünf 
oifen  stehen  soll.  Allerdings  ein  gewaltiger  Fortschritt.  Aber:  „Da  die 
mannigfachen  Beispiele  früherer  Zeiten",  so  heißt  es  in  den  Satzungen, 
„bei  der  hiesigen  Universität  sowohl  als  an  anderen  Orten  des  Landes 
allzuoft  gezeigt  haben,  wie  das  häufige  Ausleihen  von  Büchern  eine  Haupt- 
ursache des  Verfalls  und  der  Vernichtung  so  mancher  berühmten  Bibliothek 
gewesen  ist,  so  wird  hiermit  angeordnet  und  ist  als  unabänderliche  Be- 
stimmung zu  beachten,  daß  aus  keinerlei  Rücksicht,  Vorwand  oder  Anlaß 
jemals  ein  Band,  er  sei  angekettet  oder  nicht  angekettet,  irgend  jemand, 
gleichviel  welches  Standes  oder  Berufes  er  sei  und  gleichviel  welche 
Bürgschaft  oder  Sicherheit  er  bieten  mag',  überantwortet  oder  geliehen 
werde."  Überdies  wird  der  Zutritt  beschränkt  auf  die  Graduierten  der 
Universität  und  die  Stifter,  und  weiter  hat  jeder  Zugelassene  jeglichen 
Mißbrauch  der  Erlaubnis  mit  einem  heiligen  Eide  zu  verschwören.  Man 
sieht  an  diesem  Beispiel,  das  gewiß  in  dem  Bilde  des  damaligen  Biblio- 
thekswesens einen,  wenn  nicht  den  Höhepunkt  bezeichnet,  wie  weit  der 
Begriff  der  öffentlichen  Bibliothek  noch  von  der  modernen  Auffassung 
entfernt  ist.  Und  wenn  wir,  als  die  Bibliothek  ihr  erstes  Jahrhundert  über- 
wunden hat,  den  Bibliothekar  klagen  hören,  wie  das  von  Bodley  der  Uni- 
versität zur  Bezahlung  der  Beamten  und  zum  Ankauf  neuer  Bücher  hinter- 
lassene  beträchtliche  Vermögen  durch  Unredlichkeit  und  Mißgeschick  so 
heruntergebracht  sei,  daß  es  nur  eben  noch  die  Gehälter  bringe,  so 
haben  wir,  ohne  uns  von  der  Bodleiana  zu  entfernen,  ein  typisches 
Beispiel  für  die  übrigens  bis  tief  ins  achtzehnte  Jahrhundert  hinein  an- 
dauernde Unsicherheit  der  materiellen  Grundlagen  für  die  Entwicklung 
des  Bibliothekswesens.  Kaum  weniger  lehrreich  ist  das  Beispiel  der  um 
Mazarine  in  vierzig  Jahre  jüngeren  Mazarine,  die  noch  heute  durch  die  Inschrift 
Publicarum  in  Galita  primordia  daran  erinnert,  wem  Frankreich  die 
erste  öffentliche  Bibliothek  verdankt.  Als  Mazarin  1643  das  Hotel  Tubeuf 
mit  seiner  kostbaren  Sammlung  wöchentlich  einmal,  am  Donnerstag  von 
acht  bis  elf  und  von  zwei  bis  fünf,  öffnet  und  zwar  ohne  Einschrän- 
kung ä  tous  ceux  qui  y  veulent  aller  estudier,  da  wird  dies  als  eine  bis- 
her vollkommen  unbekannte  Wohltat  empfunden  und  gepriesen,  und  von 
Anbeginn   zählt  man   achtzig  bis    hundert  Personen,    die   gleichzeitig  von 


II.   Wie   die  Bibliotheken  geworden  sind.  s  ^  I 

der  Erlaubnis  eifrigsten  Gebrauch  machen.  Doch  schon  nach  wenigen 
Jahren  treibt  die  Fronde  den  Kardinal  ins  Exil;  seine  Bibliothek  wird  auf 
Befehl  des  Parlaments  in  alle  Winde  zerstreut,  und  es  kommt  das  Ende 
des  Jahrhunderts  heran,  bis]  die  mit  ebensoviel  Glück  wie  Mühe  rekon- 
struierte Sammlung  wieder  dem  Publikum  geöffnet  wird.  Lehrreich  aber 
ist  dieser  Fall  nicht  allein  für  die  Kenntnis  der  Entwicklung  des  Begriffs 
der  öffentlichen  Bibliothek  —  wobei  nicht  vergessen  werden  darf,  daß  der 
Schauplatz  der  vornehmste  Sitz  gelehrter  Studien  im  damaligen  Europa 
ist,  daß  Mazarin  sich  durch  Rücksicht  auf  die  Kosten  schwerlich  hat  ein- 
schränken lassen  und  daß  schließlich  der  von  ihm  mit  der  Obhut  der 
Sammlung  betraute  Gabriel  Naude  einer  der  vortrefflichsten  Bibliothekare 
ist,  die  jemals  gelebt  haben  — ,  sondern  lehrreich  auch  insofern,  als  er 
einen  Zug  zur  Anschauung  bringt,  der  in  der  Geschichte  der  Bibliotheken 
bis  in  die  jüngste  Vergangenheit  hinein  stark  hervortritt,  nämlich  die  ver- 
derbliche Rückwirkung  politischer  Stürme  und  Unruhen  auf  ihr  Dasein 
und  Gedeihen. 

Tatsächlich   ist  Mabillons  „Sunt  sua  fata  etiam  bibliothecis"  geeignet.  Die  deutschen 

.  .  ,  A  •!         1  1  Bibliotheken 

eine    unrichtige  Vorstellung   zu  erwecken;     denn    der  Anteil,    der   an  dem       und  der 

jojälirige  Krieg. 

allgemeinen  Wechsel  der  Dinge  den  Bibliotheken  beschieden  gewesen  ist, 
geht  weit  über  das  Durchschnittsmaß  hinaus.  Wenngleich  nicht  alle  Zeiten 
dies  so  reich  illustrieren  wie  das  17.  Jahrhundert  und  hier  wieder  nicht 
alle  Länder  so  eindringlich  wie  Deutschland,  dessen  Bibliotheken  vom 
Dreißigjährigen  Krieg  viel  Trauriges  zu  erzählen  wissen.  Wie  die  Schätze 
der  Palatina  über  die  Alpen  wandern  —  „jamais  mulets  ne  porterent  une 
plus  precieuse  Charge"  —  und  wie  schwedische  Schiffe  ganze  Bibliotheken 
nach  dem  Norden  entführen,  das  bleibt  unvergessen.  Trotzdem  kann  diese 
Zeit  auch  für  die  Entwicklung  der  deutschen  Bibliotheken  nicht  als  durch- 
aus ungünstig  bezeichnet  werden.  Die  gründliche  Verschiebung,  die  der 
Bücherbesitz  erfährt,  drängt  zu  neuer  Ordnung  der  veränderten  Ver- 
hältnisse, und  es  ist  natürlich,  daß  die  freier  gewordenen  Anschauungen 
der  Zeit  sich  in  der  Neuordnung  zum  Ausdruck  bringen,  wobei  der  jetzt 
überall  bemerkbare  starke  Zug  zur  Büchergelehrsamkeit  mit  seinem  ge- 
steigerten Literaturbedürfnis  g-ünstig  mitwirkt.  Auch  erweist  sich  das 
kräftige  Wachstum,  das  die  landesherrliche  Gewalt  aus  dieser  Zeit  zu  ver- 
zeichnen hat,  dem  Bibliothekswesen  als  forderlich,  indem  dies  die  Quelle 
ist,  aus  der  die  jetzt  häufiger  als  früher  bei  den  Regierenden  anzutreffende 
nachhaltige  Fürsorge  für  die  Interessen  der  Wissenschaft  ihren  Ursprung 
nimmt.  Es  mehren  sich  die  Versuche,  Bestand  und  Gedeihen  der  Biblio- 
theken durch  Zuweisung  bestimmter  Einnahmen  zu  sichern,  und  der  Begriff 
der  Öffentlichkeit  macht  merkliche  Fortschritte.     Aus  seinem  Hauptquartier  Kurfürstliche 

'     ^  Bibliothek  in 

Viborg  in  Jütland,  medios  inter  proeliorum  strepitus,  victoriarum  cursum,  Berlin  (1661). 
erläßt  165g  der  Große  Kurfürst  jene  Verordnung,  in  der  heute  die  größte 
Bibliothek  Deutschlands  ihre  Geburtsurkunde  verehrt;  die  neue  Auffassung 
der  Dinge  aber  kommt  nicht  allein   darin   zum  Ausdruck,    daß   die  junge 


S-C.2  Frit/.  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

Anstalt,  der  allgemeinen  Benutzung  vermutlich  von  Anbeginn   zugänglich, 
bald  sogar    alltäglich   geöifnet  wird   und   daß   den   kurfürstlichen  Dienern 
geistlichen  und  weltlichen  Standes  sowie  anderen  in  der  Hauptstadt  ange- 
sessenen und  bekannten  Männern   ohne   große  Schwierigkeit  Bücher  nach 
Hause  geliehen  werden,  sondern  auch  in  der  Zubilligung  regelmäßiger  Ein- 
künfte, wenn  dieselben  in   der  Hauptsache   auch  nur  in   den  Gefällen  be- 
stehen, welche  ungeduldige  Brautpaare  für  den  Dispens  vom  mehrmaligen 
Augusta  in    Aufgebot   ZU    entrichten   haben.      Und   nicht   vergessen    werden  "darf   das 
°i644).       glänzendste  Beispiel  aus  dieser  Zeit.    „Inmitten  der  Schrecken  des   30jäh- 
rigen  Krieges"    hat    mit  glühendem    Sammeleifer,    aber   auch    mit    einem 
für  alle  Zeiten  bewunderungswürdigen  Plan  und  Verständnis  Herzog  August 
in  Wolfenbüttel  aus  dem  Nichts  eine  Bibliothek  geschaffen,  die  alle  übrigen 
der  damaligen  Welt  an  Bedeutung  überragt,    und  als   nach  seinem  Tode 
1666  David  Hanisius  die  Aufsicht  über  die  Sammlung  erhält,  da  wird  be- 
fohlen, die  Bibliothek  solle  täglich  von  acht  bis  elf  und  von  zwei  bis  vier 
oder  fünf  für  Einheimische  und  Fremde  geöffnet  sein. 
DieUniversitäts-         Solchcn  Vorgängen  gegenüber  mutet   es  zunächst  etwas  befremdlich 
an,    wenn    man    sich    z.  B.   in    Marburg   erst    1680    entschließt,    auch    dem 
Studenten    bei   gehöriger  Bürgschaft  Bücher   nach  Hause   zu   geben;    oder 
wenn  die  Baseler  Bibliotheksordnung   von   1681   zwar   die  Neuerung   einer 
bestimmten    Öffnungszeit    bringt,    sich    aber    trotz    der    verheißungsvollen 
Einleitung  „Ne  vero  thesaurus  iste  humi    defossus  lateat"  nur  zu  wöchent- 
lich zwei  Stunden,  am  Donnerstag  von   eins  bis  drei,   aufschwingen  kann, 
wofür    dann    der    Studiosus    noch    einmalig    eine    bestimmte    Summe    zu 
zahlen   und  überdies   alljährlich   zu  Neujahr   den  Bibliothekaren  ein   hono- 
rarium  nach  eigenem  Ermessen   zu  verehren  hat;  oder  wenn  in  der  näm- 
lichen Baseler  Ordnung  von  der  Ergänzung  der  Bibliothek  also  hoffnungs- 
los  gesprochen  wird:   „Si  numerus  librorum  ex  Bibliothecae  reditibus  per 
emptionem   augeri   possit",  während  wiederum  der  Marburger  Senat    noch 
im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  die  der  Bibliothek  zum  Ankauf  von  Büchern 
zustehenden  Gelder  zur  Aufbesserung   der  Professorengehälter   zurücklegt 
und    dem    alljährlich   drängenden    Bibliothekar   jedesmal    antwortet:    „man 
müsse   zuvorderst   die   lebenden  Bibliothequen  versorgen";   oder  wenn   um 
dieselbe  Zeit  die  Bollandisten  bei   ihrer  Durchforschung   der  Wiener  Uni- 
versitätsbibliothek die  Bücher  „schockweise  übereinander  liegend  und  unter- 
schiedliche   daraus   halb  verfaulet,    andere   per   ipsum   non  usum  in  Staub 
zerfallen"  finden;  oder  wenn  wir  schließlich  erfahren,  daß  aus  der  Rostocker 
Universitätsbibliothek    in    der   Zeit   von   1650 — i6qo    durchschnittUch    nicht 
mehr  als  siebzehn  bis  achtzehn  Werke  im  ganzen  Jahr  zur  häuslichen  Be- 
nutzung entliehen  werden.     Aber  wir  erinnern  uns,  wie  jetzt,  d.  h.  um  die 
Wende   des   17.  Jahrhunderts,    die   Universitäten,    auf  den   Tiefstand   ihrer 
Entwicklung  gesunken,  immer  noch  im  mittelalterlichen  Lehrbetrieb  stecken, 
und  finden  es  begreiflich,  daß  diese  Lage  in  der  Verwaltung  ihrer  Biblio- 
theken zum  Ausdruck  kommt. 


n.   Wie  die  Bibliotheken   geworden  sind.  555 

Es  wäre  indes  ein  Irrtum,  wollte  man  den  an  sich  mäßigen  Fortschritt  in«  FiirjtUche  i 

.  ^_^  Bibliotheken. 

in  der  Auffassung  vom  Wesen  der  öttentlichen  Bibliothek,  wie  er  sich  an 
den  Fürstlichen  Höfen,  jetzt  den  Stützpunkten  der  modernen  Bildung, 
bemerkbar  macht,  als  ein  sicheres,  in  der  Anschauung  der  Zeit  fest 
beruhendes  Ergebnis  buchen;  denn  nirgends  fehlt  es  an  Perioden  stark 
rückläufiger  Entwicklung,  ohne  daß  die  Erklärung  immer  in  dem  Zwang 
der  äußeren  Verhältnisse  gegeben  wäre.  Im  allgemeinen  nimmt  die  Fürst- 
liche Bibliothek  im  Staatshaushalt  noch  keine  andere  Stelle  ein  als  etwa 
das  jetzt  aufkommende  Münzkabinett  oder  die  Antiquitätenkammer,  wie 
man  denn  auch  nicht  versäumt,  die  Büchersäle  mit  etlichen  Raritäten  — 
so  die  Luftpumpe  Otto  von  Guerickes  in  Berlin,  die  Globen  des  Guiliel- 
mus  Blaeuw  in  Wolfenbüttel  usw.  —  aufzuputzen.  Überaus  sprechend 
sind  in  dieser  Beziehung  die  zahlreichen  aus  jener  Zeit  stammenden  Kupfer, 
welche  Innenräume  von  Bibliotheken  darstellen.  Da  sieht  man  regelmäßig 
den  lichten  Saal,  an  den  Wänden  in  hohen  Gestellen  die  Bücher,  in  der 
Mitte  ein  paar  Tische  mit  Globen  und  Folianten,  und,  in  kleine  Gruppen 
anmutig  verteilt,  zierliche  Herren  und  Damen,  die  den  Raum  schlendernd 
durchmessen,  diskurierend  und  um  sich  blickend,  wie  man  eben  Sehens- 
würdigkeiten genießt.  Untergebracht  wird  die  Sammlung  etwa  in  einem 
aufgegebenen  Schloß  oder  in  einer  Orangerie,  einem  alten  Marstall  usw. 
Ist  an  der  maßgebenden  Stelle  die  Passion  vorhanden  oder  bietet  sich 
eine  besonders  günstige  Gelegenheit,  so  gibt  es  einen  Zuwachs  durch 
Kauf,  sonst  nicht. 

Nichts  aber  beleuchtet  diese  Lage  der  Dinge  schärfer  als   die  Arofu-       Leibnir 

.        T       •,_     •  r  ■  (1646-1716) 

mente,  die  Leibmz,  i6qo  für  die  berühmte  Augusta  zu  Wolfenbüttel  „zum  ■■»'s  <="'"  vcr- 

^  treter  des 

directore    angenommen",    den    Herzögen    und    ihrem    Minister    in    immer     Gedankens 

der  modernen 

wechselnden  Wendungen  vorträgt,  um  die  ihm  anvertraute  Sammlung  zu  Bibliothek. 
fördern:  Eine  Bibliothek,  wie  schön  sie  auch  sei,  gehöre  unter  die  Dinge, 
quae  ser\'ando  tantum  servari  non  possunt;  gleich  dem  Feuer  und  Leben 
müsse  sie  ein  stetes  aliment  und  Zuwachs  haben,  indem  sie  bald  herunter- 
komme, wenn  man  die  guten  neuen  Bücher  in  zulänglicher  quantitate  et 
qualitate  nachzuschaffen  unterlasse;  eine  wohl  versehene  Bibliothek  sei  für 
ein  rechtes  Magazin  dienlicher  Nachrichten  zu  halten;  insonderheit  aber 
erscheine  derselben  Nutzen  bei  Administrierung  der  lieben  Justiz,  bei  Be- 
hauptung göttlicher  Wahrheit  und  guter  Polizei  gegen  allerhand  Irrtümer 
und  barbarisches  Wesen,  zu  welchem  Zweck  auch  Kirchen  und  Schulen 
gerichtet  würden,  denen  eine  vollständige  Bibliothek  „als  eines  der  größten 
Instrumenten,  und  sozusagen  als  ein  Zierrat  stummer  . . .  Lehrer"  fürnehm- 
lich  die  Hände  biete;  daher  genüge  es  nicht,  große  Bibliotheken  zu  be- 
sitzen, sondern  man  müsse  sie  auch  vermehren  und  in  gutem  Stande  er- 
halten. Wenn  Leibniz  diese  Anschauung  wieder  und  wieder  geltend 
machen  muß,  und  zwar,  was  wohl  zu  beachten  ist,  gegen  Fürsten,  die 
schon  durch  die  Berufung  des  berühmten  Mannes  gezeigt  haben,  daß  ihnen 
der  Glanz  der  Sammlung  am  Herzen  liege,  so  erhellt  daraus,  daß  der  Ge- 


-- ,  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

danke  für  die  Zeit  etwas  Ungewöhnliches  hat,  wie  er  denn  auch,  als  klare 
Programmforderung,  in  der  Tat  hier  zuerst  auftritt.  Und  kaum  weniger 
charakteristisch  als  die  Art,  wie  Leibniz  seine  Anträge  begründet,  ist  der 
Erfolg,  den  er  erreicht:  auf  mindestens  looo  Taler  hat  er  den  Jahresbedarf 
für  Anschaffungen  veranschlagt;  nach  zehn  Jahren  fortgesetzter  Bemühungen 
werden  200  ausgeworfen,  ein  Etat,  der  beiläufig  bis  1835  unverändert  bleibt; 
vollständig  ergebnislos  dagegen  sind  seine  gleichfalls  immer  von  neuem 
wieder  aufgenommenen  Bemühungen,  wenigstens  für  ein  Zimmer  in  der 
Bibliothek  Heizung  und  Beleuchtung  durchzusetzen:  „car  le  froid  et  le  soir 
servent  de  pretexte  en  hyver  pour  ne  rien  faire".  Und  auch  hier  ist  es 
interessant  gleich  zu  erfahren,  daß  erst  das  Jahr  1833  die  Erfüllung  seines 
Wunsches  bringt. 

Es  füg-t  sich  gut  zu  dem  Bilde,  das  uns  Hamacks  Meisterhand  von 
dem  prophetisch  die  Aufgaben  der  Wissenschaft  vorausschauenden  Geiste 
Leibnizens  gezeichnet  hat,  wenn  wir  sehen,  wie  er  hier  mit  voller  Klar- 
heit die  Gedanken  herausstellt,  die  der  modernen  Auffassung  von  dem 
Wesen  der  Bibliothek  zugrunde  liegen:  Ihr  Dasein  hat,  nicht  anders  wie 
Kirche  und  Schule,  ihre  Berechtigung  und  ihre  Notwendigkeit  in  den  Be- 
dürfnissen des  Staates  und  der  Gesellschaft;  sie  erhalten  heißt  sie  ver- 
mehren; ihr  Nutzen  ist  abhängig  von  ihrer  Zugänglichkeit,  die  darum  auch 
durch  natürliche  Hindernisse  wie  Kälte  und  Dunkelheit  nicht  beeinträchtigt 
werden  darf. 
Das  18.  Jahr-  Fast  überrascht  es,  wenn  man  jetzt  weiter  beobachtet,  wie  unwirksam 

zunächst  diese  Anregungen  bleiben  und  wie  noch  reichlich  anderthalb 
Jahrhunderte  hingehen,  bis  sie  allgemein  aufgenommen  sind.  Womit 
indes  nicht  gesagt  sein  soll,  daß  diese  Zeit  für  die  Bibliotheken  eine  Pe- 
riode des  Stillstandes  gewesen  wäre.  Im  Gegenteil  ist  dies  gerade  für 
diejenigen  unter  ihnen,  die  heute  an  der  Spitze  marschieren,  recht  eigent- 
lich die  Zeit  der  Konsolidierung:  einerseits  hat  kein  Jahrhundert,  und  das 
gilt  für  Frankreich  und  England  ebenso  wie  für  Deutschland,  solch  eine 
Fülle  reicher  Privatsammlungen  entstehen  und  schließlich  in  die  öffent- 
lichen Bibliotheken  sich  ergießen  sehen  wie  das  achtzehnte  —  man  erinnere 
sich  für  Deutschland  der  Namen  Bünau,  Brühl,  Ponickau,  Uffenbach  usw.  — , 
und  andrerseits  haben  die  Stürme,  die  um  die  Wende  des  Jahrhunderts 
Europa  erschütterten,  indem  sie  die  Selbständigkeit  einer  Unmenge  klei- 
nerer Sammlungen  von  großen  Herren  und  Städten,  Klöstern  und  Stiftern, 
Universitäten  und  Akademieen  vernichteten,  den  überdauernden  Bibliotheken 
Lebens-  und  Leistungsfähigkeit  bedeutend  gestärkt  und  damit  nicht  un- 
wesentlich die  Entwicklung  des  Bibliothekswesens  gefördert.  Wobei  man 
freilich,  soweit  Frankreich  in  Betracht  kommt,  billig  zweifeln  darf,  ob  die 
Konzentration  der  Bücherschätze  der  Wissenschaft  durchaus  zum  Heile 
gewesen;  denn  daß  die  zwei  Millionen  Bände,  eine  für  jene  Zeit  ungeheure 
Zahl,  die  damals  aus  den  Provinzen  nach  Paris  zusammengezogen  wurden, 
zu  der  ungesunden  Zentralisierung  des  geistigen  Lebens  in  diesem  Lande 


II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  555 

das  Ihrige  beigetragen  haben,  scheint  außer  Frage.  Und  durch  ein  anderes 
noch  zeigt  sich  die  Zeit  dem  Bibhotheksvvesen  günstig:  das  ist  die  mit 
der  enzyklopädischen  Richtung  Hand  in  Hand  gehende  Neigfung  zur 
BibHographie  und  Gelehrtengeschichte,  die  gleichmäßig  der  Ordnung  und 
Sichtung  des  Vorhandenen  wie  der  Sammeltätigkeit  zugute  kommt  und 
uns  mit  Werken  beschenkt  hat  —  man  denke  an  die  Maittaire,  Georgi, 
Jöcher,  Panzer  und  wie  sie  alle  heißen  — ,  deren  Wert  unvergänglich  scheint. 
Nahezu  unbeweglich  dagegen  bleibt  die  allgemeine  Auffassung  vom 
Wesen  der  Bibliothek,  wie  das  auf  den  Höhen  nicht  minder  zu  beobachten 
ist  wie  in  der  Niederuner.     Die  Bibliotheque  du  Roi,   der  der  Ruhm  der  Bibiiotii.^quc  du 

*^  *  Roi  in  Paris 

größten  Bibliothek   der  Welt  immer  nur  vorübergehend   streitig   gemacht  (öffentlich  1735). 
worden  ist,  öffnet  1735  ihre  Pforten:  tous  les  S9avans  de  toutes  les  nations 
sind   willkommen,    aber    nur  Dienstags    und    Freitags   in   den  Vormittags- 
stunden, und  dabei  bleibt  es  bis  zum  Untergang  des  alten  Regimes.     Die 
denkwürdige    Parlamentsakte    von    1753    legt    den    festen    Grund    für    den  ^  Biwiothek 
Kolossalbau    des  Britischen  Museums,    der   einzigen  Bibliothek,    die   sich  ,  ^'u^eums 

'  °  '  (eri)ffnet  1-59). 

heute  der  von  Paris  zur  Seite  stellen  darf;  aber  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
hundert geht  vorüber,  bevor  das  Parlament  sich  entschließt,  seine  bis  da- 
hin auf  Geschenke  und  Pflichtexemplare  angewiesene  Schöpfung  mit  einer 
Bewilligung  zu  bedenken.  Für  Deutschland  aber  wird  diese  Dürftigkeit  ^'ü.üoth^ken'' 
des  Wachstums  der  allgemeinen  Erkenntnis  von  den  Aufgaben  der  Biblio- 
thek noch  auffälliger  dadurch,  daß  hier  zwei  Ereignisse  zu  verzeichnen 
sind,  die,  so  sollte  man  annehmen,  gerade  in  dieser  Richtung  auf  das 
günstigste  hätten  wirken  müssen.  Das  ist  einmal  jener  tiefgreifende 
Wandel,  den  seit  dem  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  der  Wissenschafts- 
und Lehrbetrieb  an  den  Universitäten  durch  die  Aufnahme  der  Wolffischen 
Philosophie  erfährt,  indem  an  die  Stelle  des  scholastisch  gebundenen  Den- 
kens das  unbefangene  Suchen  nach  Wahrheit  und  an  die  Stelle  des  alten 
trndere    die    Schulung    zur    freien    Forschung    tritt.     Und   zweitens    ist    es,      Göuingen 

'begründet  1735; 

noch  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts,  die  Begründung  und  das  schnelle   erste  modern« 

.  Bibliothek. 

Aufblühen  der  Universitätsbibliothek  m  Gottmgen,  d.  h.  der  Bibliothek, 
die  von  Anbeginn  die  das  damalige  Bibliothekswesen  beherrschenden 
Mächte,  die  Passivität  und  den  Zufall,  ausschließt  und  damit  den  Anspruch 
auf  den  Ruhmestitel  der  ersten  modernen  Bibliothek  der  Welt  gewinnt. 
Von  Anbeginn  sorgt  man  für  „einige  beständige  Zuflüsse",  die  durch  nahezu 
ebenso  beständige  außerordentliche  Beihilfen  um  das  Mehrfache  verstärkt 
werden;  von  Anbeginn  baut  man  den  Grundstock  nach  festem  Plane  aus, 
wobei  unter  Verzicht  auf  Liebhaberei  und  Luxus  in  allen  Wissenschaften 
vornehmlich  auf  „das  Nützliche"  gesehen  wird;  von  Anbeginn  sieht  man 
den  größten  Vorteil  der  Bibliothek  „in  dem  freyen  und  unbeschwerten 
Gebrauch",  weshalb  sie  täglich  für  jedermann  geöffnet  ist,  sei  es  zum  Lesen 
sei  es  zum  Entleihen;  von  Anbeginn  oder  doch  nach  kurzem  Tasten  schafft 
man  technische  Einrichtungen,  die,  nach  der  gegenwärtigen  Kenntnis  der 
Dinge  für  ihre  Zeit  vollkommen  neu,  in  ihren  wesentlichen  Stücken  noch 


-c()  Fritz  Milk  au:  Die  Bibliotheken. 

heute  nicht  übertroffen  sind:  man  stellt  die  Bücher  in  genau  der  Ordnung 
auf,  in  der  sie  im  systematischen  Katalog  verzeichnet  sind,  so  daß  das 
sachlich  Zusammengehörige  beisammen  steht  und  beisammen  bleibt,  und 
man  gibt  im  alphabetischen  Katalog  jedem  Verfasser  ein  Blatt  für  sich, 
wodurch  bei  der  Möglichkeit  der  Einschaltung  neuer  Blätter  seine  Dauer 
nahezu  unbegrenzt  wird;  und  von  Anbeginn  schließlich  ist  man  sich  dabei 
der  eigenen  Ausnahmestellung  vollkommen  bewußt,  wie  auch  der  „unbe- 
schreibliche Vortheil",  der  für  Lehrende  und  Lernende  aus  der  neuen  Ord- 
nung der  Dinge  fließt,  frühzeitig  hervorgehoben  wird. 

Frh.  V.  Münch-  Der  Mann,   dem    die   Überlieferung    einmütig    das  Hauptverdienst   an 

(i6ss— 17701     dieser  glänzenden  Schöpfung    zuschreibt,    ist  der    erste  „Pflegevater"  der 

Güttinge''rBfbiio-  neuen  Universität,  der  Freiherr  Gerlach  Adolf  von  Münchhausen.  Im 
beeMußt?"  Jahre  1 7 1 5  war  er  aus  sächsischen  Diensten  als  Königlich  Großbritannischer 
und  Kurfürstlich  Hannoverscher  Oberappellationsrat  nach  Celle  gekommen, 
ein  Jahr  bevor  Leibniz  in  Hannover  aus  dem  Leben  schied.  Eine  persön- 
liche Berührung  der  beiden  ist  trotz  des  großen  Altersunterschiedes  keines- 
wegs unwahrscheinlich.  Und  wie  es  das  Amt  des  Bibliothekars  war,  das 
zu  übernehmen  Leibniz  vor  vier  Jahrzehnten  in  Hannover  eingezogen 
war,  so  war  es  die  Bibliothek,  die  seine  letzten  Tage  beschäftigte;  wenig- 
stens berichtet  uns  Eckhart,  wie  seine  letzte  Arbeit  ein  Entwurf  über  die 
gute  Einrichtung  einer  Bibliothek  gewesen  sei,  bestimmt  für  den  Statt- 
halter von  Erfurt,  den  Grafen  Philipp  Wilhelm  von  Boineburg,  der  der 
Universität  Erfurt  seine  vortreffliche  Büchersammlung  mit  einem  Fonds 
zu  ihrer  Unterhaltung  und  Vermehrung  geschenkt  hatte.  Möglich  also, 
daß  einmal  d.  h.  wenn  wir  von  Leibniz  so  viel  wissen  als  wir  längst  wissen 
sollten,  zwischen  der  Theorie  Leibnizens  und  der  Praxis  Münchhausens 
ein  Zusammenhang  festgestellt  wird.  Wie  dem  aber  auch  sei,  das  Selt- 
same bleibt  bestehen,  daß  auch  das  lebendige  Beispiel,  gegeben  von  der 
führenden  Universität,  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  eine  erkennbare 
Wirkung  auf  die  übrigen  Bibliotheken  des  Landes  nicht  ausübt.  Bis  zu 
seinem  1770  erfolgten  Tode,  ja  über  den  Tod  hinaus  sorgt  Münchhausen 
für  die  Bibliothek  mit  demselben  unermüdlichen  Eifer,  man  müßte  sagen 
mit  derselben  väterlichen  Liebe,  derart  daß  er  nach  der  ansprechenden 
Schilderung  Johann  David  Michaelis'  „jedem  alles  Gute  gönnete,  nur  nicht, 
Job.  Matth.  daß  er  etwas  haben  sollte,  das  Göttingen  nicht  hätte".  In  Gesner  und  Heyne, 
(1691-T7611.  den  Erneuerern  der  griechischen  Studien,  hat  er  das  Glück,  für  die  junge 
^Heyne  °  Austalt  Leiter  zu  finden,  die  als  Bibliothekare  immer  unübertroffen  dastehen 
werden,  und  in  Schlüter,  dem  ehemaligen  Aufseher  der  Bülowschen  Biblio- 
thek, jenen  einzigen  Spürer  und  Helfer,  von  dem  MichaeHs  berichtet,  „daß 
er  Auctionscatalogos  mit  der  Empfindung  las,  mit  der  ein  Poet  Hallers 
Gedichte  liest".  Ein  halbes  Jahrhundert  alt,  im  Jahre  1787,  stellt  sie  sich 
mit  ihren  120000  Bänden,  ohne  in  Deutschland  ihresgleichen  zu  finden, 
neben  die  ersten  Bibliotheken  Europas,  die  sie,  was  Kataloge,  Ordnung 
der  Bestände  und  Zugänglichkeit  angeht,  ausnahmslos  weit  übertrifft.    Was 


(1729 — 1812). 


II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind. 


557 


1802  von  ihr  mit  Stolz  als  allgemein  bekannt  berichtet  wird,  „daß  sie  die 
gemeinnützigste  und  am  meisten  benutzte  Bibliothek  auf  der  Welt  sey", 
das  trifft  jetzt  bereits  zu.  Von  fern  und  nah  wird  ihre  Hilfe  in  Anspruch 
genommen;  Herder  nennt  die  Göttinger  Professoren  die  „reichen  Herren 
an  voller  Tafel",  und  in  vielgelesenen  Büchern  wird  ihr  Ruhm  ver- 
kündet. —  Wie  aber  sieht  es  unterdes  in  der  Nachbarschaft  aus? 

Da  ist  zunächst  Halle,  die  besuchteste  Universität  des  1 8.  Jahrhunderts, 
die  Universität,  von  der  im  Beginn  des  Jahrhunderts  das  Licht  aufgestrahlt 
war,  dem  die  deutschen  Universitäten  zu  danken  haben,  daß  sie  geworden 
sind,  was  sie  sind.  Hier  finden  wir  1768  die  Bibliothek  in  drei  Zimmern  der 
Städtischen  Wage  untergebracht.  Zweimal  in  der  Woche  wird  sie  auf  zwei 
Stunden  geöffnet.  Ihre  gesamte  Jahreseinnahme  beträgt  siebzig  bis  achtzig 
Taler.  „Wie  es  möglich  gewesen  ist",  schreibt  1776  Michaelis,  „daß  eine  Uni- 
versität bey  diesem  Mangel  das  hat  werden  können,  was  Halle  viele  Jahre 
hindurch  gewesen  ist,  könnte  beynahe  eine  Aufgabe  der  Philosophie  über 
die  Literairgeschichte  seyn."  Alsdann  Leipzig:  1778  schlägt  der  Studiosus 
Karl  August  Böttiger  ein  lateinisches  Epigramm  In  bibliothecam  Acade- 
iniae  Lipsicnsis  öffentlich  an:  grausig  sei  der  Tartarus,  grausig  Cerberus 
mit  seinem  dreifachen  Rachen;  aber  Tag  und  Nacht  sei  doch  der  Weg 
zu  ihnen  frei;  grimmiger  also  als  der  finstere  Herrscher  der  Unterwelt  sei 
jener  Mann,  der  die  Pforte  zum  Tempel  Apollos  verschlossen  halte,  um 
sie  kaum  einmal  für  eine  Stunde  zu  öffnen.  Selbst  die  bescheidene  Zu- 
gänglichkeit von  zweimal  zwei  Stunden  wöchentlich,  zu  der  man  sich  17  11 
entschlossen  hatte,  scheint  hiemach  zuweilen  nur  auf  dem  Papier  gestanden 
zu  haben.  Von  einer  planmäßigen  Vermehrung  aber,  ja  von  einer  Ver- 
waltung überhaupt  ist  kaum  die  Rede.  Und  so  bleibt  es  bis  zum  Jahre 
1831.  In  Marburg  sehen  wir  nicht  ohne  Staunen  die  Bibliothek  1779 — 1789 
von  einem  Manne  verwaltet,  der  sie  aus  Rücksicht  auf  seine  Gesundheit 
im  Winter  nicht  öffnet.  Das  sieht  man  sich  ruhig  zehn  Jahre  lang  an,  und 
auch  dann  hätte  man  sich  noch  kaum  darüber  beschwert,  wäre  nicht  aus 
anderen  Gründen  ein  Anlaß  zur  Beschwerde  willkommen  gewesen.  Und  wie 
es  in  Jena  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  aussieht,  das  berichtet  uns 
Goethe  mit  seiner  ganzen  Anschaulichkeit:  „Zu  den  vor  dreihundert  Jahren 
gestifteten  Anfangen  hatte  sich  nach  und  nach  eine  bedeutende  Zahl  von 
einzelnen  Büchersammlungen,  durch  Vermächtniß,  Ankauf  und  sonstige 
Contracte,  nicht  weniger  einzelne  Bücher  auf  mannichfaltigc  Weise  gehäuft, 
daß  sie  flötzartig  in  dem  ungünstigsten  Locale  bei  der  widerwärtig.sten, 
gToßentheils  zufälligen  Einrichtung  über-  und  nebeneinander  gelagert  standen. 
Wie  und  wo  man  fein  Buch  finden  sollte,  war  beinahe  ein  ausschließliches 
Geheimniß  mehr  des  Bibliothekdieners  als  der  höheren  Angestellten."  Und 
so  weiter.  Das  alles  sind  nur  Einzelheiten,  aber  doch  Einzelheiten,  die 
ein  scharfes  Licht  auf  die  Universitätsbibliothek  des  1 8.  Jahrhunderts  werfen 
und  das  bekannte  Urteil  des  trefflichen  Friedrich  Adolf  Ebert  aus  dem 
Jahre  181 1   begreiflich  machen:  „Was  sind  die   mehresten   unserer  akade- 


Bei  den  anderen 

Universitäts- 
bibliotheken ein 

EinflaB  Güt- 

tinjjcns  nicht  er- 

Icennbar.  — 

Halle. 


Leipzig. 


Marburg. 


Jena. 


558 


Fritz  Mii.kau:  Die  Bibliotheken. 


mischen  Bibliotheken?  Staubigte,  öde  und  unbesuchte  Säle,  in  denen  sich 
der  BibUothekar  wöchentlich  einige  Stunden  von  Amts  wegen  aufhalten 
muß,  um  diese  Zeit  über  —  allein  zu  seyn.  Nichts  unterbricht  die  tiefe 
Stille,  als  hier  und  da  das  traurige  Nagen  eines  Bücherwurms."  Mit 
Lächeln  nimmt  man  die  tragische  Einkleidung  hin,  die  der  damals  Zwanzig- 
jährige seiner  Kritik  gibt;  an  ihrer  Berechtigung  zu  zweifeln  ist  darum 
kein  Grund. 
EbeDsowcnigbei  Und  nicht  viel  besser  ist   es   um   diese  Zeit  mit  den  Fürstlichen  und 

den   Fürstlichen  ^,    .         .  -,-...  '  , 

und  Städtischen  Stadtischen  Bibliotheken  bestellt,  wiewohl  hier  die  zuweilen  etwas  reich- 
licher fließenden  Mittel  und  die  hin  und  wieder  anzutreffende  Verwaltung 
durch  Berufsbibliothekare,  wie  wir  heute  'sagen  würden,  d.  h.  durch 
Männer,  die  die  Arbeit  im  Dienste  der  Bibliothek  als  ihr  eigentliches  Amt 
ansehen,  das  Gesamtbild  etwas  günstiger  gestalten.  Eine  so  glänzende 
Ausnahme  aber,  wie  sie  Göttingen  unter  den  Universitätsbibliotheken  dar- 
stellt, ist  hier  nicht  zu  finden,  und  im  allgemeinen  sind  es  auch  hier  noch 
Zufall,  Willkür,    Laune,    die    dem  Bilde   die  Signatur  geben.     Welch   ein 

Herzog!.  Bibiio-  frisches  Leben  z.  B.  in  der  Gothaer  Bibliothek   bis   in    die  Mitte  der  vier- 

thek    in    Gotha.      •  t    i  i  11  ■  r  •  >^  • 

ziger  Jahre:  unter  dem  gelehrten  und  glaubenseifrigen  Cyprian  als 
Direktor  walten  ihres  Amtes  drei  Bibliothekare;  nichts  wird  versäumt, 
um  die  Sammlung  auszubauen  und  ihre  Schätze  bekannt  zu  machen, 
und  täglich  ist  sie  fünf  Stunden  lang  dem  Publikum  geöffnet.  Da  rückt 
nach  dem  Tode  Cyprians  1746  der  Antiquarius  Schläger  an  seine  Stelle. 
Seine  erste  Tat  ist,  die  Öffnung  auf  drei  Tage  mit  je  zwei  Stunden  ein- 
zuschränken; bald  kann  er  der  Regierung  melden,  daß  dem  „vormaligen 
übermäßigen  Zulaufe  bestmöglichst  gesteuert  worden",  und  in  der  Biblio- 
theksordnung, die  er  1774  entwirft,  heißt  es:  „Wer  ein  Buch  näher  an- 
sehen will,  muß  es  sich  vom  Bibliothekar  ausbitten,  der  es  ihm  dann  vor- 
Königiiche    Zeigen,    allenfalls    auch    darin    zu   lesen   verstatten  wird."     Die   Schöpfung 

Bibliothek  in  /^        rt 

Berlin.  des  Großeii  Kurfürsten  in  Berlin,  um  noch  dies  eine  besonders  lehrreiche 
Beispiel  anzuführen,  war  fröhlich  aufgeblüht,  so  daß  Graevius  es  wagen 
konnte,  in  der  Widmung  seines  Lucian  von  1687  zu  rühmen,  sie  mache 
Alexandria  und  Pergamon  die  Palme  streitig.  Aber  noch  ist  sie  nicht  ein 
halbes  Jahrhundert  alt,  als  ihre  Entwicklung  bereits  gehemmt  wird.  Da 
erlebt  sie  zunächst  Bibliothekare,  die  die  bescheidenen  Einkünfte  unter- 
zubringen zu  träge  sind,  ganze  Jahre  lang  nichts  kaufen  und  das  Geld 
thesaurieren.  Und  dann  muß  es  sich  fügen,  daß  der  Soldatenkönig  bei 
einer  Durchsicht  der  Rechnungen  auf  die  Besoldungen  dieser  Männer 
stößt.  „Was  seyn  vor  Besoldungen?  Dieses  weiß  ich  nicht"  schreibt  er 
dazu.  Die  Gehälter  werden  gestrichen;  solange  er  regiert,  wird  kein  Buch 
gekauft,  und  als  1723  sich  ein  auswärtiger  Gelehrter  bei  einem  der  Biblio- 
thekare nach  einer  Handschrift  erkundigt,  da  schreibt  ihm  dieser  zurück, 
daß  er  nur  sehr  selten  die  Bibliothek  betrete,  sublato  iam  omni  stipendio. 
Auch  in  den  ersten  dreißig  Jahren  der  Regierung  Friedrichs  des  Großen 
ruht   der   Bücherkauf  vollständig.    Was   der  Bibliothek   von    ihren    regel- 


II.   Wie  die  Bibliolhelien  geworden   sind.  ccn 

mäßigen  Einkünften  nach  allerlei  kleinen  Ausgaben  übrig  bleibt,  führt  sie 
an  den  König  ab,  der  um  dringlichere  Verwendung  nie  in  Verlegenheit 
ist.  Dann  freilich  kommt  wieder  eine  kurze  Zeit  des  Aufschwungs ;  mit 
freigibiger  Hand  spendet  der  König  jetzt  namhafte  Summen  für  Bücher- 
ankäufe, um  das  Versäumte  nachzuholen,  zuletzt  Jahr  für  Jahr  8000  Taler, 
und  im  Frühjahr  1784  zeigt  sie  sich  zum  erstenmal  in  dem  wundervollen  Bau, 
den  er  ihr  errichtet  hat  und  der  ihr  noch  heute  Unterkunft  gewährt.  Aber 
wieder  geht  es  bergab,  als  die  großen  Augen  sich  geschlossen  haben. 
Jahrelang  wird  der  ihr  jetzt  zugemessene  ordentliche  Anschaffungsfonds 
dazu  verbraucht,  um  eine  einheitliche  Ordnung  der  nach  ihrer  Herkunft 
in  fünf  gesonderten  Sammlungen  aufgestellten  Bestände  durchzuführen. 
Immerhin  gibt  es  indes  noch  ansehnliche  Vermehrungen,  wenngleich 
wesentlich  aus  außerordentlichen  Einnahmen.  Mit  dem  Einbruch  der  un- 
glücklichen Zeit  aber  fällt  die  Bibliothek  in  einen  Zustand  der  Erstarrung, 
aus  der  sie  erst  durch  Wilhelm  von  Humboldt  zu  neuem,  kraftvollerem 
Leben  erweckt  wird.  Und  während  desselben  Zeitraums  welch  ein 
Schwanken  in  der  Praxis  gegen  die  Benutzer!  Die  zum  Beginn  ohne 
jede  Schwerfälligkeit  gehandhabte  Verleihung  wird  17 10  auf  Klagen 
der  Bibliothekare  über  Mißbräuche  auf  die  Wirklichen  Geheime -Räte 
beschränkt,  zu  denen  im  folgenden  Jahre  durch  besondere  Vergünsti- 
gung noch  die  Mitglieder  der  Sozietät  der  Wissenschaften  treten;  jeder 
andere  hat  die  Erlaubnis  des  Kurators  d.  h.  eines  Staatsministers  nach- 
zusuchen, deren  Erteilung  überdies  1758  an  die  Bedingung  geknüpft  wird, 
daß  zuvor  für  die  verlangten  Bücher  ausreichende  Sicherheit  zu  stellen  sei. 
Diese  Erlaubnis  aber  ist  für  immer  verwirkt,  wenn  die  Bücher  nicht  binnen 
vierzehn  Tagen  zurückgeliefert  sind.  Als  das  neue  Haus  bezogen  ist,  be- 
seitigt Friedrich  der  Große  die  Verleihung  gänzlich  und  läßt  dafür  die 
„Lese-Cammer"  um  sechs  Uhr  früh,  im  Winter  um  acht  Uhr  öffnen;  in 
dieser  Lesekammer  aber  stehen,  wie  wir  aus  einer  gleichzeitig^en  Ver- 
ordnung des  Königs  erfahren,  acht  Tische,  ebensoviel  Stühle  und  ebenso- 
viele  Dinte-  und  Sandfässer.  Schon  1786  wird  indes  auf  Betreiben  der 
Akademie  der  Wissenschaften  die  Verleihung  wieder  gestattet;  aber  1790 
tritt  von  neuem  die  Beschränkung  auf  die  Prinzen  des  Königlichen  Hauses, 
die  Staatsminister  und  die  Generale  ein,  und  die  bisher  tägliche  Öffnung 
wird  auf  drei  Tage  in  der  Woche  herabgesetzt.  Und  derselbe  Mangel  an 
Stetigkeit  schließlich  in  der  inneren  Geschäftsführung:  von  Anbeginn  sind 
alphabetischer,  systematischer  und  Standortskatalog  in  Aussicht  genomme  n ; 
aber  nur  der  alphabetische,  nach  den  Beständen  von  1666  angelegt,  wird 
abgeschlossen,  und  auch  er  nur  mit  langen  Unterbrechungen  und  großen 
UnVollständigkeiten  fortgeführt.  Bei  den  übrigen  kommt  man  über  oft 
wiederholte  Ansätze  nicht  hinaus;  selbst  so  energische  Mahnungen  wie 
die  des  ersten  Königs,  er  werde  den  Bibliothekaren  ihr  Gehalt  nehmen, 
wenn  sie  nicht  fleißiger  würden,  sind  erfolglos.  Es  bleibt  ein  mühsames, 
kümmerliches  Fortwirtschaften   bis   ins  19.  Jahrhundert   hinein.     Und   end- 


,aq  Fritz  Mii.kau:  Die  Bibliotheken. 

lieh,  um  auch  das  noch  zu  berühren:  am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  vier 
bis  fünf  Bibliothekare,  während  der  Regierung  Friedrichs  des  Großen  zwei, 
am  Ende  des  Jahrhunderts  drei.  Dieses  bunte  Auf  und  Nieder,  so  viel 
bewegter  als  die  Kurve,  in  der  sich  die  Entwicklung  der  Wissenschaft 
und  der  ihr  dienenden  Einrichtungen  auch  in  dieser  Zeit  darstellt,  ist  so 
typisch  für  die  Bibliotheken,  daß  das  längere  Verweilen  bei  dieser  einen 
Anstalt  berechtig-t  schien. 

Der  Bibliothekar  Und  jetzt  noch  einen  Blick  auf  den  Bibliothekar  des  1 8.  Jahrhunderts. 

^^  'd/r«.'''"""  Von  dem  Wesen  seines  Amtes  hat  er  noch  kaum  eine  andere  Vorstellung 
als  seine  Vorgänger.  Er  ist  entweder,  wie  bei  den  Universitätsbibliotheken 
ausnahmslos,  der  Professor,  der  nebenamtlich  einen  mäßigen  Bruchteil 
seiner  Zeit  der  Bibliothek  widmet,  zuweilen  unterstützt  von  Studenten,  die 
dafür  den  Freitisch  genießen;  was  ihn  dazu  veranlaßt  hat,  diesen  Posten 
zu  übernehmen,  ist  im  besten  Falle  das  Bedürfnis  nach  einer  freieren  Be- 
nutzung der  Bibliothek;  zuweilen  wird  es  die  Neigung  gewesen  sein  „zu 
krahmen  und  sich  zu  divertiren",  wie  Gesner  sich  in  einem  Briefe  an 
Münchhausen  wundervoll  bezeichnend  über  einen  Bewerber  ausdrückt;  in 
der  Regel  aber  wird  er  eben,  nach  der  schönen  Wendung,  mit  der  Robert 
von  Mohl  einen  seiner  Mitarbeiter  an  der  Tübinger  Bibliothek  charakteri- 
siert, die  Stelle  lediglich  als  eine  „Veranlassung  zu  einem  Gehalte«  be- 
trachtet haben,  was  bei  dessen  Höhe  —  in  Leipzig  sind  es  immer  noch 
die  alten  fünf  Gulden  und  drei  Groschen  halbjährlich,  in  Marburg  bis  ins 
19.  Jahrhundert  hinein  zwanzig  Gulden  das  Jahr  nebst  freier  Wohnung  — 
einer  milderen  Beurteilung  sicher  ist.  Oder  er  ist  der  Gelehrte  oder  der 
Literat,  der  in  voller  Unbefangenheit  die  Ausnutzung  der  Bibliothek  als 
seine  eigentliche  Aufgabe  ansieht,  wie  denn  Lessing  von  Wolfenbüttel  an 
seinen  Vater  schreibt,  man  habe  bei  der  Berufung  mehr  darauf  gesehen, 
daß  er  die  Bibliothek  als  daß  die  Bibliothek  ihn  nutzen  solle;  oder  auch 
der  Liebhaber,  der  eifrig  sammelt  und  aufstapelt,  aber  den  Überblick  für 
sich  monopolisiert  und  das  profanum  volgus  nach  Möglichkeit  fern  hält. 
Er  ist  nicht  gerade  selten  gefällig  und  hilfsbereit;  er  ist  häufiger  treu  und 
fleißig  bei  der  Ordnung  und  Verzeichnung  der  Bestände,  wenngleich  mei- 
stens mit  einem  sehr  auffälligen  Mangel  an  Voraussicht  oder  an  geschicht- 
lichem Sinn,  indem  er,  unbelehrt  durch  das  warnende  Beispiel  seiner  Vor- 
gänger, immer  wieder  den  Katalog  so  anlegt,  als  wäre  dem  Wachstum 
der  Sammlung  eine  bestimmte  und  zwar  bald  zu  erreichende  Grenze  ge- 
setzt. Aber  er  ist  nur  ganz  ausnahmsweise  der  Mann,  der  mit  bewußtem 
Willen  seine  ganze  Kraft  einsetzt  oder  auch  nur  sie  einzusetzen  für  seine 
Pflicht  hält,  um  die  Nutzbarkeit  der  ihm  anvertrauten  Sammlung  für  Gegen- 
wart und  Zukunft  auf  die  erreichbare  Höhe  zu  bringen.  Und  was  weit 
■  schlimmer  ist:  niemand  verlangt  derartiges  von  ihm,  weder  seine  Obrig- 
keit noch  seine  Klientel.  Seine  Selbständigkeit  ist  zudem,  besonders  in 
dem  wichtigen  Punkte  der  Erwerbungen,  häufig  derart  beschränkt,  daß 
ein  starkes  Verantwortlichkeitsgefühl,  dieser  kräftigste  Hebel  aller  Tüchtig- 


n.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  c5l 

keit,  sich  kaum  entwickeln  kann.  Die  fähigkeit  zur  Verwaltung  der 
Bibliothek  ist  bei  ihm  als  einem  gebildeten  Manne  ohne  weiteres 
vorausgesetzt  worden.  So  hat  er,  wie  Hanslik  in  seiner  Geschichte  der 
Prager  Universitätsbibliothek  diese  seltsame  Übung  schlagend  kennzeichnet, 
den  Amtseid  als  Meister  abgelegt,  um  als  Lehrling  zu  beginnen,  und  die 
Bibliothek  hat  in  der  Regel  diese  „Meisters  Lehrjahre"  teuer  zu  bezahlen. 
Hat  er  Temperament,  so  findet  er  das  Bestehende  leicht  unerträglich,  und 
frischweg,  mit  der  ganzen  Sicherheit  des  Nichtkenners,  geht  er  ans  Um- 
stürzen. Hat  er  aber  glücklich  den  Augiasstall  gereinigt  —  wie  oft  ist 
nur  dies  Bild  hier  gebraucht  worden!  — ,  so  ist  er  keineswegs  davor  sicher, 
daß  sein  Nachfolger  es  hoch  an  der  Zeit  findet,  der  Verwahrlosung  ein 
Ende  zu  machen.  In  der  bibliothekarischen  Technik  ist  eben  eine  Eini- 
gung der  Anschauungen  noch  kaum  angebahnt,  und  die  Weisheit,  daß  hier 
eine  konsequent  durchgeführte  Dummheit  zu  hundertmal  besseren  Ergeb- 
nissen führe  als  ein  noch  so  vernünftig  begründeter  Wechsel,  ist  noch  nicht 
entdeckt. 

Alles  in  allem:  von  der  ebenso  glänzenden  wie  einsamen  Ausnahme  Rückblick  auf 
Göttingen  abgesehen,  hat  das  i8.  Jahrhundert  die  Bibliotheksverwaltung  hundert, 
in  ziemlich  demselben  Stande  hinterlassen,  in  dem  es  sie  überkommen  hat. 
Der  selige  Hirsching,  weiland  Mitglied  des  Hochfürstlichen  Instituts  der 
Moral  und  schönen  Wissenschaften  in  Anspach,  dem  wir  vom  Ausgange 
des  Jahrhunderts  einen  vierbändigen  Versuch  einer  Beschreibung  der  sehens- 
würdigen Bibliotheken  Teutschlands  verdanken,  nennt  die  Bibliotheken 
„die  Mausoleen,  in  denen  der  unsterbliche  Nachlaß  der  edelsten  Seelen 
beysammen  ruht".  Es  gehört  keine  besondere  Bosheit  dazu,  um  diese 
Bezeichnung  als  eine  im  allgemeinen  treffende  Kritik  der  Bibliotheken 
seiner  Zeit  anzusprechen.  Angesichts  der  Tatsache  vollends,  daß  Klagen 
wissenschaftlicher  Arbeiter  über  die  Unzulänglichkeit  der  Bibliotheken  nur 
ganz  vereinzelt  sich  hören  lassen,  möchte  man  sagen,  das  Jahrhundert 
habe  die  Bibliotheken  gehabt,  die  es  verdiente  oder  doch,  die  es  brauchte. 
Aber  wie  das  Schweigen  der  Beteiligten  sehr  wohl  darin  seine  Erklärung 
finden  kann,  daß  der  Begriff  der  Öffentlichkeit  noch  zu  wenig  ausgebildet 
ist,  um  den  heute  jedermann  geläufigen  Gedanken  von  dem  berechtigten 
Anspruch  der  Allgemeinheit  an  die  Leistungsfähigkeit  der  Bibliotheken 
aufkommen  zu  lassen,  so  zeigt  andererseits  das  Beispiel  von  Göttingen, 
wo  man  eine  auch  nach  dem  modernen  Maßstab  recht  ansehnliche  Be- 
nutzungsziffer notiert,  daß  das  wissenschaftliche  Bedürfnis  wohl  vorhanden, 
aber  nicht  überall  stark  genug  ist,  um  seine  Befriedigung  zu  erzwingen. 

Eingeleitet  und  angebahnt  wird  die  allgemeine  Wendung  in  der  Rieh-    Anbruch  der 

a  r^  &  ö  neuen  Zeit. 

tung  auf  die  moderne  Entwicklung  erst  durch  die  Umwälzungen,  die  mit  g^"'""  ^"' ■?*" 
dem    Ende    des    i8.  Jahrhunderts    über   Europa   hereinbrechen.     Wie    der  ,?'*'5.''.''*=',"  H"" 

'  die  W  ende   de» 

Sturm  Bestand  und  Besitz  der  Bibliotheken  zurechtgerüttelt,  ist  schon  vor-  •«.Jahrhunderts 
hin   berührt  worden.     In  Deutschland   hat    er    über    ein   Dutzend    halbver- 
kümmerter Universitäten  weggefegt,  Klöster  und  Stifter  und  reichsunmittel- 

Da  Kultur  dsr  Gbosnwart,    L  i.  36 


-(),  Fritz  Milk  au:  Die  Bibliotheken. 

bare  Staaten  und  Städte  die  Menge.  Nicht  weniger  als  anderthalbhundert 
Büchersammlungen  sind  in  die  bayrische  Hauptstadt  zusammengeweht  und 
haben  der  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  jenen  Reichtum  an  alten 
Beständen  zugeführt,  mit  dem  sie  stets  die  erste  Stelle  in  Deutschland 
einnehmen  wird;  ihrer  siebzig  und  mehr  aus  den  säkularisierten  Klöstern 
und  Stiftern  Schlesiens  wachsen  zu  der  Breslauer  Universitätsbibliothek 
zusammen  usw.  Es  sind  aber  nicht  nur  die  lebensunfähigen  Sammlungen, 
mit  denen  das  Unwetter  aufgeräumt  hat,  um  den  widerstandskräftigen 
Licht  und  Luft  zu  mehren  und  für  neue,  kraftvollere  Bildungen  das  Ma- 
terial frei  zu  machen.  Auch  mancherlei  lebensunfähige  und  überlebte 
Anschauungen  und  Einrichtungen  sind  hier  wie  auf  allen  Grebieten  des 
öffentlichen  Lebens  von  dem  kräftigen  Hauche  fortgeblasen  oder  doch  in 
dem  neuen  Lichte  als  unhaltbar  erkannt.  Vor  allem  aber  sehen  wir  jetzt 
endlich  den  Gedanken  allgemeiner  rezipiert,  dem  allein  die  treibende, 
vorwärts  drängende  Kraft  innewohnt,  die  dazu  nötig  war,  um  das  Biblio- 
thekswesen aus  dem  bisherigen  Beharrungszustand  in  Bewegung  zu  bringen: 
den  Gedanken,  daß  die  Bibliothek  eine  öffentliche  Einrichtung  ist,  im  öffent- 
lichen Interesse  aus  öffentlichen  Mitteln  zu  unterhalten.  Das  ist  der  ent- 
schiedene Gewinn,  den  das  Bibliothekswesen  aus  dem  großen  Wandel  der 
Anschauungen,  der  mit  den  politischen  Umwälzungen  jener  Tage  Hand 
in  Hand  ging,  davongetragen  hat. 
Das  Beispiel  Zunächst   ist   allerdings    die   zugleich    mit    der  Ruhe   eingetretene  Er- 

wrrtsam'^drrch  schöpfung  ZU  groß,  um  eine  durchgreifende  Anwendung  der  neuen  Er- 
^i767-''i'8^!'^'  kenntnis  zu  gestatten.  Aber  überall  geht  man  doch  an  eine  Revision  der 
alten  Einrichtungen;  überall  ist  es  etwas  Selbstverständliches  geworden, 
daß  zu  einer  Bibliothek  eine  feste  Einnahme  gehört,  und  soweit  die  Knapp- 
heit der  Mittel  es  gestattet,  trägt  man  dem  Rechnung;  überall  gibt  es  neue 
Ordnungen,  und  in  allen  kommt  der  neue  Geist  in  dem  Bestreben,  die  Bestände 
zu  erschließen  und  die  Benutzung  zu  erleichtern,  zu  deutlichem  Ausdruck. 
Bald  gehören  die  Bibliotheken,  die  nicht  täglich,  sei  es  auch  nur  für  eine  Stunde 
ihre  Pforten  öffnen,  zu  den  Ausnahmen;  fleißig  wird  mit  den  Bibliotheks- 
ferien und  mit  der  alten  engherzigen  Beschränkung  der  an  den  Einzelnen 
zu  verleihenden  Bändezahl  aufgeräumt,  wenn  hier  auch  noch  ansehnliche 
Trümmer  stehen  bleiben,  und  allerorten  sind  wenigstens  neue  Ansätze  zu 
durchgreifenden  Ordnungs-  und  Katalogisierungsarbeiten  zu  bemerken. 
Und  da  ist  es  höchst  interessant  zu  sehen,  wie  endlich  auch  die  in  Göt- 
tingen ausgestreute  Saat  aufzukeimen  beginnt.  Als  fleißiger  Student  hat 
Wilhelm  von  Humboldt  in  Göttingen  den  Segen  einer  reichen  und  plan- 
voll verwalteten  Bibliothek  schätzen  lernen  und  wahrscheinlich  von  seinem 
Lehrer  Heyne,  dem  großen  Bibliothekar,  zu  dessen  bevorzugten  Schülern 
er  zählte,  mancherlei  von  bibliothekarischen  Dingen  gehört.  Sicher  ist, 
daß  er,  wie  schon  erwähnt  wurde,  den  starken  Anteil,  der  an  der  glän- 
zenden Entwicklung  der  Göttinger  Universität  auf  die  Bibliothek  fällt,  voll 
erfaßt  hat.    Wer  möchte  da  den  Zusammenhang  verkennen,  wenn   er  sich 


n.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  563 

180g,  sobald  die  Berliner  Bibliothek  der  eben  von  ihm  übernommenen 
Sektion  des  öffenthchen  Unterrichts  unterstellt  ist,  mit  besonderer  Liebe 
ihrer  annimmt?  Trotz  der  schweren  Ungunst  der  Zeit  weiß  er  ihren  Etat 
auf  3500  Taler  zu  bringen,  d.  h.  auf  annähernd  die  doppelte  Höhe,  die  er 
vor  dem  Ausbruch  des  unglücklichen  Krieges  erreicht  hat.  Sofort  betreibt 
er,  noch  von  Königsberg  aus,  die  Ausarbeitung  eines  neuen  Reglements, 
die  Reorganisation  des  Dienstes,  nachdrücklich  betonend,  daß  die  Anstalt 
zum  Nutzen  des  ganzen  Publikums  bestimmt  sei.  Und  als  man  im  Herbst 
1810  auf  das  Drängen  der  Aufsichtsbehörde  —  Humboldt  ist  inzwischen 
aus  dem  Amte  geschieden,  aber  die  Kontinuität  wird  durch  seinen  Rat 
Uhden  gewahrt  —  mit  der  Herstellung  eines  neuen  alphabetischen  Kata- 
logs beginnt,  da  ist  es  das  Göttinger  System,  das  zum  Muster  genommen 
wird.  So  heißt  es  weiter  in  dem  18 iq  erlassenen  Bibliotheksreglement 
für  die  neue  Universität  Bonn:  „Die  beiden  Hauptkataloge  sind  in  der 
Art  anzulegen,  daß  sie  fortdauernd  erweitert  werden  können,  ohne  je  einer 
Umarbeitung  zu  bedürfen.  Für  einen  jeden  Schriftsteller  werden  daher 
ein  Blatt  oder  mehrere  bestimmt,  und  diese  Blätter  werden,  bis  die  Biblio- 
thek sich  zu  einiger  Vollständigkeit  erhoben  haben  wird,  in  Pappkasten 
aufbewahrt.  Sind  sie  nachmals  gebunden,  so  können  immerhin  andere 
Blätter  eingeschoben  und  von  Zeit  zu  Zeit  eingeheftet  werden."  Wiederum 
also  das  Vorbild  von  Göttingen,  wobei  es,  zumal  in  Anbetracht  des  auch 
für  die  damaligen  Verfügringen  ungewöhnlichen  Eingehens  auf  die  Einzel- 
heiten nahe  liegt,  an  die  Mitwirkung  Welckers  zu  denken,  des  ersten 
Bibliothekars  der  neuen  Anstalt,  den  man  aus  Göttingen  für  die  rheinische 
Hochschule  gewonnen  hatte.  Dieselbe  Vorschrift  begegnet  dann  häufiger, 
wenn  auch  nicht  mehr  mit  derselben  Ausführlichkeit,  und  zwar  nicht  nur 
in  preußischen  Ordnungen;  und  die  ganze  Einrichtung  von  Göttingen  sehen 
wir  adoptiert,  wenn  man  für  die  neubegründete  Berliner  Universitäts- 
bibliothek in  dem  Reglement  von  1831  noch  dazu  die  Anweisung  gibt, 
die  Bücher  in  einer  dem  Realkatalog  entsprechenden  Ordnung  aufzustellen. 

Daß  im  übrig-en  die  Technik  noch   manches  zu  lernen  hat,  sieht  man  stand  der  Bibiio- 

'^  .  thekstcchnik. 

z.  B.  aus  der  heute  recht  wunderlich  anmutenden  Bestimmung,  die  sich 
in  einigen  Bibliotheksregleraents  dieser  Zeit,  wie  dem  Breslauer  von  1815 
und  dem  Bonner  von  181Q  findet,  wonach  der  alphabetische  und  der  Real- 
katalog „von  Zeit  zu  Zeit"  aus  den  Eintragungen  im  Akzessionskatalog 
zu  vervollständigen  sind,  während  es  heute  oberster  Grundsatz  ist,  die 
Kataloge  ständig  auf  dem  Laufenden  zu  halten  und  zwar  unter  Vermei- 
dung aller  mittelbaren  Quellen  auf  Grund  der  Bücher  selbst.  Aber  die 
wesentlichsten  Dinge  sind  doch  bereits  erledigt,  zum  Teil  seit  Jahr- 
hunderten: man  weiß,  daß  die  Bibliothek  jederzeit  imstande  sein  soll, 
anzugeben,  ob  sie  ein  gesuchtes  Buch  besitzt,  wann  und  unter  welchen 
Umständen  es  in  ihren  Besitz  gelangt  ist,  wo  es  seinen  Platz  hat,  welche 
Bücher  sie  über  einen  bestimmten  Gegenstand  zur  Verfügung  stellen  kann, 
welche  sie  verliehen  hat  usw.,   und   für  alle   diese  Anforderungen  ist  die 

36» 


564 


Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 


beste  oder  doch  eine  brauchbare  Lösung  —  auch  hier  führen  mancherlei 
Wege  nach  Rom  —  gefunden.  Selbst  das  Verlegenheitsprodukt  des  Zettel- 
katalogs, den  früheren  Generationen  nur  als  eine  Vorarbeit  für  den  Band- 
katalog bekannt  und  heute  weithin  als  die  einzige  Katalogform  gepriesen, 
ist  bereits  hier  und  da  anzutreffen,  und  es  mehren  sich  die  Versuche,  die 
Erfahrungen  der  Praxis  auf  literarischem  Wege  dem  Anfänger  zugäng- 
lich zu  machen  und  damit  einer  Vereinheitlichung  der  wichtigsten  Grund- 
sätze vorzuarbeiten,  Bemühungen  übrigens,  die  schwerlich  darum  an 
ihrer  Nützlichkeit  etwas  eingebüßt  hätten,  wenn  man  den  unglückseligen 
Namen  BibUothekswissenschaft  nicht  für  sie  erfunden  hätte. 
Der  Bibliothekar  Sehen   wir   so    das   Bibliothekswesen   endUch   auf  die   Bahn   gebracht, 

'''En43i'ng.'''  so  ist  doch  das  Schwergewicht  des  Bestehenden  zu  drückend,  um  schnelle 
Schritte  zu  erlauben.  Es  ist  etwas  unfreundlich  von  Grillparzer,  wenn  er 
aus  seiner  kurzen  Tätigkeit  an  der  Wiener  Hofbibliothek  im  Jahre  1Ö13 
von  seinen  Kollegen  erzählt,  sie  hätten  sich  benommen  ungefähr  wie  der 
Hund  beim  Heu  oder  wie  die  Invaliden  in  einem  Zeughause.  Aber  den 
Bibliothekar,  wie  er  dazumal  noch  stark  vertreten  gewesen  zu  sein  scheint, 
hat  er  damit  nicht  schlecht  gekennzeichnet:  Kustos  im  eigentlichen  Sinne 
des  Worts;  vielleicht  stolz  auf  die  Bewunderung,  die  die  ihm  anvertrauten 
Schätze  finden,  aber  leicht  den  Anspruch  auf  deren  Benutzung  als  eine 
Störung  oder  als  einen  persönlichen  Angriff  betrachtend  und  ohne  eine 
Ahnung  davon,  daß  in  der  Förderung  der  Ausnutzung  dieser  Schätze  ganz 
wesentlich  seine  Existenzberechtigung  bestehe.  Und  dieser  Typus  ist 
natürlich  nicht  mit  einem  Schlage  verschwunden,  wie  denn  Rudimente  jener 
Bildung  noch  heute  anzutreffen  sind.  Eine  Erscheinung  indes,  die  alles 
Auffällige  verliert,  wenn  man  sieht,  wie  der  Staat,  der  in  seiner  jetzt  un- 
gemein gesteigerten  Fürsorge  für  die  Universitäten  auch  den  Universitäts- 
bibliotheken ein  sehr  viel  stärkeres  Interesse  zuwendet,  seine  heilsame 
Reorganisation  nicht  auf  das  Beamtenmaterial  erstreckt,  sondern  vielmehr, 
wo  der  Erlaß  neuer  Reglements  die  Gelegenheit  dazu  bietet,  ausdrücklich 
die  alte  Übung  sanktioniert,  nach  der  die  Bibliothek  nebenamtlich  von 
Dozenten  der  Universität  zu  verwalten  ist,  uneingedenk  der  alten  Lehre, 
daß  niemand  zween  Herren  dienen  kann,  insonderheit  nicht,  wenn  einem 
dieser  Herren,  wie  hier  dem  ursprünglich  gewählten,  nach  der  ganzen 
Lage  der  Dinge  wonicht  die  Liebe,  so  doch  der  Eifer  nahezu  ausschließ- 
lich gehören  muß.  Ein  auch  bei  voller  Berücksichtigung  des  damaligen 
Standes  der  Erfahrungen  nicht  ganz  leicht  zu  verstehender  und  sehr  ver- 
hängnisvoller Fehler,  dessen  Wirkungen  noch  heute  nicht  überwunden  sind. 
Verhängnisvoll  nicht  allein  für  die  betroffenen  Anstalten,  sondern  auch  für 
die  allgemeine  Entwicklung  des  Bibliothekswesens,  indem  die  fruchtbaren 
Anregungen,  die  sich  aus  den  ständigen  Anforderungen  der  Universität 
als  einer  die  Wissenschaft  in  allen  ihren  Zweigen  besitzenden  und  suchenden 
Gemeinschaft  für  die  Bibliothek  ergeben,  bei  der  Gleichgültigkeit  der 
Bibliothekare    und    ihrer   Abneigung    gegen    alle    mit    gesteigerter   Arbeit 


II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  565 

verbundenen  Neuerungen  auf  unfruchtbaren  Boden  fallen  und  damit  für 
die  Gesamtheit  der  Bibliotheken  verloren  gehen.  Wie  hier  natürlich  auch 
das  Vorbild  dafür  zu  suchen  ist,  daß  man  ebenso  bei  den  anderen  großen 
Bibliotheken  zunächst  weiter  an  der  Tradition  festhält,  zum  mindesten  bei 
der  Besetzung  der  leitenden  Stelle  das  entscheidende  Gewicht  auf  den 
Glanz  des  wissenschaftlichen  Namens  zu  legen,  ohne  nach  dem  Vorhanden- 
sein der  für  das  Amt  notwendigen  Fähigkeiten  und  Neigungen  sonderlich 
zu  fragen.  Ein  System,  von  dem  sich  Besseres  schwerlich  sagen  läßt,  als 
daß  es  das  Aufkommen  ausgezeichneter  Bibliothekare  nicht  hat  verhindern 
können.  Denn  wenn  Robert  von  Mohl  und  Friedrich  Ritschi  heute  jedem 
Bibliothekar  leuchtende  Vorbilder  sind,  so  sind  sie  das  geworden  nicht 
wegen,  sondern  trotz  des  Systems,  wie  eben  ungewöhnliche  Männer  Un- 
gewöhnliches vermögen.  Jedenfalls  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  die 
bis  über  die  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts  hinaus  andauernde  Langsamkeit 
der  wohl  eingeleiteten  Vorwärtsbewegung  mehr  auf  die  Unzulänglichkeit 
der  Bibliothekare  zurückgeführt  werden  muß  als  auf  den  gewöhnlich  in 
den  Vordergrund  gestellten  Mangel  an  Mitteln,  auch  abgesehen  davon, 
daß  die  Mittel  zweifellos  reichlicher  geflossen  wären,  wenn  die  Bibliothe- 
kare es  verstanden  hätten,  durch  ihre  Wirksamkeit  ein  größeres  Interesse 
zu  erzwingen.  Wie  Antonio  Panizzi,  der  Reorganisator  des  Britischen 
Museums,  so  wußten  auch  Mohl  und  Ritschi  verschlossene  Hände  zu  öffnen. 
Wie  weit  aber  der  Durchschnitt  von  solchem  Heraustreten  aus  der  Pas- 
sivität entfernt  gewesen  sein  muß,  das  wird  beleuchtet  durch  die  oft  be- 
richtete Wunderlichkeit,  daß  es  dazumal  Universitätsbibliotheken  gegeben 
hat,  die  sich  aus  Furcht  vor  Störung  ihrer  Bequemlichkeit  gegen  die  Er- 
höhung ihrer  Mittel  sträubten. 

Gerechterweise  darf  man  indes  nicht  außer  acht  lassen,  daß  der  Biblio-  ^^"  •'"'  «■>'- 

lastet. 

thekar  dieser  Zeit  einerseits  durch  die  Tradition,  die  keine  erheblichen 
Ansprüche  an  seine  Leistungen  stellt,  und  andrerseits  durch  das  unglück- 
liche System,  dem  er  seine  Anstellung  verdankt,  wesentlich  entlastet  wird. 
Abgesehen  vielleicht  von  der  Organisation  des  Dienstes  und  der  Ergän- 
zung der  Bestände  setzt  sich  alle  bibliothekarische  Tätigkeit  aus  einer 
unendlichen  Fülle  kleiner,  einzeln  schnell  zu  erledigender  Leistungen  zu- 
sammen, die,  wenngleich  sie  zum  Teil  eine  umfassende  wissenschaftliche 
Bildung  und  immer  Klarheit  und  Genauigkeit  zur  Voraussetzung  haben, 
doch  nur  ausnahmsweise  zu  einer  nachhaltigeren  Konzentration  der  gei- 
stigen Kräfte  zwingen  und  darum  gerade  auf  geistig  bewegliche  Arbeiter 
leicht  abstumpfend  wirken,  es  sei  denn,  daß  diese  ihren'^Beruf  mit  echter 
Liebe,  man  möchte  sagen  mit  Leidenschaftlichkeit  umfassen  und  von  dieser 
Grrundlage  aus,  stets  den  Zweck  und  das  Ganze  im  Auge  behaltend,  auch 
die  mechanischere  Arbeit  geistig  zu  beleben  verstehen,  wie  denn  im  letzten 
Grunde  jegliche  Arbeit  ihren  Charakter  durch  den  Arbeiter  erhält.  Dazu 
kommt,  daß  die  bibliothekarische  Arbeit  nicht  viel  anders  wie  die  Tugend 
ihren  Lohn  in  sich  trägt,  indem  sie,    ungleich  den  Arbeiten   der  anderen 


566 


Fritz  Milkau;  Die  Hibliotheken. 


gelehrten  Berufe,  in  stiller  Verborgenheit  sich  vollzieht,  nur  von  wenigen 
beachtet  und  noch  seltener  richtig  gewertet,  bei  der  Notwendigkeit  einer 
unverrückbaren  Schablone  für  die  meisten  Zweige  des  Dienstes  zur  Ent- 
faltung- individueller  Kräfte  nur  sehr  geringe  Gelegenheit  bietet  und  kaum 
einen  anderen  Ruhm  zu  erwerben  gestattet  als  den  treuer  Pflichterfüllung. 
Diese  Entsagung  aber  wird  dadurch  nicht  erleichtert,  daß  sie  angesichts 
reichbesetzter  Tische  geübt  werden  muß.  Wie  also  sollte  man  ins  Gericht 
gehen  mit  jenen  Männern,  wenn  sie,  die  die  akademische  Lehr-  und 
Forschertätigkeit  zum  Lebensberuf  erwählt  und  dann,  in  der  Regel  aus 
rein  äußeren  Gründen,  meist  lediglich  zur  Aufbesserung  ihres  Einkommens 
das  bibliothekarische  Nebenamt  übernommen  hatten  oder  hatten  über- 
nehmen müssen,  im  Widerstreit  der  Pflichten  dem  Gegenstand  ihrer  Nei- 
gung den  Vorzug  gaben?  Und  an  noch  eins  muß  zu  ihren  Gunsten  er- 
innert werden:  das  ist  die  Kurzsichtigkeit,  mit  der  auch  die  neuen  Ord- 
nungen aus  dem  Anfang  des  Jahrhunderts  noch  ziemlich  regelmäßig  an 
der  alten  Übung  festhalten,  die  zur  Ergänzung  der  Bestände  vorgesehenen 
Mittel  den  einzelnen  Fakultäten  oder  gar  in  noch  heilloserer  Verzettelung 
den  einzelnen  Fachvertretem  zu  selbständiger  Verwendung  zu  überweisen. 
Eine  Maßregel,  die  für  die  wichtigste  Seite  der  Bibliotheksverwaltung  die 
Planlosigkeit  zum  obersten  Gesetz  erhebt  und  eigens  ersonnen  scheint,  um 
in  dem  Bibliothekar  jedes  Verantwortlichkeitsgefühl  zu  ersticken.  Alles 
in  allem  möchte  man  daher,  was  die  Arbeit  innerhalb  der  vier  Wände  der 
Bibliothek  angeht,  mehr  erstaunen  darüber,  daß  trotz  des  Systems  noch 
so  vieles  geschehen  ist,  als  über  die  Fülle  des  Versäumten.  Wie  z.  B.  die 
Tatsache,  daß  Lobeck  den  Realkatalog,  den  „baldmöglichst"  herzustellen 
das  Reglement  von  1822  die  Königsberger  Bibliothek  anweist,  trotz  seiner 
langen,  bis  1858  währenden  Amtsführung  niemals  in  Angriff  genommen 
hat,  verständlicher  scheint  als  die  ungeheure  Arbeit,  die  wir  in  Bonn  von 
Welcker  und  Ritschi  geleistet  sehen. 
Die  Selbständig.  Bezeichnenderweise  ist  es  ein  hervorragender  Universitätslehrer  und 

keit    des   biblio-  -i-t-vi  -k  r    t  a       j 

thekarischen    ausgczeichnetcr  Bibliothekar  zugleich,  Robert  von  Mohl,  der  zuerst  —  es 

Berufs  setzt  sieb  t-»i'iio  ij*t> 

durch.-  ist  im  Jahre  1840  —  den  Bruch  mit  dem  alten  System  als  die  Kettung 
(1799-1875).  aus  unerträglichen  Zuständen  empfiehlt.  Die  Arbeit  in  der  Bibliothek  ist 
in  ungeahnter  Weise  gewachsen.  Sehr  langsam  zwar,  aber  doch  stetig 
sind  seit  dem  Beginn  des  Jahrhunderts  die  Mittel  zur  Vermehrung  der 
Bestände  verstärkt  und  die  Öfl'nungszeiten  ausgedehnt  worden.  In  stei- 
gendem Maße  ist  man  gewahr  worden,  wie  die  Katalogisierungs-  und 
Ordnungsarbeiten  in  weit  stärkerer  Progression  zunehmen  als  die  Bestände 
selbst,  wie  zugleich  mit  deren  Umfang  die  Schwierigkeit  wächst,  dem 
neuen  Ankömmling  seinen  Platz  anzuweisen,  und  wie  selbst  im  alpha- 
betischen Katalog,  so  mechanisch  das  ihn  beherrschende  Prinzip  ist, 
Tücken  sich  einstellen,  an  die  niemand  gedacht  hat,  als  man  sich  noch 
in  bescheidenen  Bändezahlen  bewegte.  Es  sind  elende  Minutien,  aber 
man  merkt  es  am   eigenen  Leibe,  wie  schwer  sich   ihre  Vernachlässigung 


II.  Wie  die  Bibliotheken  geworden  sind.  567 

rächt,  und  man  sieht  sich  gezwungen,  Stellung  zu  nehmen  und  sich  Ge- 
setze zu  geben.  Aber  jeder  gibt  sich  andere,  da  nur  ausnahmsweise  eine 
Entscheidung  als  die  gegebene  sich  empfiehlt,  und  die  Freiheit  des  Ein- 
zelnen einstweilen  kaum  anders  als  durch  eine  unsichere,  mündlich  fort- 
gepflanzte Überlieferung  eingeschränkt  wird.  Die  Wirrnis  wird  unerträg- 
lich; aber  der  alte  Mut,  mit  dem  man  früher  ohne  langes  Besinnen  das 
Unhaltbare  beiseite  geschoben  und  einen  neuen  Katalog  in  Angriff  ge- 
nommen, hat  gegenüber  den  hunderttausend  und  mehr  Titeln  der  Resig- 
nation Platz  gemacht.  Die  Zahl  derer  aber,  die  die  Benutzung  der  Biblio- 
thek als  ihr  gutes  Recht  in  Anspruch  nehmen,  hat  gewaltig  zugenommen. 
Auch  für  den  Studenten  ist  es  Pflicht  und  Übung  geworden,  sich  mit  der 
Literatur  seiner  Disziplin  bekannt  zu  machen;  ohne  ausdrückliche  Pro- 
grammänderung  sind  die  Universitätsbibliotheken,  zu  keiner  Zeit  tatsächlich 
und  nur  selten  bestimmungsmäßig  auf  die  Universität  beschränkt,  zugleich 
Provinzialbibliotheken  geworden;  in  stärkerem  Maße  als  die  Bevölke- 
rungsziffer hat  sich  mit  dem  wachsenden  Wohlstand  und  der  steigenden 
Kultur  der  Kreis  der  wissenschaftlichen  Arbeiter  vergrößert,  während 
die  Zahl  der  Bibliotheken  eine  nennenswerte  Vermehrung  nicht  erfahren 
hat.  Was  Wunder,  daß  diesen  mannigfach  gehäuften  Schwierigkeiten 
die  auf  unendlich  viel  einfachere  Anforderungen  zugeschnittene  Verwal- 
tung sich  von  Jahr  zu  Jahr  weniger  gewachsen  zeigt?  Und  doch  geht 
noch  ein  volles  Menschenaher  vorüber,  bevor  dies  hartnäckige  Über- 
bleibsel einer  überwundenen  Entwicklungsstufe  beseitigt  wird.  Noch  1874 
kann  Johann  Friedrich  Schulte,  ohne  einer  Übertreibung  geziehen  zu  wer- 
den, im  Reichstage  das  Bibliothekswesen  Deutschlands  als  partie  honteuse 
bezeichnen.  Aber  die  Zeit  ist  jetzt  erfüllt.  Mit  erstaunlicher  Schnellig- 
keit sehen  wir  in  den  siebziger  Jahren  den  Grundsatz  von  der  Selbständig- 
keit des  bibliothekarischen  Berufs  aufgenommen  und  auf  der  ganzen  Linie 
durchgeführt,  und  es  beginnt  für  die  Bibliotheken  ein  Aufschwung,  nach 
dem  langen  Zögern  und  Schwanken  so  überraschend  stark  und  stetig,  als 
wären  gewaltsam  niedergehaltene  Kräfte  plötzlich  frei  geworden. 

Sehr    kurzsichtie    wäre    es    indes,    das    zeitliche    Nacheinander    ohne  ucrAufschwuag 

^  und  seine  Ur- 

weiteres  zum  ursächlichen  Zusammenhang  zu  machen.  Die  Neuordnung  .acheo. 
der  Laufbahn  ist  eine,  aber  nicht  die  Ursache  der  lebhaften  Aufwärts- 
bewegung, in  der  wir  jetzt  stehen.  In  der  Hauptsache  sind  es  vielmehr 
von  außen  kommende  Kräfte,  denen  die  Bibliothek  ihr  neues  Leben  ver- 
dankt, und  obenan  steht  hier  der  tiefgreifende  Wandel,  der  seit  der  Mitte 
des  Jahrhunderts  in  den  Zielen  und  Aufgaben  der  Wissenschaft  sich  zu 
vollziehen  beginnt,  kaum  weniger  bedeutsam  als  jene  von  Halle  ausge- 
gangene Wendung  vom  dogmatisch  gebundenen  Denken  zur  libertas  phi- 
losophandi.  Von  der  Spekulation,  zu  der  sich  das  rationale  Denken  bald 
vereinseitigt  hatte,  wendet  sich  die  Wissenschaft  in  energischer  Abkehr 
zur  Empirie,  von  der  zurechtlegenden  Betrachtung  der  hervorragenden 
Erscheinungen  zur  schlichten,  vorsichtigen,  unterschiedslos  achtungsvollen 


i68 


Fritz  JIilkau:  Die  Bibliotheken. 


Prüfung  des  gesamten  Tatsachenmaterials;  überall  steigt  sie,  wie  Harnack 
den  Vorgang  charakterisiert,  „von  den  Höhen  der  Betrachtung  kompli- 
zierter Ordnungen  herab  zu  den  Niederungen  der  primitiven  Tatsachen- 
gruppen"; und  die  nächste  Wirkung  dieses  Wandels  ist  in  allen  Disziplinen 
jene  weitgehende,  ebenso  oft  beklagte  wie  als  notwendig  anerkannte  Ar- 
beitsteilung und  eine  Steigerung  des  Betriebs  in  Breite  und  Tiefe,  wie  sie, 
so  schnell  und  so  gewaltig  anwachsend,  in  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaften unerhört  ist.  Und  eben  diese  Erscheinung  ist  es,  auf  die  der 
überraschende  Aufschwung  der  Bibliotheken  in  erster  Linie  zurückzuführen 
ist.  Denn  mit  der  wissenschaftlichen  Arbeit  und  in  stärkerem  Verhältnis 
noch  als  sie  wachsen  die  Anforderungen  an  die  Bibliotheken,  da  in  einer 
Art  ständiger  Wechselwirkung  das  Bedürfnis  nach  ihrer  Hilfe  nicht  allein 
mit  dem  Betrieb  steigt,  sondern  auch  mit  der  Betriebsleistung,  soweit  diese 
wiederum  Arbeitsmaterial  wird.  Überaus  günstig  trifft  mit  dieser  Steige- 
rung der  Anforderungen  eine  Zeit  großartigen  wirtschaftlichen  Aufschwungs 
zusammen,  der  es  gestattet,  den  Ansprüchen  gerecht  zu  werden  und  dabei 
lange  Versäumtes  nachzuholen.  Und  noch  ein  anderes  schließlich  darf 
nicht  unerwähnt  bleiben,'  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Ursachen  der 
FriedrichRitschi Bewegung  klar  zu  legen:  das  ist  die  vorbildliche  Tat  Friedrich  Ritschis 
(1806-1876).  .^  ^^^  Bonner  Bibliothek.  Nicht  allein,  daß  er  diese  Anstalt  in  Vollendung 
des  von  Welcker  begonnenen  Werks,  wie  dessen  Biograph  sich  ausdrückt, 
„zu  einem  wohlgeordneten  Instrument  schlagfertiger  Liberalität  sonder- 
gleichen erzogen"  hatte,  damit  ebensowohl  zeigend,  was  eine  Bibliothek 
der  Wissenschaft  leisten  könne,  als  in  weiten  Kreisen  das  Gefühl  der  Un- 
zulänglichkeit der  allgemeinen  Bibliotheksverhältnisse  verschärfend;  er 
hatte  auch,  was  nicht  weniger  wert  ist  und  nicht  weniger  nottat.  Schule 
gemacht,  hatte  mit  der  ihm  auch  als  Bibliothekar  eigenen  starken  An- 
ziehungs-  und  Begeisterungskraft  eine  ganze  Reihe  vortrefflicher  junger 
Philologen  zu  freiwilligen  Helfern  herangebildet  und  damit  seiner  An- 
schauung von  den  Aufgaben  der  Bibliothek  und  seiner  Art,  ihnen  gerecht 
zu  werden,  ein  Leben  über  das  Maß  seiner  Tage  gesichert.  Denn  als 
man  daran  geht,  das  System  der  Doppelämter  zu  beseitigen,  da  werden 
diese  seine  Schüler  als  die  gegebenen  Männer  herangezogen,  um  an  den 
wichtigsten  Stellen  mit  ungeteilter  Kraft  die  Lehren  ihies  Meisters  zu  be- 
tätigen, und  es  ist  kein  geringer  Teil  der  seitdem  errungenen  Erfolge, 
den  das  Bibliothekswesen  ihrem  Wirken  schuldet. 


Das  Haus  und  IIL  Was  erreicht  ist.     Ohne  aus  dem  Auge  zu  verlieren,  wie  stark 

^'"'"'tung""''  '  an  dem  Eindruck  des  schnellen  Aufstiegs  der  Bibliotheken  während  der 
letzten  Jahrzehnte  die  Tiefe  beteiligt  ist,  aus  der  sie  sich  zu  erheben  hatten, 
und  ohne  einstweilen  die  erreichte  Höhe  an  den  allgemeinen  Kulturver- 
hältnissen abzumessen,  registrieren  wir  dankbar,  was  erreicht  ist.  Kaum 
wiederzuerkennen  ist  das  Bild,  so  stark  hat  es  sich  verändert.  Fast  überall 
stattliche  neue  Gebäude,  deren  Pforten  nahezu  den  ganzen  Tag  offen  stehen; 


III.   Was  erreicht  ist.  c6n 

wenigstens  sind  diejenigen  bereits  zu  Ausnahmen  geworden,  die  die  alte 
Scheu  vor  künstlicher  Beleuchtung  in  die  neue  Ära  übernommen  haben. 
Die  großen  eindrucksvollen  Säle  mit  den  hohen  bücherbedeckten  Wänden 
sind  verschwunden;  in  nüchternster  Gleichmäßigkeit  reiht  sich  in  niedrigen 
Speichergeschossen,  deren  Anordnung  vom  Britischen  Museum  aus  die 
Bibliothekswelt  erobert  hat,  Gestell  an  Gestell,  keinerlei  ästhetische  Freude 
weckend,  aber  außerordentlich  praktisch:  die  hohe  schwankende  Bücher- 
leiter, die  mehr  als  einem  braven  Bibliothekar  nach  dem  Ausdruck  Christian 
Karl  Reisigs  zu  einem  „wahrhaft  gelehrten  Tode  in  den  Armen  der  Mu- 
sen" verholfen  hat,  ist  überflüssig  geworden,  die  Fassungskraft  des  Raums 
ist  ins  mehrfache  gesteigert,  und  die  Zugänglichkeit  der  Bestände  hat  un- 
gemein gewonnen.  Das  Lesezimmer,  früher  in  den  bescheidensten  Grenzen 
gehalten  und  bei  der  geringen  Öffnungszeit  dennoch  allen  Ansprüchen 
genügend,  ist  zum  geräumigen  Lesesaal  geworden,  ausgestattet  mit  einer 
Handbibliothek,  die  die  vornehmsten  Lexika  und  Enzyklopädieen,  die 
großen  Quellensammlungen  und  Sammelwerke,  die  klassischen  Bücher  aus 
allen  Disziplinen  und  womöglich  die  Klassiker  aus  allen  Literaturen  ent- 
hält, jeglichem  Besucher  ohne  jede  Förmlichkeit  zugänglich  und  besonders 
dem  der  Orientierung  noch  bedürfenden  Anfänger  von  unvergleichlichem 
Nutzen  ist.  Was  femer  früher  der  beneidete  Vorzug  einiger  weniger  An- 
stalten war,  das  Journal-  oder,  wie  man  heute  sag^,  das  Zeitschriftenzimmer, 
wird  kaum  noch  in  einer  größeren  Bibliothek  vermißt. 

Und  neu  wie  das  Haus  ist  auch  der  Haushalt  geworden.  Die  Mittel  "se  Mittel. 
zur  Vermehrung  der  Bestände,  das  aliment  der  Bibliothek,  wie  Leibniz 
sagt,  haben  überall  eine  ungewöhnliche  Verstärkung  erfahren,  und  wenn 
auch  nicht  alle  Anstalten  so  gewaltige  Schritte  gemacht  haben,  wie  einige 
früher  sehr  kümmerlich  dotierte,  deren  Anschaffungsfonds  seit  1870  auf 
das  Vier-  und  Fünffache  erhöht  worden  sind,  so  gibt  es  ihrer  doch  nur 
wenige,  bei  denen  die  Steigerung  seit  jener  Zeit  unter  hundert  Prozent 
zurückgeblieben  ist.  Bei  den  Universitätsbibliotheken  ist  die  alte  unselige 
Verzettelung  der  Mittel  durch  Aufteilung  an  die  Fakultäten  oder  Fach- 
vertreter beseitigt,  bis  auf  einige  wenige  Ausnahmen,  die  in  dem  Bilde 
des  modernen  Bibliothekswesens  stark  fremdartig  anmuten.  Die  Kom- 
missionen aber,  die  zur  Wahrung  der  Interessen  der  Universität  an  der 
Bibliothek  übrig  geblieben  sind,  haben  unter  den  neuen  Verhältnissen 
zwar  nicht  allgemein  an  Verständnis  für  ihre  Aufgabe  zugenommen,  aber 
doch  ihre  vielbeklagte  Schädlichkeit  verloren. 

Und  ein  anderer  Geist  ist  in  das  neue  Haus  eingezogen.  Haupt  und  üie  Leistung. 
Glieder  lassen  sich  in  ihrem  Tun  und  Lassen  von  der  Überzeugung  leiten, 
daß  sie  für  die  Bibliothek  da  sind,  nicht  die  Bibliothek  für  sie,  und  wo 
das  ausnahmsweise  noch  nicht  der  Fall  ist,  da  weiß  man  doch  genau,  und 
das  ist  der  große  Unterschied  gegen  früher,  daß  es  so  sein  sollte.  Die 
alte  Beschaulichkeit,  die  idyllische  Ruhe  von  einstmals  ist  verschwunden 
auf  Nimmerwiedersehen.     Vom  Lesesaal   abgesehen,    vor    dem   der   Lärm 


--Q  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

des  Tages  Halt   macht,   erfüllt    ein    geschäftiges  Leben   die  Räume,   nicht 
anders  wie  in  einem  Handelshause  oder  in  einer  Verkehrsanstalt.    In  den 
Geschäftsgang    ist    eine   vorher   ungekannte   Sicherheit   und    Schnelligkeit 
gekommen.    Die  Kataloge,  das  A  und  O  der  Verwaltung,  das  Handwerks- 
zeug, von   dessen  Tüchtigkeit   und  Zuverlässigkeit   der  ganze  Betrieb  ab- 
hängig ist,  sind  vollständig  erneuert  oder  doch   auf  eine  neue  Grundlage 
gestellt:  einmal  hat  man  endlich  einsehen  lernen,  daß  nur  die  Eintragung 
auf  Grund   des  Buches  selbst,  und  zwar  in  strengster  Anlehnung  an  die 
Fassung  des  Titels,  die  Gewähr  dauernder  Brauchbarkeit  biete,  wobei  man 
allerdings,  wie  das  nur  natürlich  ist,  zunächst  in  der  Reaktion  gegen  die 
alte  Sorglosigkeit  über  das  Ziel   hinausgeschossen   und   dem  Phantom  der 
bibliographischen  Genauigkeit  kostbare  Opfer  an  Zeit  und  Geld   gebracht 
hat;   alsdann  aber  hat  man,  was  weit  wichtiger  ist,  die  Willkür  der  Ent- 
scheidung gegenüber  den  Schwierigkeiten  der  alphabetischen  Anordnung, 
die  Hauptquelle  alter  Wirrnisse   und   Störungen,   durch  Aufstellung   fester 
Regeln  beseitigt;  ein  Fortschritt,  dessen  Tragweite  nur  der  Fachmann  voll 
ermessen  kann  und  für  dessen  wirksame  Anbahnung  das  deutsche  Biblio- 
Kari  Diiatzko  thckswesen  Karl  Dziatzko,  dem  vor  der  Zeit  Heimgegangenen,  immer  zu 
(1842-19031.    j^^^y.    ^^e^fljchtet   bleibt.     Für   Preußen    allgemein    angeordnet,    scheinen 
jene  Regeln  im  Begriff,   auch  die   übrigen   deutschen  Bibliotheken  zu  ge- 
winnen, worin  sie  nachhaltige  Unterstützung  erfahren  durch  die  KönigUche 
Bibliothek  in  Berlin,  die  seit  einer  längeren  Reihe  von  Jahren  regelrechte 
Titelaufnahmen   der   neuen  Erwerbungen    in    einseitigem  Druck  veröffent- 
licht und  damit  allen  anderen  Anstalten  die  Möglichkeit  gibt,  ihre  Arbeit 
unmittelbar  für  die   eigenen  Kataloge  zu  verwerten.     Womit  sie  zugleich 
das  alte  Problem  der  Zentralkatalogisierung,  dessen  Vorteile   nebenbei  je 
länger  desto  maßloser  überschätzt  werden,  kräftig  angefaßt  und  für  eine 
wenigstens    dem   Umfang    nach    wichtige  Literatur,    die   Universitäts-  und 
Schulschriften,    die    allen  Bibliotheken    gleichmäßig   und  zu  gleicher  Zeit 
zugehen,    auch    einwandfrei    gelöst   hat.     Überhaupt   ist    aus    den   letzten 
Jahrzehnten    als   Erfolg    einer   gesteigerten    mündlichen   und    schriftlichen 
Aussprache    eine    sehr    erfreuliche    Annäherung    der   verschiedenen   Auf- 
fassungen  über   bibliothekarische  Fragen  aller  Art  zu  verzeichnen.     Und 
Otto  Hartwig  undankbar  wäre  es,  hier  nicht  Otto  Hartwigs  zu  gedenken,  der  durch  Be- 
(1830—903).    g^^j^^^j^g.  y^jj  zwanzigjährige  taktvolle  Leitung  des  Zentralblatts  für  Biblio- 
thekswesen    den    Ausgleich   widerstrebender   Meinungen   kräftig   gefördert 
und  der  Entwicklung  der  deutschen  Bibliotheken  Dienste  von  bleibendem 
Wert  geleistet  hat. 
Das  Verhältnis  Von  Gruud  aus  verändert  ist  ferner  das  Verhältnis   des  Bibliothekars 

'^""'  krlh""'  zum  Benutzerkreis.  Die  Kustodenperiode  ist  überwunden,  und  schon  be- 
ginnt eine  Art  Wetteifer,  wer  die  Ausnutzung  der  ihm  anvertrauten 
Schätze  am  wirksamsten  fördere.  Und  das  Entgegenkommen  hat  zudem 
einen  anderen  Charakter  gewonnen:  es  ist  unpersönlich,  sozusagen  ge- 
schäftsmäßig  geworden,   es  ist  in   ein   System  gebracht.     Dem  Gelehrten, 


m.  Was  erreicht  ist. 


571 


dem  Universitätslehrer,  dem  Freunde  oder  Bekannten,  dem,  dessen  Wünsche 
ihn  interessierten,  ihnen  hat  auch  der  Bibliothekar  alten  Stils  seine  Zeit 
zur  Verfügung  gestellt,  hingebender  oft,  als  es  heute  möglich  ist,  wo  immer 
eine  bestimmte  Reihe  von  Pflichten,  deren  Zurückschieben  die  Organi- 
sation des  Ganzen  nicht  duldet,  der  Erledigung  harrt.  Zugfunsten  des 
Einzelnen  tauchte  er  nieder  in  das  Geheimnis  der  Kataloge  und  Biblio- 
graphieen  und  Bücherreihen,  unsichtbar  und  unerreichbar  inzwischen  für 
alle  anderen,  die  seiner  Hilfe  bedurften.  Heute  ist  die  Bedienung  des 
Publikums  ein  festgeregelter  Dienstzweig,  dessen  Mechanismus  bereits  jede 
Vernachlässigung  des  Einzelnen  ausschließt,  und  wenn  überhaupt  noch 
ein  Unterschied  gemacht  wird,  so  geschieht  dies  mit  den  unbeholfen  und 
unklar  vorgebrachten  Wünschen  der  Anfänger,  die  mit  besonderer  Sorgfalt 
zu  erledigen  allgemein  gute  Sitte  geworden  ist.  Die  Förmlichkeiten  bei  der 
Verleihung  aber  scheinen  jetzt,  was  allerdings  seit  jeher  von  Zeit  zu  Zeit 
versichert  worden  ist,  tatsächlich  so  weit  eingeschränkt,  als  die  wohl- 
verstandene Pflicht  zur  Wahrung  des  Eigentums  der  Bibliothek  es  irgend 
gestattet.  Ohne  Bürgschaft  erhält  jetzt  auch  der  Student  so  viel  Bücher, 
als  er  irgend  mag,  und  bereitwillig  stellt  die  Verwaltung,  wo  die  eigenen 
Bestände  versagen,  jedem  Benutzer  ihre  Vermittlung  bei  anderen  Biblio- 
theken zur  Verfügung.  Die  ungemein  gesteigerte  Sicherheit  und  Schnellig- 
keit des  Verkehrswesens  hat  eine  Leichtigkeit  in  die  gegenseitige  Aus- 
hilfe gebracht,  die  von  der  Wissenschaft  aufs  angenehmste  empfunden 
wird  und  da  besonders  segensreich  wirkt,  wo  ihre  Vorteile,  wie  nament- 
lich in  Preußen,  durch  die  Einrichtung  eines  regelmäßigen  Leihverkehrs 
von  Bibliothek  zu  Bibliothek  amtlich  in  den  Dienst  des  Benutzers  ge- 
stellt und  bei  der  rein  nominellen  Gebühr  auch  dem  Unbemittelten 
zugänglich  gemacht  sind.  Einen  weiteren  bedeutsamen  Schritt  auf  dem 
Wege  zur  Erleichterung  der  wissenschaftlichen  Arbeit  stellt  die  im 
letzten  Jahre  in  Berlin  eingerichtete  Auskunftsstelle  der  deutschen  Biblio- 
theken dar,  die  gegen  eine  Gebühr,  deren  Erhebung  nur  den  Miß- 
brauch hindern  soll,  jedem,  der  sich  an  sie  wendet,  bereit  steht  zur  Be- 
antwortung der  Frage,  ob  und  wo  ein  gesuchtes  Buch  innerhalb  ihres 
Bereichs  zu  finden  sei.  Die  Handschriftenverleihung,  früher  regelmäßig 
eine  Haupt-  und  Staatsaktion,  vollzieht  sich  jetzt  innerhalb  Deutschlands 
wie  zwischen  Deutschland  und  den  meisten  seiner  Nachbarländer  in  den 
einfachsten  Formen  durch  unmittelbaren  Verkehr  von  Bibliothek  zu  Biblio- 
thek; von  Jahr  zu  Jahr  gewinnt  diese  auf  der  Grundlage  der  Gegenseitig- 
keit aufgebaute  Einrichtung  mehr  Boden,  und  wenn  leider  kaum  erwartet 
werden  darf,  das  Britische  Museum  werde  jemals  ein  Manuskript  aus  dem 
Hause  geben,  so  ist  doch  zu  hoffen,  daß  die  einstweilen  zurückhaltenden 
romanischen  Länder  über  kurz  oder  lang  gleichfalls  auf  die  althergebrachte 
Verlangsamung  durch  Benutzung  des  diplomatischen  Weges  verzichten 
werden.  Alles  Errungenschaften  der  jüngsten  Zeit,  woran  zu  erinnern  bei 
der  Schnelligkeit,  mit  der  man  sich  ans  Gute  gewöhnt,  nicht  unangebracht 


ey2  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

sein  mag.  Wird  es  doch  fast  schwer,  sich  zu  vergegenwärtigen,  daß  nur 
wenige  Jahrzehnte  uns  von  der  Zeit  trennen,  wo  dem  Studenten  eine 
Höchstzahl  von  Büchern  ängstUch  zugemessen  wurde,  wo  er  hier  und  da 
noch  für  jeden  einzelnen  Empfangsschein  die  Unterschrift  des  bürgenden 
Professors  beibringen  mußte,  wo  es  noch  nichts  Auffallendes  hatte,  daß 
bei  jeder  Verleihung  außerhalb  des  Ortes  die  vorgesetzte  Behörde  oder 
gar,  wenn  es  sich  um  eine  Handschrift  handelte,  die  allerhöchste  Stelle 
in  Anspruch  zu  nehmen  war. 
Die  Stellung  des  Und  endlich  die  Stellung  des  Bibliothekars,  nicht  unwichtig  von  dem 

Bibliothekars. 

Gesichtspunkte  aus,  daß  fröhliche  Arbeit  und  selbstloses  Interesse  an  ihren 
Zielen  in  der  Regel  nur  da  anzutreffen  sind,  wo  die  äußeren  Verhältnisse 
der  Entwicklung  eines  gesunden  Maßes  von  Zufriedenheit  und  Selbstgefühl 
zum  mindesten  nicht  hinderlich  sind.  Auch  hier  also  sind  für  die  letzten 
Jahrzehnte  mannigfache  und  sehr  beträchtliche  Verbesserungen  zu  buchen. 
Allerdings,  noch  mutet  es  märchenhaft  an,  daß  es  eine  Zeit  gegeben  hat, 
wo  dem  Bibliothekar,  wie  das  von  den  Alexandrinischen  Kolleg'en  be- 
richtet wird,  der  Titel  eines  cuTTevfic  toö  ßaciXeiuc  erreichbar  war,  und 
auch  das  Gehalt  von  60000  Sesterz,  das  uns  inschriftlich  für  einen  procu- 
rator  bibliothecarum  aus  dem  Kaiserlichen  Rom  überliefert  ist,  zeigt  eine 
Wertschätzung  bibliothekarischer  Dienste,  die  unwiederbringlich  verloren 
scheint.  Aber  das  Bild  ist  doch  unendlich  viel  freundlicher  geworden, 
als  es  noch  vor  dreißig  Jahren  sich  darstellte;  nicht  so  sehr  durch  die 
Aufbesserung  der  Besoldungen,  obgleich  auch  in  dieser  Beziehung  ent- 
sprechend der  inzwischen  erfolgten  allgemeinen  Steigerung  der  Gehälter 
bedeutende  Fortschritte  zu  verzeichnen  sind,  als  vielmehr  durch  die  Be- 
seitigung der  Unklarheit  und  Unsicherheit,  die  die  Stellung  des  Biblio- 
thekars so  lange  beherrscht  haben.  Die  Forderung  bestimmter  Fähig- 
keiten und  Leistungen  als  Voraussetzungen  für  die  Annahme  zum  Dienst 
oder  für  die  Anstellung;  die  Festlegung  einer  bestimmten  Stufenfolge,  wie 
sie  die  menschliche  Schwäche  im  Beamtentum  nun  einmal  unentbehrlich 
macht;  die  Aufhebung  der  Abhängigkeit  des  Einzelnen  von  der  zufälligen 
Gestaltung  der  Verhältnisse  an  der  einzelnen  Anstalt  —  das  alles  sind 
gleichfalls  Erfolge  neuesten  Datums.  Seitdem  erst  gibt  es  einen  biblio- 
thekarischen Beruf,  eine  bibliothekarische  Laufbahn.  Erst  die  nächste 
Generation  wird  die  volle  Wirkung  dieser  Neuerung  erfahren;  über  ihren 
Segen  aber  kann  jetzt  bereits  ein  Zweifel  nicht  bestehen. 

IV.  Was  zu  erreichen  bleibt.  Es  heißt  nicht  die  Freude  am  Er- 
reichten beeinträchtigen,  wenn  man  die  Aufmerksamkeit  auf  dasjenige 
lenkt,  was  noch  zu  erreichen  bleibt.  Hat  doch  alle  geschichtliche  Be- 
trachtung der  Dinge  zuletzt  nur  das  eine  Ziel,  durch  Aufdeckung  des  bis- 
herigen Weges  den  Blick  zu  schärfen  für  die  Richtung,  die  am  vorteil- 
haftesten eingeschlagen  wird.  Wie  es  aber  bei  der  Kürze  des  Zeitraums, 
während    dessen    die    Bibliotheken    sich    nach    jahrhundertelanger  Zufalls- 


IV.  Was  zu  erreichen  bleibt. 


573 


regierung  stetiger  und   planmüßiger  Pflege   zu   erfreuen   haben,    selbstver-    Die  MUiei. 
ständlich   ist,    daß    es    an  Desideraten    aller   Art  nicht   fehlt,   so   wäre    es 
höchst  verwunderlich,   wenn   über  Mittel  und  Wege    zur  Erreichung   der 
Höhe  zwischen  allen  Beteiligten  die  Übereinstimmung  bereits  erzielt  wäre. 

Und  sofort  hebt  sich  hier,  alle  übrigen  Fragen,  die  ihrer  Beantwortung 
noch  harren  mögen,  vollständig  in  den  Hintergrund  drängend,  dasjenige 
Problem  heraus,  von  dessen  Lösung  im  gegenwärtigen  Stande  der  Ent- 
wicklung das  Wohl  und  Wehe  der  Bibliotheken  fast  ausschließlich  ab- 
hängt: das  ist  die  Bemessung  der  Vermehrungsfonds. 

Daß  die  Bibliotheksverwaltung,    auch  im    bescheidensten  Verständnis  ihre  ausschias- 

°'  gebende   Wirh- 

des  Wortes,  verhältnismäßig  so  jungen  Datums  ist;  daß  man  so  merk-  tigkeit. 
würdig  spät  dahinter  gekommen  ist,  wie  es  das  Wesen  der  Bibliotheken 
ist,  zu  wachsen,  solange  sie  leben,  und  wie  daher  Kataloge  und  Ord- 
nungen nur  dann  die  Gewähr  der  Dauer  bieten,  wenn  sie  dieser  Eigenart 
Rechnung  tragen;  daß  man  so  viel  Zeit  dazu  gebraucht  hat,  um  zu  be- 
greifen, wie  diese  Kataloge,  denen  es  bestimmt  ist,  nie  fertig  zu  werden, 
bei  der  Verschiedenheit  der  von  Jahr  zu  Jahr  und  von  Generation  zu 
Generation  wechselnden  Arbeiter  nur  dann  lebensfähig  bleiben,  wenn 
jeder  einzelne  an  die  pedantische  Beobachtung  derselben  Grundsätze  ge- 
bunden wird:  das  alles  ist  denen,  die  heute  mit  ihren  wissenschaftlichen 
Bedürfnissen  auf  die  Bibliotheken  angewiesen  sind,  vollkommen  gleich- 
gültig; denn  die  Unzulänglichkeiten,  die  sich  als  Zeugnisse  jener  Entwick- 
lung bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  gerettet  hatten,  sind  überall  überwunden 
oder  so  gut  wie  überwunden.  Worunter  aber  die  wissenschaftliche  Arbeit 
heute  leidet  auf  Schritt  und  Tritt,  und  was  keine  Kunst  des  Bibliothekars 
heilen  kann,  das  sind  die  Folgen  der  Gleichgültigkeit,  der  Planlosigkeit 
und  der  wahrhaft  unökonomischen  Sparsamkeit,  die  die  wichtigste  Auf- 
gabe der  Bibliotheken,  den  Ausbau  der  Bestände,  fast  allenthalben  so 
lange  beherrscht  haben  und  zum  Teil  noch  beherrschen.  Ein  Stück 
Land,  mag  es  noch  so  arg  verwirtschaftet  sein,  kann  mit  leidlichem  Geld 
und  frischem  Blut  in  kurzem  wieder  auf  die  Höhe  gebracht  werden, 
wenn  eine  Voraussetzung  zutrifft:  wenn  der  Boden  gut  ist;  der  zähe 
Fleiß  ganzer  Generationen  aber  gehört  dazu,  ein  Unland  ertragfähig 
zu  machen.  So  ist  auch  aus  der  verkommensten  Bibliothek  alles  zu 
machen,  wenn  die  Bücher  da  sind,  die  man  nach  ihrer  Bestimmung  in 
ihrem  Besitz  erwarten  darf,  während  schwere  Mängel  und  Lücken  in  den 
Beständen  nur  bei  ganz  unverhältnismäßig  gesteigerten  Mühen  und  Auf- 
wendungen über%vunden  werden  können  und  demgemäß  fast  nie  über- 
wunden werden.  Das  ist  das  Re.sultat  hundertfältiger  Erfahrung  und  darf 
die  Geltung  eines  Axioms  in  Anspruch  nehmen.  Woraus  sich  für  die 
Aufsichtsbehörde  als  die  bei  weitem  wichtigste  Aufgabe  die  Sorge  für 
eine  ausreichende  Bemessung  der  Anschaffungsfonds  ergibt.  Eine  Auf- 
gabe, an  deren  Auffassung  und  Behandlung  Gegenwart  und  Zukunft  um 
so    stärker    interessiert    sind,    je    störender    einerseits    bei    der   ständigen 


r-i  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken, 

o  /-+ 

Steigerung  des  wissenschaftlichen  Betriebs  jede  UnzulängUchkeit  in  der 
Lieferung  der  Hilfsmittel  empfunden  wird,  und  je  geringer  andrerseits 
die  Aussicht  geworden  ist,  in  der  Gegenwart  begangene  Fehler  zukünftig 
auf  die  bisherige  Weise,  d.  h.  durch  den  Zufluß  ganzer  Sammlungen  älterer 
Literatur  repariert  oder  doch  in  ihren  Folgen  gemildert  zu  sehen.  Wie 
die  frische  Unbefangenheit,  mit  der  man  noch  vor  hundert  Jahren  lebens- 
unfähige Sammlungen  ihrer  Selbständigkeit  entkleidete,  für  immer  dahin 
zu  sein  scheint,  so  ist  die  Beweglichkeit  des  modernen  Lebens  der  Bil- 
dung von  Privatbibliotheken  höchst  ungünstig,  und  wo  sie  noch  auf  den 
Markt  kommen,  da  erweist  sich  in  der  Regel  die  Konkurrenz  des  mächtig 
entwickelten  Antiquariats  und  amerikanischer  Donatoren  den  staatlichen 
Mitteln  und  der  amtlichen  Schnelligkeit  weit  überlegen.  Es  gilt  also,  das 
ist  eine  unabweisliche  Forderung,  die  Bibliotheken  in  den  Stand  zu  setzen, 
bei  der  Sammlung  der  modernen  Literatur  innerhalb  des  ihnen  zugewiesenen 
Kreises  die  Bedürfnisse  der  Gegenwart  wie  der  Zukunft  von  vornherein 
ausreichend  zu  berücksichtigen. 

Wie  sind  nun  die  deutschen  Bibliotheken  für  diese  Aufgabe  gerüstet? 
Ihre  gegen-  Bei   der  großen  Verschiedenheit  der  Dotierungen,    die    nur  zum  Teil 

wärtige    Unzu-  ^.,..  t-,  ••      t  i  *  lui. 

rängiichkeit.  in  der  Verschiedenheit  der  Ziele  ihre  Begründung  hat,  ist  es  selbstver- 
ständlich, daß  eine  zusammenfassende  Antwort  nicht  für  alle  Anstalten 
dieselbe  Geltung  haben  kann.  Wie  sie  aber  lauten  muß,  darüber  herrscht 
bei  denen  sowohl,  die  auf  die  Bibliotheken  angewiesen  sind,  wie  bei  den 
Bibliothekaren  als  den  berufenen  Kennern  der  Leistungsfähigkeit  ihrer 
Anstalten  nur  eine  Ansicht.  Sie  kommt  zum  Ausdruck  in  dem  Schlag- 
wort vom  Notstand  der  deutschen  Bibliotheken,  das,  trotz  der  ungewöhn- 
Uchen  Aufbesserung  der  letzten  Jahrzehnte  vor  einiger  Zeit  aufgetaucht, 
nicht  mehr  aus  der  Erörterung  der  Frage  verschwinden  will  und  dem  man, 
soviel  die  Mode  bei  seiner  Prägung  mitgewirkt  haben  mag,  unrecht  täte, 
wollte  man  es  mit  den  politischen  Schlagworten  zusammenwerfen,  da  hier 
von  einem  persönlichen  Interesse  derer,  die  sich  darauf  vereinen,  nicht 
die  Rede  sein  kann.  Die  Beobachtungen  innerhalb  der  vier  Wände,  die 
theoretischen  Abmessungen  an  der  Skala  des  Betriebs  der  Wissenschaft 
und  der  literarischen  Produktion,  die  praktischen  Berechnungen  an  den 
Erscheinungen  des  Büchermarkts,  alles  führt  zu  demselben  Ergebnis:  die 
Bibliotheken  bleiben  mit  ihren  Anschaffungen  weit  hinter  allen  billigen 
Anforderungen  zurück,  und  nur  durch  eine  von  Grund  aus  neue  Dotierung 
können  sie  in  den  Stand  gesetzt  werden,  der  ihnen  innerhalb  der  staat- 
lichen Pflege  der  Wissenschaft  zugewiesenen  Aufgabe  gerecht  zu  werden. 
Und  so  groß  ist  die  Differenz  zwischen  der  gegenwärtigen  Höhe  der  Ver- 
mehrungsetats und  den  Forderungen  —  sie  gehen  bis  zur  Verdoppelung 
und  darüber  — ,  daß  man  zunächst  unwillkürlich  nach  einer  Erklärung 
sucht,  wie  es  bei  den  günstigen  Finanzen,  deren  sich  die  deutschen  Staaten 
im  ganzen  erfreuen,  zu  einer  derartigen  Unterernährung  der  Bibliotheken 
hat  kommen  können. 


rV.  Was  zu  erreichen  bleibt.  575 

Tatsächlich  sind  es  eigenartige  Verhältnisse,   die  hier  im  Spiele  sind,  wi«  die  Umu- 

lilnglichkeit  den 

Anders  als   die  wissenschaftlichen  Institute,    die  aktiv  der  rorschung  und  ^-egenwärtgcn 

Grad  bat  er- 

dem  Unterricht  dienen,  teilen  die  Bibliotheken  aus  alter  Erbschaft  her  mit  reichen  können. 
den  wissenschaftlichen  Sammlungen  das  Schicksal,  ein  wenig  als  Luxus- 
einrichtungen angesehen  zu  werden,  bei  denen  Reichtum  und  eine  gewisse 
Vollständigkeit  als  angenehm  und  vielleicht  auch  als  forderlich  anerkannt, 
eine  heroische  Beschränkung  aber  noch  nicht  als  dem  Interesse  der 
Wissenschaft  zuwiderlaufend  zugegeben  wird.  Diese  Auffassung  aber 
erhält  eine  starke  Stütze  in  der  außerordentlichen  Schwierigkeit,  vor  der 
die  Bibliotheken  stehen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  ihre  Bedürfnisse 
nachzuweisen.  Seitdem  die  literarische  Produktion  die  Übersichtlichkeit, 
die  sie  noch  vor  einem  halben  Jahrhundert  besaß,  so  hoffnungslos  ein- 
gebüßt hat,  ist  es  selbstverständlich,  daß  auch  die  auf  breitester  Grund- 
lage angelegte  und  entsprechend  dotierte  Bibliothek  bei  der  Vermehrung 
ihrer  Bestände  nur  noch  an  eine  vernünftige  Auswahl  denken  kann. 
Und  ebenso  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  ein  Staat,  der  mehrere  Biblio- 
theken zu  unterhalten  hat,  die  mit  der  Sicherheit  und  Schnelligkeit  des 
Verkehrs  unendlich  gesteigerte  Möglichkeit  der  Aushilfe  von  Bibliothek 
zu  Bibliothek  bei  der  Zumessung  der  Mittel  nicht  unberücksichtigt  lassen 
darf.  Bereits  hieraus  ergibt  sich  für  die  Feststellung  des  Bedarfs  eine 
verhängnisvolle  Unsicherheit  der  Grundlage,  indem  einerseits  der  Hinweis 
auf  die  unbefriedigten  Wünsche  der  Benutzer  als  auf  etwas  schlechthin 
Unvermeidliches  wirkungslos  bleiben  muß,  andrerseits  aber  weder  für  die 
Auswahl  noch  für  den  Verzicht  im  Hinblick  auf  die  Hilfe  einer  anderen 
Anstalt  sichere  und  allgemein  anerkannte  Kriterien  gegeben  sind.  Und 
während  weiter  andere  wissenschaftliche  Institute  bei  der  Vertretung 
ihrer  Forderungen  mit  einer  Handvoll  Zahlen  zu  operieren  haben,  würden 
die  Bibliotheken,  um  das  Mißverhältnis  zwischen  Mitteln  und  Bedürfnis 
in  concreto  darzutun.  Tausende  und  aber  Tausende  von  kleinen,  durchaus 
individuelle  Beurteilung  fordernden  Posten  vorzuführen  gezwungen  sein. 
Weshalb  es  allgemeine  Übung  geworden  ist,  bei  den  Klagen  über  die 
Unzulänglichkeit  der  verfügbaren  Mittel  einerseits  diejenigen  Erscheinungen 
zu  fassen,  die  die  Anforderungen  an  die  Bibliotheken  erhöht  haben,  wie 
namentlich  die  ungeheure  Zunahme  der  wissenschaftlichen  Arbeit  und  der 
literarischen  Produktion,  und  andrerseits  die  Momente  zu  bestimmen,  die 
die  Ausgiebigkeit  des  Geldes  fortgesetzt  verringern,  wie  die  Steigerung  der 
Bücherpreise  und  der  Buchbinderarbeit,  um  auf  Grund  solcher  allgemeiner 
Berechnungen  eine  entsprechende  Vermehrung  der  Mittel  zu  fordern.  Ein 
Weg,  der  trotz  einiger  Unsicherheiten  recht  wohl  zu  brauchbaren  Ergeb- 
nissen hätte  führen  können,  wenn  die  unentbehrliche  Voraussetzung  für  ihn 
zuträfe,  d.  h.  wenn  die  Etats,  deren  Verstärkung  man  verlangt,  seinerzeit 
aus  dem  Bedürfnis  heraus  nach  bestimmtem  Plan  und  auf  Grund  sorg- 
fältiger, die  ungeheure  Masse  des  Details  nicht  scheuender  Prüfung  fest- 
gestellt wären.     Das  ist  aber,   wie   die  Entwicklung  der  Dotationen,    das 


._g  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

bald  zögernde  bald  sprunghafte  Steigen  und  die  in  den  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen nicht  begründete  Buntheit  des  gegenwärtigen  Bildes  unwider- 
leglich zeigt,  niemals  der  Fall  gewesen. 

Dazu  kommt  ein  Anderes.  Unleugbar  ist  die  Verstärkung,  welche 
die  Anschaffungsfonds  in  den  letzten  Jahrzehnten  erfahren  haben,  fast  auf 
der  ganzen  Linie  außerordentlich  groß;  das  springt  sofort  in  die  Augen; 
daß  dieselben  indes  zu  einer  Zeit  wirtschaftlicher  Enge  und  auf  Grund 
unzureichenden  Verständnisses  der  Bibliotheken  von  vornherein  ganz  un- 
zulänglich bemessen  worden  sind,  das  wird  erklärlicherweise  nicht  ge- 
nügend festgehalten;  und  daß  andrerseits  die  Steigerung  trotz  ihrer  Leb- 
haftigkeit mit  der  gleichzeitigen  Steigerung  der  Büchererzeugung  nicht 
gleichen  Schritt  gehalten  hat,  das  wird,  wie  begreiflich,  als  Beweis  für 
die  Notwendigkeit  weiterer  Erhöhung  so  lange  nicht  zugelassen,  als  nicht 
mittels  eines  anerkannten  Verfahrens  für  jede  Bibliothek  festzustellen  ist, 
in  welchem  Umfange  an  dieser  Steigerung  diejenige  Literatur  beteiligt 
ist,  welche  für  sie  in  Frage  kommt. 

Auch  damit  ist  indes  eine  ausreichende  Erklärung  für  diese  auf- 
fallende Erscheinung  noch  nicht  gewonnen.  Zum  vollen  Verständnis 
gelangt  man  vielmehr  erst,  wenn  man  noch  tiefer  hinabsteigt  und  sich 
vergegenwärtigt,  wie  die  Bibliotheken  im  Gegensatz  zu  den  übrigen 
Avissenschaftlichen  Instituten  und  Sammlungen  von  der  überraschenden 
Teilung  und  Entfaltung,  die  der  anstaltsmäßige  Wissenschaftsbetrieb  in 
den  letzten  Jahrzehnten  erfahren  hat,  unberührt  geblieben  sind  und  heute 
wie  ehedem  die  miiversitas  liferarum  unverkürzt  in  ihr  Programm 
schließen.  In  die  Aufgabe,  die  noch  vor  einem  halben  Jahrhundert  der 
einen  Universitätskrankenanstalt  oblag,  teilen  sich  heute  sechs,  sieben  und 
mehr  Institute.  Und  wie  die  Annahme  berechtigt  ist,  daß  für  diese  Auf- 
gabe heute  nicht  entfernt  die  gegenwärtigen  Mittel  zur  Verfügung  ständen, 
wenn  sie  noch  von  der  einen  Anstalt  zu  leisten  wäre,  so  scheint  es  außer 
Zweifel,  daß  für  die  Sammlung  der  wissenschaftUchen  Produktion  heute 
ungleich  reichere  Quellen  fließen  würden,  wenn  z.  B.,  ähnlich  wie  bei  der 
Sezession  des  technischen  Unterrichtswesens,  die  wunderbare  Entwicklung 
der  medizinischen  und  naturwissenschaftlichen  DiszipUnen  zur  Begründung 
medizinischer  und  naturwissenschaftlicher  Fachbibliotheken  geführt  hätte. 
Sicherlich  wäre,  wenn  dies  Verhältnis  klar  ins  Auge  gefaßt  würde,  nicht 
die  entmutigende  Tatsache  festzustellen,  daß  gegenüber  der  scheinbaren 
Unersättlichkeit  der  Bibliotheken  an  den  maßgebenden  Stellen  selbst 
solche  Männer  ungeduldig  und  zurückhaltend  geworden  sind,  die  ihr  Inter- 
esse und  ihr  Verständnis  für  die  Wissenschaft  tausendfach  außer  Zweifel 
gestellt  haben.  Diese  Sachlage  aber  wird  nicht  günstiger  dadurch,  daß 
die  berufenen  Vertreter  der  Wissenschaft,  die  im  allgemeinen  der  Biblio- 
thek gegenüber  ihre  eigenen  Forderungen  recht  wohl  dringlich  zu  machen 
verstehen,  in  bedauerlicher  Kurzsichtigkeit  die  Vertretung  der  Bibliotheks- 
forderungen dem  Bibliothekar  allein  überlassen.    Mußte  doch  sogar  Gesner 


rv.  Was  zu  erreichen  bleibt. 


577 


und  zwar  einem  Münchhausen  gegenüber  die  Erfahrung'  machen,  daß  er 
als  „Bibliothecarius  das  ist  Vorsprecher  eines  corporis  mortui",  weniger 
imstande  war,  das  „Interessante"  seiner  Bitten  augenfällig  zu  machen  als 
die  Professoren,  wenn  sie  den  Kurator  um  die  Hilfsmittel  für  ihre  eigenen 
Arbeiten  angingen. 

So  geeignet  diese  Erwägungen  scheinen,  von  der  Verantwortung  für  den  Folgen, 
gegenwärtigen  Zustand  diejenigen  in  etwas  zu  entlasten,  die  berufsmäßig, 
sei  es  als  Fordernde,  sei  es  als  Gewährende,  an  der  Zumessung  der  Fonds 
beteiligt  sind,  so  wenig  wird  dadurch  die  Lage  erträglicher  gemacht.  Nach 
allen  Berichten  ist  es  keine  Übertreibung,  wenn  bereits  1765  von  der  jungen 
Göttinger  Bibliothek  gerühmt  wird,  daß  in  keinem  Fache  die  vornehmsten 
Hauptbücher  leicht  vermißt  würden,  hingegen  die  „nur  auf  einige  Weise 
beträchtlichen  Werke"  gewiß  größtenteils  bei  der  Hand  wären,  und  daß 
überdies  nichts  versäumt  \vürde,  um  bei  jeder  günstigen  Gelegenheit  ein- 
zelne Fächer  auch  mit  kleineren  Schriften  so  viel  möglich  vollständig  zu 
machen.  Heute  gibt  es  in  ganz  Deutschland  keine  Bibliothek,  die  das 
gleiche  von  sich  sagen  könnte  oder  der  ihre  Mittel  es  gestatteten,  sich 
zu  einem  gleich  umfassenden  Programm  zu  bekennen.  Die  ungeheure 
Entwicklung  der  wissenschaftlichen  Arbeit  im  19.  Jahrhundert  ist  in  den 
Beständen  unserer  großen  Bibliotheken  nicht  zum  Ausdruck  gelangt.  Ver- 
gebens wäre  das  Bemühen,  aus  ihrer  Zusammensetzung  einen  richtigen 
Begriff  zu  gewinnen  von  der  gewaltigen  Ausdehnung,  die  die  angewandten 
Wissenschaften  gewonnen  haben;  sie  geben  kein  Bild  von  dem  reichen 
Leben,  das  die  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  schönen  Künste  entfaltet; 
nur  ganz  undeutlich  spiegeln  sie  die  staunenswerte  Ausgestaltung  der 
naturwissenschaftlichen  und  medizinischen  Disziplinen  wieder,  trotz  der 
ruinösen  Größe  der  Quote,  die  die  Anschaffungen  aus  diesen  Gebieten 
bei  der  Teuerkeit  der  Veröffentlichungen  verschlingen;  die  schöne  Lite- 
ratur, als  eine  der  vornehmsten  Äußerungen  des  menschlichen  Geistes 
immer  einer  der  würdigsten  Gegenstände  wissenschaftlicher  Untersuchung, 
ist  auch  mit  den  längst  dem  Urteil  des  Tages  entzogenen  Schöpfungen 
nicht  mehr  als  andeutungsweise  vertreten,  und  selbst  in  den  sogenannten 
Geisteswissenschaften,  dem  einzigen  Felde,  das  angemessen  zu  versorgen 
die  Bibliotheken  in  begreiflicher  und  durch  die  Tradition  überdies  ge- 
gebener Bevorzugung  des  stärkeren  Bedürfnisses  sich  haben  angelegen 
sein  lassen  können,  sind  sie  meist  traurig  hinter  den  Leistungen  in  der 
Zeit  ihrer  Armut  zurückgeblieben. 

Nicht  überall  treten  die  Wirkungen  dieses  Zustandes  so  deutlich  zu-  wirUnKen. 
tage  wie  bei  den  Universitätsbibliotheken,  die  infolge  der  schärferen  Um- 
grenzung ihrer  Aufgabe  und  bei  der  Übersichtlichkeit  ihres  Benutzerkreises 
mehr  als  die  Landesbibliotheken  in  der  Lage  sind  zu  beurteilen,  in  wel- 
chem Grade  sie  ihrer  Aufgabe  gerecht  werden.  Eine  der  beklagens- 
wertesten Erscheinungen,  die  hier  zu  beobachten  sind,  ist  die,  daß  ganze 
große    Kreise    der    studierenden  Jugend    durch    die    fortgesetzten    Enttäu- 

DiB  Kultur  der  Gbcenwart.    I.  i.  7j 


578 


Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 


schungen,  die  sie  mit  ihren  Büchergesuchen  erleben,  der  Bibliothek 
entfremdet  werden.  Selbstverständlich  wirken  hier  noch  andere  Dinge 
mit;  in  der  Hauptsache  muß  es  aber  doch  auf  die  Unzulänglichkeit  der 
Bibliothek  zurückgeführt  werden,  wenn  z.  B.  die  Juristen  sich  immer  mehr 
daran  gewöhnen,  in  literarischen  Nöten  bei  Seminar-,  Examens-  und  Promo- 
tionsarbeiten statt  der  Bibliothek  eines  der  bekannten  buchhändlerischen 
Leihinstitute  in  Anspruch  zu  nehmen,  die  ihnen  auf  die  Einsendung  des 
Themas  die  zugehörige  Literatur  in  geschäftsmäßig  oberflächlicher  Zu- 
sammenstellung zur  Verfügung  stellen,  oder  wenn  die  Mediziner  in  ihren 
angeblich  wissenschaftlichen  Erstlingsarbeiten,  die  ja  für  weitaus  die  meisten 
zugleich  die  letzten  Versuche  dieser  Art  sind,  fast  allgemein  diese  er- 
schreckende handwerksmäßige  Literatur-,  man  möchte  sagen  Geschichts- 
losigkeit  zeigen,  die  noch  vor  einem  halben  Jahrhundert  unerhört  gewesen 
wäre.  Die  Erfahrung,  die  Robert  von  Mohl  aus  seiner  bibliothekarischen 
Praxis  heraus  in  die  Worte  kleidete:  „Wo  wenig  da  ist,  da  wird  noch 
weniger  gesucht",  wird  in  stetig  zunehmendem  Umfange  gemacht;  gibt  es 
doch  Bibliotheken,  bei  denen  die  Benutzung  seitens  der  Mediziner  auf 
sechs  Prozent  der  bei  der  Fakultät  Eingeschriebenen  herabgesunken  ist, 
und  ob  die  Chemiker,  Botaniker  usw.,  die  als  Angehörige  der  Philo- 
sophischen Fakultät  in  der  Regel  nicht  besonders  gebucht  werden,  ein 
größeres  Vertrauen  zur  Bibliothek  zeigen,  ist  nach  dem  allgemeinen  Ein- 
druck recht  zweifelhaft.  Es  ist  wichtig,  dies  im  Auge  zu  behalten,  wenn 
man  den  rechten  Maßstab  für  die  Beurteilung  des  Prozentsatzes  der 
Wünsche  gewinnen  will,  die  wegen  Nichtvorhandenseins  des  gesuchten 
Werks  unerfüllt  bleiben  müssen.  Und  weiter  hat  man  dabei  in  Betracht 
zu  ziehen,  daß  die  Statistik  nur  die  schriftlich  eingehenden  Gesuche  faßt, 
nicht  aber  die  mit  negativem  Ergebnis  endenden  Nachforschungen  in  den 
Katalogen  und  im  Magazin,  die  bei  den  Universitätsbibliotheken  schwer- 
lich zu  hoch  veranschlagt  werden  können,  da  die  hier  vornehmlich  in 
Frage  kommenden  Benutzer,  die  Dozenten,  eben  diejenigen  sind,  die  die 
Bibliothek  am  stärksten  in  Anspruch  nehmen  und  überdies  am  ehesten 
mit  ihren  Bedürfnissen  über  die  landläufige  Literatur  hinausgehen.  Wenn 
trotzdem  das  Verhältnis  der  mit  dem  niederschlagenden  „Nicht  vorhanden" 
bezeichneten  Bestellungen  bei  den  preußischen  Universitätsbibliotheken 
z.  B.  auf  durchschnittlich  fünfzehn  Prozent  hat  ermittelt  werden  können, 
so  muß  das  doch  auch  denjenigen  stutzig  machen,  der  den  Grundsatz  von 
der  erzieherischen  Wirkung  der  Sparsamkeit  auch  auf  die  wissenschaft- 
lichen Hilfsmittel  überträgt.  Wieviel  gute  Ansätze,  wieviel  fruchtbare 
Keime  hier  vernichtet  werden,  das  läßt  sich  freilich  nicht  in  statistische 
Ziffern  bringen.  Wenn  es  möglich  wäre,  man  würde  über  dem  Ergebnis 
ernst  werden. 
Wie  nicht  za  Wie    ist    ZU   helfen?     Man   hat   die  Frage   jetzt  lange  genug   gewälzt, 

um    ZU   wissen,   daß   die   Erleuchtung,    wie    der  Not   mit    den  vorhandenen 
Mitteln  durch  bloße  Änderung  der  Organisation  zu  begegnen  wäre,  nicht. 


IV.   Was  zu  erreichen  bleibt.  e^yg 

mehr  kommen  wird.  Die  „Spezialisierung  der  Bibliotheken",  d.  h.  die  Be- 
schränkung der  einzelnen  Anstalt  auf  bestimmte  Fächer,  in  der  Robert 
von  Mohl  den  einzigen  allgemeinen  Plan  zur  Herstellung  eines  „wenigstens 
teilweise  verbesserten  Zustandes"  erblickte,  kennzeichnet  sich,  wie  über- 
dies niemand  überzeugender  nachweisen  kann,  als  der  Urheber  selbst  es 
getan  hat,  ohne  weiteres  so  deutlich  als  ein  Ausweg  der  Verzweiflung, 
daß  es  heute,  da  die  Politik  des  Existenzminimums  gegenüber  den  wissen- 
schaftlichen Anstalten  der  Erinnerung  angehört,  niemand  gibt,  der  diese 
Idee  aufnehmen  möchte.  Eher  schon  könnte  ein  Blick  auf  die  Zukunft 
der  Instituts-  und  Seminarbibliotheken  bei  den  Universitäten  den  Ge-  instuots- 
danken  nahelegen,  die  Leistungsfähigkeit  der  Universitätsbibliotheken  auf 
Kosten  dieser  Sammlungen  zu  steigern.  Es  gibt  ihrer  dreißig  bis  vierzig 
bei  jeder  Universität;  alle  verfügen  sie  im  Verhältnis  zur  Ausdehnung  des 
zu  pflegenden  Gebietes  über  nicht  unbeträchtliche  Mittel,  die  in  ihrer  Ge- 
samtheit hier  und  da  sogar  den  Vermehrungsetat  der  Universitätsbiblio- 
thek übersteigen.  Ursprünglich  gedacht  als  Handapparate  zur  Unter- 
stützung des  Unterrichts,  haben  sie  sich  im  Laufe  der  Jahre,  nicht  zum 
wenigsten  durch  Zuwendungen  von  Lehrern  und  Schülern,  zu  teilweise 
recht  ansehnlichen  Fachbibliotheken  entwickelt,  die  unterzubringen  und  in 
Ordnung  zu  halten  von  Jahr  zu  Jahr  größere  Schwierigkeiten  verursacht. 
So  zweifellos  es  indes  ist,  daß  es  auf  diesem  Wege  nicht  in  infinitum 
weitergeht,  und  so  nachhaltig  den  Universitätsbibliotheken  durch  Über- 
weisung dieser  Sammlungen  samt  ihren  Einkünften  geholfen  werden 
könnte,  so  wird  doch  niemand  einer  solchen  Maßnahme  das  Wort  reden, 
der  jemals  einen  Einblick  in  ihre,  segensreiche  Wirksamkeit  genommen 
hat.  Natürlich  gibt  es  auch  unter  ihnen  Wunderlichkeiten,  Bibliotheken 
in  eifersüchtig  verschlossenen  Schränken,  die  treffender  mit  dem  schönen 
alten  Ausdruck  Bibliotaphe  bezeichnet  würden.  Wo  sie  aber  einigermaßen 
vernünftig  verwaltet  werden,  da  zeigen  sie  sich  mit  ihrer  Übersichtlich- 
keit und  mit  der  durch  keinerlei  lästige  Aufsicht  beeinträchtigten  Frei- 
heit, ja  Behaglichkeit  der  Benutzung  ungleich  geschickter  als  die  Univer- 
sitätsbibliotheken, den  seiner  Ziele  noch  nicht  sicheren  Anfanger  anzuziehen, 
zutraulich  zu  machen,  anzuregen  und  zu  fördern.  Ein  wenig  Einverneh- 
men einerseits  zwischen  den  verwandten  Instituten  und  andererseits  zwi- 
schen den  Instituten  und  der  Universitätsbibliothek,  zumal  bei  der  An- 
schaffung von  Zeitschriften  und  kostspieligen  Werken,  strenge  Beschrän- 
kung auf  den  Studienzweck  und  rücksichtslose  Ausscheidung  aller  hiemach 
entbehrlichen  Literatur,  vielleicht  fortdauernd  zu  gewährleisten  durch  das 
brutale,  aber  voraussichtlich  allein  wirksame  Mittel  einer  Maximal-Bände- 
zahl:  das  etwa  mag  der  Weg  sein,  um  den  in  der  Entwicklung  dieser 
Anstalten  zutage  tretenden  Unzuträglichkeiten  abzuhelfen.  Für  die  Uni- 
versitätsbibliotheken ist  hier  nichts  zu  erwarten. 

Es  bleibt  dabei:  ohne  neue  Mittel  keine  Hilfe,  gleichviel  welche  Rieh- wie  »u  helfen  ist. 
tung  man  der  Entwicklung   der  Bibliotheken   geben   mag.     Denn    ob  man 

37* 


580  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

bei  dem  geg-emvärtigen  System  bleibt,  welches  die  große  Mehrzahl  der 
Bibliotheken  für  die  Befriedigung  außergewöhnlicher  Anforderungen  auf 
die  Hilfe  der  wenigen,  das  Durchschnittsmaß  stark  überragenden  Samm- 
lungen anweist,  oder  ob  man  zur  Entlastung  dieser  über  das  wünschbare 
Maß  hinaus  in  Anspruch  genommenen  Anstalten  daneben  ein  weiteres 
Aushilfesystem  auf  der  Grundlage  schafft,  daß  die  übrigen  Bibliotheken 
in  den  Stand  gesetzt  werden,  jede  ein  bestimmtes  Fach  zu  besonderer 
Stärke  zu  entwickeln:  so  viel  steht  fest,  daß  an  eine  Einschränkung  der 
Aufgaben  nirgends  gedacht  werden  kann.  Diese  neuen  Mittel  aber  können 
in  angemessener  Höhe  jetzt  und  in  Zukunft  füglich  nicht  erwartet  werden, 
solange  es  nicht  gelingt,  den  Bedürfnisnachweis  auf  eine  sichere  Grund- 
lage zu  stellen  und  damit  die  gegenwärtig  fast  unbegrenzte  Bewegungs- 
freiheit bei  der  Behandlung  der  bibliothekarischen  Forderungen  auf  ein 
vernünftiges  Maß  einzuschränken.  Dies  ist  der  springende  Punkt.  Auf 
ihn  sind  alle  Kräfte  zu  vereinen. 

Und  so  groß  die  Schwierigkeiten  sich  erheben,  unüberwindlich  sind 
sie  nicht.  Über  den  Weg  selbst  aber  kann  ein  Zweifel  nicht  bestehen.  Er 
ist  mühselig  und  lang;  aber  es  ist  der  einzige,  der  zum  Ziele  zu  führen 
verspricht:  der  ganze  alte  Vorrat  allgemeiner  Erörterungen  und  Berech- 
nungen, mit  denen  die  Bibliotheken  bisher  die  Unzulänglichkeit  ihrer  Mittel 
darzutun  pflegten,  wird  als  ausgedient  und  unbewährt  beiseite  gelassen, 
und  an  seine  Stelle  tritt  als  Grundlage  der  Verhandlung  zwischen  dem 
Fordernden  und  dem  Gewährenden  etwas  Greifbares,  das  Buch  selbst. 

Nur  auf  den  ersten  Blick  scheint  dieser  Vorschlag  ungeheuerlich. 
Wie  einerseits  die  große  Masse  der  Erscheinungen,  an  den  Aufgaben  der 
Bibliotheken  gemessen,  ohne  weiteres  ausscheidet,  so  ist  andererseits  bei 
dem  übrig  bleibenden  Rest  die  Grenze  zwischen  dem,  was  notwendig,  und 
dem,  was  bloß  wünschbar  ist,  keineswegs  so  verschwommen,  wie  es  dem 
ungewöhnten  Auge  zunächst  scheint.  Der  Standpunkt  und  die  Bedeutung- 
des  Verfassers,  der  Gegenstand  und  der  Umfang  seines  Buches,  das  sind 
auch  für  den  oberflächlichen  Kenner  des  jeweiligen  Standes  der  frag- 
lichen Disziplin  in  neunundneunzig  unter  hundert  Fällen  vollkommen  aus- 
reichende Kriterien,  um  zu  entscheiden,  ob  das  Buch  für  die  Bibliothek 
entbehrt  werden  kann  oder  nicht.  Ohne  Schwierigkeit  werden  sich  ein 
Vertreter  der  Wissenschaft  und  ein  Vertreter  der  regierenden  Gewalten 
binnen  einer  Stimde  darüber  einigen,  was  z.  B.  von  der  Literatur  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuchs  aus  einem  bestimmten  Jahre  für  die  Bibliothek 
des  Reichsgerichts,  was  für  die  Königliche  Bibliothek  zu  Berlin  und  was 
schließlich  für  eine  Universitätsbibliothek  notwendig  ist.  Und  so  unüber- 
sehbar ist  die  Masse  der  in  Frage  kommenden  Erscheinungen  nicht,  daß 
für  das  Ganze  unmöglich  sein  sollte,  was  für  einen  Ausschnitt  spielend 
zu  bewältigen  ist.  Freilich  ist  es  tausendmal  bequemer,  mit  den  alten 
Argumenten  zu  arbeiten,  hinzuweisen  auf  die  Bedeutung  der  Wissenschaft, 
die  Aufgaben  der  Kulturvölker,  die  Ehrenpflicht  des  Staates,   die  Vorbild- 


IV.   Was  zu  erreichen  bleibt.  58 1 

liehe  Ausstattung  dieser  oder  jener  Riesenbibliothek  des  Auslandes  usw. 
Aber  allen  diesen  Argumenten  fehlt  die  Beweiskraft,  die  sich  Anerkennung 
erzwingt.  Allgemein  wie  sie  sind,  werden  sie  durch  ebenso  allgemeine 
Hinweise  auf  die  Finanzlage,  auf  dringlichere  Bedürfnisse,  auf  frühere  Be- 
willigungen usw.  beiseite  geschoben.  Festen  Boden  bekommt  die  Forde- 
rung erst  unter  die  Füße,  wenn  sie  einfach  und  schlicht  vom  Buche  aus- 
geht. Nur  so  sichert  sie  sich  eine  sachliche  Behandlung.  Dies  ist  daher 
der  Weg,  der  beschritten  werden  muß;  der  auch  dann  beschritten  werden 
müßte,  wenn  die  Anfechtbarkeit  der  einzelnen  Position  wirklich  so  groß 
wäre,  als  sie  auf  den  ersten  Blick  scheint. 

Selbstverständlich  ist  nun  die  Durchführung  dieses  Vorschlags  nicht 
so  zu  denken,  daß  jede  Bibliothek  für  sich  jahraus  jahrein  in  mühseligen 
Aufstellungen  das  Mißverhältnis  zwischen  Ausrüstung  und  Aufgabe  nach- 
wiese, obgleich  auch  bei  solchem  Verfahren  ein  endlicher  Sieg  nicht  aus- 
bleiben könnte.  Sehr  viel  schneller  und  vollständiger  würde  vielmehr 
für  alle  deutschen  Bibliotheken  die  ersehnte  Heilung  herbeigeführt  werden, 
wenn  die  Unterrichtsvervvaltung  eines  Bundesstaats  mit  ausgedehnterem 
Bibliothekswesen  die  ihr  zur  Verfügung  stehenden  Kräfte  und  Macht- 
mittel daran  setzte,  um  unter  Mitwirkung  der  Finanzverwaltung  auf  dem 
angedeuteten  Wege  an  der  Hand  der  literarischen  Produktion  etwa  nach 
dem  Durchschnitt  der  drei  letzten  Jahre  eine  Art  beweglichen  Etats  mit 
Höchst-  und  Mindestbetrag  für  die  einzelnen  Disziplinen  zu  ermitteln  und 
von  dieser  Grundlage  aus,  unter  sorgfältiger  Berücksichtigung  der  aus 
der  Verschiedenheit  der  Aufgaben  sich  ergebenden  Verschiedenheit  der 
Bedürfnisse  die  Anschaffungsfonds  der  einzelnen  Bibliotheken  festzustellen. 
Die  Bemessung  des  Zuschlags  für  das  Binden  der  Bücher  würde  kaum 
zu  Differenzen  führen,  und  auch  über  die  Höhe  der  am  billigsten  gleich- 
falls nach  einem  einheitlichen  Prozentsatz  zu  bestimmenden  Dispositions- 
fonds zur  Ausfüllung  von  Lücken  in  den  älteren  Beständen  würde  bei 
dem  Reichtum  der  vorliegenden  Erfahrungen  eine  Einigung  unschwer  zu 
erzielen  sein.  Die  Steigerung  des  Wertes  der  wissenschaftlichen  Pro- 
duktion aber  und  der  Buchbinderpreise  gäbe  dann  die  Skala,  nach  der 
in  dreijährigen  Perioden  etwa  die  Etats  neu  zu  ordnen  wären. 

Die  Arbeit  wäre  groß,  das  Ziel  aber  des  Schweißes  der  Edlen  wert. 
Alle  Welt  weiß,  wieviel  von  dem  kräftigen  Aufschwung,  den  das  deutsche 
Bibliothekswesen  in  den.  letzten  Jahrzehnten  genommen  hat,  auf  die  Initia- 
tive der  preußischen  Unterrichtsverwaltung  zurückzuführen  ist.  Sie  würde 
ihr  Werk  krönen,  wenn  es  ihr  gelänge,  in  vorbildlichem  Vorgehen  diese 
Frage,  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes  die  Kardinalfrage  des  ganzen 
Bibliothekswesens,  aus  der  Sphäre  der  allgemeinen  Erörterungen  und  Be- 
hauptungen auf  den  festen  Boden  der  Tatsachen  zu  stellen  und  damit 
den  letzten  Rest  der  uralten  Auffassung  der  Bibliothek  als  einer  Luxus- 
einrichtung für  alle  Zeiten  zu  beseitigen. 

Von  so  überragender  Bedeutung  ist  gegenwärtig  diese  Aufgabe,  daß  weitere  Sorgen. 


[■82  Fritz  Mii.kau:   Die  JÜbliotholccn. 

davor,  wie  gesagt,  alle  sonstigen  Sorgen  und  Wünsche,  an  denen  es  im 
Bibliothekswesen  so  wenig  fehlt  wie  in  irgend  einem  anderen  Kreise 
menschlichen  Wirkens,  stark  zurücktreten.  Darum  sind  sie  indes  nicht 
sämtlich  von  der  Art,  daß  man  sie  getrost  der  Zukunft  überlassen  dürfte. 
Auch  unter  ihnen  gibt  es  vielmehr  noch  Frag-en,  die  das  innerste  Wesen 
der  Bibliothek  stark  berühren  und  ein  schleuniges  Eingreifen  angezeigt 
scheinen  lassen. 
Raumprobiem.  Nicht  hierher  zu  rechnen  ist  allerding^s  das  Raumproblem,  das,   kürz- 

lich in  den  Vereinigten  Staaten  von  einer  hervorragenden,  außerhalb  der 
Zunft  stehenden  Stelle  aufgenommen  und  unter  lebhafter  Betonung  seiner 
Dringlichkeit  vor  die  Bibliothekare  des  Landes  gebracht,  auch  diesseits 
des  Ozeans  einige  Aufmerksamkeit  erregt  hat.  Es  ist  allerdings  eine 
außerordentlich  unbequeme  Seite  an  den  Bibliotheken,  daß  sie  unersättlich 
immer  nur  aufnehmen,  nie  abgeben.  Kaum  neu  untergebracht,  recken 
und  dehnen  sie  sich  so  gewaltig,  daß  auch  das  reichlich  angemessene 
neue  Kleid  ihnen  bald  wieder  zu  eng  wird.  Bereits  hat  ihr  Wachstum 
einen  Schritt  angenommen,  der  in  sechs  bis  sieben  Jahrzehnten,  bei 
einigen  früher,  nur  bei  wenigen  später,  zur  Verdoppelung  des  Umfangs 
führen  müßte,  wenn  es,  was  leider  nur  zu  wahrscheinlich  ist,  bei  dieser 
Gangart  bliebe.  Ist  doch  die  Zahl  der  in  Deutschland  allein  erschienenen 
Druckwerke,  die  inan  für  1850  auf  rund  9000  berechnet  hat,  für  1905  auf 
28886  festgestellt  worden!  Nichts  aber  berechtigt  einstweilen  dazu,  auf 
eine  Verlangsamung  dieses  beängstigenden  Tempos  zu  hoffen,  und  wenn 
sich  die  Büchererzeugung  der  übrigen  alten  Kulturländer,  nach  dem  bis- 
herigen Gange  zu  urteilen,  auch  nicht  mit  derselben  Schnelligkeit  aufwärts 
bewegen  wird,  so  treten  dafür  fortgesetzt  neue  Völker  in  die  Kultur  ein 
und  beteiligen  sich  eifrig  an  der  Arbeit,  die  Flut  des  Gedruckten  noch 
höher  anschwellen  zu  machen.  Was  aber  der  Strom  einmal  in  den 
Bibliotheken  abgelagert  hat,  das  bleibt  ihnen  erhalten,  solange  sie  be- 
stehen, und  deutlich  sieht  man  die  Zeit  kommen,  wo,  von  allen  anderen 
Nöten  abgesehen,  das  Alte  so  mächtig  geworden  ist,  daß  die  Benutzung 
des  Neuen,  dem  erfahrungsgemäß  das  Interesse  sich  in  neunzig  und  mehr 
unter  hundert  Fällen  zuwendet,  unerträglich  erschwert  wird.  Wer  streckte 
da  nicht  unwillkürlich  abwehrend  die  Hände  aus?  Daß  man  also  einmal, 
und  zwar,  soweit  die  Riesenbibliotheken  in  Betracht  kommen,  noch  in 
absehbarer  Zeit  zu  diesem  Problem  wird  Stellung  nehmen  müssen,  scheint 
unvermeidlich.  Noch  aber  ist  die  Frage  offenbar  nicht  reif  Wenigstens 
kann  auch  der  erwägenswerteste  unter  den  bisher  aufgetauchten  Vor- 
schlägen —  er  stammt  wie  die  Belebung  des  Problems  selbst  von  dem 
hochverdienten  Präsidenten  der  Harvard-Universität  — ,  wonach  die  Bücher 
in  lebende  und  tote  zu  sondern,  die  toten  aber,  d.  h.  die  wenig  oder  gar 
nicht  gebrauchten  auszuscheiden  wären,  um  irgendwo  in  der  Peripherie 
möglichst  gedrängt  und  mögliclit  billig  untergebracht  zu  werden,  einst- 
weilen   als    eine    annehmbare  Lösung  nicht   angesehen  werden.     Vielleicht 


IV.  Was  zu  erreichen  bleibt.  583 

leuchtete  er  ein,  wenn  die  Verhältnisse  zur  Entscheidung  drängten.  Das 
trifft  aber  keinesfalls  in  höherem  Grade  zu,  als  etwa  der  Ausblick  auf  die 
in  knapp  fünf  Jahrzehnten  für  Deutschland  zu  erwartende  Steigerung  der 
Bevölkerungsziffer  von  60  auf  120  Millionen  jetzt  bereits  grundstürzende 
Maßnahmen  forderte.  Die  kommenden  Geschlechter  werden  mit  helleren 
Augen  sehen,  und  solange  sich  nicht  eine  weniger  gewaltsame  Lösung 
gefunden  hat,  scheint  es  nur  vorsichtig,  den  Ausweg  aus  der  Schwierigkeit 
ihnen  zu  überlassen.  Der  Übergang  von  der  Rolle  zum  Kodex,  vom  Per- 
gament zum  Papier,  von  der  Schrift  zum  Druck,  vom  Saal  zum  Magazin: 
das  sind  klassische  Beispiele  dafür,  wie  die  Raumschwierigkeit,  bewußt 
und  unbewußt,  immer  wieder  auf  einem  Wege  überwunden  worden  ist, 
den  zu  sehen  den  Vorlebenden  nicht  vergönnt  war.  Etwas  Geduld  scheint 
also  durchaus  am  Platze.  Immerhin  werden  die  Bibliothekare  gut  tun, 
ernstlich  darüber  nachzudenken,  ob  nicht  die  Ausnutzung  des  Magazins 
einer  erheblichen  Steigerung  fähig  ist;  ob  nicht  gegenüber  den  Geschenken 
etwas  mehr  Kritik  angebracht  sein  möchte,  als  die  naive  Freude  am 
Wachstum  der  Bändezahl  bisher  hat  aufkommen  lassen;  ob  nicht  der 
Segen  des  Tauschverkehrs,  der  jeder  der  beteiligten  Anstalten  in  Deutsch- 
land Jahr  für  Jahr  an  die  8000  Dissertationen  und  Programme  zuführt, 
etwas  einzudämmen  sein  wird;  ob  nicht  die  immer  noch  als  heilig  hinge- 
stellte Pflicht,  aus  dem  zugehörigen  Bezirk  bedingungslos  jedwedes  Er- 
zeugnis der  Druckerpresse  der  Nachwelt  aufzubewahren,  gegenwärtig  ihre 
Grundlage  weniger  in  einem  Interesse  der  Wissenschaft  hat  als  in  dem 
etwas  subalternen  Vollständigkeitsbedürfnis,  vor  dem  kein  Sammler  be- 
wahrt bleibt,  und  ob  es  schließlich  nicht  an  der  Zeit  ist,  da,  wo  mehrere 
Bibliotheken  an  einem  Orte  bestehen  und  drüber  hinaus  eine  vernünftige 
Teilung   der  Aufgaben  zu  vereinbaren. 

Wenn    hier   also    einstweilen    vorbeugende  Maßregeln    ausreichen,    so  Der  Bibliothekar 

.  ^    „_        und  seine  Arbeit. 

scheint  dagegen  unverweiltcs  Zufassen  angezeigt,  um  nun  auch  die  Krarte, 
die  aus  dem  Bücherhaufen  erst  die  Bibliothek  machen,  den  im  Laufe  der 
letzten  Jahrzehnte  so  stark  veränderten  Verhältnissen  mehr  als  bisher  an- 
zupassen. Ein  Punkt  aber  ist  es  hier  vor  allen,  der  dringlich  Abhilfe 
heischt:  das  ist  das  grobe  Mißverhältnis  zwischen  der  Vorbildung  der 
Arbeiter  und  einem  erheblichen  Teil  der  von  ihnen  zu  leistenden  Arbeit. 
Nur  mit  starkem  Befremden  wird  derjenige,  dem  die  Gewöhnung  noch 
den  Blick  nicht  getrübt  hat,  wahrnehmen,  wie  rein  mechanische  Arbeiten, 
die  nichts  Höheres  als  einen  zwar  sicheren,  aber  doch  recht  bescheidenen 
Besitz  von  Sprachkenntnissen  voraussetzen,  dauernd,  d.  h.  nicht  etwa 
nur  im  Vorbereitungsdienst,  von  Leuten  mit  gelehrter  Bildung  geleistet 
werden.  Das  war  vernünftig  oder  doch  erträglich,  solange  diese  Ge- 
schäfte sich  in  so  mäßigen  Grenzen  hielten,  daß  sie  nebenher  erledigt 
werden  konnten;  es  ist  unbegreiflich,  seit  sie  an  Umfang  die  eigentlich 
gelehrte  Arbeit  überragen.  Man  braucht  nicht  von  jenem  für  die  Geschäfts- 
verteilung   in    amerikanischen    Bibliotheken    empfohlenen    Grundsatz    aus- 


,0^  Fritz  Mii.kaii:  Die  Bibliotheken. 

zugehen  „Never  do  what  a  lower  paid  man  can  do",  um  es  verwunderlich 
zu    finden,    wenn    ein    akademisch    gebildeter    Mann    in    der  Führung    des 
Zugangsverzeichnisses    oder    in    der  Einziehung    der  Pflichtexemplare   auf- 
geht,  wenn   seine  Kraft  dazu  verbraucht  wird,   um  den  Ausleihedienst  zu 
versehen,    den   Lesesaal    zu    beaufsichtigen,    den    Buchbinder   zu    kontrol- 
lieren usw.     Denn    nicht    darin   besteht   im   wesentlichen   die  Verkehrtheit 
des  Verfahrens,  daß  dieser  oder  jener  Dienst  teurer  bezahlt  wird  als  nötig 
wäre.     Das    Schlimme    daran    ist    vielmehr    die    beklagenswerte  Wirkung, 
die  es  auf  die  Entwicklung  der  Arbeiter  ausübt.     Wieviel  Frische,  wieviel 
Arbeitsfreudigkeit,    wieviel    Initiative    dadurch    zum    Schaden    der    Biblio- 
theken niedergehalten  worden  ist   und    niedergehalten  wird,    das  läßt  sich 
nicht  berechnen;  erkennbar  aber  ist  es  aufs  deutlichste  für  jeden,  der  über 
die  nächste  Umgebung  hinaussieht  und  ein  wenig  vergleichen  gelernt  hat. 
Es  ist  nicht  anders:    im    engen  Kreis    verengert    sich    der  Sinn,    und    nur 
wenige  sind  es,   denen  es  gelingt,  aus  der  abstumpfenden  Arbeit  Beweg- 
Dienststunden.  Uchkeit  des  Gcistcs  und  Freiheit  des  Blicks   zu  retten.     Und   verderblich 
wie    die    Geistlosigkeit    und    Gleichförmigkeit    der    Arbeit    wirkt    auf    das 
lebendige  Interesse  auch  die  unselige  Einrichtung  der  Dienststunden.    Als 
Goethe   sich   in  seinem  temperamentvollen  Vorgehen  bei  der  Neuordnung 
der    Jenenser    Bibliothek    durch    die    Art    der   Bibliothekare    auf   die    ver- 
drießUchste  Weise    gehemmt    sieht,    da    schreibt   er   ärgerlich   an  Schiller: 
„Ich    gebe    die    Bemerkung    zum    besten,    daß    das    Arbeiten    nach    vor- 
geschriebener Stunde,  in  einer  Zeitenreihe,  solche  Menschen  hervorbringt 
und  bildet,  die  auch  nur  das  allernothdürftigste,  stundenweis  und  stunden- 
haft,  möchte  man  sagen,  arbeiten."     Das   scheint   eine  leicht  hingeworfene 
Notiz;    aber,   wie    die  Weimarer  Ausgabe    anmerkt,    die   mehrfachen  Kor- 
rekturen, die  Goethe  während  des  Diktats,  nach  dem  Diktat  und  bei  der 
Redaktion    der  Briefe    für    den  Druck  vorgenommen  hat,    zeigen  deutlich, 
welches  Gewicht  er  auf  diese  Beobachtung  legte.    Tatsächlich  hat  er  hier 
mit  scharfem  Bück    eine  der  stärksten  Wurzeln  des  Übels  erkannt,    unter 
dem  die  Bibliotheken  leiden.     Wer  regelmäßig,    gleichviel   w-elche  Arbeit 
vorliegt,  nach  so  und  so  viel  Stunden  Dienst  in  dem  guten  Glauben  nach 
dem    Hut    greift,    seine    Pflicht    getan    zu    haben,    in    dem    kann    sich    nur 
schwer  das  warme,  nach  Betätigung  drängende  Interesse  für  das  Gedeihen 
des  ganzen  Instituts  entwickeln,    wie    es  beim  wissenschaftlichen  Beamten 
vorausgesetzt  werden  muß,  weil  es  die  vornehmste  Quelle  alles  gesunden 
Fortschritts  ist.     Wohlberechtigt    zu   jener  Zeit,    als    der  Bibliothekar    der 
Universitätslehrer  war,    der  verpflichtet  wurde,    tägUch    einen   bestimmten 
Bruchteil    seiner    Zeit    der    Berufsarbeit   zugunsten    der  Bibliothek   zu  ent- 
ziehen, ist  die  Einrichtung,  seit  der  Bibliothekar  sein  Brot  als  Bibliothekar 
verdient,    zu  einem  Hemmnis  aufstrebender  Entwicklung,    zu  einer  Schule 
der  Mittelmäßigkeit  geworden. 
MittiercBe^imte.  Glücklicherwcise    mehren    sich    die  Anzeichen    dafür,    daß    dieser  Zu- 

stand die  längste  Zeit    gedauert  hat.     Die  vor  einer  Reihe  von  Jahren  in 


IV.   Was  zu  erreichen  bleibt.  585 

Preußen  begonnene  Errichtung  von  Expedienten.stellen  kann  allerdings  als 
ein  durchaus  gelungener  Versuch  in  dieser  Richtung  nicht  bezeichnet 
werden,  da  man  hier  den  entgegengesetzten  Fehler  gemacht  hat,  in  den 
Anforderungen  an  die  Vorbildung  zu  tief  hinabzusteigen.  Der  erste  Schritt 
ist  indes  getan,  und  eben  der  halbe  Mißerfolg  bietet  die  beste  Gewähr 
dafür,  daß  man  das  Ziel  nun  nicht  mehr  aus  den  Augen  verlieren  wird. 
Die  guten  Erfahrungen  aber,  die  man  seit  kurzem  an  der  Landesbibliothek 
in  Stuttgart  damit  gemacht  hat,  daß  man  den  fünf  wissenschaftlich  ge- 
bildeten Bibliothekaren  die  gleiche  Zahl  mittlerer  Beamten,  Leute  mit 
angemessen  ergänzter  Volksschullehrerbildung,  zur  Seite  gab,  zeigen  an 
einem  praktischen  Beispiel,  bis  zu  welchem  Umfange  man  unbedenklich 
bei  der  Zuteilung  der  Arbeitskräfte  von  der  akademischen  Vorbildung  ab- 
sehen darf.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  eine  so  eingreifende 
Neuordnung  nicht  von  heute  auf  morgen  durchgeführt  werden  kann.  Man 
sollte  sich  aber  gegenwärtig  halten,  daß  sie,  zumal  die  mehr  mechanischen 
Arbeiten  in  ungleich  stärkerem  Maße  zunehmen  als  diejenigen,  welche  eine 
gelehrte  Bildung  verlangen,  die  unumgängliche  Voraussetzung  für  eine 
volle  Gesundung  der  Bibliotheksverhältnisse  ist.  Erst  wenn  diese  Voraus- DerBibiiothck.-.r 
Setzung  erfüllt  ist,  werden  die  geistigen  Kräfte,  die  in  dem  wissenschaft- 
lichen Personal  vorhanden  sind,  bei  der  gegenwärtigen  Ordnung  der  Dinge 
aber  zu  einem  guten  Teil  brach  liegen,  in  vollem  Umfange  für  die  Biblio- 
thek frei  werden.  Erst  dann  sind  die  Grundlagen  dafür  geschaffen, 
daß  der  Bibliothekar  zur  Regel  wird,  der  jetzt  die  Ausnahme  ist:  der  mit 
gesimdem  Ehrgeiz  und  starkem  Verantwortlichkeitsgefühl  die  ihm  über- 
tragene Abteilung  arbeitend  und  beaufsichtigend  zur  besten  des  Instituts 
zu  machen  strebt,  der  die  ganze  Bibliothek  mit  dem  Auge  des  Herrn, 
nicht  des  Mietlings  ansieht  und  ungeheißen  hilft  und  bessert,  wo  die 
Gelegenheit  sich  bietet,  der  nicht  in  die  gefährliche  Andacht  der  Quis- 
quilien  versinkt,  sondern  mit  freiem  Blick  das  Große  vom  Kleinen  zu 
scheiden  weiß,  der  nicht  an  der  Schablone  klebt,  sondern  nachdenkend 
und  aufmerksam  den  Standpunkt  des  Kritikers  auch  den  bestehenden 
Einrichtungen  gegenüber  festhält,  und  der  schließlich,  wie  sich  das  für  den 
Hüter  und  Verwalter  wissenschaftlicher  Schätze  von  selbst  verstehen  sollte, 
Muße  und  Frische  genug  aus  dem  Dienste  rettet,  um  für  seinen  Teil  auf 
bescheidenem  Hausaltar  die  Flamme  der  Wissenschaft  zu  nähren. 

Nicht  aus  jedem  Holz  werden  sich  solche  Männer  schnitzen  lassen. 
Es  ist  richtig,  daß  es  immer  hier  und  da  einen  ausgezeichneten  Bibliothekar 
gegeben  hat,  der  sozusagen  vom  Himmel  gefallen  war.  Aber  das  sind 
Ausnahmen,  und  andererseits  verzichtet  man  darum  doch  nicht  auf  die 
Erziehung  zu  einem  Beruf,  weil  das  Beste  dazu  von  Hause  mitgebracht 
werden  muß.  Daher  sollte  es  auf  die  Gefahr  hin,  daß  mit  den  besten 
Mitteln  nicht  das  Beste  erreicht  wird,  mit  der  praktischen  und  theore- 
tischen Schulung  der  Anwärter  sehr  viel  ernster  genommen  werden,  als 
es  heute   im   allgemeinen  geschieht,  und  vor  allem  sollte  die  sogenannte 


,Q^  Fritz  Milkau:  Die  Bibliolhokcn. 

Fachprüfung,  wo  sie  besteht,  als  das  behandelt  werden,  was  sie  nach  Lage 
der  Dinge  nur  sein  kann,  d.  h.  als  eine  Einrichtung,  die  die  Möglichkeit 
gibt,  als  ungeeignet  erkannte  Kräfte  abzustoßen.  Die  Aufsichtsbehörden 
aber  würden  ihren  mannigfachen  Verdiensten  um  die  Hebung  der  Biblio- 
theken ein  neues  hinzufügen,  wenn  sie,  wenigstens  bis  zur  Erstarkung 
der  noch  jungen  Grundsätze,  selbst  den  Anschein  meiden  wollten,  als 
wären  sie  der  immer  noch  stark  herumspukenden  Auffassung  zugänglich, 
wonach  für  jedweden  studierten  Mann,  der  körperlicher  oder  geistiger 
Unzulänglichkeiten  wegen  dem  ursprünglich  gewählten  Beruf  zu  entsagen 
gezwungen  ist,  als  rettender  Hafen  zunächst  der  Bibliotheksdienst  in 
Betracht  kommt. 

Solche  Bibliothekare  werden  dann  auch,  und  damit  kann  die  Dar- 
stellung endlich  zum  Schluß  kommen,  besser  als  alle  Instruktionen  die 
Gewähr  dafür  bieten,  daß  die  seit  der  Selbständigkeit  des  bibliothekari- 
schen Berufs  hier  und  da  zutage  getretene  Neigung  zur  Überschätzung 
der  Technik  in  vernünftigen  Schranken  bleibe,  daß  über  den  Minutien, 
die  nun  einmal  in  der  bibliothekarischen  Arbeit  einen  großen  Raum 
einnehmen,  die  wichtigen  Fragen  nicht  vergessen  werden,  und  daß  das 
Verhältnis  zum  Publikum  in  immer  steigendem  Maße  beherrscht  werde 
von  dem  Geiste  des  Entgegenkommens,  des  Wohlwollens,  der  Hilfsbereit- 
schaft, von  dem  Gedanken,  daß  die  Bibliotheken  in  erster  Linie  dazu  da 
sind,  um  benutzt  zu  werden,  die  Bibliothekare  aber,  um  die  Benutzung 
Was  vom  Aus-  auf  alle  denkbare  Weise  zu  fördern.  Denen,  die  bei  jeder  Gelegenheit 
land  ä^^^iernen  i3g^yy^(jgj^j(l  g^^f  dic  blendenden  Erscheinungen  des  ausländischen  Biblio- 
thekswesens, auf  das  Britische  Museum,  die  Bibliotheque  nationale  oder 
auf  die  mit  unerhörten  Mitteln  arbeitenden  großen  amerikanischen  Biblio- 
theken hinweisen,  kann,  leider  nur  im  Vorbeigehen,  gesagt  werden,  daß 
es  kein  zweites  Land  in  der  Welt  gibt,  in  dem,  alles  in  allem  genommen, 
für  die  Bedürfnisse  der  Wissenschaft  im  Punkte  der  Bibliotheken  so  wohl 
gesorgt  wäre  und  fortgesetzt  gesorgt  würde  wie  in  Deutschland.  Aber 
Deutschland  ist  das  Land  der  wissenschaftlichen  Arbeit  —  seines  Fleißes 
darf  sich  jedermann  rühmen  — ,  und  soll  es  diese  Stellung  behaupten,  so 
müssen  auch  die  Bibliotheken  auf  dem  Platze  sein,  müssen  wissen,  daß 
sie  sich  nie  genug  tun  können  in  dem  Bemühen,  ihre  Schlagfertigkeit  zu 
steigern.  Ohne  daher  in  der  Ausbildung  der  ihnen  von  alters  her  eigen- 
tümlichen Vorzüge,  des  systematischen  Katalogs,  der  sachlichen  Aufstellung 
im  Magazin,  der  Freiheit  des  Ausleihens  zu  ermüden,  sollten  sie  in  stär- 
kerem Umfange  und  in  schnellerem  Tempo,  als  es  bisher  geschehen  ist, 
die  offenbaren  Vorzüge  der  ausländischen,  insbesondere  der  englisch- 
amerikanischen Bibliothekspraxis  sich  zu  eigen  machen.  Noch  immer  sind 
bei  uns  die  Kataloge  im  wesentlichen  nur  für  die  Beamten  da,  noch  immer 
ist  der  Arbeitsplatz  im  Lesesaal  einseitig  nach  dem  Gesetz  der  Raum- 
ausnützung  bemessen,  nicht  nach  den  Anforderungen  der  Behaglichkeit, 
und    immer   noch,    das  ist  das  Übelste,    muß    der  Leser,    nicht    viel    anders 


IV.   Was  zu  erreichen  bleibt. 


587 


wie  vor  jenen  fünfzig  Jahren,  sein  Buch  vorherbestellen  und  einen  Tag 
oder  zum  mindesten  ein  paar  Stunden  sich  gedulden,  bis  es  ihm  zur  Ver- 
fügung gestellt  wird:  Das  alles,  obwohl  wir  seit  Jahrzehnten  die  Abwesen- 
heit dieser  Mängel  in  den  englischen  und  amerikanischen  Bibliotheken 
rückhaltslos  zu  preisen  gewohnt  sind.  Xatürlich  sind  diese  Fragen  zuletzt 
Geldfragen,  deren  Entscheidung  in  anderen  Händen  liegt.  Trotzdem  sind 
es  die  Bibliothekare,  die  dafür  verantwortlich  gemacht  werden  müssen, 
daß  solche  Rückständigkeiten  noch  zu  verzeichnen  sind.  Gerade  weil  hier 
bei  der  Eigenart  der  Verhältnisse  das  Korrektiv  der  Öffentlichkeit  sich 
so  wenig  geltend  macht,  ist  es  doppelt  ihre  Pflicht,  ihrerseits  unermüdlich 
so  lange  auf  die  Besserungsbedürftigkeit  ihrer  Einrichtungen  hinzuweisen, 
bis  der  envünschte  Zustand  erreicht  ist.  Auch  hier  gilt  es,  sich  von  einer 
Erbschaft  frei  zu  machen,  den  letzten  Rest  der  Passivität  abzuschütteln, 
die  so  lange  Zeit  den  Grundzug  im  Wesen  des  Bibliothekars  ausgemacht  hat. 

Mit  gutem  Vertrauen  darf  man  diesen  Abschluß  in  der  Wandlung  des  was  von  der 
Bibliothekars  der  Zukunft  überlassen.  Dazu  ermutigt  nicht  allein  die  seit  zu  icrncJT'ist. 
der  neuen  Ära  verfolgte  Richtung,  sondern  auch,  und  zwar  in  höherem 
Grade  noch,  ein  Blick  auf  den  Siegeszug,  den  die  Volksbibliothek,  nach- 
dem sie  die  englisch-amerikanische  Welt  in  beispiellosem  Fluge  erobert, 
vor  einem  Jahrzehnt  etwa  in  Deutschland  begonnen  hat.  Denn  so  wesent- 
lich ihre  Ziele  von  denen  der  alten  Bibliothek  verschieden  sind,  so  bieten 
doch  die  beiderseitigen  Wege  zu  viel  Berührungspunkte  und  gemeinsame 
Strecken,  als  daß  eine  gegenseitige  Beeinflussung  ausbleiben  könnte.  Was 
aber  dem  Vergleichenden  an  der  neuen  Bibliothek  als  die  stärkste  Eigen- 
heit in  die  Augen  springt,  das  ist  ihre  lebensprühende  Aktivität.  Sie 
kümmert  sich  nicht  um  die  Bedürfnisse  der  strengen  Wissenschaft;  sie 
läßt  die  Vergangenheit  ruhen  und  beschwert  sich  nicht  mit  der  Sorge  für 
die  Forderungen  der  Nachwelt.  Ihre  Arbeit  gilt  allein  der  Gegenwart. 
Sie  ist  nicht  exklusiv;  sie  wendet  sich  an  Gebildet  und  Ungebildet,  an 
Klein  und  Groß.  Sie  will  die  Schule  unterstützen  und  ergänzen.  Sie  will 
tüchtig  machen  zum  Kampf  ums  Dasein;  sie  will  die  inneren  Ressourcen 
stärken  und  mehren;  sie  will  die  Ruhe  nach  der  Arbeit  verschönen,  den 
Genuß  veredeln;  sie  will  von  dem  tödlich-einseitigen  Rennen  und  Ringen 
um  die  äußeren  Güter  hinlenken  zur  Erkenntnis  und  Verehrung  der  un- 
vergänglichen geistigen  Werte.  Vor  allem  aber,  und  das  ist  es  vornehm- 
lich, was  sie  zu  einer  vollkommen  neuen  Erscheinung  macht:  sie  wartet 
nicht,  bis  man  zu  ihr  kommt.  Wenn  die  alte  Bibliothek  das  Reservoir  ist, 
zu  dem  die  Wissensdurstigen  pilgern,  um  daraus  zu  schöpfen,  so  ist  die 
neue  die  moderne  Wasserleitung,  die  den  lebenspendenden  Quell  dem 
Durstigen  ins  Haus  trägt.  Klarer  und  ansprechender  zugleich  als  in 
diesem  Bilde  Melvil  Deweys  läßt  sich  das  eigentliche  Wesen  der  Volks- 
bibliothek nicht  zum  Ausdruck  bringen.  Kein  Weg  ist  ihr  zu  mühselig, 
kein  Mittel  läßt  sie  unversucht,  um  ihre  Leser  heranzuziehen.  Sie  lockt 
das  kleine  Volk  durch  Prämien  und  Verlosungen;   sie   trägt  dem  Schüler 


588 


Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 


von  Woche  zu  Woche  seine  Lektüre  in  die  Klasse;  sie  lenkt  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  durch  Anzeigen,  durch  Ausstellungen,  durch  Vor- 
träge; sie  errichtet  Zweiganstalten  in  allen  Vierteln,  Ausleihen  an  allen 
Straßenecken,  und  mit  ihrem  wohlausgebildeten  System  von  Wander- 
bibliotheken zieht  sie  auch  das  dünn  bevölkerte  Land  in  den  Kreis  ihrer 
Wirksamkeit.  Voll  rastlosen  Lebens,  enthusiastisch  werbend  und  uner- 
schöpflich im  Ersinnen  neuer  Mittel  und  Wege  kennzeichnet  sie  sich  auf 
jedem  Boden  als  das,  was  sie  ist:  als  ein  echtes  Kind  echten  amerikanischen 
Geistes. 

Es  ist  unmöglich,  daß  die  alte  gelehrte  Bibliothek  auf  die  Dauer  von 
diesem  neuen  Leben  unberührt  bleiben  sollte.  Wem  daher  ihr  Gedeihen 
am  Herzen  liegt,  der  soll  die  junge  Bewegung  auf  deutschem  Boden  mit 
freudigem  Auge  begrüßen  und  fördern,  wo  er  kann. 


Literatur. 

Geschichte.  Die  einzige  umfangreichere,  alle  Länder  und  alle  Zeiten  umfassende 
Darstellung  ist  die  von  Edward  Edwards,  Memoirs  of  Libraries,  erschienen  1859  zu  London 
in  zwei  starken  Bänden  (841  u.  1 104  S.).  Obgleich  in  zahlreichen  Partieen  durch  Einzel- 
darstellungen neueren  Datums  überholt,  ist  das  vortreffliche  Werk  noch  heute  unentbehrlich 
und  hat  anscheinend  wenig  Aussicht,  als  Ganzes  ersetzt  zu  werden.  Mit  gleich  umfassendem 
Ziel  wären  nur  noch  enzyklopädische  Übersichten  zu  nennen;  von  ihnen  verdient  hier  erwähnt 
zu  werden  allein  der  Artikel  „Libraries"  in  der  Encyclopaedia  Britannica  (9.  Ausg.  Vol.  XIV, 
1882,  S.  509—551  von  H.  R.  Teddkr  und  E.  C.  Thomas,  ergänzt  in  der  10.  Ausg.  Vol.  VI, 
1902,  S.  211— 221  von  H.  R.  Teddf.r  und  HERBERT  Putnam). 

In  zeitlicher  Beschränkung  unterrichtet  über  die  Bibliotheken  des  Altertums 
am  besten  K.  DziATZKO  in  der  RealEnzyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft 
(Bd.  III*,  1899,  Sp.  405—424).  Für  das  Gebiet  des  Imperium  romanum  wäre  noch  heran- 
zuziehen Otto  Hirschfeld,  Die  kaiserlichen  Ver%valtungsbeamten ,  2.  Aufl.  (Berlin,  1905), 
mit  dem  Kapitel:  Die  kaiserlichen  Bibliotheken  (S.  298—306),  während  zur  Belebung  des 
Bildes  zu  empfehlen  ist  THEODOR  BiRT,  Das  antike  Buchwesen  (Berlin,  1882;  518  S.).  — 
Für  das  Mittelalter  ist  das  gegebene  Buch  Wilhelm  Waitenbach,  Das  Schriftwesen  im 
Mittelalter,  3.  Aufl.  (Leipzig,  1896),  dessen  VII.  Abschnitt  (S.  570—641)  ein  sehr  anschau- 
liches Bild  von  der  mittelalterlichen  Bibliothek  gibt,  indes  Theodor  Gottliebs  gelehrtes 
Werk  Über  mittelalterliche  Bibliotheken  (Leipzig,  1890;  520  S.)  das  Hauptgewicht,  was  der 
Titel  nicht  vermuten  läßt,  einseitig  auf  den  Nachweis  mittelalterlicher  Bibliothekskataloge 
legt.  —  Über  die  modernen  Bibliotheken  schließlich  gibt  einen  kurzen,  aber  zur  ersten 
Orientierung  ausreichenden  Überblick  K.  DziATZKOs  Artikel  „Bibliotheken"  im  Handwörter- 
buch der  Staatswissenschaften,  Bd.  11=  (1899),  S.  792—801. 

Die  Arbeiten,  die  in  örtlicher  Beschränkung  die  Bibliotheksverhältnisse  eines 
Landes  oder  die  Schicksale  einzelner  Anstalten  behandeln,  können  hier,  wiewohl  besonders 
in  den  leuteren  die  wertvollsten  Beiträge  zur  Geschichte  der  Bibliotheken  zu  finden  sind, 
auch  nicht  in  bescheidener  Auswahl  genannt  werden.  Davon  darf  auch  um  so  eher  ab- 
gesehen werden,  als  diese  Literatur  an  mehr  als  einer  überall  zugänglichen  Stelle  nach- 
gewiesen ist.  Vornehmlich  kommen  in  Betracht:  E.  G.  Vogel,  Literatur  früherer  und  noch 
bestehender  europäischer  öffentlicher  und  CorporationsBibliotheken  (Leipzig,  1840),  noch 
nicht  zu  entbehren;  A.  Graesel,  Handbuch  der  Bibliotheksichre  (Leipzig,  1902),  besonders 
5.  9— 11;  Minerva,  Jahrbuch  der  gelehrten  Welt  (Straßburg,  seit  189192),  gibt  außer  der 
wichtigsten  Literatur  auch  geschichtliche  Notizen  und  regelmäßige  Auskunft  über  den 
neuesten  Stand  des  Budgets,  der  Benutzung  und  der  Bestände;  und  schließlich  F.  Schwenkes 
Adreßbuch  der  deutschen  Bibliotheken  (Leipzig,  1893),  das  für  jede  Sammlung  auch  einen 
kurzen  Abriß  der  Entwicklung  bringt  und  dessen  Literaturangaben  in  dem  seit  1902  in 
Leipzig  erscheinenden  Jahrbuch  der  deutschen  Bibliotheken  ständig  fortgeführt  werden.  — 
Nur  für  das  deutsche  Bibliothekswesen  mögen  hier  auch  die  wenigen  zusammenfassenden 
Darstellungen  genannt  werden.  Es  sind  dies:  K.  Dziatzko,  Entwicklung  und  gegenwärtiger 
Stand  der  wissenschafdichen  Bibliotheken  Deutschlands  (Leipzig,  1893;  55  S.);  G.  Kohfeldt, 
Zur  Geschichte  der  Büchersammlungcn  und  des  Bucherbesitzes  in  Deutschland  (Zeitschrift 
für  Kulturgeschichte  VlI,  igoo,  S.  325—388)  und  J.  LAUDE,  Les  biblioth6ques  universitaires 
allemandes  (Revue  des  bibliothi;ques  X,  1900,  S.  97 — 164). 


CQQ  Fritz  Milkau:  Die  Bibliotheken. 

Dabei  ist  indes,  wie  schon  im  Text  ang-cdcutet  wurde,  nicht  zu  vergessen,  daß  ein 
tieferer  Einblick  in  die  Bedingungen  und  Grundlagen  der  Bibliotheken  und  ihrer  Entwick- 
lung nur  zu  gewinnen  ist  durch  Heranziehung  der  Geschichte  der  Wissenschaften  und  ihres 
Betriebs.  So  wird  man  für  das  Verständnis  der  deutschen  Bibliotheken  mit  größtem  Nutzen 
zu  Rate  ziehen  die  klassischen  Bücher  von  Friedrich  Paulsen;  Geschichte  des  gelehrten 
Unterrichts  usw.,  2.  Aufl.,  in  2  Bänden  (Leipzig,  1896—97)  und  Die  deutschen  Universitäten 
(Berlin,   1902). 

Verwaltung.  Unter  den  immer  zahlreicher  werdenden  Büchern,  die  die  Technik  der 
Verwaltung  systematisch  behandeln,  gibt  es  nur  eins,  das  über  die  Grenzen  des  Landes,  in 
dem  es  entstanden  ist,  hinaussieht  und  einen  umfassenden  Überblick  über  den  Stand  der 
Dinge  in  den  Hauptkulturiändern  ermöglicht:  das  ist  das  bereits  angeführte  Handbuch  der 
Bibliothekslehre  von  A.  Graesel  (Leipzig,  1902;  583  S.).  Und  ebenso  darf  das  seit  1884  in 
Leipzig  erscheinende  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen,  begründet  von  O.  Hartwig  und 
K.  Schulz  und  gegenwärtig  geleitet  von  P.  Schwenke,  den  Vorzug  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  in  höherem  Grade  als  die  bibliothekarischen  Zeitschriften  der  anderen  Länder  sich 
von  nationaler  Einseitigkeit  fern  zu  halten.  Für  alle  weiteren  Nachweise  darf  hier  auf  diese 
beiden  Quellen  verwiesen  werden.  Nur  auf  die  musterhafte  Untersuchung  von  AdALBERT 
Roquette,  Die  Finanzlage  der  deutschen  Bibliotheken  (Leipzig,  1902;  30  S.)  sei  noch  be- 
sonders aufmerksam  gemacht. 

Volksbibliotheken.  Das  klassische  Land  der  Volksbibliothek  sind  die  Vereinigten 
Staaten.  Wer  ein  lebendiges  Bild  davon  gewinnen  will,  welche  Kräfte  dort  wirksam  sind 
und  welche  Ziele  dort  verfolgt  werden,  der  tut  am  besten,  einen  der  letzten  Jahrgänge  des  seit 
1876  in  New  York  erscheinenden  Library  Journal  zu  durchblättern  und  besonders  die  Conference 
Number  aufmerksam  durchzusehen.  Über  die  noch  in  den  Anfängen  steckende  Bewegung 
auf  deutschem  Boden  orientieren  ihre  Hauptträger:  Ed.  ReyER,  Entwicklung  und  Organisa- 
tion der  Volksbibhotheken  (Leipzig,  1893;  116  S.)  und  Fortschritte  der  volkstümlichen  Biblio- 
theken (Leipzig,  1903;  180  S.);  K.  Noerrenberg,  Die  Volksbibliothek,  ihre  Aufgabe  und 
ihre  Reform  (Kiel,  1896;  32  S.)  und  Die  Bücher-  und  Lesehalle,  eine  Bildungsanstalt  der 
Zukunft  (Köln,  1896;  20  S.),  und  Ernst  Schultze,  Freie  öffentliche  Bibliotheken  (Stettin, 
1900;  362  S.).  Nicht  zu  vergessen  ist  ferner  P.  Ladewig,  der  an  der  Kruppschen  Bücher- 
halle in  Essen  bisher  am  einleuchtendsten  durch  die  Tat  hat  nachweisen  können,  welcher 
Leistungen  die  Volksbibliothek  auch  bei  uns  fähig  ist.  Aus  diesem  Grunde  verdienen  seine 
Jahresberichte  (seit  1899/1900)  und  seine  zusammenfassende  Darlegung  über  Die  Verwaltung 
und  Einrichtung  der  Kruppschen  Bücherhalle  (Essen,  1905;  62  S.)  besondere  .Aufmerksam- 
keit. Ihre  ständige  Vertretung  schließlich  hat  die  Bewegung  in  den  Blättern  für  Volks- 
bibhotheken und  Lesehallen,  die,  von  A.  Graesel  begründet,  jetzt  von  E.  Liesegang  ge- 
leitet werden  und  gegenwärtig  (1906)  im  Vll.  Jahrgang  stehen. 


DIE  ORGANISATION  DER  WISSENSCHAFT. 

Von 
Hermann  Diels. 


Einleitung.  Organisation  bezieht  sich  im  eigentlichen  Sinne  auf  Lebe-    Betriff  der 


wesen,  deren  einzelne  Glieder  und  Teile  mit  Rücksicht  auf  den  Gesamtzweck 
eingerichtet  und  zu  wechselseitiger  Unterstützung  befcähigt  sind.  Von  hier 
aus  kann  man  aufwärts  wie  abwärts  schreitend  dem  Ausdruck  eine  er- 
weiterte Sphäre  geben.  Einmal  kann  man  die  chemischen  Stoffe,  aus 
denen  das  organische  Gebilde  besteht,  selbst  als  Organismen,  als  Zentren 
der  Organisation  auffassen.  Nicht  bloß  die  organischen  Grundstoffe,  wie 
Zucker,  Eiweiß  u.  dgl.,  die  dem  Aufbau  und  der  Erhaltung  des  Lebens 
dienen,  lassen  sich  als  organisierte  Strukturverbindungen  der  anorgani- 
schen Elemente  betrachten,  sondern  auch  diese  selbst  wieder  als  zu  be- 
sonderen Wirkungen  und  Zwecken  organisierte  Differenzierungen  der 
konstituierenden  Moleküle  und  Atome,  die  gleichfalls  wieder  als  irgendwie 
zweckmäßige  Differenzierung  einer  einheitlichen  Urmaterie  aufgefaßt  wer- 
den können.  So  betrachtet  steigt  der  Begriff  des  Lebens,  der  Organi- 
sation bis  in  die  Tiefen  der  erkennbaren  Natur  hinab,  da  nirgends  eine 
absolute  Schranke  sich  zeigen  will. 

Umgekehrt  können  auch  die  Verbindungen  der  konkreten  Lebewesen, 
der  Organismen  im  engeren  Sinne,  zu  Gemeinschaften  höherer  Ordnung, 
wie  sie  in  der  Pflanzen-,  Tier-  und  Menschenwelt  unterschieden  zu  werden 
pflegen,  als  P'ormen  der  Organisation  aufgefaßt  werden.  Freilich  werden 
diese  höheren  Gebilde,  wie  Familie,  Sippe,  Horde,  Staat,  vielfach  noch  als 
bloße  „Ideen",  d.  h.  als  Abstraktionen  des  Menschengeistes  behandelt.  Allein 
da  diese  Verbände  keineswegs  eine  quantitativ  und  qualitativ  der  Summe 
der  einzelnen  Individuen  entsprechende  Arbeitsleistung  vollbringen  und 
die  Zwecke  der  Gemeinsamkeit  durchaus  verschieden  sind  von  dem 
Zwecke  der  Individuen,  so  ist  diese  Auffassung  wohl  nicht  haltbar,  ob- 
gleich noch  Kant  hier  nur  Ideen,  keine  Wirklichkeit,  nur  Analogieen, 
keine  Entsprechung  erblickte.  Richtiger  hat  der  biologisch  geschulte 
Positivismus,  namentlich  Herbert  Spencers,  die  durchgehende  Bedeutung 
des  Organisationsbegriffes  für  Natur-  und  Geisteswelt  betont,  und  die  soziale 


OrgaDisatioa. 


-Q2  Hermann  Dikls:  Die  OrganibaUon  der  Wissenschaft. 

Praxis  der  Neuzeit  ist,  gedrängt  von  der  Fruchtbarkeit  der  immer  zahl- 
reicher und  wichtiger  werdenden  Formen  höherer  Gemeinschaft  in  der 
Gesellschaft  wie  im  Handel  und  Verkehr,  zu  einer  immer  größer  werden- 
den Anerkennung  dieses  wichtigen  Begriffes  vorgeschritten.  So  ist  es  an 
der  Zeit,  in  der  Reihe  der  großen  menschlichen  Organisationen  auch  die 
Wissenschaft  von  diesem  Standpunkte  aus  zu  beleuchten,  der  allein  dem 
Denken  Beruhigung  und  dem  Leben  Sinn  zu  verleihen  scheint. 

Wenn  man  also  mit  Recht  in  der  Entwicklung  der  Natur  von  den 
leblosen  Elementarkörpern  bis  zu  seelen-  und  vernunftbegabten  Lebewesen 
eine  Stufenfolge  annehmen  darf,  wenn  wir  also  ein  Fortschreiten  vom 
Niederen  und  Unausgebildeten  zum  Höheren  und  Leistungsfähigeren  und 
darum  Wertvolleren  zu  erblicken  glauben,  so  muß  innerhalb  des  mensch- 
lichen Organismus  diejenige  Tätigkeit  am  höchsten  stehen,  welche  diese 
ganze  Entfaltung  der  Natur  zu  erkennen,  diese  Erkenntnis  den  höheren 
Zwecken  der  höchsten  Gattung  nutzbar  zu  machen  und  dadurch  diese  selbst 
höher  hinauf  zu  entwickeln  versucht. 

Wenn  das  Tier  von  der  Pflanze  sich  durch  Bewußtsein,  der  Mensch 
vom  Tiere  durch  Selbstbewußtsein,  welches  Bewußtsein  der  Außenwelt 
in  sich  schließt,  unterscheidet,  so  ist  die  Wissenschaft,  welche  dieses 
Selbst-  und  Weltbewußtsein  aus  dem  Dämmerlichte  tierischen  Gefühls, 
aus  der  Ahnung  der  kindlichen  Menschheit  zu  göttlicher  Klarheit  zu 
erheben  trachtet,  als  die  höchste,  ja  vielleicht  als  die  letzte  Aufgabe  zu 
betrachten,  die  der  Menschheit  zum  Ziele  gesteckt  ist.  Freilich  ist  es  für 
uns  Menschlein,  die  wir  noch  mitten  in  der  Entfaltung  des  Universums 
stehen,  ein  kühnes  Unterfangen,  mit  der  Spanne  unseres  Gedächtnisses 
und  unserer  Geisteskraft  den  Ewigkeitsgedanken  der  Schöpfung  noch  ein- 
mal zu  denken.  Aber  wir  wollen  mögen  oder  nicht,  der  Drang,  die  Zu- 
sammenhänge der  Dinge  zu  überschauen,  ist  uns,  wie  Aristoteles  am  Ein- 
gang seiner  Metaphysik  mit  Recht  sagt,  eingeboren.  Mit  dem  Instinkte 
der  Organisation,  der  nach  dem  selben  Philosophen  den  Menschen  zum 
Iwov  TToXiTiKÖv  geschaffen  hat,  ist  uns  auch  zugleich  der  unstillbare  Hunger 
nach  Wissenschaft,  d.  h.  nach  dem  Begreifen  der  Organisationen  einge- 
pflianzt. 
Alte  Orgaaisa-  Dank    den   großartigen   Ausgrabungen    des    verflossenen   Jahrhunderts 

wisseSaft.' umfassen  wir  jetzt  eine  weit  größerer  Spanne  menschlicher  Kultur entwick- 
lung  und  können  so  auch  die  Keime  wissenschaftlicher  Besinnung,  Beob- 
achtung, Aufzeichnung  deutUcher  und  höher  hinauf  verfolgen.  Die  Schrift 
selbst,  die  Trägerin  wissenschaftlicher  Überlieferung,  ist  selbst  erst  eine 
Errungenschaft  wissenschaftlicher  Abstraktionskraft.  Ja  auch  die  Sprache 
als  Verdichtung  unendlicher  individueller  Empfindungen,  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen,  Erfahrungen  und  Denkoperationen  zu  konventionellen 
Lautbildern  stellt  gleichsam  das  philosophische  System  der  Urmenschen 
dar.  Primitive  Vorstellungen  von  der  Bewegung  der  Hauptgestirne 
imd    die    daraus    sich    entwickelnde    Technik    des    Zählens,    also    die   An- 


Einleitung.  eq^ 

fange  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft,  pflegen  nur  bei 
wenigen  unkultivierten  Völkern  zu  fehlen,  und  bei  einigen  der  ältesten 
und  mächtigsten  Völker,  wie  bei  den  Babyloniern,  hatte  diese  primitive 
Wissenschaft  einen  Einfluß  auf  alle  Kreise  des  Lebens,  der  selbst 
bei  den  fortgeschrittensten  Nationen  heute  noch  nicht  ganz  wieder  er- 
reicht ist. 

Da  ist  es  nun  wichtig,  zu  beobachten,  wie  bereits  bei  diesem  uralten 
Betrieb  der  Wissenschaft  am  Euphrat  und  am  Nil,  dessen  Anfänge 
schätzungsweise  auf  5 — 7000  Jahre  vor  unserer  Zeit  festgestellt  werden 
können,  die  korporative  Organisation  eine  Rolle  spielt.  Die 
Priesterschaften  erscheinen  dort,  soweit  unsere  Kunde  reicht,  durchaus 
als  die  Wahrer  und  Vermehrer  des  Wissenschatzes  der  Nation.  In 
Griechenland  hellt  sich  das  Dunkel  der  Geschichte  erst  in  der  neuesten 
Epoche,  als  nach  Ablauf  der  mittelalterHchen  Entwicklung,  deren  Nach- 
klang das  ionische  Epos  ist,  sich  die  ionische  „Forschung"  (icTopiri)  mit 
den  Problemen  der  Natur-  und  der  Menschheitsgeschichte  zu  beschäftigen 
beginnt.  Schon  damals  aber  im  7.  Jahrhundert  erscheint  die  Wissenschaft 
organisiert,  d.  h.  sie  wird  an  einigen  Zentren,  vor  allem  in  Milet,  in 
Schulen  getrieben,  in  denen  die  Summe  der  Kenntnisse  und  Methoden 
vom  Lehrer  auf  die  Schüler  übergeht  und  Diadochieen  der  wissenschaft- 
lichen Tradition  entstehen,  die  sich  jahrhundertelang,  vereinzelte  sogar 
ein  Jahrtausend  lang,  kontinuierlich  erhalten  haben.  Wie  intensiv  dieser 
Schulgeist  schon  in  alter  Zeit  gewirkt,  ersieht  man  aus  dem  Beispiel  der 
Pythagoreer,  deren  Spuren  historisch  viel  greifbarer  sind  als  die  des 
Meisters,  der  ihnen  Organisation  und  Namen  verlieh. 

Von  Anfang  an  sind  diese  wissenschaftlichen  Korporationen  in 
Grriechenland  nicht  bloß  nach  der  Analogie  der  religiösen  Gemeinschaften 
organisiert,  sondern  auch  wie  diese  als  Lebensgemeinschaften  gedacht. 
Die  harmonische  Struktur  des  hellenischen  Menschen  kennt  keine  Spaltung 
des  theoretischen  und  praktischen  Lebens.  Die  Wissenschaft  soll  nicht 
nur  gelehrt  und  gelernt,  sondern  auch  gelebt  werden.  Durch  diesen 
grundlegenden  Unterschied  heben  sich  die  Akademieen  Piatons  und  alle 
nach  ihrem  Vorbild  gegründeten  Institute  des  Altertums  und  ihre  Nach- 
folger in  der  christlichen  Zeit,  die  Klöster,  von  den  modernen  Akademieen 
gleichviel  welcher  Nationen  charakteristisch  ab. 

Ehe  wir  uns  diesen  zuwenden,  scheint  es  nicht  überflüssig-,  zu  be-  innere  dr^.-n.i 
merken,  daß  man  bei  der  Wissenschaft  von  der  äußeren  Organisation,  die  Wissenschaft, 
in  Instituten,  Gebäuden,  Personen  konkret  in  die  Augen  springt,  eine 
innere,  geistige,  zugrundeliegende  unterscheiden  muß.  Wie  im  mensch- 
lichen Organismus  hinter  der  physikalisch  und  chemisch  faßbaren  Struktur 
der  körperlichen  Organe  eine  feinere  nicht  meß-  und  wägbare,  in  den 
Einzelheiten  auch  dem  Auge  verborgene,  aber  darum  nicht  minder  reale 
Organisation,  das  Nervensystem,  verborgen  ist,  so  zeigt  sich  hinter  den 
äußeren  Arbeitsräumen  und  den  darin  arbeitenden  Forschem  eine  unsicht- 

DlB   KuLTt-K    DER    GlGBNWART.      L    1.  3^ 


-q,  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

bare   Struktur    der   Wissenschaft,    die    nicht   minder    zur   Organisation    ge- 
hört, wenn  sie  auch  nicht  leicht  begrenzbar  und  überschaubar  ist. 
Hierarchie  der  Mit   diescm   inneren  Aufbau  der  Wissenschaften   haben  sich  seit  den 

Anfängen  philosophischer  Selbstbesinnung  denkende  Köpfe  beschäftigt. 
Schon  in  der  pythagoreischen  Schule  liegen  Andeutungen  einer  Stufen- 
folge der  Wissenschaft  vor,  die  bei  Piaton  bewul^t  verfolgt  und  bei 
Aristoteles  zum  System  ausgestaltet  werden.  Dann  haben  in  der  neueren 
Zeit  Descartes,  der  zuerst  von  der  „Hierarchie"  der  Wissenschaften 
spricht,  Bacon,  Hobbes,  d'Alembert,  Ampere,  dann  Hegel,  Comte,  Mill, 
Spencer,  zuletzt  Wundt  den  systematischen  Zusammenhang  der  einzelnen 
Fächer  und  ihre  Verknüpfung  in  der  Philosophie  dargelegt.  Da  nur  im 
Zusammenhang  einer  bestimmten  Weltanschauung  diese  Gruppierung-  und 
die  damit  zusammenhängende  Methodenlehre  mit  Aussicht  auf  Erfolg  ver- 
sucht werden  kann,  da  femer  innerhalb  der  Philosophie  weder  über  die 
Grundeinteilung  in  Natur-  und  Geisteswissenschaften  noch  überhaupt  über  die 
Zulässigkeit  oder  Unzulässigkeit  einfacher  oder  sich  kreuzender  Einteilungs- 
prinzipien Einverständnis  herrscht,  so  kann  hier  um  so  mehr  von  einem 
kritischen  Überblick  über  die  vorhandenen  Systeme  und  einem  etwa  not- 
wendig werdenden  Neuaufbau  abgesehen  werden,  als  über  dergleichen  an 
anderen  Stellen  dieses  Werkes  gehandelt  wird.  Übrigens  verlangt  ein 
wirklicher  Neuaufbau  ein  Aristotelisches  oder  Leibnizisches  Genie,  d.  h. 
einen  Geist,  der  sich  nicht  bloß  mit  Philosophie  und  einzelnen  Fächern 
vertraut  gemacht  hat,  sondern  der  als  bahnbrechender  Entdecker  zugleich 
die  Natur-  wie  die  Geisteswissenschaft  beherrscht.  Solche  Männer  hat 
unsere  Zeit  noch  nicht  wieder  hervorgebracht,  da  die  starke  Differenzierung 
der  Forschung,  die  das  wissenschaftliche  Arbeiten  des  19.  Jahrhunderts 
kennzeichnet,  nicht  bloß  Mitarbeit,  sondern  sogar  Verständnis  der  auf  der 
anderen  Hemisphäre  des  globiis  infelleciunlis  liegenden  Methoden  und  Ziele 
gerade  bei  den  hervorragendsten  Forschern  ausschloß. 
Einheit  der  Es  kommt  hiuzu,  daß  der  Inhalt  der  einzelnen  Wissenschaften,  die  zu- 

nächst nur  nach  den  Objekten  benannt  und  bestimmt  sind,  durch  den  sub- 
jektiven Faktor  der  Methode  völlig  verschieden  gestaltet  werden  kann. 
So  lassen  sich  fast  alle  Zweige  der  Natur-  wie  der  Geisteswissenschaften 
sowohl  geschichtlich  wie  systematisch  behandeln.  Der  im  abgelaufenen 
Jahrhundert,  wie  erwähnt,  überscharf  ausgeprägte  Gegensatz  geschicht- 
licher und  naturwissenschaftlicher  Auffassung  erscheint  dadurch  überbrückt, 
daß  die  Entwicklungslehre  einerseits  alle  Zweige  der  Naturwissenschaft 
ergriffen  und  selbst  in  der  Chemie  eine  evolutionistische  Theorie  ermög- 
licht hat,  in  der  L.  Meyers  und  Mendelejeffs  Reihen  gleichsam  eine  Palä- 
ontologie der  UrstofFe  ahnen  lassen,  andererseits  naturwissenschaftlich- 
mathematische Methoden  in  die  Philologie  und  Historie  verpflanzt  werden. 
So  ist  hier  wie  im  Universum  selbst  alles  Übergang,  alles  fließend,  ein 
heraklitisches  biacpepö|uevov  cu|Liq)€pÖMevov.  Und  zwar  zeigt  sich  dieses  leben- 
dige   Spiel    der   Entwicklung    um   so   reicher   entfaltet,  je   weiter   sich    die 


I.  Stufen  der  wissenschaftlichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung.  jgj 

Objekte  der  einzelnen  Wissenschaften  aus  der  starren  Gebundenheit  der 
leblosen  zur  individuellen  Freiheit  der  belebten  Energie  emporheben.  Ge- 
rade in  neuester  Zeit  bricht  sich  immer  mehr  die  Erkenntnis  Bahn,  daß 
der  Vereinzelung  der  wissenschaftlichen  „Fächer"  und  ihrer  stetigen  Spal- 
tung und  Differenzierung  am  wirksamsten  dadurch  begegnet  werde,  daß 
die  Schlagbäume  jener  traditionell  abgegrenzten  Wissenschaftsgebiete  mög- 
lichst niedergelegt  und  ein  freierer  Verkehr  hinüber  und  herüber  eröffnet 
werde.  Die  Wissenschaft  hat  ja  doch  in  der  forschenden  und  darstellen- 
den Seele  des  Menschen  ihre  gegebene  Einheit,  der  Stoff  und  die 
Form  des  wissenschaftlichen  Denkens  ruht  nicht  außer  ihr,  sondern  in  ihr. 
So  ist  die  jetzt  immer  stärker  werdende  Unionsbewegung  um  so  mehr  zu 
begrüßen,  als  diese  gegenseitigen  Berührungen  und  Verbindungen  voraus- 
sichtlich jetzt  nicht  mehr  zu  der  am  Anfang  der  neueren  Wissenschafts- 
geschichte verbreiteten  polyhistorischen  Allerweltsbetriebsamkeit  zurück- 
führen, sondern  zu  polylogischer  (wenn  das  Wort  gestattet  ist)  Vertiefung 
emporführen  dürften.  Schon  auf  den  Einzelgebieten  sehen  wir,  wenn  wir 
monumentale  Forschergestalten  (wie  Helmholtz  und  Mommsen)  uns  ver- 
gegenwärtigen, daß  gerade  die  Vielseitigkeit  der  Interessen,  die  bei  jenen 
Männern  freilich  noch  keine  Allseitigkeit  war,  sie  zu  den  fruchtbarsten 
Lösungen  befähigte  und  begeisterte.  So  verstanden  hat  das  Wort  Des- 
cartes'  auch  heute  noch  Wahrheit:  les  scienccs  sont  tellement  liees  eti- 
semble  qu'il  est  plus  facile  de  les  apprendre  toutes  a  la  fois  que  den  de- 
tacher  iine  seule  des  autres. 

I.   Stufen    der   wissenschaftlichen    Bildung.     Elementar-   und  Ausdeimungdes 

Wissenschafts- 

Volksbildung.  Dasselbe  monistische  Streben,  das  wie  eine  stille  Sehn-  betricbcs. 
sucht  sich  in  allen  Zweigen  der  modernen  Wissenschaft  regt,  bekundet 
sich  nun  auch  in  dem  äußeren  Organismus  ihres  Betriebes.  Die  von  der 
Gelehrtenzunft  errichteten  und  von  strengen  Grenzwächtern  bewachten 
künstlichen  Schranken  fallen  mehr  und  mehr.  Man  sieht  ein,  daß  die  höchsten 
geistigen  Güter  der  Nationen  und  der  Menschheit  überhaupt  nicht  einer 
privilegierten  Kaste  allein  übertragen  bleiben  dürfen,  und  die  Privilegierten 
selbst  sind  eifrig  dabei,  jene  Schranken  niederzureißen.  Die  Demokratie, 
die  langsam,  aber  unaufhaltsam  die  Denkart  der  Kulturnationen  seit 
hundert  Jahren  umgestaltet  hat,  vernichtet  still  und  geräuschlos  auch  die 
Wappen  und  Privilegien  der  bisherigen  Geistesaristokratie.  Das  Volk, 
dem  man  gewagt  hat,  das  allgemeine  Stimmrecht  zu  geben,  will  nicht 
mehr  von  der  Erziehung  ausgeschlossen  sein  wie  im  Staate  Piatons, 
sondern  verlangt  mitzuregieren.  Wenn  nun  nach  Piatons  Wort  nur  der 
Wissende  regieren  kann  und  soll,  so  darf  dem,  der  mit  dem  Stimmzettel 
an  seinem  Teil  bei  der  Regierung  mitzusprechen  hat,  sein  entsprechender 
Anteil  am  Wissen  nicht  vorenthalten  werden,  wenn  nicht  der  Staat  in  die 
Hand  von  Wilden  fallen  soll. 

Auch  die  Entwicklung  unserer  modernen  Kultur,  der  Betrieb  unserer 

38» 


t:q5  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Industrie  und  Technik,  die  Bewältigung  unseres  Verkehrs  usw.,  alles  dies 
fordert  gebieterisch,  daß  die  Wissenschaft  nicht  bloß  innerhalb  der  ge- 
heiligten akademischen  Hallen  gepflegt  werde,  sondern  daß  sie  hinaus- 
trete auf  die  Straßen  und  jeden  Arbeiter  belehre  über  die  Grundkräfte 
der  Natur,  die  der  moderne  Mensch  zur  Aufrechterhaltung  seiner  kompli- 
zierten Kultur  bedarf. 

Denn  von  Hause  aus  tritt  der  Mensch  jedem  Fortschritt  mißtrauisch, 
ja  feindlich  geg-enüber.  Deutsche  Schiffer  zertrümmerten  das  erste  Dampf- 
schiff, das  Papin  im  Jahre  1707  erbauen  und  von  Fulda  nach  Minden 
hatte  fahren  lassen.  Sie  raubten  so  Deutschland  den  Ruhm  der  Erfindung, 
den  hundert  Jahre  später  Amerika  davontrug.  Als  Charles  1783  im  Auf- 
trage der  Pariser  Akademie  den  ersten  mit  Wasserstoff  gefüllten  Luft- 
ballon steigen  ließ,  wurde  dieser  beim  Niederfallen  von  den  unwissen- 
den Landleuten  als  höllischer  Spuk  mit  Heugabeln  angegriffen.  Jetzt 
muß  der  ärmste  Schiffer,  der  kleinste  Landmann,  der  geringste  Hand- 
werker mit  der  Dampfkraft,  der  Elektrizität  und  den  hundertfältigen  An- 
wendungen der  Wissenschaften  vertraut  sein.  Die  Meteorologen  dürfen 
darauf  rechnen,  daß  ihre  von  Zeit  zu  Zeit  aufsteigenden  Ballons,  wo  sie  auch 
niederfallen,  mit  Verständnis  behandelt  und  ihre  Resultate  für  die  Wissen- 
schaft gerettet  werden. 

Wichtiger  aber  als  alle  diese  Äußerlichkeiten  sind  die  Vorteile  der 
Berührung  der  Wissenschaft  mit  den  breitesten  Schichten  des 
Volkes  für  die  Wissenschaft  selbst.  Die  Anlage  zum  Gelehrten  und 
Künstler  ist  nicht  an  gewisse  Gesellschaftsklassen  gebunden  und  nicht 
durch  Vererbung  mit  irgendwelcher  Sicherheit  übertragbar.  Immer  und 
immer  wieder  dringen  aus  den  niedersten  Volksschichten  große  Forscher 
und  eminente  Künstler  hervor.  Oft  liegt  das  Höchste  in  dem  tiefsten 
Schrein  der  Volksseele  verborgen  und  steigt  im  Genius  plötzlich  empor. 
Das  Handwerksmäßige  in  Wissenschaft  und  Kunst  kann  so  ziemlich  jeder 
erlernen:  die  schöpferische  Weiterbildung  aber  liegt  in  den  Händen 
weniger  gottbegnadeter  Individuen,  die  nur  Gelegenheit  haben  müssen, 
ihrem  dunklen  Drange  zu  folgen  und  ihren  wahren  Beruf  zu  erkennen. 
Dazu  gehört  vor  allem,  daß  die  Umgebung,  in  der  solche  Genies  auf- 
wachsen, einigermaßen  imstande  ist,  geistige  Beanlagung  zu  begreifen  und 
ihre  Betätigung  als  wichtig  anzusehen.  Wie  viele  Keime  wissenschaft- 
licher Begabung  gehen  an  der  Unwissenheit  der  Eltern  zugrunde!  Je 
weiter  also  das  zunächst  rein  rezeptive  Verhalten  zur  Wissenschaft  sich 
ausdehnt,  je  größer  der  I-Creis  ist,  der  auch  nur  mit  ihren  Elementen  be- 
kannt oder  vertraut  wird,  je  mehr  überall  Freude  und  Interesse  an  den 
Produkten  der  Natur  und  des  Menschengeistes  geweckt  wird,  um  so  weiter 
wird  der  Kreis,  aus  dem  die  Jünger  der  Wissenschaft  erstehen,  um  so 
größer  die  Anzahl  derer,  die  um  die  höchsten  Kränze  ringen.  Nur  durch 
diese  Ergänzung  aus  dem  besten,  unverbrauchten  Volksmaterial  kaim  die 
Wissenschaft  vor  Verknöcherung  und  Verbildung   bewahrt  werden.     Nur 


I.  Stnfen  der  wissenschafUichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung.  cqj 

die  Nation  wird  in  dem  nächsten  Jahrhundert  sich  siegfreich  an  der  Spitze 
der  Kultur  halten  können,  die  für  die  Wissenschaft  nicht  nur  glänzende 
Heerführer  und  geschulte  Offiziere,  sondern  auch  eine  durchgebildete  Armee 
zu  stellen  vermag. 

Mit  der  wissenschaftlichen  Erziehung  ist  die  Erziehimg  zur  Kritik 
notwendig  verbunden.  Damit  dringt  selbständiges  Urteil  und  strenger  Wahr- 
heitssinn in  Schichten,  die  bisher  nur  gewöhnt  waren,  dem  Trieb  oder 
der  Autorität  zu  folgen.  Solange  diese  Autorität  einseitig  im  Sinne  der 
regierenden  Klassen  ausgeübt  zu  werden  pflegte,  war  es  überflüssig,  das 
viel  schwierigere  Werk  der  Erziehung  zum  Selbstdenken  zu  be- 
ginnen. Jetzt  aber,  wo  aus  dem  Volke  selbst  hervorgegangene  Führer  mit 
den  Mitteln  einer  falsch  aufgefaßten  Wissenschaft  das  Volk  für  ihre  grob- 
materiellen Ideen  zu  gewinnen  suchen,  ist  die  Wissenschaft  genötigt,  dem 
Mißbrauch  ihres  Namens  entgegenzutreten.  Aber  freilich  dabei  darf  nichts 
vertuscht  und  verkleistert  werden.  Das  Volk  ist  erwacht.  Es  erträgt 
nichts  weniger  als  geistige  Bevormundung,  mag  sie  auch  in  der  liebe- 
vollsten und  väterlichsten  Weise  ausgeübt  werden.  Die  Ewigblinden,  vor 
denen  der  erschreckte  Freiheitsdichter  warnte,  haben  seitdem  gelernt,  ihre 
Augen  zu  öffnen.  Sie  streben  mit  elementarem  Drange  nach  Licht.  Es 
ist  Pflicht  der  ehrlich  Wissenden,  ihnen  die  Fackel  voranzutragen,  die 
nicht  zündet  und  einäschert,  sondern  den  dunklen  Pfad  des  Lebens  er- 
leuchtet. 

Der  Wege  dazu  sind  mancherlei.  Je  größer  die  unkultivierte  Masse  Eiementar- 
ist,  die  der  Bildung  erschlossen  werden  soll,  um  so  zahlreicher  und 
mannigfaltiger  müssen  die  Wasserbäche  sein,  die  das  dürre  Land  berieseln 
und  der  Kultur  zugänglich  machen  sollen.  Staat  und  Gemeinde  über- 
mitteln eine  elementare  Bildung,  das  Minimum  von  geistiger  Kultur, 
ohne  das  eine  zivilisierte  Nation  überhaupt  nicht  mehr  bestehen  kann. 
Der  Unterricht  sucht  neben  den  ehrwürdigen  Überlieferungen  der  Religion 
auch  die  Grundanschauungen  der  Wissenschaft  und  die  Elemente  ihrer 
Methoden  in  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  zur  Aneignung  zu  bringen. 
Aber  diese  Einwirkung  ist  sachlich  und  zeitlich  nur  allzusehr  beschränkt. 
Bei  der  männlichen  Bevölkerung  tritt  allerdings  durch  die  militärische 
Erziehung  eine  Höherbildung  ein.  Denn  die  Ausbildung  des  Kriegs- 
wesens bedingt  eine  stets  größer  werdende  Durchdringung  der  mili- 
tärischen Praxis  mit  Wissenschaft,  in  die  auch  der  gemeine  Soldat  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  eingeführt  werden  muß.  Auch  die  Handwerks- 
und Fabrikausbildung  führt  eineh  gewissen  Anteil  Wissenschaftlichkeit 
den  jungen  Leuten  zu.  Allein  in  der  Regel  gehen  die  kostbarsten  Jahre 
dem  Jünglinge  der  unteren  Klasse  für  seine  geistige  Weiterbildung  un- 
genutzt und  meist  vergeudet  vorbei. 

In    den    großen  Städten   freilich   setzt  das  Fortbildungswesen   ein,  Konbii.iung  in 

°  _  den  Städten. 

das  jungen  Männern  und  Mädchen  eine  Weiterbildung  über  ihre  Elementar- 
kenntnisse   hinaus    ermöglicht.     Sowohl    die    gewerblichen    wie    die    kauf- 


=  g8  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenscliaft. 

männischen  Fortbildungsschulen  haben  nach  dem  Vorbilde  Englands  in 
den  letzten  dreißig  Jahren  auch  bei  uns  in  Deutschland  einen  großen  Auf- 
schwung genommen.  In  Berlin  werden  z.  B.  jährlich  über  40000  Jüng- 
linge und  Mädchen  durch  solche  Schulen  in  ihrer  Bildung  weiter  ge- 
fördert. Wenn  erst  das  ganze  Fortbildung'swesen  obligatorisch  g^eworden 
ist,  wird  in  der  Tat  hier  eine  auch  im  wissenschaftlichen  Interesse  hoch- 
bedeutsame Organisation  vorliegen.  Nur  muß  die  elementare  und  fach- 
liche Ausbildung-  nicht  so  eng  auf  den  unmittelbar  praktischen  Nutzen  zu- 
geschnitten werden.  Auch  diese  Jugend  hat  Ideale,  die  gepflegt  werden 
müssen.  Auch  diese  Jugend  muß  wissen,  zu  welchem  Ziele  ihre  Arbeit 
gefordert  wird  und  wie  sie  sich  in  das  Ganze  der  nationalen  und  Welt- 
arbeit eingliedert;  auch  diese  Jugend  muß  dazu  vorbereitet  werden,  auf 
Grund  selbständigen  politisch-sozialen  Verständnisses  dereinst  durch  Ab- 
gabe des  Stimmsteines  zum  Wohle  der  Gemeinde  und  des  Staates  mit- 
zuwirken, aber  nicht  auf  Grund  des  in  den  Fabriken  gezüchteten  Klassen- 
hasses jeder  vernünftigen  Ordnung  entgegenzuwirken.  In  dieser  Beziehung 
ist  Deutschland  hinter  Frankreich  und  Amerika  zurückgeblieben.  Unsere 
Staatsmänner  scheinen  den  Ernst  der  Situation  noch  nicht  erfaßt  zu  haben, 
doch  regt  es  sich  in  den  landwirtschaftlichen  Genossenschaften,  z.  B.  in 
Schleswig-Holstein,  mit  Macht. 
Fortbildung  auf  Ein  Hauptgrund   für   unsere   Rückständiekeit   liegt   darin,   daß   unsere 

dem  Lande.  '^   '^  &  &  ' 

leitenden  Parteien  kein  Interesse  an  der  Fortbildung  haben.  Das  Zentrum 
aus  bekannter  Fürsorge  für  das  Monopol  der  Kirche,  und  die  Konser- 
vativen, weil  diese  Institution  scheinbar  lediglich  den  Städten  zugute 
kommt.  Da  wird  ein  Wort  des  Generalfeldmarschalls  Grafen  Haeseler 
zum  Nachdenken  gereizt  haben,  der  am  31.  März  1906  im  Herrenhaus 
unter  allgemeinem  Beifalle  folgendes  vortrug:  „Ich  gestatte  mir  an  die 
Regierung  die  Anfrage,  ob  in  Aussicht  gestellt  werden  kann,  auf  gesetz- 
licher Grundlage  Fortbildungsschulen  ins  Leben  zu  rufen.  Es  gibt 
zwar  viele  Fachschulen  und  Fortbildungsschulen  in  den  Städten.  Auf 
dem  Lande  aber  fehlt  es  der  aus  der  Schule  entlassenen  Jugend  an  einer 
Gelegenheit,  eine  Fortbildungsschule  zu  besuchen.  So  bringen  die  Jungen, 
die  der  Schule  entwachsen  sind,  ihre  Mußestunden  im  Wirtshause  zu,  wo 
die  Unterhaltung  bei  Bier  und  Schnaps  geführt  wird.  Notwendig  ist  es, 
dieser  Jugend  Fortbildung"SSchulen  zugänglich  zu  machen,  die  sie  zu  vater- 
ländischer Gesinnung  erziehen.  Geeignete  Unterrichtsfächer  würden  sein: 
Deutsch,  vaterländische  Geschichte,  Geographie  und  Heimatskunde,  Rechnen, 
Raumlehre,  Wehrpflicht  und  Untertaneripflicht,  Tumen  und  Jugendspiele, 
wobei  jede  Soldatenspielerei  unterbleiben  müßte.  Die  Fortbildungsschulen 
müßten  natürlich  obligatorisch  gemacht  werden,  denn  auf  dem  Lande  ist 
man  allen  Neuerungen  abhold:  Es  ist  immer  so  g'ewesen,  daß  die  Jungen 
nichts  gelernt  haben,  warum  soll  es  nun  anders  werden?  Es  werden  viele 
Schwierigkeiten  zu  überwinden  sein,  aber  ich  möchte  doch  den  Minister 
bitten,  meine  Anregungen  in  Erwägung  zu  ziehen." 


I.  Stufen  der  wsscnschafüichcn  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung.  jgg 

Es    ist  ZU   wünschen,   daß   die  Anrecfunef  dieses  genialen   und  patrio-  voiiuhochschui- 

kurse. 

tischen  Mannes  das  Mißtrauen  der  oberen  Schichten  verscheuche  und  die 
Regierungen  namentlich  auch  den  weitergehenden  Bestrebungen  wohl- 
wollende Unterstützungen  leihen,  die  darauf  abzielen,  die  bereits  er- 
wachsenen Männer  und  Frauen  der  Arbeiterbevölkerung  weiter  zu  bilden 
und  durch  die  besten  Kräfte  in  die  Hauptgebiete  der  Wissenschaft  selbst 
einzuführen.  Nach  englischem  und  skandinavischem  Vorbilde  werden  seit 
etwa  IG — 15  Jahren  auch  in  Deutschland  gegen  ganz  billiges  Entgelt 
Volkshochschulkurse  gehalten,  in  denen  Dozenten  der  Universität  oder 
anderer  Hochschulen  einzelne  geeignete  Abschnitte  der  Wissenschaft  vor- 
tragen und  zum  Teil  auch  in  praktischen  Übungen  zur  Aneignung  zu 
bringen  suchen.  In  Berlin  werden  so  jährlich  etwa  20  Kurse  für  etwa 
7000  Personen,  größtenteils  Arbeiter,  gehalten.  In  Wien  ist  diese  Organi- 
sation noch  weit  wirksamer,  da  hier  Universität  und  Regierung  von  An- 
fang an  sehr  energisch  zur  Förderung  des  gemeinnützigen  Unternehmens 
zusammengewirkt  haben.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  die  .staatliche  Fürsorge, 
die  in  Deutschland  zum  Gedeihen  solcher  Organisationen  notwendig  ist, 
sich  auch  dieser  Fortbildung  der  Erwachsenen  annehmen  wird.  Dann 
wird  die  Ausdehnung  dieser  Kurse  auf  das  flache  Land,  die  bisher  bei 
uns  nur  vereinzelt  versucht  worden  ist,  ohne  Schwierigkeit  gelingen. 
Einen  ähnlichen  Zweck  wie  die  Volkshochschulkurse  verfolgt  die  Berliner 
Humboldtakademie;  doch  ist  hier  das  Honorar  wie  das  Publikum  etwas 
höher  gegriffen.  Sie  unterrichtete  1Q02/03  in  30g  Zyklen  1 1 200  Hörer. 
Ähnliche  Vortragskurse  sind  von  der  Oberschulbehörde  in  Hamburg  mit 
großem  Erfolge  eingeführt  worden  und  so  in  vielen  Städten  Deutschlands. 

Sehr  alt  ist  in  Deutschland  wie  anderswo  die  Form  der  Einzel-  EinzeUorträge. 
vortrage.  Vom  Ende  des  18.  Jahrhunderts  an  ist  diese  freie  Belehrung 
Ei^vachsener  bei  tins  in  den  mannigfachsten  Formen  ausgebildet.  In 
Berlin  sind  Fichtes,  Schlegels  und  Schleiermachers  Vorträge  berühmt  ge- 
worden. Unzählige  Vereine  pflegen  diese  Art  der  geistbildenden  Gesellig- 
keit. Am  bekanntesten  sind  unter  diesen  Veranstaltungen  die  Vorträge 
des  seit  1844  bestehenden  Handwerkervereins.  Er  veranstaltete 
z.B.  IQ02  75  Vorträge,  von  denen  18  der  Literatur  und  Kunst,  11  der 
Volksbildung,  8  der  Gesundheitspflege,  12  der  Rechtspflege,  19  der  Techno- 
logie und  Volkswirtschaft,  7  der  Geschichte  und  Geog-raphie  galten.  Da- 
neben gibt  es  eine  sehr  bedeutende  Anzahl  von  Bildungs vereinen,  in 
denen  Berufene  und  leider  auch  Unberufene  einen  unermeßlichen  Wissens- 
stoff in  Vorträgen  behandeln.  Nicht  unerwähnt  soll  bleiben,  daß  auch  eine 
sozialdemokratische  Volk.shochschule  besteht,  die,  von  Liebknecht  gegründet, 
zuerst  einen  großen  Aufschwung  nahm,  später  aber  zurückgegangen  zu  sein 
scheint 

Von   großer  Wichtigkeit  ist  neben   der  Erziehung   der  breiten  Volks-  Kunstoniehung. 
massen    zur  Wissenschaft  und  Wissenschaftlichkeit  die   Einführung   in   die 
Kunst     Wenn   man   nach  des  Dichters  Wort  „nur  durch  das  Morgentor 


()QQ  Hermann  Diels:   Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

des  Schönen  in  der  Erkenntnis  Land"  dringt,  so  wird  das  edler  Kunst 
geöffnete  Auge,  das  guter  Musik  erschlossene  Ohr  um  so  williger  und 
geübter  sein,  dem  verborgenen  Reize  der  Wahrheitsforschung-  sich  hin- 
zugeben. Das  Wissen  vom  Objekt  wird  durch  die  Pforte  der  Sinne  dem 
menschlichen  Geiste  vermittelt.  So  ist  bei  allen  diesen  Einführungen  in 
die  Wissenschaft  die  Betonung  der  Anschauung  die  Hauptsache.  Die 
Vervielfältigung  und  Vervollkommnung  der  Anschauungsmittel,  besonders 
aber  die  Einbürgerung  der  Projektionsapparate  kommen  diesem  Bedürf- 
nisse in  willkommenster  Weise  entgegen.  Auch  die  Demonstration  der 
Objekte  selbst  in  anatomischen  Kursen  oder  das  Heranführen  an  die 
Gegenstände  der  Kunst  bei  den  sog.  Museumsführungen  ist  von  un- 
leugbarem Vorteil,  und  mißgünstige  Urteile  über  die  Erfahrungen,  die 
man  mit  solchen  Führungen  bei  Arbeitern  gemacht  hat,  gehen  wohl  haupt- 
sächlich auf  solche  zurück,  die  sich  nicht  von  der  eigenen  Höhe  der 
Kunstanschauung  auf  das  Niveau  eines  Ungebildeten  herablassen  können. 
Und  doch  ist  mir  in  dem  scheinbar  am  Stoff  klebenden  Urteil  manches 
Arbeiters  mehr  Verständnis  für  die  Ziele  der  wahren  Kunst  entgegen- 
getreten als  in  dem  überbildeten  Kunstverstande  manches  Art-pour-l'art- 
Enthusiasten.  Ganz  einwandfrei  ist  die  Wirkung  naturwissenschaftlicher 
Führungen.  Denn  das  verständnisvolle  Eingehen  auf  die  Demonstration 
eines  geschickten  Führers  ist  sofort  aus  den  Fragen  der  Teilnehmer  mit 
Sicherheit  zu  erschließen.  Die  Zoologischen  Gärten,  Aquarien,  Stern- 
warten der  großen  Städte  sind  für  die  Wißbegier  und  lebendige  Auffassung 
der  untersten  Schichten  der  Bevölkerung  gute  Beobachtungsstationen. 
Städtische  Neben  dem  eigentlichen  Unterricht  durch  die  lebendige  Stimme   und 

Volksbiblio-  '^  .  7     IT 

theken.  (jie  Anschauung  gebende  Demonstration  der  Lehrer  und  Vortragenden 
übt  die  stille  Unterweisung  durch  das  gedruckte  Buch  einen  zwar 
weniger  unmittelbar  wirksamen  und  faßbaren,  aber  um  so  nachhaltigeren 
und  weiter  greifenden  Einfluß  aus,  wovon  später  noch  ausführlich  die 
Rede  sein  wird.  In  einer  Groß-  und  Universitätsstadt  wie  Berlin  ist 
die  Zahl  der  großen  und  kleinen  Bibliotheken,  der  staatlichen  und  pri- 
vaten, der  wissenschaftlichen  und  belletristischen  geradezu  Legion.  Die 
offizielle  Statistik  der  vStadt  Berlin  zählt  für  1903  nur  die  größten  und 
wichtigsten  auf.  Es  sind  66  mit  drei  Millionen  Bänden.  Davon  wurden 
zwei  Millionen  ausgeliehen.  Die  mit  einer  Anzahl  dieser  Volksbiblio- 
theken verbundenen  Lesehallen  wurden  von  771398  Personen  besucht. 
Viel  stärker,  als  diese  Gesamtziffer  andeutet,  stellt  sich  die  Benutzung 
der  kleinen  Volksbibliotheken.  In  der  Halle  in  der  Raven^straße  (Norden) 
wurde  jedes  Buch  etwa  zwanzigmal  ausgeliehen.  Interessant  ist  ein  vom 
Vorstand  der  Jenaer  Lesehalle  angestellter  Vergleich,  wie  sich  in  einzelnen 
deutschen  Städten  die  Zahl  der  in  den  Volksbibliotheken  ausgeliehenen 
Bände  zu  der  Bevölkerungszahl  verhält.  Danach  kommen  Bücher- 
ausleihungen auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  in  Remscheid  0,27,  in 
Bremen  0,46,   in  Hamburg  0,50,  in   Lübeck  0,53,  in  Bonn  0,62,   in   Frank- 


I.  Stufen  der  wissenschaftlichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung.  60 1 

furt  a.  M.  0,83,  in  Osnabrück  1,00,  in  Darmstadt  1,04,  in  Dessau  1,35,  in 
Barmen  1,66,  in  Jena  aber  3,47.  Natürlich  werden  diese  Volksbibliotheken 
viel  intensiver  ausgenützt  als  die  Landes-  und  Universitätsbibliotheken. 
Die  18000  Bcände  der  i.  und  20.  Volksbibliothek  zu  Berlin  wurden  im 
Jahre  1902  ebenso  stark  benutzt  (d.  h.  ebensoviel  Bände  ausgeliehen)  als 
die  Kgl.  Bibliothek  mit  ihren  1207000  Bänden.  Übrigens  gibt  es  in  Berlin 
(wie  anderswo)  neben  den  staatlichen  Bibliotheken  und  den  Einzelbiblio- 
theken der  Parlamente  und  Gesellschaften  auch  noch  allgemein  gerichtete 
Institute  dieser  Art,  die  privater  Initiative  entsprungen  sind.  So  z.  B.  die 
von  der  Gesellschaft  für  ethische  Kultur  eingerichtete  Lesehalle,  die  jähr- 
lich über  looooo  Besucher  zählt,  und  die  Heimannsche  Bibliothek,  die 
jährlich  60000  Besucher  in  ihrer  Lesehalle  empfängt  und  60000  Bände 
verleiht. 

Alles  dies  scheint  in  der  Tat  eine  Unsumme  von  Wissenschaft  dar-  Stadt  und  Land, 
zustellen,  die  wie  ein  erquickender  Maienregen  auf  die  nach  Bildung 
dürstenden  IClassen  der  Bevölkerung  herabträufelt.  Aber,  wird  man 
sagen,  dieser  Regen  trifft  nur  die  Zentren  der  Bildung  und  vor  allem  die 
Hauptstadt,  die  einen  Überfluß  aller  möglichen  Bildungsorganisationen 
entwickelt  hat,  während  das  flache  Land  nach  wie  vor  trocken  bleibt. 
Dies  ist  richtig  und  oben  als  ein  Mißstand  der  bisherigen  Entwicklung 
hervorgehoben  worden.  Allein  für  die  Aufgaben,  die  jedem  Volke  inner- 
halb des  Reiches  der  Wissenschaft  zugefallen  sind,  ist  selbst  diese  un- 
gleichmäßige Berieselung  nicht  gering  anzuschlagen.  Wenn  z.  B.  jeder 
20.  Deutsche  ein  Berliner  ist,  so  stellt  die  in  dieser  Stadt  gebotene  Möglich- 
keit wissenschaftlicher  Weiterbildung,  selbst  wenn  diese  noch  so  elementar 
ist,  ein  immerhin  unverächtliches  Quantum  dar,  das  für  das  Wachstum 
der  Wissenschaft  um  so  mehr  ins  Gewicht  fällt,  als  die  Einrichtungen 
der  Hauptstadt  vielfach  vorbildlich  wirken.  Freilich  fehlt  es  nicht  an 
aristokratisch  gesinnten  Fachleuten,  die  das  Quantum  für  gleichgültig  er- 
achten, da  Verstand  ja  stets  nur  bei  wenigen  gewesen.  Hiergegen  darf 
man  sich  auf  die  Erfahrung  berufen,  daß  wie  die  Kunst  eines  Landes  nur 
dann  den  höchsten  Gipfel  erreichte,  wenn  das  ganze  Volk  künstlerisch 
angeregt  war,  so  auch  die  Wissenschaft  nur  da  ihr  höchstes  Ziel  erreichen 
konnte,  wo  die  ganze  Bildung  auf  einem  verhältnismäßig  hohen  Niveau 
stand.  Was  Deutschland  anbetrifft,  so  ist  der  Partikularismus,  der  die 
politische  Entwicklung  hemmte,  der  künstlerischen  und  wissenschaftlichen 
Dezentralisation  günstig  gewesen.  Wie  vier  Akademieen  von  Weltruf  über 
unser  Vaterland  zerstreut  sind,  so  ist  die  Zahl  der  kleineren  Bildungs- 
zentren schon  jetzt  außerordentlich  groß  und  wird  unzweifelhaft  noch 
weiter  zunehmen. 

Das  Ziel  dieser  Bewegung  ist,  das  flache  Land  mit  einem  ganzen  Netz  ocsciurhaft  ror 

,  Verbrcitunjt  von 

von  wissenschaftlichen  Organisationen   zu   überziehen,   die  der  Landbevol-   voiksbiiaun« 
kerung   die   geistige  Anregung  gibt,   nach  der   auch  sie  verlangt  und  die, 
wenn   auch   unbewußt  vielleicht,    einen   großen  Prozentsatz   der  Intelligen- 


f.Q,  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

teren  dem  flachen  Lande  entzieht  und  dem  Strudel  der  großen  Städte  zutreibt. 
Wenn   es  nun  aber  wahr  ist,   daß  die  Kraft  und  Gesundheit  der  Völker 
auf  dem  Bauernstände   beruht   (für  Deutschland   trifft   dies   unbedingt   zu), 
so  muß  hier  energisch  Hand  angelegt  werden,   um  diesen  Stand   mit  der 
Bildung  zu  versorgen,  die  zu  seinem  leiblichen  und  geistigen  Wohlbefinden 
notwendig   ist.     In    dieser   Beziehung    ist    die    „Gesellschaft    für    Ver- 
breitung von  Volksbildung"  zuerst  mit  sehr  beträchtlichen  Mitteln  vor- 
gegangen.     Ihr   Zweck   ist   einerseits,  Vortragskurse    durch  Wanderredner 
oder  Ansässige  einzurichten  und  zu  vermitteln,  die,  mit  guten  Skioptikon- 
apparaten  versehen,  gemeinverständliche  Belehrung  aus  allen  Gebieten  der 
Kunst  und  Wissenschaft  bis  in  die  kleinsten  Dörfer  tragen  und  Belehrung 
in    unterhaltender   Form   spenden,   wie    es   auf  dieser  Stufe   notwendig  ist 
Diese  Tätigkeit  der  Gesellschaft  stellt  einen  vorläufigen  Ersatz  dar  für  die 
Wirksamkeit  der  University  Extension,  die  in  den  skandinavischen  Ländern, 
in  England,  Amerika,  auch  in  Österreich,   das  flache  Land  sehr  stark  in 
Kultur  genommen  hat.     Inzwischen  bereisen  die  Wanderredner  jener  Ge- 
sellschaft, mit  dem  Skioptikon  und  ansprechenden  Bilderserien  ausgerüstet, 
die  kleineren  Städte  und  Dörfer  Deutschlands.    Im  Jahre   1902  wurden  so 
248  Vorträge  von  7   Rednern  gehalten  mit  einem  Aufwand  von   15000  M. 
Diese  Vorträge  der  Berufsredner  entwickeln  über  den  unmittelbaren  Zweck 
hinaus    eine    sehr    starke    Anregung   zur   Abhaltung    solcher   Kurse    durch 
geeignete  lokale  Kräfte,   die  sich  bald  die  Technik  des  Vortrags  und  der 
Demonstration  aneignen  und,  von  der  Zentralstelle  mit  stets  neuem  Material 
von  Büchern  und  Bildern  versehen,  gleichsam  als  Dorfprofessoren  dauernd 
und    mit    großer   Freude    und    geistigem    Gewinne    wirken.      Andererseits 
werden  sorgfältigst   zusammengestellte  Volksbibliotheken   teils   geschenkt, 
teils  zu  billigen  Preisen  abgelassen,   die  als  ständiger  Besitz    oder  in    der 
Form  von  Wanderbibliotheken  die  erprobte  populär-wissenschaftliche  und 
belletristische  Literatur  Deutschlands  überallhin  verbreiten  und  den  harten 
Boden  mit  den  ersten  Keimen   idealer  Bildung  befruchten.     Von   1892  bis 
1902   sind  im  ganzen  5000  Bibliotheken  mit  200000  Bänden  neubegründet 
worden.     Hiervon  haben   allein  Ost-  und  Westpreußen,   Posen,  Pommern 
und  Brandenburg   100 000  Bände,    also   die   Hälfte   erhalten,   weil   hier   die 
Bildung  des  flachen  Landes  am  meisten  zurück,    und   die  eigene  Initiative 
am   schwächsten   ist.     Leider   wird    die  Tätigkeit  dieses  Vereins  neuestens 
durch    zwei  Faktoren   stark   gehindert.     Einmal   versucht   der  Staat   direkt 
durch    den    Oberpräsidenten    und    Landrat    diese    Bildungsfrage    zu    lösen, 
indem   auch    sie    mit   staatlichen   Mitteln  Bibliotheken    gründen,   wobei    es 
nicht  immer  ohne  Reibung  abgeht.     Vor  allem  aber  hat  der  unglückliche 
Sortimenter,   der  jetzt  den   deutschen  Buchhandel  mit  seinen  Klagen  er- 
schreckt  hat,   herausgefunden,   daß   das  Ablassen  der  Bücher  durch   den 
Verein  zu  billigeren  Preisen  sein  Geschäft  störe.    So  ist   durch  Druck  auf 
die  Verleger    die    Ergänzung    der    kleineren    Bibliotheken    durch    Rabatt- 
lieferungen dem  Vereine   unterbunden  und   damit  die  Entwicklung   dieser 


I.  Stufen  der  wissenschaftlichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung.  603 

kleinen  Bibliotheken  zu  allmählich  selbständig  sich  erhaltenden  Bildungs- 
zentren gehemmt  worden.  Es  ist  möglich,  daß  infolgedessen  das  Wirken  des 
\'ereins  allmählich  aufhören  wird.  Jedenfalls  hat  er  das  Verdienst,  das  Problem 
der  Verbreitung  von  gediegener  Bildung  auf  dem  flachen  Lande  energisch 
angeregt  und  namentlich  die  Volksschullehrer  zu  der  neuen  und  dankbaren 
Aufgabe,  die  ihnen  hier  erblüht,  geweckt  und  erzogen  zu  haben.  Sein  ge- 
schickt geleitetes  Organ  „Volksbildung",  das  jetzt  zweimal  im  Monat 
erscheint  und  bis  zum  36.  Jahrgang  gediehen  ist,  stellt  die  Verbindung 
der  Zentrale  mit  den  einzelnen  Vereinen  und  deren  Mitgliedern  her  und 
orientiert  am  besten  über  diese  Bestrebungen. 

Es  ist  möglich,  daß  sich  an  Stelle  des  von  der  Gesellschaft  für  Ver-  Volksbücher, 
breitung  von  Volksbildung  adoptierten  Systems,  die  Bücher  ganz  oder 
teilweise  zu  verschenken,  allmählich  ein  anderes  durchsetzen  wird,  das  die 
Bücher  durch  unerhört  billige  Preise  jedwedem  im  Volke  direkt  zugänglich 
machen  will.  Nachdem  die  Universalbibliothek  von  Reclam  die  Haupt- 
werke aller  Literaturen,  Handbücher  der  Wissenschaft,  Gesetzessamm- 
lungen und  dergl.  zu  bis  dahin  in  Deutschland  unerhörten  Preisen  in  das 
Volk  geworfen  und  durch  die  Buchbinder  und  Papierläden  bis  in  die 
kleinsten  Dörfer  verbreitet  hatte,  sind  in  neuester  Zeit  zwei  noch  billigere 
Massenuntemehmungen  ins  Leben  getreten,  die  ebenfalls  großen  Erfolg 
hatten.  Das  eine  ist  die  vom  Direktor  Liesegang  in  Wiesbaden  geleitete, 
vom  dortigen  „Volksbildungsverein"  herausgegebene  Sammlung  „Wies- 
badener Volksbücher",  die  von  ersten  Männern  der  Wissenschaft  einge- 
leitete spottwohlfeile  Ausgaben  der  besten  Volksschriften  (Gottfried  Keller, 
Storm,  W.  Raabe)  enthalten. 

Das  andere  ist  ein  Verlagsuntemehmen,  „Die  deutsche  Bücherei", 
herausgegeben  vom  Gymnasialoberlehrer  A.  Reimann,  die  monatlich  etwa 
zwei  Bändchen  zu  je  25  Pf.  ausgehen  läßt.  Sie  hat  den  Zweck:  „dem 
breitesten  Leserkreis  für  unerreicht  billigen  Preis  einen  sorgfältig  ge- 
wählten Lesestoff  zu  bieten  zur  Unterhaltung,  zur  Belehrung,  zur  Hebung 
des  geistigen  Standpunktes.  Mit  anderen  Worten,  zum  Anschaffen  einer 
eigenen  kleinen,  ganz  billigen,  aber  durchaus  wertv'ollen  Bibliothek  anzu- 
regen, deren  Inhalt  nicht  nur  zu  spannen,  sondern  auch  den  Geschmack 
zu  veredeln,  den  Gesichtskreis  zu  erweitem,  Stoff  zum  Nachdenken,  zur 
inneren  Verarbeitung  zu  geben  geeignet  ist  Altere  und  neuere  Schrift- 
steller sollen  dabei  in  gleichem  Maße  helfen,  das  Gefühl  für  deutsche 
Sprache,  Sitte  und  Eigenart  zu  vertiefen  und  ein  gesundes  Volkstum  zu 
pflegen.  Dem  Bildungsbedürfnis  unseres  Volkes  zu  dienen,  ist  die  Auf- 
gabe; besondere  politische  oder  konfessionelle  Tendenzen  sind  grundsätz- 
lich ausgeschlossen.  Es  soll  nur  gebracht  werden,  was  echt  ist  und  dauern 
wird:  eine  Auslese  einmal  der  besten  erzählenden  Literatur,  daneben 
populär -wissenschaftliche  Arbeiten  in  künstlerisch  abgerundeter  Form  aus 
der  Feder  hervorragender  Gelehrter  und  Essayisten."  Wissenschaftliche, 
aber    populär   geschriebene    Aufsätze    von    Treitschke,    Er.    Marcks,    Max 


6o4  Hermann  Dif.ls:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Lenz,  Erich  Schmidt,  Fr.  Paulsen  u.  a.  sind  bis  jetzt  in  dieser  Sammlung 
erschienen,  die  eine  bemerkenswerte  Ergänzung  der  Volkshochschul- 
bestrebung darstellt. 

Presse.  Unsere  Zeit  wirkt  durch  die  Masse.    Daher  ist  zu  ihrer  Erziehung  und 

Leitung-  ein  Masseninstrument  nötig,  die  Presse.  Die  überall  ausfliegenden, 
überall  hinfliegenden  Zeitungen  und  Zeitschriften  sind  der  treue  Ausdruck 
des  Masseninstinkts  und  darum  auch  für  den  Trieb  der  Massen  zur  Bildung 
vor  allem  charakteristisch.  Bildung  und  Zeitungswesen  steht  natürlicher- 
weise in  direkter  Proportion  zueinander.  Die  Zahlen  der  Analphabeten 
sind  der  Zahl  der  Zeitungen  nach  den  statistischen  Angaben  umgekehrt 
proportional. 

Zeitaag.  Die  ZeituHg  mit  ihrem  das  allgemeine  Interesse  treffenden,  mannig- 

fachen, in  der  Regel  täglich  erscheinenden  und  auf  den  Tag  berechneten 
Inhalte,  mit  ihrer  durch  die  Annoncen  ermöglichten  Billigkeit,  ihrer  leichten 
Versendbarkeit  und  aktuellen  Unmittelbarkeit  dringt  in  alle  Schichten  der 
Bevölkerung  ein  und  weiß  sich  mit  unfehlbarem  Instinkte  dem  Bedürfhisse 
ihres  jeweiligen  Publikums  anzupassen.  Daher  dient  nicht  jede  Zeitung 
in  gleicher  Weise  den  Interessen  der  Wissenschaft,  da  nicht  jedes  Blätt- 
chen Interesse  dafür  bei  seinen  Käufern  voraussetzen  darf.  Im  allg-emeinen 
bietet  aber  die  deutsche  Zeitung  allerbescheidensten  Ranges  mehr  davon 
als  gewisse  glänzende,  in  ganz  Europa  gelesene  Pariser  Journale.  Es  gibt 
eine  große  Anzahl  angesehener  deutscher  Zeitungen,  zu  denen  die  Männer 
der  Wissenschaft  in  gelegentlicher  oder  ständiger  Beziehung  stehen,  nicht 
in  dem  Sinne,  wie  es  in  anderen  Ländern  wohl  üblich  geworden  ist,  um 
einen  bequemeren  fraeco  suae  virtutis  zu  haben,  sondern  um  in  schweben- 
den Fragen  die  Stimme  objektiver  Wissenschaft  gegenüber  parteilicher 
Tagesauffassung  zur  Geltung-  zu  bringen  oder  auch  um  wichtig-e  Ent- 
deckungen einem  größeren  Leserkreis  mitzuteilen  oder  verständlich  zu 
machen.  Die  Redakteure  sind  bei  uns  nicht  selten  wissenschaftlich  hoch- 
gebildete Männer,  und  aus  der  oft  scheel  angesehenen  Journalistik  sind 
zuweilen  hervorragende  Zierden  unserer  Universitäten  hervorgeg-angen. 
Die  Kosten,  die  für  den  wissenschaftlichen  Teil  trotz  der  Erleichterung 
der  „Korrespondenzen"  von  manchen  Zeitungen  aufgewendet  werden,  sind 
sehr  beträchtlich,  und  die  als  besondere  Beilagen  erscheinenden  wissen- 
schaftlichen Abteilungen  einzelner  großer  Blätter  finden  auch  in  der  ge- 
lehrten Fachwelt  Beachtung.  Vielleicht  übertrifft  die  deutsche  Presse 
durch  die  Bedeutung  ihres  wissenschaftlichen  Teiles  die  ausländische 
ebenso  sehr,  wie  sie  in  dem  politischen  hinter  den  Weltblättern  anderer 
Nationen  leider  noch  immer  zurücksteht. 

Goethe  nennt  einmal,  dem  Sprachgebrauche  seiner  Zeit  folgend,  die 
Zeitung  ein  „Institut".  In  der  Tat,  wenn  man  die  Summe  wissenschaft- 
licher Aufsätze  oder  Notizen  zusammenrechnet,  die  gfutgeleitete,  gfroße 
Zeitungen  bei  uns  jährlich  in  Originalbeiträgen  oder  Reproduktionen 
ihrer  Lesewelt    mitteilen,    stellen    sie    nach    dem    Quantum    gerechnet    die 


I.  Stufen  der  wissenschaftlichen  Bildung.     Elementar-  und  Volksbildung;.  605 

literarische  Tätigkeit  großer  wissenschaftlicher  Institute  weit  in  Schatten. 
Freilich  die  Genauigkeit  der  Berichte  kann  nicht  immer  mit  der  Schnellig- 
keit gleichen  Schritt  halten.  So  ist  es  verständlich,  daß  sich  in  die  Mit- 
teilung wissenschaftlicher  Beobachtungen  oder  gehaltener  Vorträge  Ver- 
sehen, Flüchtigkeiten  und  Mißverständnisse  einschleichen.  Schlimmer  als 
diese  Irrtümer  wirkt  der  Übelstand,  daß  der  gewöhnliche  Zeitungsleser, 
um  die  ungeheure,  bunte  Menge  von  Notizen  aller  Art  in  möglichst 
kurzer  Zeit  zu  bewältigen,  wie  mit  dem  Eilzug  durch  das  Blatt  fahrt  und 
daher  die  mitgeteilte  wissenschaftliche  Belehrung  ebenso  schnell  wieder 
vergißt  wie  die  Mordtaten  und  Sensationsprozesse,  mit  denen  er  gespannt, 
und  die  parlamentarischen  Verhandlungen,  mit  denen  er  gelangweilt  wird. 
Aber  diese  Art  von  Lesern  erzeugt  vor  allem  die  Großstadt.  In  kleinen 
Städten  und  auf  dem  Lande  nimmt  man  sich  noch  Zeit.  Das  Gehirn  ist 
noch  frisch  und  dankbar  für  ernstere  Anregung  und  Erhebung  in  idealere 
Anschauung.  Die  für  die  Provinz  arbeitenden  Journalisten  wissen  auch 
vorsichtig  jede  Überfütterung  mit  Wissenschaft  zu  vermeiden.  So  wirkt 
das  kleine  Klreisblättchen  mit  seinem  verdünnten  Aufguß  des  großstädti- 
schen Extraktes  doch  vielleicht  intensiver  und  heilsamer  auf  sein  Publikum 
als  die  dickgeschwollenen  Sonntagsbeilagen  auf  das  ermüdete  Gehirn  des 
Großstadtmenschen. 

Ganz  anders  verhält  sich  die  Wochen-,  Halbmonats-  und  Monats-  Periodische 
Schrift.  In  allen  Kulturländern  gibt  es  eine  Reihe  von  vornehmen  Jour- 
nalen dieser  Art,  die  für  die  Literatur  der  betreffenden  Länder  maßgebend 
sind  und  auch  für  die  Wissenschaft  neben  den  eigentlichen  Fachjournalen 
stark  in  Betracht  kommen.  Sie  werden  von  den  oberen  Zehntausend  ge- 
lesen und  vermitteln  den  in  Handel  und  Industrie,  in  Staat  oder  Kom- 
mune leitenden  Personen  den  Überblick  über  die  wichtigeren  Fortschritte 
der  geistigen  Kultur.  Zugleich  unterrichten  sie  auch  die  Gelehrten  selbst 
über  das,  was  auf  fremden  Arbeitsgebieten  Bedeutsames  zutage  tritt.  Das 
Feuilleton,  das  seit  etwa  hundert  Jahren  als  Gegengewicht  gegen  den 
ernsten  politischen  Teil  der  Zeitung  abgegrenzt  worden  ist,  wird  mehr 
und  mehr  neben  der  Kunst  auch  der  Wissenschaft  geöffnet.  Die  Form 
spielt  hier  eine  große  Rolle.  Die  wissenschaftlichen  Aufsätze  müssen 
ebenso  unterhaltend  geschrieben  sein  als  die  Kunstkritiken,  die  man  imter 
dem  Strich  zu  finden  gewohnt  ist.  So  hat  sich  als  übliche  Form  für  diese 
Aufsätze  der  Essay  bewährt,  der  sich  auch  in  Deutschland  allmählich  in 
dieser  Literatur  Bürgerrecht  erworben  hat.  Er  wetteifert  in  vornehmer 
Popularität  mit  den  Vorträgen  oder  Vortragszyklen,  in  denen  redegeübte 
F"orscher  die  Resultate  der  SpezialWissenschaften  dem  gebildeten  Publi- 
kum in  immer  steigendem  Maße  mitzuteilen  beflissen  sind. 

Man  hat  oft  behauptet,  namentlich  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts,  Konkurrenz  von 

,,.-,.  1     txr        1  i-r  ^  .  .  ZcitscIiriU     und 

als   die  Zeitungen   und  \V  ochenschriften  anfingen,  sich  unheimlich  zu  ver-        Huch. 
mehren    und    zu    vergrößern,    das    Journal    werde    das  Buch    verschlingen. 
Soweit  die   eigentliche  Publizistik   in  Betracht   kommt,   ist  diese  Befürch- 


Presse. 


f,Q5  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

tung  nicht  eingetroffen.  Vielmehr  kommt  die  Zeitung  oft  der  Verbrei- 
tung auch  streng  wissenschaftlicher  Literatur  zugute.  Gar  mancher  dem 
speziellen  Fache  femer  Stehende  erfährt  zuerst  durch  seine  Zeitung  oder 
Wochenschrift,  die  ja  fast  alle  auch  der  Berichterstattung  dienen,  von 
dem  Erscheinen  eines  ihn  interessierenden  bedeutenden  wissenschaftlichen 
Werkes.  Manches  ernste  wissenschaftliche  Buch,  das  sonst  niemals  über 
den  engen  Kreis  der  Fachgenossen  hinausgekommen  wäre,  verdankt 
seinen  buchhändlerischen  Erfolg  der  Resonanz,  die  es  in  den  Journalen 
und  Tageszeitungen  gefunden  hatte.  Für  Frankreich,  England  und  Amerika, 
wo  der  deutsche  Sortimentsvertrieb  weniger  entwickelt  ist,  hat  diese  Art 
der  Empfehlung  noch  mehr  Bedeutung  und  noch  mehr  —  Gefahr. 

Wirkung  der  So  dient  die  Presse,  soweit  sie  sich  in  den  Dienst  der  Wissenschaft 

stellt,  unendlich  abgestuft  wie  das  Publikum,  dem  sie  dient,  den  großen 
Kulturinteressen  der  Menschheit.  Sie  treibt  das  frische  Blut  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  durch  alle  Adern  des  Volkskörpers  und  führt  ihm  da- 
durch stets  neue  Kräfte  zum  Bestehen  des  immer  schwieriger  werdenden 
Lebenskampfes  zu.  Zugleich  unterhält  sie  die  unentbehrliche  Verbindung 
zwischen  der  Masse  des  Volkes  und  seinen  geistigen  Führern  und  Be- 
ratern. Von  der  eigentlichen  gelehrten  Zeitschriften-  und  Buchliteratur 
wird  noch  im  Kap.  X  ausführlich  die  Rede  sein. 

wissenschfLft  Wenn    heutzutage    die    Berührung    mit    der   Wissenschaft    für    jeden 

Menschen  in  unseren  zivilisierten  Ländern  wünschenswert  und  heilsam 
ist,  so  ist  sie  unerläßlich  für  den  „gelernten"  Arbeiter,  der  sich  in  mannig- 
fachen Betrieben  zunächst  rein  äußerlich  in  den  Besitz  der  dazu  nötigen 
technischen  Kenntnisse  setzen  muß.  Es  ist  klar,  daß  seine  Arbeit 
um  so  wertvoller  und  seine  eigene  Verwendbarkeit  um  so  größer  wird, 
je  mehr  er  von  einer  mechanischen  Herstellung  seines  Fabrikates,  von 
einer  rein  äußerlichen  Handhabung  seiner  technischen  Funktionen  zu  einer 
Einsicht  in  das  Wesen  der  betreffenden  Prozesse  und  Handhabungen  über- 
geht. Eine  solche  Hebung  der  technischen  Arbeiterschaft  ist  eines  der 
wichtigsten  und  schwierigsten  Probleme  der  Zukunft.  Die  Volkshochschul- 
kurse mit  ihren  zusammenfassenden  Kursen,  z.  B.  über  Metalle  für  Metall- 
arbeiter u.  dergl.  können  nur  einen  Teil  der  Aufgabe  lösen.  Einen  anderen 
die  Fachschulen  und  Fortbildungsschulen.  Am  wichtigsten  wird  die  Selbst- 
fortbildung werden,  wenn  es  gelingt,  dem  Arbeiter  die  nötige  Zeit  und 
Kraft  nach  vollendetem  Tagewerk  für  diese  geistige  Hebung  zu  erübrigen. 
Bis  dieses  Ziel  erreicht  ist,  wird  noch  mancher  Kampf,  der  heute  nur  um 
materieller  Dinge  willen  unternommen  wird,  ausgefochten  werden  müssen. 
Viel  Einsicht  bei  Arbeitnehmern  und  Arbeitgebern  wird  dazu  gehören, 
sich  hierüber  zu  verständigen.  Allein  klar  ist  es,  daß  nur  diejenige  In- 
dustrie sich  künftig  auf  dem  Weltmarkte  dauernd  behaupten  kann,  die  es 
versteht,  den  Arbeiter  mit  immer  größerer  Intelligenz  auszustatten.  Nur 
wer  den  Zusammenhang  im  ganzen  auch  nur  im  groben  überschaut,  wird 
imstande  sein,   sich  über  die  Dumpfheit  seiner  dienenden  Stellung  zu  er- 


und  Technik. 


II.  Mittelschulbildung.  607 

heben,  sich  nicht  als  Sklaven  einer  sinnlosen  technischen  Despotie,  sondern 
als  notwendiges  Glied  eines  lebendigen,  wertvollen  Organismus  zu  fühlen 
und  —  zu  achten. 

II.  Mittelschulbildung.  In  Deutschland  ist  die  Technik  viel  zu  Technische 
lange  vornehm  unterdrückt  und  als  rein  praktische  Tätigkeit  von  dem  er- 
frischenden und  belebenden  Hauche  der  Wissenschaft  fern  gehalten  worden. 
So  sind  hier  zweierlei  Vorbereitung.s-  und  zweierlei  Hochschulen  entstanden: 
reale  und  humanistische.  Während  in  Frankreich  schon  im  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  die  Bedeutung  der  Ingenieure  erkannt  und  ihre  enge  Ver- 
bindung mit  der  Wissenschaft  gepflegt  wurde,  wuchs  in  Deutschland  der 
Stand  der  Techniker  im  Schatten  auf.  Aus  dem  berechtigten  Gefühl  der 
Unterdrückung  erwuchs  eine  erbitterte  Kampfesstimmung,  die,  gestützt  auf 
die  steigende  Bedeutung  der  Industrie,  ihre  Forderungen  auf  Gleich- 
berechtigung mit  den  älteren  Instituten  der  Wissenschaft  siegreich  durch- 
zusetzen wußte.  So  standen  bis  zum  Jahre  1900  bei  uns  auf  der  ganzen 
Linie  zwei  verschiedene  Systeme  von  Organisationen  einander  gegenüber: 
das  altüberkommene  Universitätssystem  mit  seinem  natürlichen  Vorbau, 
dem  humanistischen  Gymnasium,  und  die  technischen  Hochschulen  mit 
ihrem  Vorbau,  der  Oberrealschule,  zwischen  denen  als  Vermittlung  das 
Realgymnasium  stand  und  steht. 

Die  Reform  von  1 900  hat  hier  eine  Vereinheitlichung  der  Vorbildung  GieichstcUun;; 

.  der  neun- 

herbeigeführt,  die  zunächst  aus  speziellen  Gründen  (Kadettenvorbildung)  kiassiRcn  Mittel- 
erfolgte, aber  in  der  Nation  einen  lebhaften  Widerhall  gefunden  hat. 
Anstatt  zu  sagen,  daß  die  humanistisch  Vorgebildeten  für  die  Technik 
ebenso  schlecht  vorbereitet  sein  rhüssen  wie  die  realistisch  Vorgebildeten 
für  die  wissenschaftlichen  Fächer  der  Universität,  sah  man  über  diese 
Differenzen  der  Vorbildung  milde  hinweg,  indem  man  späterer  Bemühung 
der  Studierenden  die  Ausfüllung  etwaiger  Lücken  der  Bildung  überließ. 
Die  Schäden,  die  aus  dem  Zudrang  ungenügend  Vorgebildeter  beiden 
Arten  von  Hochschulen  erwachsen,  glaubt  man  hinreichend  auszugleichen 
durch  die  freie  Konkurrenz,  die  nun  für  alle  Arten  von  höherer  Vorbil- 
dung eröffnet  ist.  Die  demokratische  Tendenz  unserer  Zeit  hat  gesiegt. 
Jeder,  auch  der  ursprünglich  nur  für  Industrie  und  Handel  Vorbereitete, 
darf  jetzt  durch  die  Fakultäten  (wenn  sich  auch  noch  einige  verschämt 
sträuben)  zu  den  sozial  bei  uns  am  höchsten  gewerteten  Staatsstellungen 
hindurchdringen,  und  der  ursprünglich  für  die  Bureaukratie  Erzogene  darf 
es  versuchen,  als  Techniker  oder  Kaufmann  sein  Glück  zu  machen.  Der 
Marschallstab  liegt  nun  im  Tornister  jedes  Schülers,  der  seine  neunjährige 
Mittelschule  absolviert. 

Die  Probe  auf  das  Exempel  ist  noch  nicht  gemacht.    Man  wird  sehen,  Hum.-misiischn 
ob  die  drei  T\^en  nebeneinander  friedlich  weiter  bestehen  und  verschieden- 
artig vorgebildete  Schüler  mit  Erfolg  auch  an  den  nicht  für  sie  bestimmten 
Hochschulen   ihre   Studien   betreiben  und   abschließen  können;   man   wird 


C^Qg  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

ferner  sehen,  ob  nicht  die  verschiedenen  Typen  zunächst  durch  fakultative 
Kurse  sich  einander  nähern  und  schließlich  tatsächlich  eine  Einheits- 
schule schaffen  werden.  Was  die  Vorbereitung'  auf  die  wissenschaftliche 
Laufbahn  anbetrifft,  so  gilt  bis  jetzt  noch  in  den  maßgebenden  Kreisen 
das  alte  humanistische  Gymnasium  für  die  normale  Vorbildung.  Wenn 
aus  realer  Vorbildung  heraus  einzelne  Genies  zu  hervorragenden  Gelehrten 
sich  entwickelt  haben,  so  sind  dergleichen  Fälle  in  der  Regel  auf  solche 
Fächer  beschränkt,  die,  wie  die  Chemie,  der  Technik  am  nächsten  stehen. 
Sie  beweisen  aber  überhaupt  nichts,  da  für  Genies  alle  Schulen  wenig 
bedeuten.  Im  allgemeinen  hält  man  immer  noch  an  der  durch  eine  zwei- 
tausendjährige Tradition  gefestigten  sprachlichen  Vorbildung  der  huma- 
nistischen Gymnasien  fest,  da  man  der  Meinung  ist,  daß  die  Sprache  als 
Ausdruck  menschlichen  Fühlens,  Wollens  und  Denkens  und  als  Schatz- 
haus der  erarbeiteten  Begriffe  vor  allem  den  Gegenstand  eindringenden 
Studiums  bilden  müsse.  An  der  eigenen  Sprache  in  ihre  Gesetze  und 
ihre  Interpretation  einzudringen  ist  mißlich,  weil  sie  mit  uns  verwachsen 
ist  und  daher  ebenso  wenig  gründlich  und  unbefangen  studiert  werden 
kann  wie  der  eigene  Körper.  Die  neueren  Sprachen,  die  an  den  beiden 
anderen  Typen  der  Mittelschulen  in  den  Vordergrund  treten,  sind  schon 
geeigneter  als  die  eigene  in  sprachliches  Verständnis  einzuführen.  x\llein 
plastisch  klar  tritt  das  grammatische  Skelett  an  den  beiden  alten  Sprachen 
hervor,  die  unseren  modernen  verwaschenen  Idiomen  ferner  und  doch  viel- 
fach zugrunde  liegen.  Hierzu  kommt  das  an  sich  hervorragende  und 
wiederum  für  das  Verständnis  der  davon  abhängenden  modernen  Literatur 
und  Kunst,  ja  der  gesamten  Kultur  unentbehrliche  antike  Schrifttum, 
dessen  Interpretation  eine  unersetzliche  Schulung  zum  Verständnis  jeder 
menschlichen  Rede  darstellt.  So  ist  für  alle  sprachlich  und  historisch 
gearteten  Wissenschaften  dieser  Gang  der  Vorbildung  als  der  normale 
zu  betrachten,  und  insofern  jeder  gebildete  Mensch  mit  der  Vergangen- 
heit in  jeder  Beziehung  zusammenhängt  und  das  Bewußtsein  dieser  Zu- 
sammenhänge zu  seinem  geistigen  Leben  unentbehrlich  ist,  erscheint  er 
überhaupt  als  der  normale.  Daneben  sorgt  die  damit  verbundene  Ein- 
führung in  Mathematik  und  Naturwissenschaften  dafür,  die  dem  mathe- 
matischen Kalkül  und  der  sinnlichen  Beobachtung  zugänglichen  Dis- 
ziplinen und  Methoden  der  Wissenschaft  dem  jugendlichen  Geist  nahe  zu 
bringen  und  das  Streben  nach  Exaktheit  ihm  einzupflanzen.  Je  mehr  die 
realen  Fächer  überwiegen,  wie  bei  dem  Realgymnasium  und  der  Ober- 
realschule, um  so  mehr  empfiehlt  sich  eine  solche  Vorbildung  für  alles, 
was  der  Technik  und  den  praktischen  Berufen  zustrebt,  um  so  weniger 
aber  genügt  sie  den  Anforderungen  der  Wissenschaft,  die  ein  nicht  nach 
dem  Nutzen  fragendes,  ideal  gerichtetes  Streben  voraussetzt.  Wenn  daher 
die  nichthumanistische  Vorbildung  allmählich  die  Überhand  gewinnen 
sollte,  indem  dabei  durch  fakultativen  Unterricht  die  klaffenden  Lücken 
.der  klassischen  Durchbildung  notdürftig   ausgefüllt  werden,   so   würde   die 


UDiversität. 


III.  Hochschulbildung.  6oQ 

ganze  Wi.s.senschaft  selb.st  eine  entschieden  auf  das  Praktische  gewendete 
Richtung  erhalten,  etwa  so,  wie  das  gelehrte  Wesen  der  Griechen  bei  den 
Römern  oder  die  europäische  Kultur  bei  den  Amerikanern  umgestaltet 
worden  i.st.  Es  i.st  nicht  unmöglich,  daß  sich  die  Welt  nicht  bloß  in 
Deutschland,  sondern  überall  nach  dieser  modernen  Richtung  entwickelt, 
die  in  der  Kultur  der  englisch  redenden  Völker  in  der  Verengerung  des 
Begriffes  Science  ihren  charakteristischen  Ausdruck  gefunden  hat.  Wenn 
sich  die  allgemeine  Überzeugung  von  der  Entbehrlichkeit  der  historisch- 
literarischen  Bildung  für  das  allgemeine  Wohl  etwa  auch  bei  uns  bis  zu 
der  Höhe  des  Spencerschen  Positivismus  steigern  sollte  (was  um  so  weniger 
unglaublich  erscheint,  als  ein  sehr  positivistisch  gesinntes  Volk,  die  Japaner, 
seit  kurzem  in  die  Weltkultur  eingetreten  i.st),  so  wird  bei  der  freien 
Konkurrenz  der  drei  Vorbildungsarten  die  Oberrealschule  entschieden 
den  Sieg  gewännen  und  schließlich  eine  Einheitsschule  übrig  bleiben,  die 
moderne  Sprachen,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  treiben  und  zur 
Vorbereitung  auf  die  historisch -literarischen  Fächer  Sonderkurse  auf  der 
obersten  Stufe  einrichten  wird.     Facilis  descensus  Averno! 

III.  Hochschulbildung.  Die  Gleichberechtigung  der  drei  Mittelschul-  Universai- 
typen,  die  durchaus  die  Tendenz  hat,  zu  einer  realistischen  Einheitsschule  zu- 
sammenzuführen, treibt  mit  Macht  auf  die  Vereinheitlichung  auch  der  Hoch- 
schulen hin.  Gewichtige  Stimmen  werden  laut,  man  solle  die  Universität  nach 
der  technischen  Seite  hin  au-sbauen  und  durch  Angliederung  der  technischen, 
landwirtschaftlichen,  Tierarzneischulen,  Berg-  und  Forstakademieen  zu  einer 
wahren  Universaluniversität  gelangen.  Zu  dieser  Vereinigung  fehlt  es 
nicht  an  Analogieen.  Nicht  bloß  die  umfassende  Organisation  mancher  ameri- 
kanischer Universitäten,  sondern  auch  die  Einrichtung  mancher  deutschen 
zeigt  Anfänge  solcher  Agglutination.  In  der  Regel  spielt  dabei  die  viel- 
gestaltige philosophische  Fakultät  die  Anschlußstelle,  wie  z.  B.  die  Zahn- 
arzneikunde und  die  Apothekerausbildung,  die  bei  der  Medizin  nicht 
Unterschlupf  finden  konnten,  auf  manchen  Universitäten  bei  den  Philosophen 
willige  Aufnahme  gefunden  haben.  So  sollen  nun  nach  der  Absicht  der 
Unionisten  alle  jene  praktischen  Schiden  sei  es  der  philosophischen  Fa- 
kultät oder  irgendwie  sonst  der  alten  alma  viater  eingefügt  werden.  Die 
philosophische  Fakultät  nun,  die  schon  jetzt  kaum  mehr  die  einzelnen 
Dauben  mit  gemeinsamem  Reifen  umspannen  kann,  würde  durch  diese 
Einfügung  völlig  gesprengt.  Vielleicht  daß  hier  und  da  einige  praktische 
Vorteile  mit  solcher  Union  erreicht  würden,  der  Wissenschaft  aber  würde 
mit  solcher  Universaluniversität  schwerlich  gedient  sein.  Im  17.,  im  18. 
und  ig.  Jahrhundert,  ja  selbst  wieder  zu  Beginn  des  20.  sind  diese  Unions- 
gedanken bei  uns  aufgetaucht,  allein  nirgends  haben  sie  schließlich  bei 
uns  Verwirklichung  gefunden,  und  die  Erfahrungen  der  amerikanischen 
Universitäten  (die  als  solche  doch  die  praktischen  Ziele  schärfer  ins  Auge 
fassen  als  wir)  scheinen  eher  ungünstig  als  günstig  zu  lauten. 

DiK  Kultur  dbr  Gbobnwakt.    I.  i.  iQ 


5io  Hermann  Diels:   Die  Organisation  der  Wissenscliaft. 

Wissenschaft  Es   ist  ja  voUkomiTien  richtig,   daß   sich  Wissenschaft  und  Praxis 

gegenseitig  bedingen.  Man  kann  historisch  beobachten,  wie  die  Theorie 
aus  den  Bedürfnissen  des  tägUchen  Lebens  herauswächst  und  erst  verhält- 
nismäßig spät  selbständige  Geltung  gewinnt.  Es  ist  nur  auf  der  Höhe  der 
Kultur  mög-lich,  an  die  Selbständigkeit  der  Wissenschaft  zu  denken,  und 
dieses  Denken  einzelner  hervorragender  Köpfe  gewinnt  erst  dann  all- 
gemeine Geltung,  wenn  man  bemerkt,  wie  manche  zunächst  nur  theoretisch 
betriebene  Wissenschaft  die  technisch -industrielle  Praxis  auf  das  wert- 
vollste befruchtet.  Als  Galvani  an  dem  Eisengitter  seines  Gartens  die 
Zuckungen  des  galvanisierten  Froschschenkels  beobachtete,  ahnten  weder 
er  noch  seine  Zeitgenossen  die  weittragenden  praktischen  Folgen  seiner 
Entdeckung.  Und  als  H.  Hertz  hundert  Jahre  später  die  Wellennatur 
der  Elektrizität  nachwies,  konnte  weder  er  noch  irgend  ein  anderer  Ge- 
lehrter vermuten  (ich  erinnere  mich  sehr  deutlich,  wie  sich  Helmholtz,  der 
die  Arbeit  Hertzens  der  Berliner  Akademie  vorlegte,  dazu  aussprach), 
welche  außerordentlichen  praktischen  Konsequenzen  diese  seine  Experimente 
nach  sich  ziehen  würden.  An  drahtlose  Telegraphie  wagte  damals  nie- 
mand zu  denken. 

So  könnte  es  also  sehr  verlockend  erscheinen,  durch  Gründung  von 
ungeheuren  Universaluniversitäten  Praxis  und  Wissenschaft  in  die  innigste 
Verbindung  zu  bringen  und  durch  diese  Kopulierung  die  Fruchtbarkeit 
beider  ins  Gigantische  zu  steigern. 

Gegen  diesen  schönen  Traum  der  Zukunft  sei  es  gestattet  einige  Be- 
denken geltend  zu  machen.  Zunächst  hat  sich  in  Deutschland  die  Doppel- 
natur der  wissenschaftlichen  und  praktisch-technischen  Hochschulen  hi- 
storisch überall  mehr  oder  minder  reinlich  durchgesetzt.  Die  Regierungen 
wenigstens  fahren  auch  noch  in  diesem  Jahrhundert  fort,  neue  technische 
Hochschulen  ohne  Angliederung  an  Universitäten  zu  gründen,  und  sie  tun 
meines  Erachtens  recht  daran. 

In  den  Universitäten  hat  sich  (dies  ist  das  Ergebnis  der  Entwicklung 
im  vorigen  Jahrhundert)  die  Wissenschaft  als  solche  die  Hegemonie  er- 
rungen, die  praktische  Ausbildung  hat  sich  immer  mehr  zurückgezogen 
und  ist  in  den  meisten  Disziplinen  ganz  oder  teilweise  in  besondere,  nach 
Ablegung  der  wissenschaftlichen  Prüfungen,  also  nach  der  Universitäts- 
bildung, fallende  praktische  Kurse  verlegt  worden.  Der  Gymnasial- 
lehrer, der  vor  fünfzig  Jahren  fertig  zum  Unterricht  von  der  Universität 
ging,  muß  heute  eine  besondere,  ein-  bis  zweijährige  praktische  Probezeit 
durchmachen.  Der  Arzt,  der  noch  vor  kurzem  direkt  aus  dem  Klinikum 
in  die  Praxis  sprang-,  hat  jetzt  ein  praktisches  Jahr  als  Zwischenstadium 
durchzumachen.  Schon  länger  hat  sich  die  praktische  Probezeit  des  Re- 
ferendars bewährt.  Der  Sinn  aller  dieser  Einrichtungen  ist  doch  der,  den 
Studierenden  möglichst  lange  in  Berührung  mit  der  reinen  Wissenschaft 
zu  lassen,  um  ihn  nicht  durch  die  Forderungen  der  Praxis  allzufrüh  von 
seiner   allseitigen   wissenschaftlichen   Ausbildung    abzuziehen.     Die   Stärke 


ni.  Hochschulbildung.  5 1 1 

der  idealen  Richtung,  von  der  die  Kraft  der  späteren  beruflichen  Wirk- 
samkeit zum  großen  Teile  abhäni'i't,  soll  sich  in  dem  heranreifenden  jungen 
Manne  schön  und  frei  entfalten  können.  Die  Auszüge  und  Abzüge  der 
wissenschaftlichen  Ausbildung,  welche  die  Praxis  notwendigerweise  ver- 
langt, sollen  in  den  Jahren  des  Studiums  möglichst  verdeckt  bleiben,  da- 
mit keine  Routiniers,  sondern  wirklich  allseitig  durchgebildete  junge  Ge- 
lehrte die  Universität  verlassen. 

Ganz  anders  bei  den  Technikern  und  Praktikern.  Ihr  Augenmerk 
muß  umgekehrt  sich  in  erster  Linie  auf  die  Anwendungen  der  Wissen- 
schaft richten.  Für  diese  ist  die  Theorie  wirklich  grau  und  des  Lebens 
goldner  Baum,  den  sie  zum  Teil  schon  vorher  vorschriftsmäßig  haben 
kennen  lernen,  zieht  sie  immer  wieder  in  die  Praxis  zurück.  Freilich 
wird  Handel,  Industrie  und  Mechanik  immer  mehr  von  den  Entdeckungen 
der  Wissenschaft  beeinflußt.  Die  Summe  wissenschaftlicher  Kenntnisse 
vermehrt  sich  auch  für  den  reinen  Praktiker  von  Jahr  zu  Jahr.  Vom  ein- 
fachen Maschinisten  bis  zum  hochgebildeten  Konstrukteur  ist  eine  ge- 
diegene wissenschaftliche  Ausbildung  für  jeden  Techniker  unerläßlich. 
Aber  der  Gesichtswinkel,  mit  dem  dieser  die  Wissenschaft  betrachtet,  ist 
doch  ein  ganz  anderer  als  der  des  Theoretikers  auf  der  Universität.  Die 
Praxis  ist  für  ihn  bereits  auf  der  Hochschule  der  Wertmesser  der  Theorie, 
und  diese  Praxis  würde  Not  leiden,  wenn  der  Schüler  der  technischen 
Fächer  ebensoviel  Mühe  auf  die  Aneignung  des  wissenschaftlich  Wert- 
vollen und  der  dazu  führenden  Forschungsmethoden  verwenden  wollte  wie 
sein  Kollege  von  der  Universität.  Schon  aus  diesem  Gruade  erscheint 
die  in  Deutschland  wenigstens  wie  von  selbst  eingetretene  Arbeitsteilung 
zwischen  Universität  und  Polvtechnikum,  oder  wie  sonst  die  technischen 
Hochschulen  sich  benennen,  als  eine  organische  und  darum  wohlberechtigte 
und  fruchtbare  Differenzierung.  Nachdem  die  unbegründete  und  törichte 
Mißachtung  der  praktischen  Hochschulen  offiziell  beseitigt  und  auch  in  der 
Schätzung  des  deutschen  Publikums  ihre  hohe  Bedeutung  voll  anerkannt 
ist,  bedürfen  jene  Institute  nicht  mehr  des  besondern  Prestiges,  das  die 
Tradition  den  Universitäten  verleiht.  Sie  sind  selbständig  und  wollen  es 
sein.  Der  Kultur  der  Nation  wird  unstreitig  mehr  durch  diese  zweigipflige 
Organisation  gedient  als  durch  die  äußerlich  imposante,  aber  innerlich 
zweckwidrig  gebaute  Riesenpyramide  einer  Universaluniversität. 

Übrigens  fehlt  es  nicht  an  Anzeichen,  daß  sich  die  Ziele  der  Unio- 
nisten  auf  anderem  Wege  und  besser  verwirklichen  werden.  Denn  die  bei- 
den Gipfel  des  deutschen  Hochschulsystems  sind  in  ihrer  Struktur  gerade 
jetzt  in  einer  zeitgemäßen  Umbildung  begriffen.  Die  Wissenschaft  horcht 
immer  mehr  auf  die  Anregungen  und  Bedürfnisse  der  Praxis  (auch  der 
pädagogischen),  und  umgekehrt  wird  die  Technik  genötigt,  immer  mehr 
wissenschaftlich  sich  zu  vertiefen. 

Für  die  Universitäten  liegt  bei  dem  eminent  praktischen  Geiste  unserer  Universität  als 
Zeit  die  Gefahr  nahe,  darüber  eine  Forderung  hintanzusetzen,   die  gerade     Forschung 

39* 


()l'>  1  [krmann  DiKLS :  Die  Organis;iüoii  der  Wissenschaft, 

in  Deutschland  am  lautesten  erhoben  und  am  entschiedensten  durchgesetzt 
worden  ist.  Diese  Forderung"  lautet,  daß  hier  nicht  bloß  das  vorhandene 
Wissen  mitgeteilt,  sondern  auch  neues  Wissen  erarbeitet  werde.  Diese 
Betonung  der  wissenschaftlichen  Forschung  ist  ein  Kind  des  deut- 
schen klassischen  Idealismus.  Der  heroische  Schwung  unseres  Volkes, 
das  zur  Zeit  der  tiefsten  politischen  Erniedrigung  die  Hand  ausstreckte 
nach  den  höchsten  geistigen  Kränzen,  hat  sich  in  der  Gründung  der  Ber- 
liner Universität  ein  ewiges  Denkmal  gesetzt:  aus  diesem  Geiste  stammt 
die  im  vorig'jn  Jahrhundert  zur  Geltung  gekommene  Anforderung  an  den 
Universitätslehrer,  daß  er  sich  selbst  in  der  Wissenschaft  schöpferisch  be- 
tätigen und  die  Jugend  zu  ähnlichen  Leistungen  anregen  müsse. 

Zur  Erreichung'  dieses  Zieles  gibt  es  einen  doppelten  Weg.  Einmal 
muß  der  Dozent  in  zusammenhängenden  Vorlesungen  den  wissenschaft- 
lichen Gegenstand,  sei  es  im  ganzen  oder  in  typischen  Beispielen,  vor- 
führen, wobei  die  noch  zu  lösenden  Aufgaben  scharf  hingestellt  und  Proben 
eigener  Lösungen  gegeben  werden  müssen.  Dies  weckt  die  Geister  und 
reizt  zur  Nacheiferung,  befähigt  aber  ohne  weiteres  nur  hervorragend 
selbständige  Naturen  zum  wirklichen  Fortarbeiten.  Daher  sind  zur  Er- 
gänzung der  Vorlesung  die  praktischen  Arbeiten  unter  der  Anleitung 
des  Lehrers  oder  seiner  Gehilfen  eingerichtet,  die  den  Einzelnen  in  me- 
thodisch geordneten  Lehrgängen  mit  der  Art  der  Forschung  vertraut 
machen  und  ihn  allmählich  zur  Bearbeitung  einer  relativ  selbständigen, 
die  Wissenschaft  selbst  fördernden  Arbeit  befähigen.  Aus  diesen  Arbeiten 
wächst  dann  organisch  die  als  Abschluß  des  Universitätsstudiums  gedachte 
und  aus  dem  alten  Universitätsbetriebe  in  modernisierter  Form  über- 
nommene Doktordissertation  heraus. 
wisseDschaft-  Indem  der  Schüler  mit  dem  Lehrer  zusammenarbeitet,  in  dessen  Ar- 

beitsgebiet und  Methode  eindringt  und  anschließend  an  dies  Vorbild 
wissenschaftliche  Aufgaben  angreift  und  löst,  bildet  sich  das,  was  man 
seit  alter  Zeit  Schule  nennt.  Diese  Form  der  Schulgemeinschaft,  die, 
wie  oben  erwähnt,  schon  für  den  ältesten  Betrieb  der  Wissenschaft  charak- 
teristisch ist,  hat  sich  in  der  griechischen  Epoche  vollkommen  organi- 
siert. Wir  sehen  z.  B.  um  Plato  einen  freien,  um  Aristoteles  einen 
straffer  disziplinierten  Kreis  von  Schülern  und  Jüngern  (|uaer|Tai  küi  fvujpiMOi) 
sich  sammeln,  die  seitdem  vollkommen  vereinsmäßig  konstituiert,  in  der 
Kaiserzeit  auch  staatlich  privilegiert  und  besoldet  bis  ans  Ende  der  alten 
Welt  die  Fahne  der  Vv'issenschaft  auch  unter  den  schwierigsten  Verhält- 
nissen hoch  gehalten  haben.  Solche  Gemeinschaften  haben  sich  dann 
später  überall  gebildet,  wo  bedeutende  Köpfe  lehrten,  und  namentlich  in 
Deutschland  hat  sich  diese  Form  der  Organisation  so  stark  ausgebildet, 
daß  man  in  einzelnen  Fächern  geradezu  von  Sekten  wie  im  Altertum 
reden  kann.  Schließt  sich  eine  solche  Sekte  mit  Fanatismus  ab  von  den 
anderen  Organen  der  Wissenschaft  und  erstarrt  sie  in  dogmatischer  Recht- 
gläubigkeit, so  ist  der  Nachteil  für  die  Wissenschaft  auf  der  Hand  liegend. 


in.  Hochschulbildung.  5l3 

Die  -wohltätige  Anregung  des  Gemeinschaftsinnes  schlägt  dann  in  solchem 
Cliquenwesen  in  das  Gegenteil  um. 

Der  Ausgangspunkt  und  Mittelpunkt  dieser  Schulen  ist  bei  uns  die  Seminare  und 
Praxis  des  Unterrichts,  wie  er  in  den  Seminarien  und  Instituten  erteilt 
wird.  Er  geht  von  der  Platonischen  Anschauung  aus,  daß  wissenschaft- 
liche Wahrheiten  nicht  dogmatisch,  wie  in  den  Religionsgesellschaften, 
vom  Lehrer  auf  den  Schüler  übertragen,  sondern  in  gemeinsamer  Arbeit 
gefunden  oder  wiedergefunden  werden  müssen.  Dieses  Wiederfinden  be- 
reits erledigter  Aufgaben  ist  vor  allem  auf  die  Anfänger  berechnet,  die 
auf  diese  anregende  Weise  in  die  ersten  Elemente  eingeführt  werden. 
So  leitet  man  die  angehenden  Chemiker  an,  die  bekannten  Körper  mit 
den  bekannten  Reagentien  nach  den  bekannten  Methoden  zu  analysieren; 
Historiker  werden  beauftragt,  die  im  allgemeinen  bekannten  Quellenver- 
hältnisse der  Berichterstatter  im  einzelnen  nachzuprüfen.  Sobald  aber 
die  Teilnehmer  solcher  Seminarkurse  über  jene  Übungen  am  „Phantom" 
hinaus  sind,  beginnt  die  eigentliche  ernste  wissenschaftliche  Arbeit.  Hier 
muß  das  Ziel  sein,  daß  die  gemeinsame  Forschung  neue  Resultate  ge- 
winnt. Jede  Stunde  muß  als  verloren  betrachtet  werden,  wo  nicht  die 
Wissenschaft  negativ  oder  positiv  um  ein  Kleines  gefördert  worden  ist. 
Dabei  soll  ein  gegenseitiges  Nehmen  und  Geben  zwischen  Lehrer  und 
Schülern  stattfinden.  Das  belebt  den  Mut  der  Xeophj^ten  und  schlingt 
unsichtbare  Fäden  des  Vertrauens  zwischen  den  Teilnehmern  eines  solchen 
Thiasos. 

Aus  der  eben  erhobenen  Forderung,  daß  die  Seminararbeit  das  Ziel  Doktor- 
verfolgen muß,  wissenschaftlich  produktiv  zu  sein,  ergibt  sich  mit  Not- 
wendigkeit die  weitere  Forderung,  daß  der  Schluß  dieser  Tätigkeit  und 
der  Abschluß  der  ganzen  Universitätsstudien,  das  in  der  Doktordisser- 
tation zu  leistende  Probestück,  ebenfalls  eine  Förderung  der  Wissenschaft 
darstelle.  Der  Umfang  dieser  Dissertationen  ist  bei  uns  in  der  Regel 
nicht  erheblich  in  Vergleich  zu  dem,  was  z.  B.  in  Frankreich,  Holland  und 
Rußland  verlangt  wird,  allein  die  Qualität,  auf  die  es  doch  in  erster  Linie 
ankommt,  hält  im  ganzen  den  Vergleich  mit  den  ausländischen,  oft  un- 
nütz breit  geratenen  und  in  Literatur  schwelgenden  Elaboraten  aus,  wenn 
man  die  etwas  entartete  Dissertationsschriftstellerei  der  medizinischen  Fa- 
kultät bei.seite  läßt.  Doch  wird  auch  hier  als  Minimum  der  Forderung 
festgehalten,  daß  irgend  ein  Fortschritt  der  Wissenschaft  angebahnt,  irgend 
etwas  Neues  darin  mitgeteilt  sei.  Diese  Fortschritte  sind  in  der  Regel 
nur  klein,  aber  man  darf  sie  nicht  verachten.  Einer  unserer  Größten  sagt: 
„Es  ist  nichts  groß  als  das  Wahre,  und  das  kleinste  Wahre  ist  groß." 
Auf  alle  Fälle  hat  diese  Einreihung  in  die  wirklich  produktive  Wissen- 
schaft für  den  geistigen  Entwicklungsgang  des  jungen  Doktors  die  aller- 
größte Bedeutung,  und  mancher,  der  später  der  langen  Mühe  kargen 
Lohn  überschlägt,  mag  sich  wohl  Rückerts  resignierte  Worte  gesagt  sein 
lassen : 


6l4  Hermann  Dikls:  Die  Organisation  der   Wisscnscliaft. 

Arbeiten  tat  ich  aucli  in  Schachten, 

Wo  ich  kein  (lold  entkernte, 
Die  aber  mir  den  Nutzen  brachten,  i 

Daß  ich  arbeiten  lernte. 

Man  mag-  über  die  emsige  Arbeit  der  jungen  Gelehrten,  die  damit 
ad  Sil  Hl  »tos  in  univcrsifatc  hovores  streben,  urteilen  wie  man  will:  die 
durch  Mommsens  scharfes  Eingreifen  vor  einem  Menschenalter  aufgestellte 
Forderung,  daß  jede  Dissertation  gedruckt  und  damit  der  öffentlichen 
Zensur  unterbreitet  werden  muß,  hat  die  stark  in  Verruf  gekommene 
deutsche  Doktorwürde  wieder  zu  Ehren  gebracht.  Und  überall  wird  jetzt 
durch  die  damit  verbundene  Verpflichtung  zu  einer  gedruckten  Inaug-ural- 
dissertation  an  unsem  Universitäten,  wenn  auch  keine  welterschütternde, 
so  doch  ehrliche  Arbeit  geleistet. 

Doktorwürde.  Das  althergebrachte  Recht  der  Universitäten,  Doktoren  zu  kreieren, 

das  jetzt  in  etwas  modifizierter  Gestalt  auch  den  technischen  Hochschulen 
verliehen  ist,  erscheint  mir  für  die  Fortpflanzung  der  Wissenschaft  von 
erheblicher  Bedeutung.  Mag  auch  der  allergrößte  Teil  der  Doktoren  in 
praktische  Berufe  übergehen,  die  wenig  unmittelbare  Berührung  mit  dem 
Gegenstande  ihrer  speziellen  Promotionsschrift  bieten,  so  nehmen  sie  doch 
einen  goldnen  Schimmer  idealer  Begeisterung  mit  in  die  trockene  Praxis, 
und  nicht  wenige  auch  den  fortwirkenden  Anreiz,  sich  weiter  in  wissen- 
schaftlicher Arbeit  zu  betätigen,  die  beste  Schutzwehr  gegen  das  Ver- 
sinken in  Handwerkertum  und  Strebertum. 

Fortbiidungs-  Einen  kräftigen  Antrieb  zu  weiterer  wissenschaftlicher  Betätigung  und 

zeitweilige  Rückkehr  zu  der  idealen  Universitätszeit  geben  die  in  neuester 
Zeit  auf  allen  Gebieten  eingerichteten  Ferienkurse  und  Fortbildungs- 
kurse. Sowohl  die  Theologen,  die  auf  einer  Landpfarre  von  der  Weiter- 
bildung abgeschnitten  sind,  als  die  Lehrer,  die  im  strengen  Dienst  der 
Schule  nur  zu  leicht  ermatten  und  im  alten  Geleise  müde  weiter  trotten, 
nicht  minder  die  Juristen  und  Verwaltungsbeamten,  vor  allem  aber  die 
praktischen  Ärzte  haben  dadurch  die  gern  benutzte  Gelegenheit,  während 
der  Ferienzeit  an  den  Universitäten,  zum  Teil  auch  sonst  in  eigens  dafür 
eingerichteten  Instituten  sich  mit  den  neuesten  Fortschritten  der  Wissen- 
schaften bekannt  zu  machen  und  so  deren  Entdeckungen  sofort  in  die 
Praxis  umzusetzen  und  die  ganze  Nation  damit  zu  bereichern  und  zu 
•  heben. 
Privatdozenteu-  Ursprünglich    verlieh    der  Doktorhut    an    den   europäischen  Universi- 

täten ohne  weiteres  die  venia  legendi.  Dies  besagt  ja  auch  der  Name 
doctor.  In  der  Tat  ist  für  den  Übergang  zur  akademischen  Dozenten- 
tätigkeit das  Doktorexamen  die  einzige  wirkliche  Prüfung.  Deim  für 
die  Habilitation  verlangt  man  in  den  meisten  deutschen  Fakultäten  nur 
Vorlage  einer  gedruckten  oder  geschriebenen  Arbeit,  die  von  der  Weiter- 
arbeit des  Habilitanden  auf  seinem  Spezialgebiete  Zeugnis  ablegt,  ferner 
einen  kurzen  wissenschaftlichen  Vortrag  nach  selbstgewähltem  Thema,  und 


tum. 


III.   Hochschulbildung.  615 

daran  schließt  sich  eine  freundschaftliche  Besprechung  mit  den  Vertretern 
des  Faches.  Auf  diese  leichten,  wie  viele  meinen,  allzuleichten  Bedingnngen 
hin  erhält  der  junge  Gelehrte  von  den  Fakultäten  die  Erlaubnis,  in  freiester 
Weise  und  ohne  jede  Verpflichtung  sich  an  dem  Unterrichte  der  Univer- 
sität zu  beteiligen.  Diese  unverantwortlichen  und  nicht  vom  Staate  be- 
stellten Dozenten  sind  also  die  privilegierten  Konkurrenten  der  staat- 
lich angestellten  und  verantwortlichen  Professoren.  Die  Korporation  ge- 
stattet und  befördert  aber  diese  Konkurrenz,  auch  wenn  kein  Lehrbedürf- 
nis vorliegt,  in  der  liberalsten  Weise.  Denn  die  Fakultäten  sind  es,  denen 
vor  allen  die  Frage  um  den  akademischen  Nachwuchs  am  Herzen  liegt. 
Sie  sind  es,  auf  deren  Vorschlag  in  der  Regel  (aber  nicht  immer)  aus  den 
Reihen  der  bei  ihnen  oder  anderswo  habilitierten  Privatdozenten  bewährte 
und  befähigte  Gelehrte  zu  den  außerordentlichen  oder  ordentlichen  Pro- 
fessuren von  der  Regierung  berufen  werden.  Daraus  ergibt  sich,  daß  es 
eigentlich  sinnlos  ist,  wenn  ältere  Arzte  oder  Beamte,  die  gar  nicht  mehr 
daran  denken,  auf  die  Lehrstühle  der  Universitäten  berufen  zu  werden, 
oder  gar  bereits  anderswo  als  Ordinarien  oder  Extraordinarien  tätig  ge- 
wesene Professoren  sich  in  die  Reihe  dieser  jungen  Noblegarde  eindrängen 
und  den  schweren  Kampf  ums  Dasein,  von  dem  die  meisten  Privat- 
dozenten zu  erzählen  wissen,  ohne  rechten  Nutzen  für  die  Organisation 
noch  schwerer  machen.  Das  Privatdozententum  ist  eine  Übungsschule 
für  angehende  Professoren  und  keine  Arena  für  Pensionäre.  Deshalb 
gehen  manche  Fakultäten  in  neuerer  Zeit,  wo  der  Mißbrauch  des  Dozenten- 
privilegiums  stark  zunimmt,  mit  Strenge  gegen  jenes  Afterdozententum  vor. 

Man  hat  versucht,  das  echt  deutsche  Institut  der  Privatdozenten,  dessen 
Lichtseiten  die  Schattenseiten  bei  weitem  überwiegen,  auch  in  anderen 
Ländern  einzuführen.  Aber  da  es  mit  unserem  Korporationssystem  eng 
verwachsen  ist,  läßt  es  sich  nicht  leicht  den  andersartigen  Organisationen 
des  Auslandes  aufpfropfen. 

Den  Hauptvorzug  dieses  Institutes  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  er- 
blicke ich  vor  allem  in  der  Jugend  der  Dozenten,  die  am  wirksamsten 
die  Erstarrung  in  Dogmatismus  und  Autoritätsanbetung  verhütet.  Wo  der- 
gleichen in  einer  Fakultät  oder  einer  Disziplin  sich  breit  macht,  wirkt  die 
firische  und  fröhliche  Opposition  eines  tüchtigen  jungen  Gelehrten  oft 
geradezu  befreiend  auf  die  Studierenden.  Ein  zweiter  unschätzbarer  Vor- 
zug besteht  in  der  Unabhängigkeit  ihrer  Stellung.  Abgesehen  von  der 
Beschränkung,  die  durch  die  von  ihnen  selbst  gewählte  Fachbegrenzung 
gegeben  ist.  lehren  die  Privatdozenten  völlig"  frei,  unverantwortlich  und 
unkontrolliert.  Diese  Freiheit  bildet  ein  wichtiges  Gegengewicht  gegen 
die  durch  ihre  Beamtenqualität  und  ihre  staatliche  Vokation  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  gebundenen  ordentlichen  und  außerordentlichen  Professoren. 
Vor  allem  aber  bildet  diese  in  einzelnen  Fächern  oft  sehr  zahlreiche 
Phalanx  jugendlicher  Lehrkräfte  ein  heilsames  Gegengewicht  gegen  die 
vegeta  senectus,  die  in  den  Fakultäten  die  Oberhand  hat.     Wenn  z.  B.  an 


f,  j  ()  Hermann  Diels:   Die  Or^'anisation  der   Wissenschaft. 

der  Berliner  Universität  kein  Ordinarius  unter  40,  viele  aber  über  70  tätig 
sind,  wenn  dort  das  Durchschnittsalter  des  Ordinarius  zur  Zeit  (1905) 
58  Jahre  beträgt,  so  wäre  dieses  Überwiegen  der  Senioren  eine  ernste 
Gefahr  für  die  Fortbildung  der  Wissenschaft  und  die  Frische  des  Unter- 
richts, wenn  eben  nicht  eine  viel  zahlreichere,  tüchtige  Dozentenjugend 
den  Älteren  zur  Seite  stünde. 

Leider  gibt  es  nicht  allzu  viele  unter  diesen  jungen  Dozenten,  die 
finanziell  völlig  unabhängig  sind.  Viele  sind  genötigt,  Staatsstipendien 
in  Anspruch  zu  nehmen,  was  sowohl  von  der  empfehlenden  Fakultät  wie 
von  der  verleihenden  Regierung  abhängig  macht.  Allein  da  es  notwendig 
ist,  auch  die  mittellosen  Talente  für  die  akademische  Laufbahn  zu  ge- 
winnen und  zu  erhalten,  und  da  nur  wenige  Fächer  den  Dozenten,  zumal 
an  kleineren  Universitäten,  ein  hinreichendes  Vorlesungshonorar  einbringen, 
so  hat  man  bisher  in  Deutschland  kein  anderes  Mittel  ausfindig  machen 
können,  sich  des  notwendigen  Nachwuchses  für  die  akademische  Lauf- 
bahn auf  alle  Fälle  zu  sichern  als  diese  sehr  liberal  verwalteten  Privat- 
dozentenstipendien. Aber  diese  Einrichtung  hat  auch  ihre  große 
Schattenseite.  Da  man  eben  sehr  liberal  verfährt,  wird  mancher,  der 
keinen  wirklichen  Beruf  zum  Forscher  und  Lehrer  besitzt,  über  die  Jahre 
hinaus  in  dieser  Laufbahn  erhalten,  in  denen  er  noch  seinen  Beruf  mit 
Vorteil  wechseln  könnte.  Auch  hier  wird  aus  falschem  Mitleid  manche 
vener abilis  senectus  großgezogen,  die  mit  dem  eigentlichen  Zwecke  des 
Dozenteninstituts  nicht  vereinbar  ist.  Es  sollte  vielmehr  grundsätzlich  nur 
den  jüngeren  Dozenten  von  Talent  verliehen  werden,  um  ihnen  die  Über- 
gangszeit vom  Universitätsstudenten  zum  Universitätsprofessor  möglichst 
zu  erleichtern,  jene  Zeit,  wo  die  Knospen  ansetzen,  die  in  dem  sich  stets 
erneuenden  Lenz  der  Wissenschaft  aufgehen  sollen.  In  diesen  zarten 
Jahren  alle  Sorgen  und  Stürme  von  dem  jungen  Forscher  fern  zu  halten, 
sollte  das  Hauptbestreben  sein.  Wenn  dann  die  Knospen  aufspringen 
und  Früchte  tragen,  ist  die  Zukunft  des  Forschers  von  selbst  gesichert. 
Denn  ein  Übergehen  fruchtbarer  Talente  ist  im  Universitätsleben  ein  Aus- 
nahmefall. .Setzen  aber  die  Knospen  nicht  an,  so  sollte  der  unfruchtbare 
Baum  je  eher  je  lieber  in  ein  anderes  g-eeignetes  Erdreich  versetzt  werden. 
Die  Wissenschaft  wenigstens  wird  dabei  nichts  verlieren. 

Da,  wie  gesagt,  unser  deutscher  Privatdozent  nicht  ohne  weiteres 
übertragbar  ist  auf  die  auswärtigen  Universitätsverhältnisse,  so  hat  man 
sich  in  den  englischen  Colleges  und  in  den  französischen  Universitäts- 
instituten in  anderer  und  zum  Teil  trefflicher  Weise  zu  helfen  gesucht. 
Ich  kann  hierauf  nicht  genauer  eingehen,  möchte  aber  nicht  unterlassen, 
auf  eine  verwandte  Pariser  Stiftung  hinzuweisen,  die  erst  neuerdings  ins 
Leben  getreten  und  daher  bei  uns  noch  wenig  bekannt  ist. 
FondationThicrs.  In  der  schönstcn  Vorstadt  von  Paris,  Passy,  nahe  dem  Eingange  zum 
Bois  de  Boulogne,  erhebt  sich  in  einem  großen,  schön  gepflegten  Garten 
ein  imposantes  Schloß,   das  dem  Vermächtnis  der  Witwe    von  Thiers  und 


III.  Hochschulbildung.  6 1 7 

deren  Schwe.ster  verdankt  wird.  Diese  Fondation  Thiors,  1892  gestiftet, 
ist  bestimmt,  15  Stipendiaten  aller  Wissenschaften  aufzunehmen,  die  dort 
ohne  jede  Verpflichtung  für  die  Zukunft  völlig  sorgenfrei  ihren  .Studien 
obliegen  sollen.  Jeder  dieser  Glücklichen  verfügt  über  ein  geräumiges 
Wohn-  und  Schlafzimmer,  daneben  über  schöne  Eß-  und  Spielsäle.  Eine 
große  Bibliothek  aller  Wissenschaften  mit  Lesesälen  steht  zu  ihrer  freien 
Verfügung.  Außer  dem  wertvollen  Grundbesitz  steht  der  Fondation  Thiers 
jährlich  eine  Rente  von  120000  Frs.  zu  Gebote.  Davon  wird  der  gemein- 
same Tisch,  die  Gehälter  des  daselbst  wohnenden  Direktors,  des  Biblio- 
thekars und  Schatzmeisters,  ferner  Bedienung,  Heizung  und  Beleuchtung, 
endlich  das  Taschengeld  der  15  Stipendiaten  (jährlich  je  1200  Frs.)  be- 
stritten. Der  Aufenthalt  in  diesem  Elysium  dauert  ein  Jahr,  wird  aber  in 
der  Regel  auf  2  und  3  Jahre  verlängert.  Nach  dreijährigem  Aufenthalte 
erhält  jeder  noch  ein  Viaticum  von  1800  Frs.  Doch  kann  ihm  diese 
Summe  auch  schon  früher  zu  Studienreisen  oder  zur  Konstruktion  von 
Apparaten  zur  Verfügung  gestellt  werden.  Die  Verwaltung  und  wissen- 
schaftliche Oberleitung  liegt  in  den  Händen  eines  angesehenen  und  dazu 
besonders  geschickten  Gelehrten.  Ihm  steht  das  Kuratorium  zur  Seite,  das 
aus  den  Spitzen  der  gelehrten  Institute  von  Paris  zusammengesetzt  ist. 
Die  Stipendiaten  dürfen  nicht  über  26  Jahre,  nicht  mehr  dienstpflichtig, 
noch  nicht  verheiratet  sein.  Zum  Ausweis  ihrer  wissenschaftlichen  Be- 
fähigung dient  abgelegtes  Staats-  oder  Doktorexamen.  Auch  die  Lösung 
einer  von  der  Akademie  gestellten  Preisaufgabe  legitimiert  zum  Eintritt 
in  die  Stiftung.  Für  den  Fortbezug  des  Stipendiums  auf  ein  zweites  oder 
drittes  Jahr  genügt  die  jährliche  Einreichung  von  Studienproben.  Man 
sieht,  daß  hier  ideale  äußere  Bedingungen  geschaffen  sind,  in  der  Stille  ein 
Talent  zu  bilden  und  das  „große  Buch"  zu  reifen,  das  die  gelehrte  Lauf- 
bahn eröffnet  und  in  I-Vankreich  bei  den  zahllosen,  hohen  Preisen,  die  das 
Institut  de  France  alljährlich  zu  vergeben  hat,  auch  von  materiellem  Er- 
folge begleitet  zu  sein  pflegt. 

Die  Einrichtung  dieses  Gelehrtenheims  ist  offenbar  den  archäologischen 
Instituten  nachgebildet,  wie  sie  zuerst  auf  preußische  Anregung  hin  in  Rom 
organisiert,  dann  auch  in  andern  historischen  Stätten  und  für  andere  histo- 
rische Zwecke  von  fast  allen  bedeutenderen  Kulturstaaten  errichtet  worden 
sind.  Der  große  Vorzug  der  Fondation  Thiers  vor  jenen  archäologischen 
und  historischen  „Instituten"  besteht  darin,  daß  hier  keine  Hypertrophie 
eines  bestimmten  Faches  künstlich  erzeugt  wird,  wie  dies  im  archäologischen 
Fache  eine  Zeitlang  in  Deutschland  geschah,  sondern  daß  möglichst  gleich- 
mäßig alle  Hauptfächer  bedacht  werden.  Ferner  erfahren  jene  Stipendiaten 
durch  das  innige  Zusammenleben  mit  der  Elite  der  gleichaltrigen  gelehrten 
Jugend  unter  der  Leitung  eines  universell  gebildeten  Direktors  und  unter 
bequemster  Benutzung  einer  universellen  Bibliothek  die  vielseitigste  Be- 
fruchtung, die  unseren  deutschen  Privatdozenten  nur  unter  besonders  gün- 
stigen    Umständen     in     kleinen    Universitätsstädten     zuteil    werden    kann. 


Ajg  Hkkmamn   DiELS:   Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Es  wäre  zu  wüiisrheii,  daß  einsichtige  Millionäre  bei  uns  mit  der  edlen 
Witwe  des  französischen  Staatsmannes  zu  wetteifern  suchten,  oder  daß  der 
Staat  wenigstens  für  Berlin,  wo  ein  solches  Institut  am  nötigsten  wäre,  in 
ländlicher  Gegend  ein  solches  modernes  Kloster  errichtete,  das  für  die 
Förderung  der  Wissenschaft  nicht  minder  wichtig  und  fruchtbringend  sich 
erweisen  dürfte  als  alle  die  großartigen  Institute  der  Einzelwissenschaften, 
auf  die  der  spezialisierenden  Richtung  des  19.  Jahrhunderts  gemäß  die 
Aufmerksamkeit  und  Gunst  der  Gelehrten  wie  der  Regierungen  und  des 
Publikums  noch  immer  allzu  einseitig  gerichtet  ist. 

Wissenschaft-  In   dicseu   Einzelinstituten    entwickelt    sich   nun    freilich    auch    eine 

"""""■günstige  Gelegenheit  für  junge  Gelehrte,  im  Schatten  der  Hochschulen 
ihre  gelehrten  Studien  fortzusetzen  und  zur  Reife  zu  bringen.  Indem  sie 
als  Assistenten  sei  es  im  Unterricht  der  Studierenden  oder  in  der  Ver- 
waltung der  Museen  ihre  Hauptkrcift  dem  öffentlichen  Dienste  widmen, 
verschaffen  sie  sich  die  Möglichkeit,  in  ihrer  freien  Zeit,  unterstützt  durch 
die  Bibliotheken  und  Sammlungen  ihrer  Fachinstitute,  unterstützt  auch 
durch  den  Rat  und  das  Vorbild  ihrer  älteren  Kollegen  und  Vorgesetzten 
sich  auf  die  Habilitation  vorzubereiten  oder  als  habilitierte  Dozenten  die 
harten  Jahre  des  Wartens  ruhiger  auszuhalten. 
Assistententum.  Von    besondcrem   Vorteil   erweist   sich    dieser   Anschluß   für   die   Aus- 

bildung in  der  Medizin  und  den  Naturwissenschaften,  aber  auch  für  die 
meisten  anderen  Zweige  ist  die  gegenseitige  Berührung  älterer  und  jüngerer 
Generationen  dem  Ausbau  der  Wissenschaft  höchst  förderlich.  Wie  das 
imposante  Wissenschaftsgebäude  des  Aristoteles  undenkbar  wäre  ohne  die 
selbstlose  Mitarbeit  und  die  befruchtende  Detailforschung  seiner  „Assi- 
stenten" Theophrastos,  Eudemos,  Kallisthenes,  so  hat  sich  auch  in  der 
modernen  Zeit  das  Assistententum,  das  sich  um  hervorragende  Meister 
sammelte,  für  die  Wissenschaft  selbst  wie  für  ihre  Ausbreitung  und  Lehre 
als  höchst  förderlich  erwiesen. 

Auch  für  den  praktischen  und  theoretischen  Unterricht  sind  die  Assi- 
stenten vom  höchsten  Werte.  Sie  stehen  schon  durch  ihr  Alter  den 
Studierenden  näher  und  scheuchen  nicht  durch  ihren  gelehrten  Nimbus 
den  Schüchternen  zurück.  So  bilden  sie  die  natürliche  Brücke  zwischen 
Alter  und  Jugend,  Professor  und  Schüler. 

Fakultäten  der  D'c    wisseuschaftUche    und    pädagogische    Oberleitung    der    deutschen 

umversitat.  Tjj^.^.gj.g-^j^^gj^  j-^g.^  ^^j^  alters  in  der  Hand  der  Fakultäten,  denen  bei 
den  technischen  Hochschulen  die  etwas  anders  organisierten  „Abteilungen" 
entsprechen.  Die  Fakultäten  sind  in  erster  Linie  für  die  Vollständigkeit 
und  zweckentsprechende  Einrichtung  des  wissenschaftlichen  Unterrichtes 
verantwortlich.  Von  den  vier  Fakultäten,  die  an  den  meisten  deutschen 
Hochschulen  bestehen,  sind  drei  in  engster  Beziehung  zu  den  praktischen 
Berufen  geblieben:  die  theologische,  juristische  und  medizinische.  Die 
philosophische  Fakultät  dagegen,  die  sich  erst  im  19.  Jahrhundert  reicher 
entwickelt  hat,   ist  einerseits  Vorbildungsanstalt  für  die  andern  Fachfakul- 


III.  Hochschulbildung.  6ig 

täten  (so  speziell  für  die  medizinische),  anderseits  Fachschule  zur  Aus- 
bildung des  höheren  Lehrstandes.  Daneben  aber  ist  gerade  in  der  philo- 
sophischen Fakultät  der  eigentliche  wissenschaftliche  Gesichtspunkt,  der 
eine  universelle  Vertretung  aller  Disziplinen  ohne  Rücksicht  auf  die  Praxis 
und  den  Xutzen  des  Lebens  fordert,  mehr  und  mehr  zur  Geltung  ge- 
kommen. Denn  weit  über  die  Bedürfnisse  der  eigentlichen  bürgerlichen 
Berufe  hinaus  haben  auch  wissenschaftliche  Fächer  ohne  praktische  Be- 
deutung wenigstens  auf  den  größeren  Universitäten  ihre  anerkannten  Ver- 
treter erhalten.  So  verkörpert  die  philosophische  Fakultät  am  meisten 
das  Ideal  der  „Wissenschaft  um  der  Wissenschaft"  willen.  Doch  hat  sich 
nicht  bloß  in  dieser  Fakultät,  sondern  an  der  ganzen  Universität  bei  uns 
in  Deutschland  die  Tendenz  lebendig  gezeigt,  über  die  Anforderungen  des 
„Brotstudiums"  hinaus  zu  wissenschaftlicher  Abrundung  und  Vollständig- 
keit vorzudringen.  Es  ist  durch  dieses  hochgerichtete  Streben  unzweifel- 
haft auf  unseren  Universitäten  ein  wissenschaftlicher  Hochstand  erreicht 
worden,  der  uns  mit  Stolz  erfüllen  mag.  Allein  es  hat  doch  gegen  diesen 
allzu  akademischen  Betrieb  weder  innerhalb  der  Korporationen  noch  außer- 
halb, namentlich  bei  den  Regierungen,  die  von  Staats  wegen  das  Aufsichts- 
recht ausüben,  an  Widerspruch  und  Widerstand  gefehlt. 

Da  die  RecfieninEfen,  auch  abgesehen  von  dem  Besetzungsrecht  der  wisscnschaft- 
vakanten  Professuren,  das  sie  in  Deutschland  meist  nach  den  Vorschlagen  komraission. 
der  Fakultäten  ausüben,  die  Anforderungen  der  Staatsprüfungen  feststellen 
und  die  Prüfungskommissionen  selbständig  ernennen,  so  sind  sie  leicht 
in  der  Lage,  hierdurch  die  allzuweit  gehende  Vernachlässigung  der  prak- 
tischen Staatsbedürfnisse  einzudämmen.  Allein  diese  Korrektur  der  aka- 
demischen Überwissenschaftlichkeit  durch  praktische  Untervvissenschaft- 
lichkeit  ist  nicht  unbedenklich.  Denn  sie  erzeugt  in  den  Köpfen  der 
studierenden  Jugend  die  gefährliche  Vorstellung  von  zwei  Wissenschaften, 
von  denen  man  die  eine  „braucht"  und  die  andere  „nicht  braucht".  Daher 
wäre  es  richtiger,  wenn  die  Universität  selbst  sich  auf  ihren  Doppelzweck 
besänne  und  in  ihrem  Unterricht  selbst  in  ausreichendem  Maße  für  die 
praktischen  nicht  minder  wie  für  die  theoretischen  Bedürfnisse  der  Studie- 
renden sorgte.  Die  Universitätspädagogik,  die  man  möglichst  wenig  im 
Munde  führen  und  möglichst  ausgiebig  zur  Anwendung  bringen  sollte, 
verlangt,  daß  die  Studierenden  in  organischer  Weise  sich  ihre  Kenntnisse 
aneignen  und  im  methodischen  Fortschreiten  vom  Leichteren  zu  dem 
Schwereren,  von  den  Elementen  zu  den  Höhen  der  Wissenschaft  empor- 
steigen. Diese  Stufenfolge  zu  organisieren,  aber  ohne  die  kostbare  Studien- 
freiheit irgend  anzutasten  oder  Zwangskollegien  einzuführen,  sollte  die 
Hauptaufgabe  der  Fakultäten  oder  in  der  vielgespaltenen  philosophischen 
Fakultät  der  Vertreter  der  einzelnen  Gruppen  sein.  Es  handelt  sich  dabei 
nicht  bloß  um  sogenannte  Studienpläne,  die  z.  B.  in  den  historischen  Dis- 
ziplinen recht  farblos  ausfallen  müssen,  sondern  um  sorgfältig  erwogene, 
auf  Jahre  hinaus  vorbedachte  Vorlesungszyklen,  und   vor  allem  um  syste- 


^20  Hkrmann    Diels:    Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

matisch  abg-estufte  Übungskurse,  die  zwischen  den  Haupt  Vertretern  eines 
Faches  und  den  Vorstehern  der  betreffenden  Fachinstitute  und  Seminarien 
vereinbart  werden  müssen.  Wo  die  Professoren  -diese  praktische  Seite 
nicht  genügend  ins  Auge  fassen,  wo  sich  banausisches  Schmarotzertum 
(genannt  „Einpauker")  neben  der  staatlichen  Organisation  breit  m.achen 
kann,  darf  von  normaler  Konstitution  der  Universitätsverhältnisse  nicht 
die  Rede  sein. 
Akademische  Dic    größte    Verwunderung    aller   Ausländer   erregt    es,    daß   Deutsch- 

Fr'Szügigkeit.  land,  das  fast  als  das  Vaterland  des  Polizeiregiments  und  der  bureau- 
kratischen  Reglementierung  erscheint,  seinen  Universitäten,  den  Professoren 
sowohl  wie  den  Studenten,  so  viel  Freiheit  läßt  wie  sonst  nirgends  auf  der 
Welt.  Es  ist  leicht  zu  zeigen  und  wohl  auch  allgemein  anerkannt,  daß 
diese  Freiheit  sich  erst  im  abgelaufenen  Jahrhundert  voll  entfaltet  und  sich 
als  das  eigentliche  Ferment  der  reichen  Universitätsentwicklung  erwiesen 
hat.  Für  die  Wissenschaft  ist  diese  Lehrfreiheit  der  Professoren  und 
die  Lernfreiheit  der  Studierenden  in  der  Tat  die  conditio  sine  qua  non. 
Das  Vertrauen,  daß  aller  Überschwang  und  alle  Verkehrtheit  das  Heilmittel 
in  sich  selbst  trägt,  hat  sich  in  der  inneren  Geschichte  der  Wissenschaften 
stets  bewährt.  Auch  in  der  Universitätspraxis  hat  sich  dasselbe  gezeigt. 
So  darf  man  hoffen,  daß  alle,  die  je  dieser  Freiheit  sich  erfreut,  sie  auch 
künftig  unangetastet  lassen  und  nicht  gleich  nach  der  Polizei  rufen,  wenn 
sonderbare  Auswüchse  des  Wissenschaftsbetriebes  sich  irgendwo  ent- 
wickeln. Mit  dieser  Freiheit  der  deutschen  Universitätsorganisation  ist 
die  Freizügigkeit  sowohl  der  Lehrenden  wie  der  Lernenden  mitrennbar 
verbunden.  Da  die  Ähnlichkeit  der  Organisation  sich  auch  auf  die 
schweizerischen  und  österreichischen  Universitäten  deutscher  Zunge  er- 
streckt, so  ist  auch  hier  ein  segensreicher  Austausch  der  Schüler  und 
Professoren  üblich.  Auch  mit  den  stammverwandten  skandinavischen  und 
niederländischen  Universitäten  hat  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Austausch  von 
Lehrern  stattgefunden.  Doch  ist  der  Anreiz  für  unsere  Studenten,  in  diese 
Universitäten  des  Auslandes  zu  gehen,  durch  die  Sprachverschiedenheit 
bisher  gehemmt  worden.  Nur  die  französischen  Universitäten  der  Schweiz 
und  Frankreichs  werden  zur  Erlernung  der  „Diplomatensprache"  von  den 
angehenden  Juristen  häufig'er  aufgesucht. 
Professoren-  In  ueuestcr  Zeit  ist  zu   diesem   althergebrachten  Wechsel  der  Profes- 

soren und  Studierenden  noch  ein  in  Amerika  und  Deutschland  von  Seiten 
der  Regierungen  patronisierter  Austausch  der  Dozenten  auf  kurze  Zeit 
getreten.  Einige  Hauptuniversitäten  der  Vereinigten  Staaten  Amerikas 
sind  mit  unseren  Hochschulen  in  Verbindung  getreten.  Hervorragende 
amerikanische  Dozenten  haben  in  ihrer  Muttersprache  bei  uns,  ebenso 
haben  ausgezeichnete  deutsche  Professoren  teils  deutsch  teils  englisch  in 
Amerika  Vorlesungen  gehalten.  Diese  Institution  ist  noch  zu  neu,  um 
ein  endgültiges  Urteil  über  den  Nutzen  fällen  zu  können.  Läßt  man  die 
politische   vSeite    der   Sache,    wie  billig,    beiseite,    so  ist  keine  Frage,    daß 


austausch. 


III.  Hochschulbildung.  52  1 

sowohl  die  ausgewechselten  Professoren  als  die  sie  hörenden  Studenten 
großen  Vorteil  durch  einen  solchen  Wechsel  haben  können,  namentlich 
aber  die  amerikanischen  Professoren,  die  den  deutschen  Universitätsbetrieb 
von  innen  kennen  lernen,  und  die  deutschen  Studenten,  die  nicht  wie  ihre 
amerikanischen  K-ommilitonen  über  das  große  Wasser  zu  gehen  und  ihren 
Horizont  durch  Auslandsreisen  zu  erweitern  gewohnt  sind.  Es  kann  nicht 
ausbleiben,  daß  durch  diese  intimeren  Berührungen  sich  die  Hochschulen 
der  zivilisierten  Länder  näher  kommen  und  daß  sie  das  Gute,  das  ihnen 
fehlt,  wechselseitig  zu  importieren  bemüht  sein  werden. 

Wir  sehen,  daß  seit  etwa  einem  Menschenalter  die  uralten  starren  universitsw- 
Typen  der  Universitätsorganisationen  in  Bewegung  geraten  sind.  Die  ^^"'' 
mittelalterliche  Einrichtung  der  enghschen  Colleges,  die  von  den  besten 
Köpfen  dieses  Landes  als  durchaus  veraltet  und  reformbedürftig  erklärt 
wird,  und  das  moderne  spezialwissenschaftliche  Fachschulenprinzip 
Frankreichs,  das  ebenfalls  dort  nicht  mehr  als  ausreichend  erscheint,  sind 
scharfe  Gegensätze,  die  in  dem  deutschen  System  ihre  glückliche  Aus- 
gleichung gefunden  zu  haben  scheinen.  Darum  wird  dieses  von  beiden 
Nationen  nicht  ohne  Neid  betrachtet  und  vielfach  zur  Nachahmung  emp- 
fohlen. Nun  ist  in  Amerika  ein  noch  modernerer  Tj^pus  von  Hochschule 
entstanden,  der  eine  Vereinigung  unserer  Universität  mit  der  Oberstufe 
unserer  Gymnasien  und  mit  den  technischen  Hochschulen  darstellt.  Es 
ist  zweifelhaft,  ob  dieser  Typus  uns  nachahmenswert  erscheinen  kann 
(wenigstens  sind  die  amerikanischen  Hochschulen  bestrebt,  sich  vielmehr 
unserer  Art  anzupassen),  allein  bei  einer  so  eminent  praktisch  begabten 
Nation,  wie  sie  die  nordamerikanische  Union  umfaßt,  ist  namentlich  in  der 
Technik  (z.  B.  der  Listitute  und  Bibliotheken)  vieles  auch  für  uns  höchst 
beachtenswert.  Vermutlich  wird  die  begonnene  Assimilation  der  Uni- 
versitäten, die  bei  dem  immer  reger  werdenden  internationalen  Verkehr 
unausbleiblich  ist,  die  Technik  des  Unterrichtes  mehr  beeinflussen  als  die 
der  wissenschaftlichen  Forschung.  Doch  macht  sich  auch  hier  das  Be- 
streben geltend,  die  experimentelle  und  statistische  Methode,  die  in  Amerika 
und  England  als  das  A  und  O  der  Science  betrachtet  wird,  auch  bei  uns 
über  den  Kreis  der  Natur-  und  Sozialwissenschaften  hinaus  auszudehnen. 
Vielleicht  wird  diese  mit  der  real-demokratischen  Tendenz  unserer  Zeit 
zusammenhängende,  ähnlich  auch  in  der  Mittelschulbewegung  erkennbare 
„exakte"  Tendenz  in  der  nächsten  Zeit  noch  Fortschritte  machen.  Im 
ganzen  aber  läßt  sich  vermuten,  daß  der  Typus  der  deutschen  Universi- 
täten, wie  er  sich  Hand  in  Hand  mit  ihren  praktischen  Zielen  gestaltet 
hat,  nicht  nur  bestehen  bleiben,  sondern  weitere  Ausdehnung  auch  im  Aus- 
lande linden  wird. 

Eins  freilich  fehlt  der  deutschen  wie  jeder  anderen  Universität.  Ist 
sie  auch  noch  so  vortrefflich  organisiert  und  eine  wirkliche  uuivcrsilas 
litteraruni  für  die  Lernenden:  den  Lehrenden  fehlt  jede  wissenschaftliche 
Gemeinsamkeit.    Sie  lehren  jeder  in  seinem  Auditorium,  sie  forschen  jeder 


^,,  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

in  seiner  Zelle,  aber  nie  findet  anders  als  in  Privatgesprächen  eine  päda- 
gogische oder  wissenschaftliche  Mitteilung  von  einem  zum  andern  statt. 
Die  Sitzungen  der  Fakultäten  und  des  Senats  beschäftigen  sich  mit  Prü- 
fungs-  und  Verwaltungsgeschäften,  aber  nicht  mit  der  unmittelbaren  För- 
derung der  Wissenschaft.  In  diese  Lücke  tritt  nicht  an  allen,  aber  an 
einigen  Universitäten  die  Akademie. 

Akademieen der         IV.    Wissenschaftliche    Akademieen.     Der  schöne  Name  Aka- 


Wissenschaften 


demie  stammt  bekanntlich  von  der  Gründung  Piatons,  der  seine 
Schule  im  stillen  Haine  des  Akademos  {Ferngau)  bei  Athen  gründete. 
Er  wird  aber  heutzutage  verschiedenen  z.  T.  ganz  heterogenen  Instituten 
beigelegt.  Unsere  staatlich  privilegierten  Akademieen  („Gelehrte  Ge- 
sellschaften") unterscheiden  sich  prinzipiell  von  allen  andern  wissen- 
schaftlichen Veranstaltungen  dadurch,  daß  sie  weder  dem  Unterrichte 
noch  sonstigen  praktischen  Zwecken  dienen,  sondern  lediglich  der 
Förderung  der  reinen  Wissenschaft.  Diese  Beschränkung  auf  die  theore- 
tische Seite  hat  sich  erst  in  der  neueren  Zeit  durchgesetzt.  Im  Altertum 
war  die  Akademie  und  ihre  Nachfolgerinnen  vielseitiger.  Aber  auch  in 
der  neueren  Zeit,  als  der  Staat  in  Frankreich  und  England  daran  ging, 
hervorragend  leistungsfähige  wissenschaftliche  Privatvereine  anzuerkennen 
und  als  Akademieen  zu  organisieren,  verfolgte  man  vor  allem  praktische 
Zwecke.  Nicht  nur  die  alten  französischen  und  englischen  Institute  dieser 
Art,  sondern  auch  noch  die  Leibnizsche  Gründung  in  BerUn,  sie  alle  haben 
bis  in  die  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts  hauptsächlich  oder  ausschließlich  die 
Naturwissenschaft  und  zwar  mit  ganz  bestimmten  praktischen  Zielen  ge- 
pflegt. Amerika  steht  im  ganzen  noch  heute  auf  diesem  Standpunkte. 
Erst  die  höhere  Anerkennung,  die  sich  im  i8.  Jahrhundert  die  Wissen- 
schaft als  solche  in  der  allgemeinen  Meinung  errang,  die  führende  Stellung, 
die  sich  die  Gelehrten  als  Führer  der  Aufklärungspartei  eroberten,  ge- 
stattete es  endlich  an  den  Ausbau  der  Wissenschaft  ohne  ängstliche  Rück- 
sicht auf  die  praktische  Rentabilität  zu  denken.  Wenn  Richelieu  das 
Verdienst  gebührt,  den  Wert  der  Akademieen  überhaupt  erkannt  zu  haben, 
so  verdankt  die  Wissenschaft  als  solche  die  hohe  Stellung  dem  Vorgange 
Friedrichs  des  Großen,  der  durch  seine  Teilnahme  und  Mitarbeit  an  den 
Forschungen  des  Berliner  Instituts  in  allen  Ländern  des  Kontinents  das 
Institut  der  Akademie  nobilitierte.  Das  19.  Jahrhundert  hat  entsprechend 
der  theoretischen  Entwicklung,  die  das  Universitätswesen  bei  uns  nahm, 
die  rein  „akademische"  Auffassung  der  Akademie  zur  vollen  Entwicklung, 
ja  vielleicht  zur  Überspannung  getrieben.  Denn  die  Verachtung  der 
Technik,  die  z.  B.  in  den  enghschen  und  französischen  Instituten  so  nie- 
mals bestanden  hat,  wäre  für  die  deutschen  Akademieen  vielleicht  ver- 
hängnisvoll geworden,  wenn  nicht  zur  rechten  Zeit  durch  äußere  und 
innere  Einflüsse  ein  Wandel  eingetreten  wäre. 
Ikademiefr  Die  Arbeit  der  Akademieen  richtet  sich  nach  verschiedenen  Seiten. 


IV.   Wissenschaftliche  Akadcmieen.  623 

Da  sie  finanziell  fast  überall  von  den  Regierungen  des  Landes  stark  ab- 
hängig sind,  besonders  auch  in  Deutschland,  so  ist  es  deren  gutes  Recht, 
diese  Körperschaften  zu  Gutachten  über  wissenschaftliche  Gegenstände 
in  erster  Linie  heranzuziehen.  Ein  nicht  geringer  Teil  der  akademischen 
Arbeit  bezieht  sich  daher  auf  diese  gutachtliche  Tätigkeit.  Aber  auch  in 
weiteren  Kreisen  haben  sich  fast  überall  die  Akademieen  das  Vertrauen 
der  Bevölkerung  erworben,  so  daß  ihnen  eine  Menge  von  Stiftungen  und 
ursprünglich  selbständigen  Instituten  allmählich  angegliedert  worden  ist. 
Hierdurch  vergrößert  sich  wie  die  Arbeit  so  auch  die  Finanzkraft  und  der 
Einfluß  dieser  Körperschaften  von  Jahr  zu  Jahr.  Neben  dieser  beratenden 
und  verwaltenden  Tätigkeit  beschäftigen  sich  die  Akademieen  in  ihren 
Sitzungen  hauptsächlich  damit,  neue  Forschungsergebnisse  auf  allen 
Gebieten  des  Wissens  zu  veröffentlichen.  Zu  diesen  Zwecken  werden  zu- 
nächst die  wissenschaftlichen  Aufgaben,  die  der  einzelne  Akademiker 
sich  selbständig  gestellt  und  selbständig  gelöst  hat,  in  den  Zusammen- 
künften den  sachverständigen  Kollegen  zur  Mitteilung  und  Diskussion 
vorgelegt.  In  einigen  Akademieen,  z.  B.  den  fünf  Parisem,  die  zusammen 
das  Institut  de  France  bilden,  ist  es  üblich,  das  Publikum  zuzulassen  und 
eine  lebhafte  Debatte  an  die  Vorträge  anzuschließen.  In  anderen  ist  die 
Öffentlichkeit  auf  einige  Festsitzungen  beschränkt,  und  eine  gelehrte  Er- 
örterung findet  auch  in  den  nichtöffentlichen  Sitzungen  nicht  regelmäßig 
statt.  Ja  an  manchen  Orten  ist  es  nur  üblich,  ein  kurzes  Referat  über 
den  Hauptinhalt  zu  geben  und  die  Beweise  und  Details  der  späteren 
Publikation  vorzubehalten.  Dies  abgekürzte  Verfahren  entspricht  wohl 
nicht  dem  Sinne  der  Institution.  Denn  wenn  die  Akademie  bloß  als  Ver- 
mittler zwischen  Autor  und  Drucker  dienen  soll,  so  scheint  ein  so  großer 
Apparat  nicht  nötig.  Vielmehr  kann  die  Teilnahme  der  Kollegen  dem 
Vortragenden  durch  Zustimmung,  Ergänzung  und  vor  allem  auch  durch 
Widerspruch  nur  förderlich  sein  und  selbst  die  still  zuhörenden  Mitglieder, 
wenn  sie  der  Sache  nur  einigermaßen  folgen  können,  werden  dem  leben- 
digen Vortrage  eines  Mitgliedes  (es  braucht  ja  kein  Vorlesen  zu  sein) 
mehr  Anregung  für  ihre  eigenen  Arbeiten,  mehr  Belehrung  für  die  wei- 
teren Gebiete  der  Wissenschaften  entnehmen  als  den  schön  gedruckten 
„Sitzungsberichten"  und  „Abhandlungen".  Nicht  bloß  für  die  Uni- 
versitäten, sondern  auch  für  die  Akademieen  erweist  sich  das  Geheimnis 
der  Viva  vox  als  wirksam. 

Unter    den   ordentlichen,    am  Orte   selbst  ansässigen  Mitgliedern  MitKUcder  der 

"  Ak.iucmiecn, 

haben  die  meisten  Akademieen  noch  eine  Anzahl  außerordentlicher  (aus- 
wärtige, korrespondierende  und  Ehrenmitglieder).  Am  zahlreichsten  ist 
die  Klasse  der  Korrespondenten,  die  ehedem,  als  ein  großer  Teil  der 
wissenschaftlichen  Publikation  sich  brieflich  abspielte,  sich  eifrig  be- 
teiligten, jetzt  dagegen  leider  nur  selten  wissenschaftliche  Mitteilungen  an 
ihre  Akademieen  richten.  Es  kommt  dies  daher,  daß  die  Ehre,  zum  korre- 
spondierenden  Mitgliede   weltberühmter   Akademieen    erwählt    zu    werden. 


()2A  Hekmann  DiELS;  Die  Organisation  der   Wissenschaft. 

wie  eine  hohe  Ordensdekoration  an  die  jedesmal  ältesten  Vertreter  der 
verschiedenen  Nationen  verteilt  zu  werden  pflegt.  Dies  ist  wider  den 
Sinn  der  Institution.  Denn  der  Korrespondent  sollte  fleißig  korrespon- 
dieren und  es  sollten  Veranstaltungen  getroffen  werden,  auch  persönliche 
Berührungen  der  auswärtigen  und  der  einheimischen  Mitglieder  bei  be- 
sonderen Gelegenheiten  herzustellen,  um  das  gänzlich  veraltete  und  ent- 
artete Institut  des  Korrespondententums  neu  zu  beleben.  Niemals  kann 
Ein  Land  und  Eine  Akademie  in  allen  Zweigen  der  Wissenschaft  stets  an 
der  Spitze  marschieren.  Ja  selbst  eine  vollständige  Vertretung  aller  an 
sich  zur  Totalität  der  Wissenschaft  gehörenden  Gebiete  ist  für  ein  In- 
stitut, und  wenn  es  das  größte  wäre,  unmöglich.  Wenn  es  nun  der  eigent- 
liche Zweck  der  Akademie  ist,  die  unendlich  gespaltenen  Teilwissen- 
schaften zu  einer  Universalwissenschaft  zusammenzufassen,  so  läßt  sich 
dieser  Zweck  nur  dadurch  erreichen,  daß  die  lokalen  Mitglieder  die  not- 
wendig vorhandenen  Lücken  durch  sorgfältig  getroffene  Korrespondenten- 
wahlen ergänzen.  Aber  freilich  müssen  diese  nun  auch  wirklich  sich 
für  die  Akademie  einsetzen  und  durch  schriftliche  und  mündliche  Mit- 
teilungen (der  Verkehr  wird  ja  immer  leichter)  den  Kontakt  mit  ihr  auf- 
recht erhalten. 
Mitarbeiter  der  GlückHchcrweise    fehlt    es    den   Akademieen    nicht    an    anderweitigen 

AUdemieen.  j^jj^g^^^gj^-gj-j^^  (;^ig^  ohnc  ZU  wartcn,  bis  sie  die  zur  Ehre  des  Korrespon- 
dententums nötige  Berühmtheit  erlangt  haben,  ihre  Mitteilungen  und  Ent- 
decktmgen  zur  Prüfung  einsenden.  Diesen  jungen  Gelehrten  ist  es  Lohn 
genug,  wenn  ihre  Arbeiten  in  den  akademischen  Schriften  neben  denen 
der  Mitglieder  abgedruckt  werden.  Diese  jugendfrische  Produktion  nicht 
zur  Akademie  gehöriger  Mitarbeiter  ist  ein  unentbehrliches  Gegengewicht 
gegen  etwaiges  Überwiegen  seniler  Produktion  innerhalb  einzelner  Fächer 
der  Akademieen.  So  sind  manche  der  bedeutendsten  und  folgereichsten 
Abhandlungen  in  den  Akademieschriften  des  vorigen  Jahrhunderts  aus 
den  Reihen  damals  noch  unberühmter  junger  Forscher  hervorgegangen. 
Dieses  Supplement  ist  an  Stelle  der  im  ganzen  versagenden  Mitwirkung 
der  Korrespondenten  zur  Abrundung  der  wissenschaftlichen  Universalität 
der  Akademieen  hochwillkommen  und  unentbehrlich. 

Den  Zweck,  den  die  einzelnen  Landesakademieen  nur  teilweise  er- 
reichen können,  eine  Integration  der  so  stark  verästelten  Einzelwissen- 
schaften zu  einem  Universalkorpus  darzustellen,  kann  auch  die  später  zu 
besprechende  Assoziation  der  Akademieen  nicht  völlig  verwirkUchen. 
Denn  ihre  Tagungen  sind  nicht  eigentlich  zur  Mitteilung  und  Diskussion 
wissenschaftlicher  Entdeckungen  bestimmt, 
bachkongresse.  Hingegen  ist  gerade   dies    den  wissenschaftlich   differenzierten  Fach- 

kongressen vorbehalten,  die  für  die  rasche  Verbreitung  neuentdeckter 
wissenschaftlicher  Tatsachen  oder  Methoden,  namentlich  auf  dem  natur- 
wissenschaftlichen Gebiete,  sich  überall  eingebürgert  haben.  Sie  würden 
noch  segensreicher  wirken,    wenn   die  Äußerlichkeiten   der    damit  verbun- 


IV.  Wissenschaftliche  Akadcmieen. 


625 


denen  Repräsentation  eingeschränkt  und  die  dadurch  angelockten  lokalen 
Schlachtenbummler  ferngehalten  würden. 

Wie  an  den  Universitäten,  so  werden  auch  an  den  Akademieen  zur  Prebaufnabcn. 
Lösung  wissenschaftlicher  Arbeiten  Preise  ausgesetzt.  Während  jene 
Aufgaben  stellen,  die  den  Kräften  tüchtiger  Studenten  angepaßt  sind, 
zielen  die  akademischen  Preise,  die  auch  höher  normiert  sind,  auf  um- 
fassendere und  ernstere  Gelehrtenarbeiten.  Gegen  beide  Arten  von  Preis- 
aufgaben zeigt  sich  in  neuerer  Zeit  eine  gewisse  Opposition.  Man  fordert, 
daß  sich  der  tüchtige  Gelehrte  die  seiner  Individualität  und  seiner  Kraft 
entsprechende  Aufgabe  selbst  auswählen  solle.  Andernfalls  werde  oft  viel 
kostbare  Zeit  und  Anstrengung  vergebens  aufgewandt  oder,  was  noch 
schlimmer  sei,  halb  genügende  Arbeiten  würden  aus  Gutmütigkeit  mit 
Preisen  und  Ehren  ausgezeichnet,  die  das  wissenschaftliche  Niveau  herab- 
drückten, die  preisverleihende  Körperschaft  in  der  allgemeinen  Achtung 
herabsetzten  und  schließlich  den  Preisträger  selbst  über  seine  Begabung 
täuschten.  Trotz  dieser  nicht  ganz  unbegründeten  Opposition  läßt  sich  nicht 
leugnen,  daß  die  Preisverteilung  sowohl  für  Universitäten  wie  Akademieen 
immer  noch  eine  gewisse  Bedeutung  hat  und  sich  für  die  Förderung  der 
Wissenschaft  als  segensreich  erweist.  Viele  Talente  sind  auf  diese  Weise 
entdeckt  und  gefördert  worden.  Manche  Gelehrte  sind  durch  geschickt  ge- 
stellte Aufgaben  erst  ihrer  eigentlichen  Begabung  inne  und  durch  die 
ehrenvolle  Belohnung  mit  Zuversicht  erfüllt  worden.  Vor  allem  ist  der 
Zwang,  eine  umfassende  Aufgabe  zu  einer  bestimmten  Zeit  fertig  stellen 
zu  müssen,  für  den  Forscher  wie  für  die  Wissenschaft  gleich  heilsam. 
Denn  wo  solcher  Zwang  nicht  besteht,  ist  der  Gelehrte  nur  allzu  geneigt, 
den  Abschluß  seiner  Arbeit  auf  unendliche  Zeit  zu  verschieben,  da  ihm 
nur  immer  mehr  be-^nißt  wird,  wie  jede  Aufgabe  in  das  Unendliche  führt 
Für  die  Wissenschaft  aber  bedeutet  es  oft  viel,  daß  eine  bestimmte  Auf- 
gabe, die  wie  ein  Felsblock  den  gangbaren  Weg  versperrt,  endlich  er- 
ledigt werde.  Eine  glücklich  gelöste  Preisaufgabe  macht  die  Straße  für 
eine  große  Reihe  nachfolgender  Forscher  frei,  wie  wir  es  namentlich  in 
den  mathematischen  Fächern  oft  erleben.  Wer  die  Wirkungen  dieser 
akademischen  Preisaufgaben  längere  Zeit  nach  der  persönlichen  wie  der 
wissenschaftlichen  Seite  hin  verfolgt  hat,  wird  im  ganzen  ein  goinstiges 
Urteil  über  diesen  Teil  der  akademischen  Tätigkeit  zu  fällen  geneigt  sein. 
Doch  hat  freilich  diese  ganze  Art  der  Wissenschaftsförderung  nicht  mehr 
die  hervorragende  Bedeutung  wie  im   18.  Jahrhundert. 

In  Frankreich  und  England  ist   eine  Hauptaufgabe   der  Akademieen  untcrstuuung 
und   gelehrten  Gesellschaften,    anerkannt    gute    Bücher    oder   bedeutende  TchcrFo/!" 
Entdeckungen    auf  dem    Gebiete    der  Wissenschaften    durch   Preise   oder     "'^'^^"' 
Medaillen  nachträglich  anzuerkennen.     Diese  Art  der  Anerkennung  fehlt 
auch  in  Deutschland  nicht  ganz.     Allein  hier  ist  die  Unterstützung  der 
noch    nicht    vollendeten    Arbeiten    beliebter.      Und    dies   mit   Recht. 
Wer  die  X-Strahlen  oder  den  Nordpol  entdeckt,  bedarf  fürder  weder  der 


Dm  Kultur  der  Gegenwart.    I.  i. 


40 


52  0  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Anerkennung  noch  der  Unterstützung  der  Akademieen,  namentlich  nach- 
dem die  „Nobelstiftung"  in  der  Lage  ist,  wirklich  große  Entdeckungen 
(natürlich  nur  der  Naturwissenschaft)  auch  entsprechend  zu  honorieren. 
Aber  die  jungen,  unerfahrenen,  unbekannten  Forscher  in  ihren  entsagungs- 
vollen und  aufreibenden  Arbeiten  zu  ermutigen,  zu  unterstützen,  zu 
leiten,  das  ist  wahrlich  eine  schöne  und  dankbare  Aufgabe  der  Aka- 
demieen, die  auch  dann  lohnt,  wenn  sich  nicht  jedesmal  als  Endergebnis 
der  unendlichen  Mühsal  ein  Goldklumpen  findet.  Es  scheint  daher  wohl- 
getan, wenn  die  deutschen  gelehrten  Gesellschaften  etwa  die  Hälfte  ihrer 
Einkünfte  auf  diese  Förderung  junger,  hoffnungsvoller  Talente  verwenden. 
Folgeunter-  Die  andere  Hälfte  pflegen   sie    (und   auch  hierdurch  unterscheiden  sie 

nelimuDgen  der     . 

Akademieen.  sich  vou  den  auslatidischen  Akademieen)  eigenen,  wissenschaftlichen  Ar- 
beiten, den  sogenannten  Folgeunternehmungen  zuzuwenden.  Solche 
Tätigkeit  ist  bereits  in  der  aristotelischen  Organisation  der  Akademieen 
mit  großem  Erfolge  ausgeübt  w^orden.  Alexandrien  ist  mit  seiner  lite- 
rarisch-bibliothekarischen Tätigkeit  nachgefolgt,  und  in  neuerer  Zeit  sind 
dergleichen  Riesenarbeiten  namentlich  von  den  Benediktiner-  und  Jesuiten- 
orden in  Angriff  genommen  worden.  Die  alten  Akademieen  haben  Ähn- 
liches auf  dem  Gebiete  der  nationalen  Wörterbücher  unternommen  [dclla 
Crusca,  Academie  frangaisc).  Die  Sammelwerke  der  Mauriner  haben  nach 
der  Revolution  die  Academie  des  Inscriptioiis  et  Beiles  Lcftres  zu  Paris 
seit  1816  fortgesetzt. 

Um  dieselbe  Zeit  war  es,  wo  das  neuerstandene  Preußen  seine  An- 
sprüche auf  Hegemonie  zunächst  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  zu  erweisen 
suchte.  Die  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  begann  das  Corpus 
inscriptionum  graccarum  (Boeckh)  und  die  Aristotelcsausgabe  (Schleier- 
macher). Sie  beteiligte  sich  auch  sofort  an  dem  damals  von  Stein  an- 
geregten Plan  der  Mormmenta  Gcrmaniae.  Später  und  weniger  energisch 
folgten  Naturwissenschaft  und  Mathematik  diesem  Beispiel  (Bessels  Stern- 
karten 1825 — 1859).  Erst  gegen  Ende  des  ig.  Jahrhunderts  sind  die  Fächer 
der  Zoologie  {„das  Tierreich^')  und  Botanik  {„das  Pflanzenreich")  zu  gleich 
umfassenden  Unternehmungen  fortgeschritten.  Die  Seele  dieses  „Groß- 
betriebes" der  Wissenschaften  ist  in  Deutschland  vor  allem  Mommsen 
gewesen,  der  durch  sein  Corpus  inscriptionwn  latinarum  ein  kaum  zu  über- 
bietendes Muster  großartiger  wissenschaftlicher  Organisation  geschaffen 
hat.  Es  sei  gestattet,  seine  Worte  über  den  Sinn  dieser  akademischen 
Folgeunternehmungen  aus  dem  Jahre  1882  hierherzusetzen.  Er  knüpfte 
damals  an  das  Aristotelesunternehmen  an,  das  jetzt  nach  drei  Menschen- 
altern der  Vollendung  entgegeng-eht  (182 1  bis  voraussichtlich  1907):  „Viel- 
leicht hat  die  Nützlichkeit  der  akademischen  Kontinuität  sich  nirgends  so 
glänzend  bewährt  wie  im  Gebiet  der  Aristotelesarbeiten.  Wie  das  Dichten, 
so  ist  auch  das  Forschen  ein  Übermut;  und  diesem  Meister  des  Wissens 
und  seiner  2000jährigen  Geschichte  gegenüber  tritt  die  Unzulänglichkeit 
der   individuellen  Erforschung  wohl   schärfer  hervor   als  irgendwo   sonst. 


IV.  Wissenschaftliche  Akadcmicen, 


627 


Aber  unsere  Akademie  ist  kein  Individuum  und  leistet  nach  vielen  Seiten 
hin  weniger,  aber  in  gewissen  Richtungen  auch  mehr.  Hier  trifft  das 
letztere  zu. . . .  Auf  diesem  Gebiete  hat  in  der  Tat  jede  reife  Frucht  aus 
sich  eine  neue  Blüte  entwickelt,  die  dann  wieder  ihrerseits  zur  Frucht 
geworden  ist;  und  auch  die  unreife  Frucht  ist  nicht  ganz  ohne  Nutzen  ge- 
blieben. Was  dem  Individuum  kaum  je  vergönnt  ist,  die  mangelhafte 
Schöpfung  durch  umfassenden  Neubau  zu  ersetzen,  das  vermag  im  Wechsel 
der  Zeiten  und  Personen  wohl  die  verständig  sich  leitende  Körperschaft." 
In  der  Tat  die  reicheren  Mittel,  die  vorsichtigere  Grundlegung  im  Schöße 
der  Kommissionen,  die  Kontinuität  der  Leitung,  endlich  die  sich  fort- 
erbende und  vermehrende  Erfahrung  der  Gesamtkörperschaft,  das  sind  die 
Vorteile  einer  solchen  Großunternehmung,  die  freilich  alle  nicht  hinreichen 
zum  Erfolge,  wenn  nicht  die  starke  Energie  der  leitenden  Persönlichkeiten 
die  nie  ausbleibenden  inneren  und  äußeren  Hemmungen  zu  überwinden 
weiß. 

Denn  eine  Schattenseite  aller  akademischen  Wirksamkeit  darf  nicht 
verschwiegen  werden.  Theoretisch  betrachtet  sollte  eine  solche  Sum- 
mierung von  geistigen  Kräften,  wie  sie  die  großen  Akademieen  darstellen, 
eine  unermeßliche  Energie  ergeben.  Aber  der  wirkliche  Effekt  bleibt 
hinter  dem  errechneten  um  ein  bedeutendes  zurück.  Das  liegt  nicht  bloß 
daran,  daß  die  meisten  Mitglieder  der  Akademieen  ihre  Kraft  nicht  un- 
geteilt dem  Institut  zur  Verfügung  stellen  können  (denn  die  Berührung 
mit  der  außerakademischen  Praxis  trägt  auch  wiederum  viel  zur  Belebung 
des  akademischen  Lebens  bei),  es  liegt  auch  nicht  daran,  daß  bisweilen 
ein  gut  Teil  Kraft  durch  innere  Kämpfe  und  Gegensätze  verbraucht  wird, 
wovon  die  Geschichte  der  Akademieen  manch  trauriges  Beispiel  liefert, 
es  liegt  vor  allem  daran,  daß,  wie  das  Dichten  und  Bilden,  so  auch  das 
Forschen  im  innersten  Wesen  individuell  sein  muß.  Es  gibt  Beispiele, 
daß  Dicht-  und  Bildwerke  von  mehreren  Verfassern  herrühren,  etwa  so, 
daß  der  eine  die  Landschaft  malt,  der  andere  die  Stafftige  zufügte,  oder 
daß  der  eine  die  Fabel  des  Lustspiels  erfindet,  der  andere  den  witzigen 
Dialog  dazu  schreibt.  Ja,  die  moderne  Welt  findet  es  nicht  barbarisch, 
wenn  Dichter  und  Komponist  eines  Liedes  oder  einer  Oper  fast  regel- 
mäßig verschiedene  Personen  sind.  Xur  Wagner  hat  hier  wie  die  Antike 
empfunden  und  lieber  mittelmäßige  eigene  als  vollendete  fremde  Verse  in 
Musik  setzen  wollen.  So  gibt  es  also  heutzutage  auf  allen  Gebieten  der 
Kunst  und  Literatur  Zwillingswerkc  und  das  vorliegende  große  Unter- 
nehmen setzt  wie  alle  Enzyklopädien  hundert  Hände  in  Bewegung.  Aber 
daß  eine  ganze  Akademie  oder  auch  nur  eine  ihrer  Kommissionen  ein 
wirklich  epochemachendes  wissenschaftliches  Werk  durch  gemeinsame 
Arbeit  zustande  gebracht  hätte,  davon  gibt  es  meines  Wissens  kein  Bei- 
spiel. Selbst  wo  geniale  Forscher  mit  beinah  unumschränkter  Vollmacht 
in  den  Akademieen  schalten  und  walten  durften:  ihr  Eigenstes  und  Bestes 
haben  sie  nicht  in  den  Akademieschriften  oder  gar  in  den  großen  Serien- 

40» 


A,«  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

folianten  niedergelegt.  Das  geniale  Werk  liebt  die  Einsamkeit.  Das  Genie, 
das  ein  solches  Geisteskind  unter  dem  Herzen  trägt,  hegt  eine  instinktive 
Scheu  davor,  davon  im  größeren  Kreise  zu  reden  oder  die  hochehrbaren 
Kollegen  als  Taufpaten  dazu  zu  bitten.  Denn  das  bedeutende  Buch  muß 
revolutionär  sein.  Es  wird  fast  stets  verwirrend  und  verblüffend  wirken 
und  ist  daher  nicht  geeignet,  wie  eine  Bombe  in  die  Mitte  eines  fried- 
lichen Kollegiums  geschleudert  zu  werden. 

Daher  bleibt  der  Großbetrieb  der  Akademieen  selbstverständlich  auf 
Unternehmungen  gerichtet,  deren  Methode  und  Ziel  feststeht,  die  aber 
Ausdauer,  Kenntnis  und  vor  allem  reiche  materielle  Mittel  zur  Ausführung 
verlangen.  Was  auf  diese  Weise  zustande  kommt,  ist  in  der  Regel  nicht 
selbst  Wissenschaft  der  höchsten  Potenz,  sondern  vor  allem  Mittel  zum 
Zweck,  Erleichterung  und  Sicherung  der  von  hier  aus  weiter  Strebenden, 
Logarithmentafeln  für  die  höhere  Wissenschaft. 
Wissenschaft-  Weil  dicsc  Art  akademischer  Tätigkeit  vor  allem  ständige,  gut  ein- 

'■  Ak^dcmf/en^gearbeitete  Mitarbeiter  verlangt  und  bei  stets  wechselnden  Arbeitsgenossen 
viel  Zeit  und  Kraft  durch  die  erneute  Einschulung  vergeudet  wird,  ist 
es  warm  zu  begrüßen,  daß  die  Berliner  Akademie  (in  Anknüpfung  an  ein 
früher  bei  der  französischen  Akademie  und  jetzt  noch  bei  der  Petersburger 
bestehendes  Institut  der  „Adjunkten")  seit  Anfang  dieses  Jahrhunderts  in 
den  Stand  gesetzt  worden  ist,  ständige  „wissenschaftliche  Beamte" 
für  die  wichtigsten  Folgeuntemehmungen  anzustellen.  Diese  Laufbahn 
bietet  zugleich  eine  geeignete  Position  für  manche  Gelehrte,  deren  spezielles 
Fach  oder  individuelle  Neigung  von  der  Universitätspraxis  allzuweit  ab- 
liegt. Man  darf  hoffen,  daß  sich  allmählich  das  neue  Institut  auch  nach 
dieser  Seite  hin  bewähren  werde.  Denn  manche  gxößere  Universitäten 
sind  jetzt  mit  Spezialisten  so  überladen,  daß  ihre  universelle  Organisation 
dadurch  beeinträchtigt  und  ihr  eigentlicher  Lehrzweck  für  die  Studieren- 
den verdunkelt  wird. 
Kartell  und  Seit    Anfang    des   Jahrhunderts    ist    auch    noch    eine   andere   wichtige 

^M^iiemLi"  Änderung  im  Betrieb  unserer  Akademieen  eingetreten.  Während  der  sich 
lang  hinziehenden  Vorverhandlungen  zur  Begründung  des  Thesaurus  lati- 
iins  tauchte  der  Gedanke  auf,  die  europäischen  oder  wenigstens  die  deut- 
schen Akademieen  zur  Ausführung  dieser  Riesenunternehmung  zu  ver- 
einigen. Bei  dieser  Gelegenheit  schlössen  zunächst  1893  die  Akademieen 
von  Göttingen,  Leipzig,  München  und  Wien  einen  engeren  Bund,  dem  1906 
auch  die  Berliner  Akademie  beitrat  {Kartell),  und  auf  Anregung  der  Lon- 
doner Royal  Society,  die  einen  großen  Katalog  der  aktuellen,  naturwissen- 
schaftlichen Literatur  geplant  hatte,  traten  auf  die  von  der  Berliner  Aka- 
demie 1899  nach  Wiesbaden  ergangene  Aufforderung  im  folgenden  Jahre 
igoo  die  wichtigsten  Akademieen  Europas  und  die  National  Academy  0/ 
Science  in  Washington  (im  ganzen  20)  zu  einer  internationalen  Asso- 
ziation zusammen.  Diese  hat  sich  einen  ständigen  Ausschuß  gegeben, 
der    die    Geschäfte  führt    und   die   alle   drei   Jahre   stattfindenden   General- 


IV.  AVissenschaftliche  Akademiecn.  629 

Versammlungen  vorbereitet.  Der  Vorort  des  Ausschusses  wechselt  von 
Periode  zu  Periode  zwischen  den  Akademieen  (iqoo — 1902  Paris,  1903  bis 
1905  London,  1906 — 1908  Wien).  Die  Assoziation  hat  den  Zweck,  um- 
fassende wissenschaftliche  Unternehmungen,  welche  die  Kräfte  der  einzelnen 
Akademieen  übersteigen  würden  oder  die  zu  ihrer  Durchführung  auf 
internationale  Basis  gestellt  werden  müssen,  in  die  Hand  zu  nehmen. 

Welchen  Nutzen  diese  die  zivilisierte  Welt  umspannende  Organisation 
der  Wissenschaft  bringen  wird,  ist  nach  den  wenigen  Jahren  des  Bestehens 
noch  nicht  mit  Sicherheit  abzumessen.  Denn  solange  die  Assoziation  noch 
nicht  über  ein  eigenes,  ihr  gestiftetes  Vermögen  verfügt  (was  auch  juristische 
Schwierigkeiten  haben  würde),  und  solange  den  meisten  Akademieen  in 
ihrer  finanziellen  Bewegung  enge  Grenzen  gezogen  sind,  ist  selbst  beim 
besten  Willen  direkt  nichts  Bedeutendes  auszuführen.  Nur  dadurch,  daß 
es  der  Autorität  der  assoziierten  Akademieen  gelänge,  für  durchschlagende 
gemeinnützige  Zwecke  die  Unterstützungen  ihrer  Regierungen  zu  gewinnen, 
könnte  etwas  Großes  auf  diesem  Wege  erreicht  werden.  Leider  spielt 
aber  bei  diesem  Umweg  durch  die  Regierungen  die  Politik  mit  hinein 
und  stellt  sich  gewiß  oft  dem  besten  Willen  der  verbündeten  Korporationen 
offen  oder  versteckt  entgegen. 

Daher  ist  vorläufig  der  indirekte  Nutzen    offensichtlicher,    der   durch 

persönliche    Berührung    der    leitenden   Persönlichkeiten    die    Akademieen 

selbst  in  nähere  Beziehungen  bringt,  die  fremden  Einrichtungen   und   den 

bald    hier,    bald    dort    weiter    entwickelten    Wissenschaftsbetrieb    genauer 

kennen  lehrt  und  dadurch   eine  lebendige  Wechselwirkung  zwischen   den 

Kulturvölkern  gerade  auf  dem  Gebiete  hervorruft,  wo  sich  die  Kultur  auf 

ihrer  höchsten  Entvvicklungsstufe  zeigt.    So  kann  es  nicht  ausbleiben,  daß 

auch  hier  zwischen  den  verschiedenen  Systemen  von  Akademieen  eine  fi"ucht- 

bare  Endosmose   und  Exosmose  stattfindet,  und  daß   die  besten  irgendwo 

erprobten  Arbeitsmethoden  und  Einrichtungen  sich  rasch  nach  allen  Seiten 

hin    verbreiten.      Das    wird    voraussichtlich    der   nächste    sichtbare    Erfolg 

dieses  großen,  wissenschaftlichen  Trustes  sein. 

Da  in  der  Assoziation  aus  Amerika  nur  eine,  die  Washingtoner.  Aka-  wissenschaft- 
liche Institute 
demie  vertreten  ist,  die  nur  die  Science  im  engeren  Sinne,  d.  h.  die  Natur-     Amerikas. 

Wissenschaft  und  Mathematik  vertritt,  und  weniger  als  die  europäischen 
durch  größere  Unternehmungen  sich  bekannt  gemacht  hatte,  so  mag  es 
erlaubt  sein,  um  kein  falsches  Bild  des  amerikanischen  Wissenschafts- 
betriebes zu  zeichnen,  noch  auf  zwei  großartige  Institute  hinzuweisen,  die, 
privater  Initiative  entsprungen,  trotzdem  eine  so  bedeutende  Tätigkeit 
entwickeln,  daß  sie  die  der  meisten  europäischen  Akademieen  in  Schatten 
stellen.  Der  Engländer  James  Smithson  hinterließ  bei  seinem  Tode  (1829) 
sein  über  zwei  Millionen  Mark  betragendes  Vermögen  den  Vereinigten 
Staaten  zur  Gründung  eines  wissenschaftlichen  Institutes.  Dies  trat  1846 
in  Washington  als  Smithsoniati  Institution  for  the  incrcase  and  diffu- 
sion  0/  Knoxvlcdge   ins  Leben.     Seine  Tätigkeit   erstreckt   sich   besonders 


(^-.Q  Hermann  Diels:   Die  Oiganisalion  der   Wissenschaft. 

auf  Astronomie,  l^rdmagnetismus  und  Ethnologie.  500  magnetische  Sta- 
tionen hat  es  über  ganz  Nordamerika  verbreitet  und  es  unterhält  einen 
lebhaften  wissenschaftlichen  Verkehr  und  Austausch  der  Publikationen  mit 
gelehrten  Instituten  und  Privatleuten.  Auch  eine  Reihe  von  wichtigen 
ethnographischen  und  archäologischen  Museen  (Nordamerika  betreffend) 
sind  durch  dieses  Institut  ins  Leben  gerufen  worden. 

Noch  großartiger  entwickelt  sich  die  am  28.  Januar  1902  in  Wa- 
shington begründete  „Cariiegie  Institution".  Der  in  Neuyork  lebende 
Schotte  Andreas  Carnegie  hat  42  Millionen  Mark  hergegeben,  um  damit 
Originaluntersuchungen  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  (worunter  natürlich 
vorzugsweise  Science  verstanden  wird)  anzuregen,  ungewöhnliche  Forscher- 
talente (exceptional  men  in  e-very  dcparfment  of  study)  zu  entdecken  und 
sie  zur  vollen  Ausführung  ihrer  Lebensaufgabe  zu  befähigen,  Stipendien 
zur  wissenschaftlichen  Weiterbildung  zu  geben,  endlich  Universitäten  und 
anderen  gelehrten  Instituten  zur  reicheren  Entfaltung  wissenschaftlicher 
Tätigkeit  Zuschüsse  zu  geben,  endlich  schleunigste  und  vollendetste  Ver- 
öffentlichung der  wissenschaftlichen  Ergebnisse  zu  ermöglichen. 

An  der  Spitze  der  großartigen  Stiftung,  die  jährlich  über  zwei  Millionen 
Mark  zu  vergeben  hat  (natürlich  an  Amerikaner)  und  bereits  eine  be- 
merkenswerte Rührigkeit  auf  den  meisten  Gebieten  der  Sciences  entfaltet 
hat,  stehen  die  jedesmaligen  Spitzen  der  Regierung  und  gelehrten  Insti- 
tute der  Union  und  21  besonders  ernannte  Vertrauensmänner.  Von  dem 
Yearbook  der  Stiftung  sind  bereits  mehrere  Jahrgänge  erschienen. 

Interrationale  V.    Internationale    wissenschaftliche  Institutionen.     Wenn 

ikhT?nsti'?ut'e.  die  Assoziation  der  Akademieen  auch  die  bedeutendste  Zusammenfassung 
internationaler,  wissenschaftlicher  Arbeit  bedeutet,  so  ist  sie  doch  keines- 
wegs die  älteste  derartige  Institution.  Namentlich  wo  die  Wissenschaft 
eng  mit  der  Praxis  verbunden  ist,  hat  sich  das  Bedürfnis  nach  inter- 
nationaler Regelung  schon  früh  gezeigt.  Im  Jahre  1864  gelang  es 
dem  preußischen  Generalleutnant  Baeyer,  die  leitenden  Autoritäten  der 
Landesvermessung  in  den  mitteleuropäischen  Staaten  sowie  in  Italien, 
den  skandinavischen  Ländern  und  Rußland  zur  Gründung  ehier  perma- 
nenten Kommission  für  „mitteleuropäische  Gradmessung"  zu  ver- 
einigen. Später  traten,  als  der  wohltätige  Einfluß  dieser  Organisation 
sich  zeigte,  noch  Frankreich,  Spanien  und  Portugal  dem  Bunde  bei,  so  daß 
nunmehr  eine  „Europäische  Gradmessung"  entstand,  die  sich  im  Jahre 
1886  zur  „Internationalen  Erdmessung"  erweiterte. 

Durch  den  Pariser  „Metervertrag"  vom  20.  Mai  1875  ist  das  „inter- 
nationale Maß-  und  Gewichtsbureau"  im  Pavillon  de  Breteuil  zu 
Sevres  bei  Paris  eingerichtet  worden.  Hier  ist  feinste  wissenschaftliche 
Arbeit  auf  internationaler  Grundlage  tätig,  um  die  Konstanz  des  Meter- 
maßes zu  sichern,  das,  in  den  Stürmen  der  französischen  Revolution  geboren, 
seitdem    einen    großen    Teil    der   Welt   erobert   hat    und   im  BegTiff  steht. 


V.  Internationale  wissenschaftliche  Institutionen.  63  I 

auch  die  noch  widerstrebenden  angelsächsischen  Kulturländer  diesseits 
und  jenseits  des  Ozeans  samt  ihren  weltumfassenden  Kolonieen  zu  ge- 
winnen. 

Eine  die  Erde  umfassende  Organisation  erdmagnetischer  Beobachtungen 
eröffnete  am  Schlüsse  des  ersten  Drittels  des  19.  Jahrhunderts  das  plan- 
vollere Zusammenwirken  der  naturwissenschaftlichen  Beobachtungsinstitu- 
tionen. Es  waren  Gauß  und  Alexander  von  Humboldt,  welche,  in  Ver- 
bindung mit  den  englischen  Fachmännern,  zunächst  die  sogenannten  mag- 
netischen Termine,  nämlich  völlig  gleichzeitige  und  gleichartige  erdmagne- 
tische Beobachtungen,  an  bestimmten,  gemeinsam  festzusetzenden  Tagen 
organisierten. 

Es  folgte  sodann  auf  astronomischem  Gebiete  das  umfassend  organi- 
sierte Zonen-Beobachtungs-Untemehmen  der  im  Jahre  1863  zu  Heidelberg 
begründeten  Internationalen  Astronomischen  Gesellschaft,  nämlich 
die  Verteilung  der  genaueren  Ortsbestimmung  der  Fixsterne  (bis  zur 
neunten  Größenklasse  inkl.)  unter  eine  größere  Anzahl  von  Sternwarten 
der  verschiedenen  Länder,  und  zwar  nach  übereinstimmendem  Verftihren 
auf  gleichartigen  Grundlagen.  Die  Himmelsfläche  wurde  in  Parallel- 
kreiszonen von  5  oder  10  Grad  Breite  eingeteilt,  und  die  einzelnen  zu- 
sammenwirkenden Sternwarten  übernahmen  es,  in  einer  Reihe  von  Jahren 
die  Örter  der  sämtlichen  betreffenden  Sterne  einer  ihnen  zugeteilten  Zone 
des  Himmels  zu  bestimmen. 

Das  Unternehmen,  welches  zunächst  nur  die  nördliche  Himmelshalb- 
kugel umfaßte,  wurde  allmählich  und  sodann  immer  vollständig  (besonders 
durch  die  überaus  eifrige  Beobachtungstätigkeit  der  von  dem  nordamerika- 
nischen Astronomen  Gould  geleiteten  Sternwarte  zu  Cordoba  in  Argentinien) 
auf  die  südliche  Himmelshalbkugel  ausgedehnt. 

Die  definitive  Berechnung  und  Bearbeitung  der  von  den  anderen  ver- 
einigten Sternwarten  gelieferten  Ortsbestimmungen  der  Fixsterne  bis  zur 
neunten  Größenklasse  und  noch  etwas  darüber  hinaus  wurde  unter  Leitung 
von  Professor  Auwers  in  Berlin,  im  Auftrage  der  Astronomischen  Gesell- 
schaft ausgeführt. 

Auf  der  Grundlage  dieser  organisierten  Ortsbestimmungen  fußend 
wurde  dann,  von  der  Pariser  Sternwarte  ausgehend,  ein  ähnliches  inter- 
nationales Zusammenwirken  der  Sternwarten  der  verschiedenen  Länder 
zum  Zwecke  der  Himmelsphotographie,  d.  h.  der  photographischen 
Aufnahme  des  Fixstemhimmels  zustande  gebracht. 

Es  war  mit  Hilfe  der  Dauerphotographie  gelungen,  immer  licht- 
schwächere Sterne  auf  den  photographischen  Platten  zu  fixieren,  und  durch 
den  mikrometrischen  Anschluß  der  Bilder  dieser  viel  zahlreicheren  licht- 
schwächeren Sterne  an  die  Bilder  der  helleren  Sterne,  deren  Örter  am 
Himmel  von  dem  erwähnten  Zonenunternehmen  der  Astronomischen  Ge- 
sellschaft festgelegt  waren,  gelang  es  nun,  immer  vollständigere  Orts- 
bestimmungen auch  von  immer  zahlreicheren  lichtschwächeren  Sternen  zu 


^32  Hermann  Diels:  Die  ürganisaUon  der  Wissenschaft. 

erlangen.  Die  photographischen  Aufnahmen  der  Himmelsflächen  waren 
wieder  zonenweise  unter  Sternwarten  der  verschiedenen  Erdregionen  ver- 
teilt worden,  und  die  Ausmessung  der  Lage,  sowie  die  Helligkeitsbestim- 
mung der  zahllosen  Sterne  auf  den  Platten  geschieht  nun  an  gewissen 
Zentralstellen,  z.  B.  auf  der  Pariser,  der  Potsdamer,  der  Greenwicher 
Sternwarte. 
Auslands-  EudUch   ist   im  Punkte   des    org'anisierten   Zusammenwirkens    auf  dem 

Gebiete  astronomischer  Beobachtung  noch  zu  erwähnen  die  seit  nahe  fünf 
Jahren  im  Gange  befindliche,  von  der  Internationalen  Erdmessung 
an  sechs  Stellen  eines  und  desselben  Parallelkreises  eingerichtete,  unab- 
lässige Bestimmung  der  Änderungen  der  Lage  des  Drehungspoles  am 
Sternhimmel  gegen  die  Lage  des  Scheitelpunktes  des  Beobachtungsortes 
und  der  entsprechenden  Lagenänderung-en  der  Drehungsachse  im  Erd- 
körper selber.  Zu  diesen  sechs  Beobachtungsstationen  (Lisel  Sardinien, 
Taschkent,  Japan,  Kalifornien,  Ohio,  Pennsylvanien)  sind  neuerdings  eine 
Station  in  Australien  und  eine  in  Arg'entinien  noch  hinzugekommen. 
Weitere  Vervollständigungen  werden  voraussichtlich,  im  Interesse  der  Unter- 
suchungen über  die  Bewegung  des  Schwerpunktes  unseres  Planetensystems 
im  Welträume,  in  der  nächsten  Zukunft  noch  in  Wirksamkeit  treten. 

Eine  andere  Art  internationaler  Org-anisation  sind  die  Auslands- 
institute, die  behufs  Erforschung  der  Sprachen,  Sitten,  Altertümer,  Gegen- 
den, Faunen  und  Floren  fremder  Länder  von  fast  allen  Kultumationen 
im  Auslande  unterhalten  werden.  Auch  hier  ist  Deutschland  meist  voran- 
gegangen. Das  Archäologische  Institut  in  Rom,  das  1829  unter  dem 
Protektorat  des  Kronprinzen,  späteren  Königs  Friedrich  Wilhelm  IV.  von 
Preußen  zuerst  international  gegründet  wurde,  hat  eine  ganze  Reihe  ähn- 
licher nationaler  Gründungen  von  deutscher  und  fremder  Seite  an  allen 
geeigneten  Punkten  der  Erde  zur  Folg'e  gehabt.  Ebenso  ist  die  Zoolo- 
gische Station  A.  Dohrns  in  Neapel  (1870  gegründet)  für  Deutschland 
und  viele  andere  Staaten  vorbildlich  geworden.  Die  meisten  dieser  Insti- 
tute und  Stationen  werden  im  internationalen  Sinne  der  Forschung  jüngerer 
und  älterer  Gelehrter  aller  Nationen  zur  Verfügung  gestellt  Das  groß- 
artigste und  berühmteste  Arbeitsinstitut  ist  der  von  der  holländischen  Re- 
gierung auf  Java  eingerichtete  Botanische  Garten  i^s  Lands  Plaiitcutnin 
in  Buitenzorg),  wo  die  unerhörte  Schöpferkraft  der  Tropennatur  die  Botaniker 
aller  Nationen  zu  besonderen  wissenschaftlichen  Arbeiten  instand  setzt. 

Wissenschaft-  VI.    Wiss BUS chaf tli ch c    Vereine    und    Kongresse.      Neben    den 

ereme.  g^^ßgj^  Staatlich  Subventionierten  oder  wenigstens  privilegierten  Korpora- 
tionen gibt  es  in  allen  Kulturländern  eine  fast  unübersehbare,  unendlich 
verzweigte  und  unendlich  abgestufte  Reihe  von  wissenschaftlichen  Ver- 
einen, Sozietäten,  Gesellschaften  und  wie  sie  sich  alle  benennen,  die  teils 
mit  privaten,  teils  mit  kommunalen  und  provinzialen,  teilweise  auch  mit 
Staatsmitteln  arbeiten.     In  Deutschland  zählte  man  bereits  im  Jahre   1887 


VI.  Wissenschafüichc  Vereine  und  Kongresse.  633 

8g2  solcher  Vereine  und  die  Zahl  der  von  ihnen  herausgegebenen  Schriften 
und  Zeitschriften  ist  noch  größer.  Es  befinden  sich  unter  diesen  Vereinen 
solche  mit  bedeutenden  Geldmitteln  und  bedeutenden  wissenschaftlichen 
Leistungen  sowohl  in  Deutschland  und  Frankreich,  wie  namentlich  in 
England  und  Amerika,  wo  ja  auch  die  staatlich  anerkannten  Akademieen, 
im  Gegensatz  zum  Kontinent,  eigentlich  auf  der  Basis  des  freien  Vereins- 
lebens organisiert  sind.  Die  Einkünfte  einiger  solcher  Privatvereine, 
die  der  Wissenschaft  rein  zugoite  kommen,  überschreiten  häufig  den  Etat 
der  privilegierten  Akademieen,  ihre  Paläste  sind  oft  großartiger  und  um- 
fangreicher eingerichtet  als  die  bescheidenen  Räume,  in  denen  manche 
jener  ehrwürdigen  Korporationen  schlecht  und  recht  untergebracht  sind. 
Aber  es  fehlt  jenen  Instituten  meist  der  gelehrte  Anstrich  (die  Mitglieder 
sind  in  der  Regel  Dilettanten)  und  vor  allem  die  universelle  Zusammen- 
fassung der  eigentlichen  Akademieen,  die  immer  mehr  die  Tendenz  zeigen, 
sich  zu  allumfassenden  Organisationen  auszuwachsen. 

Trotzdem  ist  auch  diese,  oft  dilettantische  Mitarbeit  der  Vereine 
wichtig,  ja  ganz  unentbehrlich  für  die  gesunde  Tätigkeit  des  wissenschaft- 
lichen Gesamtorganismus.  Wenn  das  leidlich  gebildete  Volk  der  unter- 
sten Stände  die  breite,  massige  Grundfläche,  die  Universitäten  dagegen 
und  Akademieen  die  schmale  Spitze  der  Pyramide  der  Wissenschaft  dar- 
stellen, so  ist  die  Vereinstätigkeit  des  wissenschaftlich  angeregten  Bürger- 
standes das  unentbehrliche  Mittelstück.  Rührend  ist  die  Andacht,  be- 
wundernswert die  Ausdauer,  mit  der  z.  B.  an  kleinen  Orten  Landschul- 
lehrer oder  Gärtner  botanische  Vereine  leiten  oder  historisch  gerichtete 
Gesellschaften  die  Altertümer  und  Urkunden  der  Vorzeit  sammeln,  konser- 
vieren und  publizieren.  Diejenigen,  die  oben  auf  der  Pyramide  stehen, 
sehen  bisweilen  mit  Geringschätzung  auf  ihre  treufleißige  Sammelarbeit 
herab.  Allein  wenn  auch  diese  Arbeit  die  Wissenschaft  selbst  nicht  sehr 
erheblich  fördert,  so  fordert  sie  doch  das  Interesse  für  sie  in  dem  Kreise 
der  Bildung,  der  den  Nährboden  für  die  höhere  wissenschaftliche  Kultur 
abgfibt.  Übrigens  gibt  es  eine  große  Anzahl  von  Vereinen,  in  denen  der 
Dilettantismus  längst  völlig  überwunden  ist  und  allerernsteste  und  förder- 
lichste wissenschaftliche  Arbeit  gedeiht.  So  ist  die  „Deutsche  chemische 
Gesellschaft"  mit  ihren  immer  umfangreicher  werdenden  ,3erichten"  der 
anerkannte  Mittelpunkt  des  Faches  für  Deutschland. 

Wie   diese  Vereine   in   der   nützlichsten  Weise  die   Kraft  der  Nation     Nationale 

wisscaschaftlicbc 

in  allen  Stufen  zusammenfassen  und  dadurch  erst  die  Wissenschaft  wirk-  Kongresse. 
lieh  populär  machen,  so  dienen  sie  auch  wieder  in  ihrer  periodischen 
Vereinigung  zu  Gau-,  Provinz-  und  Landesversammlungen  der  Zusammen- 
fassung der  einzelnen  lokalen  Regimenter  zu  einem  großen  Heere.  Dazu 
kommen  noch  die  ohne  den  Hintergrund  besonderer  Vereine  tagenden 
Fach-  und  Berufsversammlungen.  Alle  diese  Tagungen  sind  wissen- 
schaftlich meist  nicht  so  ergiebig,  als  es  nach  der  Menge  und  Qualität 
der  Teilnehmer   zu   erwarten  wäre.     Gar   oft  bewahrheitet   sich   das  Epi- 


A,,  Hermann  Diels:  Die  Organisation  dei-  Wissenschaft. 

gramm  des  Dichters,  daß  jeder  Einzelne  zwar  klug  und  verständig  sei, 
aber  .  .  .  Trotzdem  geben  auch  diese  Wander-Versammlungen  per- 
sönliche Berührungen,  vielfache  Anregung,  Massenbewußtsein,  das  den 
Einzelnen  im  Kampf  ums  Dasein  stärkt,  und  vor  allem  tragen  diese  in 
den  verschiedensten  Gegenden  abgehaltenen  Versammlungen  durch  ihr 
bloßes  Dasein  fruchtbare  Keime  höherer  Anschauung  und  Respekt  vor 
den  Aufgaben  und  Zielen  der  Wissenschaft  in  gewisse  Kreise  der  un- 
gebildeten und  halbgebildeten  Bevölkerung,  die  ihr  sonst  kalt  und  feind- 
Uch  gegenüber  zu  stehen  pflegen.  Das  soziale  Element  ist  auch  hier  nicht 
zu  unterschätzen, 
intcmatioraic  Viel    wichtigcr    als    die    lokalen    und    nationalen  Vereinigungen    der 

Kongresse,  -^igggjjgf^ijaften  siud  die  internationalen  Kongresse,  aber  auch  viel 
gefährlicher.  Die  Wissenschaft  hat  kein  Vaterland,  sagt  man.  Das  ist 
ebenso  richtig  wie  falsch.  Der  pythagoreische  Lehrsatz  und  die  Kepler- 
schen  Gesetze  sind  für  alle  Nationen  gleich  wichtig  und  gleich  verbind- 
lich, also  international  gültig.  Allein  es  ist  doch  nicht  zufällig,  daß 
Pythagoras,  der  Hellene,  und  Kepler,  der  Deutsche,  beide  Mystiker  und 
Propheten,  aus  der  Tiefe  ihres  nationalen  Gemüts  heraus  diese  Gesetze 
gefunden  haben.  Die  Wissenschaft  hängt  gerade  in  ihren  höchsten  Höhen 
mit  dem  verborgensten  Triebleben  der  menschlichen  Seele  zusammen, 
und  in  diesem  Instinktleben  unterscheiden  sich  gerade  die  Nationalitäten 
am  schärfsten. 

Es  ist  daher  durchaus  nicht  schädlich  für  die  Vertiefung  der  Wissen- 
schaften, wenn  sie  sich  eine  Zeitlang  national  differenzieren,  um  sich 
gleichsam  ganz  mit  den  unbewußten  Kräften  der  Volksseele  zu  tränken. 
Man  denke  an  die  Art,  wie  die  Brüder  Grimm  aus  unserem  deutschen 
Mutterboden  eine  neue  Wissenschaft  geboren  haben!  Andererseits  aber 
muß  diese  Sonderbildung  auch  wieder  der  allgemeinen  Gelehrtenrepublik 
zugute  kommen  und  durch  die  Vereinigung  der  einzelnen  nationalen 
Schulen  und  Richtungen  eine  höhere  Weiterbildung  erstrebt  werden.  So 
hat  die  Anregung  der  Brüder  Grimm  zunächst  sehr  stark  auf  England 
gewirkt,  und  von  dort  aus  hat  die  „Volkskunde",  als  folklore  gleichsam 
wie  eine  englische  Entdeckung  sich  gebärdend,  die  ganze  wissenschaft- 
liche Welt  erobert. 

Am  wichtigsten  ist  für  die  Ausbildung  der  Einzelwissenschaften  die 
philosophische  Gesamtauffassung,  was  man  heutzutage  „Weltanschauung" 
nennt.  Diese  wird  stets  national  bestimmt  sein.  Im  vorigen  Jahrhundert 
z.  B.  ist  die  Wissenschaft  in  Frankreich  deutUch  Comteisch,  in  England 
Miliisch  und  in  Deutschland  Hegelisch  gefärbt  gewesen.  Die  Berührung 
der  verschiedenen  Nationen  auf  internationalen  Kongressen  bringt  diese 
aus  der  Grundanschauung  resonierenden  Differenztöne  oft  in  sehr  deut- 
licher Weise  zum  Erklingen.  Denn  da  es  nützlich  und  üblich  ist,  bei 
solchen  Gelegenheiten  den  Blick  auf  das  Höhere  und  Allgemeinere  zu 
richten,  so  müssen  diese  Eigentöne  der  nationalen  Wissenschaften  stärker 


VII.  Wissenschaftliche  Sammlungen  (Gärten,  Museen).  635 

mitklini^en  als  bei  Einzelfragen  und  konkreten  Tatsächlichkeiten.  Insofern 
können  gut  vorbereitete  und  geleitete  Kongresse  zum  Ausgleich  und  zur 
Harmonisierung  nationaler  Gegensätze  in  der  Wissenschaft  viel  beitragen. 
Aber  wenn  solche  Versammlungen  zur  äußeren  vSchaustcIlung  persönlicher 
Eitelkeit  oder  zu  politischen  Demonstrationen  mißbraucht,  durch  künst- 
liche Anlockungen  eines  vergnügTangssüchtigen  Allerweltpublikums  ver- 
pöbelt werden,  und  wenn  sich  dann  derartige  durchaus  inkompetente  Riesen- 
versammlungen zum  internationalen  Areopag  aufwerfen,  so  kann  ein 
solches  Treiben  der  Würde  und  der  Förderung  der  Wissenschaften  nur 
Abbruch   tun. 

\'l[.    Wissenschaftliche     Sammlungen     (Gärten,     Museen).  wisscnscUaft- 

1      £l1*    i_  liehe  Saram- 

Schon  früh  hat  sich  mit  den  ersten  Kegoingen  w'issenschattlichen  lungeo. 
Sinnes  der  Trieb  gezeigt,  die  natürlichen  und  künstlichen  Erzeugnisse 
fremder  Länder  zusammen  mit  den  einheimischen  zur  vergleichenden 
Schau  in  zoologischen  Gärten  auszustellen.  Bei  dem  uralten  Kultur- 
volke der  Chinesen  hören  wir,  daß  der  Ahnherr  der  Tschen-Dynastie, 
Wu-Wang  (um  1150  v.Chr.)  einen  „Park  der  Intelligenz"  anlegen  ließ,  der 
noch  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  bestand  und  allerlei  Säugetiere,  Vögel, 
Schildkröten  und  Fische  beherbergte.  Auf  der  assyrischen  „Jagdinschrift", 
die  Asur-näsir-abal  (884 — 860  v.  Chr.)  zu  betreffen  scheint,  werden  zahl- 
reiche wilde  Tiere  erwähnt,  die  der  König  nach  seiner  Stadt  Asur  brachte. 
Unter  anderem  heißt  es  da  (Schrader  KeiUnschr.  Bibl.  I  125):  „Kamele 
sammelte  er,  ließ  sie  gebären.  Ihre  Herden  zeigte  er  den  Leuten  seines 
Landes.  Einen  großen  Pagutu  .  .  .  hatte  der  König  aus  Ägy^pten  dahin 
gesandt.  Er  zeigte  sie  den  Leuten  seines  Landes.  Von  den  übrigen  vielen 
Tieren  und  den  geflügelten  Vögeln  des  Himmels,  der  Jagd  des  Feldes, 
den  Werken  seiner  Hand,  ließ  er  den  Namen  sowie  alle  übrigen  zur  Zeit 
seiner  Väter  noch  nicht  aufgeschriebenen  Tiernamen  aufschreiben,  ebenso 
ihre  Zahl." 

Diesem  Vorbild  folgten  dann  die  Perserkönige,  deren  „Paradiese"  die 
Grriechen  mit  Erstaunen  sahen  und  später  nachahmten.  In  Alexandrien 
nahm  diese  orientalische  Liebhaberei  systematische  Form  an,  nachdem 
Aristoteles  und  Theophrastos  die  Anlage  derartiger  Sammlungen  aus 
•  wissenschaftlichem  Interesse  begonnen  hatten.  Ptolemaios  Philadelphos, 
der  eigentliche  Begründer  der  alexandrinischen  Wissenschaft,  hatte  einen 
zoologischen  Garten  einrichten  lassen  und  verschwendete  Un.summen  zur 
Herbeischaffiing  seltener  Tiere  und  zur  Akklimatisation  fremder  Pflanzen. 
In  Rom  sah  man  wilde  Tiere  nur  im  Zirkus.  Doch  ist  die  Sitte,  „Zwinger" 
mit  fremden  Tieren  zu  halten,  im  Mittelalter  über  die  Alpen  (St.  Gallen) 
auch  nach  Deutschland  vorgedrungen,  wie  auch  der  Brauch,  allerlei  fremde 
Wurzeln,  Blumen  und  Bäume  im  Klostergärtlein  anzupflanzen,  von  dort 
nordwärts  sich  verbreitete. 

Die  botanischen  Gärten  dienen  heutzutage  in  erster  Linie  der  all-      Gärten." 


6.S6 


Hf.rmann  DlF.LS:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 


Botanische 
Museen. 


Zoologische 
Gärten. 


gemeinen  Belehrung-.  Es  soll  dem  Publikum  ein  Überblick  gegeben  werden 
über  die  gesamte  lebende  Pflanzenwelt  und  über  die  Erscheinungen  des 
Pflanzenlebens.  Bei  der  Anordnung  kann  man  ästhetische  Gesichtspunkte 
in  den  VordergTund  stellen.  Dafür  hat  man  sich  z.  B.  meistens  in  Eng- 
land entschieden:  der  Garten  von  Kew  bei  London,  der  größte  der  Erde, 
will  dem  Beschauer  nicht  nur  die  natürliche  Vegetation  zeigen,  sondern 
ihm  auch  die  Errungenschaften  des  Gartenbaues  und  der  Gartenkunst 
vorführen.  In  anderen  Gärten  überwiegen  wissenschaftliche  Grundsätze 
der  Anordnung.  Der  neue  botanische  Garten  Steglitz  bei  Berlin  hat 
diesen  Modus  am  weitesten  ausgebildet:  neben  der  systematischen  Ab- 
teilung-, wo  in  üblicher  Weise  die  natürliche  Verwandtschaft  die  Grup- 
pierung bestimmt,  ist  die  geographische  Anordnung  der  Pflanzen  in  um- 
fangreichen Nachbildungen  dargestellt  worden.  Hier  wie  dort  dienen  die 
Gärten  seit  alters  auch  unmittelbar  dem  höheren  Unterricht,  teils  für  die 
Gärtner,  teils  für  die  Studierenden  der  Naturwissenschaften.  Streng  wissen- 
schaftlichen Aufgaben  dagegen  hat  man  sie  erst  neuerdings  dienstbar  gemacht. 
Monographische  Studien  verlangten  zuerst  Hilfe  von  ihnen;  ein  berühmtes 
Beispiel  ist  die  Bearbeitung  der  eminent  schwierigen  Gattung  Hicracium 
durch  C.  v.  Nägeli,  für  die  er  im  Münchener  Garten  eine  umfangreiche 
Sammlung-  anlegte.  Gegenwärtig  führt  man  ausgedehnte  experimentelle 
Untersuchungen  in  Gärten  aus:  Arbeiten  über  Formbildung,  Hybridisation, 
Vererbung  und  ähnliche  Probleme,  welche  die  Verwendung  umfangreicher 
Pflanzenbestände  erfordern. 

Mit  den  größeren  botanischen  Gärten  ist  häufig  ein  botanisches 
Museum  verbunden;  es  ergänzt  die  Zwecke  des  Gartens  durch  dauernde 
Aufbewahrung  pflanzlicher  Objekte.  Gewöhnlich  wird  dort  auch  ein  Her- 
barium geführt.  Je  reicher  dies  Herbarium,  um  so  mehr  steigt  sein  Wert 
für  die  wissenschaftliche  Arbeit.  Die  größten  Sammlungen,  wie  die  von 
Kew,  Berlin,  Wien,  Petersburg  und  Newyork,  bilden  geradezu  die  Grund- 
lage für  die  spezielle  Darstellung  des  Pflanzenreiches  und  seiner  Gruppen. 
Auch  für  gewisse  allgemeine  Fragen  der  Formbildung,  Anpassung,  Ver- 
breitung usw.  ist  unschätzbar  wertvolles  Material  in  ihnen  enthalten. 

Schon  in  der  Renaissance  gehörten  Menagerieen  und  „Tiergärten" 
zur  stehenden  Einrichtung  der  Residenzen.  Doch  erst  die  französische 
Revolution  veranlaßte  1794,  die  in  Versailles  gehaltenen  Tiere  in  den 
Jardin  des  plan/es  überzuführen  und  sie  damit  der  eigentlichen  wissen- 
schaftlichen Forschung  zugänglich  zu  machen.  Im  ig.  Jahrhundert  folgten 
alle  größeren  Städte  mit  Einrichtung  von  zoologischen  Gärten  und 
Aquarien  nach,  die  in  der  Regel  sich  selbst  erhalten  und  daher  leider 
weniger  für  die  Wissenschaft,  als  für  die  Unterhaltung  des  Publikums 
sorgen  müssen.  Die  früher  beliebten  Menagerieen  sind  auf  die  Dörfer 
gezogen,  wo  die  Neugierde,  die  Mutter  der  Wißbegierde,  in  den  länd- 
lichen Gemütern  erregt  wird.  In  den  Großstädten  sorgen  indes  die 
modernen  ludi  Circcnses  für  sensationelle  Tiervorstellungen. 


VIT.  Wissenschaftliche  Sammlungen  (Gärten,  Museen).  637 

Neben   den   zoologischen  Gärten,   die   da.s  Leben   der  Tiere   in  seiner    Zoologische 

^  Museen. 

Mannigfaltigkeit  darzustellen  suchen,  kommen  für  die  pädagogische  wie 
für  die  wissenschaftliche  Seite  vor  allen  Dingen  die  zoologischen  Museen 
in  Betracht  Früher  nur  als  Raritätenkammern  und  Mirabiliensammlungen 
geschätzt,  sind  diese  Institute  allmählich  mit  einem  Stab  von  Fach- 
gelehrten ausgestattet  und  zu  wissenschaftlichen  Zentralinstituten  ge- 
worden. An  größeren  Orten  hat  der  Doppelzweck  dieser  Institute,  der 
wissenschaftliche  und  der  pädagogische,  zur  Abtrennung  besonders  aus- 
gewählter und  aufgestellter  „Schausammlungen"  geführt.  In  diesem 
Sinne  wird  die  Zukunft  noch  sehr  viel  weiter  gehen  müssen,  damit  die 
Selbstbelehrung  wie  die  mit  so  großem  Erfolge  begonnenen  „Museums- 
führungen",  die  das  Publikum  in  seinen  verschiedenen  .Schichten  zur 
systematischen  Betrachtung  der  Naturobjekte  anleiten  wollen,  ihren  Zweck 
um  so  besser  erreichen.  Nach  ähnlichen  Grundsätzen  sind  die  Museen 
der  übrigen  beschreibenden  Naturwissenschaften  angelegt,  auf  die  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden  kann. 

Auch  die  Kunstmuseen,  die  sich  ähnlich  wie  die  naturhistorischen  Kunstmuseen, 
erst  im  letzten  Jahrhundert  selbständig  entwickelt  haben,  verfolgen  einen 
doppelten  Zweck.  Einmal  wollen  sie  Archive  sein  aller  in  natura  vor- 
handenen Kunstobjekte,  sei  es  des  eigenen,  sei  es  fremder  Länder,  sei  es 
der  Gegenwart  oder  der  Vergangenheit.  Andererseits  dienen  sie  dem 
pädagogischen  Zwecke,  die  Studierenden  und  im  weiteren  Sinne  das  ganze 
Publikum  mit  der  künstlerischen  Produktion  des  eigenen  und  der  fremden 
Länder,  der  eigenen  und  der  vergangenen  Zeit  vertraut  zu  machen.  Dabei 
läuft  nun  noch  ein  praktischer  Zweck  nebenher,  der  bei  den  naturhisto- 
rischen Museen  zurücktritt,  den  Geschmack  des  Publikums  zu  bilden  und 
den  Künstlern  Anregung  und  Vorbild  zu  geben.  Diese  schwierigen  Fragen 
der  Museumspädagogik  dürfen  hier  unerörtert  bleiben. 

Für  die  Wissenschaft,  die  sich  der  Kunst  und  der  Kultur  vergangener 
Zeiten  zuwendet,  sind  jedenfalls  Sammlungen  sowohl  von  Originalen  wie 
von  Nachbildungen  eine  unbedingte  Notwendigkeit.  Man  braucht  sich 
nur  in  die  Jugend  Winckelmanns  zu  versetzen,  um  den  .Segen  unserer 
Kunstmuseen  für  die  wissenschaftliche  Ausbildung  aller  derer  zu  begreifen, 
die  sich  mit  dem  Studium  der  vergangenen  Kulturen  beschäftigen.  Die 
Archäologie  und  Kunstgeschichte  hat  in  den  Museen  ihren  eigentlichen 
Rückhalt,  und  von  diesen  Instituten,  ihrer  systematischen  Sammelarbeit 
und  ihrer  zu  Ausgrabungen  fortschreitenden  Erwerbungspraxis  geht  seit 
etwa  50  Jahren  der  Hauptfortschritt  dieser  Wissenschaften  aus.  Die  Er- 
werbung von  Kunstobjekten,  die  noch  bis  zu  den  Zeiten  Lord  Elgins  das 
Vorrecht  vornehmen  Sammelsportes  war,  ist  jetzt  überall  hauptsächlich  in 
die  Hände  geschulter  Museumsleitungen  übergegangen  und  damit  der 
Wissenschaft  sicher  gerettet  worden. 


5^8  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Welt-  Vlll.   Wissenschaftliche    Ausstellungen.     Im  Vorübergehen    muß 

neben  den  oft  mit  Kongressen  verbundenen  und  oft  sehr  lehrreichen  wissen- 
schaftlichen Fachausstellungen  auch  der  Weltausstellungen  gedacht 
werden,  die  nicht  nur  wegen  der  allmählich  üblich  gewordenen  „retrospektiven" 
Abteilungen  die  Beachtung  der  Wissenschaft  verdienen.  Denn  die  sich 
in  rascher  Folge  ablösenden  Weltausstellungen  haben  sich  einerseits  zur 
Anlockung  des  großen  Publikums  mit  sehr  zweifelhaften  Reizen  ausge- 
schmückt, andererseits  aber  haben  sie  versucht,  immer  systematischer  und 
wissenschaftlicher  sich  zu  exhibieren.  So  hat  nicht  nur  die  der  Technik 
zugewandte  Seite  der  Wissenschaft  großen  Nutzen  aus  der  Betrachtung 
der  im  Wettkampf  der  Kulturnationen  zusammengebrachten  Objekte  und 
Veranschaulichungen  der  verschiedenen  Disziplinen  gezogen,  sondern  auch 
anderweitige  von  Behörden  eingesandte  Sammlungen  (z.  B.  die  von  dem 
preußischen  Kultusministerium  in  Chicago  und  St.  Louis  ausg-estellten 
Unterrichts-  und  Universitätsausstellungen)  haben  einen  bedeutenden  wissen- 
schaftlichen Wert  und  sind  als  solche  anerkannt  worden.  Ferner  g^eben 
auch  die  aus  den  Kolonieen  herbeiströmenden  Proben  „wilder"  Bevölkerung, 
primitiver  Technik,  ausländischer  Produkte  für  naturwissenschaftliche,  geo- 
graphische, ethnographische,  kulturhistorische  Belehrung  eine  unglaubliche 
Fülle  von  Anregung.  Vorzüglich  gearbeitete  Kataloge  halten  das  Bild 
dieser  vorüberg-ehenden  Schaustellungen  fest,  und  viele  besonders  be- 
lehrende Sammlungen  bleiben  als  „Museen"  für  die  Folgezeit  bestehen. 
Außerdem  wird  der  Zusammenstrom  der  gebildeten  Menschheit  aller  Länder 
gern  auch  zu  internationalen  Kongressen  benutzt,  die  im  Anblick  eines 
so  ungeheuren  Beobachtungsmateriales  gewiß  manche  Anregung  mit  nach 
Hause  nehmen,  wenn  auch  der  Jahrmarktstrubel  im  allgemeinen  der  wissen- 
schaftlichen Vertiefung  nicht  besonders  zuträglich  sich  erweisen  dürfte. 

Bibliotheken.  IX.     Bibliotheken     und     Kataloge.       Was     man     heutzutage 

Museen  nennt,  bedeutet  im  Altertum  soviel  wie  Schullokal  und 
deckt  sich  zuweilen  mit  dem,  was  wir  mit  dem  ebenfalls  bereits 
im  griechischen  Altertum  üblichen  Ausdruck  Bibliothek  bezeichnen, 
da  diese  seit  alexandrinischer  Zeit  mit  den  „Museen"  verbunden 
zu  sein  pflegten.  Das  Wort  laouceTov  (Musenheiligtum)  erinnert  daran, 
daß  die  Einführung  in  die  Wissenschaft  in  den  Dienst  der  Gottheit  ge- 
stellt war.  Diese  Auffassung-  reicht  in  das  graueste  Altertum  zurück  und 
läßt  sich  nicht  nur  bei  den  Ägyptern,  sondern  auch  bei  den  Babyloniem 
nachweisen,  deren  Priesterschulen  die  ersten  Spuren  wirklichen  Wissen- 
schaftsbetriebes aufweisen.  Hier  sind  dank  dem  unverwüstlichen  Materiale 
der  babylonischen  Bücher  (Ziegelsteine)  Bibliotheken  ausgegraben  worden, 
die  den  ältesten  wissenschaftlichen  Betrieb,  den  wir  feststellen  können, 
in  interessanter  Weise  beleuchten.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  die  amerikanischen 
Ausgrabungen  von  Nippur,  die  eine  schier  unermeßliche  Bibliothek  der 
uralten  über  das  dritte  Jtihrtausend  v.  Chr.  hinaufreichenden  Priesterschulen 


Vni.  Wissenschaftliche  Ausstellungen.     IX.  Bibliotheken  untl  Kataloge.  639 

an  das  Licht  gebracht  zu  haben  scheinen,  bald  der  Wissenschaft  voll- 
ständig zugänglich  gemacht  werden,  damit  man  die  Einrichtung  der  Ele- 
mentarschule, des  philologischen  Seminars,  des  astronomischen  Observa- 
toriums, die  man  aus  den  zahllosen  Resten  dieser  Backstein-Bibliothek 
erschlossen  hat,  vollständiger  und  zuverlässiger  überblicken  kann,  als  es 
nach  den  bisherigen  vorläufigen  Mitteilungen  Hilprechts  möglich  ist.  Der 
altbabylonische  Tj-pus  der  Bibliotheksorganisation  findet  sich  nicht  nur 
in  der  berühmten  und  reichhaltigen  Tempelbibliothek  des  ASurbanipal 
(7.  Jahrhundert  v.  Chr.)  wieder,  die  Kopieen  alter  historischer  Dokumente, 
naturhistorischer,  medizinischer,  astronomischer  und  magischer  Bücher  ent- 
hält, sondern  auch  in  Griechenland,  wo  in  den  uns  erst  im  vierten  vor- 
christlichen Jahrhundert  kenntlicher  werdenden  Schuleinrichtungcn  Biblio- 
theken und  naturwissenschaftliche  Museen  unter  den  Schutz  der  Gottheiten 
gestellt  werden.  Profane  astronomische  Observatorien  lassen  sich  bereits 
im  5.  Jahrhundert  an  vielen  Orten  Griechenlands,  zum  Teil  in  Verbindung 
mit  astronomischen  Schulen  nachweisen.  Die  Ausgrabungen  von  Pergamon 
haben  eine  Verbindung  der  berühmten  pergamenischen  Bibliothek  mit 
einem  Heiligtum  der  Athene  ergeben,  wie  die  erste  öffentliche  Bibliothek 
in  Rom  im  Jahre  3g  v.  Chr.  von  Asinius  Polio  in  dem  Tempel  der  Liberias 
eingerichtet  wurde.  Diese  Sitte,  die  Bibliotheken  an  die  Gotteshäuser 
anzugliedern,  ging  auf  die  Christen  über  und  hat  sich  durch  die  Kirchen- 
und  Klosterbibliotheken  bis  in  die  Neuzeit  erhalten. 

Unter  allen  Instituten  der  Wissenschaft  i.st  von  jeher  die  Bibliothek 
als  das  wichtigste  und  unentbehrlichste  Hilfsmittel  zur  Sicherung,  Ver- 
breitung und  Fortpflanzung  der  Gelehrsamkeit  und  zur  Ergänzung  der 
schnell  verhallenden  viva  vox  der  Lehrer  erkannt  worden.  Wo  daher  die 
Wissenschaft  blüht,  da  gibt  es  große,  wohleingerichtete  Bibliotheken,  wo 
sie  verblüht,  verschwindet  auch  jene  und  umgekehrt.  Große  äußere 
Katastrophen,  wie  der  Brand  der  Alexandrinischen  Hauptbibliothek,  haben 
gewiß  Einfluß  auf  die  Gestaltung  der  Wissenschaft  ausgeübt.  Ein  gut 
Teil  der  gelehrten  Tätigkeit,  die  sich  in  einer  Stadt,  in  einem  Lande  ent- 
faltet, hängt  von  der  Organisation  dieses  Institutes  ab,  das  den  Geistes- 
wissenschaften den  wichtigsten,  den  Naturwissenschaften  einen  unentbehr- 
lichen Apparat  zum  Studium  liefert.  Während  bis  zur  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  in  vielen  Ländern,  auch  in  Deutschland,  an  der  Spitze  der 
größeren  Bibliotheken  bedeutende  Gelehrte  standen,  die  jenes  Institut  im 
Nebenamt  verwalteten,  und  gelehrte  Tätigkeit  auch  bei  den  Bibliothekaren 
die  Regel  war,  ist  seitdem  eine  eigene  Bibliothekswissenschaft  heran- 
gewachsen, die  sich  allmählich  Selbstzweck  geworden  ist. 

Während  man  mit  der  Entwicklung  aller  anderen  wissenschaftlichen 
Institute  in  Deutschland  zufrieden  sein  kann,  und  viele  auf  der  ganzen 
W'elt  nicht  ihresgleichen  finden,  darf  dieser  Ruhm  nicht  in  gleicher  Weise 
den  Bibliotheken  zugesprochen  werden.  Altfundierte  Institute,  wie  die 
Münchener,  Leipziger,  Göttinger  und  Wiener  Bibliothek,   oder  solche,  wo 


5  10  HermAnn  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

hervorragende  Gelehrte  gewirkt  haben,  wie  in  Bonn  (Welcker,  Ritschi), 
mögen  vielleicht  den  Ansprüchen  wenigstens  der  am  meisten  auf  die 
Bibliothek  angewiesenen  Disziplinen  genügen.  Viele  Universitätsbiblio- 
theken und  vor  allem  die  Bibliotheken  der  Hauptstadt  Deutschlands  sind 
nicht  in  gleicher  Weise  mit  der  Entwicklung  der  Wissenschaft  und  der 
Universitäten  in  ihrer  Leistungsfähigkeit  vorangeschritten.  Für  die  Drei- 
millionenstadt und  den  Mittelpunkt  der  deutschen  Wissenschaft  sind  die 
Bestände,  die  Räume,  die  Einrichtungen  unzureichend.  Doch  ist  zu 
hoffen,  daß  die  neuen  Männer  und  die  neuen  Gebäude  die  Kgl.  Bibliothek 
und  die  damit  verbundene  Universitätsbibliothek  in  Berlin  wieder  zu 
einem  wirklich  funktionierenden  Organismus  umgestalten  werden. 

In  Berlin  wie  in  ganz  Deutschland  herrscht  das  Ausleihesystem. 
Wie  sich  in  den  Volksbibliotheken  deutlich  herausgestellt  hat,  hängt  die 
Vorliebe  für  das  umständliche  Mitnehmen  der  Bücher  in  das  Heim  mit 
dem  Volkscharakter  zusammen.  Der  Deutsche  erwärmt  sich  nur  für  ein 
Buch  und  nützt  es  wirklich  aus,  wenn  er  es  daheim  behaglich  lesen  und 
mit  seinen  sonstigen  Büchern  und  Materialien  vergleichen  kann.  Es  wäre 
daher  übereilt,  diese  mit  der  Gründlichkeit  der  Nation  zusammenhängende 
Gewohnheit  plötzlich  ausrotten  zu  wollen,  wie  diejenigen  verlangen,  die 
einfach  zu  dem  in  Italien,  Frankreich  und  England  von  altersher  üblichen 
Präsenzsystem  übergehen  wollen.  Bei  Fach-  und  Institutsbibliotheken 
hat  man  jedoch  dieses  System  meist  eingeführt  und  bewährt  gefunden. 
Auch  der  Ausweg  scheint  nicht  richtig,  dem  Publikum  durch  kurze  Aus- 
leihfristen und  sonstige  Schikanen  das  Ausleihen  abgewöhnen  und  es  so 
allmählich  zum  Präsenzsystem  erziehen  zu  wollen.  Vielmehr  ist  für  Deutsch- 
land oder  wenigstens  für  die  Hauptstadt  Deutschlands  m.  E.  das  richtige, 
beide  Systeme  nebeneinander  zu  entwickeln.  Man  sollte  eine  große 
Präsenzbibliothek  und  daneben  mindestens  Eine  große,  leistungsfähige  Aus- 
leihbibliothek haben. 
Präsenz-  Eine  Präsenzbibliothek  ist  nötig  für  alle  dieienisren  Gelehrten,  die 

bibliotbeken.        .  o  j         o  ' 

eine  große  Zahl  verschiedener  Bücher  oder  bändereicher  Werke  zu 
gleicher  Zeit  benutzen  müssen,  ferner  für  alle  diejenigen,  die  nur  einzelne 
Bände  oder  ganze  Serien  von  Zeitschriften  durchzusehen  oder  kleine 
Notizen  aus  mannigfacher,  disparater  Literatur  auszuziehen,  für  die  Autoren, 
die  für  rasch  zu  erledigende  Korrekturen  kurzen  Einblick  in  gewisse 
Bücher  zu  nehmen,  für  Prüfungskandidaten,  die  in  knapp  bemessener  Frist 
ihre  Examenarbeiten  mit  Benutzung  zum  Teil  umfangreicher  Literatur  zu 
fertigen  haben,  femer  für  Beamte,  die  für  dringende  Gutachten  oder  eilige 
Auskünfte  ein  bestimmtes  Buch  oder  mehrere  unbedingt  sofort  einsehen 
müssen,  oder  für  Zeitungsberichterstatter,  die  rasche  Belehrung  für  ihre 
Zwecke  dort  zu  erhalten  suchen.  Für  alle  diese  Bedürfnisse,  die  in  dem 
Mittelpunkt  der  Regierung,  der  großen  Museen  und  Institute,  der  Presse 
besonders  dringend  sind,  ist  eine  große  und  möglichst  vollständige  Präsenz- 
bibliothek so  dringend  nötig,  wie  Wasser  für  die  Feuerwehr. 


IX.  Bibliotheken  und  Kataloge. 


641 


Daneben  aber  besteht  das  Bedürfnis  nach  einer  nicht  raschen  und 
sofortigen,  aber  möglichst  ausgiebigen  und  gründlichen  Belehrung.  Der 
Deutsche  will  seine  Bücher  studieren  und  „heimisch"  in  ihnen  werden.  Das 
kann  er  nur  zu  Hause.  Daher  müssen  auch  Bibliotheken  da  sein,  welche  die 
Bücher  zum  gründlichen  und  länger  andauernden  Studium  ausleihen.  Die 
Gründlichkeit  der  Forschung,  die  dem  Deutschen  eigen  ist,  würde  in  Frage 
gestellt,  wenn  er  alle  Bücher,  die  er  nicht  selbst  besitzt,  nach  drei  Wochen 
abliefern  sollte.  Freilich  kostet  dieses  Ausleihesystem  mit  bequemen 
Rücklieferungsfristen  mehr  Exemplare,  als  man  bisher  in  den  öffentlichen 
Bibliotheken  für  nötig  erachtet  hat,  anzuschaffen.  Allein  diese  vielbegehrten 
Bücher,  die  mehrfach  bestellt  werden,  beschränken  sich  auf  eine  den  kun- 
digen Bibliothekaren  ziemlich  genau  bekannte  Anzahl.  Diese  kurrenten 
Bücher  müssen  nach  einem  in  den  Leihbibliotheken  bewährten  Systeme 
in  mehreren  Exemplaren  vorhanden  sein.  Es  schadet  nichts,  wenn  solche 
Werke  in  zwanzig  Exemplaren  vorhanden  sind.  Auch  ist  die  Verwirk- 
lichung dieses  Systems  weder  so  schwierig  noch  so  kostspielig,  wie  man 
sich  das  denkt.  Jeder  Gelehrte,  der  überhaupt  Bücher  sammelt,  nicht  als 
Bibliophile,  sondern  um  das  gelehrte  Handwerkszeug  zur  Hand  zu  haben, 
besitzt  in  der  Regel  eben  jene  gangbaren  Werke.  Man  braucht  nun  nur 
die  beim  Tode  von  Gelehrten  der  verschiedenen  Hauptfächer  sich  bietende 
Gelegenheit  zur  Erwerbung  von  Handbibliotheken  konsequent  zu  benutzen, 
um  in  billigster  und  bequemster  Weise  fortdauernd  die  nötige  Ausstattung 
der  Ausleihebibliothek  mit  der  üblichen  Literatur  in  ausreichenden  Exem- 
plaren zu  enverben. 

Wenn  Alexandrien,  eine  Stadt  von  300000  Einwohnern,  zwei  große 
Bibliotheken  besaß  (Brucheion  und  Serapeion),  so  dürfte  eine  Dreimillionen- 
stadt wie  Großberlin,  das  in  wissenschaftlicher  Beziehung  gern  an  der 
Spitze  der  Nationen  marschieren  möchte,  mindestens  zwei  große  Biblio- 
theken besitzen,  eine  große  möglichst  vollständige  mit  großen  Lesesälen 
und  bequemen  Katalogen  ausgestattete  Präsenzbibliothek,  in  der  jedes 
Buch  in  5  Minuten  zur  Stelle  ist,  und  eine  mit  der  laufenden  Literatur 
reichlich  ausgestattete  Ausleihebibliothek,  die  leichtbeweglich  den  Bedürf- 
nissen der  Wissenschaft  und  des  Publikums  muß  folgen  können.  Dazu 
gehört,  daß  jährlich  ein  Autodafe  aller  veralteten  Literatur  veranstaltet 
oder  wenigstens  deren  Ausstoßung  oder  Abschiebung  an  andere  Institute 
verfügt  und  Platz  für  neues  oder  wertvolles,  aber  noch  nicht  vorhandenes 
Büchermaterial  geschaffen  werde. 

Zu  dieser  Ausscheidung  wie  zur  Anschaffung  der  Bücher  gehört  eine 
vollständige  lebendige  Kenntnis  der  Vorgänge,  die  sich  auf  den  einzelnen 
wissenschaftlichen  Gebieten  abspielen.  Daher  ist  es  durchaus  nötig,  daß 
die  eigentliche  Leitung,  sowohl  der  ganzen  Bibliothek  wie  der  einzelnen 
wissenschaftlichen  Abteilungen,  in  den  Händen  von  bewährten  Fach- 
gelehrten ruhe.  Diese  müssen  Zeit  haben,  neben  ihrer  eigentlichen 
Bibliotheksarbeit  der  Bewegung  der  Wissenschaft  nicht   nur   von   weitem 

DiB  Kultur  der  Gbgbnwart.    Li.  41 


Ausleihe, 
bibliothek. 


Bibliothoki- 
beamte. 


f.. 2  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

ZU  folgen,  sondern  sich  daran  £iktiv  zu  beteiligen.  Die  mechanische  Ar- 
beit aber,  die  von  mittleren  und  untergeordneten  Kräften  ebenso  gut  be- 
sorgt werden  kann,  sollte  den  wissenschaftlich  durchgebildeten  und  tätigen 
Beamten  möglichst  abgenommen  werden.  Es  ist  eine  Vergeudung  von 
Kraft,  wenn  zum  Zettelausschreiben,  Bücheraussuchen  usw.  dauernd  ge- 
lehrte Beamte  herangezogen  werden,  wozu  Subalterne  wie  in  der  sonstigen 
Bureauverwaltung  weit  geeigneter  sind.  Auch  gebildete  Frauen  finden 
hier  ein  sehr  geeig-netes  Feld  der  Wirksamkeit. 
Schnelligkeit  Das  Wichtigste  bei  einer  Bibliothek  ist,  daß  die  gewünschten  Bücher 

''"  ^''"''''"°"' vorhanden  sind;  das  zweite,  daß  sie  in  der  denkbar  kürzesten  Frist  ge- 
funden und  bereit  gestellt  werden.  Wenn  es  an  großen  Bibliotheken  nicht 
selten  vorkommt,  daß  Bestellungen  erst  nach  zwei,  bisweilen  nach  drei 
bis  vier  Tagen  ausgeführt  werden,  darf  man  sagen,  daß  die  Bibliothek 
ihren  Beruf  verfehlt  hat. 
Katalog.  Das    dritte    ist    die    Vollständigkeit    und    praktische    Einrichtung    der 

Kataloge.  Die  „Berufsbibliothekare"  haben  großen  Scharfsinn  und  an- 
gestrengtes Nachdenken  darauf  verwandt,  ein  möglichst  umständliches 
Schema  zur  Ausarbeitung  der  Namen-  und  Fachkataloge  auszuarbeiten. 
Da  sie  aber  in  der  Regel  nur  an  ihren  inneren  Dienst  denken,  nicht  an 
die  Benutzer,  für  die  überhaupt  der  Katalog  immer  noch  als  ein  Arkanum 
angesehen  zu  werden  scheint  („Zur  Einsicht  des  Fachkatalogs  bedarf  es 
jedesmal  der  Erlaubnis  des  diensttuenden  Beamten"),  kann  der  Gelehrte 
aus  der  bibliographischen  Hieroglyphik  dieser  modernen  Kataloge  nicht 
den  Nutzen  ziehen,  den  er  möchte.  Wir  verlangen  nicht  mehr  (so  be- 
scheiden ist  der  moderne  Mensch  geworden),  was  der  große  Gelehrte  und 
Bibliothekar  Kallimachos  (um  250  n.  Chr.)  in  seinem  125  Bände  fassenden 
Kataloge  der  Alexandrinischen  Bibliothek  leistete,  eine  vollständige 
biographisch-literarische  Orientierung  über  die  Autoren,  wir  verlangen 
auch  nicht  mehr  (außer  Handschriften  und  Raritäten)  die  Verzeichnung  des 
Incipit  und  die  Aufzählung  der  sonst  bekannten,  aber  in  der  BibUothek 
zufällig  nicht  vorhandenen  Werke.  Wir  verlangen  nur  eine  klare  und 
kurze  Verzeichnung  der  vorhandenen  Bücher,  die  zur  Identifikation  aus- 
reicht, sowohl  in  systematischer  wie  in  alphabetischer  Anordnung.  Die 
bequemste  Form  und  Aufstellung  dieser  beiden  (für  das  wissenschaftliche 
Publikum  wohlgemerkt,  nicht  für  den  inneren  Dienst)  bestimmten  Kataloge 
zu  ermitteln,  muß  der  Intelligenz  und  vor  allem  dem  guten  Willen  der 
Fachleute  überlassen  bleiben.  Der  Umschwung  der  öffentlichen  Meinung, 
der  nicht  in  den  Minutien  des  Bibliotheksdienstes,  wie  er  sich  bei  uns 
durch  das  Walten  der  „Berufsbibliothekare"  ausgestaltet  hat,  das  Heil 
sieht,  sondern  energisch  verlangt,  daß  das  Publikum,  und  zwar  vor  allem 
das  wissenschaftlich  forschende  Publikum,  berücksichtigt  werde,  wird 
hoffentlich  dazu  führen,  unter  der  Ägide  weitblickender  und  energischer 
Männer  die  dargelegten  Hauptbedürfnisse  zu  befriedigen.  Wenn  für  Einzel- 
institute bedeutende  Summen  zur  Verfügung  gestellt  worden  sind,  so  darf 


IX.  IJibliothcken  und  Kataloge.  64^ 

bei  den  Zentralinstituten,  den  Bibliotheken,  weder  in  der  Provinz  noch 
gar  in  der  Hauptstadt  geknausert  werden.  Wenn  wir  dann  in  der  nächsten 
Generation  das  Versäumte  nachgeholt  haben,  wird  der  Deutsche  hoffent- 
lich, wenn  von  praktisch  eingerichteten  und  wissenschaftlich  leistungs- 
fähigen Bibliotheken  in  der  Welt  die  Rede  sein  wird,  nicht  mehr  nötig 
haben,  errötend  die  Augen  zu  Boden  zu  senken. 

Die  Handschriften  und  älteren  Drucke  werden  bereits  seit  Jahrhunderten  BibiioRraphieen. 
in  gedruckten  Katalogen  verzeichnet,  von  denen  freilich  nur  die  wenigsten      k-iuiog«. 
an  die  wissenschaftliche  Form,  die  z.  B.  die  Publikationen  der  Kgl.  Biblio- 
thek zu  Berlin  auszeichnet,  heranreichen. 

Für  die  Druckschriften,  die  in  den  größeren  preußischen  Bibliotheken 
sich  vorfinden,  gibt  ein  in  der  Entstehung  begriffener,  vorläufig  hand- 
schriftlich hergestellter  „Gesamtkatalog"  Aufschluß,  der  so  zustande 
kommt,  daß  eine  Abschrift  des  Zettelkatalogs  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek 
den  preußischen  Universitätsbibliotheken  zur  Vervollständigung  zugeschickt 
wird.  Mit  Hilfe  des  bis  jetzt  ganz  fertiggestellten  Teiles  des  Gesamt- 
kataloges  (dieser  Teil  reichte  April  igo6  bis  „Christ")  ist  es  möglich,  das 
Vorhandensein  eines  Buches  auf  einer  der  beteiligten  Bibliotheken  fest- 
zustellen. Man  hat  nämlich  nur  nötig,  sich  an  das  mit  dem  Gesamtkatalog 
in  Verbindung  stehende  „Auskunftsbureau«  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin 
zu  wenden,  um  zu  erfahren,  auf  welchen  Bibliotheken  sich  das  gesuchte 
Werk  befindet.  Die  geplante  Ausdehnung  dieses  Werkes  auf  alle  deut- 
schen Hauptbibliotheken  wird  vermutlich  an  den  großen  Kosten  und 
anderen  Schwierigkeiten  scheitern. 

Wegen  der  enormen  Kosten  des  Satzes  wird  auch  von  einer  weiteren 
Verbreitung  des  Gesamtkataloges  durch  den  Druck  vorläufig  wohl  Abstand 
genommen  werden  müssen.  Auch  ist  ja  dieser  Katalog  durch  den  Zuwachs 
in  beständiger  Fortbildung  begriffen.  Doch  wäre  zu  erwägen,  ob  eine 
Vervielfältigung  in  einer  beschränkten  Zahl  von  Exemplaren  sich  nicht 
ermöglichen  ließe.  Es  ist  überhaupt  ein  dringendes  Bedürfnis  der  Wissen- 
schaft, daß  die  Technik  ein  billiges  Surrogat  des  unerschwinglichen  Druckes 
für  kleine  Auflagen  von  wissenschaftlichen  Aufsätzen,  Repertorien  und 
Nachschlagewerken   ausfindig  mache. 

Gute  Dienste  für  die  moderne  Literatur  leisten  inzwischen  die  „Ver- 
zeichnisse der  erschienenen  und  vorbereiteten  Neuigkeiten  des  deutschen 
Buchhandels",  die  von  der  Hinrichsschen  Buchhandlung  in  Leipzig  all- 
wöchentlich im  Interesse  des  Verlages  herausgegeben  werden.  Wissen- 
schaftlich wertvoll  sind  die  für  die  einzelnen  Fächer  von  den  ältesten 
Zeiten  der  Buchdruckerkunst  bis  zur  Gegenwart  geführten  Bibliogra- 
phie en.  Sie  umfassen  entweder  die  gesamte  inländische  und  ausländische 
Literatur  des  betreffenden  Faches  oder  einen  bestimmten  zeitlich  oder  in- 
haltlich abgegrenzten  Teil  derselben.  .Sehr  zahlreich  sind  die  einen  Autor 
betreffenden  bibliographischen  Monographiecn.  Die  häufigsten  und  für 
das  Leben  der  Wissenschaft  wichtigsten  Bibliographieen  sind  die  Jahres- 

4i» 


f^    ,  Hermann  Diels:  Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

berichte  der  einzelnen  Fächer,  die  teils  als  selbständige  Unternehmungen, 
teils  als  Anhängsel  von  Fachzeitschriften  auftreten. 
Internationaler  Ein    gToßartiges    Unternehmen    dieser    Art    ist    der    „Internationale 

nat'"u!«ist"   Katalog    der    naturwissenschaftlichen    Literatur",    der    eine    Aus- 
^Litfraär    gestaltung  und  Fortsetzung  der  von  der  I-^oj'al  Society  in  London  auf  An- 
regung  von  Prof.  Heary   aus  Washington   1855    unternommenen   Catalogue 
of  Scientific  Paper s  ist  (11  Quartbände,  die  naturwissenschaftliche  Literatur 

1800 1883    umfassend,   Supplemente,   Sachindizes  und  Fortsetzungen  bis 

iQoi  sind  im  Werke).  Der  neue  Katalog  ist  unter  den  Auspizien  der  1900 
gestifteten  „Internationalen  Assoziation  der  Akademieen"  (s.  oben!)  von  der 
Royal  Society  zu  einem  die  zivilisierte  Welt  umspannenden  Riesenunter- 
nehmen ausgestaltet  worden.  Er  beginnt  mit  dem  Jahre  1901  und  soll 
für  jedes  Jahr  die  gesamte  mathematisch-naturwissenschaftliche  Produktion 
aller  Länder  nach  den  Autoren  und  dem  Inhalte  geordnet  und  mit  Stich- 
wortregistern versehen  buchen.  Zu  diesem  Zwecke  sind  neben  dem 
„Zentralbureau"  in  London  29  diesem  in  die  Hände  arbeitende  „Regional- 
bureaux"  in  den  einzelnen  Kulturländern  eingerichtet.  Die  Zeit  muß 
lehren,  ob  dieses  gigantische  Unternehmen  auf  die  Dauer  durchführbar 
erscheint.  Von  der  Riesenarbeit,  die  allein  das  deutsche  Regionalbureau 
in  Berlin  zu  diesem  Zwecke  bewältigen  muß,  kann  das  1900  abgeschlossene 
„Verzeichnis  der  deutschen  zu  bearbeitenden  Zeitschriften"  eine  Vorstellung 
geben.  Es  enthält  1258  Nummern.  Es  gibt  aber  zugleich  auch  eine  Vor- 
stellung von  der  in  der  Form  der  „Zeitschrift«  sich  vollziehenden  Jahres- 
produktion der  Wissenschaft,  wenn  man  bedenkt,  daß  diese  Zahl  nur  die 
Elite  der  Fachzeitschriften  umfaßt,  wenn  man  ferner  die  in  den  übrigen 
Kulturländern  erscheinenden  Zeitschriften  mitrechnet,  wenn  man  endlich 
bedenkt,  daß  dies  alles  nur  die  eine  Hemisphäre,  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaft, betrifft,  der  eine  gewiß  nicht  minder  große  Produktion  der 
„Geisteswissenschaften"  gegenübersteht. 

Zeitschriften.  X.     Zeitschriften,     Buch     und     Buchhandel.      Wahrlich,     wenn 

man  den  Ozean  der  wissenschaftlichen  periodischen  Literatur  über- 
blickt (von  der  populären  gar  nicht  zu  reden),  die  sich  alljährlich, 
ja  alltäglich  über  die  ganze  Erde  ergießt,  kann  wohl  in  zaghaften 
Gemütern  die  Befürchtung  aufsteigen,  die  Welt  möchte  an  einer  neuen 
papierenen  Sintflut  zugrunde  gehen.  Wer  kann  denn  nur  das  in  der 
eigenen  Wissenschaft  Geleistete  noch  lesen,  geschweige  denn  prüfen? 
Selbst  in  den  Spezialgebieten  ist  der  Strom  der  Literatur  so  ange- 
schwollen, daß  ihn  niemand  mehr  durchschwimmen  kann.  So  klagte  neu- 
lich ein  her^-orragender  Anatom,  es  sei  unmöglich,  die  Erscheinungen 
auch  nur  der  Gehirnanatomie,  für  die  er  sich  besonders  interessiert, 
einigermaßen  zu  verfolgen.  Man  hat  das  Gefühl  des  Goetheschen  Zauber- 
lehrlings den  übermächtigen  Wassern  gegenüber,  die  aus  der  Zeitschriften- 
Hteratur   wie   aus    tausend  beständig  speienden  Öffnungen  uns   entgegen- 


X.  Zeitschriften,  Buch  und  Huchhandel. 


645 


sprudeln.  Qitis  leget  haec?  fragt  man  verzweifelnd  mit  dem  römischen 
Satiriker.  Die  Natur  besitzt  dagegen  ein  langsames,  aber  sicheres  Mittel: 
den  Moder,  der  früher  oder  später  alles  vernichtet,  was  nicht  weiter  zu 
leben  und  zu  wirken  vermag. 

Das  Buch  ist  ein  Erzeugnis  der  Wissenschaft.  Denn  die  Poesie  ist  Du  Bach, 
nicht  auf  die  Niederschrift  angewiesen.  Des  Dichters  Lied  schwingt  sich 
auf  den  Flügeln  des  Gesanges  von  einem  Geschlecht  zum  andern,  ohne 
daß  die  schriftliche  Feststellung  selbst  in  durchaus  schriftkundigen  Zeiten 
notwendig  erschiene.  Astronomische  Berechnungen  lassen  sich  nicht  ohne 
Tabellen  und  Aufzeichnungen  durchführen,  geographische  und  historische 
Berichte,  wenn  sie  nicht  bloß  ergötzen,  sondern  praktisch  verwendbar  sein 
sollen,  können  der  Fixierung  durch  die  Schrift  nicht  entbehren.  So  gibt 
es  in  Ägypten,  in  Babylon,  in  Griechenland  unmittelbar  nach  dem  Auf- 
treten der  Wissenschaft  auch  wissenschaftliche  Bücher.  Der  Stand  der 
Gelehrsamkeit  eines  bestimmten  Volkes  in  einer  bestimmten  Zeit  läßt  sich 
an  der  Zahl  der  wissenschaftlichen  Bücher  wie  an  einem  Pegel  ablesen. 
Freilich  ist  die  Flut  der  Bücher  nicht  in  dem  außerordentlichen  Maße  an- 
geschwollen als  die  der  Zeitschriften.  Die  Klage,  daß  diese  das  ehrliche 
Buch  mit  ihrer  ephemeren  Existenz  überwucherten  und  erstickten,  ist  alt. 
Schon  Crabbe  jammert  in  seinem  Newspaper  (1785) 

For  these  unread  the  nablest  volumes  lie: 
For  these  in  sheets  unsoiled  the  Muses  die; 
Unbought,  unblest,  the  virgin  copies  ivait 
In  vain  for  fame,  and  sink,  unseen,  to  fate. 

In  der  Tat  scheint  es  auch  heute  noch  in  England  ebenso  leicht  zu 
sein,  in  eine  Zeitung  oder  Zeitschrift  zu  schreiben,  als  schwer,  ein  ernstes, 
wissenschaftliches  Buch  auf  den  Markt  zu  bringen.  Der  Philosoph  Spencer 
fand  keinen  Verleger  für  sein  System  0/  syiithefic  philosophy  und  kam,  als 
er  es  auf  eigne  Kosten  drucken  ließ,  hart  an  den  Rand  des  Ruins.  Nach 
dem  zweiten  Band  teilte  er  1865  seinen  Lesern  mit,  er  sei  wegen  Teil- 
nahmlosigkeit  des  Publikums  nicht  in  der  Lage,  weiter  zu  arbeiten.  Später 
griffen  Freunde  ein  und  ermöglichten  die  Fortsetzung.  Im  18.  Jahrhundert 
sind  solche  I-'älle  auch  bei  uns  nicht  selten.  Reiskes  Ausgabe  der  grie- 
chischen Redner,  ein  monumentales  Werk,  fand  keinen  Verleger,  und  als 
der  treffliche  Mann  auf  eigene  Kosten  zu  drucken  anfing,  blieb  der  Ab- 
satz zu  Anfang  so  gering,  daß  die  Portsetzung  nur  dadurch  gesichert  wer- 
den konnte,  daß  Frau  Reiske  ihre  Juwelen  verkaufte.  Dagegen  ist  im 
letzten  Jahrhundert  meines  Wissens  in  Deutschland  kein  bedeutendes 
wissenschaftliches  Werk  durch  äußere  Umstände  am  Erscheinen  verhindert 
worden,  namentlich  nicht  durch  die  Zeitschriften.  Denn  diese  nehmen 
ihrer  Bestimmung  nach  nur  kleinere  Aufsätze  von  i — 3  Bogen  Umfang' 
auf.  Das  Buch  aber  beginnt  erst  jenseits  dieser  Grenze  lebensberechtigt 
zu  werden.  In  der  Regel  kann  also  das  umfänglichere  Buch  mit  der 
Zeitschriften-  und  Broschürenliteratur  gar  nicht  direkt   in  Streit  kommen. 


A.A  Hkkmann   Diei.s:   Die  Organisation  der  Wissenschaft. 

Aber  freilich  in  anderer  Weise  gräbt  diese  Zeitschriftenmasse  dem  Buche 
das  Wasser  ab.    Die  Spaltung  der  Wissenschaft  und  damit  Hand  in  Hand 
gehend    die    Vermehrung    der    Sonderzeitschriften    hat    im    vorigen    Jahr- 
hundert  eine   solche   Ausdehnung   gewonnen,   daß    der  Markt   durch    diese 
Überfülle  periodischer  Ware  für  das  Einzelbuch   immer  schwieriger  sich 
gestaltet.      Namentlich    die     kleineren    öffentlichen    Bibliotheken    klagen 
darüber,    daß     das    Zeitschriftenkonto     fast    das     ganze    Jahreseinkommen 
aufzehre,     so     daß     selbst    für    bedeutende    Bücher     keine    Mittel     übrig 
bleiben.     Aber    diese    Zeitschriftenflut    ist    auch    innerlich    ungesund.      In 
jeder    Abteilung    der  Wissenschaft    gibt    es    wohl    höchstens    nur    ein    bis 
zwei   altfundierte  Unternehmungen,   die   sich  selbst  erhalten.     In  allen  an- 
deren Fällen  muß  der  Verleger  oder  der  Verein  oder  der  Staat,  oder  wer 
sonst  immer,  zuschießen,   da  die  Anzahl   der  Abnehmer  die  Kosten  lange 
nicht  deckt.    Die  Verleger  freilich  haben  ein  großes  Interesse  daran,  solche 
Zeitschriften   zu   verlegen,   weil   sie    dadurch  in  intime  Berührung  mit  den 
Autoren   und   mit   den  Lesern   der  betreffenden  Fachwissenschaft  kommen 
und   sich   daher  für  die  Erweiterung  und  den  Absatz  ihres  Verlages  Vor- 
teil versprechen.    Auch  wird  der  Raum  außerhalb  des  eigentlichen  wissen- 
schaftlichen Inhaltes    zur  Reklame   verwendet.     Diese  wohl  nicht  ganz  be- 
gründete Vorliebe  der  Verleger  für  die  SpezialZeitschriften  legt  ein  gut  Teil 
des  Betriebskapitals  des  Verlagsgeschäftes  fest  und  entzieht  ihn  dem  Ver- 
trieb größerer  wissenschaftlicher  Werke.  Auch  insofern  ist  die  Zeitschrift  dem 
Buche  schädlich.  Glücklicherweise  sieht  es  in  dieser  Beziehung  im  deutschen 
Verlagsgeschäfte   noch   nicht   so    traurig   aus   wie    im   Auslande.     Bei    der 
notorischen   Unrentabihtät    der   meisten    streng   wissenschaftlichen   Werke, 
sobald  sie  nicht  Modeartikel  betreffen  oder  enzyklopädisch  angelegt  sind 
(Handbücherliteratur),  begreift  man  nicht,  wie  es  namentlich  unser  deutscher 
Verlag   zustande   bringt,  noch  so   viel   schwere  wissenschaftliche  Literatur 
auf  den    Markt   zu   bringen,    zumal    die    Herstellung   der   kleinen   hier   be- 
nötigten Auflagen  von  etwa  600  Exemplaren  durch  die  von  Jahr  zu  Jahr 
rapid   steigenden   Satz-   und   Papierkosten   und   die    ebenso   bedeutend   ge- 
stiegenen Ansprüche    des   Publikums    an   Ausstattung   immer    kostspieliger 
wird.      Die    Erklärung    für    dieses   Rätsel   liegt   darin,    daß    der    vornehme 
deutsche  Verlagsbuchhandel  so  gebildet  ist,  einzusehen,  daß  alles,  was  von 
Enzyklopädieen,  Kompendien  und  Scliulbüchern,  d.  h.  an  den  Büchern  der 
großen  Auflagen,  verdient  wird,  lediglich  das  Produkt  der  ernsten  Arbeit 
der  Wissenschaft  ist.     Indem   er  daher  die   eigentlichen   Produzenten  der 
geistigen  Kultur   in    vornehmer  Weise  unterstützt,    ohne    diese   merken  zu 
lassen,   was    der  Verleger   bei  jedem  Bande   gelehrter   Ware    aus   eigener 
Tasche  zusetzt,  sichert  er  sich  zugleich   den  Verdienst   aus  dem  Massen- 
absatz   der    daraus    gespeisten    populären    oder    pädagogischen    Literatur. 
Denn   ein  Handbuch   oder  Schulbuch,   das   nicht   den   neuesten  Stand   der 
Wissenschaft  darstellt,   wird  unbarmherzig  von  der  Konkurrenz  erdrückt. 
Es  ist  für  das  Fortbestehen  der  Wissenschaft,   zumal  in  Deutschland,  von 


X.  Zeitschriften,  Buch  und  Buchhandel.  6^7 

der  größten  Wichtigkeit,  daß  diese  edle  Symbiose  der  streng  wissenschaft- 
lichen und  populär-praktischen  Literatur  in  den  großen  Verlagshäusem 
weiter  gepflegt  und  gestärkt  werde.  Denn  es  wäre  der  Untergang  der 
Wissenschaft,  wenn  die  Verleger  bloß  noch  die  gewinnbringenden  Artikel 
kultivieren  wollten.  Es  wäre  der  Ruin  auch  der  Gelehrten,  wenn  sie  von 
eigennützigen  Verlegern  sich  verleiten  ließen,  bloß  auf  das  praktische  In- 
teresse hinzuarbeiten  oder  durch  populär-ästhetische^  Allüren  die  hehre 
Wissenschaft  zur  Dirne  erniedrigten.  Die  Forschung,  die  genötigt  wäre, 
um  nur  veröffentlicht  zu  werden,  nicht  mehr  für  die  Fachgenossen,  sondern 
für  die  „Gebildeten  weitester  Kreise"  zu  schreiben,  würde  sich  selbst  ver- 
nichten. Alle  Wissenschaft  ruht  im  Innersten  auf  einer  dem  Erwerbe  ent- 
gegengesetzten ethischen  Grundstimmung.  Sobald  der  I-'orscher  und  Ver- 
leger ihr  Bestes  nicht  mehr  umsonst  oder  so  gut  wie  umsonst  geben,  hört 
der  Gottesdienst,  als  welchen  Sokrates  die  Forschung  nach  der  Wahrheit 
bezeichnet  hat,  auf  und  der  Tanz  um  das  goldene  Kalb  beginnt.  Über- 
lassen wir  das  der  modernen  Sophistik,  die  ja  üppig  genug  emporschießt! 

Mit  dieser  Warnung  wird  zugleich  die  heutzutage  von  gewissen  Ver- 
legern getriebene  quasiwissenschaftliche  Ruchmacherei  getroffen,  die  mit 
Abbildungen,  die  nicht  erklärt  werden,  und  mit  Ausstattungskünsten,  die 
in  einem  gelehrten  Buche  niemand  sucht,  ein  oberflächliches  Massen- 
publikum heranzuziehen  sucht.  Diese  Art  von  Volkserziehung  bleibe  uns 
fem!  Damit  soll  aber  nicht  zugleich  die  Notwendigkeit  und  Verdienst- 
lichkeit aller  der  Bestrebungen  geleugnet  werden,  die  darauf  abzielen,  die 
Ergebnisse  der  Wissenschaft  in  ehrlicher  Weise  unter  das  Volk  zu  bringen. 

Die  gutgeleiteten  deutschen,  französischen  und  englischen  Fach-Enzy- Knzykiopadicca. 
klopädieen,  die  auf  den  Hauptgebieten  in  alphabetischer  Anordnung  den 
Inbegriff  der  betreffenden  Wissenschaft  kurz  und  präzise  zum  Ausdruck 
bringen,  sind  eine  unentbehrliche  und  nicht  genug  zu  bewundernde  Ein- 
richtung. Noch  bewundernswürdiger  sind  die  großen  Universal-Enzy- 
klopädieen  (oder  wie  wir  lächerlicherweise  sagen  Konversationslexika), 
die  von  Fachmännern  verfaßt  und  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft  gehalten 
werden.  Diese  Organisationen  sind  mustergültig  in  der  Technik  ihrer 
Herstellung  und  bei  weitem  das  wirksamste  Mittel  zur  Popularisierung  der 
gelehrten  Forschungen.  Sie  geben  in  jedem  Artikel  den  Kern  der  jetzt 
herrschenden  Kenntnis  in  der  Regel  präzis  wieder  und  verweisen  weiter 
Strebende  auf  die  beste  Literatur.  Einige  meist  gutgewählte  Abbildungen 
wirken  auf  die  Anschauung  und  verdeutlichen  das  im  Text  Angedeutete. 
Ebenso  staunenswert  als  die  Bearbeitung  des  unermeßlichen  disparaten 
Stoffes  ist  die  kaufmännische  Organisation,  die  es  versteht,  eine  stattliche 
Reihe  dicker  Bände  in  unzähligen  Exemplaren  bis  in  die  kleinsten  Dörfer 
zu  vertreiben. 

Wenn  es  in  der  Aufgabe  unserer  Zeit  liegt,  Bildung  und  Wissen  bis    Buchhmdci. 
in  die  äußersten  Adern  des  Volkskörpers  zu  verbreiten,  so  spielt  in  dieser 
Beziehung  neben  der  Presse   der  Buchhandel  die  wichtigste  Rolle.     Es 


A^g  Hr.KMANN  DlEi-S:  Die  Organisation  der   Wissenschaft. 

ist  keine  Frage,  daß,  wenn  in  der  Wissenschaft  nach  Höhe  und  Tiefe 
Deutschland  eine  führende  Stellung  einnimmt,  diese  nicht  zum  kleinsten 
Teile  der  trefflichen  Organisation  des  deutschen  Buchhandels  verdankt  wird. 
Es  mögen  dabei  einzelne  Schäden  vorhanden,  einzelne  Einrichtungen  nicht 
mehr  zeitgemäß,  einzelne  Neuerungen  unüberlegt  sein,  im  ganzen  ist  der 
deutsche  Buchhandel  seiner  Kulturaufgabe  gerecht  geworden  und  wird  es 
bleiben,  wenn  er  sich  in  den  bisherigen  Bahnen  hält.  Die  Sortiments- 
buchhändler, die  zwischen  Verleger  und  Publikum  in  der  Mitte  stehen, 
sind  ein  unentbehrliches  Zwischenglied  in  diesem  Organismus.  Es  kann 
nichts  Kurzsichtigeres  geben,  als  die  Zahl  dieser  Makler  beschränken  zu 
wollen.  Vielmehr  braucht  das  Volk  in  seiner  vielgestaltigen  Abstufung 
der  Bildung  und  Bedürfnisse  aller  Arten  von  Vermittlern  des  geistigen 
Brotes:  akademisch  gebildeter,  kaufmännisch  geschulter,  elementar  vor- 
bereiteter. Alle  diese  Arten  von  Sortimentern  sind  nötig,  um  die  Bücher 
zu  vertreiben,  wie  alle  Arten  von  Lehrern,  Universitäts-,  Gymnasial-,  Ele- 
mentarlehrer, um  die  Wissenschaft  den  verschiedenen  Schichten  des  Volkes 
zu  vermitteln.  Alle  diese  Buchhändler,  vom  gelehrten  Spezialisten  der 
Hauptstädte,  der  nur  mit  der  schwersten  Wissenschaft  arbeitet,  bis  zu  dem 
kümmerlichen  Dorfbuchbinder,  der  einige  Bände  Reclam  an  seinem 
Fensterchen  stehen  hat,  sie  alle  dienen  an  ihrem  Teile  der  großen 
Kulturaufgabe,  die  belebenden  und  befruchtenden  Fluten  der  Wissen- 
schaft durch  tausend  Kanäle,  Bäche  und  Rinnsale  auf  den  Acker  der 
Menschheit  zu  leiten. 

,.  ,,  Schlußbetrachtung.       Denn     unveräußerlich     bleibt     des     Men- 

Ziel  der  ^ 

Wissenschaft,  gehen  Recht  und  Pflicht,  sich  klar  zu  werden  über  sich  selbst 
und  über  das,  was  ihn  auf  der  Welt  umgibt.  Unvertilgbar  lebt 
in  jedem  der  Drang,  mit  der  Kenntnis  dessen,  was  unter  ihm 
und  in  ihm  lebt,  hinaufzudringen  zu  dem,  was  er  nicht  kennt,  und  die 
zusammenhängende  Linie,  die  er  in  der  W^eltentwicklung  bis  auf  das  eigne 
Ich  wahrnimmt,  über  sich  selbst  hinaus  fortzusetzen.  Dieses  nie  ermattende 
und  nie  zu  stillende  Sehnen  der  Menschheit  nach  Höherbildung,  das  ein 
Korrelat  ist  zu  dem  in  der  Natur  für  jeden  Einsichtigen  erkennbaren 
Entwicklungsplane,  ist  im  Menschen  verschieden  ausgebildet,  aber  auch 
in  dem  Schwächsten  mächtig.  Die  Wissenschaft  bietet  ihm  die  Mittel,  so 
viel  vom  Wesen  der  Dinge  zu  erkennen,  als  ihr  zu  wissen  und  ihm  zu 
verstehen  zur  Zeit  beschieden  ist.  Mag  es  viel  oder  weifig  sein:  wer  an 
seiner  wissenschaftlichen  Bildung  ehrlich  arbeitet,  der  arbeitet  an  seinem 
Teile  mit  an  der  Höhenzüchtung  der  ganzen  Gattung  einem  höheren  und 
höchsten  Ziele  entgegen.  Wir  sehen  es  nicht  und  erkennen  es  nicht,  aber 
wir  ahnen  es,  und  die  wundersame  Erleuchtung,  die  uns  befällt,  wenn  wir 
uns  auch  nur  am  kleinsten  Punkte  die  Wahrheit  erarbeiten,  zeigt  uns  deutUch, 
daß  dieser  Drang  nach  geistiger  Befreiung  und  Höherbildung  kein  leerer 
Wahn,  sondern  eine  Vorahnung  höherer  Bestimmung  ist.     Einer  von  den 


SchlnQbctrachtung.  64Q 

herrlichen  Männern,  die  den  Urtrieb  der  Menschheit  und  ihren  höchsten 
Beruf  am  tiefsten  empfunden  und  die  Wissenschaft  zuerst  als  die 
wichtigste  Organisation  der  Menschheit  begriffen  haben,  nennt  dies  Dichten 
und  Trachten  der  höheren  Menschen  „möglichste  Vergottähnlichung" 
(önoiujcJi^  Geü)  Karä  t6  buvaiöv).  Nach  Piaton  also  vollendet  die  Wissen- 
schaft die  dunklen  Ahnungen  der  weisesten  Dichter  und  Propheten  und 
führt  aus  dem  animalischen  Dämmer  des  Gefühls  und  der  Triebe  zur  gött- 
lichen Klarheit  des  Wissens  und  Gewissens.  Dies  Ziel  winkt  aber  nicht, 
wie  Piaton  meinte,  nur  dem  Adligen,  sondern,  wie  wir  meinen,  dem  Streben- 
den jeglichen  Standes.  Wer  immer  von  dem  staubgeborenen  und  staub- 
fressenden Geschlechte  aus  der  unendlichen  Mühsal  des  irdischen  Lebens 
auch  nur  auf  Augenblicke  den  Geist  emporrichtet  und  die  brennenden 
Lippen  netzt  an  dem  Trünke  der  Wissenschaft  und  sich  durch  sie  zur 
geistigen  Freiheit  durchringt,  arbeitet  mit  an  dem  Werke  der  Ewigkeit. 
Er  weiß,  daß  sich  der  Fluch  des  Menschengeschlechtes  nach  Äonen 
wissenschaftlicher  und  moralischer  Weiterbildung  für  die  Nachgeborenen, 
Höhergeborenen  in  Segen  wandeln  muß:  Erifis  sicut  dcus,  scicntes  bonum 
et  tnalum. 


r- 


Literatur. 

Der  vorliegende  Artikel  ist  vor  zwei  Jahren  niedergeschrieben  worden.  Es  war  beab- 
sichtigt ,  diesen  Entwurf  nach  Vollendung  der  einzelnen  in  diesem  Bande  vorangehenden 
Teile,  die  sich  mit  dem  vorliegenden  Gegenstande  vielfach  berühren,  durchzuarbeiten.  Dies 
ist  dem  Verfasser  aus  äußeren  und  inneren  Gründen  unmöglich  gewesen.  Nur  einige  Sätze 
(darunter  eine  Mitteilung  über  astronomische  Organisationen  von  W.  Förster,  Berlin),  die 
leicht  als  Zusätze  kenntlich  sind,  traten  hinzu.  Da  die  Literatur  in  den  vorangegangenen 
Teilen  bereits  angegeben  ist,  und  niemand  diese  Zusammenfassung  wegen  der  Details  lesen 
wird,  kann  von  Buchzitaten  abgesehen  werden. 


REGISTER. 

\'on  Dr.  Richard  Böhme. 


Bei  mehrfach  angeführten  Namen  und  Stichwortea  sind  die  Hauptstellen  durch  ein  Sternchen  bezeichnet. 


A. 

Abert,  Hennann.     433. 
Abgußsammlungen.     355. 
Abiturientenexamen.      143.  149.  150.  156.  164. 

—  am  Mädcheng>Tnnasium.     233. 
Absolutismus,  Aufgeklärter.     35. 
Academie  des  arts  in  Paris.     408. 
Accademia  del  cimento.     315. 
Ach^r>',  Uom  I-uc  d'.     544. 
Ackerbau.     12. 
Ackerbauschulen.     261. 

Acta  diuma.     482.  483. 

—  eruditorum.     491. 

Adam  und  Eva,  Spiel  von.     453. 

,,Adel  deutscher  Nation,  An  den  christlichen". 

532. 
Adreß-Komptoire.     490. 
Äginetische  Expedition.     355. 
Ägypter,  Schrift  der.     518. 
Agassiz,  Louis.     361. 
Agenturen,  Telegraphische.     497. 
Agricola,  Rudolf.     128. 
Agrippa,  M.  \'ipsanius.     347.  350. 
Aischylos.     451. 
Akademie  der  Wissenschaften,  Berliner.     315. 

—  — ,  Pariser.     314. 
Akademieen.     37. 

—  Piatons.     593. 

, —  im   17.  und  18.  Jahrhundert.     314. 
— ,  Wissenschaftliche,  der  Gegenwart.  622  ff. 

^,  Folgeuntcmehmungcn  der.     626. 

— ,  Kartell  und  Assoziation  der.     628. 

— ,  Preisaufgaben  der.     625. 

— ,  Wissenschaftliche  Beamte    der.     628. 

Naturwissenschaftliche.     373. 
Aktualitätsprinzip    der   Zeitungen.     495.    509. 
Albert  von  England,  Prinzgemahl.     394. 
Albert,  Heinrich.     439. 
Albertus  Magnus.     372. 

Alembert,Jean  Lerond  d'.    315.  322.  332.  594. 
Alexandria,  Bibliothek  von.     544.  639.  641. 
— ,  Verlagsgcschäft  und  Buchhandel  in.  522. 
Alfons  von  Aragon.     531. 
Algebra.     313. 


Alkohol.     372. 

Alkuin.     123.  124.  525. 

Altenstein,  Minister  Karl  Frhr.  von  Stein  zum. 
150. 

Altertumsvereine.     357. 

Althoff,  Ministerialdirektor  im  Preuß.  Kultus- 
ministerium Friedrich.     167. 

Ambrosiana  Bibliotheca.     550. 

Amerika,  Entdeckung  von.     34. 

— ,  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen  in. 
269. 

— ,  Kultur  des  alten.     20. 

Amerikanismus,  Kirchlicher.     49. 

Ampbre,  Andre  Marie.     322.  594. 

Analyse,  Mathematische,   in  der  Physik.    322. 

Analysis.     313. 

Anatomie-Unterricht  in  der  höheren  Mädchen- 
schule.    216. 

Angelica  Bibliotheca.     550. 

Annoncenbureaux.     506. 

Annoncenteil  der  Zeitungen.     504. 

Annoncenwesen,  Aufnahme  in  die  gedruckte 
Zeitung.     490. 

Anonymität,  Prinzip  der,  in  den  Zeitungen. 
501. 

Anpassungserscheinungen.     379. 

Anschaffungsfonds  der  Bibliotheken.  573. 
576.  581. 

Anschauung,  Beurteilung  der,  im  Unterricht. 
136.   137.   139.  140. 

Anschütz-,  Heinrich.     474. 

Antikensammlungen.     348.  354. 

Antiqua-Schrift.     526. 

Anzeigeblätter.     490. 

Apollonius  i'on  Perga.     313. 

Araber,  Arbeiten  der,  in  der  Astronomie, 
Chemie,  Medizin  und  Erdkunde.     31. 

—  —  in  der  Geometrie.     313. 

Arbeiterbewegung.     40.  44. 

Arbeitcrbildungsschule ,    Sozialdemokratische. 

599- 
Arbeiterfürsorge.     46. 

Arbeiterklasse.     44. 

Arbeitsenergie.     8. 


652 


Register. 


Arbeitsschulen ,     Kurpfalz  -  bayrischer     Aller- 
höchster Erlaß  zur  Einrichtung  von.     245. 
Arbeitsteclmik  der  Schule,     221. 

—  im  Seminar.     238. 
Arbeitszwang.     4. 
Archäologie.     354.  357. 
Archimedes.     27.  313. 
Architektur,  Gotische,  32. 
— ,  Kunstformen  der.     396. 

— ,  Unterricht    in    der,    an    der  Technischen 

Hochschule.     333. 
Arier.     9  f. 

Ariost,  Ludovico.     45g. 
Aristophanes.     451.  45g. 
Aristoteles.     25.   26.   27.   287.   2g8.   312.  314. 

372-  533-  541-  592-  594-  635. 

—  -Ausgabe  der  Berliner  Akademie.     626. 
Artes  liberales,  Septem.     312. 
Artistenfakultät.     125. 

—  als  Vermittlerin  allgemeiner  Bildung  und 
Vorstufe  der  Berufsausbildung.     312. 

Aschurbanipal.     543. 

Assistenten  tum.  Wissenschaftliches.     618. 

Assoziation,   Internationale,   der  Akademieen 

der  Gegenwart.     628. 
Assoziationsrichtung,  Optische.     203. 
Astronomie  und  Astrologie,  Babylonische.  24. 
— ,  Arabische.     31. 
— ,  Griechische.     27. 
— ,  Neuzeitliche.     36. 

—  des   19.  Jahrhunderts.     41. 

—  -Unterricht.     62. 

—  -Observatorien.     316.  318. 
Astronomische  Gesellschaft, Internationale. 631. 
Astrophysik.     41. 

Asur-näsir-abal.     635. 

Athen,  Das  Buch  in.     521. 

Attavante,  Marco.     526. 

Atticus,  T.  Pomponius.     522. 

Aufklärung,  Einwirkung  der,  auf  die  Volks- 
schule.    92  f. 

Aufmerksamkeit.     204. 

Aufsatz,  Lateinischer.     156.   159.  163. 

Aufseß,  Hans  Freiherr  von  und  zu.     357. 

Augier,  Emile.     467. 

Augustinus,  Aurelius.     2g.   533. 

Augustkonferenz,  Berliner,  von  Mädchen - 
schullehrem.      183. 

Auskunftsstelle    der    deutschen   Bibliotheken. 

571-  f>43- 

Auslandsinstitute,  Wissenschaftliche.     632. 

Ausleihebibliothek.     640.  641. 

Ausstellungen,  Kunst-  und  kunstgewerbliche. 
390  ff.  407  ff. 

^,  Leih-  und  Wander-,  der  Kunstgewerbe- 
museen.    359.  408. 

— ,  Permanente  und  Wander-.     407. 

— ,  Retrospektive.     427. 

— ,  Sammel-  und  Gruppen-.     422. 


Ausstellungen,  Wechselnde.     362.  364. 

— ,  Wissenschaftliche  und  technische.    41 2  ff. 

638. 
— ,  Einrichtung  und  Betrieb  der.     414  ff. 
— ,  Einteilung  der.     413. 
— ,  Entwicklung    der,    zu  Weltausstellungen. 

413- 

— ,  Grundidee  und  Definition  der.     412.  417. 

— ,  Finanzielle  Grundlagen  der.     415. 

— ,  Vergleich  der,  mit  Messen  und  Jahr- 
märkten.    427. 

— ,  Wirkungen  der,     426  ff. 

Ausstellungs-Bauten.     416. 

—  -Kataloge  und  -Berichte.     415. 

—  -Preise.     418. 
Auwers,  Arthur.     631. 
Avisenschreiber.     484. 
Azteken.     518. 

B. 

Babylon,  Kultur  von.     ig,  *23. 
— ,   Priesterschaften    als   Träger   der  Wissen- 
schaft in.     593. 
Babylonier,  Schrift  der.     518. 
Bach,  Johann  Sebastian.     441. 
Bacon,  Francis,  von  Verulam.     37.   135.   136. 

463-  594- 

— ,  Roger.     31. 

Baden,  Gewerbeschulen  in.     246. 

Baer,   Karl  v.     326. 

Baeyer,   Generalleutnant  Joseph  Jakob.     630. 

Bankgeschäft.     23. 

Basedow,  Johann  Bernhard,     139.   140. 

Bauernbefreiung.     44. 

Bauernfeld,  Eduard  von,     476. 

Bauernkunst.     403. 

Baugewerbeschulen,     260. 

Bayern,  Neuordnung  des  höheren  Knaben- 
schulwesens in.     151. 

— ,  Pädagogisch  -  didaktische  Kurse  in.     166. 

Bayles,  Pierre,  Dictionnaire  historique  et  cri- 
tique.     534. 

Bazoche,  Farcen  der.     456. 

Beaumarchais,    P.- Auguste  Carron   de.     467. 

Beaux-Arts,  Ecole  des.     353. 

Beck,  Georg.     527. 

Beecher-Stowes,  Harriet,  Onkel  Toms  Hütte. 

534- 
Beethoven,  Ludwig  van.     442  f,  444. 
Bekanntmachungen,  Obrigkeitliche.     490. 
Belliete,  Jean.     457, 
Bellifortis  des  Konrad  Kyeser  von  Eichstädt. 

527- 
Benedikts  Regel.     524. 
Berechtigungen    der    höheren    Lehranstalten. 

160.   161.   167.   168.  342. 
Bergbau.     11. 
Bergbauschulen.     247. 
Berichterstattung  der  Zeitungen.     496. 


Register. 


653 


Berlin,    Bibliotheken  in.     551.  558.  563.  640. 

— ,  Kgl.  Schauspielhaus  in.     474. 

— ,  Universität  in.     31g. 

Bemhcim,  Ernst.     296. 

Bemoulli,  Johann.     314.  322. 

Beruf,    seine   Bedeutung  für  den   Menschen. 

194. 
Berufsbildung.     56. 
Berufsgruppen.     65. 
Berufswahl  der  P'rau.     195. 
Berzelius,  Johann  Jakob  Frhr.  von.    321.  325. 
Bessarion.     532. 

Bessel,  Friedrich  Wilhelm.     320. 
Bethmann-Hollwcg,      Preuß.     Staatsminister 

Thcobald  v.     157. 
Bethnal  Green -Museum  in  London.     366. 
Betriebe,  Staatliche  und  städtische.     46. 
Bibelkritik.     299. 
Bibelübersetzung  Luthers.     533. 
Bibliographie.     535.  643. 
Bibliotheca,  Ambrosiana  Angelica,  Bodleiana. 

55°- 

—  Augusta  in  Wolfenbüttel.     14. 

—  Marciana.     547. 

—  Palatina  in  Heidelberg.     544. 
Bibliothek,   Kurfürstliche  in  Berlin.     551. 
— ,  Königliche  in  Berlin.     '558.   563. 

— ,  Universitäts-  in  Berlin.     563. 

—  des  Britischen   Museums.     555.  569.  571. 

—  und  Lesehalle,  Öffenüiche,  Heimannsche 
in  Berlin.     601. 

Bibliothekar.     560.  564.  570.  572.  '583. 
Bibliotheken.     *539ff.  600.  638. 

—  Bedeutung  der,  für  die  Erhaltung,  und 
Wirkung  der  schrifüichen  Überlieferung 
542. 

—  als  Bildungsanstalten.     544. 
Entstehung  und  Entwicklung  der.    546  ff. 
Deutsche,  im  17.  Jahrhundert.     551. 

—  im   18.  Jahrhundert.     555. 

—  Reorganisation  im  19.  Jahrhundert. 
562. 

Aufschwung  der,  im  19.  Jahrhundert. 
567. 

Öffenüiche,  im  Imperium  Romanum.    547. 

Öffentlichkeit  der,  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert.    549. 

Ausleihe-  und  Präsenz-.     640. 

Fürstliche.     553.  558.  567. 

Instituts-.     579. 

Universitäts-.     552.  557. 

Volks-.     587. 

Wander-.     588. 

Anschaffungsfonds  der.     573.  576.  579. 

Auskunftsstelle  der.     571.  643. 

Beamte  der.     641. 

Dienststunden  der.     584. 

Haushalt  der,  in  der  Gegenwart.     569. 

Kataloge  der.     642. 


Bibliotheken,  Raumproblem  der.     582. 
— ,  Zukunftsaufgaben  der.     572  ff. 
Bibliotheksgebäude.     568. 
Bibliothekstechnik.     563. 
Biblioth^que  Mazarine.     550. 

—  du  Roi  in  Paris.  555. 
Bilderhandschriften.  524. 
Bildung,  Begriff  der.     54  f. 

—  Mittel  der.     60. 

— ,  Sozialer  und  nationaler  Charakter  der.    59. 

— ,  Ästhetische.     64. 

— ,  —  in  der  Volksschule.     1 10. 

— ,  Deutsche.     211. 

— ,  Elementar-.     597. 

— ,  Hochschul-.     609. 

— ,  Humanistische  und  reale,  im  Kampfe  um 
die  Gleichberechtigung.     151. 

— ,  Mittelschul-.     607. 

— ,  Ritterliche.     125. 

— ,  Zeitschrift  für  weibliche.     183. 

Bildungsgang    der    höheren    Mädchenschule. 
188. 

Bildungsstoffe  der  Mädchenschule.    209.  213. 

Bildungsvereine.     599. 

Bildungswesen,  seine  Faktoren.     57. 

— ,  Öffentliches,   sein   schematischer  Aufbau 
I       für  gegenwärtige  Kulturverhältnisse.     64. 

— ,    seine  Verselbständigung  gegenüber  dem 
Staat.     80  f. 
'   Bildungsziel  der  höheren  Mädchenschide.    177. 
180. 

Biologie,  Bildungswert  der.     62  f. 
I   Biologische    Gruppen     in     den     naturwissen- 
schaftlichen Museen.     380. 

Biot-Savartsches  Gesetz.     322. 

Bisticci,  Vespasiano  da.     531. 

Blaeuw,  Guilielmus.     553. 

Blumenbacli,  Johann  Friedrich.     325. 

Boccaccio,  Giovanni.     458.  548. 

Boden,  Der,  als  Kulturprodukt.     3. 

Bodenbeschaffenheit,   ICinfluß   der,    auf  Wirt- 
schaftsleben und  Kulturentwicklung.     1 1  f. 

Bodleiana  Bibliotheca.  550. 
'  Böttiger,  Karl  August.  557. 
'    Boineburg,  Philipp  Wilhelm  Graf  v.     556. 

BoUandisten.     552. 

Bonitz,  Hermann.     156.   158.  160. 

Bonn,  Universität.     320. 

— ,  Bibliothek  der  Universität.     568. 

Borsig,  August.     251. 

Botanik.     41. 
1    — ,  Universitätsunterricht  in  der.     325. 
1    Botanische  Gärten.     325.  326.  632.  635. 

Brahmanismus.     22. 

Brentel,  Friedrich.     527. 

Breslau,  Bibliothek  der  Universität.     562. 

Breviarium  Grimani.     526. 

British    Museum,    Bibliothek    des.     555.  569. 
571- 


654 


Register. 


Bruno,  Giordano.     36.     459. 

Buch,  sein  Wesen  und  seine  ersten  Aufgaben. 

♦518.  645. 
— ,  seine  Bedeutung  für  die  Kultur.     541. 
— ,  sein  Verlag  im  Altertum.     521. 
— ,  Das  älteste  erhaltene.     523. 

—  im  Mittelalter.     523. 

—  im  Rechtswesen.     527. 

— ,    sein    Verhältnis    zur   Zeitung    und    Zeit- 
schrift.    *5i2.  605.  645  f. 
— ,  seine  Rolle  im  Hunianistenzeitalter.    53of. 

—  in  der  Reformationszeit.     532. 

—  in  der  Gegenwart.     534. 

—  als  Kunstwerk.     535. 
Buch,  Leopold  v.     324. 
Buchdrama.     451.     459. 
Buchdruck.     34.  *53i. 
Bucher,  Lothar.     395.     397. 
Buchhandel  im  Altertum.     522. 

—  im  Humanistenzeitalter.     532. 

—  in  der  Gegenwart.     647. 
Buchillustration.     535. 
Buchmalerei.     524.     525.     527. 
Buchrolle.     521. 

Buchwesen,  Beziehung  zur  Religion.     520. 

—  im  Mittelalter.     523. 
Buddhismus.     21. 
Bücher,  Karl.     430. 
Bücher-Ausleihung.     571. 
Bücherbestellung  in  den  Bibliotheken.      587. 
,, Bücherei,  Deutsche".     603. 
Bücherverbrennung.     542. 

Bühne,  Mysterien-.     454. 

— ,  Verhältnis  von,  und  Drama.     457.  458. 

Bülowsche  Bibliothek.     545. 

Bürgerschule.     67. 

— ,  Höhere.     157.   159. 

Buitenzorg,  Botanischer  Garten  in.     632. 

Bunsen,  Robert  Wilhelm.     321.  325. 

Burgtheater,  Wiener.     467.  472.  473.  '474. 

Bury,  Richard  de.     528.  530.  548. 

Byzanz  als  Sitz  der  Buchillustration.     524. 


c. 

Calderon  de  la  Barca,  Pedro.     463. 

Capella,  Marcianus.     312. 

Carnegie  Institution.     630. 

Carnot,  Sadi.     323.  334. 

Cassagnac,  Paul  de.     502. 

Cassiodorus,  Flavius  Magnus  Aurelius.     524. 

Catholicon.     532. 

Cauchy,  Augustin  Louis.     322. 

Cauer,  Minna.     188. 

— ,  Paul.     161. 

Cellini,  Benvenuto.     349. 

Cervantes,  Miguel  de.     534.  541. 

Challenger-Expedition.     327. 

Champs  Elys^es.     399.  416. 


Charakterzeichnung  im  Drama.     460. 

Charles,  Jacques  Alexandre  Cesar.     596. 

Chateaubriand,  Frangois  Rend  Vicomte  de. 
492. 

Chemie.     37.  41. 

— ,  Bildungswert  der.     63. 

— ,  Universitätsunterricht  in  der.     321.  336. 

Chemische  Industrie  Deutschlands,  ihre  Sam- 
melausstellung auf  der  Pariser  Weltaus- 
stellung 1900.     423. 

Chemisches  Museum  zu  Charlottenburg.  424. 

China.     8.  21.  400. 

— ,  Älteste  Zeitung  in.     483. 

Chinesische  Schrift.     518. 

Chodowiecki,  Daniel.     535. 

Choral,  Der  evangelische.     437. 

Chorgesang.     449. 

Christentum.     28  f. 

Chrysostomus,  Johannes.     522. 

Clausius,  Rudolf     323.  334. 

Clebsch,  Rudolf  Friedrich  Alfred.     320. 

Clemenceau,  Eugene.     502. 

Clovio,  Julio.     527. 

Cluny,  Hotel  de.     357. 

Coeducation.     103.   190.  206.  230. 

Colbert,  Jean  Baptiste.     351.  353. 

Colleges,  Englische.     621. 

CoUegium  Carolinuni  in  Braunschweig.     316. 

Colombine.     461. 

Columbus,  Christoph.     34. 

Columbus'  Karavellen.     425. 

Comenius,  Amos.     91.  *I36.  171. 

commedia  dell'arte.     460.  462. 

comoedia  erudita  in  Italien.     458.  460. 

Comte,  Auguste.     594. 

Confucianismus.     21. 

Conservatoire  national  des  Arts  et  Metiers  in 
Paris.     249.  353.  359. 

Corbizzi,  Littifredi  dei.     527. 

Corneille,  Pierre.     466. 

Corpus  inscriptionum  graecarum.     626. 

—  —  latinarum.     626. 

Cours  complementaires    in   Frankreich.     265. 

Crabbe,  George.     645. 

Cuvier,  George  L^op.  Chr.  Frdd.  Dag.  Baron 
de.     325.  374. 

Cyprian.     558. 

Cyriacus  von  Ancona.     348. 


D. 

Dänemark,  Fach-  und  Fortbildungsschiüwesen 

in.     267. 
Daily  Courant.     489. 
Dalberg,  Carl  Frhr.  von.     472. 
Dampfmaschine,  Wattsche.     34.  39. 
Dante  .-Mighieri.     458.   524.  526.  529.  533. 
Darstellung,  Erziehung  zur  Kunst  der,  in  der 

höheren  Mädchenschule.     215. 


Register. 


655 


Darwin,  Charles.     326.  374.  378. 

Dawison,  Bogumil.     473. 

Denken  der  Krau.     203. 

Denkschrift,  Bcrhner,  des  Vereins  fiir  höhere 
Töchterschulen.     182. 

— ,  Weimarer,  über  die  höhere  Mädchen- 
schule.    177  ff. 

Depeschendienst  der  Zeitungen.     497. 

Deputationen,  Wissenschaftliche,  in  Preußen. 
149. 

Desaguilier.     316.  344. 

Descartes,  Rene.    135.  136.  249.  313.  594.  595. 

Dessoir,  Ludwig.     474. 

Dettmer,  Eugen.     474. 

Deutschland,  Entwicklung  der  Musik  in.  439. 

—  Gewcrbeausstellungen  in.     393. 
Deutschunterricht  in   der  höheren   Mädchen- 
schule.    224. 

—  in  der  Volksschule,     iio. 
Devrient,  Eduard.     473. 

— ,  Emil.     473.     474. 

— ,  Ludwig.     473. 

— ,  Otto.     454. 

Dewey,  Melvil.     587. 

„Diarium,  Wienerisches".     489. 

Dichtung,  Nationale,  am  Ausgang  des  Mittel- 
alters.    3 1 . 

Diderot,  Denis.     467.  534. 

Dienststunden  der  Bibliotheken.     584. 

Diestenvcg,  Adolf.     97. 

Differentialrechnung.     313. 

Dingclstedt,  Franz.     473. 

Diptychon.     522. 

Dirichlct,  P.  Lejeune.     320. 

Disputationen.     298. 

Dissertationen,  Inaugural-.     295.  612.  •613. 

Döring,  Theodor.     473. 

Dohm,  Anton.     632. 

Doktordissertationen.     295.  612.  •613. 

Doktorwürde.     614. 

Domschulen.     77.   124.   125. 

Dombuschland,  .Südafrikanisches.     12. 

Drama,  Weltliches.     456. 

— ,  Verbindung  des  modernen  mit  dem  anti- 
ken, durch  die  Renaissance.     457. 

— ,  Das  regelmäßige,  in  Deutschland  im  1 8.  Jahr- 
hundert.    469. 

Dreisilbenkanon,  Chinesischer.     519. 

Dreyer,  Max.     477. 

Dürer,  Albrecht.     535. 

Dumas,  Alexandre.     467.  501. 

Dumreicher,  Armand  f'reiherr  von.  250.  263. 

Dur-Moll  System.     431.  435. 

Düse,  Eleonora.     478. 

Dziatzko,  Karl.     570. 


Ebert,  Friedrich  Adolf.     557. 
Ecole  des  Beaux-Arts.     353. 


Ecole  polytechnique  zu  Paris.     330. 

Ehe.     195.     196.     197. 

Eichhorn,  Prcuß.  Kultusminister  Johann  Albert 

Friedrich  v.     155. 
Eiffelturm.     396.  405.  416. 
Eilers,  Gerd.     155. 

Einheitsschule.     158.   160.  169.  170.  608.  609. 
Einjährigenberechtigung.     154.  158.  159.  163. 
Einzeldrucke.     485. 
Eisen.     40. 
Eisenbahnen.     393. 
Eisenbahnlinie,  Erste  deutsche.     251. 
Ekhof,  Konrad.     470.  471. 
Ekkehard  von  St.  Gallen.     125. 
Elektrizitätslehre.     37.  40. 
Elektroncntheorie.     323. 
Elektrotechnik,  Laboratorium  für.     335. 
Ehot,  Charies  William.     582. 
Eisner,  Jakob.     527. 
Emiha  Galotti.     470. 
Empfindungen  der  Frau.     202. 
Energetik.     323. 

Energie,  Erhaltung  der.     41.  322. 
England,  Gestaltung  der  Universitäten  in.  317. 
— ,  Gewerbeschulwesen  in.     249.  268. 
— ,  Verstaatlichung  von  Kunstbesitz  in.    352. 
— ,  Volksschule  in.     95. 
— ,  Ausgang   des   modernen   Zeitungswesens 

von.     491. 
Englisch  im  GjTnnasium.     167. 

—  als  Bildungsstoff  der  höheren  Mädchen- 
schule.    211. 

—  in  der  Realschule.     154. 
Enquete  der  Zeitungen.     504. 
Entwicklung,  Begriff  der.     17. 

— ,  Politische  und  soziale,  des  19.  Jahrhun- 
derts.    43  f. 

Entwicklungsgang  der  Organismen,  Beispiele 
vom.     380. 

Enzyklopädien.     534.  '647. 

Erasmus  von  Rotterdam.     129.  458.  533. 

Erdmessung,  Internationale.     630.  632. 

Erdrinde,  Werdegang  der,  Darstellung  vom, 
im  Schaumuscum.     380. 

Erklärung,  Heidelberger,  für  das  Gymnasium. 
162. 

Emesti,  Johann  August.     146. 

Erwerbsgeist  als  Kulturfaktor.     4.  8. 

Erziehcrinberuf.     201. 

Erziehung  der  Kinder  im  Hause.     197. 

— ,  Gemeinsame,  der  Geschlechter.     103. 

Essay.     605. 

Este,  Herkules  von.     459. 

Ethik,  Leistungen  der  Griechen  für  die.     28. 

— ,  Aufgabe  der,  im  akademischen  Unterricht. 
291. 

Ethische  Kultur,  Lesehalle  der  Deutschen 
Gesellschaft  für.     601. 

Euklcides,  Elemente  des.     533. 


Register. 


656 

Euler,  Leonhard.     314-  315-  322- 
Euripides.     451.  458- 
Europa,  Kultur  von.     25. 
Eusebius  von  Cäsarea.     523. 
Exner,  Adolf.     156. 
Exotische  Erzeugnisse.     398. 
Eyck,  Brüder  Van.     526. 


F. 

Fachgruppen  im  Unterricht.     227. 
Fachschulen.     70. 

—  in  Österreich.     264. 

—  Kleingewerbliche.     248. 
Fachschulwesen,  Gewerbliches,  in  Deutschland. 

*259.  276. 

—  Kaufmännisches,  in  Deutschland.     262. 

—  Landwirtschafdiches ,      in     Deutschland. 
261  f. 

—  für  Mädchen  in  Deutschland.     263  f. 
Fach-    und    Fortbildungsschulwesen    in    der 

Schweiz,  Dänemark,  Rußland.     267  ff. 

—  in  Amerika.     269  f. 

Fakultäten  der  Universitäten.     291  fi".  618. 
Falk,  Preuß.  Kultusminister  Adalbert.     158. 
Fallgesetze.     37. 
Familie   als  Faktor  des   Bildungswesens     58. 

76. 
— ,  Stellung  der,  zur  Volksschule.     98. 
Familienleben.     196.   198.   199. 
Faraday,  Michael.     322.  335. 
Farcen.     456. 

Fastnachtspiele.     456.  468. 
Felbiger,  Ignaz  v.     95. 
Fellowship  in  England.     317. 
Feltre,  Vittorino  da.     127. 
Ferienkurse  der  Universitäten.     614. 
Festspielhaus.     479. 
Feudalwesen.     30. 
Feuerwaften.     34. 

Feuilleton  der  Zeitungen.     501.  605. 
— ,  Namennennung  des  Verfassers  im.     501. 
Fibeln.     544. 

Fichte,  Johann  Gottlieb.     42.  299. 
Fichtner,  Karl  Albrecht.     474- 
Finanzwissenschaft.     330. 
Fixsternaufnahmen.     631. 
Fleck,  Johann  Friedrich  Ferdinand.     474. 
„Fliegendes  Blatt".     485.  486. 
Florentiner,    Ausstattungseffekte    der   Bühne 

der.     455. 
Florenz  als  Mittelpunkt  der  Wissenschaft.  544. 
Folklore.     634. 
Folz,  Hans.     456. 
Fondation  Thiers.     617. 
Forschung,    Stellung    der    Reformation    zur 

freien.     36. 
Forstwirtschaftsschulen.     330. 
Fortbildungskurse  der  Universitäten.     614. 


Fortbildungsschulen.     70.  80.   116.  246. 

—  für  Mädchen.     257  ff. 

— ,  Notwendigkeit  des  Ausbaus  der,  im  Sinne 

der  staatsbürgerlichen  Erziehung.     27g. 
— ,  Verhältnis  der,  zur  Meisterlehre.     274. 

—  in  Österreich.     264. 
Fortbildungsschulwesen ,     Gewerbliches ,     in 

Deutschland.     252.  271. 
— ,  Kaufmännisches,  in  Deutschland.     254. 
— ,  Landwirtschafthches,  in  Deutschland.  255. 

275. 

—  für  Mädchen  in  Deutschland.    »257.    272. 
275. 

Fortbildungswesen.     597  f. 
Foucquet,  Jean.     527. 
Fourier,  Jean  Baptiste  Jos.  Baron.     322. 
Francke,  August  Hermann.     139. 
Franckendorfer,  Konrad.     527. 
Franckesche  Stiftungen  in  Halle.     92. 
Frankreich,    Errichtung    höherer   technischer 
Fachschulen  in.     317. 

—  Gewerbeausstellungen  in.     392. 
— ,  Gewerbeschulwesen  in.     249. 

— ,  Staadiche  Kunst-  und  Gewerbepolitik  in. 

351- 
— ,  Berechtigungen    der    höhern    Schule    m. 

168. 
— ,  Klassische    Tragödie    und    Komödie    in. 

466  f. 
— ,  Volksschule  in.     95. 
Franz  I.  von  Frankreich.     349. 
— ,  Lied  auf.     486. 
Französisch  in  der  Realschule.     154. 

—  als  Bildungsstof!   der    höheren   Mädchen- 
schule.    211. 

Frau,  Berufe  der.     200. 

— ,  Berufswahl  der.     195. 

— ,  Betätigungsgebiete  der.     195. 

— ,  Empfindungen  der.     202  f. 

— ,  Intellektuelle  Eigenart  der.     202. 

— ,  Kraft  und  Recht  der,  zur  Persönlichkeit. 

194. 
— ,  Universitätsstudium  der.     219. 
Frauen  im  Bibliotheksdienst.     642. 
Frauenbewegung.     186.   190.   191. 
Frauenverein,  Allgemeiner  deutscher.     258. 
Fraunhofer,  Joseph  von.     322.  323.  331. 
Freihandel.     47. 

—  in  Preußen.     251. 
Freiheit,  Akademische.     620. 
Freiluftmuseen.     366. 
Freizügigkeit,  Akademische.     620. 
Fresnel,  Augustin  Jean.     322. 
Frick,  Otto.     160.  166. 

Friedrich  der  Große.     545.  558.  559.  622. 
— ,  seine  Stellung  zur  Schule.     93.   142-  244- 

245. 
— ,  —  zur  Berliner  Akademie.     315. 
— ,  —  zur  dramatischen  Kunst.     470. 


Register. 


657 


Friedrich   der  Große,    seine  Stellung  zu  den 

Zeitungen.     489. 
Friedrich  Wilhelm,  der  Große  Kurfürst.  551. 
Friedrich  Wilhelm  III.     354. 
Führungen    in    den    Museen.     365.  382.  600. 

637- 
Fürsorge,    Ausdehnung  der  öffentlichen,   im 

Erziehungswesen.     80. 
Fürsorgeerziehung.     80. 
Fürstliche  Bibliotheken.     553. 
Fulda,  Klosterbibliothek  von.     542.  547. 
Fulda,  Ludwig.     477. 


„Gänsebuch".     527. 

Gärten,  Botanische.     325.  326.  632.  635. 

— ,  Zoologische.     381.  635.  636. 

Galilei,  Galileo.     36.  37.   135.  314. 

Galton,  Francis.     16. 

Galvani,  Luigi.     610. 

„Gassenhawerlin".     437. 

GauB,    Karl    Friedrich.      318.   320.   322.  333. 
337-  631. 

gazettanti.     484. 

Gedächtnis  der  Frau.     203. 

Gedicke,  Friedrich.     143.   153. 

Gefühlsvorgänge  im  weiblichen  Geiste.     204. 

Geisteswissenschaften,  Bedeutung  der.    28g  f. 

— ,  Gegenstand  und  Methode  der,  und  Unter- 
schied von  den  Naturwissenschaften    284  ff. 

— ,  Gliederung  der.     286  ff. 

— ,  Studium  der,  auf  den  deutschen  Schulen 
und  Universitäten.     290. 

— ,  Geschichtliche  Entwicklung  des  Studien- 
betriebs in  den.    297  f. 

Geistliche,   ihre   Beziehungen  zu  den   Schau- 
spielen.    452.  454. 

Geldwirtschaft.     23.  33. 

Gelehrtenschule.     79. 

Gemäldegalerieen.     354. 

Gemeinde,  Stellung  der,  zur  Volksschule.   99. 

Gemeinschaftsleben  der  Kinder,   Einfluß   der 
Volksschule  auf  das.     105. 

General- Landschulreglement    Friedrichs     des 
Großen.     93. 

Genie,  seine  Isoliertheit.     16. 

Geodäsie.     333. 

Geographieunterricht.     62.   iio.  159. 

Geologie.     41. 

— ,  Wissenschafdiche  Bedeutung  der.     324. 

Geometrie.    26.  313. 

— ,  Darstellende.     333. 

Georg  IL  von  Sachsen-Meiningen.     478. 

Germanen  als  Staatengründer  im  Mittelalter. 
30. 

Gesangunterricht.     Iio.  448. 

Geschäftsanzeigen  der  Zeitungen.    490.  504. 

Geschichte,  Philosophie  der.     299. 

Geschichtsunterricht.     61.   109.   159. 
DiK  Kultur  dbk  Gkgbhwart.    1.  1. 


Geschichtsunterricht  in  der  höheren  Mädchen- 
schule.    225. 
Geschichtsvereine.     357. 
Geschichtswissenschaft.     42  f. 
Gesellschaft  als   Faktor  des   Bildungswesens. 

5-  57- 

Gesellschaften,  Gelehrte.     37. 

Gesner,  Conrad.     372. 

— ,  Joh.  Mathias.     145.  556.  560.  576. 

Gewerbeausstellungen.     392. 

Gewerbefreiheit  in  Preußen.     251. 

Gewerbeordnung  für  das  Deutsche  Reich. 
252.  253. 

Gewerbeschulen  in  Deutschland  und  Öster- 
reich.    247.  250.  252.  263.  331. 

—  in  Baden  und  Württemberg.     246.  248. 

—  in  Preußen.     248. 

—  in  England.     250. 

—  in  Frankreich.     249.  264.  265. 
Gewerbevercine  in  Deutschland.     247. 
Gewerbliche  Berufe  der  Frau.     201. 
Giocasa,  La.  Erziehungsanstalt.     127. 
Gipssammlungen.     355. 
Glockendon,  Nicolas  und  .»Mbert.     527. 
Glossatoren.     528. 

Gluck,  Christoph  Ritter  v.     441. 
Glyptothek,  Münchener.     355. 
Gnostizismus.     29. 

Gobelins,  Manufacture  des,  in  Paris.     391. 
Goethe,  Johann  Wolfgang.    84.   147.  171.475. 

541.  557-  584-  604- 

— ,  seine  Regeln  für  die  Schauspielkunst.  472. 
i    Göttingen,  L'niversität.     318. 
!   — ,  —  Bedeutung  auf  dem   Gebiete  der  an- 
gewandten Mathematik   und   Physik.     337. 

— ,  Bibliothek  der  Univ.     545.  *S55.  577. 

Goßler,  Preuß.  Kultusminister  Gustav  v.  158. 
162. 

Gotha,  Herzogl.  Bibliothek  in.     558. 

— ,  Hoftheater  in.     471. 

Gottsched,  Johann  Christoph.     469. 

Gould,  Benjamin  Apthorp.     631. 

Gradmessung,  Europäische.     630. 

Graevius,  Johann  Georg.     558. 

Graphische  Methoden.     333. 

Grashoff, .  Franz.     331.  334. 

s'Gravesandes  Physices  elementa.     316. 

Gravitation.     36. 
I   Green,  George.     322. 

Griechenland,  W'issenschaftliche  Korpora- 
tionen in.     593. 

Griechentum,  seine  Bedeutung  für  die  Kultur. 

25- 
— ,  seine  Musikkultur.     432. 
.   Griechische     Sprache ,     ihre     Schätzung     im 
j        Philanthropinismus.     140. 
— ,  Herders  Urteil  über  die.     147. 
— ,  Stundenzahl  für  die,  am  preußischen  Gym- 
I       nasium.     150. 

42 


658 


Register. 


Grillparzer,   Franz.     473.  475.  564. 

Grimm,  Jakob.     545. 

— ,  Brüder.     634. 

Grüninger,  Joliann.     535. 

Grundeigentum,  Privates.     32. 

Gruppenausstellungen.     422. 

Gryphius,  Andreas.     46g. 

Guerike,  Otto  von.     316.  553. 

Gutenberg,  Johann.     34.  531. 

Gymnasien,  Griechische.     76. 

Gymnasium.     68.  319. 

^  Humanistisches.     608. 

—  — ,  Heidelberger  Erklärung  für  das.     162. 

— ,  Weltfremdheit   des,    zu    Anfang    des    19. 

Jahrhunderts.     152. 
— ,  Johann  Sturms  protestantisches.     131. 
— ,  Joachimsthalsches  und  Friedrich -Werder- 

sches.     143. 

H. 

Haeckel,  Ernst.     83.  289. 

Händel,  Georg  Friedrich.     440. 

Haeseler,  Generalfeldmarschall  Gottlieb  Graf. 

598. 
Hagedom,  Friedrich  v.     146. 
Haizinger,  Amalie.     474. 
Halbbildung.     57. 
Halle,  Universität.     318. 
— ,  Bibliothek  der  Universität.     557. 
Haller,  Albrecht  v.     318. 
Hamburg,  Nationaltheater  in.     470.  472. 
Hamilton,  Sir  William  Rowan.     322. 
Hamlet.     464.  465. 
Hammurabi.     23. 
Handarbeitsunterricht,     in.  228. 
Handelshochschulen.     255.  265. 
Handelspolitik,  Merkantilistische.     35. 
Handelstädte.     33. 
Handschriften.     5238'. 

—  -Fabriken.     527. 

—  -Malerei.     524.  525.  526. 

— ,  Verbreitungsfähigkeit  der,  im  Mittelalter. 
529. 

Verleihung.     571. 

Handwerkerverein,  Berliner.     599. 

Handwerksschulen,  Initiative  einzelner  Pri- 
vater, später  neuer  beruflicher  Verbände, 
zur  Errichtung  von.     246. 

— ,  Staatliche,  in  Deutschland.     252. 

— ,  Allgemeine,  in  Österreich.     264. 

Hanisius,  David.     552. 

Hanswurst.     463.  469. 

Harlekin.     461. 

Harmonie.     430.  432. 

Harnack,  Adolf.     568. 

Harnisch,  Wilhelm.     97. 

Hartwig,  Otto.     570. 

Harvey,  William.     373. 

Haug.     325. 


Haupt-  und  Staatsaktionen.     469. 

Hauptmann,  Gerhart.     477. 

Hausfrau.     196  ff. 

Haushaltungs-  und  Kochkurse.     259. 

Haushaltungsunterricht,     in. 

Hauslehrer.     75. 

Hausmusik.     446.  449. 

Haustiere.     12. 

Hauswirtschaftsunterricht     in      der     höheren 
Mädchenschule.     236. 

Hazehus,  Artur.     367. 

Hebräer,  Musik  der.     432. 

Hecker,  Johann  Julius.     144.   154. 

Hedwig,  Herzogin,  von  Schwaben.       125. 

Hegel,  Georg  Wilhelm  Friedrich.  42.  299.  594. 

Hegius,  Alexander.     129. 

Heidelberg,  Universität  und  Bibliotheca  Pala- 
tina  in.     544. 

Heiligenlegenden   als   geistliches   Spiel.     452. 

Heliand.     124. 

Helmholtz,  Hermann  von.    320.  322.  328.  610. 

Hendrichs,  Hermann.     474. 

Herbarien.     636. 

Herbart,  Johann  Friedrich.     42.  97.   171. 

Herder,  Johann  Gottfried.    55.  145.  146.  *I47. 
170.  299.   557. 

Heron  von  Alexandria.     26.  27. 

Herrad  von  Landsberg.     525. 

Hertz,  Heinrich.     320.  322.  335.  610. 

Heydt,  Preuß.  Handelsminister  Aug.  Frhr.  von 
der.    248. 

Heyne,  Christian  Gotdob.    146.  299.  556.  562. 

Hieroglyphen.     518. 

Hieronymus.     523.  528. 

Hilfsschulen.     67.   103.   115. 

Himmelsphotographie.     631. 

Hipparch.     24.  27. 

Hirn,  Gustav  Adolf.     322.  334. 

Hirsching.     561. 

Historien,  Wahrhaftige.     544. 

Historismus.     304. 

Hobbes,  Thomas.     594. 

Hochschulbildung.     609. 

Hochschule,  Vorbildung  für  die.     338  ff. 

— ,  Weiterbildung  nach  der.     342. 

Hochschulen,  Technische.     69.  332.  337  f. 

Hochschulkurse,  Volkstümliche.     73.  343. 

Höfe,  Stellung  der  deutschen,  zur  Musik.    44U 

Höflichkeit,  Erziehung  zur.     in. 

Hörigkeit.     32. 

Hofmeister.     326. 

Holberg,  Ludwig.     *468.  469. 

Holzschnitt,    seine    Verwendung    zum    Buch- 
schmuck.    535. 

Homburg,  Prinz  von.     475. 

Hornemann.     160. 

Hortus  deliciarum.     525. 

Hrabanus  Maurus.     124.  542. 

Hroswitha  von  Gandersheim.     124.  451. 


Register. 


659 


Humanismus.     530. 

—  als  Weltanschauung.     63. 

—  als  Neubeieber  der  Schulen.     127. 

— ,  Bedeutung  des,   für  die  Entwicklung  der 

Bibliotheken.     548. 
— ,    Förderung    des,    durch    den   Buchdruck. 

532- 
Humanitätsbildung.     79. 
Humboldt,  Alexander  v.     324.  374.  631. 
— ,   Wilhelm    V.      149.    319.    354.    545.    559. 

562. 

—  -Akademie.     599. 
Hydepark.     395. 
Hygiene.     328. 

I. 

Ibsen,  Henrik.     468.  477. 

Idealismus,  Deutscher.     42. 

Ideographisches  Prinzip  der  Gliederung  der 
Wissenschaften.     288. 

Iffland,  August  Wilhelm.     474. 

Imperialismus.     48. 

Inde.x  librorum  prohibitorum.     534. 

Indien,  Kultur  von.     22. 

Induktion,  Ratkes  Eintreten  für,  im  Unter- 
richt.    136. 

Industrieschulen  s.  Gewerbeschulen. 

—  in  Böhmen.     246. 
Infinitesimalrechnung.     36.  313. 
Ingenieurwissenschaften,  Erste  Vorlesung  über. 

316. 

—  an  den  Technischen  Hochschulen.     334. 
Inkareich.     20. 

Innungen  in  Deutschland.     247. 

Inserate  in  den  Zeitungen.     491. 

Institut  de  P'rance.     623. 

Institute,  Archäologische.     617.  632. 

— ,  Botanische.     326. 

— ,  Internationale  wissenschaftliche.     630. 

— ,  Physikalische.     323. 

—  der  Universitäten.     613. 

— ,  Wissenschaftliche  Einzel-.     618. 
— ,  Zoologische.     326. 
Institutionen,  Öffentliche.     3. 
Institutsbibliotheken.     579. 
Instrumentalmusik.     438.  439. 
Integralrechnung.     313. 
Intelligenzblätter.     490. 
Interview.     504. 

Italien,  Entwicklung  der  Musik  in.     440. 
— ,  Bühnenausstattung  in.     455. 


Jacobi,  Moritz  Hermann  v.     320. 

Jaeger,  Oscar.     164. 

Jagd.     12. 

Jahresberichte   der  einzelnen  Wissenschaften. 

643- 
Jahreszeiten,  Wechsel  der.     11. 


Jahrmärkte,    verglichen     mit    Ausstellungen. 

427- 

Japan.     8.  21.  404. 

Jena,  Bibliothek  der  Universität.     557. 

Jesuitenorden.     38. 

Jesuitenschulen.     60.  133. 

Jesus  im  geisüichen  Spiel.     452. 

Josef  II.     471.  489. 

Joule,  James  Prescott.     322.  335. 

Journal  de  Paris.     489. 

—  des  Savants.     491. 

Journalistik  als  Beruf.     493. 

— ,  Bedeutung  der.     513. 

Judas  Ischarioth  im  geistlichen  Spiel.     453. 

Jugendschriften,  Einführung  der  Frau  in  die 
Literatur  der.     235. 

Jungfrau  von  Orleans,  französisches  Schau- 
spiel.    456. 

JuniusBriefe.     492.  534. 

Jurisprudenz,  Akademischer  Unterricht  in 
der.     291.  293  f. 

— ,  Systematische  Stellung  der,  in  der  Wissen- 
schaft.    292. 

K. 

Kabinette,  Physikalische.     316. 

Kadettenhäuser.     72. 

Kästner,  Abraham  Gotthelf.     318. 

Kaiser  Friedrich-Museum  in  Berlin.     361. 

Kalender.     544. 

Kamerahvissenschaften.     330. 

Kant,  Immanuel.     171.  299.  318.  533.  591. 

Kantoreien.     439. 

Kapitalismus.     35.  45. 

Karavellen  des  Columbus.     425. 

Karl  der  Große.     77.  89. 

— ,  seine  Schulreform.     123. 

Karl  Eugen  von  Württemberg.     145. 

Karlsschule,  Hohe.     145. 

Kartell  der  .A.kademieen  der  Gegenwart.    628. 

Katalog,  .Mphabctischer  und  systematischer, 
der  Bibliotheken.  556.  559.  563.  570.  573. 
642. 

— ,  Internationaler,  der  naturwissenschaft- 
lichen Literatur.     535.  644. 

Katechumenenunterricht.     77. 

Kathedralschulcn.     124. 

Keilschrift.     518. 

Kelvin,  Lord.     323. 

Kepler,  Johannes.     36.   135.  316. 

Kindergärten.     80.  236. 

Kindermann,  Ferdinand.     246. 

Kinder-Pflege  und  -Erziehung.     197. 

—  als  Unterrichtsstoff  der  höheren  Mädchen- 
schule.    218.  236. 

Kingpao.     483. 

Kirche,  Christliche,  als  Kulturfaktor.     5. 

— ,  Katholische.     29.  48. 

—  als  Schulbegründer.     76.  89. 

42* 


66o 


Register. 


Kirche  als  Herrin    in  der  Schule.     122. 

,  Stellung  der,  zur  Volksschule.     98  f.   107. 

— ,  — ,  zur  Musik.     434.  436. 

— ,  — ,  zum  Theater.     453. 

Kirchenväter,  Werke  der.     531. 

Kircher,  Anastasius.     314. 

Kirchhoff,  Gustav.     320.  322.  323. 

Klaproth,  Martin  Heinrich.     325. 

Kleist,  Heinrich  von.     475. 

Klerikerbildung.     77. 

Klerus,  Katholischer.     31. 

Klima,  sein  Einfluß  auf  die  Kultur.     10. 

Klopstock,  Friedrich  Gottlieb.     146. 

Klosterbibliotheken.     547. 

Klosterschulen.     77.   124.   125. 

Klöster.     593. 

Koch-  und  Haushaltungskurse.     259. 

Kode.K.     *522.  543. 

— ,  Einfluß  der  Bevorzugung  des,  auf  die 
Erhaltung  der  antiken  Literatur.     523. 

Köpke,  G.     170. 

Kohlen.     40. 

Kolonialpolitik.     35. 

Kolumne  der  Buchrolle.     521.  523. 

Komik,  Bedeutung  der,  für  das  Schauspiel. 
456. 

Komödie  der  Renaissance.     459. 

— ,  Klassische  französische.     466. 

Kompaß.     34. 

Konferenz,  August-,  Berliner,  von  Mädchen- 
schullehrern.    183. 

Kongregationen,  Marianische.     133. 

Kongresse,  Wissenschaftliche.     633. 

__  _,  in  Verbindung  mit  Ausstellungen. 
426. 

— ,  —  Fach-.     624. 

Kontrapunkt.     436. 

Konzertwesen.     441. 

Kopernikus,  Nikolaus.     36.  313. 

Korrespondenten  der  Zeitungen.     496. 

Korrespondenz -Bureaux  für   Zeitungen.     498. 

Korrespondenzorte  der  Zeitungen  im  16.  und 
17.  Jahrh.     484.  487. 

Korrespondenzschulen,    Amerikanische.     270. 

Kraft,  Gesetz  von  der  Erhaltung  der.     322. 

Kreditwesen.     23. 

Krieg,  Dreißigjähriger,  seine  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  der  Volksschule.     91. 

Kristallographie,  Wissenschaftliche  Behand- 
lung der.     324. 

Kristallpalast  in  London  395.  396.  397.  400. 
413.  416. 

Kronecker,  Leopold.     320. 

Kujundschik,  Tontafeln  von.     543. 

Kultur,  Begrift"  der.     i. 

— ,  Äußere  Einflüsse  auf  die.     10. 

— ,  Entwicklung  der.     14 f.  *i(). 

— ,  Fortschritt  der,  durch  äußere  Übertragung 
und  Ausbreitung.     18. 


Kultur,  Güter  und  Produkte  der.     3. 
— ,  Verschiedene  Seiten  der.     2  ff. 
— ,  Streben    der,     nach      Überwindung     der 

Naturwiderstände.     13. 
— ,  Triebkräfte  der.     4  f.  9. 
— ,  Vererbung  der.      13  f. 
— ,  Musikalische.     430  ff. 
— ,  Wirtschaftliche.     32. 
Kulturfähigkeit  der  Rassen,  Verschiedene.  7. 16. 
Kulturkampf.     49. 

Kultus,  Musik  im  christlichen.     434. 
Kultusministerium,  Selbständiges,  in  Preußen. 

150. 
Kunst,  Ägyptische.     402. 
— ,  Griechische.     28. 
— ,  Mittelalterliche.     32. 
— ,  Neuzeitliche.     39. 
— ,  Orientalische.     24.  401. 
— ,  des   ig.  Jahrhunderts.     43. 
— ,  Bedeutung  der,  im  Leben.     448. 
— ,  Erziehung  zur.     64. 

—  in  den  Arbeitervierteln  der  Großstadt.  365. 
Kunstakademieen  und  Kunstschulen.     247. 
Kunstausstellungen.   351.  360.  362.  *39o.  407. 
Kunsterziehung.     599. 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.     215. 
Kunstformen  der  Architektur.     396. 
Kunstgewerbe.     358.  360. 

— ,  Unterricht  für  das,  in  Frankreich.  249.  266. 

—  — ,  in  Österreich.     263.  264. 
Kunstgewerbeausstellungen.     392. 
Kunstgewerbemuseen.     358. 

— ,  Wirkung  der,  auf  die  Industrie.     364. 
Kunstgewerbeschulen.     359. 
Kunstkammern.     349.  356.  358.  359. 
Kunstmuseen.     637. 

Kunstsammlungen.     347.  350.  351.  355. 
Kunstvereine.     356  f. 
Kunstwissenschaft.     348. 
Kyeser,  Konrad.     527. 


L. 

Labiche,  Eugene  Marie.     467. 
Laboratorien,    Chemische   und   physikalische. 

321. 
— ,  Technische.     334. 
Ladenberg,     Preuß.    Kultusminister    Adelbert 

von.     155.   179. 
Lagfrange,  Joseph  Louis.     315.  322.  332. 
Lambert,  Johann  Heinrich.     315. 
Lancaster,  Ray.     382. 
Landesausstellungen.     392.  407. 
Landesgewerbeverein,  Hessischer.     247 
Landesmuseen.     368. 
Landesschulrat.     81. 
Landwirtschaft,  beeinflußt  durch  den  Wechsel 

der  Jahreszeiten.     11. 
Landwirtschaftsschulen.     261.  330. 


Register. 


66 1 


Lange,  Friedrich.     i6i. 

— ,  Helene.     185. 

Laplace,  Pierre  Simon  Marquis  de.     332. 

La  Roche,  Karl  v.     473.  474. 

Latein  als  Kirchen-  und  Gelchrtcnsprache.  30. 

—  in  der  mittelalterlichen   Schule.     90.   124. 
— ,  Herders  Urteil  über  das.     147. 

—  im  Phil.anthropinismus.     140. 

— ,  Stundenzahl  für,  am  preußischen  Gym- 
nasium.    1 50. 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.  210.  219. 
230. 

—  in  der  Realschule.     154. 
Lateinschule.     69.  79. 
Laube,  Heinrich.     473.  474. 
Lauber,  Diebolt,  in  Hagenau.     527. 
Lavoisier,  Antoine  Laurent.     37.  321. 
Leeuwenhoek,  .Antonius  van.     373. 
Leges  barbarorum.     528. 

Lehr-  und  Lemfreiheit  an  den  Universitäten. 

620. 
Lehrer,  Wirkung  seiner  Persönlichkeit.     105. 
Lehrerbildung,    Franckes   Verdienst   um   die. 

'39- 

—  im  Philanlhropinimus.     141. 

—  unter  Friedrich  dem  Großen.     143. 
Lehrerinberuf.     201. 

Lehrerinnen,  Verwendung  von,  in  der  höheren 
Mädchenschule.  178.  181.  183.  184.  186. 
188.  190. 

— ,  Staatliche  .Ausbildungsanstalten  für  wissen- 
schaftliche.    185.   186. 

Lehrerinnenseminar.     237. 

Lehrerinnenverein ,  .Mlgemeiner  Deutscher. 
189. 

Lehrerprüfung.     149.   150.   165. 

Lehrerstand,  seine  \'cr\veltlichung.     79. 

—  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts.  149. 

—  der  höheren  Schulen,  seine  Vorbildung 
und  Stellung  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts. 
165. 

— ,  seine  Stellung  zur  Volksschule.     9g. 
Lehrfächer  der  Volksschule.     104. 
Lehrlingsfortbildungsschule.     274. 
Lehrlingsschulcn,  Gewerbliche,  in  Frankreich. 

265. 
Lehrpläne,  Die  VV'ieseschen.     156. 
— ,  Die  Bonitzschen.     158. 

—  von  1892.     163. 

—  von   1901.     167. 

Lehrplan  des  preußischen  Gymnasiums  zu 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts.     150. 

—  des  bayrischen  (Gymnasiums  zu  /Vnfang 
des   19.  Jahrhunderts.     151. 

—  der  höheren  Mädchenschule.     223  f. 
Lehrwerkstätten  für  Lehrlinge  in  Deutschland. 

276. 

—  —  in  Frankreich.     276. 

—  für  Gesellen  und  Meister.     278 


36.    138.    313. 


Leibniz,    Gottfried    Wilhelm. 
315-  544-  '553-  556.  569. 
Leihverkehr  der  Bibliotheken   untereinander. 

571- 
Leipzig,  Bibliothek  der  Universität.     557. 
Leo  der  Isaurier.     542. 
Lese-Cammer  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin. 

559- 
Lesehallen.     600. 

Leseunterricht  in  der  X'olksschule.     108. 
Lesezimmer  der  Bibliotheken.     569. 
Lessing,  Gotthold  Ephraim.    299.   '469.   472. 

560. 
Lette-Verein.     258. 

Libertas,  Bibliothek  im  Tempel  der.     639. 
Lichtenberg,  Georg  Christoph.     318. 
Lichtwark,  Adolf     364. 
Liebig,    Chemisches   Unterrichtslaboratorium 

von,  in  Gießen.     321.  328. 
Lied.     439. 

—  s.  auch  Volkslied. 
Lieder,  Neue  Schöne.     544. 

Linne,  Carl  von.     37.  325.  373.  374. 
List,  Friedrich.     251. 
Liszt,  Franz  von.     443. 
Literatur,  Griechische.     28. 
— ,  Neuzeitliche.     38. 

—  des  19.  Jahrhunderts.     43. 

— ,  Populärwissenschafüiche,  in  Naturwissen- 
schaft und  Technik.     344. 

Livre  d'  Heures  der  Anne  de  Bretagne.    527. 

Lobeck,  Christian  August.     566. 

Loewe,  Ludwig.     474. 

Logarithmentafeln.     313. 

Logik.     26.  291. 

Lokalmuseen.     367. 

Lokalnachrichten  der  Zeitungen.     496. 

London,  Bibliothek  des  Britischen  Museums 
in.     555.  569.  571. 

— ,  Weltausstellungen  in.  249.  358.  '394. 
400.  413. 

Lope  Felix  de  Vega  Carpio.     463. 

Lorinser,  Karl  Ignaz.     151. 

Louvre.     353. 

Ludwig  XII.  von  Frankreich.     486. 

Ludwig  XIV.  von  Frankreich.     351. 

Luftballon.     596. 

Lustspiel,  Italienisches,  der  Renaissance.  459. 

— ,  Modernes.     476. 

— ,  Typen  im  europäischen,  des  16.  Jahr- 
hunderts.    456. 

Luther,  .Martin.  36.  90.  i29f  134.  437.  532.548. 

Lyrik,  Förderung  der,  durch  die  Musik.     435. 

Lysippus.     348. 

Lyzeen,  Lehrstofl'  an  den  französischen.    317. 

M. 

Mabillon,  Jean.     551. 
Machiavell,  Niccolo.    459. 


662 


Register. 


Madcrus,  Joachim  Johann.     546. 

Mädchen-Gymnasium ,  -Realgymnasium  und 
-ObeiTcalschule.     230. 

Mädchcnhandelsschule  in  München.     258. 

Mädchenhort.     236. 

Mädchenschule,  Höhere.     175  ff. 

— ,  Bestimmungen  vom  31.  Mai  1894,  für  die. 
189. 

— ,  Bildungsideal  der.     207  f. 

— ,  Bildungsstoffe  der.     209  ff. 

— ,  Kulturwert  und  Kulturaufgabe  der.     190. 

— ,  Lehrerkollegium  der.     240. 

— ,  Zahl  der  Schuljahre.     209. 

— ,  \'orbildung  für  das  häusUche  Leben  durch 
die.     234. 

— ,  Wissenschaftlicher  Oberbau  der.     229  f. 

Mädchenschulen,  Deutscher  Verein  von  Diri- 
genten und  Lehrern  der  höheren.    183.  184. 

magister  principalis.     125. 

—  scholarum.     125. 

Magnus,  Heinrich  Gustav.     324. 

Major,  Joh.  David.     350.  373. 

Malerei,  Mittelalterliche.     32. 

— ,  Neuzeitliche.     39. 

Malus,  E.  L.     322. 

Mandragola  des  Machiavell.     459.     460. 

Manufacture  des  Gobelins  in  Paris.     391. 

^  Royale  des  Meubles  de  la  Couronne.    351. 

353- 
Marburg,  Bibliothek  der  LTniversität.     557. 

Marco  Polo.     529. 

Marduk.     24.  25. 

Marienspiel.     452. 

Marivau.x,  Pierre  de.     467. 

Mark  Aurel.     533. 

Marsfeld  in  Paris.     392.  402. 

Maschinen,  Eindringen  der,  in  die  Technik. 

330- 
Maschinenindustrie.     39.  392. 
Maschinenkonstruktion,  Theorie  der.     334. 
Maschinenlaboratorien.     334. 
Maß-  und  Gewichtsbureau,  Internationales.  630. 
Maßsystem,  Babylonisches.     24. 
Mathematik.     42. 

—  im  Gymnasialunterricht.     148.   159. 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.  214.  226. 
228. 

—  an  den  Universitäten.     336. 
Mathematik-Unterricht.     62.     341. 
Maupertuis,  Pierre  Louis  Moreau  de.     315. 
Mauriner-Kongregation.     544. 

Maxwell,  James  Clerk.     322.  323.  335. 
Maya- Völker.     20.  518. 
Mayer,  Robert.     322.     323. 
— ,  Tobias.     318. 
Mazarine  Bibliotheque.     550. 
Mechanik,  Technische.     26.  37. 
Meckel,  Johann  Friedrich.     325. 
Medici,  Cosimo  de'.     348.  531.  544.  547. 


Medici,  Lorenzo  de'.     348. 

Medizin.     42. 

— ,  Naturwissenschaftliche  Methoden   in  der. 

327- 
Mehrstimmigkeit  in  der  Musik.     435. 
Meierotto,  Johann  Heinrich  Ludwig.     143. 
Meinung  Öffentliche.     491. 
—  — ,  ihr  Verhältnis  zur  Presse.     508. 
Meisterlehre.     274.     277. 
Melanchthon,  Philipp.     130.   134. 
Melodie   als  Grundelement   der  Musik.     430. 

431- 
Menander.     45g. 
Mendelejeff,  Dimitrij.     594. 
Mendelssohn-Bartholdy,  Felix.     443. 
Menschenrassen.     6. 
Mensuralmusik.     436. 
Menzel,  Adolf.     535. 

Mesopotamien  als  Sitz  ältester  Kultur.     19. 
Messen,  Kaufmännische.     390. 
— ,  Vergleich  der,  mit  Ausstellungen.     427. 
Meßrelationen,  Frankfurter.     487. 
Metaphysik,    Aufgabe  der,   im  akademischen 

Unterricht.     291. 
Methode    des    Unterrichts    in    der    höheren 

Mädchenschule.     219  ff. 
Methodologie  der  Wissenschaften.     594. 
Mexiko.     20. 
Meyer,  L.     594. 
Meyerbeer,  Giacomo.     443. 
Michaelis,  Johann  David.     556.  557. 
Mikroskop.     373. 
Milton,  John.     136.  492. 
Mineralogie ,    Wissenschaftliche    Behandlung 

der.     324. 
Minna  von  Barnhelm.     470. 
Minnesänger.     435. 

Minnesängerhandschrift,    Heidelberger.     527. 
Mitarbeiter,  Freie,  der  Zeitungen.     500. 
Mitscherlich,  Eilhard.     325. 
Mittelschulbildung.     607. 
Mittelschulen.     115. 

— ,  Gleichstellung-  der  neunklassigen.     607. 
Mittelstand,  Freier  bürgerlicher.     33. 
Mönche  als  Abschreiber   von  Handschriften. 

524- 
Mohammedanismus.     22. 
Mohl,  Hugo  v.     326. 
— ,  Robert  v.     560.   565.   566.   578.   579. 
Moli^re,  Jean-Baptiste   Poquelin.     '^467.   468. 

469. 
Mommsen,  Theodor.     306.  614.  626. 
Monatsschriften,  Politische.     491. 
Monge,  Gaspard.     333. 
Monodie.     438. 

Montescjuieus  Lettres  persanes.     534. 
Monumenta  Germaniae  historica.     626. 
Moralitäten.     457. 
Morphologie  der  Pflanzen.     326. 


Register. 


663 


Morphologie  der  Tiere.     325. 

Mozart,  Wolfgang  Amadeus.     441. 

Müller,  Johannes.     326.  328. 

München,  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu.    562. 

Münchhausen,  Freiherr  Gerlach  Adolf  v.  545. 

•556.  577- 
Münzprägung.     23. 
Muqadamat  des  Ibn  Khaldan.     533. 
Museen.     347  AT. 

Wirkung  der,  auf  die  Kunst.     363. 

Führungen  in  den.     365.  382.  600.  637. 

Botanische.     636. 

Freiluft-.     366. 

Königliche,  zu  Berlin.     360. 

Kunst-.     637. 

Landes-.    368. 

— ,   Bedeutung  für    das   heranwachsende 
Geschlecht.    382. 

Lokal-.     367. 

Naturwissenschaftliche.     372  ff. 

—  als  Archive.     375. 

—  als  Kortbildungsmittel.     376. 
Provinzial-.     386. 
Volks-.     366. 

in  den  kleineren  Städten.     355  f. 
Zoologische.     637. 

Museum,  Der  Name.     350. 

Berliner.     354. 

Bethnal  (ircen-,  in  London.     366. 

Das  Britische.     3j2.  355. 

Kaiser  Friedrich-,  in  Berlin.     361.  362. 

Pergamon-.     361. 

Ruskin-,  in  Sheffield.     366. 

South-Kcnsington-.     358.  398.  416. 

Thermen-,  in  Rom.     361. 

Chemisches,  zu  Charlottenburg.     424. 
Museumsbeamte.     360. 
musiche,  nuove.     438. 
Musik,  Mittelalterliche.     32. 
— ,  Neuzeitliche.     39. 
—  im  Götterkultus.     431. 
— ,  im  christlichen  Kultus.     434. 
— ,  Weltliche.     437. 
— ,  Entwicklung  der.     432. 
— ,  Grundlagen  der.     430. 
— ,  Metaphysik  der.     431.  442. 
— ,  Hellenische  Philosophie  der.    433. 
— ,  Unterricht  in  der.     436. 
— ,  Vervollkommnung  der  Technik  der.    444. 
— ,  Zukunft  der.     445  ff. 
Musikleben  der  Gegenwart.     441.     446. 
Musiktheorie,  System  der  griechischen.    432. 
— ,  des  Mittelalters.     435. 
Mussato.     468. 
Musschenbroeks     Elementa     physices.     3K. 

316. 
Mutterberuf.     196  f. 

Muttersprache    als    Mittelpunkt    des    Unter- 
richts.    60. 


Muttersprache,    Verfolgung    der,    durch    den 

Humanismus.         128. 
— ,  Verhältnis    zur,    in    der    mittelalterlichen 

Schule.     124. 
— ,  — ,    in   der  Schule  der  Reformationszeit. 

130- 
— ,  Ratkes  und  Comenius'  Eintreten  für  die. 

136.   137- 

— ,  Thomasius'  Eintreten  für  die.     138. 

— ,  Herders  Ansicht  über  die  Stellung  der, 
im  Unterricht.     147. 

— ,  Pflege  der,  in  den  Franckeschen  Stif- 
tungen.    139. 

— ,  Unterricht  in  der.     108. 

— ,  — ,  in  der  höheren  Mädchenschule.    224. 

—    in   der   Komödie   der  Renaissance.     459. 

Mysterien  des  Altertums.     29. 

— ,  Mittelalterliche.     454.  456. 

Mythologie,  Babylonische.     24. 


N. 

„Nachrichten,  Berlinische".     489. 

Nachrichtendienst  der  Zeitungen.     495. 

Nägeli,  Karl  Wilhelm  von.     326.  636. 

Napoleon  I.     392. 

Napoleon  III.     399.  401. 

Nathan  der  Weise.     470. 

Nationalgefühl.     3. 

Nationalität,  Einfluß  der,  auf  die  Volksschule. 

87. 
Nationalismus,  Überspannung  des.     60. 
Nationalmuseum,  Germanisches,  in  Nürnberg. 

357- 
Nationaltheater,  Deutsches,  in  Hamburg.  470. 

—  in  Mannheim.     472. 
Naturaliensammlungen.     349. 
Naturlehre.     314. 

Naturmensch  in  seiner  Stellung  zur  Kultur.  8. 

Naturrecht.     299.  300. 

Naturwissenschaft,  Exakte.     26.  40. 

— ,  Beschreibende.     37. 

Naturwissenschaften,  Unterricht  in  den.  62. 
110.   156.  159.  226.  341. 

— ,  — ,  unterstützt  durch  naturwissenschaft- 
liche Museen.     385. 

—  als  Bildungsstoff  der  höheren  Mädchen- 
schule.    213. 

Naturwissenschaftliche  Museen,  ihre  Haupt- 
typen.    383. 

55'- 
322-  332- 


Naud^,  Gabriel. 
Navier,  Ludwig. 
Neger.     8. 
Negritos.     7. 
Neuber,  Caroline. 
Neuhumanismus. 
Neumann,  Franz. 
— ,  Luise.     474. 
Neuplatonismus. 


469. 

•145-  319- 

320.  321.  322.  325. 

29. 


664 


Register. 


News  writers.     484. 

Newton,  Isaac.     36.  37.  313.  321. 

Nibelungenlied.     545. 

Niccoli,  Niccolo.     547. 

Niethammer,  Friedrich  Immanuel.     151.   153. 

154. 
Nietzsche,  Friedrich.     30x3.  301.  433.  442. 
Nippur,  Bibliothek  von.     63S. 
NischniNowgorod.     391. 
Nobelstiftung.     626. 

Nomenklatur,  Naturwissenschaftliche.     373. 
Nomiallehrplan  der  höheren  Mädchenschule. 

179.   184. 
Normen  des  Lebens.     192. 
Normwissenschaften.     287. 
Nouvellistes.     4S4. 
novellanti.     484. 
Novellisten.     484. 

o. 

Oberlehrerinnen,  X'orbildung  der.     239. 

Oberrealschule.     159.  160.  161.   164.  608.  609. 

Oberschulkollegium,  Preußisches.     143. 

Obrigkeit,  Stellung  der  weltlichen,  zur  Volks- 
schule,    go  f. 

Oerstedt,  Hans  Christian.     322. 

Österreich,  Gewerbeschulwesen  in.     250. 

— ,  Reformen  des  höheren  Knabenschulwesens 
in,  im  19.  Jahrhundert.     156.  160. 

— ,  Versuche  zur  Hebung  der  technischen 
Bildung  im   18.  Jahrhundert  in.     244. 

— ,  Volksschule  in.     95. 

Ohm,  Georg  Simon.     322.  323. 

Oper.     440.  441.  459.  469.  470. 

Optik.     37.  41. 

Opus  Palatinum.     313. 

Organisation,  Begriff  der.     591. 

Organisationspläne  der  Tiere.     379. 

Organismen,  Entwicklungsgang  der,  Beispiele 
vom,  im  Schaumuseuni.    380. 

Ostendorf,  Julius.     160. 


Pachomius.     524. 

Paciuolos  Summa.     313. 

Pädagogik,  s.  Bildung,  Mädchenschule,  Schule, 
Universitäten,  Unterricht,  Volksschule. 

—  als  Unterrichtsstoff  der  höheren  Mädchen- 
schule.    218. 

Palais  de  l'Industrie  in  Paris.     399.  405. 

Paläontologie.     325. 

Palimpsest.     523. 

Panciroli,  Guido.     550. 

Pandektenhandschrift,  Pisaner.     528. 

Panizzi,  Antonio.     565. 

Pantalone.     461. 

Papier,  Verwendung  von,  für  Handschriften 
und  Bücher.     529.  532. 

Papin,  Jean.     596. 


Papsttum.     30. 
Papyrus.     *52o.  543. 

—  Prisse.     542. 

,, Paradiese"  der  Perserkönige.     635. 

Paris,  Bibliotht;que  Mazarine  und  Bibliothtique 
du  Roi  in.     550.  555. 

— ,  Weltausstellungen  in.    399.  401.  405.  413. 

— ,  Ausgangspunkt  des  europäischen  Dramas 
von.   456. 

— ,  Mittelpunkt  des  Theaters  in.     466. 

Park  der  Intelligenz  Wu-Wangs.     635. 

Parlamentarismus,  Einfluß  des,  auf  die  Zei- 
tungen.    500. 

—  in  England.     35. 
Parodie.     437. 

Pathelin,  Advocat.     456.  459. 

Pathologie.     328. 

Paulsen,  Friedrich.     161. 

Paulus  Diaconus.     123. 

Paxton,  Erbauer  des  Kristallpalastes.     395. 

Pelagius.     528. 

Pergament.     *522.  529.   532.  543. 

Pergamon,  Bibliothek  von.     639. 

Pergamon-Museum,  Berliner.     361. 

PersönUchkeit,  Streben  nach  und  Wert  der. 
191.   193. 

— ,  Kraft  und  Recht  der  Frau  zur.     194. 

Peruaner.     20. 

Pestalozzi,  Johann  Heinrich.  55.  59.  '96. 
103.   170.  244. 

Peter  von  Pisa.     123. 

Petrarca,  Francesco.     458.  530.  547. 

Petrus  Ramus.     313. 

Pettenkofer,  Max  von.     328. 

„Pflanzenreich,  Das",  Unternehmen  der  Ber- 
liner Akademie.     626. 

Pflege  der  Kinder  im  Hause.     197. 

Philanthropinismus.     92  f.     *I39. 

Philobiblon  Richards  de  Bury.     528. 

Philologie.     43. 

—  Organon  der  Geisteswissenschaften.  284. 
— ,  Betrieb  der,  an  den  Universitäten.  294  f. 
Philosophie,  Leistungen  der  Griechen  für  die. 

28. 
— ,  Neuzeitliche.     37. 

—  des  19.  Jahrhunderts.     42. 

— ,  Aufgaben  des  akademischen  Unterrichts 
in  der.     291. 

— ,  Aufnahme  der  Wolfischen,  in  den  Lehr- 
betrieb der  Universitäten.     555. 

— ,  Bildungswert  der.     63. 

—  Interesse  für  die,  in  der  Gegenwart.    308. 
Philosophische  Fakultät.     "294.  319. 
Phönizier.     23. 

Phylogenie  des  Pflanzenreichs.     326. 

Physik.     37.  40. 

• — ,  Bildungswert  der.     63. 

—  an  den  Universitäten  im   18.  Jahrhundert. 

315- 


Register. 


665 


Physikanden  Universitäten  derCegenwart. 336. 

Physikalische  Kabinette.     316. 

Physiologie  in  der  Medizin.     328. 

—  der  Pflanzen.     326. 

Pickelhäring.     463. 

Pietismus,  Einwirkung  des,  auf  die  Volksschule. 

92-  93- 
— ,  Eintreten  des,    für  die  Umwandlung  des 

höheren  Schulwesens.     139. 
Plakat.     490. 
Planeten.     24.  27. 

Plankton-E.\pedition  Hcnsens.     327. 
Plato.    433-    533-    54 >•    593-    594-   595-    622. 

649. 
Platter,  Thomas.     131. 
Plautus,  T.  Maccius.     451.  459.  460. 
Plinius  Secundus  Maior,  C.     520.  539. 
Poggio,  üian-Francesco.     548. 
Poinsot,  L.     322. 

Politik,  Allgemeine,  des  19.  Jahrhunderts.    47. 
Pollio,  C.  Asinius.     547.  639. 
Polyphilus'  Hypnerotomachia.     535. 
Poncelet,  Jean  Victor.     332. 
Postmeister  als  Avisenschreiber.     484. 
Postreuter.     487. 
Prälektionen.     298. 

Prämiierungen  auf  Ausstellungen.     418. 
Präparandenanstalten.     97. 
Präsenzbibliothek.     640. 
Präzession  der  Nachtgleichen.     24.  27. 
Preisaufgaben  der  Akademiecn  und  Universi- 
•  täten.     625. 

Preisgerichte  der  Ausstellungen.     418. 
Presse,  Allgemeine  Funktion  der.     507. 
— ,    Bedeutung    der,    für    die   Volksbildung. 

604. 
— ,  Geschäftsprinzip  der.     510. 
— ,  Kulturförderndcr  Einfluß  der.     510. 
— ,  Periodische.     482.  488. 
— ,  Verhältnis  der,  zur  öffentlichen  Meinung. 

508. 
Preßfreiheit.     47.  •492- 
Preßgesetzgebung.     493. 
Priesterschaften  als  Träger  der  Wissenschaft 

in  Babylonien.     593. 
Priesterschulen,  Babylonische.     638. 
Primärschule,  Aufgabe  der.     66. 
Primaticcio,  Francesco.     349. 
Primitive  Werkstücke.     398. 
Prinzipale  der  Schauspieltruppen.     471. 
Privatdozententum.     614. 
Probandenjahr.     165. 
Professorenaustausch.     620. 
Proletariat.     40. 
Propädeutik,    Philosophische.     150.  156.   163. 

167. 
Protagoras.     542. 

Protestantismus,  Aufgabe  des,  in  der  Gegen- 
wart.    49  f. 


Prudentius'  Psychomachie.     525. 

Prüfung,  Wissenschaftliche,  für  Lehrerinnen. 
190. 

Prüfungskommission,  Wissenschaftliche.  619. 

Prüfungsordnungen  von  1892.     163. 

—  von   1901.     167. 

Psychologie,  Experimentelle.     42. 

— ,  Aufgabe  der,  im  akademischen  Unter- 
richt.    291. 

— ,  Wissenschafüiche,  im  wissenschaftlichen 
Oberbau  der  höheren  Mädchenschule.  231. 

— ,  —  im  Lehrerinnenseminar.     238. 

Ptolemäer.     544. 

Ptolemäus,  Claudius.     28. 

Ptolemaios  Philadelphos.     635. 

Pythagoreer.     593. 

— ,  Zahlenmystik  der.     433. 


Quadrivium.     312. 

Quellendarstellungen,   Wert    der,    im    Unter- 
richt.    307. 
Quellenlektüre  im  Geschichtsunterricht.     225. 

R 

Rachel,  Elisa.     474. 
Racine,  Jean.     466. 

Radierung,    Verwendung     der,     zum     Buch- 
schmuck.    535. 
Raritätenkammern.     34g.  412. 
Rasse,  Weide  und  gelbe.     8. 
Rassenunterschiede,  Körperliche  und  geistige. 

7- 
Ratke,  Wolfgang.     91.   136. 
Raumer,  Preuß.  Kultusminister  Karl  Otto  v.  156. 

—  Friedrich  v.     170. 
Raumproblem  der  Bibliotheken.     582. 
Ray,  John.     373. 

Realgymnasium.     68.   154.   164.  608. 
Realhandclsakademie  in  Wien.     245. 
Realinstitut  in  Bayern.     154. 

Realismus,    Empirischer,   in    Frankreich    und 
England.     42. 

—  als  Weltanschauung.     63. 
Realschulen.     38.  69.   140.  144.  153.  247. 

—  Lehr-    und    Prüfungsordnung    für,    vom 
Jahre  1859.     157. 

,  vom  Jahre  1882.     159. 

—  und  Realgymnasien  für  Mädchen.     206. 
Realschulmännerverein.     161. 

Rdaumur,    Rend  Antoine  Ferchault  de.     373. 
Rechenunterricht  in  der  höheren  Schule.   62. 

—  im   15.  — 17.  Jahrhundert.     313. 

—  in  der  höheren  .Mädchenschule.     214.  228. 

—  in  der  Volksschule.     109. 
Rechtswissenschaft,  Akademischer  Unterricht 

in  der.     291.     293  f 
— ,  Systematische  Stellung  der,  in  der  Wissen- 
schaft.    292. 


666 


Register. 


Reclams  Universal-Bibliothek.     603. 

Redaktion  der  Zeitung.     493.  500.     503. 

Kedtcnbachcr,  Jakob  Ferdinand.     331.  334- 

Reformation.     34.  '35. 

— ,  Dogmatische  Richtung  der.     298. 

— ,  Bedeutung  der  Musik  für  die.     437. 

— ,  Bedeutung  der,   für  die  Entwickhmg  der 

Bibhotheken.     548. 
— ,  — ,  für  die  Schule.     78.  90.   129. 
— ,  — ,  für  das  Theater  in  Deutschland.    468. 
Regiomontanus  (Johann  Müller).     313. 
Reichenbach,  Georg  von.     331. 
Reichsanstalt,  Physikalische.     324. 
Reifeprüfung   und    -zeugnis.      143.    i49-    i5°- 

156.  164. 
Reinhardt,  Direktor.     164. 
Reisig,  Christian  Karl.     569. 
Reiske,  Johann  Jakob.     645. 
Reklame  in  den  Zeitungen.     505. 
Relativismus.     301. 
Religion,   Einfluß   der,    auf  die  Volksschule. 

87. 
Religionsgeschichte     als     Bildungsstoff     der 

höheren  Mädchenschule.     212.  217. 
Religionsunterricht.     61.  82. 

—  in  den  Jesuitenschulen.     133. 

—  des  Philanthropinismus.     140. 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.     226. 

— ,  seine  Bedeutung  in  der  Volksschule.    106. 

Renaissance.     31.  530. 

— ,  Dogmatische  Richtung  der.     298. 

— ,    Bedeutung   der,    für    die    Tradition    des 

Dramas.     457. 
Resewitz,  Friedrich  Gabriel.     144.   153. 
Rettich,  Julie.     474. 
Reuchlin,  Johann.     129.  456. 
Reuleaux,  Franz.     334. 
Reuwich,  Erhard.     535. 
Revolution,  Französische.     43. 
,  ihre    Bedeutung  für   die  ErschUeßung 

der  Kunst.     352. 
Rhythmus  als  Grundelement  der  Musik.  430. 
Richelieu,    Armand  Jean    Duplessis,    Herzog 

von.     622. 
Richter,  Ludwig.     535. 
Richental,  Ulrich  von.     527. 
Riemann,  Friedrich  Bernhard.     320. 
Ristori,  Adelaide.     474. 
Ritschi,  Friedrich.     565.  566.  *  568. 
Ritterakademieen.     38.  72.  138.  145.  316. 
Rochefort,  Henri.     502. 
Rochow,  Eberhard  von.     93.  244. 
Roesel.     373. 

Rollenfächer  im  Theater.     461. 
Rom,    Verlagsgeschäft   und    Buchhandel    in. 

522. 
Römer,  Älteste  Zeitungen  der.     482. 
Römertum,    seine  Bedeutung  für  die  Kultur. 
25.  *28. 


Roscius,  Q.     461. 

Rose,  Heinrich.     325. 

— ,  Valentin.     325. 

Rosenplüt,  Hans.  456. 

Rossi,  Ernesto.     474. 

Rotationsmaschine.     495. 

Rousseau,  Jean-Jacques.     141.  244.  533. 

Ruskin-Museum  in  Sheffield.     366. 

Rußland,   Fach-   und  Fortbildungsschulwesen 

in.     267. 
Ruzzante.     461. 

s. 

Sachs,  Hans.     456.  468. 

— ,  Julius  von.     326. 

Sacrobosco.     313. 

Saint-Germaindes-Pres,    Benediktiner-Kloster. 

544- 
de  Saint- Venant.     332. 
Salon,  Der,  in  Paris.     399. 
Salviani.     460. 
Salvini,  Tommaso.     474. 
Salzmann,  Christian  Gotthilf.     139.   140- 
Salzsteppen,  Russische.     12. 
Sammelausstellungen.     422.  424. 
Sammeleifer  der  Humanisten.     530. 
Sammlungen    von    Kunstwerken,   Entstehung 

der.     347. 
,  Entwicklung   der,   zu  Museen.     *350. 

355- 
— ,  Wissenschaftliche.     635. 

Sardou,  Victorien.     467. 

Schack,  Friedrich  Graf  von.     363. 

Schädlinge  des  Menschen,  der  Haustiere  und 
Kulturpflanzen.     380. 

Schäferspiel.     459. 

Schäufeleins,  Hans,  Illustrationen  zum  Theuer- 
dank.     535. 

Schausammlung.     637. 

,    Trennung    der,    von    der    wissenschaft- 

hchen  Sammlung.     361.  378.  385.  386. 

Schauspiel.     453. 

Schauspielerstand.     461.  477. 

Schauspielhaus,  Berhner.     474. 

Schauspielkunst.     455.  461.  *462.  475. 

— ,  Gegensatz  des  Weimarer  und  des  Ham- 
burger Stils  der.     473. 

Scheele,  Karl  Wilhelm.     321. 

Schelling,  Friedrich  Wilhelm  Joseph.     42. 

Schießpulver.     34. 

Schiff'ahrt.     34. 

Schiller,  Friedrich.     147.   171.  472.  475. 

Schläger,  Bibliothekar.     558. 

Schlee,  Gymnasialdirektor.     160. 

Schieiden,  Matthias  Jakob.     326. 

Schleiermacher,  Friedrich  Ernst  Daniel.  1 70. 
171.  286.  308. 

Schlüter,  Bibliothekar.     556. 

Schmidt,  Maximilian.     170. 


Register. 


667 


Schmierenwesen.     477. 

Schniulcr,  Arthur.     477- 

Schöffer,  Peter.     532.  535. 

Schöne,  Richard.     360. 

Schönemann,  Johann  Friedrich.     471. 

schola  claustri  und  schola  canonica.     123. 

—  Palatina.     123. 
Scholastikus.     125. 

Schopenhauer,  Arthur.    42.  62.  431.  433-  442- 

Schott.     314- 

Schreiberberuf  im  Mittelalter.     525. 

Schreiberwerkstätten  in  Athen.     521. 

Schreibstoff.     520. 

Schreibtafel.     522. 

Schreibunterricht  in  der  Volksschule.     10g. 

Schreyvogel,  Josef.     473. 

Schrift,  Bedeutung  der,  für  die  Kultur.     539. 

— ,  Arten  der.     518. 

Schriftrolle.     519. 

Schriftsprache,  Deutsche.     533. 

Schröder,  Friedrich  Ludwig.     471.  472. 

Schulaufsicht,  X'erweUlichung  der.     7g. 

Schuldrama.     453.     468. 

Schule.     38.  60. 

—  Grundformen  der.     76. 

—  als  Faktor  des  Bildungswesens.     59. 
— ,  Beziehung  der,  zur  Musik.     448. 
Schulen,  Anfange  der  germanischen.     121  f 

—  Protestantische,  der  Reformationszeit.   133. 
— ,  Studium     der     Geisteswissenschaften     in 

seiner  heutigen  Gestalt  auf  den  deutschen. 
290. 
— ,  Wissenschafdiche,  im  Altertum.     593. 

—  — _  in  der  Neuzeit.     612. 
Schulformen  des  Humanismus.     129. 
Schulgesetze.     96. 

Schuljahre,    Zahl    der,    der    Mädchenschule. 

209. 
Schulkonferenz  von  1849.     155. 

1873.     158- 

1890.     163. 

—  —   1900.     167. 
Schulkonferenzen .     81. 
Schulkurse,  Drei  Formen  der.     65. 
Schulordnungen.     91.   131.  132. 
Schulpflicht,  .Mlgemeine.     91. 
Schulreform  Kaiser  Wilhelms  II.     162  f 
— ,  Verein  für.     161.  162. 
„Schulschriften".     530. 

Schulte,  Johann  Friedrich.     567. 
Schulunterricht,  Notwendigkeit  seiner  sozialen 

Differenzierung.     74. 
Schulwesen,  Öffentliches,   sein  schematischer 

Aufbau  für  gegenwärtige  Kulturverhältnisse. 

64  ff. 

—  in  England  und  Frankreich.     79 1. 
Schulze,  Johannes.     150.  165.   169.  170. 
Schulzwang.     47.  78.  98. 

Schwann,  Theodor.     326. 


Schweiz,  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen 
in  der.  •  267. 

Schwendener,  Simon.     326. 

Scriba.     524. 

Scribe,  Eugene.     467. 

Scrittori  d'avisi.     484. 

Scrubland,  Australisches.     12. 

Seebach,  Marie.     473. 

Seebeck,  T.  J.     322. 

Seelenleben  als  Bildungsstoff.     212. 

Seeley,  John.     308. 

Segner,  J.  A.  von.     318. 

Sekundärschule.     67. 

Selbsttätigkeit  der  Kinder,  Anleitung  zur.  1 1 2. 

Seminar,  Erstes  naturwissenschafdiches ,  zu 
Bonn.     320. 

— ,  Mathematisch-physikalisches,  zu  Königs- 
berg.    320. 

Seminarbibliotheken.     579. 

Seminare  an  den  höheren  Schulen  in  Preußen. 
166. 

—  zur  Ausbildung  von  Lehrerinnen.     181. 

—  der  Universitäten.     613. 

—  für  Volksschullehrer.     97. 
Seminarium  praeceptorum  Franckes.     94. 
— ,  Fr.  Aug.  Wolfs  Hallenser.     148. 

— ,  Thierschs  Münchcncr.     151. 
Seminarübungen  an  den  Universitäten.     294. 

295. 
Semiten.     9  f 
Semler,  Christoph.     144. 
Semper,  Gottfried.     358.  362.  398. 
Seneca,  L.  .\nnaeus.     451.  458. 
servus  literatus.     521. 
Setzmaschine.     495. 
Seydelmann,  Karl.     474. 
Sezession  in  der  französischen  Kunst.     408. 
Shakespeare,  William.      38.   »463.   468.   469. 

54>- 

Siemens,  Werner.     335. 

Sighele,  Scipio.     504. 

Sillybos.     521. 

Simultanschule.    84. 

Sitte.     3. 

Sittlichkeit,  Beeinflussung  der,  durch  die  Volks- 
schule.    105. 

Sklaverei.     25.  32. 

Skytte.     315. 

Smithsonian  Institution.     629. 

Society,  Royal,  in  London.     314. 

—  of  Arts  in  London.     412. 

Söldnerheere.     34. 

Sommerard,  Marquis  von.     357. 
'   Sommcmachtstraum.     464. 
I   Sonnensystem,  Heliozentrisches.     36. 

Sonntagsschulen.     244. 

Sophokles.     451.  458. 

Sorbona,  Robert  de.     548. 

Sosii.     522. 


668 


Register. 


SouthKensington-iMuscum.     358.  398.  416. 

Soziale  Frage.     40.  "44.  210. 

Sozi;ilismus.     45. 

Sozialpädagogik.     59. 

SpcciesbegritT,  Naturwissenschaftlicher.     373. 

Spektralanalyse.     322.     323. 

Spencer,  Herbert.     591.  594.  645. 

Spiele,  Geistliche.     452. 

—  Sterzinger  und  Lübecker.     456. 
Spielleute.     451.  456. 

Spielplan  des  modernen  deutschen  Theaters. 

477- 
Spillekc,  August  Gottlob.     154.   170. 
Spinnschulpatent  in  Österreich.     245. 
Spinoza,  Baruch.     286. 
Spitzenklöppelei-Schule  in  Prag.     245. 
Sprache.     3. 
— ,  Bedeutung  der  Kenntnis  der  fremden,  für 

die  Erkenntnis  der  fremden  Kultur.     211. 
Sprachstamm  als  ethnographisches  Kriterium. 

9- 
Sprachunterricht.     61.   140. 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.     227.  229. 
Sprachwissenschaft,  Vergleichende.     43. 
Staat  als  Kulturfaktor.     5. 

—  als  Schulbegründer.     76. 

— ,    seine    Stellung    zur    höheren    Mädchen- 
schule.    240. 
— ,  —  zur  Volksschule.     99. 
Staatsanzeiger,  Römischer.     482. 

—  von  Peking.     483. 

Staatsgewerbeschulen  in  Österreich.     263. 
Staatslehre,  Leistungen  der  Griechen  für  die. 

28. 
Stadt,  Mittelalterliche.     33. 
Stadtschulen,  Mittelalterliche.     78.  90.  126. 
Städte,  Bedingungen  der  Entwicklung  der.   12  f. 
Station,  Zoologische,  in  Neapel.     632. 
Stationarii.     530. 
Stegreifspiel.     462. 
St.  Gallen,  Bibliothek  von.     547. 
Stein,  Frhr.  Karl  von.     251. 
Steinbeis,  Ferdinand  von.     24g.  258. 
Steiner,  Jakob.     320. 
Steppe.     12. 

Sternkarten  Bessels.     626. 
Sternwarten,  Internationales  Zusammenwirken 

der.     631. 
Stiefels  Arithmetica  integra.     313. 
Stil,  Konstruktiver.     396. 
Stoffverteilung  der  Zeitungen.     506. 
Stoizismus.     29. 
Stokes,  George  Gabriel.     322. 
Stoy,  Volkmar.     166. 
Streitschriften   im  Mittelalter.     529. 
Studienpläne  für  Studierende.     619. 
Studt,  Preuß.  Kultusminister  Konrad.     167. 
Sturm,  Johann.     131. 
Sue,  Eugene.     501. 


Süvern,  Johann  Wilhelm.     149.   154. 

Suggestibilität   des  weiblichen   Geistes.     205. 

Sumerer.     23.  24. 

Swammerdam,  Jan.     373. 

Swift,  Jonathan.     534. 

Syllabus.     49. 

System,  Altonaer  und  Frankfurter,  im  höheren 

Knabenschulwesen.     164. 
— ,  Naturwissenschaftliches.     2i72i-  37^- 


Tacitus,  P.  Cornelius.     542. 

Tagesschriftstellerei  als  Beruf.     493. 

Tageszeitungen.     489. 

Talma,  Fran^ois.     474. 

Tanz.     431. 

Taoismus.     2 1 . 

Tasso,  Torquato.     459. 

Technik.     23.  26.  34.  41. 

— ,  Einfluß  der,   auf  den  Universitäts-L'nter- 

richt.     336. 
— ,  Mittelschulen  und  Hochschulen  für.  330  f. 
— ,  Schulen  für  die.     607. 
— ,  Verhältnis  von  Wissenschaft  und.     606. 

—  der  Zeitungen.     495  f. 

Technische  Bildung,  Erste  Versuche  zu  ihrer 
Hebung  im   18.  Jahrh.     244.  316. 

—  Hochschulen ,  ihre  grundlegenden  Diszi- 
plinen.    332. 

—  — ,  Frage  ihrer  Vereinigung  mit  den  Uni- 
versitäten.    *337.     609. 

Technologie  als  älteste  Form  der  Wissen- 
schaft.    287. 

Telegraphen-Agenturen.     497. 

Terentius  Afer,  P.     451. 

— ,  Bilderhandschriften  des.     525. 

Testament,  Altes.     25. 

Teufel,  Der,  im  geistlichen  Spiel.     453. 

Theater.     451  fT. 

— ,  Feindschaft  der  Kirche  gegen  das.     453. 

— ,  Fehlen  des  Zusammenhanges  zwischen 
dem  antiken  und  dem  modernen.     457. 

— ,  seine  Stellung  zur  Musik  in  der  Gegen- 
wart.    446. 

— ,  Modernes  deutsches,  sein  Spielplan.    475. 

477- 
— ,    Gemeinschaftliches,    für    Nachbarstädte. 

477- 
— ,  Kopenhagener  Königliches.     468. 
Theateraufführungen  für  die  Volksschule.   109. 
Theologie,  Systematische  Stellung  der,  in  der 

Wissenschaft.     292. 
— ,   Akademischer    Unterricht    in    der.      291. 

293  f- 
Thermenmuseum  in  Rom.     361. 
Thermodynamik.     323.  334. 
Thesen,  95,  Luthers.     532. 
Thiers,  Fondation.     617. 


Register. 


669 


Thiersch,  Friedrich.     151.  170.  319. 

Thomas  a   Kempis'  Nachfolge   Christi.     533. 

Thomasius,  Christian.     138. 

Thomasschule,  Leipziger.     145. 

Tiere,  Anpassungserscheinungen  der.     379. 

— ,  Organisationspläne  der.     379. 

Tierkreis.     24. 

,, Tierreich,   Das",  Unternehmen  der  Berliner 

Akademie.     626. 
Tierversuch  in  der  Medizin.     328. 
Tiervvelt.     1 2. 
Titus  von  Bostra.     523. 
Tontafcln  von  Kujundschik.     543. 
Tontafeltexte.  .-Mtbabylonische.     519. 
Topographisches  Prinzip   der  Gliederung  der 

Wissenschaften.     288. 
Totenbuch,  Äg>'ptisches.     519. 
Tours,  .Mönchschule  von.     525. 
Tractatus  de  oculo  morali.     528. 
Tragödie  der  Renaissance.     458. 
— ,  Französische  klassische.     466. 
Trapp,  Ernst  Christian.     139. 
Trigonometrie.     3 1 3. 
Trimberg,  Hugo  von.     529. 
Trivium.     122.  312. 
Trocadero.     405.  416. 
Trotzendorf,  \'alentin.     131. 
Türken.     23. 

Turnunterricht,     iii.   164. 
Typen,  Die  komischen.     461. 


u. 

überbürdung  im  Unterricht.     151. 

Überlieferung,  Bedeutung  der,  für  die  Wissen- 
schaft.    540  f. 

Übungen  als  Unterrichtsform.     290. 

Übungskurse  für  Studierende.     620. 

Uhden.     563. 

Umfrage  der  Zeitungen.     504. 

Universaluniversität.     609. 

Universitäten.     37.  69.  77.  79- 

— ,  Anfange  der.     125. 

— ,  .Anteil  der  deutschen,  an  der  Wendung 
vom  Dogmatisch -Rationalen  zum  Histori- 
schen.    300. 

— ,  Fakultäten  der.     618. 

— ,  Ferien-  und  Fortbildungskurse  der.     614. 

— ,  Gestaltung  der  französischen,  engUschen, 
deutschen.     317. 

—  als  Institute  wissenschaftlicher  Forschung. 
319.  611  f. 

— ,  Physik  an  den,  im  18.  Jahrh.     315. 

— ,  Preisaufgaben  der.     625. 

— ,  Seminare  und  Institute  an  den.     613. 

— ,  Studium  der  Geisteswissenschaften  in 
seiner  gegenwärtigen  Gestalt  auf  den  deut- 
schen.    290. 

— ,  Typen  der.     621. 


Universitäten,  Vereinigung  der,  mit  den 
Technischen  Hochschulen.     '337.  609. 

Universitätsbibliotheken.  552.  557.  563.  567. 
569.  577. 

— ,  Benutzung  der.     578. 

Universitäts-Studium  der  Frau.     219. 

—  der  V'olksschullehrer.     113. 
Universitätsunterricht, Naturwissenschaftlicher, 

im   19.  Jahrh.     318  ff. 
University  extension.     71.  73.  80.  343.  602. 
Unterricht,  Elementar-.     597. 
— ,  Mittelschul-.     607. 
— ,  Hochschul-.     609. 

—  im  Lesen  und  Schreiben  in  der  Volks- 
schule.    108. 

—  in  der  Musik.     436. 

— ,  seine  drei  Stufen.     66  ff. 
Unterrichtsmethode  in  der  höheren  Mädchen- 
schule.    219  ff. 
Unterrichtsministerium.     81. 
Unterrichtsmuseen ,      Natunvissenschaftliche. 

385- 
Unterrichtswesen.     37. 
— ,  Kirchliches,  im  Mittelalter.     77. 
Urkunden-  und  Inschriftensammlungen,  Wert 

der.     307. 
Urwald.     1 1 . 

V. 

Valdivia-Expedition.     327. 

Valentini,  M.  B.     350. 

Varro,  Marcus  Terentius,  Reatinus.     312. 

Vatcrlandssinn  in  der  Volksschule.     107. 

Vaucanson,  Jacques  de.     353. 

Verbreitung  der  Zeitungen.     506. 

Verein,  Deutscher,  von  Dirigenten  und  Lehrern 

der  höheren  Mädchenschulen.     183.   184. 
Vereine,  Wissenschaftliche.     632. 
Vererbung  der  Kultur.     13  f 
Vergil,  Handschriften  des.     524. 
Verkehr  als  Kulturfaktor.     18. 
Verlagsgeschäft.     646. 

—  im  .Altertum.     522. 
Vermittlungsstellen     für    den    Privatverkehr. 

490. 
\'emunftreligion.     299. 
\'ersammlung ,    Weimarer,     der     Dirigenten, 

Lehrer  und  Lehrerinnen  deutscher  höherer 

Mädchenschulen.     i76f 
Viehzucht.     12. 
Vinci,  Lionardo  da.     457. 
Virchow,  Rudolf     328. 
Virtuosentum,  Schauspielerisches.     473. 
\'ives,  Ludwig.     132. 
\'ölkerfamilien.     9. 
Volksbibliothcken.     587.  600. 
\'olksbildung ,    Gesellschaft    für   \'erbreitung 

von.     602. 
Volksbücher,  Wiesbadener.     603. 


670 


Register. 


Volkshochschulen.     71    80.  343.  385. 

\'olkshochschulkurse.     599. 

Volkslied,  Historisches.     485. 

Volksmuscen.     366. 

Volksschule.     67.  78.  *87.   112. 

— ,  Beschränkung  des  Wissensstoffes  in  der. 
115. 

— ,  Einfluß  von  Religion  und  Nationalität  auf 
die  Verschiedenartigkeit  der.     87  f. 

— ,  Ergänzung  der,  durch  die  Fortbildungs- 
schule.    116. 

— ,  Gestaltungen  der.     loi  f. 

— ,  Innerer  Betrieb  der.     103  f. 

— ,  Notwendigkeit  der,  für  den  Staat.     100. 

— ,  Soziale  Aufgaben  der.     117- 

_,  Verhältnis  der,  zur  Kirche.     98.   107. 

— ,  Vermehrung  der  Mittel  für  die.     116. 

Volksschullehrer,  Außeramtlicher  Einfluß  der. 

114. 

— ,  Universitätsstudium  der.     113. 

Volksschullehrerbildung.     94.   112. 

Volksschullehrerinnen.     113. 

Volksschulwesen.     38.  *87  ff. 

Volks-  und  Staatswirtschaftspolitik  am  Aus- 
gang des  Mittelalters.     33. 

Volksunterricht.     46. 

Volkswirtschaftslehre.     37.  330- 

—  in  der  höheren  Mädchenschule.    226.  235. 

Voltaire,  Fran^ois  Marie  Arouet  de.    466.  533. 

Vondel,  Jan  van  der.     469. 

Vorhang  im  Theater.     454. 

Vorkultur.     19. 

Vorlesung  und  Übungen,  Verhältnis  von,  im 
Studienbetrieb  der  Universitäten.     295. 

Vorschulen.     67. 

Vortrag  als  Unterrichtsform.     290. 

Vorträge,  Einzel-.     599. 


w. 

Wagner,  Josef.     474. 

— ,  Richard.     43  >•  433-   442.  *443.   447-  627. 

Wahlrecht.     46. 

Wanderbibliotheken.     588.  602. 

Wandertruppen,  Schauspielerische.     463. 

— ,  —  aus  England.     468  f. 

— ,  —  deutsche  im  16.— 17.  Jahrh.     469. 

_,  —  Einführung  von,  für  die  Gegenwart  in 

Deutschland.     478. 
— ,  —  italienische  der  Gegenwart.     478. 
Wätzoldt,  Stephan.     190. 
Weber,  Wilhelm.     324. 
Weddas.     7. 

Weierstraß,  Karl  Theodor  Wilhelm.     320. 
Weigel,  Erhard.     138. 

Weimar,  Theater  in,  zur  Klassikerzeit.     472. 
Weise,  Christian.     469. 
Weiß,  Chr.     325. 
Welcker,  Friedrich  Gottlieb.     563.   566.    568. 


Weltausstellung    in    Chicago    und    St.  Louis. 

406.  413.  417- 
— ,    Londoner,    von    1851.      249.    358.    *394. 

413- 
— ,  — ,  von   1862.     400. 
— ,  Pariser,  von  1855.     *399.  413- 
— ,  — ,  von   1867.     *4oi.  413. 
— ,  — ,  von   1878,   1889,   1900.     »405.  413. 
— ,  Wiener,  von   1873.     *404.  413. 
Weltausstellungen.     390.  *393.  638. 
— ,  Einteilung  der.     413. 
—  einzelner  Zweige.     407. 
Weltverkehr.     40. 
Werder,  Karl.     474- 
Werner,  Abraham  Gotthelf.     324. 
Wiederholungsschulen.     244. 
Wiese,  Ludwig.     156.   157.   158. 
Wilhelms  II.  Schulreform.     162  f. 
Winckelmann,  Johann  Joachim.     146.  299. 
Wirbeltheorie  Kelvins.     323. 
Wirtschaftsführung    als    Unterrichtsstoff   der 

höheren  Mädchenschule.     218. 
Wissenschaft,    Alte  Organisationsformen  der. 
592  ff. 

— ,  Einheit  der.     594. 

— ,  Mittelalterliche.     31. 

— ,  Neuzeitliche.     36. 

— ,  Orientalische.     24. 

— ,  Reine,  eine  Schöpfung  der  Griechen.    26. 

— ,  Verhältnis  von  Praxis  und.     610. 

—  ^  —  von  Technik  und.     606. 

— ,  Ziel  der.     648. 

Wissenschaften,  Innere  Organisation  der.  594. 

— ,  Methodologie  der.     594. 

Wissenschaftslehre,    Aufgabe    der,    im    aka- 
mischen  Unterricht.     291. 

Wochenschriften,  Moralische.     491. 

Wochenzeitungen,  Gedruckte.     487.  488. 

Wöhler,  Friedrich.     321.  325.  328. 

Wohlfahrtspflege  als  Frauenberuf.     200. 

Wolf,  Friedrich  August.    143.  I45-  *I48.  319- 

Wolfenbüttel,  Bibliotheca  Augusta  in.     552. 

Wolff,  Christian.     313.  318. 

Wundt,  Wilhelm.     594- 

Württemberg,  Gewerbeschulen  in.     246.  249. 

— ,  Zentralstelle  für  Gewerbe  und  Handel  in. 


252. 


Young,  Thomas. 


Y. 


Z. 


Zedlitz,  Preuß.  Kultusminister  Graf  von.     143. 

Zeichenschulen.     246. 

— ,  Gewerbliche,  in  England  und  Schottland. 
250. 

— ,  Provinzial-,  in  Frankreich.     351. 

Zeichenunterricht  in  den  Franckeschen  Stif- 
tungen.    139. 


Register. 


671 


Zeichenunterricht    in    den    höheren    Knaben- 
schulen.    164. 
—  in  der  Volksschule.     110. 
Zeitschrift    für    weibliche   Bildung    in  Schule 

und  Haus.     183. 
Zeitschriften.     605.  646. 
— ,  ihr  Verhältnis  zum  Buch.     605. 
— ,  —  zur  Zeitung.     512. 
Zeitschriftenwesen.     491. 
Zeitschriftenzimmer.     569. 
Zeitung,  Begriff  und  Ursprung  der.     481. 

Geschriebene.     484.  487. 
„ — ,  Leipziger".     489. 
Zeitungen  als  Volksbildungsmittel.    511.  604. 

Älteste.     482. 

Annoncen  in  den.     490.  504. 
.Bedeutung der,  fürdie\'olks\virtschaft.  513. 

Berichterstattung  der.     496. 

Depeschendienst  der.     497. 

Die  ersten  gedruckten.     485. 

Feuilleton  der.     501. 

Freie  Mitarbeiter  der.     500. 

Gedruckte  Wochen-.     487.  488. 

Geschäftsprinzip  der.     510. 

Holländische  geschriebene.     488. 

Jahres-  und  Halbjahrs-.     487. 

Kopflose.     499. 

Korrespondenz-Bureaux  für.     498. 
-,  Neue".    485-  544- 

Prinzip  der  Anonymität  in  den.     501. 

Privilegierte.     489. 

Redaktion  der.     493.  500.   503. 

Reklame  in  den.     505. 

StofTbereich  der.     494. 

Stoffverteilung  der.     506. 

Tages-.     489. 

Technik  der.     495. 


Zeitungen,  Verbreitung  der.     506. 

— ,  Verhältnis  der,   zur  Zeitschrift   und  zum 

Buche.     512. 
Zeitunger.     484. 

Zeitungsausschnittburcaux.     511. 
Zeitungsdienst,  seine  Organisation.     493. 
Zeitungskorrespondenten.     496. 
Zeitungswesen.     38.  47.  '481. 
— ,  seine  moderne  Gestaltung.     491. 
Zellentheorie  der  tierischen  Gewebe.     326. 
Zentralblatt  für  Bibliothekswesen.     570. 
Zensur.     47.  488.  489-  492-  497-  534- 
Zentralmuseen,   Naturwissenschaftliche.     384. 
Zentralmuseum,    Römisch -germanisches,    in 

Mainz.     357. 
Zentralstelle    für    Gewerbe    und    Handel    in 

Württemberg.     252. 
Zentrumspartei.     49. 
Zerstörung  Trojas,    französisches  Schauspiel. 

456. 
Zettelkatalog.     563.  564. 
Zcuner,  Gustav  Anton.     334. 
Ziffernsystem,  Dekadisches.    22. 
Ziller,  Tuiskon.     166. 
Zinsverbot,  Kanonisches.     33. 
Zollverein,  Allgemeiner  deutscher.     251.  393. 
Zoologie.     41. 

—  Universitätsunterricht  in  der.     325. 
Zoologische  Gärten.     381.  635.  636. 
Zoologische  Station  in  Neapel.     632. 
Zünfte  als  Kulturträger.     243. 
Zug-  und  Kassenstücke.     476. 
Zukunftsaufgaben  der  Bibliotheken.     572  ff. 
Zunftwesen.     33.     44. 
Zwangsfortbildungsschule.     253. 
Zwangsgenossenschaften   in  Österreich.     247 
Zwergvölker,  Afrikanische.  7. 


Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig. 


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