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Full text of "Die Juden als Rasse und Kulturvolk"

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ALS  RASSE  UND 
KULTURVOLK 


F  RIX  Z     KAHN 


DIE        JUDEN 


Is  R.asse   und   Kulturvolk 


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Dritte  durchgesehene  Auflage 
(6.  bis  10.  Tausend) 


WELT-VERLAG     *     BERLIN 


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EINBANDZilicHNUNG    VON    MENACHEM    BIRNBAUM 


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COPYRIGHT    1920    BY   WELT-VERLAG,    BERLIN 


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Bei  dem  Fallissement  des  Ancien  regime  sind  nicht  nur 
Staaten  gestürzt  und  Systeme;  auch  Weltanschauungen 
und  Ideale  liegen  wie  gefallene  Götzen  zerschellt  am  Boden. 
Und  wen  mit  dem  alten  Europa  mehr  verbindet  als  der  Besitz 
entwerteter  Staatspapiere,  wer  aus  dem  großen  Konkurs  des 
19.  Jahrhunderts  auch  geistige  Kapitalien  hinüberzuretten 
hat  in  die  neue  Ära,  muß  auch  diese  der  allgemeinen  Neubilanz, 
der  von  Nietzsche  prophezeiten  Umwertung  aller  Werte  unter- 
werfen. Auch  die  Judenfrage  hat  eine  völlige  Wendung  und 
Wandlung  erfahren.  Für  die  Nationalisten  ist  das  Partei- 
problem zu  einer  Aktion  von  weltpolitischer  Bedeutung  hinaus- 
gewachsen. In  der  Bourgeoisie  ist — ein  Jericho-Rosen- Wunder!  — 
aus  der  Totenstarre  des  Indifferentismus  eine  Renaissance  der 
Jugend  erblüht,  die  die  ältere  Generation,  die  so  behaglich  in 
der  Rühr-mich-nicht-an!- Stimmung  hinlebte,  halb  mit  Verdruß 
und  halb  mit  Bewunderung  erfüllt.  Und  für  die  weiten  Kreise 
derer,  für  die  die  Judenfrage  ,, überwunden"  war,  steht  sie  nun 
plötzhch,  dem  totgeglaubten  Manne  gleich,  der  heimkehrt  und 
die  Gattin  in  den  Flitterwochen  einer  neuen  Ehe  überrascht, 
als  Ahasvergespenst  an  der  Tür  und  schreckt  durch  ihr 
Klopfen  den  ,, Emanzipierten",  der  drinnen  mit  seiner  arischen 
Schönen  im  Konkubinat  des  Europäertums  lebt.  So  verschie- 
den ihre  Stellung  und  Motive,  für  sie  alle  ist  die  Judenfrage 
aktuell  geworden,  und  in  ihnen  allen  ist  der  Wunsch  wach  nach 
Wissen,  nach  einem  Buch,  das  ohne  Parteilichkeit  über  die 
grundlegendsten  Tatsachen  und  Probleme  der  jüdischen  Rassen- 
und  Kulturgeschichte  unterrichtet.  Aus  der  Gewißheit,  daß 
ein  solches  bisher  nicht  existierte,  ist  diese  Schrift  entstanden, 
um  all  denen,  die  in  diesen  Zeiten  der  Einkehr,  Umkehr  und 
Abwehr  sich  ohne  allzu  große  Opfer  an  Zeit  und  Lernensmühe 
über  die  Juden  als  Rasse  und  Kulturvolk  unterrichten 
wollen,  ein  Lehr-  und  Wehrbuch  zu  sein. 

Über  den  gleichen  Stoff  erschienen  seit  dem  Jahre  1900  in 
deutscher  Sprache  vier  größere  Schriften  von  den  Autoren 
Judt,  Fishberg,  Zollschan  und  Hertz.  Die  Bücher  von  Judt 
„Die  Juden  als  Rasse"  und  Fishberg  „Die  Rassenmerkmale 
der  Juden"   befassen  sich  einzig  mit  der  Anthropologie   der 


Juden;  sie  besitzen  außer  dem  Verdienst,  ein  reiches  Materiad 
zusammengetragen  und  die  Öffentlichkeit  auf  den  Umfang 
des  Problemes  hingewiesen  zu  haben,  nur  einen  Wert:  sie 
demonstrieren,  wie  zwei  Bearbeiter  ein  und  denselben  Stoff 
zugunsten  einer  vorgefaßten  Meinung  einseitig  ausbeuten  und 
dadurch  mit  dem  gleichen  Tatsachenmaterial  als  Unterlage 
zu  zwei  diametral  entgegengesetzten  Endergebnissen  gelangen 
können.  Beide  Bearbeiter  benutzen  das  historische  und  an- 
thropologische Material  nicht,  um  durch  Untersuchungen  zu 
einem  Resultat  zu  kommen,  sondern  um  eine  vorgefaßte  Be- 
hauptung zu  beweisen.  Sie  zeigen  die  Wahrheit  des  Schiller- 
schen  Satzes,  daß  die  Geschichte  nur  ein  Magazin  für  di« 
Phantasie  ist,  deren  Stoff  sich  gefallen  lassen  muß,  wozu  wir 
ihn  unter  unseren  Händen  verwenden.  Judt  kommt  zu  dem 
Ergebnis:  „Der  Jude  der  Gegenwart  bildet  einen  in  hohem 
Grade  einheitlichen  Typus  ohne  Rücksicht  auf  das  geographische 
Milieu  und  die  Rassenmerkmale  der  Eingeborenen."  Fishberg 
dagegen  zu  dem  umgekehrten  Schluß,  „daß  die  Rassentypus- 
homogenität  der  Juden  nichts  als  Mythe  sei",  und  daß  man 
ebensowenig  von  einer  jüdischen  Rasse  reden  könne  wie  von 
einer  christlichen  oder  mohamedanischen. 

Auf  einem  ungleich  höheren  Niveau  als  diese  beiden  Tendenz- 
werke stehen  die  Bücher  von  Zollschan  und  Hertz.  Das  Zoll- 
schan'sche  Buch  „Das  Rassenproblem"  ist  die  unzweifelhaft 
gründlichste  und  gediegenste  Spezialbearbeitung  dieser  Frage. 
Es  trägt  im  Gegensatz  zu  den  beiden  vorgenannten  Büchern 
den  Stempel  vorurteilsfreier  kritischer  Forschung,  leidet  aber 
an  zwei  großen  Schwächen.  Es  ist  erstens  in  einem  Stil  ge- 
schrieben, der  nur  dem  naturwissenschaftlich  Vorgebildeten 
ein  Verständnis  ermöglicht.  Sodann  ist  der  Stoff  nicht  syste- 
matisch aufgebaut,  sondern  essayistisch  in  einzelnen  losen  Ka- 
piteln behandelt,  wodurch  auf  der  einen  Seite  Wiederholungen 
und  Längen,  auf  der  anderen  empfindliche  Lücken  entstanden. 
Die  Materie  selbst  ist  derart  weit  über  das  ganze  Arbeits- 
feld zerstreut,  daß  eine  Orientierung  sogar  dem  eingearbeiteten 
Leser  Schwierigkeiten  bereitet. 

Das  Buch  von  Friedrich  Hertz  „Moderne  Rassetheorien'* 
vereinigt  ebenfalls  eine  Folge  von  Essays,  in  denen  der  Ver- 
fasser die  modernen  Rassetheorien,  insbesondere  Ghamber- 
lains  „Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts"  und  ihre  Beziehungen 
zum  Judentum  in  fesselnder  Form  einer  kritischen  Analyse 
unterzieht.     Im  Gegensatz  zum  Zollschan'schen  Buche  ist  das 


von  Hertz  in  einem  jedermann  ansprechenden  Stil  geschrieben^ 
der  das  Interesse  des  Lesers  vom  ersten  bis  zum  letzten  Satze 
wachhält.  Das  Hertz'sche  Buch  ist  glänzend  in  der  Kritik: 
selten  ward  vor  dem  Forum  der  Wissenschaft  über  einen 
Sünder  ein  so  scharf  Gericht  gehalten  wie  hier  von  Hertz 
über  Chamberlain.  Aber  es  ist  ein  Produkt  des  geistigen 
Nihilismus  vom  Fin  de  siöcle.  Es  nimmt,  aber  es  gibt  nichts. 
Es  geht  in  der  Bekämpfung  der  Rassenüberschätzung  so 
weit,  daß  es  die  Rassenfaktoren  in  der  Kulturgeschichte 
überhaupt  leugnet  und  so  mit  dem  Bad  das  Kind  in  die  Gosse 
schüttet.  Am  Ende  steht  der  Leser  trotz  einer  weit  über  den 
Bedarf  des  Laien  hinausgehenden  Fülle  von  Tatsachen  mit 
leeren  Händen  da,  von  Irrtum  befreit,  doch  nicht  um  Wahr- 
heit bereichert.  Durch  die  besonderen  Kriegsumstände  kam 
mir  das  damals  vergriffene  Buch  von  Hertz  erst  nach  der 
ersten  Niederschrift  des  Manuskriptes  zu  Gesicht.  Ich  fand 
nun  in  diesem  zehn  Jahre  älteren  Werk  einen  Teil  des  von  mir 
mühsam  zusammengesuchten  polemischen  Tatsachenmaterials 
in  oftmals  wörtlich  übereinstimmenden  Zitaten  und  Anti- 
thesen so  mustergültig  und  meisterhaft  bearbeitet,  daß  ich 
mich  zur  Streichung  der  entsprechenden  Partien  veranlaßt  sah, 
zumal  das  Buch  von  Hertz  unterdes  in  einer  Neuauflage 
unter  dem  Titel  ,, Rasse  und  Kultur"  erschienen  war.  Hier- 
durch sind  die  polemischen  Ausführungen  gegen  die  Politisch- 
anthropologische Schule,  sind  insbesondere  die  Gegenüber- 
stellungen von  arischen  und  semitischen  Gesetzen,  Religions- 
urkunden, Dichtungen,  sind  die  Antithesen  semitischen  und 
römischen  Rechtes,  der  jüdischen  und  griechischen  Moral,  der 
semitischen  und  germanischen  Treue  usw.  in  Fortfall  gekommen, 
während  in  anderen  Punkten  das  Hertz'sche  Material  zur  Er- 
gänzung des  eigenen  herangezogen  wurde. 

Schließlich  erschien  nach  Abschluß  meiner  Arbeit  von  Con- 
stantin  Brunner,  dem  Schöpfer  der  „Lehre  von  den  Geistigen 
und  vom  Volke",  eine  umfangreiche  Schrift  über  „Die  Juden 
und  der  Judenhaß",  kein  Buch,  sondern  eine  435  Seiten  lange, 
wie  eine  Rakete  dahinsprühende  Philippika  gegen  die  Anti- 
semiten Europas,  ein  zu  immer  neuen  Dithyramben  anschwellen- 
der Panegyrikus  auf  die  Juden,  das  Judentum  und  das  Christen- 
tum als  die  größte  jüdische,  als  die  größte  menschheitliche, 
ja  als  die.  einzig  große  Menschheitstat  der  Geschichte.  Der 
stofflich  reiche  Inhalt  konnte  zu  vorliegendem  Text  nicht  mehr 
herangezogen  werden,  sonst  wäre  gegen  Brunners  zwar  für  die 


Juden  äußerst  schmeichelhafte,  aber  nichtsdestoweniger  streng 
abzulehnende  Theorie  von  der  Zentralstellung  der  jüdischen 
Rasse  und  gegen  gewisse  andere  mehr  geistreiche  als  begrün- 
dete Thesen  Stellung  genommen  worden.  Einige  Aussprüche 
aus  dem  Werke  Brunners,  die  sich  dem  eigenen  Text  in  erfreu- 
licher Gedankenverwandtschaft  harmonisch  eingliedern,  sind  in 
Anmerkungen  beigefügt  worden.  Auch  dieses  temperament- 
volle, vielfach  allzu  temperamentvolle  und  das  Judentum  allzu 
schwärmerisch  verherrlichende  Buch,  das  freilich  durch  seinen 
Götterdämmerungsstil  nicht  leicht  zu  lesen  ist,  sei  all  denen, 
die  weniger  belehrt  als  überzeugt  sein  wollen,  neben  den  Werken 
von  Zollschan  und  Hertz  als  Ergänzungslektüre  warm  empfohlen. 


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N  H  A  L  T 


Rasse ^^ 

Der  Arier ^ 

Der  Germane 27 

Der  Semit 79 

Der  Jude il^ 

Die  Kultur  der  Juden 166 


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R  A  S  S  E 


AHe  Entwicklung  in  der  Natur  strebt  vom  Allgemeinen  zum  Be- 
sonderen, von  der  Homogenität  zur  Individualität.  Aus  dem 
einförmigen  Chaos  der  Urnebel  bilden  sich  durch  Zusammen- 
ballung des  Stoffes  die  verschiedenen  Ursonnensysteme ;  aus 
der  einförmigen  Masse  einer  Ursonne  die  Planeten  wechselnder 
Größe  und  Lage ;  aus  der  gleichförmigen  Masse  der  Planetenkugei 
sondern  sich  Zonen,  Meere,  Kontinente;  aus  der  Gleichförmig- 
keit eines  Urkontinentes  entwickeln  sich  durch  geographische 
Sonderheiten  die  verschiedenen  Länder;  innerhalb  der  Länder 
die  verschiedenen  Landschaften  und  in  jeder  Landschaft  wieder 
durch  chorographische  Eigentümlichkeiten  die  einzelnen  Land- 
sehaftsbilder. 

Die  bestimmenden  Faktoren  für  die  Individualisation  der 
kosmischen  Landschaft  sind  leicht  zu  übersehen.  Es  sind  rein 
mechanische  Prinzipien:  Größe,  Alter,  Sonnenabstand  des 
Planeten,  Achsenstellung,  Polbewegung,  Rotationsgeschwindig- 
keitj  Temperaturabfall  und  die  dadurch  bedingten  atmo- 
sphärischen Vorgänge,  Niederschläge,  Winde,  Land-  und  Meer- 
verteilung, Golfströme,  Vulkanismen  u.  dgl. 

Genau  die  gleiche  Entwicklung  von  der  Homogenität  zur 
Individualität  durchläuft  in  der  zweiten  Phase  des  Planeten- 
lebens die  nun  entstehende  organische  Welt.  Das  hypothetische 
Urgeschöpf  der  Erde  war  gewiß  ein  Lebewesen  einfachster 
Art  ohne  jegliche  Differenzierung.  Durch  Zerstreuung  über  die 
Mch  gleichzeitig  individualisierenden  Landschaften,  über  Meere 
und  Kontinente,  tropische  und  arktische  Breiten,  Ebenen  und 
Gebirge,  wasserlose  Wüsten  und  ewig  feuchte  Sümpfe,  See- 
strand und  Tiefsee  differenzierten  sich  die  Urlebewesen.  Durch 
eine  grundsätzlich  verschiedene  Art  der  Ausnutzung  der  irdischen 
Kraftquellen  entwickelten  sich  aus  dem  Mutterreich  der  Pro- 
tisten nach  der  einen  Seite  die  Tiere,  nach  der  anderen  die 
Pflanzen;  im  Tierreich  trennten  sich  durch  konservative  Bei- 
behaltung der  einzelligen  Lebensführung  die  Einzeller  von  den 
Genossenschaften  der  vielzelligen  Tiere.  Aus  diesen  wieder  ent- 
wickelten sich  durch  konservatives  Verharren  im  Wasser  die 
heutigen  Meerestiere  und  durch  fortschrittliche  Eroberung  des 
Festlandes    die   Landtiere;    durch    Ausbreitung    über   Steppen 

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und  Wüsten,  Erklettern  der  Bäume  und  Flugsprung  durch  die 
Lüfte  entstanden  aus  den  gemeinsamen  Urformen  Reptilien, 
Vögel  und  Säuger.  Die  Säugetiere  schieden  sich  wieder  durch 
Anpassung  an  die  verschiedenen  Elemente,  Klimate,  Land- 
schaften und  Ernährungsformen  in  die  Wasser-  und  Land- 
säugetiere, die  Polar-  und  Tropenformen,  die  Steppen-,  Wald- 
und  Hochgebirgstiere,  die  Erdwühler  und  die  Baumkletterer, 
die  Raubtiere  und  Pflanzenfresser,  die  Insektenfresser,  Aas- 
fresser, Allesfresser  u.  s.  w. 

Innerhalb  dieser  einzelnen  Gattungen  schreitet  die  Indivi- 
dualisation  immer  weiter  fort.  Aus  dem  Geschlecht  der  Ur- 
katzen,  die  die  allgemeinen  Merkmale  der  Katzenart  trugen, 
aber  noch  in  keiner  Richtung  spezialisiert  waren,  entwickelten 
sich  durch  Trennung  und  Verschiedenheit  der  Lebensweise  die 
heutigen  Vertreter  des  Katzengeschlechtes :  der  an  den  Wüsten 
lebende  wüstenfarbige  Löwe,  der  in  den  Dschungeln  Indiens 
schleichende  dschungelgrasartig  gestreifte  Tiger,  die  unter  dem 
grautrüben  Himmel  des  Nordens  in  den  Wäldern  wildernde 
baumgraue  Wildkatze  und  die  durch  künstliche  Zucht  gezogenen 
Arten  der  Hauskatze.  Aus  dem  Urhund  entwickelten  sich 
Schakal,  Wolf,  Fuchs,  Hyäne  und  Hunderassen;  aus  dem  Ur- 
pferd  Zebra,  Esel,  Wild-  und  Hauspferd,  aus  dessen  Urformen 
der  Mensch  wieder  durch  Domestikation  die  verschiedenen 
Pferdearten  züchtete. 

Diese  aus  der  ursprünglichen  Gleichförmigkeit  des  Tier- 
reiches durch  gesonderte  Lebensführung  herangezüchteten  Eigen- 
arten, die  sich  durch  den  erblichen  Gemeinbesitz  ganz  be- 
stimmter, sie  von  allen  anderen  Wesen  unterscheidender  Merk- 
male auszeichnen,  nennt  man  Rassen.  Durch  die  immer  wiederr 
holte  Paarung  der  untereinander  verwandten  und  gleich- 
gearteten Individuen  (Inzucht)  stimmen  die  Angehörigen 
reiner  Rassen  in  charakteristischen  Merkmalen  physisch  und 
psychisch  überein.  Eine  genaue  Definition  des  Begriffes  Rasse 
gibt  es  nicht,  weil  man  weder  über  die  Prinzipien  noch  Ab- 
grenzungen der  Rassen  im  klaren  ist.  Der  eine  Forscher  be- 
trachtet als  Rasse,  was  ein  anderer  nur  als  eine  Spielart  auffaßt, 
und  ein  dritter  leugnet  den  Begriff  der  Rasse  überhaupt.  So 
schwanken  beispielsweise  die  Angaben  über  die  Zahl  der  Men- 
schenrassen bei  den  verschiedenen  Autoren  zwischen  drei  und 
mehr  als  hundert. 

Die  Unsicherheit,  die  in  der  Abgrenzung  des  Begriffes  Rasse 
unter  den  Zoologen  besteht,  ist  unwesentlich  gegenüber  dem 

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gewonnenen  Ergebnis:  Rassen  sind  keine  Urschöpfungen 
sondern  Endprodukte;  sie  sind  keine  naturgegebenen  und  unver- 
änderlichen Größen  sondern  Züchtungsergebnisse  veränder- 
licher Art,  wobei  es  im  Prinzip  belanglos  ist,  ob  sie  ihre  Ent- 
stehung der  Naturzucht  verdanken  oder  künstlicher  Züchtung. 
Rassen,  die  heute  noch  nicht  sind,  tauchen  morgen  auf:  Renn- 
pferd und  Haushund  sind  Spätprodukte  der  Kultur.  Einmal 
entstandene  Rassen  verändern  sich :  die  Wildkatze  des  Urwaldes 
sitzt  heute  als  Angorakätzchen  sittsam  auf  der  seidenen  Sessel- 
lehne des  Salons. 

Die  Faktoren,  die  im  Naturleben  die  Züchtung  neuer  Rassen 
veranlassen,  sind  im  Grunde  dieselben,  die  die  Individualisation 
der  Landschaft  bewirken:  Element  und  Klima,  Formation, 
Wasserreichtum  und  historisches  Schicksal.  Die  Summe  dieser 
Faktoren  der  Umwelt  bezeichnet  man  mit  einem  kurzen  Schlag- 
wort als  Milieu.  Das  Milieu  ist  bei  der  Rassenbildung  der  aus- 
schlaggebende Faktor.  Auf  einer  Steppe  können  sich  keine 
Klettertiere  entwickeln  wie  die  Affen;  in  einem  Urwald  keine 
Renntiere  wie  das  Pferd.  Die  Gemse,  die  in  den  Gefahren  des 
Hochgebirges  lebt,  muß  mutig  und  flink  sein  —  oder  es  werden, 
das  Schaf,  das  auf  der  ewig  stillen  Heide  grast,  verfällt  dem 
Stumpfsinn  des  Weideviehes. 

Aber  das  Milieu  ist  bei  dem  aktiven  Prozeß  der  Rassenbildung 
nur  die  passive  Matrize.  Die  Formung  selbst  vollzieht  sich 
im  Geschöpf.  Das  Milieu  stellt  durch  die  Eigenart  seiner  Natur 
an  das  in  ihm  lebende  Geschöpf  bestimmte  Forderungen,  und 
dieses  versucht  sie  zu  erfüllen.  Vermag  es  dieses  nicht,  so  geht 
es  unter.  Nur  was  sich  anpaßt,  wandelt,  bleibt  bestehen;  alles 
nicht  Anpassungsfähige  stirbt;  als  Folge  hiervon  bleiben  aus 
dem  Urgemisch  der  Geschöpfe  als  die  einzig  Überlebenden 
die  zweckmäßig  an  das  jeweilige  Landschaftsbild  Angepaßten 
übrig  —  als  Rasse.  Dies  ist  in  nuce  die  Mechanik  der  Rassen- 
bildung. 

Die  Eiszeit  bricht  herein.  Alle  kälteuntüchtigenTiere  gehen  von 
vornherein  zugrunde.  Die  überlebenden  kältetüchtigen  sind  ge- 
mischtfarbig. Unter  dem  Einfluß  des  ewigen  Schnees  bleichen  die 
Farben  der  Felle  und  Federn.  Die  am  stärksten  bleichen,  heben 
sich  am  wenigsten  ab  von  der  Grundfarbe  der  Landschaft  und 
sind  ihren  Feinden  am  wenigsten  sichtbar.  Die  nichtanpassungs- 
fähigen dunklen  heben  sich  ab  und  fallen  Feinden  und  Jägern 
zum  Opfer  und  werden  ausgerottet.  Nur  die  hellfarbigen 
überleben,  paaren  sich  und  erzeugen  hellfarbigen  Nachwuchs. 

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Aus  der  buntgemischten  Urrasse  hat  sich  durch  Anpassung 
und  Auslese  eine  neue  arktische  Rasse  hellfarbiger  Tiere  ent- 
wickelt. 

Bei  der  künstlichen  Rassenbildung  in  der  Kulturzucht  wird 
die  züchtende  Wirkung  des  Milieus  weit  überboten  durch  die 
geschlechtliche  Zuchtwahl.  Durch  die  Ausschaltung  minderwer- 
tiger Nachkommen  und  zielbewußte  Paarung  hochwertiger 
Individuen  ist  es  gelungen,  unzählige  individuell  aufs  Feinste 
differenzierte  Rassen  zu  züchten.  Unübersehbar  ist  die  Zahl 
der  Hunde-,  Katzen-,  Hühner-  und  Taubenrassen  mit  ihren 
spezialisierten  Eigentümlichkeiten.  Jedes  Blumenschaufenster 
ist  ein  blühendes  Triumphbild  der  künstlichen  Züchtung. 

Der  Einfluß  der  rassenbildenden  Faktoren  ist  kein  unbe- 
schränkter; ihm  ist  eine  Grenze  gesetzt  durch  die  Anpassungs- 
fähigkeit des  Individuums.  Je  vollkommener  sich  ein  Geschöpf 
einem  Milieu  angepaßt  hat,  um  so  geringer  ist  seine  An- 
passungsfähigkeit an  ein  neues.  Das  Lebewesen  ist  wie  ein 
Marmorblock;  solange  man  noch  nichts  Bestimmtes  gestaltet 
hat,  kann  man  daraus  alles  formen;  je  feiner  eine  bestimmte 
Gestalt  herausgemeißelt  ist,  um  so  geringer  wird  die  Mög- 
lichkeit, die  gewonnene  Figur  zu  verändern.  Dem  Urwesen 
war  alles  möglich;  es  wurde  Pflanze,  Tier,  Fisch  und  Vogel.  Ein 
Züchter  mit  unbeschränkten  Mitteln  der  Zeit  und  Methoden 
könnte  heute  die  Schöpfung  wiederholen  und  aus  einem  Stamm 
von  Amöben  Rosen,  Störche  und  Menschen  züchten.  Aber  die 
Schwalbe  kann  nicht  mehr  zurück  ins  Wasser;  die  Qualle  nicht 
mehr  auf  das  Land.  Ihnen  haftet  die  Meisterschaft,  aber  auch 
die  Beschränktheit  der  Individualität  an.  Aus  einem  Kinde 
kann  noch  alles  werden;  der  Fertige  ist  nicht  mehr  umzumodeln. 
Jede  hochentwickelte  Rasse  ist  spezifisch  individualisiert  und 
damit  einseitig  festgelegt.  Diese  einmal  erworbene  und  dann 
erblich  fest  bewahrte  Form  der  spezifischen  Individualität  ist 
es,  die  im  höheren  naturwissenschaftlichen  Sinn  als  Rasse  be- 
zeichnet wird.  Sie  ist  es,  die  dem  schwankenden  Faktor  Milieu 
als  das  beharrliche  Element  der  Entwicklung  wie  das  hängende 
Gewicht  einer  Uhr  dem  schwingenden  Pendel  entgegenwirkt. 
Rasse  und  Milieu  —  das  sind  die  beiden  wie  Sinus  und  Ko- 
sinus sich  zu  einem  Vollwert  ergänzenden  Faktoren,  durch  deren 
Wechselgröße  die  Stellung  eines  Geschöpfes  auf  der  Skala  des 
Lebens  bestimmt  wird. 

Durch  die  höhere  Bewertung  des  einen  oder  des  anderen  Fak- 
tors scheiden  sich  die  Rassenforscher  in  die  Milieutheoretiker  und 

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die  Rassentheoretiker.  Die  Milieutheoretiker  sprechen  dem 
Milieu,  die  Rassentheoretiker  der  einmal  erworbenen  spezifische« 
»Rassenindividualität  das  Übergewicht  zu;  in  ihren  Extremem 
leugnen  sie  überhaupt  die  Wirkung  des  anderen  Faktor». 
Dem  Milieutheoretiker  gilt  die  Rasse  gar  nichts  und  das  Milie« 
alles,  dem  Rassentheoretiker  die  Rasse  alles  und  das  Milieu  nichts. 
Das  Nonplusultra  in  der  Geringschätzung  der  Gegenpartei 
erreicht  der  Rassentheoretiker  Chamberlain,  der  von  den  Leug- 
nern der  spezifischen  Rassenanlagen  sagt,  sie  seien  „fade,  feil» 
und  ignorante  Schwätzer,  dem  Völkerchaos  entsprossene  Sklaven- 
seelen, denen  einzig  imUrbrei  der  Charakter-  und  Individualitäts- 
losigkeit  wohl  zumute  ist",  und  der  durch  diese  Äußerung  eine 
im  Dialekt  der  Wissenschaft  ungewöhnliche  Schroffheit  und 
stark  persönlich  zugespitzte  Note  des  Urteils  verrät.  Beide 
Anschauungen  sind  unendlich  viel  verfochten  und  angefochten^ 
die  Milieutheorie  als  materialistisch,  die  Rassentheorie  als 
metaphysisch  verfemt  und  schon  zwanzigmal  als  überwunden 
erklärt  worden  —  und  leben  heute  noch  beide  neben  und  mit- 
einander, weil  sie  —  beide  wahr  sind.  Wahrheiten  kann  man  nicht 
totschlagen,  auch  wenn  ihnen  der  Panzer  des  Beweises  fehlt. 
Daß  die  Wissenschaft  sich  bis  heute  unfähig  erwiesen,  auf  der 
einen  Seite  die  Mechanik  der  Milieuanpassung  klarzulegen,  auf 
der  anderen  Seite  die  spezifischen  Kennzeichen  der  Rassen- 
individualität zu  formulieren,  ist  weder  für  noch  gegen  die 
eine  oder  die  andere  Theorie  ein  Beweis.  Die  Wahrheit  lebt, 
auch  wenn  man  sie  nicht  beweisen  kann.  Der  Hagel  fällt  vom 
Himmel  —  trotzdem  die  Meteorologen  bis  heute  noch  kein® 
Hagel theorie  gefunden  haben. 

Unter  Anerkennung  dieser  allgemeinen  Prinzipien  der  Ent- 
wicklung von  der  Homogenität  zur  Individualität  wird  heute 
von  fast  allen  Forschern  auch  für  den  Menschen  ein  einheit- 
licher Ursprung  aus  dem  Reich  der  Affentiere  angenommen.  Geo- 
graphisch nicht  bestimmbar,  aber  gewiß  in  den  damaligen  Tropen 
entwickelten  sich  aus  den  noch  nicht  einseitig  spezialisierten 
Uraffen  wahrscheinlich  infolge  räumlicher  Scheidung  —  Urwald 
und  Steppe  —  auf  der  einen  Seite  die  Urformen  der  heutigen 
Affen,  auf  der  anderen  die  Vorfahren  des  heutigen  Menschen- 
geschlechts. Aus  jenen  gingen  durch  Anpassung  an  das  Wald- 
leben die  kletternden  Affen,  aus  diesen  durch  Anpassung  an 
das  Steppenleben  die  aufrecht  schreitenden  Menschen  hervor. 
Der  Urmensch  trug  die  allgemeinen  Merkmale  des  Menschen- 

m 


tums,  ohne  nach  einer  Richtung  hin  besonders  scharf  spezialisiert  * 
zu  sein.    Wahrscheinlich  schon  sehr  früh  breitete  er  sich  über 
die  damals  in  den  Äqiiatorzonen  weithin  zusammenhängenden^ 
Kontinente  als  menschliche  Urrasse  aus.  Von  diesem  Urkontinent 
löste  sich  als  erstes  Sondergebiet  Australien  und  blieb  bis  auf 
den   heutigen   Tag  von   allen   anderen  Erdteilen  getrennt,    so 
daß  sich  hier  die  Urrasse,  da  weder  Milieu  Veränderungen  noch 
Mischungen  mit  anderen  Rassen  eintreten  konnten,   ohne  er-  f 
hebliche   Umgestaltung  bis   auf   die   Gegenwart   erhalten  «hat. 
Die  noch  heute  in  spärlichen    Resten  auf  Australien  lebende 
Menschenart  hat  in  der  Tat,  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  hdhere^ ' 
und  einseitig  spezialisierten  Rassen,  die  allgemeinen  urmensch-  * 
liehen  Merkmale  in  einer  noch  fast  gar  nicht  differenzierten  Form 
beibehalten.     Während    beispielsweise    die    Haut    der    übrigen» 
Rassen  einseitig  gedunkelt  oder  geblaßt  oder  gelb  oder  rot  ge- 
worden ist,  besitzt  die  Haut  der  Australier  jenen  Mittelton,  den 
wir  für  die  Urrasse  theoretisch  annehmen  müssen,  und  zeigt  voa-' 
diesem  nach  beiden  Seiten  hin  Abweichungen  in  einer  Variations-' 
breite,   wie   sie   bei   den   hochstehenden,    einseitig  festgelegten 
Rassen  nicht  mehr  beobachtet  werden.    Das  Haar,  das  beitden 
Negern  im  Querschnitt  rund,  bei  den  Mongolen  elliptisch  ist, 
trägt  bei  ihnen  alle  Formen  und  Übergangsformen  des   Quer- 
schnittbildes.  Die  Australier  sind,  als  der  Urrasse  nahestehend, 
ein  Menschentyp  mit  noch  stark  generellen  und  noch  wenig 
individuellen  Zügen. 

Aus  dieser  hypothetischen  Urrasse  haben  sich  die  heutigen 
Rassen  in  mehreren  Ästen  entwickelt:  als  asiatischer  Zweig 
die  gelbe  Rasse,  als  amerikanischer  die  rote,  als  afrikanischer 
die  schwarze,  als  europäischer  die  weiße.  Während  die  schwarze, 
rote  und  gelbe  Rasse  sich  stark  einseitig  spezialisiert  haben, 
hat  sich  die  weiße  von  der  Mittellinie  des  Urtypus  weniger  ent- 
fernt als  vielmehr  erhoben.  Sie  hat  sich  eine  verhältnismäßig 
größere  Variationsbreite  der  Typen  und  dementsprechend  stär- 
kere Anpassungsfähigkeit  an  die  verschiedenen  geographischen 
Milieus  erhalten,  was  nicht  zum  wenigsten  gerade  ihr  die  bisherige 
Superiorität  über  die  drei  anderen  Speziairassen  sicherte.  Jugend- 
licher, universaler,  plastischer  als  die  anderen,  hat  sie  sich  bis- 
her auch  schöpferischer  und  kulturfähiger  erwiesen  als  jene. 

Durch  diese  moderne  Hypothese  eines  einstämmigen  Ur- 
sprungs und  der  allmählichen  Entstehung  der  Menschenrassen 
ist  das  ganze  Rassenproblem  revolutioniert  worden.  Wenn  alle 
Rassen  aus  einer  Urrasse  allmählich  entstanden  sind,  dann  hat, 

16 


•  ^vie  der  bekannte  Anthropologe  v.  Luschan  hervorhebt,  die- 
[Frage  nach  der  Zahl  der  menschlichen  Rassen  „ihre  Berechtigung 
verloren  und  ist  jetzt  mehr  eine  Frage  philosophischer  Speku- 
lation als  wissenschaftlicher  Untersuchung  geworden.  Es  ist 
heute  nicht  wichtiger  zu  wissen,  wie  viele  menschliche  Rassen 
€s  gibt,  als  herauszufinden,  wie  viele  Engel  auf  einer  Nadelspitze 
tanzen 'können.  Unsere  Aufgabe  geht  dahin  zu  erforschen, 
wie  die  alten  primitiven  Rassen  sich  auseinanderbildeten  und  wie 
diese  Rassen  sich  änderten  und  entwickelten  durch  Wanderung 
und  Kreuzung."  Linne  ist  überwunden,  Darwin  triumphiert.  An 
l^telle  eines  starren  Systems  der  Menschenrassen  ist  das  plastische 
Problem  ihrer  Wandlung  getreten.  Aus  dem  doktrinären  Begriff 
ist  ein  entwicklungsmechanischer  Terminus  technicus  geworden. 
Menschenrasse  ist  kein  Etikett,  das  ein  Schöpfer  oder  Schick- 
sal einem  Typus  aufgeklebt  hat,  daß  er  wie  ein  Spirituspräparat 
in  einer  Naturaliensammhmg  für  alle  Zeit  signiert  sei,  es  ist 
kein  Adels-  und  kein  Paria-Stempel,  der  den  Menschenrassen 
aufgeprägt  ist,  um  sie  in  ewig  Verdammte  und  ewig  Selige 
zu  scheiden;  Rasse  ist  nicht  mehr  die  chinesische  Mauer, 
die  Völker  für  ewige  Zeiten  unübersteigbar  trennt  —  „und 
keine  Brücke  führt  von  Mensch  zu  Mensch"  —  Rasse  ist 
der  Kollektivbegriff  für  die  von  einem  Menschenzweig  durch 
Natur-  und  Kulturzucht  zur  Zeit  erreichte  Höhe  und  Art  der 
Individualisation.  Von  welcher  Rasse  bist  du?  heißt  nicht: 
Gehörst  du  zu  den  Auserwählten  der  Menschheit  oder  zu  den 
Ausgeschlossenen?  sondern  heißt:  Wie  weit  hast  du  dich  über 
die  Stufe  der  Urrasse  durch  das  Schicksal  deines  Stammes  und 
Zucht  deines  Wesens  erhoben,  und  in  welcher  Richtung  hast 
'4u  die  in  dir  schlummernden  Fähigkeiten  des  Menschentums 
zur  Entfaltung  gebracht?  Bist  du  schwarz  geworden  unter  der 
Sonne  Afrikas  oder  bist  du  gebleicht  im  Schneelicht  des  Nordens? 
Gehörst  du  jenen  Völkern  an,  die  noch  immer  kindlich  sorglos  sich 
in  Tropenwäldern  von  Bananen  nähren  und  um  Fetische  tanzen, 
oder  zu  jenen  Geschlechtern,  die  in  alle  Winde  zogen  und  im 
Kampfe  mit  den  Elementen  zu  Eroberern  und  Erfindern  wurden? 
Rasse  heißt:  Was  haben  Schicksal  und  Wille  aus  dir  geschaffen.^) 

*)  Es  sei  hier  an  die  schöne  Mischnasteile  Sanhedrin  IV  erinnert: 
„Es  wurde  e  i  n  Mensch  geschaffen  um  des  Friedens  in  der  menschlichen 
Gesellschaft  willen,  damit  nicht  einer  zum  anderen  sagen  könne:  Mein  Vater 
war  vornehmer  als  der  deine"  —  so  wie  jener  Bettler  Karl  den  Großen 
angeredet  haben  soll  mit  „Bruder"  und  auf  die  erstaunte  Frage  des  Kaisers 
erwiderte:  Sind  wir  nicht  alle  Brüder  von  Adam  her? 

-«    Kahn,  Die  Juden.  17 


Der  moderne  Rassenbegriff  bezeichnet  mehr  einen  erreichten- 
Zustand  als  eine  feste  Daseinsform.  Einen  Zustand,  der  freilii^h 
dauernd  genug  ist,  um  für  die  kurzfristige  Geschichte  der  Völker 
als  stabiler  Faktor  „Rasse"  in  Rechnung  gestellt  zu  werden. 
Man  kann  die  Quote  Rasse  nicht  über  Bord  werfen  wie  den 
Faktor  Wohnsitz  oder  Glaube.  Man  kann  seine  Rasse,  dieses 
Ergebnis  einer  zehntausendjährigen  Eigenzucht,  nicht  von  einem 
Tag  zum  anderen  wechseln  wie  ein  abgetragenes  Kleid.  Ein 
Nigger  wird  kein  Yankee,  wenn  er  sich  einen  Stehkragen  um- 
legt und  einen  Similibrillanten  in  die  Krawatte  steckt ;  ein  Jude 
kann  durch  Taufe  Christ  werden,  aber  nicht  Germane.  Jedoch*^ 
für  die  Riesenspanne  der  Naturgeschichte  ist  Rasse  nur  eilt 
Werdestadium,  das  heute  erreicht  und  morgen  überschritten 
wird.  Könnten  wir  Jahrhunderte  zu  Sekunden  zusammendrän- f^ 
gen,  so  sähen  wir  die  Berge  und  Täler  wogen,  so  „rasch"  ändert 
sich  das  Antlitz  der  Erde;  mit  diesem  Jahrhundertblick  sähen 
wir  auch  die  Rassen  sich  wandeln  wie  die  Schmetterlinge 'ia 
den  Stunden  ihrer  Metamorphose.  ^ 

Auch  innerhalb  der  Menschheit  ist  der  rassenbildende  Faktor 
das  Milieu.  Rasse  ist  Milieuprodukt.  Alle  heutigen  Menschen- 
rassen sind  durch  ihre  Wechselschicksale  in  den  verschiedenen 
Milieus  aus  dem  einen  Urtyp  des  Australiers  entstanden.  Noch 
heute  könnte  ein  Züchter,  ständen  ihm  die  Jahrtausende  zur 
Verfügung,  aus  der  australischen  Rasse  Neger,  Mongolen,  Weiße, 
Indianer  heranzüchten.  Aber  daß  einst  alle  gleich  gewesen  und 
jeder  jedes  hätte  werden  können,  hebt  den  heutigen  Unterschied 
aicht  auf;  es  mindert  nicht  den  Wert  dessen,  der  viel  geworden, 
und .  eliminiert  nicht  die  Minderwertigkeit  jenes,  der  weniger 
wurde.  Jeder  ward,  wozu  er  sich  schuf.  Die  Botokuden  hätten 
Venezianer  werden  können,  wenn  sich  ihre  Ahnen  vor  50000  Jah- 
ren statt  am  Yequitinhonha  am  Golfe  von  Venetien  angesiedelt 
hätten;  vielleicht  werden  sie  wie  jene  in  20  000  Jahren  Handels- 
fahrer und  Meister  des  Pinsels.  Heute  sind  sie  Botokuden,  und 
es  wäre  wider  allen  Sinn,  sie  den  Venezianern  gleichzuachten 
und  mit  den  Töchtern  der  Patrizier  vom  Rialto  zu  vermählen. 
Schickt  der  Züchter  seinen  Pointer  auf  die  Promenade?  Auch 
die  Bourbonrose  blühte  einst  als  Wildling  auf  der  Heide;  aber 
heute  ist  sie  die  Königin  des  Treibhauses  unter  den  tausend 
Schwestern  ihres  Geschlechtes  —  sie  ward  es ;  Milieu  und  Rein- 
zucht haben  sie  zu  einer  Adelrasse  erhoben. 

Rasse  ist  Milieuprodukt.  Der  Eskimo  im  Polareis  kann  eben- 
sowenig wie  der  Pygmäe  unter  der  Sonne  Zentralafrikas  eine 

18 


Edelrasse  werden:  das  Milieu  verwehrt  es  ihnen.  Aber  das 
Milieu  allein  schafft  noch  keine  Rasse.  Wie  bei  allem  Gelingen 
in  der  Natur  müssen  auch  hier  verschiedene  Bedingungen  in- 
einandergreifend zusammenwirken. 

1.  Das  Rassenmaterial  muß  wertig  sein.  Die  Distel 
trägt  selbst  im  Treibhaus  keine  Feigen,  Aber  freilich,  Wildlinge 
waren  ehedem  selbst  die  erlesensten  Früchte  unserer  Tafel. 

2.  Das  Rassenmaterial  muß  jung  und  plastisch 
sein;  einseitig  spezialisiert  läßt  es  sich  nicht  mehr  formen. 

3.  Rasse  und  Milieu  müssen  harmonieren.  Eine 
weichliche  Rasse,  durch  das  Schicksal  in  ein  rauhes  Klima  ver- 
setzt, geht  zugrunde  wie  der  Papagei,  der  in  Europa  an  der 
Schwindsucht  stirbt.  Eine  kernige  Rasse,  in  ein  mildes  Klima 
gebracht,  verweichlicht  wie  die  Soldateska  Hannibals  in  Ka- 
pua.  Das  Milieu  muß  die  passende  Szenerie  für  die  Gestalten 
seiner  Helden  bilden.  Die  Goten  und  Vandalen  gingen  unter 
der  Sonne  Spaniens  und  Afrikas  rasch  zugrunde.  Die  Ostpreußen 
würden  sich  in  der  Sahara  und  umgekehrt  die  Beduinen  an 
der  Wasserkante  so  grotesk  ausnehmen,  als  träte  Hedda  Gabler 
in  dem  Kostüm  einer  Walküre  oder  Wilhelm  Teil  zur  Pfeil- 
schußszene in  einem  Frack  auf  die  Bühne.  Wie  bestimmend 
selbst  die  verborgensten  Eigentümlichkeiten  des  Milieus  auf  seine 
Bewohner  wirken,  beweisen  die  Erfahrungen  der  Pflanzen-  und 
Tierzucht.  Beispielsweise  mußte  der  preußische  Staat  seine  Ge- 
stüte vonTrakehnen  in  die  Gegenden  von  Hessen  verlegen,  weil 
die  Pferderassen  wegen  der  Kalkarmut  des  Bodens  im  Norden 
trotz  aller  sorglichen  Zucht  nicht  zu  vollem  Wert  gediehen.  Jedes 
Etikett  einer  Weinflasche  ist  mit  seiner  geographischen  Signatur 
ein  documentum  majestatis  für  das  Milieu. 

4.  Die  Rasse  muß  gezüchtet  werden.  Dauernde  In- 
zucht führt  zur  Einseitigkeit  des  Typus  und  Entartung.  Wahl- 
lose Mischung  mit  fremden  Rassen  endet  mit  der  Verwischung 
des  Individualcharakters, 

5.  Inzucht  und  Mischung  müssen  in  einem  be- 
stimmten Verhältnis  zueinander  stehen.  Auf  kurze 
Perioden  der  Mischung  müssen  lange  Epochen  der  Inzucht 
folgen.  Kreuzung  zu  Beginn,  Inzucht  in  der  Folge  —  das  ist  die 
Zwei-Phasen-Genesis  aller  guten  Rassen,  Der  arabische  Hengst 
wird  mit  der  englischen  Stute  gekreuzt,  die  Bastarde  werden 
in  sorgfältiger  Inzucht  und  Auslese  weitergepflanzt,  arabisches 
Blut  wird  nur  spurweise  zugesetzt  —  es  entsteht  das  wertvolle 
englische  Halbblut.    Nach  dem  gleichen  Prinzip:  Kreuzung  zu 

t*  19 


Beginn,  Inzucht  in  der  Folge  entstehen  die  großen  Edekasscxi 
des  Menschengeschlechts.  Junge  barbarische  Völker  fallen  in 
Kulturgebiete  ein  und  kreuzen  sich  mit  dem  unterworfenen 
Kulturvolk.  Oder  umgekehrt:  Kulturvölker  besetzen  die  Wohn- 
sitze von  Naturstämmen  und  mischen  sich  mit  den  Eingeborenen 
des  Landes.  So  entstehen  die  Kulturvölker  des  babylonischen 
Kreises  durch  den  Zustrom  von  Beduinen  in  die  Kulturgebiete 
der  Euphrat-Tigris-Ebene;  so  entstehen  die  Juden  durch  die  Ein- 
wanderung der  beduinischen  Hebräer  in  das  amoritisch-hethi- 
tische  Kulturland  Kanaan ;  die  Griechen  durch  die  Einwanderung 
der  Dorier  in  die  Kultursitze  der  Ägäer;  die  Römer  durch  die 
Äneis  der  Latiner  in  das  Land  der  Etrusker;  die  Franzosen  durch 
den  Einfall  der  Franken,  Goten  und  Burgunder  in  die  römische 
Kulturprovinz  Gallien;  die  Engländer  durch  die  Überfahrt 
der  Angeln,  Sachsen,  Dänen  und  Normannen  in  das  Gebiet  der 
Iberer  Britanniens;  die  Japaner  durch  die  Vermischung  der 
chinesischen  Eroberer  mit  der  unterworfenen  Urbevölkerung 
der  Aino-Inseln.  So  entsteht  heute  vor  unseren  Augen  der  wohl- 
charakterisierte Rassentyp  des  Amerikaners  durch  eine  Mischung 
aller  europäischen  Rassen  auf  amerikanischem  Boden. 

6.  Die  Paarlinge  müssen  zueinanderpassen,  wahre 
„Gatten"  sein.  Sie  dürfen  nicht  zu  eng  verwandt  sein,  weil  sonst 
der  Reiz  des  fremden  Blutes  fehlt;  sie  dürfen  nicht  zu  art- 
verschieden sein,  weil  sonst  kein  harmonisch  stabilisiertes  Züch- 
tungsgebilde entstehen  kann.  Das  Mischprodukt  der  Kreuzung 
zwischen  Europäern  und  Negern  ist  von  der  Zeugungsstunde 
an  zum  Bastard-  und  Bankertdasein  verdammt. 

7,  DasMaß  derMischung  muß  bestimmt  sein.  Ein 
zu  schwacher  Zustrom  versickert  in  dem  Boden  einer  Rasse  wie 
ein  Regenschauer  in  der  Krume  eines  Ackers,  ohne  zu  befruch- 
ten; unaufhörlicher  Zufluß  hingegen  bringt  die  Wurzeln  zum 
Faulen.  Rasch  und  ergiebig  wie  ein  Gewitterregen  im  Mai,  dem 
Sonnenschein  und  Sommer  folgen,  muß  die  Flut  des  fremden 
Blutes  sich  über  das  Feld  einer  Rasse  im  Frühling  ihres  Werdens 
ergießen,  daß  sie  dem  Sommer  ihrer  Reife  entgegenblühe. 

Im  Naturzustand  ist  die  Rasse  reines  Milieuprodukt  md  da- 
durch einseitig  charakterisiert,  ,, rassenrein".  Es  gibt  relativ 
reinrassige  Zulus,  Indianer  und  Beduinen.  Jahrtausendlanger 
Abschluß,  unveränderter  Milieueinfluß  und  fortgesetzte  In- 
zucht haben  an  Ort  und  Stelle  reine  Rassen  gezüchtet.  Die 
„Rassen"  der  Kulturgeschichte  dagegen,  von  den  Babyloniern 

20 


lom  zu  den  Amerikanern,  sind  keine  reinen  Milieuprodukte, 
zoologische  Rassen,  sondern  sind  durch  das  Schicksal  der  Ge- 
schichte aus  verschiedenen  Rassen  zusammengesetzte  ethnische 
Komplexe.  Die  Beduinen,  die  von  der  arabischen  Hochfläche  in 
das  Stromgebiet  des  Euphrat  dringen,  die  Germanenstämme, 
die  aus  den  nordischen  Wäldern  über  die  Dämme  des  Römer- 
reiches brausen,  waren  vermutlich  als  Kinder  der  Natur  rein- 
gezüchtete Rassen.  Aber  indem  sie  aus  der  Stille  ihres  Daseins 
in  den  Wirbel  der  Geschichte  fluten,  verlieren  sie,  wie  eine  Farb- 
flüssigkeit,  die  in  einen  Strudel  gerät,  ihre  Reinheit  und  gehen 
als  zoologische  Spezies  unter,  um  erst  Jahrhunderte  später  aus 
der  Vermischung  mit  anderen  Rassen  als  eine  neue  Menschen- 
art emporzutauchen,  deren  Typus  aber  nun  nicht  mehr  allein 
durch  natürliche  Faktoren  —  Rasse  und  Miheu  —  sondern 
vor  allem  durch  kulturelle  Verknüpfungen,  Sprache,  Sitte, 
Weltanschauung  bestimmt  ist.  Diese  auf  dem  Boden  der 
Rassenmischung  im  Rahmen  der  Kulturgeschichte  entstehende, 
weniger  durch  zoologische  Stigmata  als  vielmehr  durch  die 
Spezifizität  der  Kulturtendenz  charakterisierte  Körperschaft 
der  Leiber  und  der  Geister  ist  die  Nation. 

Die  Nation  ist  ein  Naturprodukt,  da  sie  ein  organisches 
Gebilde  ist,  aus  Rassenkomponenten  zusammengesetzt,  die 
sich  zu  amalgamieren  gewußt  haben;  Nationen  sind  keine 
Konfetti-Tüten,  in  denen  die  Schnitzel  der  verschiedensten 
Rassen  durcheinanderliegen;  sie  sind  Legierungen,  Individual- 
gebilde wie  die  Achate  des  Bodens.  Andererseits  ist  die  Na- 
tion ein  Kunstprodukt,  weil  sie  nicht  auf  dem  Wege  reiner 
Naturzucht  nach  biologischen  Gesetzen,  sondern  durch  die  po- 
litische Zufallskombination  der  Geschichte  entsteht.  Durch 
dieses  Zwittertum  lassen  sich  Nationalprobleme  weder  einseitig 
auf  den  naturwissenschaftlichen  Terminus  Rasse  noch  allein 
auf  kulturologische  Begriffe  wie  Politik,  Sprache,  Tradition, 
Religion  zurückführen,  sondern  einzig  durch  die  natur-kultur- 
historische  Verknüpfung  beider  erfassen. 

Rassen  verhalten  sich  zu  Nationen  wie  die  Elemente  des 
Bodens  zu  den  organischen  Gebilden  der  Pflanze,  die  aus  ihm 
emporblühen.  In  der  Nation  tritt  eine  ganz  neue,  über  die  Natur- 
gesetze hinausgewachsene  Form  der  Rasse  auf,  so  wie  durch 
das  organische  Leben  eine  bisher  unbekannte  Erscheinungsform 
der  Materie  auf  dem  Planeten  erschien.  Dieselbe  Materie  und 
doch  nicht  dieselbe,  sondern  durch  ein  höheres  Prinzip  zu  einer 
neuen  höheren  Daseinsform  des  Weltenstoffs  erhoben.  Überrasse. 

21 


Nation  ist  Kulturblüte  auf  dem  Naturboden  der  Rasse. 
So  wenig  die  Blume  naturzerstörend  wirkt,  indem  sie  die  Ele- 
mente der  Erde  ihrer  Freiheit  beraubt  und  zu  neuen  Formen, 
neuen  Zwecken  bindet,  so  wenig  wirkt  die  Geschichte  durch 
die  Bildung  der  Nationen  rassenvernichtend  sondern  im  Gegen- 
teil rassenzüchtend.  Aus  dem  verschwommenen  Urbegriff  Ger- 
mane,  Kelte,  Semit  hebt  sie  den  plastischen  Nationaltyp  des 
Deutschen,  Franzosen,  Juden  heraus.  Aus  dem  zoologischen 
Massentyp  der  Rasse  steigt,  wie  der  Hirt  aus  der  Herde,  die  Charak- 
tergestalt des  Kulturträgers  bestimmter  Nationalideen  empor:  der 
jüdische  Prophet,  der  griechische  Künstler,  der  römische  Legionär, 
der  florentinische  Meister  des  Pinsels.  NationistSeelenrasse. 

Urrasse,  Rassen,  Nationen  sind  die  Stufen  der  Individualisa- 
tion  des  Weltenstoffes  innerhalb  der  Menschheit.  Nicht  ,, Höher- 
entwicklung" ist  das  Ziel  des  Weltgeschehens,  wie  uns  die 
Darwin'sche  Lehre  suggeriert,  sondern  Vielgestaltigkeit,  nicht 
Leistungsfähigkeit,  wie  unser  amerikanistisches  Denken  ihm 
imterschiebt,  sondern  Reichtum  an  Eigenart.  Leistungsfähigkeit 
ist  der  subjektive  Wertbegriff  eines  Krämer -Utilitarismus, 
der  in  der  Welt  der  Kaufieute  und  Kalkulatoren  seine  Geltung 
haben  mag,  der  Natur  ist  er  fremd.  Ihr  gilt  einzig  —  frohlocket, 
all  ihr  Myriaden  „unnützen",  aber  ach  so  schönen  Geschöpfe 
der  Erde,  ihr  Nachtfalter  und  Tageträumer,  ihr  bunten  Sänger 
und  taumelnden  Tänzer,  ihr  Heilige  und  Sünder,  frohlocket! 
—  ihr  gilt  einzig  das  Wesen!  Wer  ruft  nach  nutz  und 
unnutz,  hoch  und  niedrig  ?  Ist  das  Leben  eine  Messe,  darauf 
Waren  feilgeboten  werden  ?  Ein  Maschinenwettbewerb,  auf  dem 
die  Tourenzahl  und  der  Benzinverbrauch  gemessen  werden? 
Das  ist  ja  das  Göttliche  an  ihr,  daß  sie  nicht  nach  Leistung 
fragt,  daß  sie  groß  ist,  ohne  praktisch  zu  sein,  Künstlerin  und 
nicht  Fabrikant,  daß  sie  keinen  anderen  Zweck  kennt  als 
den  Selbstzweck.  Ist  der  Tiger,  der  durchs  Dschungel  schleicht, 
nicht  tausendfach  schöner  als  der  Ochs,  der  im  Joche  trottet, 
auch  wenn  er  allwöchentlich  —  ein  „Schädling  der  Kultur"  — 
dem  reichen  Viehbesitzer  einen  20  Dollar- Hammel  raubt?  Hat 
der  Schmetterling  einen  Zweck?  Die  Chrysantheme  einen  Wert? 
Sie  sind,  weil  sie  sind,  und  sie  besitzen  darum  einen  so  unersetz- 
lichen Wert  —  weil  sie  keinen  besitzen.  Zu  sein,  möglichst  viele 
zu  sein  und  jedermann  eigen,  das  ist  der  Sinn  der  immer  voll- 
kommeneren Individuation  des  Menschengeschlechts.  Das  war 
der  Plan  der  Natur,  die  die  Rassen  erschuf,  das  ist  das  Ziel  der 
Kultur,  die  die  Nationen  gebiert. 

22 


DER  ARIER 


Tm  Jahre  1808  entdeckte  Fr.  Schlegel,  daß  das  altindische 
1  Sanskrit  der  Mutterdialekt  einer  Reihe  indischer  und  euro- 
päischer Sprachen  sei.  Mit  Begeisterung  griff  man  dieses  Ge- 
meinschaftszeichen auf  und  vereinigte  die  Völker  dieser  Sprachen- 
gruppe zu  einer  Familie,  den  Indo-Europäern  oder  —  nacli 
dem  indischen  Wort  arya,  vornehm  —  den  Ariern.  Die  Haupl- 
glieder  dieser  Adelsfamilie  sollten  sein:  die  Kelten,  Germanen, 
Slawen,  Italer,  Griechen,  Armenier,  Iranier  (Meder,  Perser  usw.) 
und  Inder.  Ausgeschlossen  von  diesem  Völkeradel  blieben  als 
Nicht-Arier  die  Türken,  Hamiten,  Semiten  u.  a. 

Man  stellte  sich  die  Völker  des  arischen  Kreises  als  die  Glie- 
der einer  ursprünglich  einsprachigen  Familie  vor,  die  nach- 
einander ihre  Urheimat  verlassen  und  sich  über  Westasien 
und  Europa  ausgebreitet  hätten.  Als  das  Mutterland  der 
Indo-Europäer  bezeichnen  —  um  nur  die  berühmtesten  Ver- 
treter der  Ariertheorie  zu  nennen  , —  Max  Müller  und  mit 
ihm  die  ältere  Schule  Zentralasien;  Pösche  und  Latham  Ost- 
europa; Geiger  Deutschland;  Penka  Skandinavien;  Benfey, 
Tomaschek  und  Schrader  das  Schwarze -Meer -Gebiet.  Über 
das  Aussehen  des  Ariers  sagt  von  den  beiden  berühmtesten 
Anthropologen  Englands  Huxley,  daß  er  langköpfig,  Tylor 
umgekehrt,  daß  er  kurzköpfig  war;  Gobineau  beschreibt  ihn 
als  groß  und  blond,  Sergi  als  klein  und  braun;  nach  Pictet 
war  er  Ackerbauer,  nach  Schrader  ein  kulturloser  Barbar. 
Nach  Virchows  Ansicht  dagegen  „wurde  der  Arier  im  Zu- 
stande topischer  Einheit  niemals  aufgefunden,"  denn,  wie 
Hartmann  sagt,  ,, diese  sogenannten  Arier  haben  nie- 
mals unter  der  Gestalt  eines  Urvolkes  existiert, 
sondern  nur  als  eine  Erfindung  der  Stubenge- 
lehrten.** „Noch  niemand  hat",  sagt  Finot  in  seinem 
Buche  über  ,Das  Rassenvorurteil',  „bisher  einen  einzigen 
authentischen  Arier  nachweisen  können.  Sein  moralisches 
und  physisches  Bild,  seine  Maße  wie  die  Beschreibung  sei- 
nes Familienlebens  sind  nur  mit  Geschick  entworfen.  Die 
Theorien  über  ihn  folgten  einander  je  nach  dem  Tempera- 
ment der  Schriftsteller  und  der  Fruchtbarkeit  ihrer  Phantasie. 
Journalisten,   Politiker,   Literaten,    Künstler,   kurz   das   ganze 

^3 


große  Publikum  hat  sich  blindlings  für  diese  Erfindunge» 
begeistert,  und  diese  Phantasieerzeugnisse  haben  sogar  in  ge- 
schichtlichen und  pädagogischen  Handbüchern  Aufnahme  ge- 
funden. Heute  sind  von  1000  gebildeten  Europäern  999  von 
der  Authentizität  ihrer  arischen  Abkunft  überzeugt.  In  der 
Geschichte  der  menschlichen  Irrtümer  wird  diese  Lehre  unzwei- 
felhaft eines  Tages  einen  Ehrenplatz  einnehmen  und  als  ent- 
scheidender Beweis  dafür  dienen,  daß  Berufsgelehrte  sich 
ebenso  leicht  Täuschungen  hingeben  wie  Laien  .  .  .  Ohne  Zweifel 
wird  ein  Jahrhundert  darüber  hinweggehen,  bis  die  unter  dem 
Einfluß  unbedachter  Gelehrter  entstandenen  Anschauungen 
wieder  verschwinden.  Bis  dahin  wird  die  getäuschte  Mensch- 
heit nicht  müde  werden  von  dieser  Entdeckung  zu  reden  wie 
von  einer  wirkliches  Leben  besitzenden  Wesenheit." 

Die  Ariertheorie  hat  das  19.  Jahrhundert  wie  ein  Dogma 
beherrscht.  Ein  Gelehrter,  der  im  Jahre  1880  über  sie  eines  der 
zitierten  Urteile  gefällt  hätte,  wäre  von  seiner  Mitwelt  moralisch 
gesteinigt  worden.  Sie  galt  damals  ebenso  als  eine  „unerschütter- 
liche Tatsache",  wie  sie  heute  als  naives  Märchen  belächelt 
viärd.  Einst  die  angebetete  Gottheit,  der  die  Priester  ihre, 
Räucheropfer  brachten,  steht  sie  heute  als  zerschlissene  Kulisse 
im  Dekorationsspeicher  des  Welttheaters. 

Der  Trugschluß,  der  ihr  unterliegt,  ist  so  offenkundig,  daß 
man  sich  verwundert  fragt,  wie  Wissenschaft  und  Welt  sich 
von  ihm  haben  50  Jahre  lang  am  Gängelbande  führen  lassen. 
Sprachenübereinstimmung  ist  kein  Beweis  für  Rassenverwandt- 
schaft. Die  Sprache  ist  nichts  als  ein  geistiger  Handelsartikel, 
das  Kleingeld  des  Gedankens;  Gemeinsamkeit  der  Sprache 
läßt  auf  nichts  anderes  schließen  als  auf  Kulturberührung. 
Die  Preußen  Friedrichs  des  Großen  waren  keine  Franzosen, 
weil  sie  französisch  parlierten.  Die  Juden  werden  dadurch  keine 
Germanen,  daß  sie  Bücher  über  Goethe  schreiben. 

Nehmen  wir  an,  durch  eine  katastrophale  Epidemie  stürbe 
die  heutige  Menschheit  aus,  nur  die  abgeschlossenen  Bewohner 
einer  Südseeinsel  überleben  das  große  Sterben,  breiten  sich  später 
aus  und  erreichen  nach  Jahrtausenden  ähnlich  den  heutigen 
Völkern  eine  gewisse,  wenn  auch  nicht  übermäßig  hohe  Stufe 
der  Kultur.  Sie  finden  im  Boden  verweht  die  Reste  einstiger 
Zivilisation  und  stellen  über  die  vorgeschichtlichen  Völker 
Uassentheorien  auf.  Sie  erfahren,  daß  die  Schotten  Englands,, 
die  Kanadier  in  Amerika,  die  Neger  im  '.^  idan,'  die  Inder  von 
Bombay  und  die  Fidschi-Insulaner  engit  ..a  sprachen  und  sich 

21 


CDglischer  Kulturerzeugnisse  bedienten,  und  vereinigen,  da  sie 
noch  keine  besonders  hohe  Stufe  kritischen  Intellekts  erreicht 
haben,  die  englisch  sprechenden  Völker  zu  einer  ,, Rasse". 
Ariertheorie ! 

Einsichtige  Köpfe  wurden  denn  auch  bald  den  Trugschluß 
gewahr,  und  wie  man  keinen  Irrtum  leidenschaftlicher  bekämpft, 
als  dem  man  selber  einmal  nachgehangen,  so  wandten  sich 
ihre  ehemals  eifrigsten  Verfechter  am  heftigsten  wider  sie, 
um  sie  dem  Spott  der  Mitwelt  preiszugeben.  So  sagte  einer 
der  Mitbegründer  der  Ariertheorie,  der  Senior  der  Sprach- 
wissenschaft des  19.  Jahrhunderts,  Max  Müller:  ,,Für  mich  ist 
ein  Ethnologe,  der  von  arischer  Rasse,  arischem  Blut,  arischen 
Augen  und  Haaren  spricht,  ein  so  großer  Sünder  wie  ein  Sprach- 
forscher, der  von  einem  langköpfigen  Wörterbuch  oder  von 
einer  kurzköpfigen  Grammatik  redet.  Es  ist  ärger  als  die 
babylonische  Verwirrung  —  ja  geradezu  ein  Betrug.  Wenn  ich 
von  Ariern  spreche,  so  meine  ich  weder  Blut  noch  Knochen, 
weder  Haare  noch  Schädel.  Ich  meine  einfach  damit  diejenigen, 
die  eine  arische  Sprache  sprechen."  Und  als  Vertreter  der 
anthropologischen  Wissenschaft  urteilt  v.  Luschan,  der  Direktor 
des  Berliner  Anthropologischen  Museums:  „Der  indo-germani- 
schen  Sprachfamilie  entspricht  keine  arische  Rasse,  und  die 
Völker,  die  heute  indo-germanische  Sprachen  reden,  gehören 
sehr  zahlreichen  und  untereinander  völlig  verschiedenen  Rassen 
an.  Die  Begeisterung,  mit  der  man  sich  früher  einmal  bemühte, 
eine  gemeinsame  Urform  der  indo-germanischen  Sprachen  zu 
konstruieren  und  sich  in  dieser  Urform  auch  einen  rassereinen 
Arier  vorzustellen,  hat  längst  reiferen  Anschauungen  Platz 
gemacht.  Nur  ganz  unheilbare  Chauvinisten  reden  heute  noch 
von  einer  arischen  Rasse,  und  für  den  Fachmann  ist  der  Begriff 
einer  arischen  Schädelform  genau  so  absurd,  als  wenn  man 
etwa  von  einer  langschädeligen  Sprache  reden  wollte." 

In  dem  Bewußtsein  der  Völker  setzen  Ideen  sich  ab  wie 
der  Satz  in  einem  Glase.  Wovon  sich  die  Oberschicht  geklärt 
hat,  das  verunreinigt  nun  um  so  stärker  die  tieferen  Lagen. 
Die  Ariertheorie,  von  der  sich  die  Wissenschaft  gereinigt, 
trübt  heute  die  Gedankenwelt  der  Laien.  Die  Kommersstu- 
denten, das  Publikum  der  vaterländischen  Feiern,  die  Leser 
der  Völkischen  Blätter  und  die  Abonnenten  des  Illustrierten 
Familienblattes  berauschen  sich  immer  wieder  von  neuem  an 
der  Idee,  die  Ary^  d  '  Menschheit  zu  sein.  Wie  eine  Heroine, 
die  für  die  erste  Bühni.-.jjU  alt  geworden,  nun  auf  einem  Vorstadt- 

25 


'^ 


theater,  ein  wenig  kräftiger  geschminkt,  noch  ihre  alten  Rolle  u 
spielt  und  von  dem  anspruchsloseren  Kleinbürgerpublikum 
wie  in  den  besten  Tagen  ihrer  Karriere  allabendlich  beklatscht 
wird,  so  feiert  die  überlebte  und  von  der  Wissenschaft  ver- 
abschiedete Theorie  in  der  Gedankenwelt  der  Masse  heute  die 
Spättriumphe  ihres  Komödiantendaseins.  Stolz  auf  seine  arische 
Herkunft  schaut  der  teutonische  Jüngling  verächtlich  auf  alles 
Weltgesindel,  das  nicht  wie  sein  Geblüt  arya  ist.  Hie  Arya, 
hie  Semit!  das  ist  der  Schlachtruf,  darunter  alle  Fehde  des 
Rassenkampfes  heute  anhebt,  und  die  Ariertheorie  ist  der 
Turm,  unter  dessen  Schutz  ihre  Jünger  streiten,  ein  imponie- 
render Turm,  der  unfehlbar  auf  jeden  schrecklich  wirkt,  der 
nicht  weiß  —  daß  er  von  Pappe  ist. 


26 


ER  GEHMANE 


Nachdem  sich  einmal  in  den  Köpfen  der  westeuropäischen 
Gelehrten  die  schmeichelhafte  Idee  ihrer  Zugehörigkeit  zum 
Menschheitsadel  eingenistet  hatte,  wollten  sie  diese  nach  dem 
Fiasko  der  Ariertheorie  nicht  fallen  lassen  und  arbeiteten  sie 
zu  einer  neuen  Theorie  um,  die  vom  anthropologischen  Stand- 
punkt aus  weniger  anfechtbar  erschien :  der  Germanentheorie. 
Weniger  anfechtbar,  weil  sie  überhaupt  nicht  anzufechten  ist. 
Man  kann  eine  wissenschaftliche  Hypothese  zu  widerlegen 
suchen,  aber  eine  Dichtung?  Wer  will  beweisen,  daß  die 
beiden  Grenadiere  Heines  nicht  nach  Frankreich  zogen? 

Die  Ariertheorie  entbehrt  nicht  einer  gewissen  Grundlage. 
Nur  beging  sie  den  Fehler,  Rasse  und  Kultur  zu  verwechseln. 
Ihre  Nachfolgerin  jedoch  steht  durch  die  Voraussetzungslosig- 
keit  ihrer  Annahmen  und  die  Kühnheit  ihrer  Folgerungen  unter 
allen  Theorien,  die  in  der  modernen  Zeit  zu  einem  kurzen 
Falschen-Smerdis-Ruhm  auf  einen  Thron  erhoben  wurden,  einzig 
da.  Sie  wird  dereinst  in  dem  Kuriositätenkabinett  der  Wissen- 
schaft als  eine  exzessive  Ausgeburt  des  menschlichen  Geistes  das 
Interesse  aller  Abnormitätenfreunde  erregen.  Der  Don-Quixote 
Größenwahn  und  die  Dirne  Historia  zeugten  sie  im  Rausch. 

Schon  ihre  Vorgeburt  ist  umwittert  vom  Gespensterschein 
des  Fatal-Grotesken,  Ihr  Vater  ist  der  Franzose  Graf  Gobineau, 
der  sich  in  seiner  Sucht,  Germane  zu  sein,  als  Normannen- 
abkömmling schildert,  in  Wirklichkeit  aber  wahrscheinlich  ein 
.Savoyarde  und  mithin  möglicherweise  ein  Baske,  also  ein  Ver- 
wandter der  Armenier  ist.  Dieser  französisch-normannisch- 
baskisch-armenoide  Graf  unterbreitet  seine  Theorie  dem  A-  und 
Antigermanen  Richard  Wagner,  der,  weil  er  es  nicht  ist,  sich 
so  krampfhaft  germanisch  gebärdet,  und  dieser  legt  den  Pur- 
purmantel des  Germanenadels,  ihm  so  willkommen  seine  un- 
germanische Gestalt  zu  verhüllen,  um  seine  niederen  Schul- 
tern und  wird  König  und  Künder  der  neuen  Theorie.  Unter 
den  Völkern  germanischen  Stammes,  die  nun  zur  Aus- 
wahl stehen,  den  Kulturpreis  als  Nation  zu  empfangen,  wird 
die  Palme  den  Deutschen  gereicht  von  einem  Engländer,  der 
durch  die  Schule  französischer  Erziehung  zum  Deutschtum 
.gelangt  ist:  Houston  Stewart  Chamberlain.    Burleske  Trilogie! 

27 


Der  Fall  ist  typisch.  Ein  echter  Germane  könnte  niemals 
über  sich  selber  eine  so  maßlos  anmaßende  Theorie  empfinden^ 
geschweige  in  alle  Welt  posaunen.  Sein  Rassestolz  verböte  es 
ihm;  denn  echter  Stolz  ist  stets  mit  Scham  gepaart.  Nur  et- 
was, was  man  nicht  ist,  kann  man  so  paroxystisch  lieben.  Rene- 
gatentum. 

Der  erste  Satz  der  Grermanentheorie  behauptet,  daß  die  einzig 
kulturfähige  Rasse  die  weiße  sei;  von  den  Mongolen,  deren  Völker 
Kung-fu-tse  und  Lao-tse,  Li-tai-peh  und  Ho-ku-sai  geboren  haben, 
sagt  der  Begründer  der  Politisch-anthropologischen  Schule,  Wolt- 
mann,  „haben  nur  einige  die  untere  ( !)  Stufe  der  Kultur  erreicht". 
Innerhalb  der  weißen  Rasse  ist  nach  der  Ansicht  der  Germanen- 
theorie der  einzig  schöpferisch  begabte  Typus  der  hoch- 
gewachsene, blonde,  blauäugige  Germane.  „Der  lichte  Mensch 
ist  der  geistig  regsamste,  der  einzig  schöpferische"  (Hauser), 
in  jedem  Volk  „hängt  alle  lebendige  Kraft  von  dem  Verhältnis 
des  echt  germanischen  Blutes  in  seiner  Bevölkerung  ab"  (Cham- 
berlain).  Da  kein  anderer  Menschenschlag  zu  wirklichen  Kultur- 
leistungen fähig  ist.  müssen  alle  großen  Kulturtaten,  mögen 
sie  auch  geographisch  und  zeitlich  noch  so  weit  geschieden 
liegen,  Werke  von  Germanen  sein.  ,,Ich  habe  mich",  sagt 
Gobineau  in  seinem  berühmten  , Essay  über  die  Ungleichheit 
der  Menschenrassen',  „am  Ende  überzeugt,  daß  alles,  was  es- 
an  menschlichen  Schöpfungen,  Wissenschaft,  Kunst,  Zivili- 
sation Großes,  Edles,  Fruchtbares  auf  Erden  gibt,  nur  einem 
und  demselben  Quell  entstammt  und  nur  einem  Volke  angehört, 
dessen  verschiedene  Zweige  in  den  verschiedenen  Gegenden 
des  Erdballs  geherrscht  haben."  Dieses  Volk  sind  die  Germanen. 
Zur  Begründung  dieser  Annahme  nimmt  die  Germanentheorie 
im  Anschluß  an  die  historisch  beglaubigte  Tatsache  von  Ger- 
manenwanderungen im  frühen  Mittelalter  an,  daß  Germanen 
seit  den  frühesten  Urzeiten  in  Schüben  aus  der  Völkerwiege 
Indiens  —  oder,  wie  man  neuerdings  herumrät,  des  Wolga- 
beckens oder  Skandinaviens  oder  des  Donaugebietes  oder  des 
Loirebeckens  —  ausgewandert  seien  und  in  allen  Teilen  der 
Welt  jene  großen  Kulturen  geschaffen  hätten,  von  denen  die 
Geschichte  der  Menschheit  berichtet.  Sie  sind  nach  Griechen- 
land gezogen  und  haben  hier  die  hellenische  Kultur  begründet, 
vordem  sind  sie  nach  Kleinasien  und  den  ägäischen  Inseln 
übergesetzt  und  haben  hier  die  ägäisch-mykenische  Kultur 
geschaffen.  Sie  kamen  nach  Mesopotamien  und  gründeten 
hier  die  alten  Kulturreiche  von  Sumer  und  Akkad,  Babylon. 

28 


und  Assur,  kamen  nach  Indien  und  regten  hier  die  germanischen 
Schöpfungen  der  Veden  an,  einzelne  Zweige  von  ihnen  drangen 
sogar  bis  in  das  Tal  des  Yang-tse-kiang  vor  und  beglückten 
hier  das  stumm-stupide  Volk  der  Chinesen  mit  den  germanischen 
Kulturerrungenschaften  des  Porzellans,  Papiers  und  Flöten- 
spiels. Ja,  da  man  selbst  in  Uramerika  alte  Kulturen  entdeckte 
und  doch  einzig  die  Germanen  als  Kulturträger  in  Frage  kommen, 
müssen  auch  diese  —  risum  teneatis  amici!  —  germanische 
Schöpfungen  sein.  Germanenstämme  sind  über  Grönland  und 
Alaska  nach  Amerika  gewandert  und  haben  hier  im  Becken 
von  Mexiko  die  alte  Kultur  der  Azteken  geschaffen,  sind  über 
Panama  nach  Peru  hinabgezogen  und  bauten  hier  die  märchen- 
hafte Stadt  Dorado  im  Inkareich  —  Germanen  in  der  Welt 
überall  und  überall  in  der  Welt  voran! 

Auf  welchen  Fundamenten  bauen  die  Germanentheoretiker 
die  schwindelnd  hohen  Bögen  ihrer  erdumspannenden  Hypo- 
these? Die  Germanennatur  der  Griechen  „beweist"  Otto 
Hauser  mit  folgenden  Sätzen,  um  deren  Gedankenakrobatik 
ihn  ein  Looping-to-loop-Artist  beneiden  könnte.  „Die  alten 
Griechen  bezeichneten  sich  als  blondes  Volk  und  stellten  sich 
mit  dem  reinsten  nordischen  Rassentypus  dar  .  .  .  Die  heu- 
tigen Griechen  sind  als  Gesamtheit  tiefbrünette  Levantiner. 
Es  ist  also  der  Schluß  berechtigt,  daß  in  vorgeschichtlicher 
Zeit  auch  ganze  Völkergruppen  einheitlichen  Typus  gehabt 
haben  werden.  Alle  Zeugnisse  führen  dahin,  insbesondere  an- 
zunehmen, daß  alle  Völker,  die  eine  arische  Sprache  sprechen, 
ursprünglich  dem  blonden  Typus  angehört  haben."  Wie  lassen 
sich  die  schwierigsten  Probleme  geistiger  Schwerathletik  doch 
so  spielend  lösen,  wenn  man  seinen  Lesern  statt  Eisenkugeln 
Pappgewichte  vorhebt! 

„Auch  in  Amerika",  fährt  er  fort,  „war  bei  der  Ankunft 
der  Weißen  noch  die  Vorstellung  lebendig,  daß  hier  in  alten 
Zeiten  weiße,  blondhaarige  Herren  geherrscht  hatten.  Ihre 
Edelsten  waren  von  lichter  Farbe.  Die  Götter  bildeten  sie 
mehrfach  blondhaarig  ab;  Kolumbus,  der  selbst  blond  und 
blauäugig  war,  und  seine  Zeitgenossen  erscheinen  als  Götter, 
ebenso  später  Fernan  Cortez,  unter  dessen  Begleitern  der  über- 
kühne Petro  de  Alvarado  wegen  seines  reichen  Blondhaares 
Tonaltiuh,  ,Sonnensohn',  genannt  wurde."  Wer  auch  nur  von 
einem  Schimmer  nordischen  Geistes  erhellt  ist  und  nicht  hoff- 
nungslos umnachtet  von  der  Finsternis  südlicher  Verstandes- 
armut, wird  sich  der  überwältigenden  Kraft  dieser  historischen 

29 


Argumente  nicht  verschließen  sondern  widerspruchslos  aner- 
kennen, daß  wirklich  nur  Germanen  die  Kultur  des  Inka-  und 
Aztekenreiches  geschaffen  haben  können. 

Trotzdem  auch  alle  vorangegangenen  Kulturen  germanischen 
Ursprungs  und  folglich  eigentlich  germanische  Geschichte  sind, 
beginnt  für  Chamberlain  doch  erst  „die  wahre  Geschichte,  dia 
Geschichte,  welche  heute  noch  den  Rhythmus  unseres  Herzens 
beherrscht  und  in  unseren  eigenen  Adern  zu  fernerem  Hoffen 
und  Schaffen  kreist,  in  dem  Augenblick,  wo  der  Germane  das 
Erbe  des  Altertums  mit  kraftstrotzender  Hand  ergreift.  China, 
Indien,  Babylon,  Judäa,  Persien,  Griechenland  und  Rom  sind 
für  uns  Prolegomena,"  und  zwar  nicht  nur  Prolegomena  son- 
dern sogar  bestialische  Barbarei,  denn  ,,nur  schändliche  Denk- 
faulheit oder  schamlose  Geschichtslüge  vermag  in  dem  Ein- 
tritt der  Germanen  in  die  Weltgeschichte  etwas  anderes  zu 
erblicken  als  die  Errettung  der  agonisierenden  Menschheit  aus 
den  Krallen  des  ewig  Bestialischen." 

Man  möchte  glauben  hier  zwei  Männer  zu  hören,  die  in  einer 
krankhaften  Überreizung  des  Rassenstolzes,  wie  die  Alkohol- 
deliranten  an  jeder  Möbelkante  graue  Mäuse  sehen,  hinter  jeder 
Kulturtat  blonde  Germanen  erblicken.  Aber  nein,  Chamberlain 
und  Hauser  sind  nur  zwei  Soloflötisten  aus  dem  großen  Or- 
chester der  Politisch-anthropologischen  Schule,  das  viele  be- 
kannte Größen  zu  seinen  Geigern  und  Bläsern  zählt. 

Es  sei  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  hier  wie  im  folgenden 
nur  führende  Autoren  und  nur  anerkannte  Werke  zitiert  sind. 
Alle  jene  tausend  Mikromegas  der  Wissenschaft  und  Politik, 
all  jene  Unken  und  Aale,  Frösche  und  Schlammpeitzker  aus 
den  Pfuhlen  des  Parteigezänks  und  den  Hinterweltsteichen  der 
völkischen  Bestrebungen,  all  jene  Pamphletisten  und  Pas- 
quillanten,  Hammerbündler  und  Deutschgläubige,  deren  Namen 
man  nicht  die  Ehre  antun  darf  sie  zu  zitieren,  sind  mit  jenem 
Schweigen  übergangen,  das  für  sie  die  einzige  Antwort  ist. 

Der  bekannte  Anthropologe  Ammon,  der  sich  um  die  Wissen- 
schaft durch  seine  großzügigen  anthropometrischen  Unter- 
suchungen in  Süddeutschland  hochverdient  gemacht  hat, 
schreibt:  ,,Wie  alle  Arier  sind  die  Germanen  die  geborenen  Herr- 
scher anderer  Völker.  Wo  sie  auch  auftreten,  sind  sie  die  regie- 
renden und  sozial  bevorzugten  Stände,  sind  sie  ein  Volk  voll 
wilden  Mutes  und  unbeugsamer  Kraft,  voll  Hingebung  und 
Treue,  voll  Stolz  und  Wahrhaftigkeit,  ein  leuchtendes  Volk 
von  Halbgöttern,  dessen  gleichen  die  Welt  vorher  nur  einmal 

30 


in  den  Griechen  und  nachher  nie  wieder  gesehen  hat  und  wahr- 
scheinlich auch  niemals  wieder  sehen  wird."  Driesmans,  der 
Verfasser  mehrerer  groß  angelegter  Werke  über  Rassenprobleme, 
besonders  über  das  Verhältnis  von  Kelten  zu  Germanen, 
kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Germanen  und  unter  diesen 
wieder  die  Preußen  den  höchsten  Typus  repräsentieren,  den 
er  mit  folgenden  Worten  charakterisiert :  „Es  dürfte  nicht  über- 
trieben und  geschmeichelt  sein,  den  brandenburgisch-preußi- 
schen Menschenschlag  als  lachende  Löwen  zu  bezeichnen." 
Weltmann  gelangt  in  seinen  tonangebenden  und  relativ  äußerst 
maßvollen  Büchern  über  „Die  Germanen  in  der  Renaissance" 
und  die  ,, Politische  Anthropologie"  zu  dem  Schluß:  „Die 
bedeutendsten  Genies  der  Menschheit  sind  Vertreter  dieser 
Rasse  gewesen  oder  Mischlinge,  in  deren  Adern  das  germanische 
Blut  vorwiegend  strömte.  Die  ausgezeichnetsten  Menschen 
der  neueren  Geschichte  waren  zum  größten  Teile  Vollblutger- 
manen wie  Dürer,  Leonardo  da  Vinci,  Galilei,  Rembrandt, 
Rubens,  Van  Dyck,  Voltaire,  Kant,  Wagner,  andere  zeigen 
Beimischungen  der  brünetten  Rasse,  sei  es,  daß  sich  dieselben 
namentlich  in  der  dunkleren  Pigmentierung  oder  seltener  in 
einer  Verbreiterung  des  Schädels  zeigt,  wie  bei  Dante,  RafTael, 
Michelangelo,  Shakespeare,  Luther,  Goethe,  Beethoven  ...  Es. 
läßt  sich  der  anthropologische  Nachweis  erbringen,  daß  die 
ganze  europäische  Zivilisation,  auch  in  den  slawischen  und 
romanischen  Ländern,  eine  Leistung  der  germanischen  Rasse 
ist.  Die  Franken,  die  Normannen  und  die  Burgunder  in  Frank- 
reich, die  Westgoten  in  Spanien,  die  Ostgoten,  Langobarden 
und  Bajuvaren  in  Italien  haben  die  anthropologischen  Keime 
zu  der  mittelalterlichen  und  neueren  Kultur  dieser  Staaten 
gelegt.  Das  Papsttum,  die  Renaissance,  die  französische  Revo- 
lution und  die  napoleonische  Weltherrschaft  sind  Großtaten 
des  germanischen  Geistes  gewesen.  Die  bedeutendsten  Päpste 
hatten  zum  großen  Teil  germanischen  Typus.  Die  herrschenden 
Dynastien  und  Patrizier  in  Florenz,  Genua,  Venedig,  Mailand 
sind  Abkömmlinge  ,germanischer  Barbaren',  ebenso  die  großen 
künstlerischen  Genies,  welche  die  geistige  Wiedergeburt  der 
Menschheit  schufen." 

Den  Gegensatz  zu  den  blonden  Germanen  bilden  die  brü- 
netten Völker,  von  denen  als  bekanntester  Typ  die  Juden  durch 
das  Schicksal  mitten  unter  die  helle  Adelsrasse  eingestreut  sind. 
Als  habe  die  Geschichte  dem  blonden  Göttervolk  eine  dunkle 
Folie  geben  wollen,  von  der  sich  seine  Heldengestalten  um  so 

31 


markanter  herausheben,  ist  dieser  brünette  Südlandstypus 
hinauf  in  den  Norden  verschlagen  worden  —  Faust  und 
Mephisto!  Dem  leuchtenden  Halbgott  droben  in^den  Sonnen- 
wolken antwortet  aus  der  Tiefe  des  Inferno  der  Geist  der  Ver- 
neinung, Satanas.  „Die  jüdische  Rasse",  sagte  Renan,  der  Senior 
•der  jüdischen  Rassenforschung,  „zeigt  fast  nichts  als  negative 
Eigenschaften:  sie  besitzt  keine  Mythologie,  kein  Epos,  keine 
Wissenschaft,  keine  Philosophie,  keine  Erfindung,  keine  pla- 
stische Kunst,  kein  bürgerliches  Leben  .  .  .  die  grauenhafte 
Einförmigkeit  des  semitischen  Geistes  schnürt  das  menschliche 
Gehirn  zusammen,  verschließt  es  vor  jeder  zarteren  Gedanken- 
fassung, jeder  feineren  Regung  .  ,  .  Ich  bin  der  Erste,  einzu- 
gestehen, daß  die  jüdische  Rasse,  verglichen  mit  der  indo- 
arischen, in  der  Tat  einen  minderwertigen  Typ  der  Menschheit 
•darstellt."  Dühring,  der  Nestor  der  heutigen  Generation, 
bekennt:  „Die  jüdische  Rasse  hat  ihre  Eigenschaften  im  mar- 
kantesten Gegensatz  zum  übrigen  Menschengeschlecht  aus- 
:gebildet.  Die  Einimpfung  der  Eigenschaften  der  Judenrasse 
in  die  Völker  ist  die  äußerste  Gefahr  für  deren  Charakter.  Die 
•eigentliche  Ursache  aber,  welche  die  tiefste  Geringschätzung 
und  Verachtung  der  Judenrasse  begründet  und  motiviert,  ist 
deren  absolute  Inferiorität  betreffs  aller  höherwertigen  Geistes- 
anlagen. Mangel  jeden  wissenschaftlichen  Sinnes,  Unzuläng- 
lichkeit für  die  Philosophie,  Unfähigkeit  zum  Schaffen  in  der 
Mathematik,  Unfähigkeit  auch  in  den  anderen  Wissenschaften 
und  bloße  Reklamefähigkeit  für  das  Unbedeutende,  Unfähig- 
keit zur  Kunst  und  sogar  zur  Musik  sind  bei  den  Juden  deutlich 
erkennbar.  Ihre  ganze  lange  Geschichte  hindurch  haben  die 
Juden  auch  nicht  in  einer  Wissenschaft  etwas  produziert. 
Wo  sie  sich  mit  der  Wissenschaft  abgegeben,  hat  dies  stets  nur 
einen  geschäftlichen  Zweck  gehabt.  Treue,  Achtung  vor  dem 
Großen  und  allem  Edlen  überhaupt  ist  dem  Juden  fremd.  Die 
jüdische  Rasse  ist  also  verderbt  und  inferior."  In  weitaus 
größter  Ausführlichkeit  behandelt  Chamberlain  das  Problem 
Germanen  und  Juden  in  seinen  „Grundlagen  des  19.  Jahr- 
hunderts" unji  kommt  nach  der  Apotheose  des  Germanentums 
zu  dem  abschließenden  Urteil:  „Die  jüdische  Rasse  ist  eine 
-durch  und  durch  bastardierte  Rasse,  welche  diesen  Bastard- 
charakter dauernd  bewahrt .  .  .  Ihr  Dasein  ist  Sünde,  ihr  Da- 
sein ist  ein  Verbrechen  gegen  die  heiligen  Gesetze  des  Lebens"'). 

*)  Jüdische  Gemüter,  die  diese  Zitate  aus  der  Fassung  zu  bringen  drohen, 
«lögen  sich  damit  beruhigen,  daß  seit  Ausbruch  des  Krieges  in  den  wissen- 

32 


Auch  diese  Stimmen  nicht  die  pathologischen  Hyperbel» 
wissenschaf  thcher  Paranoiker,  sondern  Stimmen  der  Zeit,  Zitate 
aus  den  gelesensten  Büchern  der  Gegenwart.  Renans  Schriften  ge- 
hören zu  den  Standardworks  der  Bibliotheken ;  Gobineaus  Werke 

schaftlichen  Werken  und  Zeitschriften  der  Ententeländer  fast  wörtlich  die- 
selben Urteile  über  die  Deutschen  zu  lesen  sind.  Der  Russe  Menschikow 
weist  an  der  Hand  anthropologischer  Daten  nach,  „daß  die  Deutschen 
zu  den  minderwertigsten  Rassen  gehören,  im  Schädeltypus  dem  Neander- 
taler nahe  kommend".  In  der  englischen  Zeitschrift  Daily  Graphic  wird 
nachgewiesen,  daß  die  Deutschen  „Nachahmer  ohne  Originahtät,  Aus- 
beuter fremden  Geistes  und  eine  inferiore  Rasse  sind,  deren  sämtliche 
Genies  keine  Germanen  sondern  bei  der  Völkerwanderung  zurückgeblie- 
bene Kelten  waren",  und  in  Frc^nkreich  stellt  Hanatoux  fest,  daß  die 
Deutschen  „alle  ihre  Kulturschätze  entlehnt  haben,  daß  von  Goethe 
nichts  Originales  übrig  bliebe,  wenn  man  das  abstrahiert,  was  er  Shake- 
speare, Voltaire  und  Rousseau  entlehnt  hat,  und  daß  Kant  das  Blei- 
gewicht seiner  Bücher  auf  eine  Welt  gewälzt  habe,  die  dieser  Werke  nach 
den  EvangeUen,  nach  Plato  und  Descartes  nicht  bedurfte"  und  prophezeit 
für  die  Zukunft:  „Die  Deutschen  werden  wieder  nachahmen,  nachfälschen, 
wie  sie  mit  allem  Schönen  bisher  getan,  das  westliche  Erfinderkunst 
ihnen  in  verschwenderischer  Fülle  vors  Auge  gestellt  hat."  Der  italienische 
Tragöde  Zacconi,  der  als  Interpret  der  deutschen  Meisterwerke  Gelegenheit 
hatte,  die  Deutschen  von  ihrer  edelsten  Seite  kennen  zu  lernen,  schreibt: 
„Daß  die  deutsche  Seele  voll  Barbarei  ist,  weiß  heute  jedes  Kind.  Ich 
fühlte  das,  wenn  ich  die  Werke  der  größten  Denker  dieses  Volkes  aus- 
legte. Die  deutsche  Seele  bleibt  auf  ihrem  Grunde  grausam,  gierig  und 
unmoralisch." 

Die  Art,  wie  ein  Volk  oder  Mensch  über  seine  Nebenmenschen  urteilt, 
ist  ein  Gradmesser  für  die  Höhe  seiner  eigenen  Kultur-,  Charakter-  und  In- 
telligenzentwicklung. Je  höher  man  selber  geistig  und  moralisch  steht,  um 
so  vornehmer  und  milder  pflegt  man  zu  urteilen,  wie  ja  auch  in  der  Wissen- 
schaft und  Politik  im  letzten  Grunde  jedes  Urteil  darauf  hinausläuft:  tout 
comprendre  c'est  tout  pardonner.  Der  Volksmund  der  östlichen,  in  der 
Kulturentwicklung  zweifellos  tiefer  stehenden  Nachbarvölker  urteilt  über 
die  Deutschen  mit  folgenden  sprichwörthchen  Redensarten.  Die  Polen: 
„Gib  auf  alle  Dinge  acht,  daß  die  Deutschen  sie  nicht  stehlen."  Die 
Tschechen:  „Achtung,  ein  Deutscher!"  oder:  „Überall  wohnen  Men- 
schen, in  Komotau  aber  Deutsche."  Die  Russen:  „So  viel  Deutsche,  so 
viel  Hunde."  Die  Letten:  „Ich  will  nicht  in  den  Himmel,  wenn  Deutsche 
darin  sind."  Im  ungarischen  Parlament  sagte  1889  ein  Abgeordneter  öffent- 
hch  von  der  Tribüne:  „Gottes  Hilfe  haben  wir  es  zu  danken,  daß  das 
deutsche  Theater  abgebrannt  ist"  —  wie  bescheiden  dieser  Mann  von  Gottes 
Hilfe  denkt!  Zwischen  den  Rassen  dasselbe  Gassenbubengezänk.  Der 
Karibe  hält  schlankweg  jeden  Christen  für  einen  Dieb  und  ist,  wenn 
etwas  in  seinem  Hause  fehlt,  fest  davon  überzeugt,  daß  es  ein  Christ 
genommen  haben  müsse.  Kommt  in  China  ein  Kind  abhanden,  so  ver- 
breitet sich  das  Ritualmärchen,  die  christHchen  Missionare  hätten  es  ge- 
schlachtet, um  mit  seinem  ausgerissenen  Herzen  Zauber  zu  treiben 

Konitzer  Gedanken!  „Je  mehr  man  kennt,  je  mehr  man  weiß,  erkennt 
man:  alles  dreht  im  Kreis."    (Zitate  nach  Brunner.) 

3  Kahn,  Die  Juden.  33 


sind  über  den  ganzen  Kontinent,  wenn  auch  wenig  gelesen,  so 
doch  in  ihrer  Tendenz  bekannt  und  verehrt.  In  Deutschland 
setzte  die  Popularisierung  der  Germanentheorie  mit  dem  Er- 
scheinen des  anonymen  Buches  „Rembrandt  als  Erzieher"" 
ein,  das  im  Jahre  1909  seine  49.  Auflage  erlebte !  Ein  Erfolg,, 
der  nicht  unverdient  ist.  Es  ist  ein  Buch  von  bestechender 
Schönheit;  ein  literarisches  Kabinettstück,  an  dem  sein  Ver- 
fasser jahrelang  mit  monomanischer  Emsigkeit  geschrieben; 
niemand,  der  empfänglich  ist  für  den  Reiz  eines  geistvollen 
Stils  und  den  Zauber  eines  stolzen  Charakters,  kann  sich  dem, 
Eindruck  dieses  Buches  entziehen,  das  freilich  in  seinem 
letzten  Teil  die  beginnende  geistige  Umnachtung  seines  Ver- 
fassers mit  fast  erschütternder  Deutlichkeit  verrät.  Die  Bücher 
Woltmann's,  Wilser's  und  Hauser 's  sind  sämtlich  in  mehreren 
Auflagen  erschienen.  Aber  alle  diese  Schriften  sind  nur  voran- 
fahrende Aufklärungsgeschwader  gewesen.  Die  Armada,  unter 
deren  papiernen  Segeln  der  moderne  Kreuzzug  gegen  die  Juden 
geführt  wird,  sind  die  Schriften  Houston  Stewart  Chamberlains, 
die  allein  in  Deutschland  in  annähernd  einer  Million  Exemplaren 
verbreitet  sind.  „Die  Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts"  gehören 
trotz  ihres  erheblichen  Umfangs  und  ihres  wissenschaftlichen 
Anflugs  zu  den  gelesensten  Büchern  der  Zeit,  sind  in  fast  alle 
Kultursprachen  übersetzt  und  haben  nach  ihrem  beispiellosen 
Erfolg  in  der  Gelehrtenwelt  durch  besondere  Volksausgaben 
ihre  Verbreitung  unter  den  Massen  Europas  gefunden.  Sie 
waren  Lieblingsbücher  des  einstigen  Kaisers,  der  den  Verfasser 
in  seinen  Freundeskreis  hineinzog  und  sein  Werk  mit  Vorliebe 
zu  Geschenkzwecken  verwandte.  Auf  seine  Anregung  wurde  ein 
besonderer  Fonds  gegründet,  aus  dessen  Mitteln  die  „Grund- 
lagen" an  Bibliotheken,  Schulen  und  Vereine  abgegeben  wurden 
—  alles  in  allem  ein  Erfolg,  zu  dem  man,  wenn  auch  nicht  das 
deutsche  Volk,  so  doch  den  Verfasser  und  Verleger  beglück- 
wünschen muß.  Chamberlains  Buch  ist  in  einem  brillanten  Stil 
geschrieben,  glänzt  in  allen  Farben  eines  vielseitig  geschliffenen 
Intellekts  und  ist  vom  Feuer  eines  lebhaften  Temperaments  durch- 
glüht. Seine  faszinierende  Wirkung  auf  die  unkritischen  Köpfe  der 
Halb-, Viertel-  und  Achtelgebildeten  ist  begreiflich  und  begründet. 
Chamberlains  Stimme  besitzt  in  den  Kreisen  der  gekrönten  und 
ungekrönten  Ignoranten  den  Klang  des  Meisterwortes.  Autos 
epha!  und  halb  Europa  jubelt  frenetischen  Beifall. 

Chamberlain  ist   ein   hochbegabter,   mit   allen  Waffen  des 
geistigen  Kampfes   trefflich  gerüsteter,    ebenso   phantastischer 


wie  fanatischer  Gegner,  ein  Bosko-Biati-Kann-AUes,  der  der 
Welt  das  Unnatürlichste  natürlich,  das  Unwahrscheinlichste 
wahrscheinlich  und  das  Unmoralischste  moralisch  erscheinen 
läßt.  Ein  großer  Hypnotiseur,  der  nicht  nur  die  Schar  seiner 
willigen  Hörer  spielend  in  seinen  Bann  zieht,  sondern  —  und  das 
ist  sein  stärkster  Triumph  —  selbst  den  widerstrebenden  Gegner, 
das  Opfer,  das  er  lähmen  will  —  den  Juden.  In  Folio  kommt  der 
Band  auf  den  Schreibtisch  des  Gelehrten,  in  Luxus  und  Leinen 
fliegt  er  auf  den  Teetisch  des  ästhetischen  Salons  —  wer  kann 
vermuten,  daß  er  Pamphlet  ist?  Fast  mit  dem  Gefühl  des 
Stolzes  sieht  der  Jude  hier  das  Problem  seiner  Rasse  von  „ersten 
Forschern  wissenschaftlich  behandelt",  und  wenn  er  sonst  bei- 
leibe auch  nie  ein  Buch,  das  über  Juden  spricht,  in  die  Hände 
nimmt,  so  greift  er  doch  zu  diesem.  Chamberiains  „Grund- 
lagen" sind  für  die  Mehrzahl  der  Juden  das  einzige  Buch,  das 
sie  über  Rassenstellung  und  Kulturgeschichte  ihres  Volkes  ge- 
lesen haben.  Ach,  die  Betrogenen !  Ihnen  ergeht  es  wie  den  Reisen- 
den des  Hauff'schen  Märchens,  die  nachts  in  eine  Herberge  zu 
treten  meinen  und  des  Morgens  gewahr  werden,  daß  sie  in 
eine  Räuberhöhle  geraten.  Wie  in  den  diplomatischen  Noten 
glaubt  man  einen  Bündnisbrief  zu  lesen  und  hält  eine  Kriegs- 
erklärung in  den  Händen.  Mit  dem  Ausdruck  vorzüglichster 
Hochachtung  und  aufrichtigsten  Wohlwollens  empfängt  man  sein 
Todesurteil.  Rattenfutter.  Es  schmeckt  süß,  aber  im  Bauch 
beginnt  es  zu  gären  und  zerreißt  die  Gedärme.  Nicht  Worte 
klingen  ins  Ohr,  Bilsenkraut  träufelt  ein  tückischer  Überlister 
seinem  Opfer  in  den  Körper.  Und  ein  moralisches  Siechtum 
fällt  es  an,  von  dem  es  keine  andere  Erlösung  gibt  als  Selbst- 
mord, den  Rassenselbstmord :  die  Taufe.  Und  wie  mit  allen 
Giften  ist's  auch  mit  dieser  Autointoxikation:  den  Besten  fällt 
es  am  heftigsten  an.  Je  empfindlicher  und  empfänglicher  das 
Herz,  um  so  stärker  wird  es  getroffen.  Wie  eine  Pest  grassiert 
die  Rassenseuche  unter  der  Jugend  und  rafft  die  Blüte  des  Nach- 
wuchses hin.  Ein  einziges  Beispiel :  Weininger,  unzweifelhaft  eine 
der  glänzendsten  Erscheinungen  der  jungen  Generation:  ein  Me- 
teor, am  Himmel  aufgeflammt  und  dann  zerstoben  in  der 
trüben  Atmosphäre  des  Rassenantisemitismus.  Ganz  im  Banne 
Ghamberlain'scher  Lehren  zerfleischt  dieser  Apostat  in  wüten- 
dem Haß  gegen  ,,die  Sünde  in  sich"  sein  eigenes  Ich.  In  dem 
Kapitel  über  das  Judentum  in  dem,  man  kann  sagen,  monu- 
mentalen Werk  des  eben  Zwanzigjährigen  über  ,, Geschlecht 
und  Charakter"  —  wohl  das  bedeutendste  Dokument  patholo- 


35 


4 


gischer  Frühreife  in  der  ganzen  Weltliteratur  —  vollzieht  sich 
vor  den  Augen  des  Lesers  eine  geistige  Exhibition,  die  in  ihrer 
Schamlosigkeit  nur  durch  eine  moralische  Gleichgewichtsstörung 
schwersten  Grades  erklärhch  ist.  Nachdem  der  Verfasser  sich 
eingangs  ausdrücklich  selbst  als  Jude  bekannt,  schreibt  er: 
„So  wenig,  wie  es  in  Wirklichkeit  eine  , Würde  der  Frauen' 
gibt,  so  unmöglich  ist  die  Vorstellung  eines  jüdischen  ,gentle- 
man'.  Dem  echten  Juden  gebricht  es  an  jener  inneren  Vor- 
nehmheit, welche  Würde  des  eigenen  und  Achtung  des  frem- 
den Ich  zur  Folge  hat  .  .  .  Der  echte  Jude  hat  wie  das 
Weib  kein  Ich  und  darum  auch  keinen  Eigenwert  .  .  .  Was 
dem  Weibe  wie  dem  Juden  durchaus  abgeht,  das  ist  Größe, 
Größe  in  irgendwelcher  Hinsicht,  überragende  Sieger  im  Mora- 
lischen, großzügige  Diener  des  Antimoralischen  .  .  .  Der  absolute 
Jude  ist  seelenlos .  .  .  Der  jüdische  Monotheismus  hat  mit 
echtem  Glauben  an  Gott  nichts,  gar  nichts  zu  tun,  er  ist  viel- 
mehr seine  Negation,  der  Afterdienst  des  wahren  Dienstes 
unter  dem  guten  Prinzip .  .  .  Hier  ist  keine  Religion  aus  reiner 
Vernunft;  eher  ein  Altweiberglaube  aus  schmutziger  Angst .  .  . 
Dem  niederen  Leben  ganz  zugewandt,  hat  er  kein  Bedürfnis 
nach  der  persönlichen  Fortexistenz:  es  fehlt  ihm  das  wahre, 
unveränderliche,  metaphysische  Sein,  er  hat  keinen  Teil  am 
höheren  ewigen  Leben  .  . .  Der  Jude  hält  nie  wirklich  etwas 
für  echt  und  unumstößlich,  für  heilig  und  unverletzbar.  Darum 
ist  er  überall  frivol .  .  .  Christentum  ist  höheres  Heldentum; 
der  Jude  aber  ist  nie  einheitlich  und  ganz.  Darum  eben  ist  der 
Jude  feige,  und  der  Heros  sein  äußerster  Gegenpol." 

Man  kann  sich  ausmalen,  mit  welch  ausführlichem  Behagen 
die  politischen  Anthropologen  die  durch  nunmehr  19  Auflagen 
ebenfalls  in  alle  Welt  verbreitete  Selbstkritik  dieses  modernen 
Pfefferkorns  zitieren!  Wäre  Weininger  eine  Einzelerscheinung, 
so  wäre  er  nur  ein  interessanter  Fall  von  psycho-pathologischem 
Interesse.  Aber  Weininger  ist  ein  Typus!  Weininger  ist  nur 
der  zu  einer  traurigen  Berühmtheit  gelangte  Repräsentant 
einer  ganzen  Richtung,  die  Chamberlain  im  modernen  Juden- 
tum hochgezogen  oder  besser  gesagt  entwurzelt  hat. 

Vor  der  Erscheinung  eines  Mannes,  der  einen  derartig  faszi- 
nierenden Eindruck  auf  das  junge  Geschlecht  seiner  Feinde  aus- 
zuüben versteht,  müßte  man  selbst  als  Gegner  Achtung  empfin- 
den —  Bertran  de  Born !  Hier  aber  wirbt  ein  Agitator  unter  dem 
Visier  der  Wissenschaftlichkeit  für  eine  dunkle  Tendenz ;  hier  lockt 
ein  großer  Kinder  Verführer,  der  virtuos  auf  der  Flöte  der  Gelehr- 


36 


m 


samkeit  zu  spielen  weiß,  wie  der  Rattenfänger  zu  Hameln,  seine 
harmlosen  Opfer  ins  Wasser,  indem  er  ihr  Vertrauen  auf  die  Ge- 
rechtigkeit der  Wissenschaft  und  die  Heiligkeit  der  Wahrheit  miß- 
braucht. Man  hätte  nicht  nötig,  auch  nur  eine  Zeile  von  diesem 
Manne  zu  lesen,  um  ihn  zu  richten ;  Leben  und  Leumund  sprechen 
ihr  Urteil  über  diesen  schon  verdächtig  populären  Modeliebling 
der  Zeit.  Ist  es  am  Platz,  einem  Manne,  der  „der  unvergleich- 
lichen und  durchaus  eigenartigen  germanischen  Treue"  in  seinen 
Büchern  Heldenlieder  singt  und  selbst  als  der  Sohn  eines  eng- 
lischen Admirals  in  Deutschland  während  des  Krieges  an  der 
Spitze  der  spezifisch  England-feindlichen  Presse  stand  und, 
nachdem  er  noch  keine  sechs  Monate  seine  englische  Natio- 
nalität aufgegeben  hatte,  sein  bisheriges  Vaterland  „ein  N.est 
von  Hehlern,  Heuchlern,  Lügnern  und  Falschspielern"  nannte  — 
ist  es  am  Platze,  einen  solchen  Desultor  patriae  die  Juden,  die 
der  Welt  seit  drei  Jahrtausenden  das  einzigartige  Beispiel  natio- 
naler Treue  gaben,  ein  „Bastardvolk"  nennen  zulassen,  das  seine 
Entstehung  einem  ,, blutschänderischen  Verbrechen  gegen  die 
Natur"  verdankt?  Soll  man  einem  Manne  aus  dem  Hause 
Wagner,  das  der  Welt  das  häßlichste  Beispiel  moralischer  Zer- 
rüttung gegeben  hat,  das  je  den  Namen  eines  Genies  befleckte, 
die  Qualifikation  erteilen,  das  Sittengesetz  der  Juden  als  ein 
„direkt  verbrecherisches  Attentat  auf  alle  Völker  der  Erde" 
und  sie  selber  als  „einen  offenen  oder  versteckten  Feind  jedes 
anderen  Menschen",  als  „eine  Gefahr  für  jede  Kultur"  zu  be- 
zeichnen? Darf  man  bei  einem  Manne,  der  über  eine  der  geistig 
führenden  und,  wie  der  Gang  der  Geschichte  bewies,  politisch 
weitsichtigsten  Zeitungen  Deutschlands  die  schmählichsten 
Verleumdungen  ausstreute,  für  die  er  nach  dem  Urteil  des 
Gerichtshofes  ,, nicht  den  Schein  eines  Beweises  erbringen 
konnte",  darf  man  bei  einem  solchen  Manne  bona  fides  an- 
nehmen, wenn  er  aller  historischen  Wahrheit  zum  Trotz  das 
Judentum  als  einen  Herd  bezeichnet,  „aus  dem  semitische 
Intoleranz  Jahrtausende  lang  allem  Edelsten  zum  Fluche, 
dem  Christentum  zur  ewigen  Schmach,  sich  wie  ein  Gift  über 
die  Erde  ergießen  sollte,"  wenn  er  „ohne  den  Schein  eines  Be- 
weises erbringen  zu  können"  den  Juden  den  „Lehrmeister 
aller  Intoleranz,  alles  Glaubensfanatismus,  alles  Mordens  um 
der  Religion  willen"  nennt,  „der  an  die  Duldsamkeit  immer 
nur  dann  appellierte,  wenn  er  sich  bedrückt  fühlte,  sie  selbst 
jedoch  niemals  übte  noch  üben  durfte,  denn  sein  Gesetz  verbot 
es  ihm  und  verbietet  es  ihm  auch  heute  —  und  morgen."   Soll 

37 


man  einem  Mann,  der  sein  eigenes  Volk  so  wenig  kennt,  daß 
er  1915,  als  England  fiebernd  den  Krieg  betrieb,  in  Deutsch- 
land die  Ansicht  verbreitete,  „in  England  denkt  weder  Herr 
noch  Bauer,  weder  Kaufmann  noch  Arzt  noch  Anwalt  noch 
Beamter  daran,  sich  am  Kriege  zu  beteiligen  oder  seine  Söhne 
dafür  hinzugeben"  —  soll  man  einen  solchen  nicht  Kenner, 
sondern  Nichtkenner  der  Historie  als  Interpreten  auf  dem 
dunklen  Gebiet  der  Vorgeschichte  Israels  anerkennen  ?  Soll  man 
einem  Mann,  den  der  Biograph  Gobineaus  öffentlich  gefragt 
hat,  „ob  es  gentlemanlike  wäre,  daß  Chamberlain  der  franzö- 
sischen Quelle  seines  unverdienten  Ruhmes  kaum  anders  als 
mit  den  verächtlichsten  Ausdrücken  unter  groben  Mißver- 
ständnissen oder  Entstellungen  gedenkt,"  soll  man  einem  also 
öffentlich  als  Plagiator  gebrandmarkten  Manne  Glauben  schen- 
ken, wenn  er  dem  ihm  verhaßten  Volk  den  gleichen  Vorwurf 
macht  und  behauptet,  daß  alles  Große,  das  dem  Schoß  des 
Judentums  entsprossen,  nicht  Eigenschöpfung  sondern  nur 
Entlehnung  und  Germanenleistung  wäre  ?  Soll  ein  Volk  vor  der 
Rezension  eines  Mannes,  der  1915  von  Bethmann  Hollweg 
sagte:  ,,Die  beiden  Reden  des  edlen  Reichskanzlers  sind  in  ihrer 
unrhetorischen  Schlichtheit  unvergängliche  Dokumente"  und 
denselben  Bethmann  Hollweg  nach  seinem  Kanzlersturz  „den 
unglückseligsten  Staatsmann,  von  dem  die  Weltgeschichte  zu 
berichten  weiß"  genannt  hat,  soll  ein  Kulturvolk  wie  das  jü- 
dische sich  durch  die  Kritik  eines  solchen  Segelrichters  und 
Windfängers  der  öffentlichen  Meinung  veranlaßt  fühlen,  seine 
größten  Geister  aus  der  Liste  der  Menschheitsgenien  zu  strei- 
chen und  zufrieden  sein,  gemäß  seiner  Wertschätzung  an  Spinoza 
einen  klugen  Bocher  und  an  Heine  einen  talentvollen  Bänkel- 
sänger zu  besitzen? 

Diese  biographischen  Notizen  lassen  wenig  Vertrauen  auf- 
kommen zu  den  Tendenzen  und  Methoden  des  Bannerträgers 
der  Germanentheorie  und  seiner  Lehre  von  der  Rassenminder- 
wertigkeit der  Juden.  Aber  die  Gerechtigkeit  kennt  nicht  den 
Täter  sondern  nur  die  Tat,  nicht  den  Theoretiker  sondern  nur 
die  Theorie. 

JL)ie  entwicklungsgeschichtlichen  Voraussetzungen  für  die 
Germanentheorie  gibt  Wilser  in  seinem  zweibändigen  Werk 
„Die  Germanen".  Wie  alle  Germanentheoretiker  beginnt  er 
statt  mit  Tatsachen  mit  einem  Programm,  als  eröffne  er  einen 
Parteitag    und    nicht    eine    wissenschaftliche    Beweisführung. 

38 


« 


Er  bezeichnet  seine  Lebensleislung  als  einen  „Kampf  gegen 
den  Irrtum  gleich  dem  mit  dem  Drachen",  in  dem  er  „im 
Bewußtsein  seines  durchaus  selbstlosen,  ohne  Rücksicht  auf 
eigenen  Vorteil  nach  den  höchsten  Zielen  gerichteten  Strebens 
allmählich  gegen  grundlose  Verunglimpfungen  giftfest  geworden 
sei".  Nichts  erschiene  ihm  „schmachvoller,  nichts  verwerf- 
licher als  eine  Fälschung  der  Wissenschaft  zur  Verherrlichung 
des  eigenen  Volkes",  aber  „eine  von  verschiedenen  Seiten 
ausgehende  mit  strengster  Sachlichkeit  unternommene  For- 
schung" weise  seinen  Vorfahren  „eine  eigenartige  hervorragende 
Stellung  im  Kreise  der  Völker  an".  Schließlich  betont  er, 
daß  „in  all  den  heftigen  Angriffen,  die  meine  für  viele  Leute 
sehr  unbequeme  Lehre  auszuhalten  hatte,  kein  einziger  wissen- 
schaftlich stichhaltiger  Gegengrund  zu  finden  war"  —  welch 
stolzes  Zeugnis,  wenn  man  bedenkt,  daß  selbst  ein  Newton, 
der  ein  Weltgesetz  gefunden,  sich  im  Alter  als  einen  Knaben 
bezeichnet  hat,  der  am  großen  Meer  des  Unerforschlichen 
hie  und  da  eine  bunte  Muschel  der  Erkenntnis  vom  Strande 
aufgehoben.  Soll  man  einen  Mann,  der  von  der  Unantastbar- 
keit der  Wissenschaft  im  allgemeinen  und  seiner  eigenen  im 
speziellen  so  felsenfest  durchdrungen  ist,  beneiden  oder  soll 
man  ihn  bedauern? 

Auf  knapp  fünf  Seiten  entwickelt  Wilser  folgenden  Gedanken- 
gang, Da  die  Abkühlung  der  Erde  von  den  Polen  ausgegangen 
ist,  so  müssen  „an  den  Küsten  des  Nordmeeres  aus  Wasser- 
tieren ...  die  ersten  Landbewohner  entstanden  sein".  Warum 
gerade  an  den  Küsten  des  Nordmeeres  und  nicht  am  Südpol? 
„Wären  beide  Pole  von  Meeresfluten  bedeckt,  so  müßten  wir 
notwendigerweise  zwei .  .  .  getrennte  Schöpfungsherde  anneh- 
men (nämlich  einen  am  Nordpol  und  einen  am  Südpol),  Nach 
den  bisherigen  Ergebnissen  der  Kundfahrten  von  Amundsen 
und  anderen  fällt  aber  der  Südpol  auf  ein  hochansteigendes, 
rings  von  tiefem  Meer  umgebenes  Festland,  und  weder  Tier- 
welt noch  Pflanzenwuchs  lassen  auf  zwei  verschiedene  Ent- 
wicklungsgebiete schließen."  Folglich  ist  der  Norden  die  Ge- 
burtsstätte des  Lebens  und  die  Heimat  aller  Schöpfung  bis 
hinauf  zum  Idealtyp  des  Germanen. 

Auf  diese  phantastische  Ouvertüre  folgt  eine  Theorie  der 
Eiszeiten,  die  ebensoviel  und  ebensowenig  wert  ist  wie  alle 
anderen  Theorien  über  dieses  noch  völlig  dunkle  Phänomen,  und 
wird  als  ein  neues  Glied  in  die  Gedankenkette  der  Germanen- 
Theorie  eingefügt  mit  den  lakonischen  Worten :  „Das  ist  die  eia- 

39 


fachste  Erklärung  der  Eiszeit .  .  .  Von  den  vielen  anderen  Er- 
klärungsversuchen kann  kein  einziger  völlig  befriedigen,  und 
wir  sehen  daher  .  .  .  am  besten  von  allen  gewaltsamen  und  plötz- 
lichen Veränderungen  ab"  —  ein  für  den  Stil  der  Germanen- 
theoretiker typischer  Satz.  Aus  einer  Fülle  von  Hypothesen 
über  Probleme,  die  jeder  Lösung  spotten  und  in  denen  daher 
der  Spekulation  der  Forscher  schrankenloser  Spielraum  gewährt 
ist,  suchen  sie  die  eine  ihnen  passende  Hypothese  heraus  „und 
sehen  daher  von  allen  anderen  Erklärungsvereuchen  ab"  und 
schreiten  auf  diesem  Wege  der  Willkür  unbekümmert  um  alles 
Hallo  der  kritischen  Wissenschaft  weiter,  als  sei  er  der  Pfad  der 
Wahrheit,  Nachdem  nun  ausdrücklich  —  übrigens  in  krassem 
Widerspruch  zu  allen  wissenschaftlichen  Voraussetzungen  — 
betont  wird:  „Sicher  haben  sich,  seit  es  Festländer  gibt,  die 
Umrisse  derselben  nicht  wesentlich  verändert",  fährt  die  Be- 
weisführung in  merkwürdigem  Gegensatz  hierzu  fort:  „Nach  der 
Beschaffenheit  der  den  Nordpol  umgebenden  Länder  dürfen  wir 
annehmen,  daß  die  Niederungen  von  Sibirien  und  des  östlichen 
Amerika  einst  vom  Meere  überflutet  waren,  daß  dagegen  die  fel- 
sige Nordspitze  von  Europa  .  .  .  viel  weiter  nach  Norden  sich  er- 
streckt hat.  Nur  noch  vereinzelte  Trümmer  dieses  großen  Nord- 
landes . .  .  ragen  heute  aus  den  Fluten  hervor  . .  .  Dort  an  den 
äußersten  Nordlandsküsten  hat  wie  gesagt  ( !)  die  Anpassung  von 
Wasser tieren  an  das  Leben  auf  dem  Land  stattgefunden.  Dort 
waren  auch  ...  die  meisten  und  wirksamsten  Anstöße  zur  unauf- 
haltsamen Fortentwicklung  der  Lebewesen  gegeben,  und  gerade 
die  Einschränkung  des  Wohngebietes  im  Verein  mit  der  eigenen 
Vermehrung  trieb  diese  zu  wiederholten,  allmählich  alles  zugäng- 
liche Land  überflutenden  und  bevölkernden  Auswanderungen". 
Also  nicht  erst  seit  geschichtlichen  Zeiten,  sondern  schon  vor 
vielen  Millionen  Jahren  haben  die  hier  oben  in  Germanien  ge- 
schaffenen Häupter  der  Entwicklung,  Tausendfüßler  und  Krebse^ 
Rochen  und  Haie,  Krokodile  und  Nashörner,  Büffel  und  Beutel- 
ratten, Makaks  und  Orangs  ihre  Germanenwanderungen  über 
den  Erdball  angetreten  und  alle  Meere  und  Kontinente  wie 
ihre  späteren  blonden  zweibeinigen  Heldenenkel  mit  den  Seg- 
nungen des  Lebens  und  des  Fortschritts  beglückt.  Und  Pro- 
fessor Wilser  beschreibt  all  dieses  Werden  und  Wandeln  so  an- 
schaulich, als  sei  er  vor  hundert  Millionen  Jahren  hier  oben  mit 
dem  Bädeker  unter  dem  Arm  in  der  Arktogaea  herumgereist  und 
habe  Jahrtausende  lang  von  hoher  Felsenklippe  der  Entwicklung 
und  den  Wanderungen  seiner  vierf üßigen  Vorfahren  zugeschaut. 

40 


Aber  die  Tierwelt  hat  im  begnadeten  Norden  nicht  nur  ihren 
Ursprung  genommen  sondern  auch  ihre  Vollendung  gefun- 
den ...  „Daß  das  Tierleben  an  seinem  Ursprungsort  auch 
zuerst  den  höchsten  Gipfel  der  Entwicklung  erreicht  haben  muß, 
habe  ich  schon  vor  Jahren  durch  folgendes  Gleichnis  anschaulich 
zu  machen  versucht:  lassen  wir  aus  einem  Trichter  Streusand 
auf  eine  ebene  Fläche  rieseln,  so  entsteht  ein  nach  allen  Seiten 
hin  abgeflachter  Hügel,  der  da  am  höchsten  ist,  wo  die  ersten 
Sandkörner  aufgefallen  sind."  Ein  seltsamer  Einfall,  die  Ent- 
wicklung einer  wandernden  Tierwelt  durch  ein  physika- 
lisches Phänomen  zu  begründen,  das  eben  dadurch  in  Er- 
scheinung tritt,  daß  die  fallenden  Partikel  nicht  wandern, 
sondern  sich  an  Ort  und  Stelle  häufen!  Der  gesunde  Men- 
schenverstand muß  doch  selbst  bei  der  ganz  indiskutablen 
Prämisse  einer  pyramidenförmigen  Ausstrahlung  der  Tierwelt 
mit  der  Spitze  in  Germanien  gerade  in  den  Wanderungen  mit 
ihrem  Milieuwechsel  den  stärksten  Antrieb  für  die  Entwick- 
lung und  Vielgestaltung  des  Tierreichs  in  den  verschie- 
densten Zonen  der  Erde  ohne  bedingungslose  Vorherrschaft 
einer  Klasse  und  einer  Rasse  erblicken. 

Nachdem  Wilser  hierauf  die  Ausbreitung  der  Wirbeltiere 
nach  Süden  ausführlich  geschildert  hat,  kommt  er  auf  den 
Menschen  zu  sprechen:  „Daß  gerade  in  diesen  (nämlich  den 
südlichsten)  Breiten  auch  die  niedersten  Menschenrassen  hausen 
...  ist  ein  Beweis  dafür,  daß  der  Mensch  .  .  .  sich  in  ähnlicher 
Weise  wie  niedere  und  höhere  Wirbeltiere  über  den  Erdball 
verbreitet,  daß  dort  (nämlich  im  Norden),  wo  der  erste  Lurch 
im  Schlamm  gekrochen,  das  erste  Säugetier  durch  Lungen- 
atmung warmblütig  geworden  ist,  auch  der  Urmensch  sich 
aufgerichtet  und  auf  die  Beine  gestellt  hat.  Dazu  stimmt,  daß 
alle  höheren  Rassen  aus  dem  Norden  gekommen  sind,  der  Hei- 
mat der  weltbeherrschenden  Kulturvölker.  Die  letzte  Welle 
des  nordischen  die  Erde  belebenden  Stromes  fällt  ins  volle 
Licht  der  Geschichte  und  wird  , germanische  Völkerwanderung* 
genannt."  Wie  luftig  und  lustig  ist  diese  Germanentheorie. 
Aus  der  Tatsache,  daß  die  niedersten  Menschenrassen  heute  auf 
den  Südseeinseln  gefunden  werden,  wird  der  Schluß  gezogen, 
der  Mensch  habe  sich  auf  der  entgegengesetzten  Seite  der  Welt- 
kugel „an  den  Küsten  des  Nordmeeres"  entwickelt  —  ein 
Saltomortale  der  Logik  von  Pol  zu  Pol,  bei  dem  sich  der 
Gedankenakrobat  unfehlbar  seine  Wirbelsäule  brechen  muß 
—  wenn    er  kein  Kautschukmännchen   ist.     „Dazu  stimmt" 

41 


gar  nicht,  ,,daß  alle  höheren  Rassen  aus  dem  Norden  ge- 
kommen sind".  Die  Weltgeschichte  lehrt  das  Gegenteil.  Diesem 
Satz  widersprechen  in  der  Geschichte  ebenso  viele  Jahrtausende, 
wie  ihm  Jahrhunderte  zuzustimmen  scheinen. 

Wir  sind  nicht  einmal  imstande,  die  Naturerscheinungen 
der  Gegenwart,  die  sich  vor  unsern  Augen  abspielen,  auch  nur 
einigermaßen  in  ihren  Relationen  zu  begreifen;  eine  „wissen- 
schaftlich unanfechtbare"  Prähistorie  in  der  Wilser'schen  De- 
taillierung zu  entwerfen,  ist  ein  Unternehmen,  das  an  die 
Kletterkunststücke  eines  Nachtwandlers  erinnert:  nur  jemand, 
der  keine  Ahnung  von  ihren  Schwierigkeiten  besitzt,  kann  sie 
ausführen.  Entwicklungsgeschichtliche  Voraussetzungen  wie 
die  von  Wilser  können  immer  nur  Hypothesen  von  Hilfswert 
sein,  an  die  man  einzig  die  Forderung  der  Logik,  aber  nie  das 
Postulat  der  Wahrheit  stellen  kann.  Mit  einer  „Forschung 
strengster  Sachlichkeit",  gegen  die  „kein  einziger  wissenschaft- 
lich stichhaltiger  Gegengrund  zu  finden  war",  haben  die 
naturwissenschaftlichen  Dilettantismen  Wilsers  so  wenig  ge- 
meinsam wie  ein  Theaterdonner  mit  einem  echten  Gewitter. 

Die  Wilser'sche  Vorgeschichte  ist  eine  moderne  Germanen- 
mythologie und  kann  als  Mythe  keinen  Anspruch  erheben, 
Gegenstand  wissenschaftlicher  Kritik  zu  sein.  Sie  ist  hier  nur 
in  kürzester  Skizzierung  als  Prolog  vorangestellt,  um  mit  dem 
Geist  der  „Wissenschaftlichkeit"  vertraut  zu  machen,  der  uns 
im  Reich  der  „Politischen  Anthropologie"  umfängt ;  um  die  Fun- 
damente aufzudecken,  auf  denen  jene  wissenschaftliche  Theorie 
aufgebaut  ist,  die  heute  den  tonangebenden  Kreisen  des  deutschen 
Volkes  ihren  Standpunkt  in  der  Rassenfrage  anweist. 

W  as  sich  vor  dem  Sonnenaufgang  der  Geschichte  abgespielt,  ist 
uns  verhüllt.  Gegenstand  der  Diskussion  können  nur  historisch 
prüfbare  Tatsachen  sein.  Auf  drei  Säulen  ist  das  Gebäude 
der  Germanentheorie  errichtet:  1.  Die  Germanenwanderungen; 
2.  Die  Verbreitung  germanischer  Typen  unter  allen  Kultur- 
völkern; 3.  Die  Germanennatur  der  Genies  aller  Völker  und 
Zeiten. 

Daß  Germanen  gewandert  sind,  steht  geschichtlich  fest. 
Aber  die  Tatsache  der  Germanenwanderungen  in  den  Jahr- 
hunderten um  Christi  Geburt  berechtigt  in  keiner  Weise  zu  der 
Annahme,  daß  auch  Jahrtausende  vordem  solche  Wanderzüge 
stattgefunden  haben.  Völkerwanderungen  sind  keine  Rassen- 
eigentümlichkeit und  insbesondere  keine  germanischen  Wesens; 

42 


-wandern  doch  selbst  Ratten  und  Heuschreckenvölker;  Völker- 
Avanderungen  in  der  Kulturgeschichte  sind  nichts  anderes 
als  das  Symptom  eines  bestimmten  Kulturzustandes.  Wie 
die  Kinder,  wenn  sie  mannbar  werden,  das  Vaterhaus  ver- 
lassen und  sich  in  der  Welt  eine  Heimat  suchen,  weil  im  Hause 
zu  viel  Brüder  sind,  um  beisammen  zu  wohnen,  so  wandern 
die  Völker  in  der  Pubertätszeit  ihres  Lebens,  wenn  der  Be- 
tätigungsdrang, der  „Wille  zur  Macht",  in  ihnen  erwacht,  aus 
der  durch  natürliche  Fruchtbarkeit  überfüllten  Heimat.  Die  Reife- 
zeit eines  jeden  Volkes  setzt  mit  solchen  Lehr-  und  Wander- 
jahren ein.  Die  Geschichte  Babylons  beginnt  mit  der  Einwande- 
rung von  Semiten  in  das  Kulturgebiet  von  Sumer  und  Akkad; 
die  griechische  Geschichte  mit  der  dorischen  Wanderung,  die 
Geschichte  Roms  mit  der  Aenöis,  die  Geschichte  Japans  mit 
dem  Übersetzen  der  Chinesenstämme  auf  die  Inseln  der  Ainos, 
so  wie  die  Geschichte  Englands  mit  den  Zügen  der  Angeln, 
Sachsen,  Dänen  und  Normannen  nach  Albion  anhebt;  die  Sipp- 
schaft Abrahams  wandert  vom  südlichen  Chaldäa  in  das  nörd- 
liche Mesopotamien,  Israel  wandert,  „ehe  es  ein  Volk  ward", 
40  Jahre  durch  die  Wüste.  Die  Araber  durcheilen  die  Welt  im 
Siegeslauf,  die  Hunnen  kommen  von  Asien  bis  über  den  Rhein, 
die  Türken  dringen  bis  Wien  vor,  die  Geschichte  Amerikas  be- 
ginnt mit  dem  Zustrom  der  Europäer  in  die  Neue  Welt.  Die 
Malayen  haben  sich  in  den  wenigen  Jahrhunderten  unserer 
Beobachtung  über  weite  Gebiete  des  Erdballs  verbreitet,  die 
afrikanischen  Bantu-Rassen  über  zwei  Drittel  der  Nord-Süd- 
Länge  Afrikas  hingeschoben. 

Aber  selbst  angenommen,  Germanen  seien  in  früheren  Zeiten 
weit  in  die  Welt  gewandert  —  es  kommt  ja  gar  nicht  darauf  an, 
daß  sie  gewandert  sind,  sondern  ob  sie  hierdurch  merklichen 
Einfluß  auf  die  Kultur  der  fremden  Völker  gewannen.  Selbst 
wenn  sich  einmal  durch  Serumproben  germanisches  Blut  unter 
den  Mongolen  nachweisen  ließe,  wäre  das  noch  lange  kein  Be  v  es 
von  germanischem  Einfluß  auf  die  asiatischen  Kulturen.  Neh- 
men wir  an,  die  Mongolen  tragen  in  einem  kommenden  Ring  en 
der  Rassen  den  Sieg  über  die  Weißen  davon.  Sie  stellen  in  ihrem 
Siegesrausch  Mongolentheorien  auf  und  erklären  die  europäische 
Kultur  für  eine  Großtat  der  gelben  Rasse,  weil  Attilas  Reiter- 
scharen  dereinst  in  Europa  nordischen  Busen  und  Leib  be- 
herrschten. Der  klein  gewachsene  Kant,  der  breitgesichtige 
strähnenhaarige  Beethoven,  der  kleine  rundköpfige  Menzel  Mon- 
golen in  der  ,, beweisbaren"  Theorie   der  künftigen  Mongolen- 

43 


Iheoretiker!  Die  vor  Jahrtausenden  in  alle  Weitteile  gewan- 
derten Germanen  sollen  in  Ostasien,  Zentralamerika,  am 
Euphrat  und  in  Hellas  Kulturen  geschaffen  haben  —  warum, 
so  fragt  man  sich,  taten  sie  es  nicht  in  ihrem  eigenen  Heimat- 
land ?  Warum  wanderten  sie  erst  nach  Indien,  China,  Peru,  um 
ihre  Schöpferkraft  zu  erweisen  ?  Warum  so  weit  und  am  wei- 
testen zuerst?  Warum  fangen  sie,  aller  Logik  der  Geschichte 
zum  Hohn,  am  entgegengesetzten  Ende  der  Welt  zu  kolonisieren 
an?  Schien  nicht  auch  in  Italien  die  Sonne?  Winken  nicht 
auch  in  Spanien  Trauben  und  Orangen?  Und  wo  blieben  all 
die  Millionen  und  Abermillionen  Germanen,  die  zu  dieser  Welt- 
ballkultivierung hinausgezogen  sein  müssen,  zumal  sie  doch 
überall  sieghaft  waren  ?  Nicht  ein  einziges  winziges  Stämmchen 
hat  sich  irgendwo  in  einem  Bergland  oder  auf  einer  Insel  rein  er- 
halten. Warum  gründeten  sie  nirgendwo  ein  Reich  spezifisch 
germanischer  Kultur?  Seltsam,  wohin  Griechen  und  Römer 
kamen,  blieben  sie  Griechen  und  Römer  und  verpflanzten  sie 
griechischen  Geist  und  römische  Art;  die  Japaner,  die  die  Aino- 
Inseln  erstiegen,  verleugnen  noch  heute  nicht  ihre  chinesische 
Herkunft.  Die  Europäer,  die  nach  Amerika  gekommen  sind, 
haben  die  Indianer  verdrängt  und  ihre  sieghafte  Rasse  erhalten 
und  ihre  Kultur  begründet.  Sie  haben  die  Neger  nicht  zu 
Gentlemen  gemacht  und  die  Indianer  nicht  zu  Mathematik- 
professoren. Aber  die  Wandergermanen  ?  Sieghaft  dringen  sie 
ein,  schütteln  wie  die  japanischen  Gaukler  auf  dem  Variete  die 
bunten  Bälle,  Seifenblasen,  Silberkugeln  der  Kultur  über  das 
Parterre  der  Barbaren  —  und  verschwinden  dann  spurlos  wie 
die  Feen  des  Märchens,  die  ihren  Schützling  beglückten.  Und 
was  noch  seltsamer  ist:  diese  blonden  Germanen  spielen  in 
China  über  Silberbrücken  nachts  auf  Jadeflöten  Sehnsuchts- 
lieder und  hauchen  mit  dem  Tuschepinsel  über  Seidenschirme 
Mondscheinszenen  —  Nippesfigurenkultur  —  und  wenige  Grade 
davon  verneinen  sie,  als  Brahmanen  in  des  Daseins  tiefste  Rätsel 
versenkt,  das  Dasein.  In  Babylon  richten  die  „germanischen" 
Amoriterkönige  Quader  auf  Quader,  weltlicher  Größe  despotisches 
Mal,  und  wenige  Tagereisen  daneben  sitzen  ihre  lockigen  Brüder 
als  Propheten  Judas  im  Staub  und  beweinen  die  Hinfälligkeit 
des  Menschen,  der  so  vergänglich  ist  wie  Gras  und  welkend  wie 
die  Blume  des  Feldes.  Hier  fluchen  sie  dem  Bildnis  der  Gottheit 
und  eine  Sonnenstunde  weiter  wandeln  sie  als  Hellenen  zwischen 
den  Statuen  und  Säulen  ihrer  himmlischen  Idole.  Kinder  eines 
Geschlechtes  dichten  im  Osten  Kirschblütenlyrik  und  in  Indien. 

44 


Vedenweisheit,  in  Judäa  Psalmen  und  in  Persien  Schenkenlieder, 
Schicksalsdramen  in  Hellas  und  Spielcharaden  am  Khalifenhof, 
in  der  Provence  laszive  Troubadourgesänge  und  im  Norden 
herb-keusch-kühle  Minnelyrik.  Der  Weinstock  trägt  Trauben, 
ob  man  ihn  an  den  Ufern  des  Rheines  pflanzt  oder  an  den  Hängen 
des  Hymettos.  Aber  dieser  Wechselbaum  trägt  die  Früchte  der 
Gärten,  darein  man  ihn  setzt.  Er  grünt  in  Spanien  als  Zitrone, 
in  Hellas  als  Ölbaum,  in  Indien  als  Lotos  und  in  Japan  als 
Chrysanthemum.  Diese  Schar  von  lockigen  Löwen  wird  zu 
Lämmern,  wenn  sie  in  eine  Schafherde  einbricht,  und  zu  Feder- 
vieh, wenn  sie  einen  Hühnerhof  überfällt.  Seltsam  Geschlecht, 
diese  Wandergermanen !  Proteus,  der  tausendgestaltige,  ewig  sich 
wandelnde,  schämt  sich  vor  ihnen. 

Andere  Völker  sehen  wir  werden;  mühsam  ringen  sie  sich 
empor;  aus  Barbaren  werden  Bauern,  aus  Bauern  Bürger,  aus 
Bürgern  Künstler  und  Gelehrte.  In  der  Gesetzmäßigkeit  eines 
Lebenslaufes  sehen  wir  sie  ihres  Daseins  Kreise  vollenden. 
Aber  diese  Wandergermanen  werden  nicht,  sie  sind.  Wie 
Athene  aus  dem  Haupt  des  Zeus  springen  sie  göttlich  vollendet 
hervor  aus  der  blondumlockten  Stirn  Europas.  Sie  altern  nicht, 
sondern  ewig  jung  wie  die  Olympier  wandeln  sie  seit  Jahrtausen- 
den zwischen  den  sterblichen  Völkern  der  Erde  und  kredenzen 
ihnen  das  Ambrosia  der  Kultur.  Um  so  seltsamer,  da  wir  doch 
sehen,  wie  der  Heimatstamm  dieser  Germanen,  nachdem  er,  einer 
kinderreichen  Mutter  gleich,  einen  Sohn  nach  dem  andern  zu 
glänzendem  Schicksal  hinausgesendet  in  die  Welt,  endlich  als 
letzter  nun  selber  erwacht  und  wie  er  nun,  mühsam  und  schwer- 
fällig wie  sein  Blut  ist,  um  jene  Offenbarungen  der  Kultur  zu 
ringen  hat,  die  er  doch  selber  so  oft  schon  der  Welt  geschenkt, 
mühsamer  als  der  bewegliche  Grieche,  als  der  ehrgeizige  Römer 
und  der  leicht  fassende  Jude.  Und  er  als  erster  von  allen  germa- 
nischen Stämmen  entwickelt  germanisches  Wesen.  Nichts  von 
dem,  was  seine  Kinder  schufen,  ist  in  ihm.  Seine  Kultur  ist 
nicht  chinesisch,  nicht  indisch,  nicht  palästinensisch  und  nicht 
hellenisch,  sein  Geist  ist  germanisch,  sein  Wesen  ist  —  sein. 

Auf  dem  schwanken  Floß  ihrer  Wanderhypothese  segeln  die 
Germanentheoretiker  zwischen  Scylla  und  Charybdis.  Scylla, 
die  harte  Klippe  nackter  Tatsachen  —  Charybdis,  der  grund- 
lose Strudel  geschichtlicher  Metaphysik. 

Scylla.  Soweit  der  historische  Blick  zurückreicht,  sehen  wir 
in  Europa  Völkerwanderungen  und  Völkermischungen,  Kriegs- 

45 


und  Kreuzzüge,  friedliche  und  feindliche  Invasionen,  Okkupa- 
tionen, Kolonisationen,  Okulationen  und  Bastardiorungen  in 
einer  Fülle,  die  jede  Rassesichtung  unmöglich  macht. 

Sobald  man  der  Rassengeschichte  irgend  eines  europäischen 
Volkes  nachspürt,  verliert  man  sich  rasch  in  undurchdringlichem 
Dunkel.  Die  Anfänge  Roms  sind  rassengeschichtlich  ebenso  ein 
ewiges  Geheimnis  wie  die  Ursprünge  Griechenlands,  Galliens 
oder  Germaniens.  Wer  waren  die  Pelasger?  Wer  die  Dorer? 
Wer  waren  die  Etrusker,  denen  sich  die  römischen  Zu  wand  erer  auf- 
pfropften ?  Corssen  betrachtet  sie  als  Italiker,  Bugge  als  Armenier, 
Weltmann  als  Arier,  Wirth  als  schlitzäugige  Kaukasus-Andi, 
Tylor  als  ein  Altaivolk,  Brinton  als  Libyer,  Wilser  als  Thra- 
kier,  Yanelli  als  Semiten,  Frauer  als  lydische  Hethiter,  nach 
Flizier  waren  sie  nichts  von  alledem  —  welch  eine  Harmonie 
der  Stimmen!  Wer  und  was  sind  die  Kelten,  die  sich  etwa  ein 
halbes  Jahrtausend  v.  Chr.  über  das  heutige  Frankreich,  Belgien 
und  England  ausgebreitet  haben  und  hier  über  einer  uns  ganz 
unbekannten  Unterschicht  von  Urrassen  den  Grundstock  der 
heutigen  Bevölkerung  bilden?  Die  Germanentheoretiker  miß- 
brauchen sie  so  gerne  als  dunkle  Kehrseite  für  die  lichte  Medaille 
ihres  Germanenideals  —  in  Wahrheit  wissen  wir  aber  auch  nicht 
ein  Sterbenswörtchen  über  sie.  Renan  rühmt  am  Kelten  ,,die 
Anmut  der  Phantasie,  das  Ideal  von  Sanftmut  und  Schönheit 
als  höchsten  Lebenszweck,  die  reizende  Schamhaftigkeit  und 
Weiblichkeit",  Fouillet  an  ihm  die  ,, friedliche  Natur,  Wunden 
und  Beulen  sind  nicht  sein  Geschmack.  Er  hegt  kein  Verlangen 
die  Welt  zu  durchstreifen,  Pfeile  gen  Himmel  zu  senden  oder  mit 
dem  Meere  zu  kämpfen.  Er  liebt  den  Heimatboden  und  hängt 
an  seiner  Familie."  Über  eben  dasselbe  Volk,  dieses  „Ideal 
von  Sanftmut,  Schönheit,  Schamhaftigkeit  und  Weiblichkeit" 
schreibt  Grant  Allan :  „Der  Kelte  nährt  eine  unbezähmte  Leiden- 
schaft für  Abenteuer  und  Gefahren",  und  Finot  kommt  nach  dem 
Studium  aller  Quellen  zu  dem  Schluß,  ,,daß  sie  schlecht  und 
recht  brutale,  dem  Kampf  leidenschaftlich  ergebene  Barbaren 
waren.  Als  man  an  der  Hand  neuerer  Funde  dem  häuslichen 
Leben  der  Kelten  nachspürte,  war  man  überrascht  über  ihre 
Verachtung  der  Frau  und  ihre  geschlechtlichen  Neigungen. 
Die  Gattin  ist  zu  einem  bloßen  Instrument  zur  Erzeugung  männ- 
licher, für  den  Krieg  notwendiger  Sprößlinge  herabgesetzt.  Die 
Frau  wird  verhandelt  und  geht  von  Hand  zu  Hand  um  den  ge- 
wohnten Preis  von  drei  Stück  Hornvieh."  Chamberlain  weist  des. 
Langen  und  Breiten  nach,  daß  die  Kelten  den  Germanen  brüder- 

46 


lieh  verwandt  und  in  den  weiteren  Begriff  der  Germanen  einzu- 
rechnen seien.  Driesmans  dagegen,  der  das  Keltenproblem  in 
umfangreichen  Werken  bearbeitet  hat,  entwickelt  die  ganze 
europäische  Kulturgeschichte  als  einen  Rassenkampf  zwischen 
Germanen  und  Kelten,  in  dem  die  Kelten  als  die  mephistophe- 
lischen Antipoden  des  faustischen  Germanen  hingestellt  wer- 
den. Der  Franzose  Thierry  wiederum,  der,  wie  Driesmans  und 
Chamberlain  von  Germanen,  von  den  Kelten  abzustammen 
meint,  verherrlicht  die  Kelten  als  die  Helden  Europas,  und 
zwar  mit  fast  wörtlich  denselben  Ausdrücken,  mit  denen  der 
Deutsche  Giesebrecht  —  die  Germanen  verhimmelt.  Zehn  an- 
dere Schriftsteller  urteilen  über  die  Kelten  und  Germanen  zehn- 
mal anders. 

„Was  ihr  den  Geist  der  Zeiten  heißt, 

Das  ist  im  Grund  der  Herren  eigner  Geist." 

Den  Kelten  rückten  die  Germanen  nach  und  ergossen  sich 
über  sie  wie  eine  zweite  Welle  über  die  erste.  Wer  waren  die 
Germanen?  In  welchem  Verhältnis  stehen  sie  anthropologisch 
za  den  Kelten  und  übrigen  Völkern  der  Zeitgeschichte?  Wir 
wissen  über  sie  so  gut  wie  nichts.  Tacitus'  tendenziöse  Sitten- 
schilderung, die  wissenschaftlich  vielleicht  nicht  mehr  Anspruch 
auf  Wahrheit  erheben  kann  als  die  Beschreibung  der  glück- 
lichen Südseeinsulaner  durch  St.  Pierre  in  „Paul  und  Virginie", 
ist  fast  die  einzige  „authentische"  Quelle  unserer  Kenntnisse. 

Nachdem  sich  über  die  unbekannten  Vorrassen  die  unbe- 
kannten Kelten  und  über  diese  die  unbekannten  Germanen 
ergossen  hatten,  infiltriert  sich  Mitteleuropa  von  Norden  her 
durch  seine  Flußläufe  mit  Normannenblut.  Wer  waren  diese  Fluß- 
piraten, die  ein  Jahrtausend  lang  Nordeuropa  brandschatzten? 
Waren  sie  eine  Rasse  oder  eine  Nation,  lose  zusammenhängende 
nomadisierende  Stämme  —  oder  ist  Normanne  überhaupt  nur 
ein  Sammelbegriff  für  Seeräuber  wie  die  Ausdrücke  Hunnen, 
Beduinen,  Indianer?    Niemand  weiß  es. 

Unterdes  breitet  sich  wie  ein  Terpentintropfen,  den  man  auf 
eine  Palette  geträufelt  hat  und  der  sich  nun  nacheinander  mit 
allen  Farben  mengt,  über  die  Rassenpalette  Europas  von  seinem 
italischen  Zentrum  der  römische  Eroberer  aus,  und  nun  beginnt 
die  große  Mixtura  omnium.  Wie  ein  Tanz,  der  würdevoll  im 
Andantino  anhebt,  dann  immer  rascher  wirbelt  und  schließlich 
in  einem  Furioso  entfesselter  Leidenschaften  endet,  verläuft  auf 
der  Bühne  des  römischen  Welttheaters  der  Reigen  der  Rassen- 

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mischung.  Jahrhundertelang  werden  —  indes  der  Republikaner 
noch  stolz  als  civis  romanus  seine  „Rasse"  rein  hält  —  Sklaven 
aus  aller  Herren  Ländern  nach  Italien  importiert  und  zeugen 
hier  das  bunteste  Bastardvolk  der  Weltgeschichte.  In  den  Spät- 
zeiten der  Republik  strömt  durch  die  Mischehen  der  Beamten 
und  Soldateska  in  allen  Provinzen  des  weiten  Reiches  Blut 
aller  Rassen  des  Erdkreises  in  das  Herz  der  Welt  nach  Rom. 
In  der  Cäsarenzeit  beginnt  die  Promiskuität:  die  Sklaven  wer- 
den frei,  die  Bastarde  steigen  auf  zu  Ämtern  und  Würden;  Prin- 
zessinnen empfangen  in  den  Armen  numidischer  Prätorianer, 
der  blonde  Barbar  wird  der  Buhle  des  römischen  Mädchens, 
die  Orientalin  die  Konkubine  des  Patriziersohns  .  .  .  die  große 
Weltparade  der  römischen  Geschichte  endigt  in  einer  Orgie  der 
Leiber. 

Wie  Räuberscharen  auf  das  Signal,  daß  die  Gäste  eines  Festes 
trunken  sind,  durchTüren  und  Fenster  hereinstürzen,  brechen  über 
dieses  italische  Bacchanal  der  Völker  von  allen  Seiten  die  Barbaren 
herein  und  vergewaltigen  die  widerstandsschwachen  Bastarde. 
Von  Norden  die  Cimbern,  Teutonen,  Franken,  Vandalen,  Goten 
und  Avaren,  von  Osten  die  Thrakier  und  Dacier,  aus  Asien  die 
Scharen  der  jüdischen  Christen  mit  ihren  syrischen,  ägyptischen, 
griechischen  Proselyten,  von  Süden  Nubier,  Numidier  und 
Mauretanier,  von  den  nordischen  Gewässern  her  die  Normannen 
—  Jahrhunderte  lang  brodelt  wie  ein  Gebräu  in  einem  Kessel 
diese  Mixtur  der  Rassen  aus  allen  Breiten  des  Orients  und  Occi- 
dents.  Eben  vielleicht  wieder  beginnt  das  seltene  Gemisch  zu 
einem  Einheitsstoff  sich  zu  verkochen,  da  strömen  neue  Flüsse 
hinzu :  von  Osten  in  heftigem  Schwall  die  gelbe  Flut  der  Hunnen, 
von  Süden  das  Sepia  arabischen  Blutes.  Kein  Strich  Landes 
bleibt  von  ihnen  verschont.  Ebenso  weit  wie  die  Hunnen  von 
Osten  drängen  die  Araber  von  Westen  herein.  Wären  sie  statt 
durch  drei  Jahrhunderte  getrennt  zu  gleicher  Zeit  gekommen, 
hätten  sich  ihre  Vorposten  in  der  Champagne  gegenüber- 
gestanden. Beide  sitzen  Jahrhunderte  am  Stamm  Europas  wie 
schmarotzender  Schwamm  und  haben  unauslöschlich  das  Blut 
der  weißen  Rasse  infiziert.  Allenthalben  in  Süddeutschland 
sieht  man  die  Spuren  der  Herrschaft  von  Etzels  Reiterscharen 
über  die  Töchter  des  Landes;  überall  im  Süden  von  Frankreich 
die  Tyrannei  der  Sarazenen,  die  hier  mit  Feuer  und  Schwert  und 
dem  Samen  ihres  Leibes  vor  tausend  Jahren  Proselyten  gemacht. 
Was  von  diesen  beiden  verschont  geblieben,  wurde  die  Beute  der 
flußbefahrenden    Normannen,   die   im    Norden   nicht    weniger 

48 


Land  und  Leiber  tyrannisierten  als  im  Süden  Mongolen  und 
Mauren.  Um  die  Wirkung  dieser  Infusionen  nicht  zu  unter- 
schätzen, bedenke  man,  daß  die  Urbevölkerung  durch  die  Jahr- 
hunderte währenden  Wanderungen,  Kriege  und  Versklavungen 
spärlich  geworden  war.  Fremde  regierten  das  Land.^) 

Das  war  die  Hochzeitsnacht  Europas.  Und  der  Saal  des 
wilden  Festes  war  der  Edelgrund  der  nordischen  Rasse,  war  das 
Land  zwischen  Elbe  und  Loire,  wo  die  Franken  saßen,  die  einst 
Frankreich  seinen  Namen  geben  sollten,  und  die  Allemannen, 
die  die  „Allemands"  geworden.  Germanische  Rassenreinheit  — 
keltischer  Rassencharakter  —  Ammenmäre.  Finot  zählt  59  ver- 
schiedene Völker  aus  allen  Gegenden  der  Erde  auf,  die  sich  an 
der  Zusammensetzung  der  heutigen  Bevölkerung  Frankreichs 
beteiligt  haben.  „Als  ein  Volk  der  ungeheuerlichsten  Mischung 
und  Zusammenrührung  der  Rassen,  vielleicht  sogar  mit  einem 
Überschuß  des  vor-arischen  Elements,  als  „Volk  der  MitteV  in 
jedem  Verstände,  sind  die  Deutschen  unfaßbarer,  umfänglicher, 
widerspruchsvoller,  unbekannter,  unberechenbarer,  überraschen- 
der, selbst  erschrecklicher  als  es  andere  Völker  sich  selber  sind  — 
sie  entschlüpfen  der  Definition"  (Nietzsche). 

JJieses  die  felsenfest  stehende  Scyllaklippe  der  historischen  Tat- 
sachen, an  der  jeder  noch  so  kühne  Segler,  der  im  Wind  der 
Rassentheorie  daherfährt,  scheitern  muß.  Nun  der  metaphy- 
sische Gharybdisstrudel  der  Geschichtsphilosophie. 

Wo  immer  sich  Völker  vermischen,  entsteht  ein 
völlig  Neues.  Völkermischungen  gehen  nicht  nach  dem  Rezept 
der  Germanentheorie  so  vonstatten,  daß  sich  über  den  dunklen 
Kakao  des  niederen  Stammes  die  helle  Schlagsahne  der  sieg- 
reichen Germanen  ergießt  und  nun  als  Creme  über  der  Urmasse 
schwimmt,  Völkermischungen  sind  chemische  Verbindungen  ver- 
schiedenen Blutes.  Aus  Salpetersäure  und  Zellulose  entsteht  Dy- 
namit. Völkergeburten  sind  wie  Menschgeburten;  zwei  Eltern 
paaren  sich,  aber  das  Kind,  das  entsteht,  ist  nicht  ihre  Hälfte  und 
nicht  ihre  Summe  sondern  ein  völlig  Neues,  eine  unberechenbare 
neue  Konstellation  des  Weltenstoffes,  ein  Mosaik  aus  tausend 

^)  Es  wäre  interessant,  einmal  die  Genealogie  der  bedeutenden  Männer 
dieser  Frühzeit  aufzudecken;  hier  seien  nur  im  Vorübergehen  die  Kuriosa 
erwähnt,  daß  das  älteste  französische  Gedicht  von  einem  Juden,  die  erste 
deutsche  (gotische)  Bibelübersetzung  von  dem  Kappadozier  und  Halb- 
Armenier  Ulfilas  und  ein  Drittel  der  römischen  Pandekten  von  dem 
Phönizier  Ulpianus  stammen. 

4    Kahn,  Die  Juden.  ^ 


kleinen  Charakterteilchen  seiner  Ahnen,  Man  sucht  Goethe 
vergeblich  in  seinen  Vorfahren.  Alle  Textors  und  Goethes  zu- 
sammen hätten  keinen  Faust  geschrieben.  Bach  ist  ein  völlig 
neues  Phänomen  in  der  Geschichte  des  deutschen  Volkes,  ja  in 
der  ganzen  Geschichte  der  Menschheit.  Mit  jeder  Nation  wird 
ein  Neues,  nie  vordem  Gewesenes  geboren. 

Aus  der  Walpurgisnacht  der  Rassen  über  den  Trümmern  des 
römischen  Reiches  entsteht  in  Italien  ein  neues  Volk,  nie  vorher 
vorhanden,  heute  schon  wieder  ausgestorben,  niemals  wieder- 
kehrend ;  das  sind  keine  Römer,  Etrusker  oder  Griechen,  keine 
Goten,  Vandalen  oder  Hunnen,  keine  Syrer,  Juden  oder  Araber, 
obwohl  all  diese  Völker  ihren  Beitrag  hinzugegeben  haben  zur 
neuen  Mixtur,  das  sind  die  Italiener  der  Renaissance,  ein  Volk 
mit  neuem  Charakter,  neuen  Fähigkeiten,  neuen  Fehlern,  in  dem 
allerdings  die  Tugenden  und  Untugenden  all  seiner  Muttervölker 
spuken  und  eben  dadurch  jenes  einzigartig  grandiose  Schauspiel 
der  Leidenschaften  und  Taten  inszenieren,  das  die  italienische 
Renaissance  der  Weltgeschichte  bietet.  Im  ehrwürdig  ernsten 
pater  familias  des  patriarchalischen  Rom  ist  keine  Spur  zu  ent- 
decken vom  kraft-genialen  Uomo  universale  des  Cinquecento; 
im  römischen  Tribun  lebt  nichts  vom  Abenteurersinn  des 
Condottiere.  Welch  Wandel  der  Sprache!  Aus  dem  lapidaren 
Latein  wird  das  in  Koloraturen  trillernde  Italienisch.  Italien^ 
das  zur  Römerzeit  nicht  einen  Dichter,  nicht  ein  einzig  Lied  ge- 
boren hat,  wird  in  der  Renaissance  die  Wiege  der  modernen 
Musik  und  das  Vaterhaus  der  abendländischen  Dichtung  —  Dante 
und  Palästrina  sind  seine  Söhne. 

Wie  in  Italien  kommt  in  allen  Ländern  des  Völkerwanderungs- 
gebietes nicht,  wie  uns  die  Germanentheoretiker  wissen  machen 
wollen,  eine  bestimmte  Rassenkomponente  zum  Durchschlag, 
etwa  die  germanische,  sondern  aus  dem  Völkergemisch  ent- 
wickeln sich  je  nach  Milieu  und  Epoche  ganz  neue  und  jeweils 
völlig  verschiedene  Volksindividualitäten.  Aus  einer  zu  hohem 
Prozentsatz  gleich  gemischten  Grundmasse  entwickelt  sich  in 
Spanien  das  spanische,  in  Frankreich  das  französische,  in  Eng- 
land das  englische  Volk.  Unbeirrt  durch  alle  Störungen,  sieghaft 
über  allen  Mischungen  und  Kreuzungen,  entwickelt  sich  in  jedem 
dieser  Länder  als  ein  Resultat  aus  Rasse  und  Milieu  und  als  das 
Kind  einer  bestimmten  Kulturepoche  mit  fest  umgrenzten 
Traditionen,  Gegenwartsaufgaben  und  Zukunftszielen  ein  neues 
Volk  mit  einem  neuen  kulturell  spezifisch  ausgeprägten  Indivi-^ 
diialcharakter:  die  Nation. 

50 


Ein  Volk  ist  wie  ein  Lebewesen.  Einmal  gezeugt,  entwickelt 
es  sich  unausweichlich  in  der  Richtung  seiner  Erbanlagen. 
Was  es  in  sich  aufnimmt,  assimiliert  es.  So  wenig  wie  wir  Ochsen 
werden,  wenn  wir  Rindfleisch  essen,  oder  Kohlköpfe,  wenn  wir 
vegetarisch  leben,  so  wenig  ändert  sich  der  Individualcharakter 
eines  in  der  Entwicklung  begriffenen  Volkes  merklich  durch  den 
Zustrom  fremden  Blutes,  so  lange  dieser  nicht  die  Grenze  der 
Assimilationsfähigkeit  überschreitet.  Daß  Germanen,  aus  fernen 
Zonen  zugewandert,  fremden  Völkern  ihre  Nationalkultur  ge- 
geben haben  könnten,  widerspricht  aller  historischen  Logik  und 
Erfahrung.  Man  zeige  einem  Menschen,  der  Kunst  und  Ge- 
schichte kennt,  aber  nichts  von  der  arabischen  Herrschaft  über 
Spanien  gehört  hat,  die  Meisterwerke  von  Madrid  und  frage  ihn, 
welche  Rasse  hier  bis  vier  Jahrhunderte  vor  diesen  Schöpfungen 
geherrscht  hat.  Er  kann  es  so  wenig  erraten,  wie  man  aus  Schu- 
berts Liedern  oder  Mozarts  Symphonien  hören  kann,  daß  Öster- 
reich tausend  Jahre  das  Okkupationsgebiet  der  Hunnen  gewesen. 
Und  wie  die  Araber  nicht  in  den  Spaniern,  so  haben  wieder  die 
Spanier  Karls  V.  —  stolz  will  ich  den  Spanier!  —  keine  Spur 
hinterlassen  in  den  heutigen  Apfelsinenhändlern  und  Anarchisten 
von  Barcelona.  Um  den  Zauber  eines  Greco  zu  empfinden, 
muß  heute  ein  Deutscher  in  den  Prado  kommen.  Zu  Philipps 
Zeiten  hätte  ich  kein  Deutscher  heißen  mögen  —  heute  möchte 
ich  kein  Spanier  sein. 

Incadit  Scyllam  qui  vult  vitare  Charybdim.  Kulturprobleme 
lassen  sich  mit  rassentheoretischem  Rüstzeug  weder  historisch- 
deduktiv noch  biologisch -induktiv  angreifen.  Als  Historiker 
erkennt  man  die  Unmöglichkeit,  eine  Nation  in  ihre  Rassen- 
komponenten zu  zerlegen;  als  Biologe  wird  man  gewahr,  daß 
das  Produkt  dieser  Rassenkomponenten,  die  Nation,  gar  nicht 
deren  Summe  sondern  ein  völlig  neues  Naturphänomen  dar- 
stellt, das  sich  aus  den  Faktoren  im  Voraus  nicht  errechnen 
und  hinterher  nicht  begründen  läßt,  so  daß  selbst  die  genaueste 
historische  Kenntnis  aller  vorangegangenen  Rassenmischungen 
zu  keinem  Ziele  führt.  Kultur  ist  nicht  durch  Rasse  zu 
erfassen.  Mit  dem  groben  Fischernetz  der  Rassenf orschuiig 
kann  man  die  Heringsscharen  der  Völker  fangen,  aber  nicht  den 
bunten  Falter  der  Kultur  erhaschen ;  diesem  muß  man  über  den 
blumigen  Wiesen  des  Lebens  mit  dem  leichten  Netz  des  Speziali- 
tätenjägers nacheilen.  Mit  dem  plumpen  Massenbegriff  Ger- 
mane  kann  man  Erscheinungen  wie  Athen,  Florenz  oder 
Nürnberg   so  wenig  greifen  wie  die  Pralines  einer  Konfekt- 

4*  51 


schale  mit  einer  Schmiedezange.  Kultur  ist  Lokalerscheinung. 
Schon  zwischen  Athen  und  Sparta,  Städten  eines  Landes, 
gähnt  eine  unüberbrückbare  Kluft.  Jerusalem  und  Babel, 
in  einem  Kulturkreis  gelegen,  von  einer  Rasse  bewohnt  und  in 
gleicher  Epoche  blühend,  bedeuten  noch  heute  in  aller  Herzen 
die  zwei  Antipole  der  Lebensführung  und  Weltanschauung. 
Florenz  ist  eine  andere  Welt  als  Venedig,  Nürnberg  eine  andere 
Epoche  als  Weimar.  Als  dort  in  jeder  Gasse  ein  Meister  malte 
oder  sang,  war  dieses  ein  Bauerndorf,  in  dem  die  Kinder  Enten 
trieben;  als  hier  sich  die  Fürsten  Europas  im  Licht  der  Genien 
sonnten,  ging  man  dort  an  den  Meisterhäusern  vorüber  wie  an 
den  Gräbern  Ägyptens.  Hier  mit  dem  Rassenbegriff  Germane 
operieren,  heißt  mit  einem  Dreschflegel  nach  Mücken  schlagen.  Wie 
anders  läßt  sich  das  Problem  schon  an,  wenn  man  den  Rassen- 
begriff germanisch  durch  den  Nationalbegriff  deutsch  ersetzt! 

Noch  weniger  als  Kulturen  und  Epochen  lassen  sich  einzelne 
Geister  durch  das  weitmaschige  Netz  der  Rassenlehre  fangen. 
Es  gibt  keine  germanischen  Genies.  Newton,  Darwin  und  Lord 
Kelvin  sind  ausgesprochen  englische  Charaktere;  aus  ihren 
Werken  weht  ein  ganz  anderer  Geist  als  aus  Humboldts  Kosmos, 
Goethes  Farbenlehre  oder  Häckels  Morphologie.  Watteau, 
Boucher,  Fragonard  und  Poussin  mögen  noch  so  auffallend 
blonde  Haare  und  blaue  Augen  besessen  haben,  sie  sind  keine 
„Germanen"  sondern  französische  Meister,  spezifisch  franzö- 
sisch —  antigermanisch.  Boticelli,  Raffael,  Leonardo  da  Vinci, 
Correggio,  Tizian  und  Tintoretto  mögen  körperlich  germanische 
Idealfiguren  gewesen  sein,  ihre  Schöpfungen  atmen  die  Weich- 
heit italienischer  Luft  und  die  Wärme  südlichen  Empfindens, 
sie  sind  spezifisch  a-germanisch  und  stehen  den  Werken  eines 
Grünewald,  Dürer,  Holbein,  Altdorfer  und  Kranach  gegenüber 
wie  ein  italienischer  Frühling  einem  nordischen  Winter.  Selbst 
wenn  sie  —  was  höchst  unwahrscheinlich  und  auf  jeden  Fall 
völlig  unbeweisbar  ist  —  der  Rasse  nach  Germanen  gewesen  sein 
sollten,  als  Kulturträger  —  und  das  ist  ihre  Größe,  ihre  einzige 
Größe  —  sind  sie  Söhne  Italiens  und  Kinder  des  italienischen 
Volkes  —  Italiener.  Selbst  der  kühnste  Brückenbauer  schwin- 
delndster Theorien  baut  keinen  Bogen  über  die  Alpen.  Wer 
weiß,  ob  der  „Germane"  Correggio  unter  dem  trüben  Himmel 
des  Nordens  und  vor  Grünewalds  Grauen-beschwörenden  Altären 
jemals  einen  Pinsel  zur  Hand  genommen  hätte! 

Nicht  einmal  die  Niederländer  kann  man  trotz  ihrer  unbe- 
streitbaren  Rassenverwandtschaft   als    Kulturaation  mit   den 

52 


Deutschen  unter  das  Joch  einer  gemeinsamen  Formel  spannen. 
Selbst  mit  ihrem  flamischen  Bruderstamm  bilden  sie  ein  un- 
gleich Gespann  vor  dem  goldenen  Wagen  der  Künste.  Rubens 
und  Rembrandt  —  dort  der  große  Flame,  dessen  sinnlich  be- 
wegter Gestaltenfülle  keine  noch  so  weit  gespannte  Leinewand  Ge- 
nüge tut,  dem  die  Palette  nicht  sattsam  Farben  trägt,  flandrische 
Freuden  zu  malen  —  hier  der  stille  Gassenmeister  Amsterdams, 
der  selbst  seine  geliebtenGeschmeide  nur  schüchtern  aus  dem  Halb- 
dunkel dämmriger  Vorhänge  schimmern  läßt,  und  dem  ein  Quart- 
blatt hinreicht, die  Passion  des  Heilands  zu  verewigen.  Eine  Rasse 

—  zwei  Kulturen !  Durch  die  Verschiedenheit  der  Kulturen  un- 
endlich weiter  getrennt  als  durch  die  Einheit  der  Rasse  verbunden. 

Rasse  verhält  sich  zu  Kultur  wie  Geometrie  zur  Baukunst. 
Die  Germanentheoretiker  wollen  den  Petersdom  aus  Trigono- 
metrie erklären.  Aber  mit  anthropologischen  Begriffen  wie 
Schädelindex,  Gradzähnigkeit  und  Nasenhöhe  sind  Kultur- 
schöpfungen wie  die  Bibel,  das  Jus  romanum  oder  die  Beethoven- 
symphonie so  wenig  zu  begründen  und  begreifen,  wie  man  aus 
den  Kepler*schen  Gesetzen  den  Frühling  herleiten  kann^oder 
aus  der  Maxwell'schen  Lichttheorie  beweisen,  daß  auf  der  Erde 
Rosen  blühen  und  Falter  fliegen  müssen.  Rasse  liegt  der  Kultur 
so  metaphysisch  tief  zugrunde  wie  der  Schopenhauer'sche  Wille 
den  Erscheinungen  der  Welt.  Der  Wille  steht  außerhalb^ -der 
Kausalität.  Er  erklärt  nichts,  wenn  er  auch  aller  Dinge  Wesens- 
grund ist.  Nur  durch  die  Erscheinungsformen  Zeit,  Raum  und 
Kausalität  tritt  der  Wille  als  Individuation  faßbar  ins  Dasein; 
ins  Kulturhistorische  übersetzt,  nur  durch  Epoche,  Milieu  und 
geschichtliches  Schicksal  wird  die  Rasse  zur  historisch  greif- 
baren Individualerscheinung  der  Kulturnation. 

Selbst  wenn  Germanen  nach  Judäa  gekommen  sein  sollten, 
ja  selbst  wenn  jüdische  Propheten  Abkömmlinge  von  Germanen 
gewesen,  vollbrachten  sie  keine  Großtaten  germanischen  Geistes 

—  groß  geworden  sind  sie  als  Glieder  der  jüdischen  Gemein- 
schaft und  Träger  spezifisch  jüdischer  Ideen.  Ihre  Größe  ver- 
danken sie  dem  Schicksal  Juden  geworden  zu  sein.  Zu  den 
Feuerländern  Patagoniens  verschlagen,  wären  diese  selben 
Germanen  keine  Propheten  sondern  Kannibalen  geworden. 
Warum  hat  der  Germane,  der  in  Thrakien  blieb,  nicht  Psalmen 
gedichtet,  der  Dazier  nicht  das  Hohe  Lied  der  Liebe  gelebt 
und  gesungen?  Selbst  wenn  das  Unwahrscheinliche  wahr  ge- 
wesen und  Germanen  nach  Kleinasien  kamen  —  wie  wir  aus  dem 
Wein,   den  wir  zu   uns  nehmen,  Gedanken  gebären  nach  der 

53 


Spezifiziiät  unseres  Wesens,  so  assimiliert  die  Natioi)  die  Fremd- 
linge, die  ihr  aus  der  Ferne  zufließen.  Im  Verbrecher  vandelt 
«ich  die  Energie  des  Alkohols  zur  Schandtat,  im  Geiste  des 
Genies  zur  dichterischen  Vision  —  ist  es  mehr  das  Verdienst 
des  Alkohols  oder  Goethes,  daß  er  im  Weinrausch  Divanlieaei 
schuf  ? 

Kultur  ist  nicht  Rassen-  sondern  Nationalpro- 
dukt. Die  Befähigung  zur  Kultur  zwar  ruht  wie  in  einem  Samen 
immanent  im  Blute,  aber  daß  der  Same  blühe,  muß  er  in  Erde  ge- 
bettet sein  —  und  das  ist  der  Schoß  der  Nation;  muß  er  beträufelt 
werden  von  der  Taufrische  nationalen  Lebens  und  erwärmt  von 
der  Sonne  eines  warmen  Gemeinschaftsempfindens.  Nur  auf 
dem  Grunde  hoher  und  heiliger  Empfindungen,  wie  sie  im  Alter- 
tum einzig  in  den  Grenzen  weniger  und  bestimmter  Nationen 
lebensfähig  und  lebendig  waren,  kann  Kultur  erblühen.  Nur  wer 
in  diesem  nationalen  Boden  wurzelte,  fest  und  tief  durch  Gene- 
rationen mit  Blut  und  Seele  wurzelte,  konnte  in  ihm  wachsen 
und  zum  fruchtbeladenen  Baum  des  Genies  erstarken.  Die  Idee, 
daß  Wandergermanen  zu  fremden  Völkern  in  fremde  Zonen 
gekommen  seien  und  hier,  wie  Fettaugen  auf  einer  Suppe 
schwimmend,  der  schwarzen  schmacklosen  Völkerbrühe  unter 
sich  Würze  gegeben,  daß  sie  als  Oberschicht  von  Kulturträgern 
hier  inmitten  einer  ihnen  wesensfremden  und  geistig  unter- 
legenen Völkermasse  die  großen  Kulturwerte  der  Menschheit  ge- 
schaffen, daß  überhaupt  Fremdlinge  anders  gearteten  Völkern 
Kultur,  ja,  nicht  nur  das,  sondern  ihnen  in  jedem  Lande  eine 
Nationalkultur  eigenen  Wesens  geschenkt  haben  könnten,  in 
China  Flötenlieder,  in  Indien  Veden,  in  Judäa  Psalmen  und  in 
Germanien  Bardenlieder  gesungen  hätten,  diese  Wanderhypo- 
these erscheint  als  ein  Phantasiegebilde,  das  allen  natürlichen 
Voraussetzungen  widerspricht,  eJs  eine  Seifenblase  aus  dem 
Schaumtopf  einer  Pseudowissenschaft,  die  schillert,  doch  zer- 
stiebt, sobald  man  sie  mit  dem  Hauche  der  Kritik  anbläst. 

JMächst  der  Wanderhypothese  stützt  die  Germanentheorie 
ihre  Ansprüche  auf  das  angebliche  Vorkommen  „germanischer" 
Typen  bei  allen  Kulturvölkern  und  die  angeblich  „germanische" 
Physiognomie  der  meisten  Grenies. 

Die  Kennzeichen  des  germanischen  Typus  sind:  Körper- 
größe, langer  Schädel  und  Blondheit.  Woltmann  und  Hauser 
vor  allen  sind  unter  Begründung  einer  neuen  Wissenschaft,  der 
„Typologie",  den  Spuren  germanischen  Blutes  in  Kunst,  Litera- 

54 


lur  und  Geschichte  nachgegangen,  und  wo  sie  ein  Bildnis  fanden, 
darauf  ein  König  oder  Feldherr  einen  langen  Schädel  zeigt, 
oder  in  dem  Sarg  einer  ägyptischen  Prinzessin  eine  blonde  Locke 
entdeckten  oder  auf  einer  chinesischen  Vase  einen  Sänger  ab- 
gebildet sahen,  dessen  Haar  nicht  so  schlicht  wie  Pferdesträhnen 
abfiel,  da  sammelten  sie  dieses  Dokument  germanischen  Blutes. 
Wo  sie  in  einer  literarischen  Quelle,  und  flösse  diese  sonst  auch 
noch  so  trübe,  das  Wörtchen  blond  oder  hellfarbig  oder  lockig 
oder  helläugig  oder  hochgewachsen  lasen,  da  fischten  sie  es  auf  und 
trugen  es  heim  in  ihrem  Netz  —  und  siehe,  der  Fang  war  reich : 
sie  fanden,  daß  tatsächlich  alle  bedeutenden  Dichter,  Künstler, 
Gelehrte,  Philosophen,  Staatsmänner  und  Feldherren  entweder 
blond  oder  wenigstens  mittelblond  oder  wenigstens  hellbraun 
gewesen  waren,  oder  blauäugig  oder  doch  wenigstens  helläugig, 
oder  hochgewachsen  oder  doch  wenigstens  schlank  und  nicht 
„fett  und  kurz  von  Atem"  wie  Hamlet,  und  folglich  —  Ger- 
manen! Otto  Hauser  verteidigt  in  allem  Ernst  die  These,  daß 
fast  alle  großen  Dichter  der  Literaturgeschichte  von  den  Poeten 
an  den  Höfen  der  chinesischen  Kaiser  bis  zu  den  Minnesängern 
in  der  Provence,  von  Hafis  und  Firdusi  im  Osten  bis  Dante  und 
Cervantes  im  Westen  Germanen  oder  wenigstens  Abkömmlinge 
und  Mischlinge  germanischer  Eltern  gewesen  seien.  Auch  David, 
Salomo,  der  Sänger  des  Hohen  Liedes  und  Christus  waren  — 
Germanen. 

„Man  kann  nachweisen,"  schreibt  Otto  Hauser,  „daß  alle 
Völker,  die  einmal  zu  hoher  Kulturblüte  kommen,  eben  zu  dieser 
Zeit  von  Blonden  beherrscht  waren,  und  daß  sie  in  dem  Maße 
in  Untätigkeit  versanken,  wie  sie  diese  lichten  Elemente  ver- 
loren .  .  .  Die  Beobachtung,  daß  der  lichte  Mensch  der  geistig 
regsamste,  der  einzig  schöpferische  (geniale)  ist,  reicht  weit 
zurück.  Dem  Griechen  war  es  Selbstverständlichkeit,  ebenso 
allen  Völkern  in  ihrer  Vollkraft."  Nur  der  Germane  vergaß  es, 
„denn  für  den  übergerechten  Blondling  mußte  diese  Tatsache 
seiner  Einzigartigkeit  erst  wieder  neu  entdeckt  werden".  Zwar 
gesteht  Hauser  ein:  „Eine  ganze  Reihe  berühmter  Persönlich- 
keiten leben  in  der  Vorstellung  als  schwarzhaarig  .  .  .  Ich  habe 
diese  Tatsache  dadurch  zu  erklären  versucht,  daß  das  Bild  sich 
immer  mehr  auf  schwarz  und  weiß  beschränkt,  das  Haar  in  den 
Gegensatz  zum  Gesicht  bringt  und  schließlich  wieder  die  Ge- 
sichtsfarbe dem  Haar  angleicht.  Etwa  50  Jahre  nach  dem  Tode 
eines  Genies  pflegt  es  brünett  geworden  zu  sein  .  .  .  Allerdings 
kommt  noch  ein  Moment  hinzu:  das  Genie  hat  für  die  Volks- 

55 


Vorstellung  etwas  Dämonisches,  und  da  der  Teufel  der  Weißen 
schwarz  ist,  müssen  auch  die,  die  mit  ihm  in  einer  mystischen 
Verbindung  zu  stehen  scheinen  .  .  .  schwarz  sein.  —  Cäsars 
Augen  werden  schwarz  genannt,  aber  schwarze  Augen  gibt  es 
nicht,  nur  schwarz  erscheinende,  und  schwarz  erscheinen  die 
Augen,  deren  Pupillen  sich  sehr  stark  erweitern  können  .  .  . 
die  Nachricht  über  Cäsars  Augen  besagt  also  nur,  daß  Cäsars 
Pupillen  sich  sehr  stark  erweitern  konnten  .  .  .  Was  sein  Haar 
betrifft,  so  ist  nur  überliefert,  daß  er  es  früh  verlor.  Welche 
Farbe  es  hatte,  weiß  man  nicht.  Und  selbst,  wenn  es  dunkel 
war,  wäre  Cäsar  nicht  als  brünetter,  sondern  mit  seiner  hohen 
Gestalt,  seiner  weißen  Haut,  seinem  edlen  Gesichtsschnitt  als 
ein  dem  nordischen  Typus  ganz  nahestehender  Mischling  zu 
betrachten  . .  .  Andere  tragen  in  dem  Vornamen  wie  Flavius 
oder  Lucius  oder  Beinamen  wie  Rufus  die  Bezeugung,  daß  sie 
blond  oder  licht  oder  rothaarig  waren.  (Anm.  d.  Verf,  So  wie 
man  aus  dem  Namen  Friedrich  (Friedreich)  dem  Großen  den 
historischen  Schluß  ziehen  kann,  daß  dieser  König  niemals  einen 
Krieg  geführt  hat.)  Ich  habe  oben  bemerkt,  daß  namentlich 
die  Feldherren  und  Staatengründer  fast  ausschließlich  dem  rein 
blonden  Typus  angehören.  David  wird  in  der  Bibel,  wie  erwähnt, 
„blond"  genannt,  aber  schon  der  große  Feldherr  und  Rechts- 
gründer Hammurabbi  wird  als  Amoriter  ein  Blondling  gewesen 
sein.  Seine  Bildnisse,  die  ihn  darstellen,  wie  er  vom  Sonnengott, 
dem  liebsten  Gott  der  sonnenhungrigen  Blonden,  das  seinen 
Namen  tragende  Gesetz  empfängt,  zeigen  ihn  als  durchaus  nor- 
dischen Fürsten,  nicht  als  semitischen  Mischling.  Wahrschein- 
lich waren  auch  die  großen  Chetakönige,  die  doch  arische  Gott- 
heiten verehrten,  Sprossen  des  Nordens  ...  Es  ist  anzunehmen, 
daß  alle  die  herrlichen  gotischen  und  westgermanischen  Könige, 
deren  Namen  Sage  und  Geschichte  nennen,  dem  blonden  Typus 
angehörten"  usw.  usw. 

Nachdem  sich  die  Aufzählung  der  angeblich  ganz,  halb  oder 
viertel  blonden  Genies  über  mehrere  Seiten  hingezogen  hat, 
bleibt  am  Schluß  trotz  der  zahlreichen  „wahrscheinlich",  „mög- 
licherweise", „anscheinend"  und  „es  ist  anzunehmen"  und  trotz 
der  vielen  Glatzen  und  weiten  Pupillen  immer  noch  eine  statt- 
liche Reihe  von  nicht  blonden  Genies  übrig.  Mit  diesen  macht 
Hauser  kurzen  Prozeß.  Ihr  seid  äußerlich  keine  Germanen  ?  Gut, 
dann  seid  ihr  es  innerlich.  So  wie  es  Mischlinge  gibt,  die  blondes 
germanisches  Haar  auf  einem  ungermanisch  runden  Schädel 
tragen,  so  seid  ihr  Mischlinge,   die  hinter  einer  alpinen  Fratze 

56 


eine  germanische  Dichterseele  verbergen.  „Das  Genie  ist  gewiß 
nach  der  Typenforschung  zumeist  blond,  aber  unter  den  vielen 
Mischungen,  die  möglich  sind,  ist  auch  die  von  nordischer 
Schöpferkraft  und  unnordischem  Äußern." 

Holiah!  Das  sind  keine  Harlekin-Späße  aus  dem  Bierulk 
eines  Anthropologenkongresses,  das  sind  die  wissenschaftlichen 
Argumentationen,  mit  denen  die  Rassentheoretiker  dem  Volke 
Goethes  und  Kants  seine  Weltanschauung  für  das  20.  Jahr- 
hundert aufzustempeln  suchen.  Beispielsweise  schreibt  Cham- 
berlain  über  den  hl.  Ambrosius:  „Ein  solcher  Mann  wie  Am- 
brosius  z.  B.  ist  ganz  gewiß  aus  echtem  edlen  Stamm  .  .  . 
zwar  kann  ich  es  nicht  beweisen,  ...  es  kann  aber  auch  nie- 
mand das  Gegenteil  beweisen  und  so  muß  seine  Persönlichkeit 
entscheiden."  Woltmann  findet  bei  seiner  Prokrustesarbeit,  die 
Genies  aller  Länder  in  das  Zwangsbett  der  Germanentheorie  zu 
fügen,  daß  Luther,  Goethe,  Beethoven,  Michelangelo,  Raphaei, 
Dante,  Shakespeare  keinen  germanischen  Typus  besitzen.  Wie 
löst  der  moderne  Damastes  das  Dilemma?  „Dante,  Raphaei, 
Luther  usw.  sind  Genies,  nicht  weil,  sondern  trotzdem  sie 
Mischlinge  sind.  Ihre  geniale  Anlage  ist  das  Erbteil  der  ger- 
manischen Rasse." 

Die  Zwangsnaturalisation  der  Genies  aller  Länder  durch  die 
Allgermanen  erscheint  um  so  kühner  und  verwunderlicher,  a;ls 
doch  bekanntermaßen  der  Typ  des  genialen  Menschen  so  gar 
nichts  mit  der  Gestalt  des  Germanenideales  gemein  zu  haben 
pflegt,  und  der  germanische  Hochadel,  der  diesen  Typ  noch  am 
reinsten  repräsentiert,  zwar  einen  hoch  begabten,  was  aber  Ge- 
nialität betrifft,  fast  sterilen  Menschenschlag  darstellt.  Groß, 
blond,  blauäugig  und  langschädelig  —  so  sehen  die  Helden- 
tenöre  der  Wagneropern  aus.  Aber  das  Genie  ?  Selbst  in  Ger- 
manien, wo  man  doch  das  blonde  Genie  in  Reinkultur  finden 
müßte,  sieht  man  gerade  diesen  Typ  am  allerseltensten.  Das 
Genie  ist,  wie  man  tausendfach  bewiesen  hat,  weit  häufiger 
klein  als  groß,  nur  selten  blauäugig,  äußerst  selten  wirklich 
blond  sondern  meistens  mittelfarbig  und  in  der  Überzahl  der 
Fälle  nicht  lang-  sondern  kurzköpfig.  Schiller,  der  mit  seinem 
1,93  m  hohen  Wuchs  (Tuberkulose)  und  dem  hell  wallenden 
Lockenhaar  von  allen  deutschen  Genies  dem  germanischen 
Typus  noch  am  nächsten  kommt,  war  das  genaue  Gegenteil 
eines  Langschädels,  ein  Überkurzkopf.  Goethe  war  desgleichen 
kurzköpfig,  Napoleon,  den  die  Germanentheoretiker  je  nach 
ihren  Sympathien  als  Germanen  glorifizieren  oder  im  Gegenteil 

57 


als  Antigermanen  brandmarken,  war  ebenfalls  ein  Rundschädel 
gleich  Beethoven,  Brahms,  Menzel,  Bismarck,  Helmholtz,  den 
typisch  deutschen  Genies  des  19.  Jahrhunderts. 

Übrigens  sind  sich  die  Rassentheoretiker  über  die  Nor- 
malfigur ihres  germanischen  Ideals  sowohl  in  physischer  wie 
psychischer  Hinsicht  durchaus  nicht  einig  und  annektiereri 
oder  refusieren  die  Genies  als  Germanen  oder  Nichtgermanen, 
je  nachdem  sie  ihnen  wert  oder  unwert  scheinen,  in  die  Helden- 
walhalla aufgenommen  zu  werden.  Während  Woltmann  Dante 
als  Mischling  schildert,  rühmt  Chamberlain  sein  Antlitz  als  ein 
„charakteristisch  germanisches  Gesicht",  obwohl  er  ein  solches 
gar  nicht  nötig  hat,  denn  „daß  Dante  ein  Germane,  nicht  ein 
Kind  des  Völkerchaos  ist,  folgt  nach  meiner  Überzeugung  so 
evident  aus  seinem  Wesen  und  Werke,  daß  ein  Nachweis  hier- 
über durchaus  entbehrlich  dünken  muß."  Albert  Wirth  dagegen 
erkennt  in  Dante  den  „reinsten  Vertreter  baskischer  Rasse"  und 
fragt  angesichts  der  Chamberlain'schen  Darstellung:  „Bin  ich 
nun  blind  ?  Mein  Auge  hat  sich  an  allen  Rassen  der  Erde  geübt, 
und  ich  porträtiere  in  meinen  Mußestunden ;  ich  kann  aber  weder 
in  Luthers  noch  in  Dantes  Zügen  germanische  Besonderheit  ent- 
decken." Während  Chamberlain  „den  ewig  großen  Cervantes" 
rühmt,  ist  nach  Driesmans  der  Don  Quixote  ,,das  Deborahlied,  der 
Rache-  und  Triumphgesang,  den  der  Keltiberimus  anstimmte,  als 
er  seinen  Todfeind,  das  germanische  Herrenvolk,  den  Träger  der 
Ritterromantik,  niedergezwungen  hatte."  Lessing  ist  nach  Dries- 
mans ein  echter  Deutscher,  nach  Dühring  ein  Abkömmling 
von  Juden;  Chamberlain  schreibt  über  Kant  als  den  größten 
Repräsentanten  deutschen  Denkertums  ein  großes  und  in  vieler 
Hinsicht  vortreffliches  Buch.  Nach  Willmanns  „Geschichte  des 
Idealismus"  ist  „der  Einfall,  Kant  als  echt  deutschen  Philo- 
sophen zu  preisen,  völlig  abgeschmackt:  Kant  ist  Kosmopolit, 
folgt  den  Engländern,  begeistert  sich  für  Rousseau,  schwärmt 
für  die  französische  Revolution:  zu  der  deutschen  Treue  steht 
Kants  grundstürzende  Sophistik  im  vollen  Gegensatz."  (Weirum 
jemand  nicht  auch  als  echter  Deutscher  sich  für  Rousseau  und 
die  französische  Revolution  begeistern  kann,  ist  ebenso  unver- 
ständlich wie  die  Tatsache,  daß  jemand  eine  Geschichte  des 
Idealismus  schreibt  und  dabei  derartig  dilettantische  Deduktionen 
konstruiert.  Nach  Willmann  dürfte  Goethe  kein  Deutscher  sein, 
weil  er  Italien  geliebt,  die  Griechen  verehrt  und  im  Alter  Hafis 
und  Sakuntala  besungen  hat;  Schiller  kein  solcher,  weil  er 
Ehrenbürger  Frankreichs  war  und  die  Freiheit  „in  tyrannos" 

58 


zu  einer  Zeit  besang,  in  der  jeder  „echte"  Deutsche  „allergehor- 
samster  Untertan"  war;  auch  der  Kosmopolit,  Republikaner 
und  Napoleonschwärmer  Beethoven  war  gewiß  kein  Deutscher.) 
Schopenhauer  rühmt  an  Spinoza  den  „arischen  Geist",  für 
Chamberlain  ist  er  „durch  und  durch  Jude  und  Antiarier". 
Dem  „echt  germanischen  Denker"  Leibniz  singt  Chamberlain 
höchste  Lobeslieder;  der  Anthropologe  Krause  weist  nach, 
daß  Leibniz  polnischer  Abstammung  ist:  ,, Seine  Vorfahren 
schreiben  sich  Lubeniecz  .  .  .  der  Schädel  war  klein  und  rund- 
lich, sicher  nicht  vom  germanischen  Reihengräbertypus", 
besaß  doch  sein  Schädel  mit  seinem  geradezu  extremen  Breiten- 
maß eine  direkt  antigermanische  Form!  Die  Sozialdemokraten 
sind  für  Chamberlain  „verjudet",  für  Driesmans  ,,Keltomon- 
golen",  für  Woltmann  dagegen  „die  spezifisch  germanische 
Schicht  des  Proletariats,  das  nach  Freiheit  ringt".  Über  den 
Chamberlain'schen  Idealgermanen  Goethe,  von  ihm  in  einer  um- 
fangreichen analytischen  Biographie  verherrlicht,  schreibt  Hans 
Herrmann :  „Sieht  man  Goethe  an,  diese  vorquellenden  dunklen 
Augen,  welchen  selbst  ein  leicht  wehmütiger  Zug  nicht  fehlt, 
diese  an  der  Spitze  gekrümmte  Nase,  diesen  langen  Oberleib  mit 
den  kurzen  Beinen,  dann  haben  wir  ganz  das  Urbild  eines  Nach- 
kommens Abrahams  vor  uns  .  .  .  Nicht  nur  in  seinem  Äußeren 
prägt  sich  seineAbstammung  von  den  alttestamentarischenHelden 
ab,  sondern  auch  in  seinem  ganzen  Wesen.  Seine  glühende  Sinn- 
lichkeit und  ewige  Verliebtheit,  seine  unsittliche  Lebensweise 
und  fragwürdige  Ehe  .  .  .  sein  Servilismus  gegen  Fürsten  .  .  . 
sein  völliger  Mangel  an  Vaterlandsliebe,  seine  Feigheit  .  .  . 
und  noch  manch  andere  Züge  reden  eine  zu  deutliche  Sprache, 
als  daß  ein  Mensch  von  unbefangenem  Urteil  sich  der  Über- 
zeugung verschließen  könnte,  daß  Goethe  weit  mehr  Semit  als 
Deutscher  war."  Napoleon  ist  für  Ammon  „der  richtige  Typus 
eines  Dschingischan  und  der  geborene  Abgott  rundköpfiger 
Völker",  für  Chamberlain  ,,ein  Mann,  bar  jeglichen  Verständ- 
nisses für  geschichtliche  Wahrheit  und  Notwendigkeit,  die  Ver- 
körperung der  frevelhaften  Willkür,  ein  Zermalmer,  nicht  ein 
Schöpfer  .  .  .  ein  Sendling  des  Chaos,  die  rechte  Ergänzung  des 
Ignatius  von  Loyola,  eine  neue  Personifikation  des  Antiger- 
manentums".  Über  die  römische  Kirche  schreibt  er,  daß  sie 
„von  Haus  aus  und  notwendigerweise  die  Schild-  und  Waffen- 
trägerin aller  antigermanischen  Bestrebungen  war",  und  von 
der  französischen  Revolution,  ,,daß  es  zu  den  erstaunlichsten 
Verirrungen    des    menschlichen    Urteils   gehört,    diese    Kata- 

59 


Strophe  als  den  Morgen  eines  neuen  Tages,  als  einen  Grenz- 
pfahl der  Geschichte  zu  betrachten".  Der  Führer  der  Politisch- 
anthropologischen Schule  dagegen,  Woltmann,  verherrlicht  „das 
Papsttum,  die  Renaissance,  die  französische  Revolution  und 
die  napoleonische  Weltherrschaft"  als  „Großtaten  germa- 
nischen Geistes".  Der  Franzose  Taine  wiederum  schreibt 
über  die  Italiener  des  Mittelalters:  „Diese  so  kluge  Rasse  hat 
das  Glück  gehabt  nicht  germanisiert  zu  werden,  d.  h.  nicht  in 
demselben  Maße  wie  die  anderen  Länder  Europas  durch  die 
Einwanderung  der  nordischen  Völker  unterdrückt  und  umge- 
wandelt zu  werden.  Die  Barbaren  haben  sich  darin  nur  zeit- 
weise und  oberflächlich  aufgehalten."  Über  den  erwähnten 
Gründer  des  Jesuitenordens  schreibt  Otto  Hauser:  „Igna- 
tius  war  von  Herkunft  ein  altadliger  Gote  aus  dem  Basken- 
land, wo  das  Schloß  Loyola  lag,  und  trug  eigentlich  den  Namen 
Ifiigo  Lopes,  der  altgermanisch  ist .  .  .  Die  ältesten  Bilder  geben 
ihm  .  .  .  blondes  Haar,  gewiß  nicht  ohne  Berücksichtigung  der 
mündlichen  Überlieferung.  Das  Bild,  das  von  seinem  Leichnam 
abgenommen  wurde,  zeigt  ein  feines,  allerdings  todverfallenes, 
durchaus  germanisches  Gesicht  mit  leicht  gebogener  Gelehrten- 
nase." Diesen  selben  Mann,  den  Hauser  im  weiteren  Verlauf 
seiner  Abhandlung  als  den  Schöpfer  einer  typisch  germanischen 
Organisation  feiert,  stellt  sein  Parteigenosse  Chamberlain  als 
„den  Typus  des  Antigermanen"  hin.  „Dieser  Mann  ist  der 
personifizierte  Antigermane!"  „Dieser  Mann  war  ein  Baske; 
nicht  allein  war  er  in  dem  rein  baskischen  Teil  Spaniens  geboren, 
sondern  seine  Biographen  versichern,  er  sei  aus  echtem  unver- 
mischtem  baskischen  Stamm,  d.  h.  also,  er  gehörte  einer  Men- 
schenrasse an,  die  nicht  allein  ungermanisch  ist,  sondern  in 
keinerlei  Verwandtschaft  zu  der  gesamten  indogermanischen 
Gruppe  steht ...  Es  ist  nebenbei  gesagt  (als  Illustration  für  die 
unvergleichliche  Bedeutung  von  Rasse)  höchst  bemerkenswert, 
daß  der  Mann,  dem  die  Erhaltung  des  spezifisch  römischen  anti- 
germanischen Einflusses  auf  Jahrhunderte  hinaus  zum  größten 
Teil  zugeschrieben  werden  muß,  nicht  selber  ein  Kind  des  Chaos 
war,  sondern  ein  Mann  von  echtem  reinen  Stamm.  Daher  die 
Einfachheit  und  Kraft  dieses  Mannes,  der  den  Kriegsplan  ent- 
wirft zu  dem  durchdachtesten  und  daher  gefährlichsten  Ansturm, 
der  je  auf  germanisches  Wesen  unternommen  wurde.  Wer  es 
für  einen  Zufall  hält,  daß  diese  Persönlichkeit  ein  Baske  war, 
wer  es  für  einen  Zufall  hält,  daß  dieser  Baske  .  .  .  nur  mit  einem 
einzigen  Manne  intim,  fast  unzertrennlich  lebte  .  .  .  daß  dieser 

60 


Eine  ein  rassenechter  .  .  .  Jude  wai'  —  wer,  sage  icii,  an  derlei 
Erscheinungen  achtlos  vorübergeht,  hat  kein  Gefühl  für  die 
Majestät  der  Tatsachen."^)  Doch,  wir  haben  ein  Gefühl  für  die 
Majestät  der  Tatsachen,  und  wo  sollten  wir  uns  williger  vor  ihr 
verneigen  als  hier,  wo  wir  vor  unseren  Augen  die  beiden  lautesten 
Herolde  der  Germanentheorie  auf  ihrer  Jagd  nach  Chimären  zu 
einem  wahren  Don  Quichote-Kampf  gegeneinander  anrennen  und 
sich  mit  ihren  Federhalterlanzen  gegenseitig  erdolchen  sehen? 
Mit  ihrer  Theorie  von  der  germanischen  Physiognomie  des 
Genies  segeln  die  Germanentheoretiker  wider  den  Wind.  Der 
geniale  .Mensch  hat  im  allgemeinen  —  soweit  man  überhaupt 
eine  Erscheinung  wie  Genie  zu  systematisieren  wagen  darf  — 
nicht  nur  einen  a-germanischen  sondern  sogar  antigermanischen 
Typus.  Er  nähert  sich  —  o  Graus !  viel  mehr  als  dem  germani- 
schen dem  jüdischen  Typus !  Von  kleiner  Statur,  —  um  nur  die 
extrem  kleinen  unter  den  spezifisch  germanischen  Genies  zu 
nennen:  Friedrich  der  Große,  Beethoven,  Mozart,  Brahms, 
Wagner,  Kant,  Schopenhauer,  Menzel  —  fast  niemals  blond 
sondern  zumeist  braunhaarig  wie  die  Mehrzahl  der  Juden, 
gewöhnlich  von  lebhaftem,  viel  mehr  jüdischem  als  kühl-blond 
germanischem  Temperament,  zumeist  wie  die  Juden  kurzköpfig, 
trägt  es  als  niemals  fehlendes  Zeichen  der  Genialität  in  seinem 
Antlitz  eine  große  gebogene  „jüdische"  Nase,  die  in  das  germa- 
nische Antlitz  hineinpaßt  wie  die  Faust  auf  ein  Auge.  Selbst 
Woltmann  gesteht  von  den  „Porträts  und  Büsten  der  großen 
Männer,  daß  sie  fast  durchweg  eine  große,  schmale,  meist  adler- 
schnabelartig  gebogene  (jüdische)  Nase  gehabt  haben".  Man 
blättere  nur  einmal  eine  illustrierte  Kunst-  oder  Literatur- 
geschichte durch  und  lasse  die  genialen  Köpfe  Europas  an  sich 
vorüberziehen.  Mit  Ausnahme  von  Sokrates  und  Beethoven, 
der  eine  höchst  wahrscheinlich  pathologisch  eingesunkene  Sattel- 
nase (Lues  hereditaria)  trug,  sucht  man  vergebens  unter  den 
Dichtern  von  dem  judennasigen  Dante  bis  zu  Schiller  mit  seiner 
kühn  geschwungenen  Adlernase,  unter  den  Malern  von  dem  aus- 
gesprochen jüdisch  aussehenden  Raphael  bis  zu  Feuerbachs 
brünettem  Künstlerkopf,  unter  den  Musikern  von  Mozart,  der 
ein^  so  gewaltige  Nase  in  seinem  Antlitz  trug,  daß  ihn  eine 
zeitgenössische  Kritik  den  „ungeheuer  benasten  Mozart"  nannte, 
bis  zu  Wagner,  der  so  spezifisch  jüdisch  aussieht,  daß  man  mit 
Nietzsche  schwören  möchte,  er  sei  kein  Adler  sondern  ein 
„Geyer"  —  sucht  man  vergebens  in  dieser  ganzen  Porträt- 
1)  gekürzt  zitiert. 

61 


galerie  das  germanische  Ideal  der  Walhallfigur,  während  sich 
jüdische  Physiognomien  und  Stigmata  in  Hülle  und  Fülle  finden, 
so  daß  man  ebenso  Goethe,  Lessing,  Hebbel,  Nietzsche  wie 
Napoleon,  Rembrandt  und  selbst  Karl  den  Großen  als  Juden 
„verdächtigt"  hat.  Wären  die  Juden  nur  halb  so  findig  und 
pfiffig  wie  die  treuherzigen  Erfinder  der  Germanentheorie 
und  hielten  sie,  was  viel  wichtiger  ist,  ihre  Mitwelt  nur  für  halb 
so  dummgläubig  wie  jene  es  tun,  dann  hätten  sie  längst  die 
Semitentheorie  aufgestellt  und  nachgewiesen,  daß  in  den 
genialen  Menschen  aller  Völker  und  Zeiten  —  jüdisches  Blut 
fließt.  Sie  hätten  es  ja  so  vielmals  leichter,  da  sie  nicht  erst 
Wanderungen  zu  erfinden  und  Zwangsnaturalisationen  vorzu- 
nehmen brauchen,  denn  sie  sind  ja  wirklich  seit  Jahrtausenden 
über  den  Erdball  verstreut,  sie  hatten  wirklich  schon  Kultur, 
als  die  Ahnen  Kants  und  Goethes  noch  halbnackt  in  ihren  Erd- 
höhlen hockten,  sie  sprechen  die  Idiome  aller  Länder  und  haben 
seit  drei  Jahrtausenden  von  Joseph  in  Ägypten  bis  zur  alexan- 
drinischen  Epoche,  von  den  Khalifenzeiten  zu  Bagdad  und 
Cordova  bis  zur  heutigen  Moderne  sich  am  Kulturleben  der 
verschiedensten  Völker  aktiv  beteiligt.  Die  erste  Elegie  in 
französischer  Sprache  ist  der  Trauersang  eines  jüdischen  Dich- 
ters auf  den  Feuertod  jüdischer  Märtyrer.  In  zahlreichen 
bedeutendsten  Familien  Europas  fließt  nachweislich  jüdisches 
Blut.  Ja,  ganze  10  jüdische  Stämme  sind  doch  spurlos  ver- 
schwunden —  auf  Wanderung  gegangen!  Und  wo  hat  man 
sie  nicht  überall  schon  ernsthaft  vermutet!  Man  hat  durch 
Theorien,  die  der  Germanenhypothese  an  Beweiskraft  wahr- 
lich nicht  nachstehen,  darzulegen  gesucht,  daß  ihre  Nach- 
kommen wiederzufinden  seien  in  den  Römern,  Griechen,  Fran- 
ken, Spaniern,  Sachsen,  Engländern,  Irländern,  Japanern, 
Negern,  Indianern,  Peruanern,  Mexikanern!  Jüdische  Typen 
sind  bei  allen  Völkern  zu  finden  und  von  den  ernsthaftesten 
Anthropologen  ebenso  bei  den  Deutschen,  Franzosen,  Griechen 
wie  bei  den  Kaffern,  Afghanen,  Todas,  Hindus,  Japanern  und 
Indianern  genau  beschrieben.  „Tatsache  ist,"  sagt  Stratz, 
,,daß  sich  der  jüdische  Typus  unter  allen  Rassen  der  Erde  bei 
einzelnen  Individuen  und  Familien  findet."  Er  traf  „%dle 
jüdische  Gesichter  nicht  nur  in  japanischen  Fürstenfamilien, 
sondern  auch  in  älteren  urdeutschen,  urfranzösischen  und  nieder- 
ländischen Aristokratenfamilien  an".  Auch  unter  den  zahlreichen 
Cäsarenbüsten  seien  nicht  wenige,  die  den  jüdischen  Typus 
zeigen.   Nach  Ranke  finden  sich  jüdische  Typen  in  Japan  „im 

62 


ganzen  Kriegs-  und  Hofadel  bis  zur  kaiserlichen  Familie  hinauf 
da  und  dort  zerstreut.  Der  mutmaßliche  Thronerbe  Japans  hat 
ausgeprägt  feine  jüdische  Gesichtszüge,  und  eine  der  schönsten 
Frauen  Tokios  würde  in  Europa  unzweifelhaft  für  jüdischen 
Geblüts  gehalten  werden."  Alle  Voraussetzungen  für  die  glück- 
liche Durchführung  einer  Semitentheorie  scheinen  somit  ge- 
geben. Nur  eine  fehlt  —  die  jüdischen  Woltmanns,  Hausers 
und  Ghamberlains. 

jK.örpergröße,  langer  Schädel,  Blondheit  werden  als  die  drei 
Kennzeichen  des  germanischen  Typus  angegeben. 

Körpergröße  ist  ein  durch  Klima,  Lebensweise 
und  soziale  Lage  variabler  Faktor  und  daher  nur  mit 
äußerster  Vorsicht  über  die  Jahrtausende  hinweg  als  konstantes 
Rassenmerkmal  zu  verwerten.  Außerdem  ist  Körpergröße  ein 
Kennzeichen  so  vieler  und  so  verschiedener  Völker  aller  Rassen, 
Zonen  und  Zeiten,  daß  sie  stets  nur  als  ein  Diagnostikum  von 
untergeordneterBedeutung  bewertet  werden  kann.  Im  allgemeinen 
—  jedoch  durchaus  nicht  gesetzmäßig  —  nimmt  die  Körpergröße 
von  den  Polen  zum  Äquator  ab,  so  daß  die  polaren  Völker,  z.  B. 
in  Amerika  die  Patagonier,  in  Europa  die  Skandinavier  und 
Schotten,  die  größten,  die  äquatorialen  dagegen,  wie  in  Zentral- 
afrika die  Pygmäen,  die  kleinsten  sind.  Zwischen  diesen  beiden 
Extremen  pflegt  die  Wachstumskurve  stufenweise  abzufallen. 
Daher  ist  für  die  nördlich  wohnenden  Germanen  schon  an  sich 
ein  höheres  Körpermaß  als  für  die  Juden  anzunehmen.  Aber 
dieses  Breitengesetz  hat  Ausnahmen.  Neben  den  zentralafrika- 
nischen Zwergvölkern  Akka  und  Koikoin  wohnen  südlich  die 
hochgewachsenen  Hottentotten  und  nördlich  die  schlanken 
Somali  —  ,, Erkläret  mir,  Graf  Oerindur,  diesen  Zwiespalt  der 
Natur!" 

Die  Einwirkungen  des  Klimas  auf  die  Körpergröße  können  so 
rasch  erfolgen,  daß  sie  sich  bei  Wechsel  des  Wohnsitzes  schon  bei 
ein  und  derselben  Generation  bemerkbar  machen.  Die  in 
Amerika  geborenen  Kinder  der  russischen  Juden  werden  noch  in 
derselben  Generation,  auch  ohne  soziale  Aufbesserung,  größer  als 
ihre  in  Rußland  vorgeborenen  Geschwister.  Entsprechendes 
läßt  sich  an  den  Zuwanderern  anderer  Nationalitäten  beob- 
achten. 

Ebenso  bedeutend  wie  die  klimatischen  sind  die  sozialen  Ein- 
flüsse. Der  Jude,  der  tausend  Jahre  im  Ghetto  eingepfercht  ge- 
lebt hat,  ist  körperlich  degeneriert  und  kleiner  geworden;  und 


innerhalb  der  allgemein  kleiner  gewordenen  Juden  läßt  sich 
nachweisen,  daß  sie  dort  am  kleinsten  sind,  wo  das  soziale  Elend 
am  größten.  Die  Juden  der  galizischen  und  litauischen  Ghetti 
sind  die  kleinsten  der  Welt.  Sowie  sie  dem  Elend  des  Ghetto- 
lebens entrinnen,  wachsen  sie.  Die  wohlhabenden  Juden  im 
Westend  zu  London  sind  um  ein  merkliches  größer  als  ihre 
Stammesgenossen  in  den  armen  Vierteln  von  Whitechapel. 
Die  Durchschnittsgröße  der  Juden  schwankt  um  nicht  weniger 
als  9  cm. 

Über  das  Körpermaß  der  Juden  im  Altertum  haben  wir  keine 
zuverlässigen  Nachrichten.  Jedenfalls  werden  die  Häuflein  Juden, 
die  den  besten  Legionen  desrömischenWeltheers  jahrelang  Wider- 
stand leisteten,  werden  die  Rebellen  des  Bar-Kochba,  zu  deren 
Unterwerfung  Hadrian  seine  ausgesuchtesten  Kerntruppen  nach 
Syrien  schicken  mußte,  keine  Krüppel  gewesen  sein.  Unter  den 
Juden  des  palästinensischen  Königreiches  darf  man  sich  nicht 
die  vom  Elend  der  Jahrtausende  gekrümmten  Galuthgestalten 
des  Ostens  denken.  Man  muß  sich  die  kraftvollen  Figuren  vor- 
stellen, die  man  heute  in  Saloniki  als  Hafenarbeiter,  in  Newyork 
als  Schutzmänner,  in  Algier  als  Lastträger  an  der  Arbeit  sieht. 
Daß  es  schmächtige  Figuren  unter  ihnen  gab,  ist  ebenso  selbst- 
verständlich wie  es  solche  auch  unter  den  Germanen  gegeben, 
die  jedoch  zu  Kriegszeiten  im  Hinterland  die  Dörfer  hüteten, 
während  die  Elite  des  Volkes  den  Römern  als  hochgerichtete 
Phalanx  hünischer  Helden  imponierte ;  da  von  diesen  wieder  die 
Prachtexemplare  als  Paradestücke  in  den  Triumphzügen  vor- 
geführt wurden,  bezauberten  sie  die  Einbildungskraft  der  Römer 
mit  dem  Phantom  eines  Volkes  nordischer  Riesen,  das  in  Wahr- 
heit nirgends  existierte.  Die  Neger  von  Dar-es-salaam,  die  keine 
anderen  als  die  Prachtgestalten  der  Kieler  Matrosen  sahen,  malen 
sich  heute  vom  deutschen  Volk  dasselbe  Trugideal,  das  uns  die 
Römer  von  den  alten  Germanen  durch  Tacitus  als  „beglaubigtes 
Zeugnis"  überlieferten.  Und  sind  Friedrich  d.  Gr.,  Kant,  Beet- 
hoven, Menzel,  Brahms  nicht  ebenso  berechtigte  Repräsentanten 
des  deutschen  Volkes  wie  die  Leibgardisten  von  Potsdam?  — 
und  sind  Gestalten,  mit  denen  nicht  einmal  die  Ghetto  Juden  von 
Tuchow  Staat  zu  machen  vermöchten. 

iJas  zweite  Kennzeichen  des  germanischen  Typus  ist  der 
Langschädel.  Früher  glaubte  man  in  der  Form  des  Schädels 
eines  der  wichtigsten  und  konstantesten  Merkmale  erblicken  zu 
können.    Man  teilte  die  Schädel  nach  ihrem  Längen-Breiten- 

64 


^wt 


▼erhältnis,  dem  Index,  in  Lang-,  Mittel-  und  Rundköpfe  ein  und 
nach  dem  Index  wieder  die  Stämme  und  Rassen.  Die  Index- 
lehre beherrschte  die  Anthropologie  des  19.  Jahrhunderts  wie 
ein  Dogma.  Von  der  Indexzahl  hing  es  ab,  ob  ein  Mensch  zu 
den  Seligen  oder  den  Verdammten  gezählt  wurde.  Wie  man 
einstmals  das  Schicksal  eines  Menschen  in  den  Sternen  ein- 
gezeichnet glaubte,  und  es  astrologisch  daraus  las  oder  in  don 
Linien  seiner  Hand  eingegraben  wähnte,  und  es  chiromantisch 
daraus  buchstabierte,  so  las  man  im  19.  Jahrhundert  aus  der 
Indexzahl  des  Schädels  das  vom  Weltgeist  vorbestimmte  und 
vom  Menschen  unabänderlich  hinzunehmende  Schicksal  der 
Völker,  „Ich  bin  überzeugt,"  sagt  der  berühmte  französische 
Anthropologe  Vacher  de  Lapouge  —  nicht  etwa  um  1400 
sondern  1887  —  ,,daß  im  nächsten  Jahrhundert  Millionen  von 
Menschen  einander  umbringen  werden  wegen  ein  oder  zwei  Grad 
mehr  oder  weniger  in  ihrem  Schädelindex.  An  diesem  das 
biblische  Schiboleth  und  die  Sprachverwandtschaft  ersetzenden 
Zeichen  wird  man  die  Nationalität  erkennen,  und  die  letzten 
fühlenden  Menschen  werden  die  Zeugen  katastrophaler  Hin- 
schlachtung von  Völkern  sein." 

Der  Schädelindex  war  der  Paß,  unter  dem  man  im  Reich 
der  Anthropologie  herumreiste  und  klassifiziert  wurde.  Man 
teilte  die  Völker  in  lang-,  mittel-  und  kurzköpfige  ein,  und  mit 
Stolz  zählten  sich  die  Germanen  zu  den  Langschädeln,  während 
die  Juden  mit  den  Türken  bei  den  Kurzköpfen  stehen.  Chamber- 
lain  singt  geradezu  wissenschaftliche  Hymnen  auf  den  Lang- 
schädel, „den  ein  ewig  schlagendes,  von  Sehnsucht  gequältes 
Hirn  aus  der  Kreislinie  tierischen  Wohlbehagens  nach  vorn 
heraushämmerte",  ein  Satz,  der  seltsam  anmutet,  wenn  man 
erfährt,  daß  neben  den  Germanen  als  ausgesprochene  Langschädel 
—  Hottentotten,  Australier  und  Urmenschen  stehen. 

Ganz  allgemein  sind  statistische  Angaben  mit  größter  Vor- 
sicht aufzunehmen.  Nichts  erscheint  schwerer  zu  fälschen  und 
ist  leichter  zu  modeln  als  die  Statistik,  die  Lüge  im  Zahlen- 
gewand. Ganz  besonderes  Mißtrauen  aber  ist  anthropologischen 
Statistiken  über  Schädelgestalt,  Nasenhöhe,  Zahnstellung  und 
Typenbildern  entgegenzubringen.  Die  weitaus  meisten  anthro- 
pologischen Statistiken  sind,  ganz  abgesehen  von  den  Möglich- 
keiten mangelnder  Exaktheit  und  bewußter  oder  unbewußter 
Korrekturen,  auf  unzulängliches  Material  gestützt.  Nach  einer 
in  der  Literatur  oft  angeführten  Statistik  Ikows  gibt  es  unter 
den  Juden  der  Türkei  93%  Langschädel  und  7%  Kurzköpfe. 

(>    Kaiiii,  Die  Juden  65 


Die  Unterlage  für  diese  Untersuchung  gaben  17  —  sage  und 
schreibe  siebzehn  —  Schädel  eines  alten  Friedhofs,  von  dem  es 
noch  sehr  zweifelhaft  ist,  ob  er  überhaupt  jüdische  Gräber  ent- 
hielt! Derartige  Beispiele,  daß  auf  Grund  von  27  oder  43  un- 
kontrollierbaren Schädelmessungen  ein  Volk  einfach  einer  Typen- 
gruppe zugeteilt  wird,  lassen  sich  dutzendweise  aus  der  Literatur 
zusammensuchen.  Aber  selbst  das  größte  Material  und  die  pein- 
lichste Gewissenhaftigkeit  garantieren  kein  objektives  Resultat. 
Majer  und  Kopernicki  veröffentlichten  1876  eine  Arbeit  über  die 
Juden  Galiziens,  in  der  sie  die  Prozentzahl  der  Lang-  und  Kurz- 
schädel eines  galizischen  Ortes  mit  4  und  84  angaben ;  im  zweiten 
Teil  derselben  Arbeit,  die  9  Jahre  später  erschien,  gaben  sie  für 
denselben  Ort  die  Zahlen  16  und  61  an,  also  dort  ein  Verhältnis 
von  1:  20,  hier  ein  solches  von  1:4!  Talko-Hryncewiczs  nennt 
für  die  Schädelform  der  litauischen  Juden  die  Prozentzahlen 
13  und  64;  Weißenberg  für  dieselben  Juden  1  und  81.  Beddoe 
findet  1861  in  London  unter  den  sephardischen  Juden  6%  und 
unter  den  askenasischen  3%  (2:1),  Jacobs  dagegen  unter  jenen 
1%,  unter  diesen  25%  (1:25)!  Während  Virchow  die  Zahl 
der  blonden  Juden  in  Bayern  auf  10%  bestimmt,  kommt  Mayr 
auf  die  Prozentzahl  30.  Ottolenghi  zählt  in  Turin  4%  blonde 
Christen,  Marro  30%!  Über  die  Veränderlichkeit  des  Schädel- 
index schreibt  Judt:  ,,Wir  können  ganz  gut  behaupten,  daß 
äußere  Faktoren  die  Schädelindices  nicht  beeinflussen  ...  als 
solcher  besitzt  der  Hauptschädelindex  eine  fast  unüberwind- 
bare  Dauerhaftigkeit."  Zollschan  kommt  zu  dem  gerade  ent- 
gegengesetzten Schluß,  daß  „bei  den  einzelnen  Rassen  ge- 
radezu auffallend  stets  einer  Tendenz  zur  Erhöhung  ihres 
Kulturwertes  auch  eine  Tendenz  zur  langsamen  aber  steten 
Umwandlung  von  Lang-  zur  Kurzköpf igkeit  entspricht."  Nach 
diesen  Kostproben  vom  bunten  Tisch  der  Anthropologie  hat 
man  keinen  Grund,  die  Wahrheit  jener  ergötzlichen  Anekdote 
zu  bezweifeln,  die  Hertz  berichtet:  In  Paris  wurde  eines 
Tages  ein  Massengrab  entdeckt,  von  dem  man  glaubte,  es 
enthalte  die  Gebeine  von  Soldaten  aus  den  Heeren  der  Verbün- 
deten von  1813.  Ein  berühmter  Anthropologe  untersuchte 
den  interessanten  Fund  und  bestimmte  die  Schädel  als  finnische, 
baschkirische,  kalmückische  usw.  Kurz  danach  stellte  sich 
heraus,  daß  dieses  Grab  die  Leichen  von  Pariser  Frauen  ent- 
halten hatte,  die  1832  an  der  Cholera  gestorben  waren.  Will  nun 
noch  jemand  bezweifeln,  daß  —  mit  Chamberlain  zu  reden  — 
„die  anthropologischen  Ergebnisse  die  Ergebnisse  einer  exakten 

66 


Wissenschaft"  sind,  und  daß  man  sich  hier,  um  mit  Wilser  zu 
sprechen,  auf  dem  Boden  einer  „voraussetzungslosen  Wissen- 
schaft", einer  ,,mit  strengster  Sachlichkeit  unternommenen 
Forschung"  bewegt?! 

Noch  viel  ärger  wird  die  äußere  und  innere  Schädel  Verwirrung, 
wenn  man  sich  auf  den  Boden  der  Hauser'schen  Typologie  be- 
gibt, wo  nicht  mehr  Zahlenmaße  sondern  subjektive  Eindrücke 
registriert  werden.  Über  die  yemenitischen  Juden  sagt  der  Rei- 
sende von  Maltzan:  „Die  seßhafte  jüdische  Bevölkerung  weist 
heutzutage  keine  Spuren  arabischer  Elemente  auf.  Ihre  Physio- 
gnomie, Hautfarbe,  selbst  ihr  Gliederbau  ist  von  dem  der  Süd- 
araber so  grundverschieden,  daß  an  eine  innigere  Vermischung 
nicht  zu  denken  ist."  Weißenberg  ist  nach  seinen  anthropo- 
logischen Untersuchungen  „geneigt,  die  yemenitischen  Juden 
als  NichtJuden  zu  erklären,  da  er  in  ihnen  mit  gewissem  Recht 
nur  judaisierte  Araber  sieht".  Über  die  Turkestaner  Juden 
sagt  Radioff:  „In  den  Turkestaner  Juden  hat  sich  der  Typus 
vollständig  rein  erhalten";  Weißenberg  dagegen:  „Wir  haben 
in  den  zentralasiatischen  Juden  nicht  eine  einheitliche  sondern 
eine  Mischgruppe  zu  erkennen."  Von  den  alten  Samaritanern 
sind  nur  etwa  150  übrig  geblieben,  die  unter  Führung  eines 
Hohepriesters  eine  kleine  Gemeinde  in  Nablus  bilden.  Von 
diesem  Hohepriester  sagt  Orelli,  daß  er  edle  Gesichtszüge  ,,ohne 
jüdischen  Typus"  habe.  Wackernagel  dagegen  findet,  daß  er 
und  sein  Haus  „den  jüdischen  Typus  tragen".  Huxley  sagt, 
„daß  der  allgemeine  Physiognomietypus  der  Samaritaner  ent- 
schieden jüdisch  ist  .  .  .  Die  Samaritaner  haben  den  alten  Typus 
in  seiner  Reinheit  bewahrt  und  sind  heute  die  einzigen,  wiewohl 
degenerierten  Vertreter  der  alten  Hebräer".  Fishberg  dagegen 
behauptet,  „daß  der  jüdische  Typus  bei  ihnen  nicht  stärker 
hervortritt  als  bei  der  nicht  jüdischen  Bevölkerung  Kleinasiens 
und  Palästinas". 

Wie  nicht  anders  zu  erwarten,  ist  die  Indexlehre  von  der 
Wissenschaft  verlassen  worden  und  zählt  ebenso  zu  ihren  Anti- 
quitäten wie  heute  die  Ariertheorie  und  morgen  die  Germanen- 
theorie. „Die  ganze  Ansicht  über  langschädelige  Völker  ist", 
wie  einer  der  führenden  Anthropologen  der  Gegenwart,  von 
Török,  schreibt,  „hinfällig  .  .  .  die  ganze  diesbezügliche 
Kraniologie  bewegt  sich  seit  60  Jahren  auf  falschen  und 
resultatlosen  Wegen,  die  Retzius'sche  Indexbetrachtung  ist 
unbrauchbar."  Die  Untersuchungen  der  letzten  30  Jahre 
haben  nämlich  ergeben,  daß  der  Schädelindex,  dieses  „sicherste 

••  67 


und  feststehende  Rassenmerkmal"  wie  fast  alle  übrigen 
Rassenzeichen  eine  durchaus  variable,  von  äußeren  Milieu- 
einflüssen abhängige  Größe  ist.  In  der  Anthropologie  ist 
durch  diese  Einsicht  wie  in  einem  Klub,  dessen  Kassierer  sich 
als  Defraudant  entpuppt  hat,  ein  wahrer  Katzenjammer  ein- 
getreten, 

Schädelform  ist  ein  Produkt  der  Lebensführung, 
und  zwar  neben  der  generellen,  die  das  Milieu  erzwingt,  auch 
der  individuellen,  so  daß  man  unter  allen  Völkern,  selbst  unter 
reinen  Stämmen,  alle  Formen  der  Schädel  nebeneinander  findet. 
Liebreich  legte  von  zwei  sich  völlig  gleichenden  Zwillingen  da» 
eine  Kind  von  Geburt  an  auf-die  Seite,  das  andere  auf  den  Rücken 
und  erzielte  dadurch  bei  jenem  einen  ausgesprochenen  Lang-, 
bei  diesem  einen  ebenso  ausgesprochenen  Kurzkopf.  Es  scheint 
sehr  wohl  möglich,  daß  durch  volkstümliche  Gewohnheiten  der 
Kindespflege,  durch  die  verbreitete  Sitte  Lasten  auf  dem  Kopf 
zu  tragen  u.  dgl.  m.  bei  den  verschiedenen  Völkern  Kurz- 
oder Langköpfigkeit  nachgeburtlich  angezüchtet  wird.  Von 
großem  Einfluß  auf  die  Kopfbildung  scheinen  klimatische 
Einflüsse  zu  sein.  Wechsel  des  Klimas  und  der  Lebensweise 
verändern  mit  dem  ganzen  Habitus  auch  die  Kopfgestalt. 
Wie  das  in  Amerika  geborene  Kind  der  ausgewanderten  russi- 
schen Juden  größer  wird  als  seine  älteren  Geschwister,  so 
ändert  sich  auch  sein  Index.  Das  in  Rußland  geborene  Kind 
behält,  selbst  wenn  es  bei  der  Ankunft  in  Amerika  noch  nicht 
ein  Jahr  alt  ist,  seine  russisch- jüdische  Kopfform;  sein  nächstes 
Geschwister  nähert  sich  dem  davon  abweichenden  amerikani- 
schen Typus.  Überhaupt  ist  die  Umwandlung,  die  mit  den  ein- 
gewanderten Europäern  in  Amerika  vor  sich  geht,  ein  Parade- 
beispiel für  den  Wandel  der  alten  und  die  Entstehung  von  neuen 
Rassen.  Unter  unseren  Augen  sehen  wir  in  Amerika  eine  völlig 
neue  Menschenrasse  werden.  Der  Yankee  ist  ein  bisher  un- 
bekannter Rassentyp.  Er  unterscheidet  sich  vom  Engländer 
durch  die  eckige  Form  seines  Gesichtes  im  Gegensatz  zum  Oval 
des  Briten.  Der  Hals  wird  länger,  die  Backenknochen  treten 
stärker  vor,  die  Nase  biegt  sich  indianerhaft,  die  Augen  sinken 
zurück  und  rücken  zusammen,  die  Arme  und  Hände  wer- 
den länger,  so  daß  man  in  Europa  für  den  amerikanischen 
Markt  besondere  Handschuhe  mit  langen  Fingern  anfertigen 
muß;  Drüsen  und  Fett  nehmen  ab,  so  daß  die  Haut  trockener 
wird,  ihre  warme  Röte  verliert  und  einen  ins  Zitronengelbe 
spielenden  Teint  annimmt;  Haar  und   Augen  dunkeln  —  der 

68 


Europäer  in  Amerika  indianisiert  sich.  Man  vei^egenwärtige 
sich  als  Beispiel  die  ausgesprochen  indianisierte  Physiognomie 
des  Präsidenten  Wilson.  Denselben  Veränderungen  unterliegen 
unter  Hellerwerden  der  Haut  die  Neger,  so  daß  die  beiden  ganz 
Tcrschiedenen  Rassen  gleichsam  von  zwei  entgegengesetzten 
Seiten  dem  Indianertypus  zustreben. 

Die  Juden,  über  die  ganze  Erde  verstreut,  zeigen  überhaupt 
keine  einheitliche  Schädelform,  sondern  nähern  sich,  da  sie  den 
gleichen  klimatischen  Einflüssen  unterliegen,  in  den  verschie- 
denen Ländern  dem  jeweiligen  Landestyp  der  Bevölkerung. 
Die  Juden  in  Arabien,  Mesopotamien  und  Afrika  sind  lang- 
köpfig  wie  die  dortigen  Völker,  im  Kaukasus  sind  sie  rund- 
köpfig,  in  Europa  mittelköpfig. 

Neben  dem  Klima  ist  die  Lebensweise  ein  bestimmender 
Faktor  für  die  Formbildung  des  Kopfes.  Durch  starken  Muskel- 
aug  soll  der  Schädel  in  die  Breite  gezogen  werden,  so  daß  Men- 
schen, die  ihre  Nackenmuskeln  viel  und  dauernd  anspannen, 
wie  Reiter,  Bergsteiger,  Lastträger,  Breitschädel  bekommen; 
hierdurch  erklärt  man,  daß  Reiter-  und  Gebirgsvölker  kurz- 
schädelig  sind.  In  Europa  sind  —  aus  diesem  Grund?  —  die 
in  den  Alpen  wohnenden  Stämme  im  Gegensatz  zu  denen  der 
Ebenen  kurzköpfig,  so  daß  die  Anthropologie  diesen  kurz- 
köpf igen  Gebirgstyp,  der  sich  vom  Kaukasus  über  die  Kar- 
pathen  und  Alpen  bis  zu  den  Pyrenäen  hinzieht,  als  eine  eigene 
Rasse,  den  Homo  alpinus,  dem  nordischen  Langschädel  der 
Ebene  entgegenstellt.  Dieser  Homo  alpinus  spielt  in  der  Welt- 
anschauung der  Germanentheorie  eine  bedeutende  Rolle. 

Kurzköpfig,  kleiner,  dunkler  im  Teint,  gilt  der  Alpine  als 
der  schwarze  Bruder  des  lichten  Blonden.  Er  ist  der  böse  Kain, 
der  aus  Neid  und  Habsucht  den  edlen  ahnungslosen  Abel  zu 
erschlagen  sucht,  indes  dieser  auf  den  Altären  der  Kultur  seiner 
Gottheit  reine  Opfer  bringt.  „Den  Blonden",  schreibt  Hauser, 
„treibt  es  in  ewig  unbefriedigter  Sehnsucht  in  immer  neue 
Erden-  und  Geistesgebiete.  Er  will  sehen,  wissen,  erkennen  .  .  . 
Er  wird  ganz  und  gar  vom  Streben  beherrscht.  Dem  Dunklen 
gilt  die  Gegenwart  alles,  der  Blonde  träumt  immer  von  der  Zu- 
kunft. Das  Wort  Sehnsucht  hat  nur  für  ihn  Bedeutung.  Der 
Alpine,  der  sich  von  Schwaben  her  über  Süddeutschland  bis 
nach  Sachsen  hinein  verbreitet  hat,  ist  vor  allem  Geschäfts- 
mann. Er  ist  als  solcher  fleißig  aber  skrupellos  (unfair),  ver- 
schmäht keinen  Trick,  erniedrigt  sich,  um  einen  Pfennig  zu 
verdienen  ...  er  hat  kein  wahrhaftes  Interesse  außerhalb  seiner 

69 


selbst  und  seines  Geldes,  womit  er  nur  sich  selbst  dienen  will. 
Er  kauft  sich  wohl  Bildung,  aber  zu  keinem  innerlichen  Nutzen. 
Er  entpuppt  sich  immer  als  Parvenü.  Er  ist  Geschäftsmann  in 
allem,  auch  in  der  „Liebe".  Er  schließt  die  vorteilhaften  Hei- 
raten und  bleibt  immer  eifriger  Bordellbesucher  ...  Es  gibt 
für  ihn  keine  Werte  über  die  Sachwerte  hinaus,  erst  durch 
viel  nordisches  Blut  verliert  er  seine  tiefinnere  Gemeinheit, 
erst  dann,  wenn  seine  Haut  die  rosige  Weißheit  des  Nordens 
hat.  Aber  selbst  ein  Balzac  ist  nichts  weniger  als  ideal  im  nor- 
dischen Sinn  und  Beethoven  trotz  seinem  ernsten  Streben 
und  seiner  Selbstlosigkeit  wenig  sympathisch." 

„Da",  wie  Hauser  schreibt,  „die  Dunklen  sich  geistig  nur 
bis  zum  Eintritt  der  Mannbarkeit  entwickeln,  dann  alle  Inter- 
essen hinter  den  Sensationen  des  Geschlechtslebens  zurück- 
treten," so  ist  der  Homo  alpinus  weit  fruchtbarer  als  der  aristo- 
kratisch zurückhaltende  Norde  und  drängt  diesen  immer  mehr 
zurück,  bis  eines  Tages  dieser  Edeltypus  ausgestorben  sein  wird 
und  über  seinen  Gäbern  die  Walpurgisscharen  des  Homo  alpinus 
als  das  sieghafte  Hreer  der  Bösen  ihren  Triumphtanz  aufführen. 
Rassentragödie. 

In  Wirklichkeit  wird  sich  eines  Tages  der  Homo  alpinus 
ebenso  als  eine  Erfindung  der  Studierstube  demaskieren  wie 
der  Arier.  Er  ist  höchst  wahrscheinlich  nichts  Anderes  als  ein- 
fach die  Höhenvarietät  des  Homo  europaeus  im  Gegensatz 
zum  Tieflandstyp.  Gebirgsleben  dunkelt  den  Teint  und  das 
Haar,  verkürzt  und  kräftigt  die  Körpergestalt  und  rundet  den 
Schädel.  Dieser  Wechsel  erfolgt,  gleichviel  wo  auf  Erden,  bei 
allen  Rassen.  Die  Bewohner  des  Himalaya,  der  Anden,  der 
Rocky-Mountains,  die  Peruaner  der  Cordilleren  und  die  Mexi- 
kaner des  Tafellandes  sind  kurzköpfiger  und  alpiner  im  Körper- 
bau als  ihre  in  den  Ebenen  wohnenden  Stammesverwandten. 

Wie  exakt  die  Rasse  in  allen  Teilen  der  Erde  auf  das  Gebirgs- 
leben reagiert,  wie  verschieden  aber  je  nach  der  Gebirgshöhe 
die  Reaktion  ausfällt,  und  wie  streng  man  sich  daher  vor  jeder 
Schematisierung  hüten  muß,  beweist  folgende  Tatsache:  Ge- 
birgsleben dunkelt  den  Teint,  Hochgebirgsleben  dagegen  — 
Wirkung  der  Schneeregion  —  hellt  ihn  auf,  so  daß  man  in  den 
hohen  Regionen  der  Gebirge  wieder  einen  höheren  Prozentsatz 
von  Blondlingen  findet,  die  man  um  so  weniger  als  Germanen 
auffassen  kann,  als  sie  ja  erstens  durch  einen  Gürtel  von  dunkler 
Bevölkerung  von  der  übrigen  Welt  geschieden  sind  und  zweitens 
ja  gerade  in  jener  Abgeschlossenheit  leben,  die  eine  Reinheit 

70 


«1 


und  Unversehrtheit  der  nicht  germanischen  Urrasse  am  ehesten 
verbürgt.  Solche  Gebirgsblondlinge  findet  man  ebenso  im  hohen 
Kaukasus  unter  den  Kurden  wie  am  Atlas  unter  den  Ryffisen, 
am  Libanon  unter  den  Drusen,  auf  den  Pyrenäen  unter  den 
Basken  und  in  den  amerikanischen  Hochgebirgen.  Der  Eifer 
der  politischen  Anthropologen  gegen  den  Homo  alpinus  wirkt 
um  so  befremdender,  als  die  Überzahl  der  deutschen  Genies 
aus  seinem  Stammgebiet  hervorgegangen  ist  und  die  echtesten 
germanischen  Geister  diesem  Typus  angehören.  Goethe  soll 
ein  Mischling  zwischen  dem  echten  Germanen  und  dem  Homo 
alpinus  sein,  Beethoven,  dieses  im  edelsten  Sinne  deutscheste 
aller  deutschen  Genies,  ist  geradezu  ein  Prototyp  des  Homo 
alpinus:  klein,  gedrungen,  häßlich,  breitschädelig,  mit  gelbem 
Teint,  dunkelsträhnigem  Haar  und  dunklen  Augen  —  und  da- 
her Otto  Hauser  „wenig  sympathisch".^) 

Eine  interessante  und  geradezu  entscheidende  Wendung 
hat  das  Indexproblem  durch  die  Vergleichung  der  Schädel 
aus  den  verschiedenen  Ausgrabungsepochen  gewonnen.  Diese 
deuten  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  darauf  hin,  daß  bei 
allen  Völkern  die  langschädelige  Form  des  Kopfes 
die  primitive  ist,  aus  der  mit  steigender  Kultur 
die  kurzköpfige  hervorgeht.  Überall,  sei  es  in  Babylon 
und  Ägypten  oder  in  Frankreich  und  Deutschland,  findet  man 
um  so  mehr  Kurzköpfe,  je  weiter  man  in  der  Kulturgeschichte 
eines  Volkes  voranschreitet.  An  Kulturstätten  wie  Paris  kann 
man  die  Tendenz  von  Lang-  zu  Kurzköpfigkeit  selbst  in  der 
kurzen  Spanne  historischer  Jahrhunderte  verfolgen.  Beispiels- 
weise ist   die   diluviale   Neandertal-Spy- Rasse   ausgesprochen 

1)  Unter  dem  Gesichtspunkt  der  Hauser'schen  Typologie  ist  es  typo- 
logisch,  psycho-typologisch  bemerkenswert,  daß  gerade  Beethoven,  dieser 
ethisch  erhabenste,  wirklich,  wie  ihn  Khnger  gemeißelt,  als  Halbgott 
hoch  über  allem  Irdischen  thronende  Titan,  der  von  allen  Musikern  das 
deutsche  Wesen  in  seiner  reinsten  Form  repräsentiert,  der  wie  kein  an- 
derer vor  und  nach  ihm  —  höchstens  Bach  und  Händel  zu  vergleichen  — 
die  Musik  zum  Ausdrucksmittel  ethischen  Willens  erhob  —  „Texte  wie 
Mozart  konnte  ich  nie  komponieren,  es  muß  etwas  Sittliches,  Erheben- 
des sein"  — ,  daß  dieser  Genius,  der  „alles,  was  Leben  heißt,  dem  Er- 
habenen geopfert",  dessen  Wahlspruch  war:  „Wohltun,  wo  man  kann, 
Freiheit  über  alles  lieben,  Wahrheit  nie,  auch  sogar  am  Throne  nicht 
verleugnen"  und  der  im  Heiligenstädter  Testament  das  vielleicht  er- 
habenste und  unvergänglichste  Zeugnis  deutscher  Sendung  und  Ge- 
sinnung hinterheß  —  wenn  von  deutscher  Sprache  uns  ein  Zeugnis 
übrig  bleiben  dürfte,  so  sollte  es  dieses  sein  —  daß  gerade  dieser  Mann, 
der  Germanus  Germanorum,  Hauser  „wenig  sympathisch"  ist. 

71 


Ungschädelig.  Unmöglich  kann  bei  ihr  schon,  wie  Gham- 
berlain  pathetisch  deklamiert,  „ein  ewig  schlagendes,  in 
Selinsucht  gequältes  Hirn  den  Schädel  nach  vorn  heraus- 
gehämmert haben",  während  er  bei  Schiller,  Beethoven,  Kant 
und  Bismarck  „in  der  Kreislinie  des  tierischen  Wohlbehagens" 
verharrte. 

Dieser  kulturhistorische  Wechsel  der  Schädelform  steht 
durchaus  im  Einklang  mit  den  theoretischen  Forderungen: 
die  Kugel  ist  diejenige  Form,  die  bei  größtem  Inhalt  die  kleinste 
Oberfläche  besitzt.  Mit  zunehmender  Hirnmasse  muß  logischer- 
weise der  Schädel  sich  der  Kugelform  nähern.  Schon  der  Druck 
des  Hirnwassers,  der  nach  den  hydrodynamischen  Gesetzen 
allseitig  gleich  stark  wirkt,  muß  diese  Annäherung  an  die 
Kugelform  begünstigen.  Der  riesenhirnige  Übermensch  der 
Zukunft  wird  ohne  Zweifel  einen  gewaltigen  Rundschädel 
auf  seinen  Schultern  tragen.  Führende  Anthropologen  wie 
Schaaffhausen,  Virchow,  Taylor,  Mortillet  und  Matiegka  schrei- 
ben daher  schon  heute  dem  Rundschädel,  im  Gegensatz  zu  den 
Germanentheoretikern,  die  geistige  Überlegenheit  über  den  Lang- 
kopf zu.  Hiermit  harmoniert,  daß  die  weitaus  meisten  Genies, 
nicht  wie  es  die  Germanentheorie  fordert,  langschädelig  sind 
sondern  ausgesprochene  Kurzköpfe.  Selbst  die  deutschesten 
der  deutschen  Genies,  um  nur  diese  zu  nennen,  Luther,  Leibniz, 
Kant,  Schopenhauer,  Schiller,  Goethe,  Beethoven,  Bismarck, 
Menzel,  waren  Rundköpfe.  In  dem  rein  germanischen  Schweden 
hat  Nyström  die  interessante  Feststellung  gemacht,  daß  in 
den  niederen  Volksklassen  die  Langköpfe,  in  den  höheren  die 
Rundköpfe  überwiegen,  und  daß  von  denen,  die  sich  kraft  ihrer 
Leistungsfähigkeit  aus  den  niederen  Volksschichten  in  die 
höheren  emporarbeiten,  die  Mehrzahl  wieder  Rundköpfe  sind. 
Unter  hundert  Langköpfen  gehören  in  Schweden  76  den  niederen 
und  24  den  höheren  Gesellschaftsklassen  an. 

Die  heute  noch  vielfach  angetroffene  Langköpfigkeit  der 
Germanen,  namentlich  in  dem  kultur jüngeren  Norden  gegen- 
über dem  kulturälteren  Süden,  und  die  rapide  Verdrängung  der 
Langschädel  durch  die  Kurzköpfe  fügt  sich  demgemäß  durchaus 
in  den  Rahmen  der  historischen  Tatsache,  daß  die  Germanen 
ein  noch  junges  Kulturvolk  mit  zur  Zeit  starker  Tendenz  zum 
Aufstieg  darstellen.  Die  relative  Seltenheit  des  Langschädels 
unter  den  Juden  dagegen  würde  sich  im  Lichte  dieser  Auf- 
fassung aus  dem  hohen  Alter  und  der  spezifischen  Durchgeisti- 
gung  ihrer  Kultur  erklären  und  ein  Beweis  sein,  daß  bei  der 

72 


Mehrzahl  von  ihnen  der  Schädel  aus  dem  primitiven  Oval  in 
die  Ghamberlain'sche  „Kreislinie  tierischen  Wohlbehagens" 
hineingewachsen  ist. 

Uas  dritte  Kennzeichen  des  Germanen  ist  die  Blondheit. 
Diese  wird  durch  Pigmentarmut  der  Haut  hervorgerufen,  die 
das  Haar  blond,  das  Auge  blau  und  den  Teint  rosig  erscheinen 
läßt.  Der  Begriff  der  Blondheit  ist  im  Sprachgebrauch  natür- 
lich ein  relativer.  Ein  Mensch,  der  unter  den  Friesen  dunkel 
genannt  wird,  würde  auf  Sizilien  als  blond  bezeichnet  werden. 
Wenn  man  in  den  Schriften  brünetter  Völker  wie  in  der  Bibel 
von  blonden  Menschen  liest,  so  müssen  diese  nicht  notwendiger- 
weise germanenblond  gewesen  sein  sondern,  dem  Sprachgebrauch 
entsprechend,  einfach  lichtere  Individuen.  Ausgesprochen  blonden 
oder  dunklen  Rassen  begegnet  man  nur  in  den  Extremen  der 
Völkerskala:  im  hohen  Norden  und  im  tiefen  Süden.  Bei  allen 
Völkern  der  mittleren  Breiten  findet  man  neben  einem  vor- 
herrschenden Grundton  alle  Spielarten  dieser  Farben  vom 
lichten  Blond  bis  zum  tiefsten  Schwarz.  Auch  unter  den  dunkel- 
farbigen Australiern  der  „Urrasse"  sieht  man  nach  Strato 
neben  dem  schwarzen  „oft  rötliches  Haar,  in  einzelnen  Fällen 
ein  dunkles  Aschblond".  Selbst  unter  ausgesprochen  dunkel- 
haarigen Völkern  wie  den  Papuas,  Pygmäen,  Akkas  und  Ni- 
grittiern  Zentralafrikas  beobachtet  man  einzelne  Blondlinge. 
Aufhellung  der  Farbe  ist  erstens  eine  Erscheinung  der  Spielart 
und  zweitens  ein  Milieuergebnis,  das  ebenso  wie  bei  den  Ger- 
manen auch  bei  allen  anderen  Völkern  der  polaren  Breiten 
auftreten  kann.  Das  Vorkommen  hellfarbiger  Typen 
unter  brünetten  Völkern  berechtigt  in  keiner 
Weise  zu  dem  Schluß,  daß  eine  Vermischung  mit 
Germanen  stattgefunden  habe,  und  die  Idee,  daß  ein 
blonder  Mensch  Germane  sein  muß,  ist  genau  so  absurd,  als 
wollte  man  von  einem  weißen  Karnickel  behaupten,  es  müsse 
«n  Polartier  zum  Ahnen  haben. 

Unter  den  Juden  ist  Blondheit  häufig,  doch  lassen  sich  keine 
Durchschnittszahlen  angeben,  da  diese  je  nach  dem  Milieu 
außerordentlich  schwanken.  Während  man  in  Deutschland 
bis  zu  30%  blonde  Juden  trifft,  sinkt  diese  Zahl  in  Italien  auf 
5%  und  in  Afrika  auf  weniger  als  ^/2%.  Diese  Schwankungen 
widerlegen  die  Ansicht  der  Germanentheoretiker,  daß  die 
Blondheit  der  Juden  in  erster  Linie  auf  eine  frühgeschicht- 
Mche  Mischung  mit  Germanen  zurückzuführen  sei.    Wäre  diese 

73 


Völkermischung  die  einzige  oder  auch  nur  ausschlaggebende 
Ursache  für  die  Blondheit  der  Juden,  so  müßte  man  Blondlinge 
unter  den  Juden  aller  Länder  finden,  denn  wenn  die  Wirkung 
des  germanischen  Blutes  über  die  Jahrtausende  hinweg  noch 
heute  unter  den  Juden  des  Nordens  fortwirkt,  so  muß  sie  zum 
mindesten  in  einem  gewissen  Grade  auch  unter  den  Juden  des 
Südens  noch  wirksam  sein  und,  allen  Milieueinflüssen  zum  Trotz, 
wenigstens  einen  gewissen  konstanten  Prozentsatz  blonder 
Juden  erhalten.  Gegen  die  Annahme,  daß  die  Mehrzahl  der 
jüdischen  Blondlinge  ihre  helle  Farbe  germanischen  Voreltern 
verdankt,  spricht  auch  ihr  Typus,  der  vom  germanischen  Blond- 
lingstyp erheblich  abweicht.  Der  jüdische  Blondling  besitzt 
nicht  die  Figur  des  Heldentenors,  sondern  ist  in  seinem  Ha- 
bitus echter  Jude.  Man  könnte  versucht  sein,  diese  Kombi- 
nation von  germanischem  Blond  mit  jüdischer  Physiognomie 
durch  Bastardierung  von  germanischen  und  jüdischen  Typen 
zu  erklären.  Aber  das  jüdische  Blond  wird  gewöhnlich  nicht 
wie  das  germanische  durch  Pigmentarmut  hervorgerufen,  son- 
dern beruht  auf  Anhäufung  eines  reichlich  vorhanclenen,  ins 
Rötliche  spielenden  Farbstoffs.  Rotes  Pigment  in  Haut  und 
Haaren  ist  geradezu  eine  Rasseneigentümlichkeit  der  Juden. 
Der  „rote  Itzig"  ist  eine  jüdische  Volksfigur.  Diese  rothaarigen 
Juden  sind  keine  verwässerten  Mischlinge  sondern  Juden  par 
excellence.  Man  kann,  wie  Zollschan  in  seinem  Buche  über 
das  Rassenproblem  bemerkt,  das  Rot  in  der  Farbenskala 
Blond,  Braun,  Schwarz  über  das  Schwarz  hinaus  als  ein  Ultra- 
schwarz,  als  höchste  Potenz  der  jüdischen  Rassenfarbe  be- 
trachten. Vielleicht  entsteht  das  unter  den  Juden  häufige 
Blond  oftmals  durch  eine  Kreuzung  dieses  Rot  mit  den  ver- 
schiedenen Nuancen  des  Brünett.  Zwar  behauptet  Chamberlain : 
„Helle  Haut  und  blondes  Haar  kamen  bei  den  Hebräern  und 
den  Menschen  der  syrischen  Gruppen  niemals  vor,  sondern 
diese  Charakteristika  des  Europäers  wurden  erst  durch  die 
Amoriter  und  Hellenen  ins  Land  gebracht,  darum  fiel  ja  auch 
Davids  Blondheit  auf"  —  in  Wirklichkeit  aber  besitzen  wir 
über  die  Juden  und  Syrer,  die  vor  drei  Jahrtausenden  in  Vorder- 
asien inmitten  eines  Völkerchaos  lebten,  nicht  das  geringste, 
aber  auch  nicht  das  allergeringste  Tatsachenmaterial.  Wohl 
aber  widerspricht  Chamberlains  im  Ton  einer  Tatsache  vor- 
getragene Behauptung  allen  Wahrscheinlichkeitsannahmen  der 
Wissenschaft;  denn  selbst  unter  jenen  Völkern  der  syrischen 
Gruppe,  die  den  jüdischen  Typus  am  reinsten  repräsentieren 

74 


und  denen  die  heutigen  Juden  ihre  spezifisch  jüdischen,  unger- 
manischen Charaktere  verdanken,  den  Hethitern,  den  heutigen 
Armeniern,  unter  denen  nach  Chamberlain  „helle  Haut  und 
blondes  Haar  niemals  vorkamen",  findet  man  noch  jetzt,  fast 
genau  in  denselben  Prozentzahlen  wie  bei  den  Juden,  neben 
ungefähr  25%  schwarzen  und  50%  braunen,  10%  dunkelblonde, 
2%  hellblonde  und  2%  rötliche  Individuen. 

„Darum  fiel  ja  auch  Davids  Blondheit  auf"  —  wo,  so  fragt 
man  erstaunt,  steht  in  der  Bibel,  daß  Davids  Blondheit  auffiel  ? 
,,Er  war  rot  und  schön  von  Angesicht",  heißt  es  von  ihm,  wie  auch 
von  Esau,  Saul,  Absalom,  Judas  und  Maria  Magdalena  berichtet 
wird.  Da  David  an  dieser  Stelle  ausdrücklich  als  ein  Kind  be- 
schrieben wird,  kann  dieses  Rot,  wie  es  der  größere  Teil  der 
Bibelübersetzer  auch  annimmt,  ebensowohl  „rosig"  heißen  me 
blond.  Nachdem  Chamberlain  aber  seinen  Lesern  mit  der  Be- 
stimmtheit, als  verkünde  er  eine  Tatsache,  versichert,  „die  Bibel 
legt  an  verschiedenen  Orten  besonderen  Nachdruck  auf  seine 
Blondheit",  gesteht  er  in,  einer  von  den  meisten  Lesern  gerne 
überschlagenen  Fußnote  ein,  daß  Luther  zwar  das  Rot  an  dieser 
Stelle  mit  bräunlich  übersetzt  und  Gesenius,  der  bahnbrechende 
Lexikograph  des  Hebräischen,  dieses  Rot,  wie  es  bei  der  Schil- 
derung eines  Kindes  auch  wahrscheinlich  gemeint  ist,  auf  die 
Gesichtsfarbe  bezieht,  um  sodann  fortzufahren:  „Die  besten 
wissenschaftlichen  Übersetzungen  der  Gegenwart  fassen  aber 
diese  Bezeichnung  direkt  als  blond,  d.  h.  also  blondhaarig  auf, 
und  es  scheint  als  sicher  zu  gelten,  daß  David  ausgesprochen 
blond  war."  Ein  Musterbeispiel  Chamberlain'scher  Metho- 
dik. Im  Text  wird  zuerst  dem  Leser  irgendeine  Behauptung 
als  sicheres  Faktum  präsentiert.  „Die  Bibel  legt  an  verschie- 
denen Orten  besonderen  Nachdruck  auf  seine  Blondheit", 
während  in  der  Bibel  in  Wahrheit  weder  mit  besonderem  Nach- 
druck noch  überhaupt  je  von  Blondheit  gesprochen  wird. 
Nachdem  dem  Leser  eine  durchaus  persönliche  Auslegung  als 
Tatsache  vorgesetzt  ist,  wird  sie  nun  erst  zu  beweisen  gesucht ; 
es  wird  schüchtern  zugestanden,  daß  von  Blondheit  gar  nicht 
die  Rede,  sondern  daß  im  Gegenteil  die  Meinungen  über  die 
Übersetzung  dieser  Stelle  sehr  verschieden  sind.  Dann  aber 
wird  aus  einer  weiteren  subjektiven  Behauptung,  daß  näm- 
lich „die  besten  wissenschaftlichen  Übersetzungen  der  Gegen- 
wart diese  Bezeichnung  direkt  als  blond,  d.  h.  also  blond- 
haarig, auffassen",  die  Folgerung  gezogen:  „Also  scheint  es 
als  sicher  zu   gelten,"   daß    David   —  nun  nicht  nur   blond 

75 


sondern  sogar  schon  —  „ausgesprochen  blond"  gewesen  ist. 
Wäre  die  Anmerkung  noch  einige  Zeilen  länger  geworden, 
würde  David  im  nächsten  Satz  einen  blonden  Vollbart,  im 
übernächsten  Tannhäuserlocken  und  im  dritten  blaue  Augen  be- 
kommen, und  am  Ende  stände  er  als  ein  germanischer  Helden- 
lenor,   ein  biblischer  Siegfried   vor  uns  .  .  .   Germanentheorie! 

Mit  denselben  fadenscheinigen  Gründen  wirken  die  Germanen- 
Iheoretiker  das  zerreißliche  Netz  ihrer  Hypothesen  immer 
weiter  und  behaupten,  daß  auch  die  übrigen  genialen  Gestalten 
der  jüdischen  Geschichte  von  Salomo  bis  Christus  Germanen 
gewesen.  Über  das  wirkliche  Aussehen  des  altjüdiscben  Genies 
ist  uns  ebensowenig  etwas  bekannt  wie  über  das  Aussehen 
Homers  oder  Sapphos.  Nicht  einmal  über  Christus  ist 
•ine  einzige  Schilderung  authentisch.  Von  den  Evangelisten 
hat  nur  Johannes  ihn  persönlich  gekannt,  und  doch  ist 
gerade  (oder  vielleicht  gerade  deswegen)  sein  Evangelium 
das  widerspruchvollste  und  umstrittenste  von  allen.  Alles, 
was  Chamberlain  und  die  anderen  Germanentheoretiker  über 
den  Typus  des  alt  jüdischen  Genies  vorbringen,  sind  Hypo- 
thesen ohne  Grundlagen  —  Schwerter,  denen  nicht  nur  die 
Griffe  sondern  auch  die  Schneiden  fehlen. 

Der  einzige  Prüfstein  für  Theorien  sind  Tatsachen.  Jene 
beiden  jüdischen  Männer  der  Moderne,  die  unzweifelhaft  im 
Sinn  der  europäischen  Kulturbetätigung  Genialität  besaßen, 
Spinoza  und  Heine  —  Spinoza  von  Goethe  als  vollendetster  der 
Philosophen,  Heine  von  Bismarck  als  stärkster  deutscher  Lyriker 
nach  Goethe  bezeichnet  —  sind  in  ihrem  Typus  echte  Juden. 
Der  eine  singt  Lieder  wie  David,  und  der  andere  redet  Weis- 
heit wie  Salomo  —  und  sind  doch  keine  Germanen.  Aber  der 
Germanentheoretiker  ist  niemals  verlegen.  Wie  der  Redner,  dem 
jemand  zurief:  „Aber  ihre  Behauptungen  widersprechen  ja  den 
Tatsachen!",  schlagfertig  zurückgab:  „Dann  lügen  die  Tat- 
sachen!", so  sagen  die  Germanentheoretiker:  „Du  bist  genial? 
Und  bist  kein  Germane?  Dann  bist  du  nicht  genial!"  Ja,  wäre 
Spinozas  Haar  nur  ein  wenig  blonder  gewesen  und  Heines  Nase 
Bur  um  ein  Kleines  weniger  gebogen,  dann  würde  man  sie 
ja  so  gerne  zur  Tafel  der  germanischen  Dichter  und  Denker 
geladen  und  mit  Stolz  auf  sie  als  Repräsentanten  arischen 
Geistes  gewiesen  haben.  Aber  jüdisches  Genie?  Contradictio 
in  adjecto. 

Überblickt  man  rückschauend  die  Germanentheorie  von  ihrer 
naturwissenschaftlichen  Einleitung  bei  Wilser  bis  zur  Blondheits- 

76 


hypothese  des  jüdischen  Genies  bei  Chamberlain,  so  muß  jeder 
objektive  Beurteiler  eingestehen,  daß  man  ebensogut  von  allem 
das  Gegenteil  behaupten  und  beweisen  könnte;  daß  beispiels- 
weise eine  im  Grunde  ebenso  dumme  Semitentheorie  mindestens 
den  gleichen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  erreichen  würde. 
Wissenschaftlich  betrachtet  ist  diese  Modetheorie  nichts  als  eine 
stolze  Kulisse,  auf  deren  Zinnen  die  geschäftigen  Regisseure 
eines  falschen  Nationalismus  das  Feuerwerk  der  Rassentheorie 
entzünden,  um  die  Massen  in  einen  Rausch  des  Rassenwahns 
zu  versetzen,  darinnen  sie  sich  selbst  als  erderhabenes  Volk  von 
Göttern  träumen,  indes  jed  anderes  Geschlecht  vor  ihrem 
trunkenen  Blick  zum  Paria  hinabsinkt. 

In  welch  geradezu  erbarmungswürdige  geistig-moralische 
Zerrüttung  dieser  wissenschaftliche  Morphinismus  seine  ver- 
gifteten Opfer  hinabstürzt,  mögen,  nachdem  bisher  nur  an- 
erkannte Autoritäten  zu  Worte  kamen,  einige  Schlußzitate  aus 
den  verbreitetsten  „wissenschaftlichen"  Lehrbüchern  des  Anti- 
semitismus bezeugen,  die  ihre  Futtersuppe  für  das  Volk  aus 
der  Garküche  der  Germanentheorie  beziehen. 

Das  „Handbuch  der  Judenfrage",  aus  dem  die  Volksver- 
sammlungsredner, die  Studentenfuchser  und  Leitartikler  von 
Winkelblättchen  ihre  Kenntnisse  schöpfen,  und  das  dank  der 
Konjunktur  in  wenigen  Jahren  seine  48.  Auflage  erlebte,  gipfelt 
in  seinem  rassentheoretischen  Teil  in  folgendem  mystischen  Un- 
sinn: „Der  Jude  ist  der  zum  festen  Typus  erhärtete  rassenlose 
Entartungsmensch."  In  dem  weitverbreiteten  „Antisemiten- 
katechismus" wird  in  Beantwortung  der  Frage:  „Sind  die  Juden 
nicht  eben  solche  Menschen  wie  wir?"  allen  Ernstes  unter  Hin- 
weis darauf,  daß  auch  die  Bären,  Affen,  Pudel  und  Känguruhs 
auf  zwei  Beinen  gehen  wie  die  Juden,  der  jüdischen  Rasse  das 
Menschentum  abgesprochen,  weil  nur  die  Erfindung  von  Werk- 
zeug Kriterium  des  Menschentums  sei,  „die  jüdische  Rasse  aber 
erwiesenermaßen  niemals  Werkzeuge  geschaffen,  nie  etwas  er- 
funden, nie  eine  bauende  und  gestaltende  Tätigkeit  entwickelt 
hat"  usw.  In  Harmonie  hierzu  steht  in  dem  „Deutschnatio- 
nalen Taschenbuch":  „Die  Gesamtbevölkerung  der  Erde 
beträgt  ohne  Affen  und  Fledermäuse  rund  1  Milliarde  und 
600  Millionen  Primaten,  davon  etwa  900  Millionen  Menschen, 
das  übrige  menschenähnliche  Zwischenglieder  (Zwei- 
händer)  in  verschiedener  Entwicklung  (hierzu  die  meisten 
Malaien,  viele  äthiopische  und  mongolische  Stämme,  auch 
die  Juden)." 

77 


"1^ 


JUas  ist  die  Saat,  die  der  Geist  der  Germanentheorie  in  den 
Köpfen  des  Volkes  zur  Reife  brachte,  dem  Goethe,  Kant  und 
Beethoven  vorgelebt  haben.  Man  ist  angesichts  dieses  Tollhaus- 
Unsinns,  der  zwar  „die  Geschichte  gegen  sich  hat  und  die  Scham 
gegen  sich  haben  sollte",  aber  trotzdem  nicht  nur  falsche  Priester 
sondern  Hunderttausende  von  Gläubigen  gefunden,  die  ihn  als 
ihr  Evangelium  im  Herzen  tragen,  geneigt,  den  Woltmann'- 
schen  Satz  zu  variieren  und  zu  sagen:  Goethe,  Kant  und  Beet- 
hoven sind  Genies,  nicht  weil  sondern  trotzdem  sie  mit 
ihnen  eines  Stammes  sind.  Wann  wird  es  endlich,  nach 
Nietzsche,  dahin  kommen,  daß  dieses  Volk  nicht  mehr  über 
Goethe  hinwegdichtet,  über  Kant  hinwegphilosophiert  und  über 
Beethoven  hinwegmusiziert,  sondern  daß  der  Geist  dieser  Genien 
wie  Sonne  in  die  Herzen  leuchtet,  daß  in  ihnen  Goethe'sches 
All- Verständnis,  Kant'sche  Friedfertigkeit  und  Beethoven'sche 
Wahrhaftigkeit  aufblühen  als  ein  Vermächtnis,  das  ihnen  näher 
liegt,  sie  höher  führt  und  ehrenvoller  für  sie  ist  als  jene  ganze 
Potemkin'sche  Welt,  mit  der  die  Germanentheoretiker  ihnen 
den  Blick  in  die  Herzen  anderer  Nationen  und  den  Weg  in  eine 
freie  Zukunft  friedlicher  Völkerarbeit  versperren. 


78 


DER  SEMIT  i) 


Den  Ideenpalast  der  Germanentheorie  können  wir  mit  Gewiß- 
heit als  einen  Götzentempel  niederreißen;  aber  wir  sind  nicht 
imstande,  an  seiner  Stelle  das  Heiligtum  der  Wahrheit  zu  er- 
richten. Das  ist  das  Schicksal  aller  Wissenschaf t ;  wir  können 
am  Ende  sagen :  so  ist  es  nicht  gewesen ;  aber  wir  sind  unfähig 
anzugeben,  wie  es  in  Wirklichkeit  war.  Wissenschaft  ist  negativ, 
Ausschaltung  des  Nichtwissens.  Sie  ist  die  Quadratur  des  Kreises. 
Immer  mehr  nähert  sich  das  Vieleck  des  Irrtums  dem  Zirkel 
der  Wahrheit.    Aber  niemals  wird  es  ein  Kreis. 

Über  die  Urgeschichte  der  weißen  Rasse,  über  die  die  Ger- 
manentheoretiker so  stolz-bewußte  Hypothesen  bauen,  wissen 
wir  in  Wahrheit  nichts.  Als  eine  Wahrscheinlichkeit  können  wir 
vermuten,  daß  durch  den  Hereinbruch  der  Eiszeit  die  Nord- 
europäer jenseits  der  Alpen  und  des  Kaukasus  für  Jahrtausende 
von  der  Südgruppe  abgeschnitten  und  durch  Schnee  und  Inzucht 
zur  blonden  Rasse  herangezüchtet  wurden.  Möglicherweise  ist 
sogar  der  Germane  überhaupt  nur  als  ein  Spezialanpassungstyp  für 
die  Eiszeit  entstanden  und  daher  als  sqlcher  nach  ihrem  Ablauf 
heute  wieder  im  Schwinden  begriffen,  obwohl  auch  diese  Ansicht 
stark  hypothetisch  ist,  da  der  Schnee  durch  seine  ultravioletten 
Strahlen  Haut  und  Haare  zu  dunkeln  pflegt  (Eskimos). 

Den  nordisch-blonden  Kelten,  Germanen  und  Slawen  stehen 
als  südliche  Gruppe  der  weißen  Rasse  die  mittelländischen 
(mediterranen)  Völker  des  brünetten  Typus  gegenüber,  die 
Südeuropa,  Nordafrika  und  Vorderasien  bewohnen.  Die  Juden 
gehören  dem  mittelländischen  Zweig  der  weißen 
Rasse  an.  Die  westeuropäischen  Juden  sind  ein  in  den  Norden 
versprengter  Teil  der  Südländer,  weshalb  sie  hier  von  der  übrigen 
Bevölkerung  ebenso  abstechen  wie  es  hier  oben  ansässige  Ita- 
liener oder  Griechen  täten.  Aber  die  „jüdischen"  Eigenschaften, 
durch  die  sie  hier  auffallen:  kleinerer  Wuchs,  dunklere  Fär- 
bung, Frühreife,  Lebhaftigkeit,  Neigung  zur  Üppigkeit  der 
Lebensführung  und  Leibesform,  Putzsucht  der  Weiber,  Mäßig- 
keit im  Alkoholgenuß,  Vorliebe  für  Gewürze,  sind  durchaus 
keine  spezifisch  jüdischen  sondern  allgemein  mittelländische  Züge. 

^)  Sämtliche  in  diesem  und  dem  folgenden  Kapitel  erwähnten  geo- 
graphischen Bezeichnungen  sind  auf  Karte  II  zu  finden. 

79 


Im  Süden  ist  der  Jude  zu  Hause  und  fällt  hier  so  wenig  auf, 
daß  nur  ein  geübter  Blick  ihn  aus  der  Masse  der  Bevölkerung 
zu  erkennen  vermag,  während  der  nordeuropäische  Luxusreisende 
im  Süden  unter  lauter  Juden  zu  sein  vermeint,  „Schon  in  Spanien 
wundert  man  sich  über  die  zahlreichen  jüdischen  und  juden- 
ähnlichen Gesichter,  im  Norden  Afrikas  glaubt  der  Europäer 
unter  lauter  Juden  zu  sein,  und  ist  nicht  imstande,  den  echten 
Juden  von  den  anderen  Mitgliedern  des  dritten  Zweiges  zu 
unterscheiden.  Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  er  im  Osten  Europas 
über  die  Balkanhalbinsel  nach  Kleinasien  vordringt.  Ebenso 
wie  die  meisten  Spanier  machen  auch  die  Türken  und  Griechen 
auf  den  Nordeuropäer  einen  jüdischen  Eindruck"  (Zollschan). 
„Wir  merken  gar  nicht,"  schreibt  der  Spanier  Alejandro  Sawa, 
„ob  einer  Jude  ist.  Die  Juden  gleichen  körperlich,  sittlich  und 
in  ihrem  Wesen  vollkommen  den  anderen  Spaniern."^) 

Nach  der  früheren  linguistischen  Methode  klassifizierte 
man  die  Mediterranen  als  Türken,  Semiten,  Hamiten  usw. 
und  stellte  sie  den  Ariern  gegenüber,  obwohl  sie  zum  Teil 
selber  Arier  sind.  Man  rechnete  beispielsweise  die  Juden  zu 
den  Semiten,  während  man  die  ihnen  anthropologisch  nächst- 
verwandten Armenier  einzig  wegen  ihrer  Sprache  zu  den  Ariern 
zählte,  oder  man  stellte  den  Inder  als  Arier  dem  Babylonier 
als  Semiten  gegenüber,  während  die  Kernmasse  beider  Völker 
anthropologisch  identisch  oder  nächstverwandt  ist. 

Will  man  aus  didaktischen  Gründen  zu  einer  Sichtung  der 
unentwirrbar  bunt  gemischten  Nationen  der  Mittelländer  ge- 
langen, so  kann  man  sie  ohne  große  Gewaltsamkeit  in  drei 
Gruppen  sondern:  die  europäische  nord mittelländische,  die 
Griechen,  Römer  und  Spanier  umfaßt;  die  afrikanisch-arabische 
Süd  mittelländische,  die  Araber,  Abessinier,  Ägypter,  Berber 
und  Kabylen  vereinigt,  und  die  asiatische  o  st  mittelländische, 
die  die  weißen  Völker  Vorderasiens  umschließt,  die  in  der  Rassen- 
geschichte als  Iranier,  Kaukasier,  Armenoide  usw.,  in  der  Kultur- 
geschichte als  die  Nationen  der  Inder,  Afghanen,  Perser,  Meder, 

*)  Der  italienische  Volkscharakter  erscheint  bei  einem  Vei^leich  mit 
dem  nordischen  selbst  in  seinen  feineren  Regungen  dem  jüdischen 
so  ähnlich,  daß  man  beispielsweise  bei  der  Lektüre  von  Bettina  von 
Arnims  Tagebuch  und  Briefen  an  Goethe  die  Zeugnisse  eines  jüdischen 
Mädchens  zu  lesen  meint,  was  Chamberlain  in  seiner  talentvollen 
Leichtfertigkeit,  ebenso  ganze  Völker  wie  einzelne  Menschen  beliebig 
zu  taufen  und  umzutaufen,  veranlaßt,  Bettina  in  abfälliger  Kritik  als 
Jüdin  zu  charakterisieren,  während  sie  in  Wahrheit  einem  altitalie- 
nischen Geschlecht  entstammt. 

SO 


Armenier,  Babylonier,  Assyrer,  Phönizier,  Syrer,  Hethiter  usw. 
bezeichnet  werden.  Die  Juden  entwickeln  sich  in  ihrer 
Frühgeschichte  als  ein  Mischvolk  aus  Stämmen  der 
asiatischen  und  der  afrikanisch-arabischen  Gruppe. 

Jede  dieser  Völkergruppen  ist  vermutlich  aus  einem  geo- 
graphisch umgrenzten  Quellgebiet  hervorgegangen,  aus  dem  sie 
bis  auf  den  heutigen  Tag,  wie  das  Flußsystem  eines  Landes  aus 
einem  Gletschergebiet,  ihren  ständigen  Nachschub  erhält.  Für  den 
asiatischen  Zweig  ist  dieser  Völkergletscher  das  Hochland  von 
Iran,  für  den  afrikanisch-arabischen  die  Hochfläche  von  Arabien 
(s.  Karte  I).  Man  kann  annehmen,  daß  diese  Völker  zur  Zeit 
ihrer  Abwanderung  aus  dem  Quellgebiet  verhältnismäßig  fest- 
umgrenzte „rassereine"  Einheitstypen  darstellten.  Erst  durch 
die  Verschiedenheit  ihrer  späteren  Wohnsitze  differenzierten  sie 
sich  zu  den  heutigen  Völkerindividualitäten.  Versucht  man  die 
Buntheit  der  Typen  innerhalb  jeder  Gruppe  wieder  zu  klassifi- 
zieren, so  kann  man  den  asiatischen  Stamm  in  den  östlichen 
iranischen  und  den  westlichen  armenischen  trennen,  den  afrika- 
nischen in  den  östlichen  arabischen  und  den  westlichen  ägyp- 
tischen scheiden.  Die  Juden  haben  Elemente  aller  vier 
Untergruppen  in  sich  aufgenommen. 

Der  Typ  des  Arabers  lebt  noch  heute,  wie  wahrscheinlich 
«eit  Jahrtausenden,  unverändert  im  Beduinen.  Hohe  schlanke 
Gestalt  von  grazilem  Bau,  langer  Schädel,  schwarzes  Haar,  fein- 
geschwungene Nase,  schmaler  Mund.  Aus  diesem  Araber  hat  sich 
durch  Wanderung  (Milieuwechsel)  und  wahrscheinlich  Kreuzung 
mit  negroiden  Stämmen  als  Abart  der  alte  Ägypter  mit  seinem 
gröberen  Knochenbau,  stärkerem  Gebiß,  etwas  aufgeworfenen 
Lippen  und  zuweilen  negerhaft  gekräuseltem  Haar  entwickelt. 

Auf  der  asiatischen  Seite  sind  die  Milieuunterschiede  ungleich 
bedeutender,  verliefen  —  als  eine  Folge  hiervon  —  die  geschicht- 
lichen Ereignisse  ungleich  stürmischer  und  fanden  außerdem 
zahlreiche  Mischungen  mit  Mongolen  von  Osten,  Slawen  und 
Germanen  von  Norden  statt.  Daher  begegnet  man  hier  an 
Stelle  scharf  getrennter  Gruppen  einer  ganzen  Skala  verschie- 
dener Völkertypen,  deren  östliches  Ende  der  Inder,  deren  west- 
liches der  Armenier  bildet.  Der  Idealtyp  des  Inders  steht  als 
Brahmane  vor  unseren  Augen:  etwas  hellfarbiger  als  der  Araber, 
•ebenso  hochgewachsen  aber  breiter,  mit  länglichem  Gesicht, 
kräftiger  Nase,  männlichem  Blick  und  einem  edel-energischen 
Zug  um  den  Mund  —  ein  Typus,  den  man  vielfach  in  reinster  Form 
unter  den  Juden  findet.    Sein  Antipode  ist  der  Armenier  des 

iQ    Kahn,  Die  Juden.  81 


südlichen  Kaukasusgebieles,  zu  dessen  Charakter  typen  die 
jiwiische Witzblattfigur  der  europäischen  Blätter  gehört  mit  ihrem 
kleinenWuchs,  kurzen,  zuweilengekrümmten  Gliedmaßen,rundem 
Schädel,  spärlichem  Haupthaar,  stark  gebogener  Nase,  leichter 
Schieflage  der  Augen  und  häufig  erheblichem  Fettpolster.  Unter 
den  geschichtlich  hervorgetretenen  Völkern  der  Armeniergruppe 
findet  man  diesen  Typus  am  ausgeprägtesten  unter  den  alten 
Hethitern.  Ob  dieser  hethitische  Typus  sich  als  eine  Gebirgs- 
form  wie  der  Homo  alpinus  in  Europa  gebildet  hat  oder  durch 
Mischung  mit  turanischen  (mongolischen)  Völkern  entstanden 
ist,  bildet  eine  viel  umstrittene  Frage,  die  sich  zur  Zeit  noch 
nicht  beantworten  läßt. 

Durch  diese  anthropogeographische  Einteilung  gewinnt  man 
gegenüber  der  früheren  linguistischen  folgendes  Schema  der 
weißen  Rasse: 

Weiße  Rasse 
Brünette  Mittelländer  Blonde  Nordländer 


Südmittelländ.      Ostmittelländ.    Nordmittelländische  | 

Gruppe  (Afrika)     Gruppe  (Asien)    Gruppe  (Südeuropa)         Nordpuropa 

Ägypter,  Araber   Armenier,Iranier    Griechen, Italiener,    Kelten,Germanen^ 

Spanier  Slawen 

Arier  und  Semiten  als  Menschentypen  gibt  es 
nicht.  Semitisch  und  arisch  sind  keine  Rassen-  sondern  Kultur- 
begriffe und  bezeichnen  Menschen,  die  einem  bestimmten  Sprach- 
kreis angehören.  Der  Armenier,  der  eine  arische  Sprache  spricht 
und  deshalb  zu  den  Ariern  gezählt  wird,  ist  in  seinem  Körper- 
bau jüdischer  als  der  Jude,  denn  seinem  Geschlecht  entstammen 
die  für  spezifisch  jüdisch  angesehenen  Typen  unter  den  Juden. 
Der  Babylonier  dagegen,  der  markanteste  Vertreter  der  semi- 
tischen Weltanschauung,  ist  in  vielen  echtesten  Volkstypen  der 
leibhaftige  Bruder  des  Inders,  den  man  als  den  Idealtyp  des 
Ariers  feiert. 

Wenn  irgendwo  mit  Recht  der  Satz  gilt:  die  Geschichte  ist 
der  Reflex  der  Geographie,  so  in  der  Geschichte  Vorderasiens. 
Man  stelle  sich  in  kühnem  Umriß  den  Plan  der  Landschaft 
vor  (s.  Karte  I).  Zwei  gewaltige  Hochländer,  Iran  und  Arabien, 
werden  von  drei  Flüssen  begrenzt,  zwei  außen  und  einer  zwischen 
ihnen:  Indus,  Euphrat,  Nil.  Die  schrankenlosen  Steppen  der 
Hochländer  bringen  immer  neue  Völkermassen  hervor.  Da 
jedoch    zur   seßhaften    Kultur    die    Vorbedingungen:    Wasser, 

82 


Ackerland  und  natürliche  Verkehrsstraßen  fehlen,  verharren 
die  Bewohner  auf  der  Stufe  des  Nomadenlebens.  Von  den  im 
Innern  sich  mehrenden  Massen  werden  die  Randbewohner 
hinabgedrängt  und  wandern  in  die  Flußtäler,  wo  sie  unter  den 
günstigen  Kulturbedingungen  seßhaft  werden.  So  wandern  von 
der  Hochfläche  von  Iran  die  Inder  in  das  Flußgebiet  des  Indus, 
von  der  Hochfläche  von  Arabien  die  „Semiten"  ins  Niltal  hinab 
und  gründen  hier  die  Altkulturen  Indiens  und  Ägyptens.  In 
die  zwischen  den  beiden  Plateaus  liegende  Tiefebene  des  Euphrat 
und  Tigris  wandern  Stämme  von  beiden  Flächen  und  mischen 
sich  hier  zu  den  Kulturnationen  der  babylonischen  Geschichte. 
Indien,  Babylon,  Ägypten  sind  die  drei  großen  Kulturreiche 
des  vorderen  Orients. 

Auch  der  weitere  Verlauf  der  Geschichte  wird  von  der  Geo- 
graphie diktiert.  Zwischen  den  seßhaft  gewordenen  Kultur- 
nationen der  Flußebene  und  den  immer  wieder  nachdrängenden 
Völkern  der  Hochflächen  entspinnt  sich  ein  Kampf,  der  zuletzt 
immer  mit  dem  Siege  der  sich  unbeschränkt  mehrenden  Nomaden 
über  das  alternde  Kulturvolk  enden  muß.  Setzt  das  Kulturvolk 
den  Nomaden  keinen  ernsthaften  Widerstand  entgegen,  so  sickern 
diese  allmählich  ein  und  eignen  sich  die  Kultur  auf  dem  Wege 
friedlicher  Assimilation  an.  Errichtet  es  aber  gegen  die  Söhne  der 
Wüste  chinesische  Mauern,  so  staut  sich  die  Flut  vor  dem 
Damm,  um,  je  später  desto  elementarer,  über  das  Reich  herein- 
zubrechen und  ihm  ein  katastrophales  Ende  zu  bereiten.  Länger 
als  IV2  Jahrtausende  hat  keine  der  vorderasiatischen  Kulturen 
ihre  Individualität  vor  dem  Ansturm  der  Nomaden  zu  wahren 
vermocht^). 

*)  Noch  heute  ist  der  Kampf  zwischen  dem  ansässigen  Kultureinwohner 
und  dem  Steppenwanderer  das  brennende  Problem  aller  vorderasiatischen 
Siedelungspolitik.  Über  die  Besiedelungsmöglichkeiten  des  heutigen  Palä- 
stina schreibt  1919  die  enghsche  Zeitschrift  „Palestine":  „Die  Ostgrenze 
Palästinas  hat  ihr  Beduinenproblem.  Die  transjordanische  Hochebene, 
eines  der  besten  und  gesündesten  Gebiete  in  Asien,  deren  Abhänge  und 
Wälder  noch  einmal  die  Stätte  einer  großen  jüdischen  Siedlung  werden 
sollen,  geht  in  die  arabische  Wüste  über.  Die  Wüste  ist  die  Heimat 
der  Beduinen,  die  seit  den  Anfängen  der  Geschichte  immer  wieder  in 
das  bebaute  Land  eingebrochen  sind  und  die  Städte  zerstört,  Landwirt- 
schaft und  Industrie  vernichtet  und  die  übriggebhebenen  Bauern  einem 
elenden  Frondienst  unterworfen  haben.  Die  Tugenden  des  Mannes  der 
Wüste,  die  Ritterlichkeit  des  Nomaden  sind  in  vielen  romantischen 
Dichtungen  geschildert  worden.'  Aber  seine  Disziplinlosigkeit,  seine  Ab- 
neigung gegen  regelmäßige  konstruktive  Arbeit,  die  er  als  eines  freien 
Mannes  unwürdig  ansieht,   machen  ihn  zu  einem  erklärten  Feinde  der 

6«  83 


Euphrat  und  Tigris  sind  die  Schlagadern  Vorderasiens.  Ihr 
Tal  ist  als  Wasserquelle,  Siedlungsland,  Karawanenstraße  und 
strategische  Linie  von  so  beherrschender  Bedeutung,  daß  jedes 
Volk,  das  diese  Ebene  besitzt,  damit  auch  die  Hegemonie  in 
Vorderasien  in  Händen  hält,  und  umgekehrt  wieder  jedes  Volk, 
das  nach  politischer  Vorherrschaft  strebt,  die  Hand  nach  dieser 
Ebene  ausstreckt.  Im  übrigen  aber  ist  Vorderasien  ein  Gebiet 
von  der  Ausdehnung  und  Differenziertheit  Europas,  in  dem  genau 
wie  in  Europa  stets  unbekümmert  um  die  Vorherrschaft  der 
einen,  auch  andere  Kulturen  blühen.  Auch  in  Europa  „wechseln 
die  Kulturen".  Um  500  v.  Chr.  ist  Griechenland  die  herrschende 
Nation;  um  die  Zeitwende  ist  es  Rom,  tausend  Jahre  später 
sind  es  die  Araber,  um  1500  die  Spanier,  um  1700  die  Franzosen. 
Aus  mehrtausendjähriger  Entfernung  würde  die  summarisch  ver- 
fahrende Geschichtsforschung  genau  wie  wir  heute  über  Vorder- 
asien registrieren:  1000 — 500  Herrschaft  der  Griechen,  500 — 1 
Herrschaft  der  Römer,  500 — 1000  Herrschaft  der  Araber  usw. 
In  kultureller  Beziehung  aber  ist  diese  Vormacht  nur  eine  sehr 
bedingte.  Während  die  Spanier  Europa  und  die  halbe  Welt  be- 
herrschen, malen  die  italienischen  Meister  ihre  Gemälde,  die 
länger  und  tiefer  auf  die  Menschheit  wirken  als  die  Flotten- 
paraden der  Armada  und  die  Bravourstücke  der  Granden. 
Während  man  in  Potsdam  an  der  Königstafel  französisch  par- 
liert—  für  die  Geschichtsforschung  der  Zukunft  ein  ,, objektiver" 
Beweis,  daß  Deutschland  damals  keine  Eigenkultur  besessen  — , 
schreibt  Lessing  in  Braunschweig  den  Nathan  und  Goethe  in 
Frankfurt  den  Werther. 

Daher  muß  man  in  der  Zuweisung  einer  Errungenschaft  an 
ein  bestimmtes  Volk  einzig  aus  den  Indizien  der  politischen 

Kultur.  Das  zieht  sich  durch  die  ganze  Geschichte  Palästinas.  Große  Städte 
erstanden  in  Transjordanien,  Ackerbau,  Industrie  und  Kunst  blühten  dort 
nur  zu  Zeiten,  da  es  eine  Hand  gab,  die  stark  genug  war,  um  die  Beduinen 
im  Zaum  zu  halten.  Die  beste  Illustration  zu  dieser  Tatsache  liefert  die 
römische  Zeit.  Die  Grenzfrage  Palästinas  beschäftigte  die  römischen 
Staatsmänner  und  sie  machten  zahlreiche  Experimente.  Ihre  Grenz- 
organisation war  sehr  ausgedehnt.  Ein  Netzwerk  von  Straßen,  Straßen 
in  der  Wüste,  Straßen  längs  der  Grenzlinie,  Straßen  nach  allen  Zentren 
Palästinas  erleichterten  den  Verkehr  für  militärische  und  Handelszwecke. 
Bis  auf  diesen  Tag  sieht  man  in  der  palästinensischen  Wüste  die  Grenz- 
steine der  Legionen,  auf  welche  die  römischen  Soldaten  ihren  Namen  und 
Rang  gekritzelt  haben.  Die  Möglichkeit  des  Wiedererstehens  einer  jüdischen 
Kultur  östlich  des  Jordans  hängt  von  einfem  tüchtigen  System  des  Grenz- 
schutzes ab,  das  den  räubernden  Nomaden  ausschließt  und  dem  Arbeitenden 
das  Produzieren  und  den  Genuß  der  Früchte  seiner  Arbeit  gestattet." 

84 


Geschichte  äußerst  vorsichtig  sein.  Nehmen  wir  an:  eine  Kata- 
strophe verschüttet  die  heutige  Kultur.  Der  Archäologe  des 
Jahres  6000  gräbt  spärliche  Reste  aus  und  findet :  das  Christen- 
tum ist  zur  Zeit  der  römischen  Weltherrschaft  entstanden ;  Palä- 
stina war  römische  Provinz,  ja,  durch  einen  „ganz  besonders 
glücklichen,  hochbedeutsamen  Fund"  hat  er  festgestellt,  daß 
Christus  durch  ein  römisches  Gericht  unter  dem  Vorsitz  eines 
Mannes  namens  Pilatus  verurteilt  wurde.  Kein  Zweifel :  Christus 
war  ein  Römer;  das  Christentum  eine  Großtat  römischer  Kultur. 
Triumph  der  „exakten"  Wissenschaft!  Von  solchen  „Beweisen" 
strotzt  die  heutige  Forschung  über  die  alten  Kulturen  Vorder- 
asiens. 

In  der  prähistorischen  Zeit  wurde  das  Euphratgebiet  von 
einer  kleinen  Rasse  mit  negroiden  Zügen  bevölkert,  die  viel- 
leicht mit  den  in  der  Bibel  oft  erwähnten  Kuschiten  identisch 
ist,  und  als  deren  Überbleibsel  möglicherweise  die  Abes- 
sinier  zu  betrachten  sind.  Nach  dieser  Hypothese  würde  man 
in  den  Falascha,  den  zum  Judentum  übergetretenen  Abessiniern, 
die  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhaltenen  Nachkommen  der  schon 
in  Genesis  10  erwähnten  „Söhne  Kusch's"  erblicken  müssen, 
wobei  allerdings  zu  erwähnen  ist,  daß  weder  die  Abessinier 
noch  die  Falascha  —  deren  Identität  übrigens  auch  durchaus 
nicht  feststeht  —  kurzgebaut  sind  wie  die  ,,kuschitische"  Ur- 
rasse,  sondern  im  Gegenteil  hochgewachsen.  In  der  Bibel  wird 
die  Bezeichnung  „Söhne  Kusch's"  verschieden,  gewöhnlich  auf 
Nubier  und  Ägypter,  angewendet.  Wenn  die  Kuschiten  wirklich 
die  Urbevölkerung  Vorderasiens  gewesen  sind  und  negerhafte 
Züge  getragen  feaben,  so  sind  sie  als  die  erste  Quelle  für  die 
negroiden  Merkmale  anzusehen,  die  man  in  einem  geringen 
Prozentsatz   unter  den  Juden  findet. 

Unsere  geschichtlichen  Kenntnisse  über  die  Euphrat-Tigris- 
Kultur  setzen  fast  unvermittelt  mit  dem  Jahre  3000  ein.  Die 
Kultur  Altbabylons  steigt  nicht,  wie  ein  Gebirge  dem  Wanderer, 
mählich  vor  unseren  Augen  aus  dämmernden  Umrissen  auf, 
sondern  steht,  wie  die  Hafenstadt  dem  Schiffer  nach  Teilung  des 
Nebels,  plötzlich  in  vollendeter  Schönheit  vor  unseren  Blicken. 
Wir  sehen  sie  nicht  werden  sondern  sein,  und  zwar  gleich 
zu  Beginn  unserer  Kenntnis  auf  einer  Höhe  der  Entwicklung, 
die  eine  mindestens  2000jährige  Vorgeschichte  voraussetzt, 
über  die  wir  aber  bis  heute  nicht  die  geringsten  Kenntnisse 
besitzen. 


Um  das  Jahr  3000  blühen  auf  babylonischem  Boden  zwei 
Kulturen  nebeneinander,  eine  semitische  und  eine  sumerische. 
Von  diesen  steht  die  semitische  hell  im  Lichte  der  Geschichte, 
sie  hat  um  diese  Zeit  fast  schon  die  Reife  ihrer  Entwicklung,  ihr 
augusteisches  Zeitalter  erreicht.  Unter  dem  König  Sargonl.  (2800) 
erlangt  das  Reich  eine  Ausdehnung,  die  es  weder  vorher  noch 
nachher  jemals  besessen.  Sargon  vereinigt  nicht  nur  ganz 
Vorderasien  unter  seinem  Szepter  sondern  unternimmt  sogar 
Expeditionen  übers  Meer  nach  Cypern,  was  niemals  wieder  ein 
vorderasiatischer  Herrscher  gewagt  hat.  Sein  Sohn  Naram-Sin 
bringt  ganz  Arabien  unter  seine  Botmäßigkeit,  was  sich  ebenfalls 
bis  zur  Zeit  der  Khalifen  nicht  wiederholt.  Kunst,  Wissenschaft, 
Handel  und  Gewerbe  feiern  ihre  klassischen  Triumphe.  Der 
Siegesstele  Naram-Sins  läßt  sich  nach  dem  Urteil  einer  der  ersten 
Autoritäten,  Eduard  Meyer,  „an  künstlerischem  Werl  bis  jetzt 
überhaupt  kein  anderes  Denkmal  Babyloniens  zur  Seite  slollen". 
Das  Königssiegel  Sargons,  eine  in  bewußter  Stilisierung  aus- 
geführte Plakette  mit  Tierszenen,  würde  dem  Schreibtisch  eines 
heutigen  Fürsten  keine  Unehre  bringen.  In  den  Priesterschulen 
der  zeitgenössischen  Tempel  fand  man  als  Unterrichtsmaterial 
Übungstafeln  für  Lesen,  Schreiben  und  Grammatik,  Synonyma- 
register, Rechentafeln,  geometrische  Vorlagen,  astronomische 
Tabellen,  geographische  Verzeichnisse,  botanische  Listen,  Zeichen- 
muster, Modelle  zum  Gravieren  und  Siegelschneiden.  Zu  den 
wichtigsten  dieser  Funde  gehört  der  Kalender,  da  sich  aus  ihm 
das  Alter  der  frühsemitischen  Kultur  genau  berechnen  läßt. 
Infolge  der  Schwankungen  der  Erdpole  wandert  der  Frühliiigs- 
punkt.  Seit  dem  Jahre  750  n.  Chr.  steht  er  im  Sternbild  des 
Widders.  Bis  zum  Jahr  2500  v.  Chr.  stand  er  im  Stier.  Vor  dem 
Jahre  2500  befand  er  sich  in  den  Zwillingen.  Da  der  Frühlings- 
punkt des  babylonischen  Kalenders  in  den  Zwillingen  angegeben 
wird,  muß  er  vor  dem  Jahre  2500  aufgestellt  worden  sein,  und 
da  wir  für  die  sargonische  Zeit  genaue  Perioden-  und  Finsternis- 
berechnungen besitzen,  die  eine  vorangegangene  vielhundert- 
jährige Entwicklung  des  Kalenderwesens  voraussetzen,  so  ist  die 
Aufstellung  des  babylonischen  Kalenders  weit  hinauf  ins  4., 
vielleicht  sogar  5.  Jahrtausend  vor  Chr.  zu  verlegen.  Auf  der 
Zwölf  zahl  der  Tierkreisbilder  fußend,  haben  die  Erfinder  dieses 
Kalenders  unser  noch  heute  gebräuchliches  Sexagesimalsysteni 
der  Zeit-,  Raum-  und  Gewichtsbestimmung  geschaffen,  das  auf 
die  Zahlen  6,  12,  60  aufgebaut  ist.  Dieser  uralte  frühsemitische 
Kalender  ist  es,  der  das  Jahr  in  zweimal  6  Monate,  den  Monat 

86 


in  fünfmal  6  Tage,  den  Tag  in  viermal  6  Stunden,  die  Stunde 
in  zehnmal  6  Minuten  und  diese  in  60  Sekunden  und  ebenso 
den  Kreis  in  Bogenminuten  und  -Sekunden  einteilt.  Die  Zwölfer- 
größen Dutzend,  Schock,  Groß  sind  babylonische  Maße.  Das 
deutsche  Wort  Schock  soll  ein  alt-babylonisches  Wort  sein,  das 
die  Griechen  als  awooog  entlehnten,  woraus  Schock  entstand. 
Aitbabylonisch  ist  die  Einführung  der  Metallwährung. 

Neben  dieser  unzweifelhaft  semitischen  Kultur  von  Akkad, 
wie  sie  nach  der  damaligen  Hauptstadt  des  Landes  auch  ge- 
nannt wird,  und  deren  Träger  entweder  reine  Beduinen  der 
arabischen  Steppe  oder  ein  Mischvolk  von  Arabern  und  Iraniern 
sind,  steht  die  Kultur  von  Sumer,  so  genannt  nach  der  Residenz 
ihrer  Könige  Sumer.  Im  Gegensatz  zur  hell  erleuchteten  semi- 
tischen liegt  die  Kultur  von  Sumer  noch  im  Dunkel  tiefsten  Ge- 
heimnisses. Bis  heute  wissen  wir  nur  zweierlei  von  ihr,  ein 
Negatives  und  ein  Positives.  Das  Negative:  sie  war  bestimmt 
nicht  semitisch.  Das  Positive:  ihr  verdankt  die  Menschheit  — 
mittelbar  oder  unmittelbar  —  die  Erfindung  der  Schrift.  Zu 
welcher  Rassengruppe  die  Sumerier  gehören,  ist  noch  völlig 
unklar.  Nach  der  berühmten  Völkergenealogie  Genesis  10,  in 
der  Nimrod  als  sumerischer  König  genannt  wird,  sollen  sie  Ver- 
wandte der  Kuschiten  und  Ägypter,  mithin  Hamiten,  d.  h.  An- 
gehörige des  hamitischen  Kulturkreises  sein,  wofür  die  Ähnlich- 
keit ihrer  Bilderschrift  mit  den  kuschitischen  und  ägyptischen 
Hieroglyphen  spricht,  wie  sich  überhaupt  die  Bibel  in  rassen- 
geschichtlichen Angaben  als  eine  überraschend  zuverlässige 
Quelle  erwiesen  hat. 

Unsere  Unkenntnis  über  die  Sumerier  bot  den  Germanen- 
theoretikern willkommenen  Anlaß,  sie  für  Germanen  oder  we- 
nigstens Arier  zu  erklären,  zu  den  wahren  Schöpfern  der  alt- 
babylonischen Kultur  zu  erheben  und  die  Semiten  zu  ihren 
Adepten  und  Usurpatoren  zu  degradieren.  An  drei  Stellen  seines 
Werkes  rüiimt  Chamberlain  von  den  Sumeriern  die  ,, ungewöhn- 
liche Kraft  der  schöpferischen  Phantasie",  die  wissenschaftlichen 
Leistungen,  „die  ganz  besondere  Neigung  zur  Abstraktion", 
etikettiert  alsdann  die  gesamten  Kulturschöpfungen  jener  Zeit 
als  sumerische  Leistungen  —  ,,denn  die  Semiten  hatten  diesen 
Staat  und  seine  hohe  Zivilisation  bloß  annektiert,  sie  leisteten 
weder  die  geistige  Arbeit,  noch  die  manuelle"  — ,  um  dann  von 
den  religionsgeschichtlichen  Anfängen  zu  sagen,  ,,es  wird  immer 
wahrscheinlicher,  daß  diese  ganze  Mythologie  von  alt-arischen 
Vorstellungen   durchtränkt   ist",   und   schließlich   zu   dem   Er- 

87 


gebnis  zu  kommen:  „Ein  direkterer  Gegensatz  zur  semitischen 
Anlage  ist  undenkbar;  man  stellt  sich  leicht  vor,  welche  Ver- 
ballhornung die  sumerischen  Theorien  der  Schöpfung  unter 
israelitischen  Händen  mögen  erlitten  haben." 

Die  Annahme,  die  Sumerier  seien  zugewanderte  Europäer,^ 
wird  durch  die  einfache  Tatsache  hinfällig  oder  wenigstens  in 
hohem  Grade  unwahrscheinlich,  daß  die  Sumerier  im  Süden  und 
die  Semiten  im  Norden  von  Babylon  saßen.  Wären  die  Semiten 
Kulturräuber,  die  aus  der  arabischen  Wüste  in  das  Reich  von 
Sumer  einbrechen,  so  müßte  das  geographische  Verhältnis  ein 
umgekehrtes  sein.  Gegenüber  den  sonstigen,  von  Chamberlain 
mit  der  Geste  der  Selbstverständlichkeit  vorgebrachten  Behaup- 
tungen ist  zu  bemerken,  daß  wir  nur  ein  einziges  Kulturdoku- 
ment original  sumerischen  Charakters  besitzen,  das  ist  die  Schrift. 
In  allen  übrigen  Kulturäußerungen  erweisen  sich  die  Sumerier 
als  ein  von  den  Semiten  abhängiges  und  —  soweit  man  sich 
ein  Urteil  über  so  entlegene  Verhältnisse  gestatten  darf  —  un- 
begabteres Kulturvolk.  Während  die  Semiten  auf  klassischer 
Höhe  stehen,  befinden  sich  die  Sumerier  noch  im  archaischen 
Zeitalter  ihrer  Geschichte.  Die  berühmten  Dioritköpfe  sumeri- 
scher Fürsten,  die  man  in  den  Populärschriften  als  die  ,, ältesten 
Denkmäler  der  bildenden  Kunst"  gefeiert  sieht,  sind  aus  einem 
Material  gefertigt,  das  der  semitische  König  Naram-Sin,  der 
Schöpfer  der  großen  Siegesstele,  überhaupt  erst  durch  seine  Feld- 
züge aus  Arabien  nach  Babylonien  eingeführt  hat,  müssen  also 
nach-semitische  Werke  sein.  „Die  semitische  Kunst  ist  damals", 
schreibt  Eduard  Meyer,  „der  sumerischen  weit  voraus"  und 
schließt:  „So  ist . . .  die  Folgerung  unabweisbar,  daß  wie  auf  poli- 
tischem, so  auch  und  vielleicht  in  noch  stärkerem  Maße  auf 
dem  Gebiet  der  Kunst  nicht  die  Sumerier,  sondern  die  Semiten 
die  Führenden  gewesen  sind."  Chamberlain  spricht  von  einer 
„Verballhornung  der  sumerischen  Theorien  der  Schöpfung  unter 
israelitischen  Händen" —  inWirklichkeit  kennen  wir  nicht  eine  ein- 
zige sumerische  Theorie  und  sind  über  das  Verhältnis  der  religiösen 
Vorstellungen  dieser  Völker  in  keinem  Punkt  auch  nur  irgendwie 
einwandfrei  unterrichtet.  Hingegen  sehen  wir,  daß  die  sumeri- 
schen Götter  in  semitischer  Gestalt  und  Tracht,  mithin  offenbar 
als  Nachbilder  des  semitischen  Pantheons,  dargestellt  werden, 
sehen,  daß  die  Helden  der  alten  Mythen,  z.  B.  des  berühmten 
Gilgamesch-Epos,  des  Vorbildes  der  homerischen  Odyssee,  Se- 
miten sind,  und  daß  die  Kultstätten  im  sumerischen  Sprach- 
gebiet semitische  Namen  tragen.    Das  älteste  bisher  aufgefun- 

88 


dene  Heiligtum  ist  der  Tempel  des  «emitischen  Gottes  Bei 
(Baal)  zu  Nippur.  Jeder  Ziegelstein  der  großen  Anlage  trägt 
den  Namen  seines  Erbauers  Sargon  I.  Drei  Meter  unter  dem 
Fundament  dieses  Baues  liegen  die  Reste  eines  früheren 
Tempels,  dessen  Ziegelsteine  blank  sind;  unter  seinem  Funda- 
ment erhebt  sich  fünf  Meier  über  das  Bodenmassiv  ein  Kunst- 
hügel, der  sich  in  seiner  Anlage  ebenfalls  als  eine  unzweideutig 
semitische  Kultstätte  verrät,  so  daß  also  an  dieser  Stelle  schon 
vor  dem  Jahre  2800  mindestens  zweimal  ein  semitisches 
Nationalheiligtum  gestanden  hat  —  eine  seltsame  Bestäti- 
gung der  Chamberlain'schen  These,  daß  die  Semiten  die  Ent- 
lehner einer  Kultur  gewesen,  die  sich  um  2800  erst  in  ihren 
Anfängen  befand.  Die  sumerischen  Beiträge  zur  semitischen 
Religion  sind,  soweit  wir  es  bis  heute  überblicken  können, 
sekundär,  unwesentlich,  ja  sogar  trivialisierend :  sumerisch  ist 
die  Einteilung  der  Götter  in  himmlische  und  irdische  Dämonen, 
sind  die  centaurischen  Zwiegestalten  der  Cherubim,  sind  Li- 
lith,  Satanas,  Beelzebub,  sind  die  Hexen,  die  Succubi  und  In- 
cubi  und  alle  übrigen  Plagegeister,  die  dann  durch  die  ganze 
babylonische,  jüdische  und  christliche  Dämonologie  herum- 
spuken. 

Ein  sumerisches  Erbe  von  unzweifelhaft  höchstem  Kultur- 
wert ist  die  Schrift.  Ob  aber  die  Sumerier  wirklich  die  origi- 
nalen Schöpfer  derselben  sind,  ist  durchaus  unentschieden. 
Jedenfalls  haben  die  Semiten  von  ihnen  die  Schrift  übernommen, 
sie  aber  nicht  verständnislos  usurpiert  sondern  im  Gegenteil, 
aus  dieser  sumerischen  ideographischen,  d.  h.  nur  deutbaren, 
aber  nicht  leslichen  Bilderschrift  in  mühseliger  Vervollkomm- 
nung die  phonetische  Schrift  des  Alphabets  geschaffen,  die 
im  Gegensatz  zu  Begriffsbildern  den  gesprochenen  Laut  ver- 
mittelt. Erst  durch  diese  Umwandlung  der  sumerischen  Bildw- 
schrift  in  die  semitische  Lautschrift  ist  das  Schreibwesen  zu 
einem  wirklichen  Verkehrsmittel  des  Geistes,  zur  Münze  des 
Gedankenaustausches  für  die  Menschheit  erhoben  worden.  So 
wie  es  auch  vor  den  Deutschen  Musik  gegeben,  sie  aber  die 
Ersten  waren,  die  sie  in  allen  ihren  Möglichkeiten  erkannten  und 
zum  großen  tönenden  Ausdrucksmittel  unserer  Empfindungs- 
welt erhoben,  und  somit  trotz  der  Levitengesänge,  der  Sappho- 
lieder  und  selbst  der  italienischen  Singspieloper  sie  die  eigent- 
lichen Gründer  der  Musik  geworden,  so  wurden  die  Semiten  durch 
die  Einführung  der  22  Konsonanten  und  des  phonetischen 
Lautbildes  die  wahren  Schöpfer  der  Schrift.  Von  der  sumerischen 

89 


Bilderschrift  ist  nichts  als  ein  Kümmerrest  in  den  Bilderfibeln 
unserer  Kinder  geblieben ;  aber  Aleph,  Beth,  Gimel,  Daleth,  das 
ist  das  Alpha,  Beta,  Gamma,  Delta  der  Griechen,  das  ist  das 
A,  B,  C,  D  des  Lateinischen  und  der  modernen  Sprachen  ge- 
worden —  das  semitisch-babylonisch-hebräische  Aleph,  Beth, 
Gimel,  Daleth  wurde  das  Alphabet  der  Kulturmenschheit. 

Auffallend  an  den  sumerischen  Kulturresten  ist,  daß  sich 
erstens  als  einzig  originale  Schöpfung  die  Schrift  erhielt,  daß 
sich  zweitens  unter  den  sumerischen  Urkunden  nicht  eine 
einzige  befindet,  die  frei  von  semitischen  Wendungen  oder  Be- 
griffen ist,  und  daß  drittens  das  sumerische  Ideogramm  von  den 
»emitischen  Schreibern  noch  Jahrhunderte  lang  über  die  sume- 
rische Periode  hinaus  beibehalten  wurde.  Zur  Erklärung  dieser 
Auffälligkeiten  hat  der  Orientalist  Halevy  die  Hypothese  auf- 
gestellt, das  Sumerische  sei  gar  nicht  die  Sprache  eines  ver- 
schollenen Volkes  sondern  eine  Geheimschrift  der  altsemitischen 
Priester,  dem  Gelehrtenlatein  des  Mittelalters  entsprechend. 
Die  Sumerier  gar  kein  Volk,  sondern  eine  Ausgeburt  der 
Gelehrtenphantasie!  Die  Anschauung  Halevys  wird  zwar  von 
den  meisten  Assyriologen  bekämpft,  hat  aber  unter  den  Orien- 
talisten aller  Länder  bedeutende  Anhänger  gefunden.  „Sume- 
rian  or  Cryptography?"  (wie  das  Problem  nach  dem  Titel  eines 
bedeutenden  Werkes  in  der  Fachwelt  benannt  wird)  —  eine 
Komödie  der  Wissenschaft!  Auf  der  einen  Seite  die  Rassen- 
•  theoretiker,  die  die  Sumerier  als  ein  Volk  von  Dädaliden  und 
Promethiden  in  den  Himmel  heben  und  je  nach  ihrer  Über- 
zeugung als  Germanen,  Arier,  Turanier,  Hamiten,  Semiten  mit 
einer  Plastik  beschreiben,  als  kämen  sie  eben  mit  dem  Orient- 
Expreß  vom  Bahnhof  Sumer,  auf  der  anderen  Seite  die  Archäo- 
logen, die  die  Existenz  dieses  Volkes  überhaupt  leugnen 

über  wen  wird  einst  die  Nachwelt  lachen,  wenn  am  Schlüsse  des 
Sumerierspiels  die  Masken  fallen  und  die  Wahrheit  ironisch 
lächelnd  von  der  Rampe  zum  Parterre  der  Wissenschaft  ihren 
Epilog  spricht? 

Ob  Recht  oder  Unrecht  —  jedenfalls  zeigt  die  Halövy'sche 
Hypothese,  auf  welch  problematischem  Boden  man  sich  in 
der  alt-orientalischen  Geschichte  bewegt,  wie  vorsichtig  man 
in  abschließendem  Urteil  sein  muß  und  welcher  Wert  den 
Chamberlain'schen  Schlüssen  und  Kritiken  beizumessen  ist.  Als 
einzig  einigermaßen  sicheres  Ergebnis  kann  man  über  die  erste 
kulturgeschichtliche  Epoche  Vorderasiens  behaupten,  daß  die 
Hauptwerte  der  altsemitischen  Zivilisation,  die  die  Fundamente 

90 


der  gesamten  europäischen  Kultur  geworden,  Kalender,  Zahl- 
und  Maßsystem,  die  Elemente  der  Mathematik,  die  ersten  im 
modernen  Sinn  künstlerischen  Schöpfungen  in  Baukunst,  Plastik, 
Malerei  und  Literatur,  die  ersten  Institutionen  des  staatsbürger- 
lichen Lebens  wie  Heereswesen,  Schulen,  Ständeordnung,  die 
ersten  Kodifizierungen  der  Rechtsbegriffe  und  von  der  Schrift 
wenigstens  ihre  erste  brauchbare  Ausgestaltung  schöpferische 
Leistungen  semitischen  Geistes  von  Völkern  der  babylonischen 
Gruppe  gewesen  oder  zum  mindesten  unter  ihrer  aktiven  und 
produktiven  Mitarbeit  geschaffen  worden  sind. 

jL)iese  erste  Epoche  der  babylonischen  Geschichte  entspricht 
etwa  der  Römerzeit  in  der  Gesamtgeschichte  Italiens.  Sargon  I. 
und  Naram-Sin  sind  Trajan  und  Hadrian,  unter  denen  auf 
klassischer  Kulturhöhe  das  Reich  seine  größte  Ausdehnung  er- 
langt, um  dann  rasch  zu  zerfallen.  Mit  katastrophaler  Schnellig- 
keit bricht  gegen  das  Jahr  2700  über  Babylonien  das  Mittelalter 
herein.  Plötzlich,  als  würde  der  laufende  Faden  einer  Maschine 
zerrissen,  bricht  die  Kulturgeschichte  ab.  Die  originalenLeistungen 
in  Kunstgewerbe  und  Schrifttum  hören  auf,  die  Annalen 
verstummen,  die  Namen  der  Könige  sind  nicht  mehr  ver- 
zeichnet. Die  wenigen  Kulturprodukte  erscheinen  roh  gegen- 
über den  Meisterschöpfungen  der  Vorzeit. 

In  dieser  Zeit  des  babylonischen  Mittelalters  nach  der  semi- 
tischen Klassik  dehnen  sich  die  Sumerier  aus  und  einigen  200 
Jahre  später  Nord-  und  Südreich  als  ,, Könige  von  Sumer 
und  Akkad".  Dieses  so  oft  und  überschwenglich  als  „erster 
Kulturstaat  der  Welt"  gerühmte  Doppelreich  von  Sumor 
und  Akkad  ist  also  nicht,  wie  man  fast  allerorten  liest,  eine 
vorsemitische  sondern  nachsemitische  Gründung  und  folgt  dem 
klassisch  semitischen  Zeitalter  auch  in  dem  Tiefstand  der 
Kultur  etwa  wie  das  Reich  Theoderichs  der  Epoche  der  römischen 
Cäsaren. 

Ganz  analog  dem  Einbruch  der  Germanen  von  Norden  und 
der  Araber  von  Süden  in  das  morsch  gewordene  Römerreich 
ergießen  sich  über  das  mittelalterliche  Babylonien  von  Osten 
die  Elamiten,  die  im  Gebiet  der  späteren  Perser  und  Parther 
wohnen  und  deren  Hauptstadt  Susa  aus  der  Esthergeschichte 
bekannt  ist,  und  von  Westen  Beduinen  aus  der  arabischen 
Steppe.  Dieser  Einfall  der  Beduinen  leitet  eine  mehr  als  tausend- 
jährige ununterbrochene  Einwanderung  arabischer  Nomaden 
ein,  die  ungefähr  von  2700 — 1400  andauert  und  im  Gegensatz 

91 


zu  späteren  Wanderepochen  als  die  kanaani tische  Wander- 
periode bezeichnet  wird,  weil  man  die  typischen  Vertreter  dieser 
Völker  aus  der  Bibel  als  Kanaaniter  kennt.  Der  Quellpunkt  des 
Wanderstroms  ist  Arabien,  das  wie  ein  Geysir  alle  tausend 
Jahre  explosionsartig  seinen  angesammelten  Völkerüberschuß 
ausstößt.  Die  kanaanitische  Völkerwelle  ist  der  erste  in  ge- 
schichtliche Zeiten  fallende  Ausbruch;  die  aramäische  tausend 
Jahre  später  (600  v.  Chr.)  ist  die  zweite;  die  mohamedanische 
tausend  Jahre  danach  (600  n.  Chr.)  die  dritte.  Dem  Völkerstrom 
ist  wie  einem  Fluß  der  Weg  von  den  geographischen  Bedingungen 
vorgeschrieben.  Aus  Arabien  strömen  die  Scharen  nach  Norden ; 
ein  kleiner  Teil  biegt  gleich  nach  Osten  in  die  babylonische 
Ebene  ab,  der  größere  kommt  nach  Kanaan  hinein,  prallt  gegen 
die  Küste  des  Mittelländischen  Meeres  und  wendet  sich  nun,  wie 
eine  Billardkugel,  die  gegen  die  Bande  gestoßen,  nach  Osten  in 
das  babylonische  Tiefland  (s.  Karte  I).  Daher  werden  die  kana- 
anitischen  Zuwanderer  in  den  babylonischen  Urkunden  als  West- 
länder, sumerisch  Martu,  semitisch  Amurru,  deutsch  Amoriter 
bezeichnet,  wobei  allerdings  zu  bemerken  ist,  daß  auch  diese 
Identifizierung  zwischen  Kanaanitern  und  Amoritern,  wie  fast 
alle  rassengeschichthchen  Annahmen  über  diese  Frühepochen, 
noch  durchaus  hypothetisch  ist.  Um  die  Zeiten  Sargons  I.  setzen 
sich  solche  von  den  ersten  Wellen  der  kanaanitischen  Flut  ge- 
tragene Beduinenstämme  im  Norden  Palästinas  fest  und  bilden 
hier  ein  zuerst  unbedeutendes,  dann  wachsendes  Amoriterreich. 
500  Jahre  später  schwingen  sich,  politische  Wirren  benutzend, 
Amoriterfürsten  zu  Vorherrschern  in  Babylon  auf.  Der  sechste 
Fürst  dieser  Dynastie,  Hammurabi,  ein  Heldenkönig  napoleoni- 
schen Schlages,  eint  nach  dem  mittelalterlichen  Zerfall  zum 
«rsten  Male  wieder  Nord-  und  Südbabylonien  zu  einem  Einheits- 
staat. An  Stelle  der  beiden  bisherigen  Nord-  und  Südresidenzen 
Ur  und  Harran  erhebt  er  das  zentral  gelegene  Babel  zur  Haupt- 
stadt des  Landes.  Babel  ist  also  nicht  die  Metropole  der  klassi- 
schen sondern  der  nachklassischen  Epoche,  nicht  das  Athen 
sondern  das  Alexandria  der  babylonischen  Geschichte.  Hammu- 
rabis  Staat  verhält  sich  zur  klassischen  Antike  unter  Sargon 
wie  das  Alexanderreich  zum  Athen  des  Perikles,  wie  das  päpst- 
hche  Rom  zum  Rom  des  Augustus.  Hammurabi  regierte  um  2250 
und  ist  der  Zeitgenosse  Abrahams,  als  der  er  in  der  Bibel  er- 
wähnt wird  mit  den  Worten:  „Und  es  geschah  in  den  Tagen 
des  Amraphel,  Königs  von  Sinear"  (Sinear  ist  der  hebräische 
Name  für  die  babylonische  Ebene  von  Sumer).   In  dem  Zeit- 

92 


alter  Hammurabis  treten  die  Vorfahren  der  Juden 
unter  Abraham  auf  den  Schauplatz  der  vorderasiati- 
schen Geschichte. 

Hammurabi  ist  der  erste  jener  wenigen  großen  Fürsten  der 
Weltgeschichte,  die  durch  die  Kraft  ihrer  Persönlichkeit  einem 
ganzen  Zeitalter  das  Gepräge  ihres  Wesens  gegeben  haben,  so 
daß  die  sonst  gestaltlos  chaotische  Zeit  uns  mit  dem  Antlitz 
eines  Menschenhauptes  anschaut;  seine  Regierungszeit  ist  eine 
jener  wenigen  Epochen,  in  denen  auf  der  Bühne  des  Welttheaters 
der  Massenlärm  verstummt  und  ein  Held  der  Menschheit  einen 
Monolog  spricht. 

Die  unsterbliche  Großtat  Hammurabis  ist  sein  Gesetz,  ein 
Code  civile  von  283  Paragraphen,  den  er  offenbar  aus  den  vcr- 
handenen  Landrechten  zusammenstellen  ließ.  Es  sind,  wie  der 
König  selber  sagt  „Gesetze  der  Gerechtigkeit,  die  Hammurabi, 
der  mächtige  und  gerechte  König,  festgesetzt  hat  zu  Nutz  und 
Frommen  der  Schwachen  und  Unterdrückten,  der  Witwen  und 
Waisen"  (man  beachte  die  ethische  Formulierung  „zu  Nutz  und 
Frommen  der  Schwachen  und  Unterdrückten,  der  Witwen  und 
Waisen").  „Der  Codex  Hammurabis  enthält  Taxen  für  ärzt- 
liche Behandlung,  die  sich  nach  den  Vermögensverhältnissön 
des  Patienten  richten,  Bestrafungsparagraphen  für  Ärzte  bei 
fahrlässiger  Tötung  des  Patienten,  Bestimmungen  über  die  Un- 
pfändbarkeit der  zum  Leben  notwendigen  Dinge  (im  römischen 
Recht  unbekannt),  Verbot  der  Schuldeneintreibung  ohne  Wissen 
des  Schuldners,  Todesstrafe  auf  Kinderdiebstahl  (in  Rom  straf- 
los), strenge  Bestrafung  der  Schankwirte  bei  alkoholischen 
Exzessen,  Verbot,  daß  jemand,  der  zwei  Brautleute  uneinig 
gemacht  hat,  die  Braut  nun  heiraten  darf,  Trennung  von  der 
kranken  Gattin  nur  erlaubt  mit  ihrer  Zustimmung  und  darin 
unter  Verpflichtung  ihrer  lebenslänglichen  Alimentation  (bei 
Germanen  und  Griechen  keine  Rechtsgesetze  für  die  Frau),  bei 
Ehescheidung  Verpflichtung,  die  Frau  bis  zur  Verheiratung  mit 
einem  anderen  zu  versorgen.  Die  Frau  dieser  Kulturperiode 
sehen  wir  als  selbständige  juristische  Person  Käufe  und  Ver- 
träge abschließen,  vor  Gericht  als  Kläger  und  Zeuge  auf- 
treten und  eigene  Firmen  führen,  während  2000  Jahre  später 
in  Rom  die  Frau  vermögenslos  war.  Selbst  eine  Kriegs- 
fürsorge für  die  Frauen  der  ins  Feld  gerückten  Männer 
existierte  im  Reich  Hammurabis.  Jeder  taugliche  Mann 
ist  zum  Militärdienst  verpflichtet,  obschon  Hammurabi  allzu 
streng     gehandhabter    Aushebung    durch    zahlreiche    Rechts- 

93 


entscheidungen  vorbeugt,  indem  er  die  Privilegien  alt- 
priesterlicher  Geschlechter  achtet  oder  im  Interesse  der  Vieh- 
zucht die  Hirten  vom  Kriegsdienst  befreit.  Wir  lesen  von 
Geldprägung  in  Babylon,  und  der  äußerst  kursive  Schrift- 
•harakter  führt  auf  weiteste  Anwendung  des  Schriftgebrauchs. 
Ja,  wenn  wir  unter  den  Briefen,  die  uns  aus  jener  alten  Zeit  in 
reicher  Fülle  erhalten  geblieben,  den  Brief  einer  Frau  an  ihren 
auf  Reisen  befindlichen  Mann  finden,  in  welchem  sie  diesen 
nach  der  Mitteilung,  daß  die  Kleinen  wohlauf  sind,  in  einer  ge- 
ringfügigen Angelegenheit  um  Rat  fragt,  oder  das  Schreiben 
eines  Sohnes  an  seinen  Vater,  in  welchem  jener  diesem  mitteilt, 
daß  ihn  der  und  der  unerträglich  beleidigt  habe,  daß  er  den 
Wicht  hauen  werde,  zuvor  aber  doch  den  Rat  seines  Vaters  er- 
kunden möchte,  oder  einen  anderen  Brief,  in  welchem  der  Sohn 
den  Vater  um  endliche  Sendung  des  lange  versprochenen  Geldes 
mahnt,  mit  der  schnöden  Begründung,  daß  er  dann  wieder  für 
seinen  Vater  beten  könne,  so  weist  dies  alles  auf  einen  wohl- 
organisierten Brief-  und  Postverkehr,  wie  denn  allen  Anzeichen 
zufolge  Straßen  und  Kanäle  weit  über  die  Grenzpfähle  Baby- 
loniens  hinaus  in  musterhaftem  Zustand  sich  befanden.  Handel 
und  Industrie,  Viehzucht  und  Ackerbau  standen  in  vollster 
Blüte,  und  die  Wissenschaften,  wie  z.  B.  Geometrie,  Mathematik 
und  vor  allem  Astronomie  hatten  eine  Höhe  der  Entwicklung  er- 
reicht, welche  sogar  unsere  modernen  Astronomen  immer  von 
neuem  zu  staunender  Bewunderung  veranlaßt.  Nicht  Paris, 
höchstens  Rom  kann  sich  mit  Babylon  in  bezug  auf  den  Ein- 
fluß messen,  welchen  dieses  zwei  Jahrtausen.de  hindurch  auf 
die  Welt  ausgeübt"  (gekürzt  zitiert  nach  Delitzsch) i). 

Der  Grundzug  des  Hammurabi'schen  Gesetzes  ist  die  Ge- 
rechtigkeit. Zwar  schreibt  Chamberlain:  ,,Die  Mißachtung  der 
rechtlichen  Ansprüche  und  der  Freiheit  anderer  ist  ein  in  allen 
mit  semitischem  Blute  stark  durchsetzten  Völkern  wiederkehren- 

^)  Aus  der  Fülle  aufgefundener  Dokumente  seien  zwei  charakte- 
ristische Schriftstücke  angeführt:  Eine  Garantietontafel  über  einen  ge- 
kauften Brillantring,  auf  der  garantiert  wird,  daß  der  eingelassene  Smaragd 
20  Jahre  nicht  aus  der  Fassung  fallen  werde,  widrigenfalls  werde  eine 
Konventionalstrafe  von  10  Silberminen  gezahlt.  Ein  anderes  Tontäfelchen 
entpuppte  sich  als  folgendes  entzückende  Billet  doux:  „An  meine  Bibi- 
Gimil-Marduk.  Scham asch  und  Marduk  mögen  Dich  um  meinetwillen  ewig 
leben  lassen.  Wie  geht  es  Dir?  Schreibe  mir  doch!  Ich  bin  nach  Babel 
gekommen,  aber  ich  habe  Dich  nicht  gefunden.  Ich  bin  sehr  traurig  darüber. 
Benachrichtige  mich,  wann  Du  kommst  und  erfreue  mich  hierdurch.  Komme 
im  Monat  Marcheschwan.    Lebe  ewig  —  um  meinetwillen." 

94 


der  Zug  .  .  .  Auch  unter  günstigeren  Bedingungen,  z.  B.  bei  de« 
Juden,  hat  sich  nie  auch  nur  ein  Ansatz  zu  einer  echten  Rechts- 
bildung gezeigt"  —  in  Wahrheit  aber  ist,  was  man  auch  sonst 
gegen  die  semitische  Kultur  vorbringen  mag,  gerade  der  Ge- 
rechtigkeitswille die  alles  übertönende  Dominante  des  semiti- 
schen Charakters.  Vor  dem  Lichte  der  Gerechtigkeit  muß  selbst 
der  Sonnenglanz  des  gott-geborenen  Königs  von  Babel  verblassen: 
,, Nimmt  der  König'"',  lesen  wir  auf  einer  babylonischen  Tafel, 
,,Geld  von  den  Bewohnern  Babylons,  es  seinem  Schatz  einzu- 
verleiben und  hört  dann  den  Rechtsstreit  von  Babyloniern  und 
läßt  sich  zu  Parteilichkeit  umstimmen,  so  wird  Marduk,  der 
Herr  Himmels  und  der  Erde,  seinen  Feind  wider  ihn  setzen 
und  seinen  Besitz  und  Schatz  an  seinen  Feind  geben."  Auf  den 
Rechtsbegriffen  des  Hammurabi'schen  Zeitalters  hat 
Moses  das  ethische  System  der  jüdischen  Religion  er- 
richtet^). 

Der  Ruhm  Hammurabis  ließ  die  Germanentheoretiker  nicht 
schlafen.  Wieder  einmal  hatte  sich  eine  Kultur  im  Kreis  der 
Semiten  als  schöpferisch  und  bahnbrechend  für  die  Geschichte 

^)  Georg  Brandes  in  einer  Arbeit  über  das  Buch  Kohelet:  „Der 
innerste  Ton  des  Judentums  ist  der  Ruf  nach  Gerechtigkeit,  seine 
Grundstimmung  die  Hoffnung  auf  Gerechtigkeit,  der  Wille  zur  Gerechtig- 
keit. Sein  Ideal  ist,  die  Gerechtigkeit  zum  Wellgesetz  zu  machen  . . . 
Gott  hat  gesagt:  Ihr  sollt  richtige  Wagscbalen  und  richtige  Lote  haben, 
richtige  Scheffel  und  richtige  Kannen.  Gott  hat  gesagt:  ihr  müßt  im 
Gericht  nicht  Unrecht  tun,  du  mußt  nicht  parteiisch  gegen  den  anderen 
sein  oder  den  Vornehmen  begünstigen,  nsit  Gerechtigkeit  sollst  du  über 
deinen  Nächsten  urteilen  .  .  .  Weil  der  Jude  das  Gerechtigkeitsideal  auf 
Erden  verwirklichen  sollte,  ist  er  in  den  modernen  Zeiten  bei  den  Re- 
volutionen mitwirkend  gewesen.  Rabbinistische  Juden  waren  bei  der  Ein- 
setzung des  Freimaurerordens  wirksam,  die  wenigen  Juden  Frankreichs 
waren  Teilnehmer  der  Revolution.  Die  Hälfte  der  Begründer  des  St. 
Simonismus  waren  Juden  . . .  Als  der  Liberalismus  entsteht,  wird  Mannin 
dessen  Held  in  Italien,  Börne  sein  Wortführer  in  Deutschland,  Jellinek  , 
sein  Agitator  und  Märtyrer  in  Österreich,  Moriz  Hartmann  sein  Für- 
sprecher in  Frankfurt  und  sein  Streiter  in  Wien.  Der  deutsche  Sozialismus 
wird  von  Karl  Marx  und  Lassalle  begründet,  der  russische  Nihilismus  ist 
stark  von  jungen  studierenden  Juden  und  Jüdinnen  rekrutiert  worden, 
von  denen  viele  ihr  Leben  geopfert  haben."  Die  Fiktion  des  Gerechtig- 
keitsmangels unter  den  Semiten  hat  Chamberlain  von  seinem  vielzitierten 
Gewährsmann  Voltaire  übernommen.  Voltaire,  von  dem  Friedrich  der 
Große  gesagt  hat:  ,,Es  ist  ein  Jammer,  daß  mit  einem  so  herrlichen 
Genie  eine  so  nichtswürdige  Seele  verbunden  ist",  schreibt  neben  hundert 
anderen  maß-  und  sinnlosen  Judenlästerungen  einmal:  ,,Dic  Huroneil, 
die  Kanadier,  die  Irokesen,  waren  Philosophen  der  Humanität  im  Ver- 
gleich zu  den  Israeliten." 

9» 


der  Menschheit  erwiesen  —  nie  konnte  sie  das  Werk  der  unbe- 
gabten Semiten  sein,  nur  eine  Rasse  war  solcher  Produktionen 
fähig  —  Germanen.  Wie  die  ,, Schöpfer"  der  ersten  semitischen 
Kultur,  die  Sumerier,  mußten  auch  die  Amoriter  mit  ihrem 
großen  Feldherrenkönig  Hammurabi  Germanen  gewesen  sein. 
Nachdem  Chamberlain  seinen  Lesern  ein  Zerrbild  des  Arabers 
und  eine  Karikatur  des  Hethiters  vorgeführt,  läßt  er  den 
germanisch  aufgeputzten  Amoriter  auf  die  Marionettenbühne 
seines  Welttheaters  treten  und  beginnt  pathetisch  zu  de- 
klamieren: „Man  glaubt,  ein  anderes  Wesen  zu  sehen,  wenn 
man  auf  den  ägyptischen  Monumenten  unter  der  Unzahl  Phy- 
siognomien plötzlich  dieses  freimütige,  charakterstarke,  In- 
telligenz atmende  Antlitz  erblickt.  Wie  das  Auge  des  Genies 
inmitten  des  gewöhnlichen  Menschenhaufens,  so  muten  uns  diese 
Züge  an  unter  der  Menge  der  schlauen  und  schlechten  und  blöden 
und  bösen  Gesichter,  unter  diesem  ganzen  Gesindel  von  Baby- 
loniern  und  Hebräern  und  Hethitern  und  Nubiern  und  wie  sie 
alle  heißen  mögen.  Homo  europaeus!  Wie  konntest  du  dich 
in  diese  Gesellschaft  verirren?  Ja,  wie  ein  Auge,  geöffnet  in 
ein  göttliches  Jenseits,  mutest  du  mich  an."  Zwar  erwähnt  er 
ganz  beiläufig  in  einer  petit  gedruckten  Fußnote:  „Übrigens 
ist  die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Philister  und  .«der  Amo- 
riter eine  noch  viel  umstrittene,"  sagt  aber  dann  mit  der  ihm 
eigenen  großen  Geste,  mit  der  er  ganze  Wissenschaften  in  die 
Ecke  bannt:  „Wir  können  den  Streit  getrost  den  Historikern 
und  Theologen  überlassen,  die  anthropologischen  Ergebnisse 
sind  Ergebnisse  einer  exakten  Wissenschaft  und  die  Philologie 
muß  sich  nach  ihnen  richten,  nicht  umgekehrt.  Daß  die  Amo- 
riter große,  blonde,  blauäugige  Dolichocephalen  waren,  ist 
sicher;  somit  gehörten  sie  zum  Typus  Homo  europaeus;  uns 
Ungelehrten    genügt    das"^).     Seine    Ungelehrtheit    brauchte 

• 

^)  An  dieser  Stelle  spielt  Chamberlain  die  Anthropologie  ab  „exakte 
Wissenschaft"  aus  gegen  die  Philologie.  An  anderer  Stelle,  wo  ihm 
■wieder  für  seine  parteiischen  Thesen  die  Anthropologie  unangenehm  ist, 
dreht  er  den  Spieß  um  und  sticht  nun  als  Philologenverteidiger  die 
Anthropologen  tot.  ,,Daß  die  Rassenfrage  trotz  der  Herren  Anthropo- 
logen nach  und  nach  gesichtet  und  die  Hauptelemente  des  Problems 
wenigstens  bis  zur  klaren  Fragestellung  durchgearbeitet  wurden,  ver- 
danken wir  der  vergleichenden  Philologie."  Denn  sie  untersucht  nicht 
Knochen,  sondern  ,,im  Gegenteil  das  Allerinnerste",  nämlich  die  Sprache 
und  Seele.  —  Gegenüber  den  physiognomischen  Dithyramben  Chamber- 
lains  auf  den  Germanen  ist  es  ganz  interessant  zu  hören,  was  ein 
Volksgenosse  Chamberlains,  der  englische  Lord  Headly,  im  Daily  Graphic 


Chamberlain  an  dieser  Stelle  nicht  hervorzuheben.  In  diesem 
Ton  spricht  nur  die  Ungelehrtheit.  Von  Luschan,  der  Di- 
rektor des  Berliner  anthropologischen  Museums,  der  sich 
jahrzehntelang  an  Ort  und  Stelle  mit  den  Rassenfragen  der 
alten  Geschichte  befaßt  hat,  widerruft  1907  nach  15  Jahren 
«ine  1892  geäußerte  Ansicht  über  die  Amoriter:  „Persönlich 
habe  ich  auf  die  Amoriter  als  eine  der  Quellen  für  die  blonden 
Juden  schon  lange  nicht  mehr  großes  Gewicht  gelegt."  „Daß 
die  Amoriter  große,  blonde,  blauäugige  Dolichocephalen  waren, 
ist  sicher",  schreibt  Chamberlain.  Hiernach  muß  der  Laien- 
leser, für  den  Chamberlain  sein  Weltanschauungswerk  ge- 
schrieben, glauben,  daß  diese  Tatsache  in  der  Fachwelt  als  fest- 
stehend betrachtet  wird.  Wie  aber  lauten  die  Zeugnisse,  wenn 
man  in  der  Literatur  nachforscht?  Eduard  Meyer,  der  führende 
Spezialhistoriker  der  vorderasiatischen  Altertumsgeschichte,  be- 
schreibt die  Amoriter  nach  denselben  Abbildungen,  die  doch  auch 
Chamberlain  nur  vorgelegen  haben  können,  als  ,, nicht  selten 
wohlbeleibt,  die  Nase  ist  stark  gebogen,  das  Haupthaar  immer 
schwarz,  der  Bart  oft  rötlichgelb.  In  der  Regel  tragen  sie  auch 
den  Schnurrbart.  So  sehen  sie  den  semitischen  Bah  yloniern 
durchaus  gleich,  nur  daß  die  Nase  und  damit  das  uns  ty- 
pisch semitisch  geltende  Profil  stärker  hervortreten." 
Wellhausen,  der  Begründer  der  kritisch-historischen  Schule 
unter  den  Theologen,  schreibt  in  seiner  epochemachenden, 
von  Chamberlain  sonst  oft  zitierten  „Israelitischen  und  jüdischen 
Geschichte":  „Dagegen  waren  die  Amoriter,  obwohl  auch 
Semiten,  doch  keine  Kanaaniten."  Vielmehr  vermutet  er, 
<iaß  die  Amoriter  nicht  mit  einer  der  ersten  sondern  einer 
späteren  Welle  der  kanaanitischen  Wanderflut  nach  Palästina 
gekommen  seien.  Kittel,  der  Verfasser  der  neuesten  „Ge- 
schichte des  Volkes  Israel"  (1916),  eines  groß  angelegten  Werkes, 

über  die  Physiognomie  der  führenden  deutschen  Männer  geschrieben. 
Er  findet  bei  „fast  allen  deutschen  Führern  vom  Kaiser  bis  zum 
letzten  General"  einen  satanischen  Ausdruck.  Graf  Bernstorff  findet  er 
„teuflisch  grausam  und  hart",  Hindenburgs  Äußere  „ist  tierisch  und  hat 
etwas  vom  wilden  Schwein",  der  Kaiser  und  Falkenhayn  sind  ,,gute 
Typen  des  Fürsten  der  Finsternis",  Bülow  und  Mackensen  repräsentieren 
den  katzenartigen  Typus  voll  Grausamkeit  und  Verräterei,  Bethmann 
und  Lichnowski  verraten  Unaufrichtigkeit  und  Falschheit.  Nach  dieser 
Charakteristik  fährt  er  fort:  ,,Man  muß  dagegen  die  englischen  Generale 
und  Admirale  sowie  überhaupt  die  Heerführer  der  Verbündeten  an- 
schauen   es  ist,  als  ob  man  aus  unterirdischen  Höhlen  in  den  Him- 
mel kommt  ..."  usw.  (zit.  nach  Brunner). 

■7    Kahn.  Die  Judea.  97 


schreibt  über  die  Amoriter:  „Die  Amoriter  erscheinen  als  ein 
von  den  eigentlichen  Babyloniern  verschiedener  semitischer 
Volksstamm,  der  bis  weit  herunter  in  die  biblische  Zeit 
ganz  besonders  mit  Syrien  und  Palästina  in  Verbin- 
dung steht,  auch  seiner  Sprache  nach  mit  der  dortigen 
Semitenschicht  näher  verwandt  ist  als  mit  den  einheimisch 
babylonischen  Semiten.  Nach  Dehtzsch  (1920)  „haben  die  semi- 
tischen Amoriter  als  erste  geschichtliche  Bevölkerung  Kanaans  zu 
gelten  .  .  .  Die  allernächste  Verwandtschaft  der  Sprachen  der 
Amoriter  und  der  Hebräer  ist  so  oft  behandelt  worden,  daß  hier 
nicht  weiter  darauf  eingegangen  zu  werden  braucht."  Schließ- 
lich ist  im  Jahre  1909  sogar  ein  Spezialwerk  über  die  Amoriter 
erschienen,  eine  anerkannt  bedeutende  Erscheinung  in  der  inter- 
nationalen Bibliographie,  Gay  „Amurru,  the  home  of  the  Northern 
Semites",  in  dem  der  Verfasser  ebenfalls  die  Amoriter  als  West- 
resp.  Nordwestsemiten  schildert. 

All  diesen  Stimmen  der  Wissenschaft  zum  Trotz  fährt  der 
„ungelehrte"  Chamberlain  in  seiner  großen  Philippika  gegen 
die  Juden  fort:  „Diese  Amoriter  waren  große,  blonde,  blau- 
äugige Menschen  von  lichter  Hautfarbe;  sie  waren  „aus  dem 
Norden",  d.  h.  aus  Europa,  eingedrungen,  die  Ägypter  nannten 
sie  daher  Tamehu,  das  Volk  der  Nordländer."  Als  was  sollen 
die  Ägypter  Völker,  die  von  Kanaan  zu  ihnen  dringen,  denn 
sonst  bezeichnen  wenn  nicht  als  Nordländer?  Sind  die  Cim- 
bern  und  Teutonen  Eskimos,  weil  sie  von  Norden  nach  Italien 
einziehen?  Das  „Norden"  schlankhin  durch  die  Einschaltung^ 
„d.  h.  aus  Europa"  zu  übersetzen,  ist  ein  echt  Chamber- 
lain'scher  Trick  der  Dialektik,  der  an  die  blitzgeschwinden 
Zylinderbewegungen  des  Zauberkünstlers  auf  dem  Variete 
erinnert:  sie  scheinen  ganz  nebensächlich  zu  sein  und  sind  die 
Hauptsache  am  Betrug.  Seine  fernere  Annahme,  „daß  die 
Amoriter  (doch  ist  dies  natürlich  problematisch)  Palästina 
nicht  sehr  lange  vor  der  Rückkehr  der  Israeliten  aus  Ägypten 
erreicht  zu  haben  scheinen",  also  kurz  vor  1200,  widerspricht 
allen  historischen  Tatsachen.  Hammurabi  ist  ja  schon  1000 
Jahre  vor  Moses  als  Amoriterkönig  Herrscher  von  Babylon, 
noch  400  Jahre  früher  (2600)  läßt  Gudea,  der  sumerische  Fürst 
von  Lagasch,  Libanonmarmor  aus  den  „Bergen  der  Amurru" 
holen,  und  nochmals  500  Jahre  früher  (3100)  ist  auf  einem  der 
ältesten  ägyptischen  Bilder  ein  Amoriter  als  „gefangener 
Asiate"  dargestellt,  von  dem  Eduard  Meyer  feststellt:  „Der 
semitische  Typus  ist  ganz  unverkennbar."     Mit  welchen  Zwangs- 

98 


mittein  die  Germanenmissionäre  die  Taufe  an  ihren  Opfern 
vollziehen,  beweist  das  Attentat,  das  Otto  Hauser  auf  Hammurabi 
verübt.  Er  schreibt:  „Der  große  Feldherr  und  Rechtsbegründer 
Hammurabi  wird  als  Amoriter  ein  Blondling  gewesen  sein.  Seine 
Bildnisse,  die  ihn  darstellen,  wie  er  vom  Sonnengott,  dem  liebsten 
Gott  der  sonnenhungrigen  Blonden,  das  seinen  Namen  tragende 
Gesetz  empfängt,  zeigen  ihn  als  durchaus  nordischen  Fürsten, 
nicht  als  semitischen  Mischhng."  Das  Bild,  auf  das  sich  Hauser 
hier  bezieht,  ist  ein  gemeißelter  Stein.  Wer  will  entscheiden, 
und  sei  er  selbst  ein  so  begabter  Wünschelrutengänger  der 
Rassenforschung  wie  Hauser,  der  über  die  Felder  der  Geschichte 
pilgernd  die  feinsten  Adern  und  verborgensten  Brünnlein  ger- 
manischen Blutes  erspürt,  wer  will  entscheiden,  welch  eine  Farbe 
der  König  der  steinernen  Stele  getragen  ?  Wir  können's  nicht  wissen , 
und  können's  doch  ermessen.  Es  steht  darunter  geschrieben: 
„Wie  Schamasch  bin  ich  aufgegangen  über  die  Schwarz- 
köpfigen  und  für  die  Schwarzköpfigen,  die  Bei  mir  ge- 
schenkt und  über  die  Marduk  mich  setzte,  bin  ich  nicht  säumig 
gewesen."  Danach  scheint  es  klar:  „Hammurabi  wird  ein 
Blondling  gewesen  sein  .  .  ."^) 

Jede  Theorie,  die  zur  Erklärung  eines  Kulturaufschwunges 
fremdrassige  Völker  aus  weit  entlegenen  Ländern  heranziehen 
muß,  verfällt  der  Unwahrscheinlichkeit.  Daß  Germanen, 
wohlgemerkt  nicht  die  mischfarbigen  Deutschen  der  Kulturzeit, 
denen  Goethe,  Beethoven,  Kant  entsprossen  sind,  sondern  jene 
blonden  Nordgermanen,  die  Vorfahren  der  weißrussischen  Bauern 
der  Tolstoidramen  und  der  heutigen  Niedersachsen  von  Wolfen- 

^)  In  Wahrheit  ist  das  Amoriterreich  nicht  von  Indogermanen  ge- 
gründet, wohl  aber  von  ihnen  zerstört  worden.  Zur  Zeit  Hammurabis 
bildet  das  Amoriterland  ein  großes  Reich  im  Westen.  Nach  dem  Sturz 
der  Hammurabidynastie  dringen  von  Norden  die  Hethiter,  von  Süden 
die  Ägypter  vor  und  beschränken  das  Amoriterreich  auf  das  Libanon- 
gebiet. Hier  finden  die  einwandernden  Juden  die  Amoriter  als  einen  der 
Kanaan  bevölkernden  Stämme.  Später  dehnen  sich  die  Amoriter  noch 
einmal  unter  der  Führung  eines  kühnen  Beduinenhäuptlings  Abd-Asirta 
aus  und  bilden  einen  Staat,  dessen  Geschichte  sich  über  fünf  Dynastien 
verfolgen  läßt.  Um  das  Jahr  1180  wird  dieser  Amoriterstaat  von  den 
einfallenden  Indogermanen  überrannt.  Diese,  so  heißt  es  in  einer  babylo- 
nischen Urkunde,  „vernichteten  sie  und  schlugen  ihr  Lager  auf  im  Innern 
des  Amoriterlandes.  Geraubt  waren  seine  Bewohner,  sein  Land  war,  als 
ob  es  nie  gewesen."  Dem  Vordringen  dieser  Indogermanen  macht  der  ägyp- 
tische Pharao  an  seiner  „gerüsteten  Grenze"  ein  Ende  und  drängt  sie 
gegen  die  phönizische  Küste,  wo  sie  sich  in  den  Philisterstaaten  nieder- 
lassen (Bohl). 

7*  99 


büttel  und  Pinneberg,  die  sich  später  als  Cimbern  und  Teutonen 
über  Italien,  als  Kimmerier,  Skythen,  Sarmaten  über  Vorder- 
asien ergossen  haben,  daß  diese  die  Schöpfer  der  Hochkulturen  In- 
diens, Babylons,  Chinas  und  Perus  gewesen,  erscheint  so  paradox, 
daß  man  versucht  ist,  hinter  einer  solchen  Publikation  einen 
wissenschaftlichen  Aprilscherz,  eine  Satire  auf  die  Anthropologie 
zu  vermuten.  Ebenso  widerspricht  die  Amoritertheorie  Chara- 
berlains  allen  Analogieschlüssen  und  Wahrscheinlichkeiten. 
Welch  ein  Abgrund  gähnt  zwischen  dem  Imperium  Romanum 
und  dem  Reiche  Theoderichs!  Verständnislos  für  die  Werte 
der  Klassik  zerschlagen  die  Vandalen  die  olympischen  Statuen, 
bauen  die  Langobarden  aus  den  Quadern  der  Griechentempel 
katholische  Kapellen.  Aber  die  Amoriter  führen  die  große  Kultur 
der  Vorzeit  in  der  traditionellen  Linie  semitischer  Weltanschauung 
weiter  und  erweisen  sich  damit,  ganz  abgesehen  von  allen  Tat- 
sachen, auch  vor  dem  Richterstuhl  des  historischen  Gefühls  als 
die  blutsverwandten  Erben  der  altsemitischen  Klassik, 

Schließlich  widerspricht  der  Annahme  einer  damaligen  ger- 
manischen Immigration  die  nach  Westen  gerichtete  Tendenz 
der  kanaani tischen  Wanderung.  Wie  später  die  Völkerflut  der  Mo- 
hamedaner,  ergoß  sich  damals  der  Wanderstrom  der  Kanaaniter 
aus  Arabien  über  das  ganze  Mittelmeerbecken  bis  zu  den  Küsten 
des  Atlantik.  Daß  gegen  diesen  Riesenschwall  der  Semiten  ein 
kleines  Völkchen  von  Germanen  von  Nordeuropa  bis  zum  Quell- 
punkt des  Semitenstromes  nach  Art  der  laichenden  Lachse  flußauf- 
wärts geschwommen  sei,  und  daß  diese  Germanen  hier  inmitten 
der  semitischen  Völker  „Kultur"  geschaffen  hätten,  widerspricht 
aller  historischen  Theorie  und  Erfahrung.  Die  Tendenz  der  Kultur 
zwischen  2000 — 1000  v.  Chr.  war  „der  Zug  nach  dem  Westen". 

Eine  der  vordersten  Wellen  der  kanaanitischen  Expansion 
trägt  die  Phönizier  an  die  Küsten  Syriens.  Hier  gründen  sie 
Königreiche,  kommen  durch  Seehandel  zu  Wohlstand  und 
breiten  sich  als  Seevolk  nach  Westen  über  die  Küsten  des  Mittel- 
meers aus.  Sie  umsegeln  als  erste  das  Kap  der  guten  Hoff- 
nung, erfinden  die  Purpurfärberei,  die  Webstuhlarbeit,  die  Glas- 
schmelze und  den  Bergbau  und  ,,sind  für  lange  in  der  baulichen, 
bergmännischen  und  Ingenieur-Tüchtigkeit  die  Lehrmeister  der 
Griechen"  (Hertzberg).  Die  berühmteste  Phönizierkolonie  wird 
Karthago,  das  Land  der  „Punier".  Vor  dem  Semiten  Hannibal 
hat  Rom  gezittert! 

Parallel  zu  den  Phöniziern  breiten  sich  über  den  nördlichen 
Teil  des  Mittelmeergebietes  die   Hethiter  aus.    Die   Hethiter, 

100 


die  Alarodier  Herodots  und  Hommels,  tauchen  um  das  Jahr 
2000  V.  Chr.  als  eine  politische  Macht  in  Kleinasien  auf,  wo  sie  als 
Armenier  bis  auf  den  heutigen  Tag  mehr  oder  minder  rein  er- 
halten blieben.  Die  Rassenstellung  der  Hethiter  ist  noch 
ungeklärt.  Sie  repräsentieren  den  spezifisch  jüdischen  Typus 
unter  den  Völkern  Vorderasiens;  aus  ihrer  Mitte  ist  der  Proto- 
typ des  Witzblattjuden  mit  krummer  Nase,  kurzen  Gliedern, 
rundem  Bauch,  Glatze  und  hängender  Physiognomie  hervor- 
gegangen. Ein  Teil  der  Anthropologen  hält  die  Hethiter  für 
Semiten,  die  nach  Norden  ins  Kaukasusgebiet  gedrängt  wurden 
und  sich  hier  zu  „Kaukasussemiten"  spezialisiert  haben  ent- 
sprechend dem  europäischen  Homo  alpinus.  Andere  sehen  in 
ihnen  ein  Volk  turanischen  Stammes,  Mongolen.  Wieder  andere 
ein  Mischvolk  beider  Gruppen.  Während  Chamberlain  von 
den  Hethitern,  weil  sie  das  jüdische  Element  vertreten,  ein 
karikiertes  Bild  entwirft,  sie  als  Menschen  „einer  achtenswerten 
und  hervorragend  lebensfähigen  Mittelmäßigkeit"  ohne  „An- 
lage zu  außerordenthchen  Leistungen"  mit  ,,mehr  Zähigkeit 
als  Kraft"  beschreibt,  weshalb  sie  „schwerlich  auf  Größe  An- 
sprucii  erheben  können"  —  in  Wahrheit  weiß  er  sowenig  wie 
irgendein  anderer  Mensch  genug,  um  über  den  alten  Hethiter 
zu  urteilen,  da  wir  noch  nicht  einmal  seine  Schrift  enträtselt 
haben  —  schildert  im  Gegensatz  hierzu  v.  Luschan  sie  „als 
ein  altes  Kulturvolk,  das  von  Jahr  zu  Jahr  in  unserer  Achtung 
steigt,  das  schon  in  grauer  Vorzeit  sich  eine  eigene  selbständige 
Bilderschrift  erfunden  hat,  und  das  in  Baukunst  und  Skulptur 
der  Lehrmeister  der  Assyrer  und  der  Griechen  gewesen  ist". 
Zwischen  2000  und  1000  ist  das  Hethiterreich  einer  der 
mächtigsten  Staaten  Vorderasiens,  der  während  der  mittel- 
alterlichen Ohnmacht  Babylons  mit  Ägypten  um  die  Vorherr- 
schaft in  Syrien  ringt;  der  Vater  des  biblischen  Pharao  kämpft 
mit  den  Hethitern  in  der  großen  Schlacht  bei  Kadesch  um  den 
Besitz  von  Palästina,  nach  deren  unentschiedenem  Ausgang  das 
Land  zwischen  Ägyptern  und  Hethitern  geteilt  wird,  so  daß  die 
Israeliten  bei  ihrem  Einzug  den  nördlichen  Teil  von  Kanaan 
stark  von  hethi tischen  Elementen  durchsetzt  finden.  Durch 
diese  Herrschaft  über  Nordpalästina  spielen  die 
Hethiter  in  der  Rassengeschichte  der  Juden  eine  be- 
deutende Rolle. 

Wie  die  Phönizier  im  Süden  breiten  sie  sich  im  Norden  des 
Mittelmeerbeckens  aus.  Vermutlich  sind  sie  es,  die  die  vor- 
arische Kulturbevölkerung  Kleinasiens,    der  Äg6is,    Griechen- 

101 


lands,  Italiens  und  Spaniens  bilden.  Die  Kultur  dieser  Völker 
hat  trotz  der  wenn  auch  vereinzelten,  so  doch  zahlreichen  Funde 
bis  heute  im  Gegensatz  zu  dem  geradezu  zu  Tode  gepeitschten 
Problem  der  klassischen  Antike  keine  irgendwie  an  das  Ver- 
dienst heranreichende  Würdigung,  geschweige  denn  genügende 
Popularität  gefunden.  Daß  sowohl  die  prähellenische  Be- 
völkerung Griechenlands  wie  die  Etrusker  Italiens  nicht 
arisch  sondern  vorderasiatischer  Herkunft  waren,  kann  nach 
den  neuesten  Forschungen  fast  als  sicher  gelten.  Möller  von 
der  Brück  schreibt  über  die  Etrusker,  die  schon  Herodot  aus 
Kleinasien  kommen  läßt:  „Geometrie  und  Astronomie,  die  Ka- 
lendrierung  der  Zeit  und  die  Administrierung  des  Staatslebens 
sowie  Ritual  und  Zeremonial  der  Religion  sind  deutlich  baby- 
lonisches Gut .  .  .  Die  Terrassenschichtung  der  etruskischen 
Städte  ist  zunächst  babylonische  Schichtung."  Grammatik  und 
zahlreiche  Namen  weisen  auf  hethitische  und  lykische  Wurzeln. 
Der  altrömische  Name  Tarquinius  soll  vom  hethitischen  Gottes- 
namen Tarkon  stammen,  Sardinien  vom  ägyptischen  Volks- 
namen Schardina  abgeleitet  sein.  Die  Kulturstellung  der 
Etrusker  und  ihr  Einfluß  auf  das  jüngere  römische  Staats- 
wesen sind  unvergleichlich  bedeutender  als  man  nach  den 
gebräuchlichen  Geschichtswerken  anzunehmen  geneigt  ist.  Sie 
waren  ein  großes,  mächtiges,  fast  auf  allen  Gebieten  der  Kultur 
und  der  Zivilisation  tonangebendes  Volk,  das  in  dem  vor- 
römischen Italien  etwa  dieselbe  Rolle  gespielt  hat  wie  Frankreich 
im  Europa  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  Sie  waren  nach  An- 
gaben, die  der  sehr  gründlichen  und  zuverlässigen  Abhandlung 
von  Mieses  „Zur  Rassenfrage"  entnommen  sind,  die  ersten,  die 
zum  Kulturleben  auf  der  appeninischen  Halbinsel  erwachten 
und  zur  Vollstreckung  eines  großen  politischen  Machtgedankens 
ausholten.  Sie  vereinigten  fast  ganz  Italien  unter  ihrem  Szepter. 
Nach  Niebuhr  ist  die  römische  Staatsorganisation  eine  Kopie 
der  etruskischen.  Aus  Etrurien  kamen  die  Tarquinier;  die 
römischen  Patrizierfamilien  der  Flavier  und  Cominier,  Voltinier, 
Junier,  Valerier  und  Horazier  leiteten  sich  von  Etruskern  ab. 
Roms  älteste  Stadtmauer  sowie  ältester  Stadtkanal  zeigen 
etruskische  Bauart.  Sie  waren  die  Schöpfer  der  berühmten 
Wasserleitung,  die  Erfinder  der  Gewölbekonstruktion.  Der 
Tempel  des  Jupiter  Capitolinus  ist  von  Etruskern  errichtet. 
Etruskische  Städtegründungen  waren:  Tusculum,  Capua,  Bo- 
logna, Mantua,  Verona,  Ravenna  und  über  die  Grenzen  Italiens 
hinaus  Bregenz,  Augsburg  und  Kempten.     Ihre  Industrie  und 

102 


Handelssphäre  reichten  bis  an  die  Küsten  der  Ostsee,  wo  sie 
wahrscheinlich  den  alten  Lettopreußen  die  Kenntnis  des  Goldes 
vermittelten.  Roms  erste  Flotten  sind  von  Etruskern  gebaut. 
Überzeugender  aber  als  alle  diese  zivilisatorischen  Leistungen 
sind  für  die  hohe  Kulturbefähigung  der  Etrusker  ihre  Künste, 
deren  zwar  nur  spärlich  erhaltene  Denkmäler  Schöpfungen  auf- 
weisen, die  den  Betrachter  immer  wieder  zu  höchstem  Staunen 
hinreißen  müssen,  da  sie  durch  die  Souveränität  der  Technik, 
die  Freiheit  der  Bewegung,  die  realistische  Charakterisierung 
und  den  Phantasiereichtum  der  Invention  in  der  gesamten 
Antike  einzig  dastehen  und,  ganz  andere  Wege  wandelnd  als 
die  spätere  hellenische  Plastik,  direkt  auf  die  Renaissance  und 
zwar  auf  ihre  höchsten  Vertreter,  auf  Donatello,  Michelangelo 
und  Leonardo  hinweisen.  Die  etruskische  Literatur,  von  der 
die  Römer  mit  Hochachtung  sprechen,  ist  vollständig  unter- 
gegangen. Die  etwa  800  erhaltenen  Inschriften  etruskischer 
Sprache  sind  wegen  der  Unkenntnis  des  Etruskischen  bis  heute 
unentziffert  geblieben. 

Ein  den  Etruskern  wahrscheinlich  nahverwandter  Zweig  der 
vermutlich  semitischen,  jedenfalls  aber  nicht  -  arischen  Ur- 
bevölkerung Südeuropas  waren  die  Iberer,  die  Spanien,  West- 
frankreich und  Südengland  bewohnten  und  deren  Reste  heute 
als  Basken  in  den  Pyrenäen  leben.  Sie  besaßen  zwei  ver- 
schiedene Schriftsysteme  und  genossen  bei  den  antiken  Schrift- 
stellern hohes  Ansehen.  Strabo  erwähnt  ihre  alten  Lieder, 
ihre  historische  Literatur  und  ein  Geschichtsbuch  in  metrischer 
Form  von  6000  Versen.  Polybius  spricht  mit  Bewunderung 
von  der  Pracht  ihrer  Architektur  und  der  Sanftheit  ihrer  Sitten ; 
bei  Anakreon  wiederholt  sich  der  Ausdruck  „iberische  Glück- 
seligkeit" wie  ein  Sprichwort.  „In  Südspanien  wurde  eine  alt- 
etruskische  polychrome  Frauenbüste  gefunden,  die  eine  Eleganz 
des  Kostüms,  eine  ausdrucksvolle  Schönheit  der  Züge,  eine 
süße  Melancholie  des  Ausdrucks,  einen  Stich  ins  Moderne  zeigt, 
die  man  umsonst  in  den  Statuen  Phöniziens  und  auch  Griechen- 
lands suchen  würde"  (Philippson).  Iberer  von  Geburt  waren 
unter  den  Römern  Seneca,  Martial,  Quintilian  und  Lucan, 
Trajan,  der  beste  aller  römischen  Kaiser  —  ,,sei  gut  wie 
Trajan!"  —  und  Hadrian,  der  geistig  bedeutendste  der  Impera- 
toren. Im  iberischen  Spanien  blühte  die.  christliche  Kultur  des 
Abendlandes  im  frühen  Mittelalter  auf;  hier  entfaltete  sich  die 
Kultur  der  Araber  zu  ihrem  höchsten  Glanz  und  ihren  schönsten 
Schöpfungen.    Die  Nachkommen  der  Iberer,   die  Basken,   ge- 

103 


nossen  und  genießen  noch  heute  als  Rasse  hohes  Ansehen.  Alle 
Kenner  des  Baskentums  vom  Historiker  Einhart  aus  der  Zeit 
Karls  des  Großen  bis  zur  Moderne  sind  in  ihrer  Achtung  vor 
den  Basken,  die  die  Spanier  als  „Hidalgos"  betrachteten,  einig. 
Das  Bakische  ist  die  einzige  uns  bekannte  vorarische  Sprache 
des  westlichen  Europas.  Sie  wird  übereinstimmend  von  den 
Philologen  als  eine  der  vollkommensten  aller  Sprachen  gerühmt,. 
Bodrimont  schreibt:  „Die  Prinzipien  der  baskischen  Grammatik 
sind  der  vernünftigsten  Generalgrammatik  derart  angenähert, 
daß,  wenn  die  Menschheit  eines  Tages  vor  der  Frage  stünde,  eine 
Einheitssprache  anzunehmen,  sie  der  baskischen  Sprache  vor 
jeder  anderen  den  Vorzug  einräumen  müßte.  Die  Sprachen,  die 
man  sonst  für  die  vollkommensten  hält:  Sanskrit,  Griechisch, 
Lateinisch,  sind  Muster  der  Konfusion  im  Vergleich  zum 
Baskischen." 

Von  Luschan  ist  1911  mit  der  Hypothese  hervorgetreten, 
diese  vorarische,  semitisch  -  hethitische  (pelasgisch  -  etruskisch- 
iberische)  Bevölkerung  hätte  sich  auch  über  das  Alpengebiet  ver- 
breitet und  hier  den  Grundstock  für  die  alpine  Rasse  gebildet; 
die  heutigen  Tiroler,  Oberbayern,  Schwaben,  Savoyarden  seien 
Abkömmlinge  dieser  alten  Hethiter.  Durch  Mischung  dieser 
kurzköpfigen  Hethiter  mit  der  langköpfigen  Neandertalrasse 
seien  die  gemischtköpfigen  Europäer  entstanden  —  eine  Hypo- 
these, die  —  auch  von  Wirth  vertreten  —  ebenso  unbeweisbar 
wie  unwiderleglich  ist. 

Als  Ergebnis  der  bisherigen  Forschungen  kann  behauptet 
werden,  daß  die  vorklassischen  Kulturen  der  Mittel- 
meerländer, die  ägeische  Griechenlands,  die  etruskische  Ita- 
liens, die  iberische  in  Spanien  und  die  karthagische  in  Afrika 
semitische  oder  auf  dem  Boden  semitischer  Koloni- 
sation emporgewachsene  Kulturen  gewesensind. 

Eine  nach  Afrika  hinüberrollende  Woge  der  kanaani  tischen 
Völkerflut  trägt  die  beduinischen  Hyksos  (Hirtenstämme)  nach 
Ägypten,  wo  sie  von  1800 — 1600  v.  Chr.  das  Regiment  im  Lande 
führen.  Mit  einer  der  letzten  Wellen  des  kanaanitischen  Völker- 
stromes treiben  etwa  von  1500  ab  die  Habiri  =  Hebräer,  die 
Muttervölker  der  Israelstämme,  von  der  arabischen  Steppe  nach 
Norden  gegen  Palästina. 

W  ie  vorher  das  Riesenreich  Sargons  und  später  das  Welt- 
reich Alexanders  zerfällt  auch  der  Staat  Hammurabis  unter 
seinen  schwächeren  Nachfolgern  rasch.    Von  Norden  brechen 

104 


die  Hethiter  vor,  von  Süden  die  Ägypter,  von  Osten  über- 
schwemmen die  Kassiten  das  Land  und  herrschen  600  Jahre 
genau  so  über  Babylonien,  wie  es  600  Jahre  vorher  in  der  nach- 
sargonischen  Zeit  die  Elamiten  getan.  Welche  anthropologische 
Stellung  diese  Kassiten  einnehmen,  ist  völlig  ungewiß ;  sie  sollen 
ihrer  Kultur  nach  weder  Semiten  noch  Arier  gewesen  sein,  viel- 
leicht waren  sie  irgendein  Mischvolk  oder  ein  mongolischer  Stamm 
der  turanischen  Gruppe.  Jedenfalls  ist  diese  nachhammura- 
bische  Fremdherrschaft  der  Kassiten  für  die  Rassengeschichte 
der  Juden  ebenso  bemerkenswert  wie  die  vorangegangene  der 
Elamiten,  weil  beide  Völker  durch  ihre  mehrhundertjährige 
Herrschaft  einen  gewiß  nicht  unbedeutenden  Beitrag  zu  jenem 
Völkergemisch  hinzugetragen  haben,  aus  dem  sich  später  der 
Typus  des  Juden  herauskristallisiert  hat. 

Genau  wie  in  der  vorangegangenen  Epoche  Hammurabi 
als  ursprünglicher  Vasallenfürst  des  herrschenden  Fremdvolkes 
die  Elamiten  aus  dem  Lande  jagt  und  selber  den  Thron  des 
Reiches  besteigt,  bereitet  auch  nun  ein  ursprünglich  unbedeu- 
tender Stadtstaat  der  Kassitenherrschaft  ein  Ende  und  gewinnt 
damit  die  Vormacht  im  Lande:  Assur,  Assyrien.  Ninive,  das 
große  Ninive  der  Jona-Erzählung,  wird  zur  Residenz  erhoben. 
Die  assyrische  Epoche  erscheint  uns  zwar  durch  die  Fülle 
und  Pracht  ihrer  Denkmäler  als  die  glänzendste  der  babylo- 
nischen Geschichte,  ist  aber  in  Wahrheit  genau  wie  das  Zeit- 
alter des  Hellenismus  für  Griechenland  und  die  Kaiserzeit  für 
Rom  nur  ihr  Ausgang.  Sie  erscheint  nur  darum  reicher  als  die 
vorangegangenen  Perioden,  weil  sie  eben  die  letzte  ist,  aus  der 
sich  naturgemäß  die  relativ  meisten  Schätze  erhalten  haben. 
So  besitzt  das  Britische  Museum  aus  der  Bibliothek  des  letzten 
assyrischen  Königs  Sardanapal  (650  v.  Chr.)  nicht  weniger  ate 
22  000  Keilschrifttafeln,  die  wie  ein  Inhaltsverzeichnis  am 
Schluß  eines  Buches  eine  Übersicht  über  die  gesamte  Kultur 
Babyloniens  und  Assyriens  geben.  Man  braucht  nur  Delitzsch' 
kurzen  Vortrag  über  Babel  und  Bibel  durchzublättern,  um  ent- 
zückt zu  sein  von  den  Dokumenten  dieser  spätsemitischen 
Kultur,  unter  denen  Bildnisse  wie  die  Reliefs  „Sardanapal 
auf  der  Jagd",  „Die  sterbende  Löwin  zu  Ninive",  „Die  wei- 
denden Antilopen"  oder  die  bunt  emaillierten  Wildochsen  des 
Istartores  neben  die  größten  Schöpfungen  der  griechischen 
oder  italienischen  Kunstgeschichte  gestellt  werden  können,  ohne 
an  Wirkung  zu  verlieren,  weil  sie  eben  als  wahrhafte  Kunstwerke 
absolute  Werte  sind.    Aber  genau   wie   die  uns   überlieferten 

105 


bekanntesten  griechischen  Werke,  etwa  die  Venus  von  Milo 
oder  der  Laokoon,  entstammen  auch  sie  den  Spätzeiten  des  Ver- 
falls und  nicht  der  Klassik.  Die  Kultur  liegt  in  der  Agonie.  Sie 
lebt  nicht  mehr  im  Gleichmaß  der  gesunden  Kraft,  sondern 
flackert  zwischen  tiefster  Todesmattigkeit  und  einer  zeitweise 
unheimlichen  Euphorie.  Ihre  leuchtenden  Wangen  sind  nicht 
rosenfrisch  sondern  hektisch.  Könige  kehren  von  alexanderhaften 
Siegeszügen  aus  fernen  Ländern  heim  —  und  finden  ihren  Thron 
nicht  mehr.  Despoten,  vor  deren  Sonnenmajestät  heute  Völker  im 
Staube  liegen  und  denen  Könige  das  Wasser  reichen,  wandern 
morgen  nach  Belsazarnächten  unter  Ketten  durch  die  Tore 
ihrer  Stadt.  Die  unselige  Parole:  Panem  et  circensesi  ist  die 
Maxime  der  sozialen  Politik.  Überlaut  ist  der  Lärm  der  Feste  — 
um  die  Schreie  der  Armen  zu  übertönen;  das  Gold  des  Staats- 
gewandes so  prunkend  überladen  —  weil  es  Schwären  zu  ver- 
decken hat.  Die  Macht  tyrannisiert  das  Recht,  der  Genuß  ver- 
führt die  Sitte;  die  Wissenschaft  ist  zur  Wahrsagerei  herab- 
gesunken, der  altgeheihgte  Kult  der  Götter  zu  den  eleusinischen 
Orgien  der  Lebewelt  entartet.  Babel,  „der  goldene  Kelch  in  der 
Hand  Jahwes,  der  die  ganze  Erde  trunken  macht",  schäumt 
heute  über  vom  Perlenwein  der  Freude,  um  morgen  bis  zum 
Rande  gefüllt  zu  sein  mit  den  Tränen  des  Leides  —  Welten- 
untergang. 

Dieses  bald  festlich  illuminierte,  bald  vom  Glut- 
und  Blutschein  der  Schlachten  und  Schafotte  wild 
durchzuckte  Bühnenbild  ist  die  grandiose  Kulisse, 
vor  deren  flackerndem  Hintergrund  vorn  im  Schatten 
der  Szene  die  Hochgestalten  der  jüdischen  Propheten 
der  Menschheit  die  Postulate  des  ethischen  Mono- 
theismus predigen. 

Assyrien  unterliegt  dem  zersetzenden  Einfluß  der  nächsten 
großen  Semitenwanderung  aus  Arabien,  der  aramäischen, 
deren  Kultursymptom  die  Verbreitung  des  aramäischen  Dialektes 
ist.  Im  Gegensatz  zur  kanaanitischen  Sturmflut  sickert  diese 
wie  ein  langsam  steigender  Sumpf  in  das  babylonische  Kultur- 
land ein.  1300  v.  Chr.  berichtet  Salmanassar,  einer  der  ersten  assy- 
rischen Könige,  daß  er  „den  Beduinen  den  Übergang  über  den 
Euphrat  verwehrt  habe";  aber  300  Jahre  später  sind  nicht  nur 
zahlreiche  aramäische  Staaten  in  Babylonien  entstanden,  son- 
dern das  Aramäische  hat  sogar  als  Umgangssprache  das  klas- 
sische Babylonisch,  wie  dieses  einst  das  Sumerische,  fast  voll- 
kommen   verdrängt.     In    der    südlichen    Landschaft    Chaldäa 

106 


fassen  die  Ai'amäer  am  frühesten  Fuß  und  bilden  hier  erst 
kleine,  dann  immer  mächtigere  Staaten.  Als  606  die  Meder,  von 
Norden  kommend,  Ninive  einnehmen,  setzen  sich  die  Chaldäer 
von  Süden  her  in  den  Besitz  des  Landes  und  regieren  über 
Babylon.  Der  Chaldäerkönig  Nebukadnezar  baut  Babel  auf  und 
erweckt  die  Herrlichkeit  des  alten  Reiches  noch  einmal  zu  einer 
letzten  kurzen  Stunde  glänzenden  Daseins.  Auf  seinen  Siegeszügen 
zerstört  er  auch  Jerusalem  586  v.  Chr.  und  deportiert  die  Juden 
zu  einem  49  jährigen  Exil  nach  Babylon.  Diese  mit  der  End- 
geschichte des  babylonischen  Reiches  verknüpfte 
Episode  ist  das  bedeutungsvollste  Ereignis  der  ganzen 
jüdischen  Rassen-  und  Kulturgeschichte.  Es  ist  die 
Katastrophe  und  Katharsis  in  dem  noch  heute  nicht  beendeten 
Hiob-  und  Ahasver-Drama  Israels. 

IM  ach  der  schwächeren  aramäischen  Welle  stößt  der  Völker- 
geysir Arabien  ein  Jahrtausend  später  wieder  einen  Riesen- 
schwall von  Völkern  aus:  die  Araber  Mohameds.  Wie  ehedem 
die  kanaani tische,  ergießt  sich  diese  Völkerwanderung  über  das 
gesamte  Mittelmeerbecken  und  gewinnt  dadurch,  daß  sie  nicht 
nur  eine  Rasse,  sondern  zugleich  eine  hochentwickelte  Kultur 
über  den  halben  Erdkreis  hinträgt,  weltgeschichtliche  Bedeutung. 
Aus  naheliegenden  Gründen  wird  von  den  europäischen 
Historikern  der  Einfluß  der  arabischen  Expansion  auf  die  Ent- 
wicklung der  Neuzeit  als  quantite  negligeable  unterschätzt. 
Erst  Spengler  hat  in  seinem  großzügigen  „Untergang  des  Abend- 
landes" der  arabischen  Kultur  den  gebührenden  Rang  ein- 
geräumt und  sie  eingehend  als  gleichberechtigt  neben  den 
antiken  und  modernen  Hochkulturen  gewürdigt.  Gegen  die 
kleinsüchtige  Parteilichkeit  der  westeuropäischen  Historiker 
zitiert  man  am  besten,  wie  es  Zollschan  in  seinem  Buche  „Das 
Rassenproblem"  tut,  einen  außereuropäischen  Historiker,  den 
Amerikaner  Draper.  ,,Er  bekämpft  die  systematische  Art,  wie 
die  Literatur  Europas  unsere  wissenschaftlichen  Verpflichtungen 
gegen  die  Mohamedaner  uns  zu  entrücken  vermochte"  und  zählt 
dann  die  Leistungen  der  Araber  auf.  Sie  gaben  das  Beispiel 
planvoller  Agrikultur,  führten  zahlreiche  Nutzpflanzen  wie  Reis, 
Zucker,  Baumwolle  und  Edelobst,  Seidenzucht  und  Südwein- 
pflege ein,  begründeten  zahlreiche  Industrien  wie  Spinnerei, 
Weberei,  die  Metall-  und  Edelsteinverarbeitung.  Sie  erfanden 
Schießpulver,  Kanonen,  Kompaß  und  Brille.  Sie  sind  die  wahren 
Gründer  der  modernen  Methoden  der  „arischen"  Wissenschaft. 

107 


Durch  die  Einführung  der  „arabischen"  Zahlen  ermöghchlen 
sie  überhaupt  erst  die  höhere  Rechnungsart.  Spengler,  selbst 
Mathematiker,  spricht  von  ihren  Mathematikern  als  von  „reifen 
Meistern,  die  Plato  und  Gauß  nicht  nachstehen".  Ben Musa  erfindet 
die  Rechnung  mit  quadratischen  Gleichungen  und  begründet 
damit  die  Algebra.  AI  Maimon  bestimmt  die  Schiefe  der  Ekliptik, 
den  Umfang  der  Erdkugel,  Abderrahman  Sufi  die  Lichtstärke 
der  Sterne,  Ibn  Junis  die  Exzentrizität  der  Erdbahn,  die  Größe 
der  Planeten  und  führt  die  Pendelschwingung  als  wissenschaft- 
liches Zeitmaß  ein;  die  arabischen  Sternkataloge  und  Himmels- 
karten dienen  den  europäischen  Astronomen  später  als  Unter- 
lagen und  Muster  ihrer  eigenen  Tabellen  und  erregen  noch  heute 
die  Bewunderung  aller  Fachgelehrten;  sie  bauen  die  ersten 
Observatorien  in  Europa  und  erfinden  800  Jahre  vor  den  Ita- 
lienern und  Holländern  das  Fernrohr.  Während  ein  halbes 
Jahrtausend  später  die  Matrosen  des  Kolumbus  fürchten,  am 
Rande  der  Erde  in  die  Hölle  hinabzufallen,  lernen  die  Kinder 
in  den  arabischen  Volksschulen  des  9.  Jahrhunderts  Geographie 
an  Globen!  AI- Hazen  ist  durch  seine  Theorie  des  Lichtes,  seine 
bahnbrechenden  Untersuchungen  des  Auges,  der  Atmosphäre,  der 
Fallgesetze  und  seine  Lehre  von  der  organischen  Entwicklung  der 
Tierwelt  der  würdige  Vorgänger  von  Galilei,  Newton,  Helmholtz 
und  Darwin.  Avicenna  (Ibn  Sina)  entscheidet  das  noch  zur  Zeit 
Goethes  heftig  umstrittene  Problem  der  Gebirgsbildung  im  Sinne 
der  modernen  Wissenschaft,  so  daß  man  meint,  Sätze  aus  Lyells 
,, Prinzipien  der  Geologie"  zu  lesen.  „Die  Sarazenen  begannen 
die  Anwendung  der  Chemie,  sowohl  auf  die  Theorie  wie  auf 
die  Praxis  der  Medizin  mit  der  Erklärung  der  Verrichtungen 
des  menschlichen  Körpers  und  in  der  Heilung  der  Krankheiten. 
Auch  Wieb  ihre  Chirurgie  nicht  hinter  ihrer  Medizin  zurück. 
Albucasis  von  Cordova  schreckt  nicht  vor  der  Ausführung 
der  furchtbarsten  Operationen  zurück  .  .  .  Unter  den  arabischen 
Ärzten  herrschte  eine  wahrhaft  überraschende  Korrektheit 
des  Denkens  und  Weite  des  Blickes."  Den  Rahmen  dieser  hohen 
Geisteskultur  bildet  das  glänzende  Leben,  das  die  arabische 
Welt  von  Bagdad  bis  Granada  erfüllte.  „Cordova  rühmte  sich 
unter  ihrer  Verwaltung  auf  dem  höchsten  Gipfel  seiner  Blüte 
des  Besitzes  von  mehr  als  200  000  Häusern  und  mehr  als  einer 
Milhon  Einwohnern.  Nach  Sonnenuntergang  konnte  man  in 
gerader  Linie  10  Meilen  beim  Lichte  der  Straßenlaternen  wan- 
dern. 700  Jahre  später  gab  es  in  London  nicht  eine  einzige 
Straßenlaterne.    Die  Straßen   waren  solid   gepflastert.     Jahr- 

108 


hunderte  später  trat  man  in  Paris,  wenn  man  an  einem  reg- 
nerischen Tage  die  Schwelle  überschritt,  bis  an  die  Knöchel 
in  Kot.  Andere  Städte  wie  Granada,  Sevilla,  Toledo  betrach- 
teten sich  als  Nebenbuhlerinnen  Cordovas.  Alle  diese  Städte 
hatten  großartige  Bibliotheken.  Die  des  Khalifen  Al-Hakem 
war  so  groß,  daß  der  Katalog  allein  40  Bände  füllte.  Zu  jeder 
Moschee  gehörte  eine  öffentliche  Schule,  in  welcher  die  Kinder 
der  Armen  in  Lesen,  Schreiben  und  den  Vorschriften  des  Koran 
unterrichtet  wurden.  Für  die  Bessergestellten  gab  es  Akademien. 
In  Gordova,  Granada  und  anderen  großen  Städten  gab  es  Uni- 
versitäten unter  der  Aufsicht  von  Juden.  Die  Universitäten 
Europas  sind  keine  arischen  Institutionen,  sondern  jüdisch- 
arabische Gründungen.  Deren  Vorläufer  wieder  waren  die  seit 
Jahrhunderten  bestehenden  jüdischen  Gelehrtenschulen  Klein- 
asiens, die  das  System  des  Doktorats  geschaffen  hatten,  indem 
man  den  Studenten  nach  Absolvierung  ihres  Lehrganges  in 
Form  einer  Promotion  den  Titel  „Rabbi"  verlieh.  Nach  dem 
Vorbild  dieser  Schulen  wurden  von  den  Arabern  unter  Be- 
teiligung der  Juden  die  Universitäten  Europas  gegründet.  Die 
erste  846  in  Salerno,  wo  einer  der  ersten  Dozenten  der  ,,Ebraeus 
Solonus"  und  eine  der  ältesten  medizinischen  Publikationen  das 
hebräisch  geschriebene  „Antidotarium"  des  Sabbatai  ben  Abra- 
ham, genannt  Domolo  (950)  waren;  die  zweite  in  Montpellier, 
dessen  Bevölkerung  damals  zum  überwiegenden  Teil  aus 
arabischen  Juden  bestand.  Fortwährend  zogen  literarische, 
philosophische  und  militäi'ische  Abenteurer  über  die  Pyre- 
näen, und  so  fanden  der  Luxus,  der  Geschmack  und  vor 
allem  die  ritterliche  Galanterie  und  Höflichkeit  der  mau- 
rischen Gesellschaft  ihren  Weg  von  Granada  und  Gordova 
nach  der  Provence  und  Languedocque.  Die  französischen, 
deutschen  und  englischen  Adligen  sogen  hier  die  arabische 
Bewunderung  für  das  Pferd  ein,  sie  lernten  auf  geschicktes 
Reiten  stolz  sein.  Aus  der  proven^alischen  Poesie,  dem  direkten 
Abkömmling  der  spanisch-maurischen  Dichtkunst,  entsprang 
die  europäische  Literatur.  Selbst  die  Gotik,  die  stets  als  hehrster 
Ausdruck  germanischen  Geistes  galt,  ist  als  eine  Nachahmung 
islamischer  Motive,  wie  sie  zuerst  an  der  Moschee  Ahmed  ihn 
Tuluns  erscheinen,  erkannt  worden."  (Gekürzt  zitiert  nach 
Zollschan.)  Spengler,  der  sich  nicht  nur  stofflich  sondern  auch 
geistig  über  das  „Provinzial-europäische"  erhebt,  gedenkt  an 
zahlreichen  Stellen  der  Wurzeln,  die  sich  aus  dem  Licht  der 
europäischen  Gotik  und  Renaissance  in  das  dunklere  Mutter- 

109 


reich  der  arabischen  Kultur  versenken.  „Der  gesamte  Kirchen- 
stil Italiens  stammt  von  den  Sitzen  arabischen  Stilgefühls  .  .  . 
Diese  Palasthöfe  (Italiens)  sind  maurische  Höfe.  Die  Rund- 
bögen auf  den  schlanken  Säulen  sind  syrischen  Ursprungs. 
Cimabue  lehrte  sein  Jahrhundert  die  Kunst  der  byzantinischen 
Mosaiken  mit  dem  Pinsel  nachzubilden  .  .  .  Als  Michelangelo 
sich  vermaß,  in  St.  Peter  „das  Pantheon  auf  die  Maxentius- 
Basilika  zu  türmen",  wählte  er  zwei  Bauwerke  vom.  reinsten 
früharabischen  Typus."  In  anderem  Zusammenhang:  „Alfarabi 
und  Alkindi  haben  die  verwickelten  und  uns  wenig  zugäng- 
lichen Probleme  dieser  magischen  Psychologie  eingehend  be- 
handelt. Ihr  Einfluß  auf  die  junge  Seelenlehre  des  Abendlandes 
darf  nicht  unterschätzt  werden.  Scholastische  und  mystische 
Psychologie  haben  von  Bagdad  denselben  Einfluß  empfangen 
wie  die  gotische  Kunst"  usw.  usw. 

Die  arabische  Kultur  besitzt  demnach  für  das  moderne 
Europa  etwa  die  gleiche  Bedeutung  wie  die  altbabylonische 
für  die  klassische  Antike:  sie  gab  die  Fundamente,  auf  denen 
die  Säulen  der  folgenden  Hochkulturen  errichtet  sind. 

W  eich  ein  Sonnengemälde  semitischer  Geisteswelt  und  semi- 
tischen Weltgeistes  könnten  wir  entwerfen,  wenn  wir  nach  dem 
Muster  der  Germanentheorie  alles  uns  irgendwie  Rassen-  und 
Kulturverwandte  unter  den  Begriff  Semiten  faßten  und  ver- 
herrlichten! Wenn  wir  darauf  hinwiesen,  daß  der  „Semit" 
anthropologisch  der  eine  der  drei  Repräsentanten  der  mittel- 
ländischen Rasse  ist,  die  in  Mittelasien  die  Inder,  in  Vorder- 
asien die  Babylonier,  Assyrer,  Araber,  Juden  und  Perser  und 
in  Südeuropa  die  Griechen,  Römer,  Spanier  und  die  Italiener 
der  Renaissance  hervorgebracht  hat;  daß  die  Semiten  gleich 
den  Indern  auf  der  einen  Seite  und  den  Griechen,  Römern,  Ita- 
lienern auf  der  anderen  eine  solche  Fülle  fundamentalster  Kul- 
turschöpfungen hervorgebracht  haben,  daß  sich  nicht  nur  die 
mittelländische  Rasse  als  Gesamtheit,  sondern  jeder  ihrer  drei 
Zweige  einzeln  den  nordischen  Germanen  als  völlig  ebenbürtig 
gegenüberstellen  könnte ! 

Wir  unterlassen  jede  Antithese,  weil  wir  der  Anschauung 
huldigen,  daß  Kulturen  ebenso  wie  Menschen,  wenn  sie  sich 
überhaupt  als  schöpferisch  erweisen,  unvergleichbar  sind.  Ob 
Goethe  ein  größerer  Dramatiker  ist  als  Shakespeare,  ist  eine 
müßige  Frage  —  er  ist  auch  ein  großer  Dramatiker,  ein  anderer 
und  als  solcher  einzig,  unschätzbar  und  unersetzlich.    Indivi- 

110 


dui^Ltäl  ist  unvergleichbar.  Daher  registrieren  wir  nichts  als 
eine  einfache  Tatsache :  im  Schutt  der  Bibliothek  des  Sardanapal 
fand  man  ein  tönernes  Buch:  „Die  Grundlagen  des  19.  Jahr- 
hunderts vor  Christus."  Sein  altsemitischer  Verfasser  hat  vor 
3800  Jahren  seinen  Stoff  ebenso  gewissenhaft  zusammengetragen 
wie  unser  heutiger  Zeitgenosse  und  kam  als  Bürger  des 
damals  weltbeherrschenden  einzigen  Großstaates  Babylon  zu 
dem  durchaus  natürlichen  Ergebnis:  wir  Semiten  bekennen 
uns  zu  dem  Geschlecht,  das  aus  dem  Dunkeln  in  das  Helle 
strebt.  Was  ihr  Großes  seht  auf  Erden,  haben  wir  Semiten 
geschaffen.  Wir  haben  das  Alphabet  erfunden  und  das  Zahlen- 
wesen, den  Kalender,  das  Maß-  und  das  Münzsystem.  Wir 
haben  die  Methoden  erdacht,  Finsternisse  zu  berechnen  und 
Entfernungen  zu  messen,  wir  haben  Ackerbau  und  Obstkultur 
begründet,  haben  die  Kunst  erfunden  Glas  zu  schmelzen,  Ton 
zu  brennen,  Siegel  zu  schneiden.  In  unseren  Städten  stehen 
Statuen  und  schmücken  Reliefs  die  Wände  der  Tore ;  in  unseren 
Bibliotheken  reihen  sich  die  Tontafeln  beschrieben  mit  aller 
Weisheit  des  Menschenhirns;  unsere  Ethiker  haben  der  Welt 
die  Grundbegriffe  von  Rehgion  und  Sitte  gegeben ;  unser  bürger- 
liches Recht  ist  ohnegleichen.  Unsere  Karawanen  wandern 
bis  nach  Indien,  unsere  Armeen  bis  zum  Pontus,  unsere  Flotten 
fahren  bis  zu  den  Inseln  des  Atlantischen  Meeres.  Wir  allein 
von  allen  Völkern  tragen  in  uns  die  Sehnsucht  nach  der  Feme 
und  die  Lust  am  Abenteuer.  Schauen  wir  uns  um  —  kein 
Zweifel:  die  Erde  ist  von  verschiedenen  Rassen  bevölkert,  und 
diese  sind  verschieden  begabt.  Zu  den  niedrigsten  Rassen 
der  Menschheit  zählt  die  blonde,  die  Nordeuropa  bewohnt; 
„es  kann  als  sicher  gelten",  daß  Blondheit  ein  Zeichen  min- 
derer Rasse  ist,  denn  die  blonden  Europäer  erweisen  sich  zu 
jeder  höheren  Kulturaufnahme,  geschweige  denn  -betäti- 
gung  unfähig  und  werden  sicher  auch  für  alle  Zukunft  in 
hoffnungsloser  Barbarei  verharren.  Wahrhaft  schöpferisch  ist 
auf  Erden  überhaupt  nur  eine  Rasse,  die  semitische.  Auf  sie 
und  ihre  Kolonisationen  sind  die  Kulturen  aller  anderen  Länder 
zurückzuführen.  „Ich  habe  mich"  —  und  nun  zitiert  der  baby- 
lonische Chamberlain  in  einem  merkwürdigen  Anachronismus 
einige  seiner  Zunftkollegen  aus  dem  19.  Jahrhundert  nach 
Christus  —  „am  Ende  überzeugt,  daß  alles,  was  es  an  mensch- 
lichen Schöpfungen,  Wissenschaft,  Kunst,  Zivilisation,  Großes, 
Edles,  Fruchtbares  auf  Erden  gibt,  nur  ein  und  derselben  Quelle 
entstammt  und  nur  einem  Volke  angehört"  (Gobineau)  —  näm- 

111 


lieh  den  Semiten.  „Die  bedeutendsten  Genies  der  Menschheit 
sind  Vertreter  dieser  Rasse  gewesen ;  die  ausgezeichnetsten  Men- 
schen der  neueren  Geistesgeschichte  waren  zum  größten  Teile 
Vollblutsemiten"  (Weltmann).  „Nur  schändliche  Denkfaulheit 
und  schamlose  Geschichtslüge  vermag  in  dem  Eintritt  der  Se- 
miten in  die  Weltgeschichte  etwas  anderes  zu  erblicken  als  die 
Errettung  der  agonisierenden  Menschheit  aus  den  Krallen  des 
ewig  Bestialischen"  (Chamberlain).  „Es  dürfte  nicht  übertrieben 
und  geschmeichelt  sein,  den  semitisch-babylonischen  Menschen- 
schlag als  lachende  Löwen  zu  bezeichnen"  (Driesmans).  „Wie 
alle  Semiten  sind  wir  Babylonier  die  geborenen  Herrscher 
anderer  Völker.  Wo  wir  auch  auftreten,  sind  wir  die  regierenden 
und  sozial  bevorzugten  Stände,  sind  wir  ein  Volk  voll  wilden 
Mutes  und  unbeugsamer  Kraft,  voll  Hingebung  und  Treue, 
voll  Stolz  und  Wahrhaftigkeit,  ein  leuchtendes  Volk  von  Halb- 
göttern, dessen  gleichen  die  Welt  vorher  niemals  gesehen  hat  und 
wahrscheinlich  auch  niemals  wieder  sehen  wird"  (Ammon). 


11  £ 


DER  JUDE 


Das  Quellenbuch  der  jüdischen  Geschichte  ist  die  Bibel,  un- 
zweifelhaft ebenso  das  bekannteste  wie  verkannteste  Buch 
der  europäischen  Welt.  Zehntausende  lesen  es,  aber  nur  einer 
weiß,  was  er  liest.  Daher  die  ewige  Kette  der  Verkennungen 
und  Mißverständnisse  —  Ghamberlains  „Grundlagen  des  19.  Jahr- 
hunderts" wären  unmöglich,  wenn  er  das  Wesen  der  Bibel 
erfaßt  hätte  oder  —  nicht  geflissentlich  ignorierte. 

Der  als  Geschichtsquelle  wichtigste  Teil,  der  Pentateuch, 
ist  nach  Ansicht  der  zur  Zeit  herrschenden  „kritischen  Schule" 
im  Jahre  444  v.  Chr.  aus  zwei  verschiedenen  Werken,  dem 
Deuteronomium  und  dem  Priesterkodex,  zusammengesetzt 
worden.  Das  Deuteronomium  ist  ein  im  Jahre  621  proklamiertes 
Gesetzbuch,  das  aus  Reaktion  gegen  den  in  Israel  überhand 
nehmenden  Babylonismus  die  nationale  Religion  und  das  jüdisch- 
patriarchalische Leben  wieder  zurückzuführen  sucht. 

Der  Priesterkodex,  der  den  weitaus  gi'ößten  Teil  des  heutigen 
Pentateuch,  nämlich  die  erste  Hälfte  Genesis,  die  Hälfte  des 
Exodus,  drei  Viertel  von  Numeri  und  das  ganze  Buch  Levitikus 
umfaßt,  verdankt  seine  heutige  Fassung  den  zeitgeschichtlichen 
Ereignissen  nach  dem  babylonischen  Exil.  Ein  Menschenalter 
nach  Proklamation  des  Deuteronomiums  wird  Jerusalem  zer- 
stört und  die  Bevölkerung  Palästinas  nach  Babylonien  depor- 
tiert. Nach  50jährigem  Exil  kehren  ungefähr  60  000  Wanderer 
nach  Kanaan  zurück,  um  hier  das  alte  Reich  zu  erneuern. 
Aber  die  entvölkerte  Heimat  ist  unterdes  von  Fremdstämmen 
besetzt,  die  den  zurückkehrenden  Kolonisten  die  Entfaltung 
des  nationalen  Lebens  fast  bis  zur  Unmöglichkeit  erschweren. 
Unter  dem  offenen  und  heimlichen  Widerstand  der  Fremden 
droht  das  heroische  Beginnen  zu  scheitern.  Nachdem  glücklich 
unter  unsäglichen  Schwierigkeiten  die  feindlichen  Gegensätze 
beseitigt  sind,  erwächst  aus  den  friedlichen  Beziehungen  eine  weit 
größere  Gefahr:  Mischehen  mit  den  neu  gewonnenen  Freunden, 
Götzenkult  und  heidnische  Lebensführung  greifen  immer  weiter 
um  sich  und  treiben  die  neue  Kolonie  mehr  und  mehr  dem 
Untergang  zu.  Diesem  von  den  Wogen  des  Völkersturms  und 
Heidentums  umbrandeten  und  schwankenden  Völkchen  der 
Siedler  Mut  und  Hoffnung  einzuhauchen,  ihm  Stolz  auf  die  Ver- 

8    Kahn,  Die  Juden.  113 


gangenheit,  Kraft  für  die  Gegenwart,  Zuversicht  für  die  Zukunft 
einzugeben,  senden  die  in  Babylon  zurückgebliebenen  Juden 
ihm  außer  sonstigen  reichen  Hilfsmitteln  mit  einer  Schar 
nationalistischer  Priester  eine  neue,  für  die  Forderung  der 
Zeit  verfaßte  Nationalchronik,  den  Priesterkodex,  der  mit  dem 
alten  Deuteronomium  vereinigt  die  heutigen  „Fünf  Bücher 
Moses"  darstellt.  Der  Pentateuch  ist  also  nicht  die  jüdische 
Lehre  und  Geschichte  in  ihrer  idealen  Abstraktion,  sondern 
eine  von  den  babylonischen  Juden  für  ihre  bedrängten 
Brüder  im  Westen  kompilierte  Sammlung  alter  Überliefe- 
rungen und  Gesetze,  ein  Tendenzwerk  edelsten  Stiles  mit  dem 
auch  uns  heute  bekannten  Motiv:  Durchhalten!  Haltet  aus, 
ihr  Pioniere  Neujudäas!  Diese  Heimsuchungen  sind  die  längst 
von  Gott  verkündeten  Strafen  für  die  Sünden  eurer  Väter! 
Doch  auch  Vergebung  hat  euch  Gott  versprochen  und  euch  dies 
Land  seit  Abraham  zugeschworen.  Und  wie  die  Strafe  für  die 
Sünde  eingetroffen,  so  wird  auch  der  verheißene  Lohn  für  die 
Umkehr  kommen,  wenn  ihr  zu  den  Satzungen  Moses  und  zu 
Sitte  und  Religion  der  Väter  zurückkehrt.  Entsagt  dem  Götzen- 
dienst, löset  die  Mischehen  auf!  Von  Gott  gestraft,  gesühnt, 
erwählt  für  eine  große  Zukunft,  erweist  euch  ihrer  würdig,  bleibt 
euch  selbst  getreu! 

Nicht  die  jüdische  Religion  als  solche  verfolgt,  wie  Chamber- 
lain  zu  dozieren  sucht,  praktische  Zwecke,  wohl  aber  dieser  Kodex, 
der  durch  radikale  rassenbiologische  und  nationalpolitische 
Maßnahmen  ein  Volk  vor  dem  Untergang  bewahren  will.  Daher 
der  angebliche  ,, Materialismus  der  Anschauungen,  die  Hervor- 
hebung des  geschichtlichen  Momentes  dem  Idealen  gegenüber, 
die  starke  Betonung  der  Gerechtigkeit  im  weltlichen  Sinne  des 
Wortes,  die  Einschränkung  der  Phantasie,  das  Verbot  der  Ge- 
dankenfreiheit, die  prinzipielle  Intoleranz  gegen  jede  andere 
Religion,  der  glühende  Fanatismus".  Das  sind  nicht,  wie  Cham- 
berlain  fortfährt,  ,, Erscheinungen,  die  wir  überall  in  größerem 
oder  geringerem  Grade  anzutreffen  erwarten  müssen,  wo  semi- 
tisches Blut  oder  semitische  Ideen  eingedrungen  sind",  sondern 
sind  volkspädagogische  Machtmittel  zielbewußter  National- 
politik. Einzig  durch  strengste  Sonderung  von  den  umwohnen- 
den Fremden  und  höchste  Steigerung  des  Bewußtseins  der 
Auserwähltheit  war  die  untergehende  Kolonie,  die  Hoffnung 
Israels,  zu  retten.  Daher  —  nach  Chamberlain  —  „der 
Wahn  einer  besonderen  Auserwähltheit,  einer  besonderen 
Gottgefälligkeit,    einer   unvergleichhchen  Zukunft,    die    es   im. 

114 


vollen  Hochmut  von  sämtlichen  Nationen  der  Erde  abschließt, 
ihm  ein  geistloses,  unvernünftiges,  in  der  Praxis  gar  nicht 
durchzuführendes  Gesetz  als  gottgegebenes  aufzwingt,  es  mit 
erlogenen  Erinnerungen  nährt  und  in  verbrecherischen  Hoff- 
nungen wiegt".  Daher  die  starke  Betonung  der  kultischen 
Vorschriften,  von  denen  Chamberlain  mit  solchem  Schauder 
spricht:  „Was  hier  geschah,  war  ein  Gewaltstreich  gegen  die 
Natur.  Naturwidrig  ist  es,  jeden  Schritt  des  Menschen  zu  hem- 
men, naturwidrig,  ein  ganzes  Volk  mit  priesterlichen  Tüfteleien 
zu  quälen  und  ihm  jede  gesunde,  freie,  geistige  Nahrung  zu 
verbieten,  naturwidrig,  Hochmut  und  Haß  und  Abgeschlossen- 
heit als  die  Grundlage  sittlicher  Verhältnisse  zu  den  Mitmenschen 
zu  lehren,  naturwidrig,  das  ganze  Trachten  aus  der  Gegenwart 
in  die  Zukunft  zu  verlegen."  Durchaus  nicht  naturwidrig, 
sondern  höchst  natürlich.  Der  Arzt  regelt  das  Leben  seines 
Patienten  diätetisch  bis  ins  kleinste.  Rezepte  sind  es  für  einen 
Kranken  und  nicht  Maximen  für  einen  Gesunden,  nicht  Leit- 
sätze für  einen  Weltenwanderer  sondern  Schrittübungen  für 
einen  Tabiker.  Und  wenn  ein  ganzes  Volk  sich  später  während 
einer  fast  2000jährigen  Leidenszeit  mit  Inbrunst  an  die  Worte 
dieser  „Heiligen  Schriften"  geklammert  hat,  bewußt-unbewußt 
empfindend,  daß  diese  Diätetik  der  Seele  es  einstmals  aus  der 
tiefsten  Not  gerettet  hat  und  einzig  nunmehr  auch  aus  tiefster 
Not  des  Galuth  und  des  Ghetto  wieder  retten  konnte,  so  ist  dies 
ebenso  ein  Beweis  für  den  Wert  des  Werkes,  das  hier  geschaffen, 
wie  für  die  Würdigkeit  des  Volkes,  dem  es  geschenkt  ward. 

IN  eben  der  zeitgeschichtlichen  Tendenz  gehört  zum  Verständnis 
der  Bibel  Kenntnis  des  Kulturkreises,  dem  sie  entwachsen.  Zum 
größten  Teil  in  Babylonien  in  der  Ausgangsepoche  der  babylo- 
nischen Kultur  fixiert,  ist  sie  ein  Kind  —  freilich  ein  widerspenstig 
rebellisches  Kind  —  der  großen  Mutter  des  Altertums:  Babel. 
Die  Weltanschauung  des  Babyloniers  ist  grundverschieden 
von  der  des  heutigen  Ariers.  Sie,  wie  es  Chamberlain  tut,  mit 
dem  Maßstab  der  Moderne  zu  messen,  ist  ein  Verfahren,  als 
wollte  man  mit  einer  Hackmaschine  das  Geheimnis  einer  Geige 
enträtseln.  Die  babylonische  Weltanschauung  ist  nicht  wie  die 
moderne  kausal-mechanistisch  sondern  astrologisch-determini- 
stisch. Man  kann  freilich  über  sie  lächeln,  genau  wie  wir  „Auf- 
geklärten" über  die  mittelalterliche  Teleologie  spötteln,  in  deren 
Welt  Gott  aus  Wohltat  an  jeder  großen  Stadt  einen  Fluß 
vorüberströmen  läßt  —  und  wie  in  abermals  3000  Jahren  der 

«•  115 


.,*.♦ 


Übermensch  der  Zukunft  über  unsere  heutige  „wissenschaft- 
liche" Weltanschauung  lächeln  wird. 

Dem  Babylonier,  ersten  Denker  der  Welt,  ist  die  Erde 
Konterfei  des  Himmels.  Die  Geschehnisse  auf  Erden  Reflex 
astraler  Ereignisse.  Alles  irdische  Geschehen  ist  am  Himmel 
vorgezeichnet  und  hier  abzulesen.  Daher  ist  die  Sternenlese- 
kunst  die  Grundlage  aller  Wissenschaft;  den  in  den  Sternen 
kund  werdenden  Willen  der  Weltordnung  zu  entziffern  und 
danach  das  irdische  Handeln  einzurichten,  ist  ihr  Ziel.  Die 
babylonische  Wissenschaft  ist  deduktiv  im  Gegensatz  zur  in- 
duktiven des  Ariers.  Der  Arier  sucht  vom  Kleinen  aus  das 
Ganze  zu  begreifen;  der  Babylonier  liest  das  Ganze  und  regelt 
danach  das  Einzelne.  Dem  Arier  ist  die  Welt  die  Domäne 
seines  titanischen  Strebens;  Willensfreiheit  herrscht  in  ihr. 
Dem  Babylonier  ist  sie  eine  Bühne,  auf  der  er  in  einem  vor- 
geschriebenen Schauspiel  eine  Rolle  durchzuführen  hat.  Den 
Naturkräften  entgegenzuwirken,  die  Erde  wie  Archimedes  aus 
den  Angeln  zu  heben,  wie  Kepler  die  Sphären  zu  sprengen,  wie 
Frankhn  BHtze  abzuleiten,  wie  Watt  den  Dampf  zu  knechten, 
erscheint  dem  Babylonier  sinnlos,  ja  Sünde.  Alles  irdische 
Geschehen  ist  ja  von  den  Göttern  weislich  bestimmt^). 

Aus  dem  Wesen  dieser  babylonischen  Welt- 
anschauung und  nicht  aus  einer  rassenbiologischen 
Unfähigkeit  erklärt  sich  der  Mangel  induktiver 
Wissenschaft  bei  den  Frühsemiten*). 

Um  zu  erfahren,  was  der  Himmel  bestimmt  hat,  muß  der 
Sternendeuter  gefragt  werden.  Ihn  als  den  Entzifferer  des  gött- 
lichen Willens  zieht  der  König  bei  seinen  Entschlüssen  zu  Rat 
—  eine  Gepflogenheit,  die  sich  nicht  nur  durch  die  ganze  grie- 
chisch-römische Antike  und  das  päpsthche  Mittelalter  sondern 
bis  in  die  neueste  Zeit  erhalten  hat,   in  der  im  Jahre  1870 

»)  Ein  Nachhall  dieser  babylonisch-astrologischen  Weltanschauung 
ist  die  Moiralehre  der  Griechen.  Der  durch  Orakel  verkündeten  Moira, 
dem  Verhängnis,  kann  der  irdische  Mensch  trotz  allen  Widerstrebens  nicht 
entrinnen  (ödipus).  In  der  griechischen  Geschichte  —  dies  ihr  höchster 
Sinn  —  entringt  sich  der  Mensch  in  prometheischem  Aufschwung  der 
Fesseln  des  babylonischen  Astrologismus. 

2)  Die  Arier  haben  durchaus  keine  Veranlassung,  über  diese  früh- 
semitische Weltanschauung  erhaben  zu  lächeln  —  sie  zehren  noch  heute 
von  ihr.  Die  großen  Massenherden  Europas  trotten  noch  heute  hinter 
der  Flöte  ihres  altsemitischen  Menschheitshirten,  ,, Könige  von  Gottes 
Gnaden"  herrschen  über  sie,  und  ergeben  beugen  sie  sich  dem  „unab- 
änderlichen Ratschluß  des  Himmels". 

116 


das  vatikanische  Konzil  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  in 
seiner  Eigenschaft  als  „Stellvertreter  Christi  auf  Erden"  der 
Welt  als  Dogma  verkündet.  Aus  dem  astrologischen 
Charakter  der  Weltanschauung  und  nicht  aus 
geistigen  Mängeln  der  Rasse  erklärt  sich  die  Theo- 
kratie  in  den  altsemitischen  Staaten. 

Der  babylonische  Held  ist  die  auf  Erden  erscheinende 
Personifikation  eines  himmlischen  Motivs  aus  Natur  oder 
Mythe.  Er  wandelt  über  die  Bühne  des  Welttheaters  wie  ein 
Schauspieler,  der  eine  Rolle  spielt,  auf  ein  gegebenes  Stichwort 
in  die  Handlung  eingreift  und  an  gegebener  Stelle  nach  einem 
vorgeschriebenen  Schema  sein  Ende  findet.  Hat  sich  ein  Held 
als  Vollführer  bestimmter  Taten  erwiesen,  so  erbhckt  die  Nach- 
welt in  ihm  den  Träger  einer  in  der  Astralmythe  vorgezeich- 
neten Idee  und  stilisiert  seinen  Lebensgang  im  Sinne  des 
Schemas. 

Eines  der  bekanntesten  Motive  der  babylonischen  Mytho- 
logie ist  das  Gründer-  oder  Erlösermotiv,  das  allen  großen  Grün- 
dern der  alten  Geschichte,  in  der  babylonischen  Sargon,  in  der 
jüdischen  Moses,  in  der  christlichen  Jesus,  in  der  persischen 
Cyrus,  in  der  römischen  Romulus,  in  der  griechischen  Perseus 
(als  dem  Begründer  von  Mykene)  und  Ödipus  (als  dem  Befreier 
Thebens)  angedichtet  wird.    Zu  diesem  Gründermotiv  gehören: 

1.  Die  Weissagung  künftiger  Größe. 

Moses:    Die  Weissagung   Mirjams    (Schemoth   rabba). 
Christus:    Weissagung    an    Herodes,    Stern    zu    Beth- 
lehem, Anbetung  der  Könige  usw. 
Cyrus:  Traum  des  Astyages. 

2.  Die  Vaterlosigkeit  des  Helden. 

Sargon:    „Meine    Mutter    empfing    mich    unvermählt 

und  im  Geheimen  barg  sie  mich". 

Christus:  Jungfrau  Maria. 

Romulus:  Geburt  durch  die  Vestalin  Rhea  Sylvia. 

Perseus:  Sohn  der  Jungfrau  Danae. 

3.  Verfolgung  des  Helden  in  der  Jugend. 

Sargon:  „Sie  legte  mich  in  einen  Korb  von  Binsen,  mit 
Erdpech  verschloß  sie  den  Deckel.  Sie  setzte  mich  in 
einen  Fluß,  der  mich  davontrug." 
Moses:  Tötung  aller  Erstgeborenen;  Aussetzung  Moses 
in  einem  Sehilfboot  usw.  Fast  wörtlich  mit  der  Sargon- 
legende  übereinstimmend. 

117 


Christus:  Kindermord  zu  Bethlehem.   Heimliche  Geburt 
in  einer  Krippe,   Flucht  nach  Ägypten. 
Cyrus:  Aussetzung   des    Kindes    und  Erziehung  durch 
einen  Hirten. 

Perseus:  Aussetzung  ins  Meer. 

ödipus :  Aussetzung  und  Auffindung  durch  eine  Königin. 
Romulus:  Aussetzung  der  Kinder  in  den  Tiber,  Auf- 
findung durch  eine  Wölfin.  Erziehung  durch  einen 
Hirten. 
Aber  nicht  nur  die  Nachwelt  stilisiert  das  Leben  der  Helden 
im  Sinne  der  Astralmythe,  sondern  der  Held  selbst  läßt  sich, 
nachdem  er  einmal  seine  Bestimmung  erkannt,  wie  weiland 
Wallenstein,  von  seinem  Sterne  leiten.  Der  König  als  Sonnensohn 
besteigt  am  Frühlingstag  den  Thron,  zieht  am  Tage  der  Sonnen- 
wende in  den  Krieg,  wird  am  Tage  einer  Sonnenfinsternis  als 
dem  günstigsten  Mordtermin  von  den  Verschwörern  überfallen. 
Kleopatra  wählt  nach  dem  Beispiel  ihres  himmlischen  Vorbildes 
Istar  Schlangen  zu  ihrem  Selbstmord.  Jesus,  dessen  Geburts- 
ort nach  Bethlehem  verlegt  wird,  weil  hier  David  geboren 
wurde  und  Micha  die  Herkunft  des  Fürsten  Judas  aus  Beth- 
lehem weissagte,  predigt  auf  dem  Ölberg,  weil  Zacharia  ge- 
weissagt hatte,  daß  auf  dem  Ölberg  die  Herrlichkeit  Gottes 
erscheinen  werde;  seine  Eltern  fliehen  nach  Ägypten,  weil 
Hosea  verkündet  hatte:  „Aus  Ägypten  habe  ich  meinen  Sohn 
berufen"  (Anlehnung  an  das  Moses-Motiv);  er  geht  nach  Na- 
zareth,  „auf  daß  da  erfüllet  würde,  was  da  gesagt  ist  durch  die 
Propheten:  er  soll  Nazarenus  heißen";  denn  neser  heißt 
sprießen,  nasaraios  Frühlingsbringer.  Allen  biblischen  Namen 
liegen  solche  Motive  zugrunde.  Der  Orientale  erhält  —  wie 
sinnig!  —  seinen  endgültigen  Namen  erst,  wenn  er  seine  Mis- 
sion auf  Erden  erkannt  hat,  wird  Mohamed  genannt,  der 
Ruhmeswürdige,  Abraham  Erhabener  Vater,  Sarah  Himmels- 
fürstin, Josua,  Jesu  Erlöser,  Buddha  der  Erwachte;  so  wie 
Homer  Odysseus  den  göttlichen  Dulder  oder  die  Nachwelt 
Goethe  den  Olympier  und  Wagner  den  Meister  genannt  hat. 
Durch  die  Einfachheit  der  Himmelserscheinungen  ist  die 
Astralmythologie  an  wenige  Schemata  gebunden,  in  die  das 
Leben  der  Helden  von  der  Nachwelt  gewaltsam  hineingepreßt 
wird.  Aber  wenn  der  siebente  Urvater  Chenoch  als  Begründer 
der  Sternendeutekunst,  als  derjenige,  der  den  Menschen  „die 
Herrschaft  der  Sonne  lehrte",  nach  der  Zahl  der  Sonnentage 
365  Jalire  alt  wird  und  es  dann  von  ihm  in  der  biblischen  Ur- 

118 


Vätertafel  nicht  wie  von  den  anderen  Urvätern  heißt,  er  starb, 
sondern  „er  war  nicht  mehr,  denn  Gott  hatte  ihn  genommen" 
(Anklang  an  die  altbabylonische  Mythe,  daß  er  „unter  die 
Sterne  gesetzt  sei"),  und  wenn  in  Anlehnung  hieran  der  Sieg  der 
Makkabäer,  der  Lichtbringer  über  die  Finsternis  der  Seleuciden- 
herrschaft,  in  die  Zeit  der  Sonnenwende  gesetzt  und  als  Ghenoch- 
fest  =  Chanukka  gefeiert  wird,  wenn  die  Geburt  des  Erlösers 
dann  im  christlichen  Kult  ebenfalls  auf  diesen  Tag  gelegt  und 
in  Anlehnung  an  das  jüdische  (genau  wie  das  altgermanische) 
Sonnenwendfest  mit  Lichterglanz  begangen  wird ;  wenn  in  dem 
jüdischen  Ritual  die  Befreiung  aus  der  ägyptischen  Gefangen- 
schaft und  im  christlichen  die  Auferstehung  Christi  am  Tage 
des  Frühlingsanfangs  (Passah  und  Ostern)  gefeiert  werden, 
und  bei  den  Juden  die  Verkündigung  am  Sinai,  bei  den  Christen 
die  mystische  Ausgießung  des  heiligen  Geistes  an  dem  doppelt- 
heiligen sieben  mal  siebenten  Tage  nach  dieser  Auferstehung  er- 
folgen ;  oder  wenn  die  Mütter  fast  aller  biblischen  Helden,  Sarah, 
Rebekka,  Rahel,  Hannah  und  die  Mutter  Simsons,  vor  der  Geburt 
des  Sohnes  lange  Zeiten  unfruchtbar  sind  (Motiv  des  Winters  vor 
dem  Frühling);  oder  wenn  Jakob  gerade  12  Söhne  hat,  aus  denen 
die  12  Stämme  Israels,  entsprechend  der  Zahl  der  Tierkreisbilder, 
hervorgehen;  oder  endhch  Isai,  der  Vater  Davids,  im  Gegensatz 
zum  historischen  Urtext,  in  dem  von  4  Söhnen  die  Rede  ist, 
in  der  späteren  Fassung  der  Schrift  7  Söhne  erhält  nach  der 
Zahl  der  Planeten,  und  die  Tötung  des  Riesen  Goliath  in  der 
späteren  Überlieferung  unter  Änderung  des  Urtextes  dem  David 
zugesprochen  wird,  weil  er  sich  als  ein  „Frühlingsbringer" 
erweist  und  er  es  daher  gewesen  sein  muß,  der  den  Drachen- 
mann Goliath  tötet  (Perseus-Ödipus-Siegfried-Motiv),  nachdem 
dieser  „Winterdrachen",  entsprechend  der  Zahl  der  Wintertage, 
Israel  „40  mal  verhöhnte",  und  wenn  sich  später  um  eben  dieses 
Frühlingsmotives  willen  Jesus  vom  Hause  David  ableitet  — 
wenn  wir  in  diesem  Sinne  den  gesamten  Bibeltext  von  der 
Schöpfung  bis  zur  Apokalypse  mit  babylonischer  Astralsymbolik 
durchwirkt  sehen,  so  sind  das  nicht  Geschichtsfälschungen 
eines  zur  Wissenschaft  unfähigen  Volkes  oder  einer  macht- 
lüsternen Priesterkaste,  wie  es  Chamberlain  darlegt  —  „schlim- 
mer als  Wechselfälschungen"  —  sondern  nichts  als  S  t  i  1  f  o  r  m  e  n. 
Der  Occidentale  strebt  nach  Objektivität ;  dadurch  erreicht  er  hohe 
Stufen  technischer  Organisation.  Er  gelangt  auf  zivilisatorischem 
Gebiet  zum  Amerikanismus ;  auf  kulturellem  zu  Produkten  wie 
Haeckels  Welträtseln  und  Ibsens  Gesellschaftsdramen.  Der  Orien- 

119 


tale  stilisiert  —  alles:  Welt,  Wirklichkeit  und  Wahrheit.  Ihm  ist 
Stilisierung  nicht  wie  dem  Europäer  eine  Kunstform  sondern 
eine  Weltanschauung.  Er  strebt  gar  nicht  nach  wissenschaft- 
licher „Objektivität",  er  strebt  nach  Stil.  5000  Jahre  vor  Goethe 
ward  er  des  Weltgeheimnisses  inne:  alles  Vergängliche  ist  nur 
ein  Gleichnis.  Und  nun  kommen  die  Professoren  der  Maschinen- 
zeit —  „was  ihr  nicht  tastet,  steht  euch  meilenfern"  — ,  lesen 
Bibel  und  Keilschrift,  als  hätten  sie  Mommsen  und  Darwin  vor 
sich,  hauen  mit  denselben  Sensen,  mit  denen  sie  auf  dem  dürren 
Acker  der  empirischen  Wissenschaft  den  Weizen  der  Erfahrung 
mähten,  in  die  Blütenranken  orientalischer  Symbolistik,  und 
weil  ihre  Scheffel  leer  bleiben,  beweisen  sie  der  Welt  „objektiv" 
die  Unfruchtbarkeit  des  semitischen  Geistes  und  die  spezielle 
Rassenminderwertigkeit  der  Juden ^). 

Joabylonien  ist  der  Schauplatz  der  Frühgesehichte 
Israels.  Der  erste  geographische  Begriff  der  Patriarchen- 
erzählung ist  die  Ebene  Sinear.  „Und  es  geschah,  als  sie  von 
Morgen  zogen,  da  fanden  sie  ein  Tal  im  Lande  Sinear  und 
wohnten  daselbst."  Sinear  ist  die  Euphrat-Tlgris-Ebene  von 
Sumer.  Die  erste  historische  Persönlichkeit  der  jüdischen  Ge- 
schichte, Abraham,  bewegt  sich  vollkommen  im  Kreise  der 
babylonischen  Welt  und  kann  mit  großer  Sicherheit  auf  ein 
bestimmtes  Jahrhundert  fixiert  werden.  „Und  Terach  nahm 
seinen  Sohn  Abram  und  den  Lot,  Sohn  Harrans,  seines 
Sohnes  Sohn,  und  Sarai,  seine  Schnur,  das  Weib  seines  Sohnes 
Abram,  und  sie  zogen  aus  Ur-Kasdim,  um  zu  gehen  in  das  Land 

*)  Wie  wichtig  die  Kenntnis  des  babylonischen  Stils  für  eine  ver- 
ständnisvolle Lektüre  der  Bibel  ist,  sei  durch  zwei  Beispiele  angedeutet. 
In  der  Paradiesgeschichte  spricht  Gott  zur  Schlange :  Staub  sollst  du  fres- 
sen alle  Tage  deines  Lebens.  Über  diese  Stelle  sind  unzählige  Kommen- 
tare mit  zum  Teil  ausführlichen  naturwissenschaftlichen  Darlegungen  ge- 
schrieben worden.  In  Wahrheit  lesen  wir  hier  nichts  als  einen  altbabylo- 
nischen Fluch  der  Vulgärsprache,  und  jeder  wissenschaftliche  Erklärungs- 
versuch ist  genau  so  sinnvoll,  als  wenn  ein  künftiger  Germanist  zur  Deutung 
unserer  heutigen  Redensart:  Darauf  kannst  du  Gift  nehmen!  eine  Toxiko- 
logie studieren  würde.  —  Am  Ende  der  Bibel  spricht  Christus  die  bekannten 
Worte:  ,,Ich  bin  gekommen,  den  Menschen  zu  erregen  wider  seinen  Vater, 
die  Tochter  wider  ihre  Mutter  und  die  Schnur  wider  ihre  Schwieger." 
Diese  möglicherweise  gar  nicht  authentische  Stelle  braucht  kein  Kopf- 
schütteln zu  erregen,  denn  auch  sie  ist  nichts  als  eine  gang  und  gäbe  ge- 
wesene babylonische  Redensart,  mit  der  jemand  die  Macht  seines  Wirkens 
charakterisieren  will,  und  die  wir  daher  mehrfach  wörtlich  auf  Keilschrift- 
tafeln und  bei  den  Propheten  z.  B.  Micha  VII  6  lesen. 

120 


Kanaan  und  kamen  bis  Harran  und  wohnten  daselbst  .  .  .  und 
Terach  starb  daselbst  .  .  .  und  Abram  nahm  sein  Weib  Sarai 
lind  Lot,  seines  Bruders  Sohn,  und  all  ihr  Eigentum,  das  sie  er- 
worben, und  die  Seelen,  die  sie  gewonnen  in  Harran,  und  zog 
weg,  um  zu  gehen  nach  Kanaan,  und  kam  dahin.  Und  Abram 
durchzog  das  Land  bis  an  den  Ort  Sichern  bis  an  den  Terebinten- 
hain  Moreh,  und  der  Kanaani  war  damals  im  Lande  .  .  .  und  er 
baute  daselbst  einen  Altar  dem  Ewigen  ....  und  es  war  in  den 
Tagen  des  Königs  Amraphel  von  Sinear." 

Im  Rahmen  der  uns  bekannten  Zeitgeschichte  läßt  sich  aus 
diesem  naiven  Volksbericht  ungefähr  das  folgende,  natürlich 
stark  hypothetische  Bild  entwerfen.  Von  „König  Amraphel 
von  Sinear",  Hammurabi,  wissen  wir,  daß  er  großzügige  Re- 
formen auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  durchge- 
führt hat.  Er  erhebt  an  Stelle  der  bisherigen  getrennten  Resi- 
denzen Babel  zur  Metropole  und  setzt  an  Stelle  der  Mondgötter 
den  Sonnengott  Marduk  auf  den  Götterthron.  Ur  in  Kasdim 
(=  Chaldäerland)  war  die  südliche,  Harran  in  Mesopotamien 
die  nördliche  Hauptkultstätte  des  alten  Monddienstes.  Wenn 
in  der  Reformationszeit  Hammurabis  eine  Familie  aus  offenbar 
religiösen  Motiven  von  Ur  nach  Harran  auswandert,  so  kann 
man  annehmen,  daß  sie  zum  alten  Mondkult  in  Beziehung  ge- 
standen hat.  Wahrscheinlich  waren  die  mehrfach  als  Götter- 
verehrer erwähnten  „Väter"  Abrahams  Priester  der  Mond- 
rehgion  zu  Ur,  die  vor  dem  Geist  der  neuen  Zeit  nach  dem 
nördlichen,  entlegeneren  zweiten  Kultort  ihrer  entthronten 
Götter  auswandern.  Daß  die  Sippschaft  Abrahams  aus  Ur 
in  Chaldäa  stammt,  bekräftigt  auch  der  Name  Sarai,  der 
das  Epitheton  ornans  der  Mondgöttin  von  Ur  ist  und  Him- 
melsfürstin heißt.  Daß  sie  in  Harran  babylonische  Götter  ver- 
ehrten, erhellt  aus  dem  späteren  Diebstahl  Raheis  an  den 
Hausgöttern,  den  Terafim  ihres  Vaters^).  Daß  die  Sippschaft 
Terachs  religiöse  Ziele  verfolgte,  kann  man  aus  dem  Passus 
schließen:  „Und  sie  zogen  aus  mit  den  Seelen,  die  sie  in  Harran 
gewonnen",  d.  h.  offenbar  mit  den  Anhängern,  die  sich  ihnen 
hier  angeschlossen.   In  Harran  wohnt  die  Sekte  der  Terachiden 

*)  Josua  beginnt  seine  denkwürdige  Rede  an  die  Ältesten  des 
Volkes:  „So  spricht  der  Ewige,  der  Gott  Israels:  Jenseits  des  Stro- 
mes wohnten  Eure  Väter  von  je,  Terach,  Vater  Abrahams  und  Vater 
Nachors,  und  sie  dienten  fremden  Göttern.  Und  ich  nahm  euren  Vater, 
den  Abraham,  von  jenseits  des  Landes  und  führte  ihn  durch  das  Land 
Kanaan." 

121 


offenbar  Jahrzehnte,  bis  nach  dem  Tode  eines  hervorragenden 
Mitgliedes,  des  „Vaters"  Terach,  ein  Teil  von  ihnen  unter  der 
Führung  Abrahams  (Abraham  ist  ein  dem  westsemitischen 
Hammurabi  nahe  verwandter  typischer  Name  der  Zeit)  aus 
der  nordbabylonischen  Landschaft  Paddan-Aram  nach  Kanaan 
weiterwandert.  Der  Weg  führt  die  uralte  noch  heute  benutzte 
Karawanenstraße  über  Damaskus,  wo  das  Andenken  an  Abra- 
ham bis  in  die  griechische  Epoche,  unabhängig  vom  biblischen 
Bericht,  lebendig  blieb.  Nicolaus  von  Damaskus  erzählt: 
„Zu  Damaskus  regierte  Abraham,  der  mit  einem  Heere  aus  dem 
oberhalb  Babyloniens  gelegenen  Lande  Chaldäa  dorthin  ge- 
kommen sein  soll.  Und  nicht  lange  danach  wanderte  er  mit 
seinem  Volke  von  dort  nach  Kanaan,  welches  jetzt  Judäa  heißt, 
und  wo  sich  die  Seinen  stark  vermehrten." 

Diese  von  der  Sekte  der  Terachiden  sich  lösenden 
und  nach  Kanaan  wandernden  Abrahamiden  bilden 
den  Kristallisationskern  des  jüdischen  Volkes  — 
eine  babylonische  Hugenottenfamilie  aus  dem  Jahre 
2250  V.  Chr.  Als  eine  babylonische  Sekte  sind  die 
Abrahamiden  anthropologisch  wahrscheinlich  Baby - 
lonier,  entstammen  also  dem  Völkergemisch  der 
arabischen  und  iranischen  Gruppe  der  mittel- 
ländischen Rasse. 

Kanaan  ist  zur  Zeit  Hammurabis  durchaus  kein  Ödland 
sondern  eine  babylonische  Kulturprovinz.  1000  Jahre  vor 
Hammurabi  sehen  wir  Ägypten  und  Babylonien  nicht  in  den 
Anfängen  sondern  nahe  dem  Kulminationspunkt  ihrer  Kultur, 
und  Palästina,  das  wie  eine  Brücke  zwischen  Meer  und  Wüste 
die  beiden  Reiche  verbindet,  muß  an  dieser  Kultur  teilgenom- 
men haben.  Wenn  Sargon  L  im  Jahre  2800  v.  Chr.  Expeditionen 
über  das  Meer  nach  Cypern  unternimmt,  muß  ihm  Palästina  als 
befestigtes  Etappenland  gedient  haben.  100  Jahre  vorher,  2900 
V.  Chr.,  wird  Palästina  schon  auf  einer  ägyptischen  Urkunde 
als  Exportland  für  Zedernholz  erwähnt.  Aus  dem  Kreise  der 
palästinensisch-syrischen  Staaten  entwickelt  sich  in  diesen 
Jahrhunderten  das  Amoriterreich,  aus  dessen  Dynastie  Hammu- 
rabi hervorgeht. 

Zur  Zeit  des  Einzuges  der  Abrahamiden  warPa- 
lästina  vermutlich  —  wir  bewegen  uns  hier  natürlich  auf 
einem  ganz  hypothetischen  Gebiet — von  folgendenVölkern 
bewohnt:  1.  einer  hochgewachsenen  Rasse,  wahr- 
scheinlich   den    Horitern   oder    Refaim   der    Bibel, 

122 


die  ais  Troglodyten  außerhalb  der  Kulturstätten  hausten  und 
wie  alle  wild  lebende  Urbevölkerung  von  den  späteren  An- 
siedlern als  Riesenvolk  geschildert  werden.  Wahrscheinlich 
sind  die  prähistorischen  megolithischen  Denkmäler  Palästinas, 
die  Dolmen  und  Hünengräber,  die  man  in  stattlicher  Anzahl 
ausgegraben,  Schöpfungen  ihrer  primitiven  Kunst.  2.  Einer 
kleineren  Rasse,  die  wahrscheinlich  mit  den  er- 
wähnten Kuschiten  identisch  ist  und  offenbar  negroide 
Züge  trug.  3.  Den  Amoritern  =  Westsemiten  vom 
Ar  ab  er  typ,  die  wahrscheinlich  die  Hauptmasse  der  Be- 
völkerung bildeten  und  daher  von  dem  zweiten  sogenannten 
jahwistischen  Berichterstatter  der  Genesis  einfach  Kanaaniter 
genannt  werden^).  4.  Babyloniern,  die  hier  als  Kulturträger 
und  Repräsentanten  der  Staatsoberhoheit  in  der  „Provinz" 
lebten.  5.  Hethitern  aus  der  armenischen  Völker- 
gruppe, die  sich  um  eben  diese  Zeiten  von  Norden  nach 
Süden  ausbreiten  und  den  Babyloniern  die  Herrschaft  im 
Lande  streitig  machen.  Von  einer  angeblich  hethitischen  Be- 
hörde muß  sich  Abraham  als  Fremder  —  „denn  ein  Fremd- 
ling und  Einsaß  bin  ich  bei  euch"  —  nach  Art  der  grie- 
chischen Metöken  die  Genehmigung  zum  Kauf  der  Begräbnis- 
höhle von  Machpelah  einholen.  Die  Modalitäten  dieses  Kauf- 
abschlusses fügen  sich,  ebenso  wie  alle  anderen  rechtlichen 
Einzelheiten  und  Gebräuche  der  Abraham-Erzählung,  so  wahr- 
heitsgetreu in  das  allgemeine  Zeitbild  der  Hammurabi- 
Epoche  —  beispielsweise  ist  die  Behandlung  Hagars  eine 
wörtliche  Ausführung  des  §  146  des  Kodex  Hammurabi  — , 
daß  an  der  Authentizität  der  Abraham-Erzählung  —  natür- 
lich cum  grano  salis  —  kaum  ein  berechtigter  Zweifel  auf- 
kommen kann. 

In  Kanaan  vermehrt  sich  die  daselbst  metökisch  wohnende 
Sekte  der  Abrahamiden.  Während  Abraham  in  den  ersten 
Kapiteln  ein  Wanderer  ist,  der  seine  Zelte  aufschlägt  und  ab- 
bricht, wird  er  in  den  späteren  Jahren  —  in  dem  Heros  eponymos 
Abraham  müssen  wir  uns  nach  dem  Stil  orientalischer  Bericht- 
erstattung ganze  Generationen  personifiziert  denken  —  als 
ein  Fürst  geschildert,  der  Heerhaufen  aussendet,  mit  den  Gau- 

^)  Die  ältesten  Teile  der  Bibel  lassen  zwei  verschiedene  Quellen  er- 
kennen, die  sich  u.  a.  darin  unterscheiden,  daß  in  der  zwar  später 
fixierten,  aber  offenbar  älteren  Gott  mit  Elohim  (Mehrzahl),  in  der  jüngeren 
hingegen  als  Jahwe  (Einzahl)  bezeichnet  wird,  und  die  daher  die  elohistische 
und  die  jahwistische  Quelle  genannt  werden. 

123 


fürsten  Kanaans  Bündnisse  schließt  und  vom  Präfekten  der 
benachbarten  ägyptischen  Provinz  empfangen  wird.  Die  Ver- 
mehrung erfolgt  offenbar  1.  durch  natürliche  Fruchtbarkeit, 
2.  durch  Proselyten,  3.  durch  Mischehen  mit  den  Landes- 
bewohnern. Über  den  Proselytismus  erfahren  wir,  daß  „alle 
Leute  seines  Hauses,  Eingeborene  und  um  Geld  von  Fremden 
Gekaufte,  sich  von  ihm  beschneiden  ließen".  Unter  diesen  be- 
finden sich  auch  die  Knechte  und  Mägde,  die  von  einer  Fahrt 
in  die  ägyptische  Nachbarprovinz  mitgebracht  werden.  Mit 
den  durch  Kauf  und  Beute  erworbenen  fremdstämmischen 
Weibern  treten  die  Herren  in  eheliche  Beziehungen.  Die  Nach- 
kommen aus  diesen  Mischehen  werden  in  den  Frühperioden 
sofort,  später,  als  der  Begriff  der  Rasse  lebendig  wurde,  dem 
Gesetz  zufolge  erst  in  der  dritten  Generation,  in  der  Praxis  aber, 
wie  die  Geschichte  zeigt,  zumeist  ebenfalls  sofort  in  den  „Bund" 
aufgenommen.  Die  Mischehe  war  in  dem  der  Viel- 
weiberei huldigenden  alten  Judentum  von  Abra- 
ham bis  zum  babylonischen  Exil  die  durchaus 
legale,  allgemein  geübte  Form  der  Ehe.  Abraham 
hält  sich  die  ägyptische  Magd  Hagar  als  Kebsweib  und 
zeugt  mit  ihr  den  Ismael.  Eine  Tochter  dieses  Halbägypters 
Ismael  wird  wieder  von  Esau  heimgeführt.  Als  Abraham  betagt 
ist,  läßt  er  seinen  „ältesten  Knecht",  den  Major  domus,  schwö- 
ren, daß  er  für  Isaak  nicht  ein  Weib  von  den  Töchtern  der 
Kanaaniter  nehme,  sondern  aus  seinem  Geburtsland  Meso- 
potamien hole.  Von  Isaaks  beiden  Söhnen  heiratet  Esau  außer 
der  Halbägypterin  noch  zwei  hethitische  Mädchen,  „und  sie 
waren  ein  Herzeleid  für  Isaak  und  Rebekka".  Daher  muß  der 
Lieblingssohn  Jakob  wie  sein  Vater  wieder  hinaufziehen  in  das 
babylonische  Heimatland  Paddan  Aram  und  dort  bei  seinem 
„Onkel"  Laban  um  Rahel  und  Leah  freien.  Außerdem  aber 
heiratet  Jakob  noch  die  zwei  fremdstämmischen  Sklavinnen 
Bilha  und  Zilpa,  von  denen  nach  der  biblischen  Genealogie  die 
Stämme  Dan,  Naphtali,  Gad  und  Ascher,  also  nicht  weniger 
£js  ein  Drittel  von  ganz  Israel,  sich  herleiten.  Jakobs  Lieblings- 
sohn Joseph  vermählt  sich  in  Ägypten  mit  der  Tochter  eines 
ägyptischen  Priesters.  Moses  heiratet  die  Midianiterin  (Ara- 
berin) Ziporah  —  später  ist  auch  von  einer  Kuschitin  die  Rede  — , 
erregt  aber  bezeichnenderweise  damit  schon  bei  dem  zum 
Nationalbewußtsein  erwachenden  jungen  Volk  Widerspruch: 
„Und  Mirjam  und  Aron  traten  auf  gegen  Mose  wegen  der  Mi- 
dianiterin, die  er  heimgeführt  hatte." 

124 


Die  angeblich  bis  in  die  Patriarchenzeit  hinauf- 
reichende Rassenreinheit  der  Juden,  von  der  eine 
große  Anzahl  Schriftsteller,  beispielsweise  auch  Dehmel  in 
einer  von  historischen  Kenntnissen  scheinbar  ungetrübten 
Arbeit  spricht  —  „das  alte  Israel,  solange  es  wirklich  noch  rein- 
rassig war,  d.  h.  längstens  bis  zur  Zeit  Salomonis"  — ,  ist  eine 
ebenso  verbreitete  wie  unhistorische  Fabel.  Die 
Juden  sind  kein  Rassentyp  gewesen  sondern  ge- 
worden! Die  Abrahamiden  der  Patriarchenzeit 
sind  eine  babylonische  Sekte,  die  durch  Pro- 
selytismus  undMischehen  kanaanitische,  ägyptische 
und  hethitische  Elemente  in  sich  aufnahm  und  sich 
folglich  aus  Vertretern  der  iranischen,  arabischen, 
armenischen  und  ägyptischen  Gruppe,  also  aller 
vier  Zweige  des  afrikanisch- asiatischen  Teils  der 
mittelländischen  Rasse   zusammensetzt. 

Was  uns  der  älteste  Bericht  naiv  als  die  Geschichte  einer 
Familie  von  Abraham  bis  Joseph  erzählt,  ist  in  Wahrheit  das 
Kompendium  der  500  jährigen  Entwicklungsgeschichte  eines 
jungen  Volkes.  Soviel  wir  aus  der  Legende  herauslesen  können, 
muß  ein  Abkömmling  dieses  Stammes  auf  abenteuerlichen  Wegen 
nach  Ägypten  gekommen  und  dort  zu  hohen  Ehren  empor- 
gestiegen sein.  Glücksfahrten  aus  den  patriarchalischen  Ver- 
hältnissen der  Kleinstaaten  in  die  großen  Kulturzentren  am 
Euphrat  und  Nil  waren  damals  ebensowenig  etwas  Seltenes 
wie  in  unserigen  Zeiten  solche  nach  Amerika.  Von  Semiten,  die 
an  den  Höfen  der  Pharaonen  zu  Ehren  gelangen,  besitzen  wir 
mehrere  ägyptische  Überlieferungen,  von  denen  eine  so  auffallend 
an  die  biblische  Josephserzählung  anklingt,  daß  nicht  wenige  Exe- 
geten  in  ihrem  Helden  den  biblischen  Joseph  zu  erblicken  meinen. 
Aus  der  Zeit  um  1500  wird  ein  Mann  mit  dem  unzweifelhaft 
semitischen  Namen  Janchamu  als  Präfekt  einer  Deltaprovinz 
erwähnt;  er  erhält  den  Auftrag,  Kanaan  in  einer  Epoche  der 
Hungersnot  mit  ägyptischem  Getreide  zu  versorgen  und  treibt 
dafür  von  den  kanaanitischen  Fürsten  und  Gemeinden  außer 
Edelmetallen  auch  Sklaven  und  Mägde  ein,  worüber  sich  die 
Kanaaniter  in  dem  aufgefundenen  Schreiben  an  die  ägyptische 
Regierung  beschweren.  Man  hat  nun  kombiniert,  Janchamu 
sei  der  biblische  Joseph,  entstamme,  wie  sein  westsemitischer 
Name  vermuten  lasse,  der  Sekte  der  Juden  und  habe  seine 
„Brüder"  veranlaßt,  sich  während  der  Hungersnot  in  der  ägyp^ 
tischen  Grenzprovinz  Gosen  niederzulassen.    Daß  kanaanitische 

125 


Familien,  wie  es  in  der  Bibel  geschildert  wird,  in  Zeiten  der 
Dürre  nach  Ägypten  reisen,  um  Getreide  zu  kaufen,  ist  viel- 
fach verbürgt.  Ein  ägyptisches  Bild,  auf  dem  12  semitische 
Männer  vor  einem  ägyptischen  Beamten  knien,  ist  eine  so 
getreue  Darstellung  der  biblischen  Situation,  daß  man  glaubt, 
eine  Illustration  „Joseph  und  seine  Brüder"  aus  einer  alten 
Bilderbibel  und  nicht  ein  altägyptisches  Original  vor  Augen 
zu  haben.  Auch  der  Einzug  ganzer  Stämme  war  kein  un- 
gewöhnliches Ereignis.  „Wir  haben",  berichtet  ein  Präfekt 
auf  einer  Keilschrifturkunde  seiner  Regierung,  „die  Beduinen 
von  Edom  (Edomiter,  Bruderstamm  der  späteren  Hebräer) 
die  Merneptah  -  Festung  nach  den  Teichen  des  Merneptah 
passieren  lassen,  um  sich  und  ihr  Vieh  zu  ernähren  auf  dem 
großen  Weideland  Pharaos,  der  großen  Sonne  aller  Länder." 
So  mag  auch  die  Sekte  der  Juden  in  die  Landschaft  Gosen 
eingezogen  sein.  Als  Grenzprovinz  zwischen  Delta  und  Sinai- 
halbinsel war  Gosen  der  naturgegebene  Ansiedlungsrayon  für 
palästinensische  Zuwanderer.  Unter  den  günstigen  Lebens- 
bedingungen wachsen  sie  hier  wahrscheinlich  im  Laufe  von 
mehreren  Jahrhunderten  zu  einem  Stamm  heran.  Neben  der 
natürlichen  Fruchtbarkeit  wird  der  Zuwachs  auf  eine  starke  Li- 
filtration  mit  ägyptischen  Elementen  zurückzuführen  sein.  Nach 
den  Gepflogenheiten  der  Zeit  werden  in  den  höheren  Ständen 
die  legalen  Mischehen  mit  Ägypterinnen  ebenso  an  der  Tages- 
ordnung gewesen  sein  —  „und  Pharao  gab  Joseph  den  Namen 
Zaphnat-Paneach  und  gab  ihm  Asnat,  Tochter  des  Pothiphar, 
Priester  von  On,  zur  Frau"  —  wie  in  den  niederen  Kreisen  Kon- 
kubinate mit  ägyptischen  Mägden  und  Sklavinnen  üblich  waren. 
Beim  Auszug  begleitet  ein  großer  Teil  dieser  ägyptischen  Ver- 
wandtschaft nebst  ihrem  sonstigen  Anhang  die  Juden:  „Und 
es  zogen  große  Haufen  ägyptischen  Volkes  mit  ihnen."  Hand 
in  Hand  hiermit  ging  gewiß  eine  weitgehende  kulturelle  Assimi- 
lation —  ganz  analog  den  Verhältnissen  im  heutigen  Europa. 
Trägt  doch  selbst  Moses  einen  durchaus  unsemitischen  ägyp- 
tischen Namen  (Moses  =  ägyptisch  Sohn  cf.  Thutmosis  = 
Sohn  des  Thut),  so  wie  die  künftigen  Historiker  die  europäische 
„Episode"  der  jüdischen  Geschichte  etwa  an  den  Namen 
Heine  oder  Herzl  registrieren  werden.  Das  mehrhundert- 
jährige Zwischenspiel  von  Gosen  ist  eine  Epoche 
der  Ägyptisierung  des  jüdischen  Volkes.  Wenn  diese 
trotz  der  wahrscheinlichen  Dauer  und  Intensität  einen  so 
schwachen  Eindruck  in  dem  physiognomischen  Bild  des  spä- 

12G 


teren  Juden  hinterlassen  hat,  so  kann  man  dies  vielleicht  durch 
die  Tatsachen  erklären,  daß  erstens  die  Ägypter  selbst  eine  MiscL- 
rasse  mit  geringer  Durchschlagskraft  der  Erbanlagen  waren,  und 
daß  zweitens  die  in  Ägypten  gewesenen  Juden  der  Jakob- 
familie nur  einen  Teil  des  späteren  jüdischen  Volkes  darstellen. 

„Und  es  kam  ein  Piiarao,  der  nichts  mehr  wußte  von  Jo- 
seph"—  unter  Ramses  IL  (1348 — 1281)  ändert  sich  die  politische 
Lage.  Allerorten,  namentlich  auch  in  den  asiatischen  Provinzen, 
brechen  Aufstände  gegen  Ägypten  aus.  Man  scheint  gegen  die 
in  Gosen  lebenden  Juden  mißtrauisch  geworden  zu  sein  und 
wendet  gegen  sie  ein  bis  auf  den  heutigen  Tag  beliebtes  Mittel 
politischer  ,, Sicherung"  an:  die  Männer  werden  ausgehoben  und 
zwangsweise  zur  Arbeit  verwendet.  Ägyptische  Fresken  und 
Papyrusbilder,  auf  denen  man  semitische  Männer  unter  der 
Aufsicht  ägyptischer  Vögte  Ziegelbauten  errichten  sieht,  geben 
getreue  Illustrationen  zu  den  Schilderungen  der  Bibel.  Die 
Zwangsarbeit  wurde  von  den  Juden  als  schwere  Heimsuchung 
empfunden  und  hat  als  solche  ihre  Wirkung  nicht  verfehlt.  Hier 
zum  erstenmal  bewährte  sich,  wie  später  noch  so  oft  in  der 
Geschichte  dieses  merkwürdigen  Volkes,  das  Unglück  als  Segen. 
Hier  unter  den  Knuten  der  ägyptischen  Schergen  dämmert 
in  den  Seelen  der  Geknechteten  das  Bewußtsein,  daß  man 
sie  haßte,  weil  sie  anders  waren  als  die  andern,  und  daß  sie 
um  dieses  Hasses  der  anderen  willen  sich  selber  mehr  und 
näher  sein  müßten.  Hier  zum  ersten  Male  tönt  es  trotzig: 
Iwri  onauchi  —  ein  Hebräer  bin  ich!  In  der  Fron  der  ägyp- 
tischen Knechtschaft  wird  unter  Stöhnen  und  Tränen,  eine 
echte  Geburt,  das  jüdische  Nationalbewußtsein,  geboren. 

Merneptah,  der  Nachfolger  Ramses,  zieht  gegen  die  auf- 
ständischen Provinzen  Syriens  und  Palästinas  zu  Felde  und 
verewigt  seinen  Sieg  in  einem  „Israel-Stele"  benannten  Denkmal, 
so  bezeichnet,  weil  auf  ihm  zum  erstenmal  der  Name  Israel 
schriftlich  erwähnt  wird:  „Der  Israelstamm  ist  ohne  Feid- 
frucht,  und  Palästina  eine  Witwe  geworden  durch  Ägypten." 
Diese  Urkunde  ist  für  die  Rassengeschichte  der  Juden  von 
höchster  Bedeutung,  da  sie  die  Israelstämme  zu  einer  Zeit  als 
politische  Einheit  erwähnt,  in  der  sie  höchstwahrscheinlich 
noch  nicht  mit  den  in  Gosen  lebenden  Jakobstämmen  vereint 
waren.  Sie  bestätigt  die  schon  längst  gehegte  Vermutung,  daß 
das  spätere  jüdische  Volk  sich  aus  zwei  verschie- 
denen Komponenten  zusammensetzt:  den  inÄgypten 
gewesenen    Jakobstämraen,    den    Nachkommen    der 


babylonischen  Terachiden  und  palästinensischen 
Abrahami  den,  von  denen  die  Patriarch  engeschichte 
erzählt,  und  den  ausArabien  stammenden,  imStrom 
der  kanaanitischen  Wanderung  nach  Norden  ge- 
triebenen Israelstämmen.  Die  ursprüngliche  Trennung  ist 
in  der  biblischen  Legende,  nach  der  Jakob  erst  später  auf 
göttlichen  Befehl  den  Namen  Israel  annimmt,  und  an  vielen 
anderen  Stellen  des  Schrifttums  angedeutet,  wie  z.  B.  an  dem 
berühmten:  „Wie  schön  sind  deine  Zelte,  Jakob,  deine  Wohn- 
sitze, Israel^)!" 

Die  in  Gosen  wohnenden  Juden  benutzen  offenbar  die 
politischen  Wirren  und  entziehen  sich  der  ägyptischen  Tyran- 
nei, Die  Wanderer  kommen  naturgemäß  zuerst  auf  die 
Halbinsel  Sinai,  die  damals  dem  Kulturbereich  der  Minäer 
angehörte,  ein  arabisches  Volk,  dessen  Kolonien  sich  von 
Südarabien  längs  der  fruchtbaren  Küsten  bis  zum  Sinai  er- 
streckten. Am  Sinai  selbst  wohnte  der  minäische  Volks- 
stamm der  Midianiter,  zu  denen  Moses  auf  seiner  Flucht  aus 
Ägypten  dereinst  gelangt  war.  Von  den  Beziehungen  Moses  zu 
den  Midianitern  kann  man  unter  Benutzung  der  biblischen  und 
talmudischen  Anekdoten  —  die  talmudischen  Quellen  sind  oft 
ebenso  alt,  zuweilen  noch  älter  als  die  biblischen  —  nach 
dem  Stil  der  orientalischen  Überlieferung  sich  etwa  folgen- 
des Bild  malen :  Moses  war  —  wie  sein  ägyptischer  Name  ver- 
rät —  ein  in  ägyptischem  Wesen  erzogener  Jude,  der  eine 
höhere  Staatsstelle  bekleidete,  sich  irgendwie,  vielleicht  als 
Fürsprech  seines  unterdrückten  Volkes,  mißliebig  gemacht 
hatte  und  daher  mit  dem  Plan,  dereinst  sein  Volk  zu  befreien, 
zu  den  Midianitern  floh.  Hier  „hütete  er  die  Schafe  seines 
Schwiegervaters  Jethro,  der  ein  midianitischer  Priester  war, 
am  Berge  Horeb",  d.  h.  bei  midianitischen  Priestern  lernte 
Moses  offenbar  den  Jahwekult  des  Sinaiberges  kennen,  beschloß, 
ihn  bei  seinen  Stammesbrüdern  einzuführen  und  arbeitete 
dort  das  mosaische  Gesetz  in  seinen  Grundformen  aus.  Von 
Moses   dann   zum  Sinai    geführt,    kamen   die   Juden   mit  den 

1)  Durch  die  Hypothese  eines  zweiwurzeligen  Ursprunges  der  Juden 
«rklären  sich  auch  vielfache  Dualismen  der  biblischen  Überlieferung,  z.  B. 
4ie  Zusammensetzung  der  biblischen  Schöpfung  aus  zwei  getrennten  Be- 
richten, von  denen  der  erste  die  Welt  aus  dem  Wasser  entstehen  läßt 
{Hindeutung  auf  Euphrat-Tigris,  Babylon),  während  der  zweite,  die 
Schaffung  des  Gartens  Eden  in  der  regenlosen  Wüste  —  „und  noch  hatte 
es  Gott  nicht  regnen  lassen  über  der  Erde  .  .  .  und  er  pflanzte  einen 
Garten  .  .  ."  —  ganz  offenbar  der  Wüste  und  Wüsten  Völkern  entstammt. 

128 


Midianitern  und  anderen  arabischen  Stämmen,  den  Kenitern 
und  Amalekitern,  später  den  Edomitern,  Moabitern  und  Am- 
monitern  in  Berührung  und  vermischten  sich  mit  ihnen.  „Du 
sollst  den  Edomiter  nicht  verabscheuen,  denn  er  ist  dein 
Bruder;  du  sollst  den  Ägypter  nicht  verabscheuen,  denn  ein 
Fremdling  warst  du  in  seinem  Lande.  Kinder,  die  ihnen  ge- 
boren werden,  dürfen  aufgenommen  werden  in  den  Bund  des 
Ewigen  nach  dem  dritten  Geschlecht."  Alle  diese  Stämme 
waren  Beduinen  der  arabischen  Hochfläche.  Nach  der  Epoche 
der  Ägyptisierung  folgt  auf  der  Halbinsel  Sinai 
eine  Periode  der  Arabisierung  der  Juden. 

Die  Dauer  des  Sinai-Aufenthaltes  und  der  Weiterwanderung 
bis  zur  Grenze  Kanaans,  die  in  der  Bibel  als  ,,Zug  der  Kinder 
Israel  durch  die  Wüste"  geschildert  werden,  ist  auf  etwa  100 
bis  150  Jahre  zu  veranschlagen,  über  die  wir  keine  näheren 
Nachrichten  besitzen.  Dagegen  sind  wir  über  die  zeitgenös- 
sischen Zustände  in  Kanaan  selber  vortreffhch  unterrichtet,  und 
zwar  durch  den  Fund  des  Staatsarchives  zu  Tel-el-Amarna  aus  dem 
Jahre  1450  v.  Chr.,  das  auf  über  300  Tontafeln  die  diplomatische 
Korrespondenz  zwischen  den  kanaanitischen  Vasallenfürsten 
Palästinas  und  der  ägyptischen  Regierung  enthält.  Die  Tel-el- 
Amarna -Briefe  sind  über  den  Rahmen  des  Lokalinteresses 
hinaus  besonders  interessant  als  Dokumente  für  die  tonan- 
gebende Stellung  Babylons  in  der  gesamten  damaligen  Kultur- 
v»'elt.  Diese  Briefe  sind  nämlich  sämtlich,  obwohl  sie  zwischen 
ägyptischen  Beamten,  kanaanitischen  und  hethi tischen  Fürsten 
auf  der  einen  und  der  ägyptischen  Regierung  auf  der  andern 
Seite  gewechselt  werden,  in  Babylonisch  und  zwar  in  einem 
z.  T.  so  fehlerhaften  Küchenbabylonisch  verfaßt,  daß  die 
heutigen  Assyriologen  oft  Mühe  haben,  die  Texte  zu  entziffern. 
Ein  hethitischer  Kanzlist,  der  das  offizielle  Babylonisch  über- 
haupt nicht  beherrscht,  setzt  einfach  mit  Hilfe  eines  Lexikons 
die  babylonischen  Wörter  in  ihren  Grundformen  nebenein- 
ander. In  Ägypten  wieder  kritzeln  die  Lektoren  die  Über- 
setzung der  schwierigen  Stellen,  wie  wir  es  mit  Cäsar  und 
Cicero  in  der  Schule  getan,  über  den  Text,  um  ihren  Herren  die 
Briefe  fließend  übersetzen  zu  können.  Das  Babylonisch  spielte 
eben  in  der  Kulturwelt  der  damaligen  Zeit  dieselbe  Rolle  wie  in 
Europa  im  Mittelalter  das  Latein  und  im  Rokoko  das  Französisch. 

Die  geschilderten  Zustände  im  damaligen  Palästina  erinnern 
^n  die  Zeit  der  Renaissance.  Das  Land  ist  in  Dutzende  von 
Fürstentümern  und  Stadtstaaten  aufgeteilt,  die  in  dauernden 

»    Kahn,  Die  Joden.  129 


Fehden  miteinander  liegen  und  sich  —  wie  die  RepubhkeD 
Italiens  an  den  Papst  und  die  Duodezfürsten  Deutschlands  an 
den  Kaiser  —  in  immer  wiederholten  Bitt-  und  Klagebriefen 
an  den  König  von  Ägypten  wenden,  mit  dem  stereotypen 
Vermerk,  daß  alle  Nachbarfürsten  treulose  Verräter,  sie  aber 
allein  ihres  allergnädigsten  Königs  einzigst  und  allertiefst  ge- 
horsamste  Diener  seien. 

Die  Fürsten  Kanaans  stützen  ihre  Macht  auf  befestigte 
Städte  mit  Türmen,  Mauern  und  Wasseranlagen,  deren  eine 
der  berühmte,  auch  in  der  Bibel  erwähnte  „Ofen  von  Geser" 
ist,  ein  43  Meter  unter  der  Erde  laufender  Wassertunnel,  der  die 
Festung  Geser  mit  einer  unterirdischen  Quelle  verbindet.  Die  bei 
den  neueren  Ausgrabungen  auf  palästinensischem  Boden  zu 
Tage  geförderten  Mauern  von  Meggiddo,  die  große  Kultanlage 
von  Geser,  der  heihge  Platz  von  Petra  und  die  Burg  vonTaanach 
sind  kanaanitische  Denkmäler  der  Tel-el-Amarna-Zeit.  Handel 
und  Wandel,  freilich  auch  Krieg  und  Räuberwesen  blühten  in 
diesem  Lande,  das  sich  vornehmlich  von  Ackerbau  und  Vieh- 
zucht, Obst-  und  Weinkultur,  Holz-  und  Steinexport  und  last 
not  least  Plünderung  der  nach  den  phönizischen  Häfen  durch- 
ziehenden babylonischen  und  ägyptischen  Karawanen  nährte. 

Unter  den  Tel-el-Amarna-Briefen  befindet  sich  ein  Schrei- 
ben des  kanaanitischen  Stadtkönigs  Abdichiba  von  Urusalim^ 
dem  vorisraelitischen  Jerusalem,  das  also  keine  jüdische,  sondern 
eine  kanaanitische  Gründung  ist,  an  den  König  von  Ägypten. 
„Zu  Füßen  meines  Herrn,  des  Königs,  falle  ich,  sieben  und 
siebenmal  usw.  ..."  Er  beklagt  sich,  daß  er  beim  König  von 
seinen  Widersachern  verleumdet  werde.  „Warum  verleumdet 
man  mich  ?  So  wahr  der  König  lebt,  einzig  weil  ich  den  Beamten 
des  Königs  sage :  warum  bevorzugt  ihr  die  Habiri  und  benach- 
teiligt die  eingesessenen  Lehensfürsten  (wie  er  einer  ist)?  Sie 
verleumden  mich,  weil  ich  ihnen  sage:  ihr  richtet  das  Gebiet 
meines  Königs  zugrunde  ...  Es  sorge  der  König  für  sein  Land, 
denn  das  ganze  Land  fällt  ab  vom  König  .  .  .  das  ganze  Land 
meines  Königs  geht  zugrunde,  wenn  mein  König  nicht  auf 
mich  hört.  Auch  die  Lehensfürsten  werden  abfallen,  daher 
sende  mein  König  Truppen  .  .  .  denn  die  Habiri  verwüsten 
das  Land  meines  Königs  .  .  .  und  wenn  kein  Militär  kommt, 
so  geht  das  Land  meinem  König  verloren."  Abdichiba  von 
Jerusalem  hat  recht  behalten.  Die  Habiri  haben  das  Land 
verwüstet,  und  Kanaan  ging  dem  ägyptischen  König  verloren. 
Die    Habiri   sind   nämlich   keine   anderen   als    die    Hebräer. 

130 


Habiri  bedeutet  aber  in  der  Sprache  jener  Zeit  nicht  speziell 
die  Israeliten  oder  Juden,  sondern  überhaupt  die  aus  der  ara- 
bischen Steppe  andringenden  Nomaden  im  Gegensatz  zur 
ansässigen  Landesbevölkerung.  Es  entspricht  dem  griechischen 
„Barbaren",  dem  römischen  „Germanen",  dem  mittelalter- 
lichen „Hunnen"  oder  „Normannen",  dem  heutigen  „Be- 
duinen". Hebräer  ist  der  Oberbegriff  zu  Juden.  Die 
Juden  sind  Hebräer;  aber  nicht  alle  Hebräer  sind 
Juden.  Zu  den  Hebräern  gehören  außer  den  späteren  Juden 
die  Edomiter,  Ammoniter,  Amalekiter,  Moabiter,  Ismaeliter, 
Midianiter  usw.  Wie  ernst  schon  damals  —  200  Jahre  vor  dem 
Eintreffen  der  aus  Ägypten  ziehenden  Jakobstämme  —  die 
Hebräergefahr  war,  erhellt  aus  dem  Briefe  eines  anderen 
kanaanitischen  Vasallen,  der  über  seine  Nebenbuhler  nach 
Ägypten  berichtet:  ,,Namjazau  hat  alle  Städte  des  Königs  im 
Lande  Kadesch  und  im  Lande  Übe  den  Habiri  überantwortet. 
Aber  ich  werde  hinmarschieren,  und  wenn  vor  mir  herziehen 
deine  Götter  und  deine  Sonne,  dann  will  ich  zurückbringen 
die  Orte  von  den  Habiri  an  meinen  König,  um  mich  ihm  Unter- 
tan zu  zeigen.  Verjagen  werde  ich  diese  Habiri  und  freuen  wird 
sich  der  König  über  seinen  Knecht  Itakama." 

In  den  Tel-el-Amarna-Briefen  verrät  sich  schon  deutlich  die 
politische  Schwäche  Ägyptens.  Alle  drei  großen  Kulturstaaten 
Vorderasiens,  Babylon,  Ägypten  und  das  Hethiterreich,  befinden 
sich  in  diesen  Jahrhunderten  in  einem  rapiden  Verfall.  Es 
herrscht,  wie  ein  Historiker  sich  ausdrückt,  eine  Art  Windstille 
in  der  großen  Weltgeschichte.  Die  Ohnmacht  Ägyptens 
benutzen  die  an  den  Grenzen  Kanaans  sich  stauen- 
den Hebräerstämme,  unter  denen  sich  die  Israel- 
stämme befinden  und  denen  die  Jakobstämme  aus 
Ägypten  nachfolgen,  zu  ihrem  Einfall  in  das  durch 
Parteigezänk  der  Fürsten  zerrissene  Land  der 
Kanaaniter. 

Keinesfalls  darf  man  sich  den  Einzug  in  Kanaan  als  die 
militärisch  organisierte  Invasion  eines  geschlossenen  Volkes  vor- 
stellen. Das  Volk  Davids  und  Salomos  existiert  noch  nicht. 
Lose  Stämme  wie  die  gentes  germanicae  der  römischen 
Geschichte,  nicht  mehr  als  jene  durch  Rasse  und  Zufalls- 
schicksal verbunden,  brechen  in  die  palästinensische  Kultur- 
ebene  ein.  Zwischen  dem  ersten  Angriff  und  dem  Endkampf  um 
d.en  Besitz  des  verhältnismäßig  sehr  bescheidenen  Landes 
liegen  nicht  weniger  als  drei  Jahrhunderte.    Von  den  späteren 

«'  131 


Reichsstämmen  —  die  Zwölfzahl  ist  wieder  eine  astral-mytho- 
logische Stilisierung,  es  scheinen  fünf  gewesen  zu  sein  —  kom- 
men die  Israelstämme  von  Osten  über  den  Jordan,  setzen  sich 
etwa  150  Jahre  vor  den  Jakobstämmen  fest  und  sind  diesen 
dalicr  im  Kulturalter  voraus  —  nicht,  wie  Chamberlain  dar- 
zustellen sucht,  in  der  Befähigung!  Die  aus  Ägypten  kommen- 
den drei  Südstämme  Simeon,  Levi  und  Juda  (dazu  Kaleb,  Kain 
und  Jerachmeel)  rücken  von  Süden  ein,  so  daß  das  nördliche 
Israel  und  das  südliche  Juda  bis  zur  vollständigen  Eroberung 
des  Landes  durch  dazwischen  gelegenes  kanaanitisches  Gebiet 
getrennt  waren.  Nach  Wellhausens  Geschichtskonstruktion 
scheinen  die  drei  Südstämme  einen  großen  Einheitsangriff  gegen 
die  Kanaaniter-Ebene  Jezreel  unternommen  zu  haben,  der  mit 
einer  völligen  Niederlage  und  der  Aufreibung  der  Stämme  Simeon 
und  Levi  endet,  während  der  Stamm  Juda  sich  wenigstens  im  Ge- 
birge zu  behaupten  vermag.  Von  hier  wiederholt  er  nach  einigen 
Jahrzehnten  unter  der  Führung  des  Herzogs  Josua  den  Angriff 
auf  die  wirtschaftlich  so  wertvolle  Ebene  und  erringt  durch  den 
Sieg  bei  Gibeon  die  Herrschaft  über  das  mittelpalästinensische 
Gebiet.  Aber  nur  die  ungeschützte  Flur  fällt  in  die  Hände  der 
Eroberer.  Die  befestigten  Städte,  und  mit  ihnen  die  Knoten- 
punkte des  Verkehrs  und  Handels,  blieben  im  Besitz  der  Kana- 
aniter,  die  sich  nach  einigen  Jahrzehnten  unter  der  Führung 
eines  kanaanitischen  Gaufürsten  Sisera  gegen  die  Fremdherr- 
schaft erheben.  Der  Sieg  über  die  kulturjüngeren  und  politisch 
nur  lose  verbundenen  Eindringlinge  scheint  ihnen  sicher.  Aber 
begeistert  durch  die  tyrtäischen  Gesänge  der  Heldin  Debf>rah, 
einigen  sich  die  hebräischen  Stämme  und  schlagen  die  Städte- 
bewohner in  der  großen  Kanaaniterschlacht,  die  das  Deborahlied, 
die  älteste  uns  original  überkommene  Urkunde  der  hebräischen 
Literatur,  besingt.  Aber  auch  nach  diesem  Sieg  blieben  die  kana- 
anitischen Festungen,  „deren  Mauern  durch  Tore  verriegelt 
waren,  und  deren  Zinnen  bis  in  den  Himmel  ragten",  von  den 
kulturschwächeren  Angreifern  unbezwungen.  „Und  nicht  nahm 
Manasse  in  Besitz  Beth-Saon  und  seine  Tochterstädte  und 
Taanach  und  seine  Tochterstädte  und  die  Bewohner  von  Dor 
und  seine  Tochterstädte  und  die  Bewohner  von  Jibleam  und 
seine  Tochterstädte  und  die  Bewohner  von  Meggiddo  und  seine 
Tochterstädte,  und  die  Kanaaniter  setzten  es  durch,  daß  sie  im 
Lande  blieben.  Und  es  geschah,  als  Israel  erstarkte,  da  machte  es 
sich  die  Kanaaniter  zinsbar,  aber  auszutreiben  vermochte  es 
sie  nicht." 

132 


Durch  den  Besitz  der  festen  Plätze  und  Verkehrsstraßen 
blieben  die  Kanaaniter  die  Herren  des  palästinensischen  Durch- 
gangshandels zwischen  dem  babylonischen  Hinterland  und  den 
phönizischen  Küstenstädten.  Sie  waren  im  Gegensatz  zum 
jüdischen  Landbewohner  die  Kaufleute  in  dem  sich  bildenden 
neuen  Staatsverband,  so  daß  das  Wort  Kanaaniter  gleichbe- 
deutend wurde  mit  unserem  heutigen  Großstädter.  Die  Juden 
sind  nicht,  wie  die  moderne  Kritik  in  ihrer  europäischen  Kurz- 
sichtigkeit wähnt  und  der  Welt  zu  beweisen  sucht,  aus 
Rassenanlage  „geborene  Kaufleute"  und  darum  dem  Acker- 
bau abgeneigt,  sondern  waren  in  den  vorexilischen  Zeiten  aus- 
schließlich Herdenbesitzer  und  Bauern  und  verachteten  als 
solche  den  kanaanitischen  Geschäftsmann  genau  so  wie  die 
deutschen  Bauern  des  Mittelalters  den  „Handelsjuden"  der 
Städte.  „Übe  Barmherzigkeit  und  Recht  und  vertraue  auf 
Gott"  ruft  Hosea.  „Was  aber  tut  Jakob  ?  Er  macht  es  wie  der 
Kanaaniter,  in  dessen  Hand  die  falsche  Wage  ist,  die  den 
Fremden  zu  übervorteilen  sucht."  Noch  der  Talmud  warnt 
vor  Handel  und  empfiehlt  die  Landarbeit.  Ebenso  wie  das 
Nomadenleben  keine  Rasseneigentümlichkeit  ist, 
wie  die  Theoretiker  den  Juden  anzudichten  trachten,  um 
sie  zu  Weltzigeunern  zu  degradieren,  sondern  eine  Kultur- 
stufe, die  die  Juden  ebenso  wie  die  Griechen,  Germanen  oder 
Chinesen  durchlaufen,  so  ist  auch  die  Wendung  zum 
Handel  keine  Rasseneigentümlichkeit,  sondern 
ein  Kulturstadium.  Im  vorexilischen  Palästina  waren 
die  Juden  als  die  Kulturjüngeren  die  Bauern  und  die  Kana- 
aniter als  die  Kulturälteren  die  Städter  und  Kaufleute;  im 
Mittelalter  sind  die  des  Schreibens,  Rechnens  und  der  Spra- 
chen einzig  kundigen  Juden  die  Händler  Europas  und  die 
Europäer  die  Bauern  und  Handwerker.  Mit  steigender  Kultur 
haben  die  Europäer  die  agrarische  Wirtschaftsform  verlassen 
und  sich  den  städtischen,  kaufmännischen  und  industriellen 
Gewerben  zugewendet.  Der  „ehrlose  Handel"  mit  Geld,  einst 
das  Stigma  der  Juden  und  bei  7 — 10%  Zinsforderung  —  unter 
mittelalterlichen  Sicherheitsverhältnissen!  —  als  Wucher  ge- 
brandmarkt, ist  unter  den  klingenden  Namen  Kredit-  und 
Aktienwesen  mit  Dividenden  von  30  und  40%  als  „Finanz- 
wirtschaft" das  vornehmste  Metier  der  arischen  Welt  geworden. 

Die  Eroberung  der  festen  Plätze  vollzog  sich  ganz  allmählick 
im  Laufe  von  Jahrhunderten.  Josua  erobert  Jericho,  Abi- 
melech  Sichem,  David  Jerusalem,  Salomo  Geser.     Aber  auch 

133 


diese  Eroberung  der  Städte  führte  nicht  zur  Ausrottung  oder 
Vertreibung  der  kanaanitischen  Bevölkerung.  Selbst  in  dem 
zur  Hauptstadt  erhobenen  Jerusalem  blieben  die  Kanaaniter 
als  Grundbevölkerung  wohnen.  „Die  Jebusiter  (Jebus  ein 
alter  Name  für  die  Festung  Jerusalem)  wohnten  zu  Jeru- 
salem, und  die  Kinder  Judas  konnten  sie  nicht  vertreiben; 
also  blieben  die  Kinder  Judas  zu  Jerusalem  mit  den  Jebusitern 
bis  auf  diesen  Tag."  Voll  Haß  ruft  noch  der  Prophet  Ezechiel 
der  Stadt  Jerusalem  zu:  „Von  Ursprung  und  Geburt  bist  du 
eine  Kanaaniterin ;  dein  Vater  war  ein  Amoriter,  deine  Mutter  eine 
Hethiterin!"  David  muß  die  Tenne,  auf  der  er  den  Tempel  er- 
richtet, von  einem  Kanaaniter  kaufen.  Die  autochthone  Be- 
völkerung wird,  genau  wie  es  aus  der  griechischen  ganz  analogen 
Kolonisationsgeschichte  bekannt  ist ,  erst  zu  Heloten  völlig 
entrechtet,  dann  zu  halbentrechteten  Periöken,  schließlich  zu 
dreiviertelberechtigten  Metöken  erhoben  und  so  allmählich  von 
der  Herrenschicht  aufgesogen.  Begünstigt  wurde  dieser  Assimi- 
lationsprozeß durch  die  ungehemmten  Mischehen.  ,,Also 
wohnten  die  Kinder  Israels  inmitten  der  Kanaaniter,  Hethiter 
und  Amoriter  und  Perisiter  und  Chiviter  und  Jebusiter  und 
nahmen  ihre  Töchter  sich  zu  Weibern  und  ihre  Töchter  gaben 
sie  deren  Söhnen,  und  dienten  ihren  Göttern,  und  sie  taten 
das  Böse  in  den  Augen  des  Ewigen,  vergaßen  ihn  und  bauten 
Altäre  dem  Baal  und  der  Astarte."  Über  das  Verhalten  der 
Sieger  zur  Landesbevölkerung  gab  es  besondere  Bestimmungen. 
„Wenn  du  dich  einer  Stadt  näherst,  sie  zu  bekriegen,  so  fordere 
sie  zur  Unterwerfung  auf.  Wenn  sie  diese  annimmt  und  sich 
dir  öffnet,  so  soll  das  ganze  Volk,  das  darin  vorhanden,  dir 
zinsbar  sein  und  dir  dienen.  Wenn  sie  aber  nicht  Frieden  mit 
dir  schließt,  sondern  dir  Krieg  ansagt,  so  sollst  du  sie  belagern. 
Und  wenn  der  Herr  dein  Gott  sie  in  deine  Hände  gibt,  so  sollst 
du  erschlagen  mit  der  Schärfe  des  Schwertes  alle  ihre  Männer. 
Nur  die  Weiber  und  Kinder  und  das  Vieh  und  alles,  was  in  der 
Stadt  ist,  nimm  als  Beute  für  dich;  und  verzehre  die  Beute 
deiner  Feinde,  auf  daß  sie  euch  nicht  lehren,  all  ihre  Greuel 
zu  tun,  die  sie  für  ihre  Götter  getan,  und  ihr  euch  nicht  ver- 
sündigt gegen  den  Ewigen  euren  Gott." 

Ob  diese  —  sechs  Jahrhunderte  später  fixierten  —  Maß- 
nahmen wirklich  in  dieser  schonungslosen  Grausamkeit  durch- 
geführt wurden,  erscheint  nach  dem  Urteil  vieler  Kritiker  als 
zweifelhaft.  Sie  erblicken  vielmehr  in  diesen  Befehlen  zu  radi- 
kaler Ausrottung  tendenziöse   Nachträge,  die  das  ehrwürdige 

134 


Alter  der  göttlichen  Inzuchtsgesetze,  ihre  strenge  Befolgung  und' 
die  weit  zurückreichende  Rassenreinheit  der  Juden  vor  dem 
Volk  darlegen  und  die  wirklich  vielfach  durchgeführte  Rassen- 
mischung mit  den  Kanaanitern  verdecken  wollen.  Sollten  sie 
aber  wirklich  „mit  der  Schärfe  des  Schwertes"  durchgeführt 
sein,  so  sind  sie  auch  dann  nicht,  wie  Friedrich  Delitzsch  in 
seinem  jüngst  erschienenen  Pamphlet  „Die  große  Täuschung" 
•darzulegen  sucht,  Schandtaten  „raubender  und  mordender  No- 
raaden", die  „sittlich  auf  einer  tiefen  Stufe  stehen",  und  in  ihrer 
„grausigen  Monotonie"  „weder  vor  Menschen  noch  viel  weniger 
vor  Gott  Rechtfertigung  finden",  sondern  sind  nichts  anderes 
als  die  von  allen  Völkern,  von  den  Griechen,  Römern,  Goten, 
Vandalen,  den  Arabern,  Spaniern,  Engländern  durchgeführten 
Methoden  der  Eroberungspolitik,  durch  die  junge  Völker  sich 
ihren  Platz  im  Kreis  der  bestehenden  Zivilisationen  erobern, 
erobern  müssen.  Delitzsch  ist  so  ungemein  stolz  auf  seine 
„christliche  Kultur".  Haben  die  Kreuzfahrer,  die  ins  Gelobte 
Land  zogen,  nicht  „in  grausiger  Monotonie"  als  „raubende  und 
mordende  Nomaden"  in  jeder  Stadt,  wohin  sie  kamen,  die 
„Heiden"  niedergemetzelt?  Und  als  sie  unter  Führung  des 
„edlen  Gottfried  von  Bouillon"  die  heihge  Stadt  eroberten, 
begnügten  sie  sich  nicht  mit  der  Niedermetzelung  der  Türken, 
sondern  sperrten  die  harmlose  kleine  Judengemeinde  in  ihren 
Tempel  und  zündeten  ihn  an,  und  während  drinnen  die  ver- 
brennenden Menschen,  Frauen  und  Kinder,  schrien,  sangen 
draußen  die  edlen  Ritter,  die  nach  Tassos  Heldensang  von 
christlichen  Tugenden  geradezu  triefen,  zu  „Ehren  Christi" 
Halleluja.  Und  glaubt  Herr  Delitzsch,  der  ein  so  ungemein 
treu  ergebener  Anhänger  des  Wilhelminischen  Regimes  gewesen 
ist,  daß  alle  militärischen  Maßnahmen  der  Kriegszeit  —  etwa 
die  Aushungerung  Deutschlands  auf  der  einen,  der  U-Bootkrieg 
auf  der  anderen  Seite,  die  Feiertagsbeschießungen  besetzter  Kir- 
chen, die  Bombenwürfe  auf  Waisenhäuser  usw.  —  „vor  Menschen 
und  nun  gar  vor  Gott  Rechtfertigung  finden"?  Die  Brutalität 
der  altisraelitischen  Kriegführung  wird  von  jenen  vitalen  Not- 
wendigkeiten der  Stunde  diktiert,  die  wie  ein  schicksalhafter 
Zwang  jedes  kriegführende  Volk  zum  Einsatz  aller  ihm  zu 
Gebote  stehenden  Mittel  drängen.  Obendrein  aber  wird  in 
diesem  besonderen  Falle  die  „grausige  Monotonie"  der  Krieg- 
führung durch  das  sittliche  Motiv  entschuldigt,  daß  man  hoffte, 
durch  Ausrottung  der  Fremden,  allem  Götzendienst  der  Welt 
Äum  Trotz,  die  Reinheit  des  jung  begründeten  Monotheismus  zu 

135 


retten.  Und  wie  Regenbögen  über  Gewittergewölk  strahlen  über 
diesen  dunklen  Forderungen  der  Notwendigkeit  andererseits 
wieder  Maximen  einer  Humanität,  die  in  der  ganzen  Antike 
ohne  Beispiel  sind  und  als  ewige  Dokumente  der  Menschlichkeit 
om  Ätherhimmel  der  Ethik  glänzen.  „Wenn  du  ausziehst  zum 
Kriege  gegen  deine  Feinde,  und  der  Ewige  dein  Gott  gibt  sie 
dir  in  deine  Hand,  und  du  machst  Gefangene,  und  du  siehst 
unter  ihnen  ein  Weib,  schön  von  Gestalt,  und  begehrst  sie,  und 
willst  sie  dir  zum  Weibe  nehmen,  so  soll  sie,  nachdem  du  sie  in 
dein  Haus  gebracht,  ihr  Haupthaar  scheren  und  ihre  Nägel 
schneiden  und  das  Gewand  ablegen,  darin  sie  gefangen  wurde, 
und  in  deinem  Hause  bleiben,  um  ihren  Vater  und  ihre  Mutter 
zu  beweinen  einen  Monat  lang;  dann  erst  sollst  du  ihr  nahen 
und  ihr  beiwohnen,  daß  sie  dein  Weib  sei.  Wenn  du  aber  nicht 
mehr  Gefallen  findest  an  ihr,  so  sollst  du  sie  entlassen,  wohin 
sie  immer  will;  aber  um  Geld  verkaufen  sollst  du  sie  nicht. 
Du  sollst  nicht  ein  Weib  als  Sklavin  behandeln,  an  der  du  einmal 
dein  Gefallen  gefunden."  Daß  die  Mischehe  sowohl  mit  der 
kanaanitischen  Urbevölkerung  wie  mit  der  ägyptischen  und 
hethitischen  Beamtenschaft  bis  in  die  höchsten  Kreise  hinauf 
die  durchaus  legale  Form  der  Heirat  war,  beweist  ein  flüchtiger 
Blick  auf  die  Genealogien  der  Zeit.  Abimelech,  der  Eroberer 
Sichems,  ist  der  Sohn  des  nach  dem  kanaanitischen  Landesgott 
benannten  Jerubaal  aus  dem  Stamm  Manasse  und  einer  kana- 
anitischen Patrizierin  aus  Sichem.  Jephta,  der  Besieger  der 
Ammoniter,  ist  der  Sohn  Gileads  und  einer  Kanaaniterin ; 
Simson  heiratet  ein  Phihstermädchen  aus  Timnatah,  David,  der 
Enkel  der  Moabiterin  Ruth,  heiratet  Makka,  die  Tochter  des 
Königs  von  Gessur  und  später  das  Weib  des  Hethiters  Uria;  der 
Sprößling  dieser  Ehe  ist  Salomo,  der  wiederum  eine  konventio- 
nelle Ehe  mit  einer  ägyptischen  Prinzessin  eingeht;  außerdem 
aber  „liebte  er  viele  ausländische  Weiber  neben  der  Tochter 
Pharaos,  Moabiterinnen,  Ammoniterinnen,  Edomiterinnen, 
Hethiterinnen  und  solche  aus  Sidon;  von  jenen  Völkern,  von 
denen  der  Ewige  gesprochen  hatte  zu  den  Kindern  Israels  l 
ihr  sollt  nicht  kommen  unter  sie,  und  sie  sollen  nicht  kommen 
unter  euch,  denn  gewißlich  werden  sie  eure  Herzen  zu  den 
fremden  Göttern  wenden.  An  diesen  hing  Salomo  und  liebte 
sie."  König  Ahab  heiratet  die  sidonische  Prinzessin  Isebel, 
die  Tochter  eines  ehemaligen  Baalpriesters,  und  baut  ihr  zu 
Ehren  in  der  Hauptstadt  von  Israel,  Samaria,  einen  BaaltempeL 
Durch    diese   Mischehen    geht    im   Laufe     der    Jahr- 

136 


hunderte  die  gesamte  kanaanitische  Urbevölke- 
rung in  das  Judentum  ein,  so  daß  das  Jüdische  Volk, 
das  sich  um  dasjahr  1000  v.Chr.  unter  der  Herrschaft 
Davids  und  Salomos  zu  einer  nationalen  Einheit 
konsolidiert,  aus  drei  großen  ethnischen  Komplexen 
zusammensetzt:  1.  den  aus  Ägypten  ausgewan- 
derten Jakobstämmen,  die  aus  den  babylonischen 
Terachiden  und  Abrahamiden  hervorgegangen 
sind  ;  2.  den  aus  Arabien  gekommenen  Israelstäm- 
men, die  anthropologisch  Beduinen  waren,  und 
3.  den  Kanaanitern,  die  eine  ältere  Kulturschicht 
arabischer  Semiten,  vermischt  mit  babylonischen, 
ägyptischen  und  hethitischen  Kulturträgern,  dar- 
stellten. Wirklich  fremde  Rassenelemente  wurden 
folglich  den  Juden  durch  ihre  Vermischung  mit 
den  Kanaanitern  gar  nicht  zugeführt.  Der  schroffe 
Gegensatz,  in  den  Gesetz  und  Tradition  die  Ka- 
naaniter  zu  den  Juden  stellen,  ist  nicht  auf 
rassenbiologische,  sondern  nationalpolitische  und 
religiöse  Tendenzen  zurückzuführen. 

Das  Davidische  Reich  setzt  sich  also,  ähnhch  dem  deutschen, 
aus  verschiedenen  Stämmen  und  Staaten  zusammen,  und  zwar 
aus  dem  Nordreich  Israel,  den  Israeliten,  die  rassengeschichtlich 
Beduinen,  Hebräer  von  der  arabischen  Hochfläche  sind,  und  dem 
Südreich  Juda,  den  Juden,  rassengeschichtlich  in  ihrer  Kernmasse 
Babylonier,  die  zahlreiche  kanaanitische,  hethitische,  ägyp- 
tische und  beduinische  Elemente  in  sich  aufgenommen  haben. 
Die  politische  Einigung  beider  Reiche  ist  in  Wahrheit  nur  eine 
kurze  und  äußerliche.  Auch  die  Mischung  durch  Ehen  ist, 
sowohl  nach  Zahl  wie  rassenbiologischer  Bedeutung,  nicht  hoch 
anzuschlagen  —  namentlich  für  die  Geschichte  der  Juden,  da 
Mischehen  zwar  den  Israeliten,  nicht  aber  den  Juden  fremd- 
rassige Elemente  zuführten,  sondern  nur  die  auf  der  Sinaihalb- 
insel begonnene  Arabisierung  des  jüdischen  Volkes  fortsetzten 
und  zu  Ende  führten. 

Uas  Jahr  1000  v.  Chr.  bedeutet  für  die  Geschichte  der 
weißen  Rasse  ein  Kapitel-Ende;  die  Historie  schlägt  ein  neues 
Blatt  im  Buch  der  Menschheit  auf,  und  an  Stelle  des  semi- 
tischen Porträts  leuchtet  uns  ein  neuer  Kopf  entgegen:  der 
„Arier".  Die  große  kanaanitische  Völkerflut  von  Ost  nach  West 
ist  im  Verebben;  und  nun  rollt  als  Gegenwelle  von  West  nach 

137 


Ost  die  gewaltige  Woge  nordischer  Völker  daher.  Wie  Samum- 
stürme über  die  Wüste  fegen  in  diesen  Jahrhunderten  aus  Zentral- 
asien und  Südrußland  über  Vorderasien,  Pontus  und  die  Krim, 
über  den  Balkan  und  die  Ägeis  die  nimmer  enden  wollenden 
Scharen  arischer  Reitervölker,  Kimmerier,  Skythen,  Sarmaten, 
mit  Pfeil  und  Bogen  bewaffnet,  Weib  und  Kind  und  geplündertes 
Gut  auf  riesigen  Ochsenkarren  hinter  sich  ziehend.  In  ihrer  großen 
al-frcsco-Manier  der  Sprache  malen  die  jüdischen  Propheten  das 
schaurig-schöne  Bild  dieser  hinfegenden  Heere,  in  denen  sie 
die  gottgosandte  Geißel  für  Babylon  und  Assur  erblicken. 
Nirgends  in  der  Weltliteratur  haben  die  Wanderarier  Maler 
von  gleicher  Glut  der  Farbe  und  Kraft  des  Striches  gefunden 
wie  in  den  jüdischen  Propheten.  „Ein  Panier",  singt  Jesaia, 
„läßt  der  Ewige  daherwehen  von  den  Enden  der  Erde,  und 
sielic,  in  eilender  Schnelle  kommt  es  daher,  kein  Müder  noch 
Strnnrhclndcr  ist  in  ihm,  von  ihnen  geht  auf  der  Gurt  seiner 
Lenden  oder  der  Riemen  seiner  Schuhe;  geschärft  sind  seine 
Pfeile  und  seine  Bögen  gespannt  allesamt!  Wie  Kiesel  stieben 
die  Hufe  seiner  Rosse  und  seine  Räder  wie  die  Windsbraut, 
sein  Brüllen  ist  wie  das  Schreien  der  Löwin,  und  seine  Jungen, 
wie  junge  Löwen  brüllen  sie.  Mit  grimmer  Klaue  faßt  es  seine 
Beute,  und  was  es  gepackt,  errettet  sich  nimmer."  Ebenso 
plastisch -dramatisch  werden  sie  von  Habakuk  beschrieben: 
„Denn  fürwahr,  ich  lasse  erstehen  das  grimmige  und  schnelle 
Volk,  das  die  Breiten  der  Erde  durchschweift,  um  fremde 
Sitze  zu  erobern,  schrecklich  und  furchtbar  ist  es,  kein  Recht 
des  Anderen  achtet  es;  sich  selber  gibt  es  sein  Gesetz.  Seine 
Rosse  sind  schneller  als  Panther  und  kühner  als  Wölfe  am 
Abend.  Seine  Reiter  sprengen  daher,  Adlern  gleich  jagen  sie, 
die  ihre  Opfer  verfolgen  ..." 

Als  eine  der  frühesten  Wellen  dieser  indogermanischen  Über- 
schwemmung, der  1180  v.  Chr.  als  erstes  der  asiatischen  Reiche 
der  nördlich  gelegene  Hethiterstaat  zum  Opfer  fällt,  landen 
kurz  vor  1200  als  eines  der  sogenannten  „Seevölker"  die  Phi- 
lister an  den  syrischen  Küsten.  Als  Heimatland  der  Philister, 
ägyptisch  PuHsati,  hebräisch  PeHschtim,  wird  Kaphtor  genannt, 
worin  die  Gelehrten  Kreta  vermuten.  Danach  wären  die  Phi- 
lister, wofür  auch  die  zwar  äußerst  spärlichen  und  noch  durch- 
aus nicht  einwandfrei  rekognoszierten  Kulturreste  sprechen, 
als  Arier  des  ägeisch-mykenischen  Kreises  zu  betrachten.  Von 
den  Ägyptern  zurückgeschlagen,  gründen  sie  an  der  phöni- 
zischen  Küste  das  Phihsterreich  der  fünf  Städte  Gaza,  Askalon, 

138 


Asdod,  Gath  und  Ekron.  Von  hier  suchen  sie  das  Hinterland 
zu  gewinnen  und  geraten  dadurch  mit  den  Hebräerstämmen, 
die  um  eben  diese  Zeit  aus  entgegengesetzter  Richtung  von  der 
Wüste  her  die  kostbare  Ebene  erstreben,  in  Konflikt.  Es  ent- 
spinnen sich  nun  zwischen  den  Hebräern  und  Philistern  —  um 
den  Besitz  des  von  den  Kanaanitern  kultivierten  Landes!  — 
jene  erbitterten  Kriege,  in  deren  Feuer  die  jungen  Stämme  zu- 
sammengeschmiedet, mit  deren  Blut  der  heilige  Bund  besiegelt 
wird.  Zuerst  waren  die  mihtärisch  trefflich  gerüsteten,  in  Panzer 
und  Streitwagen  daherziehenden  Philister  den  unerfahrenen 
Steppenwanderern  weit  überlegen.  Bis  tief  ins  Hinterland 
unterwerfen  sie  die  eben  ansässig  Gewordenen  und  herrschen 
75  Jahre  über  Israel.  Selbst  die  heilige  Lade  fällt  in  einer 
unglücklichen  Schlacht  in  die  Hand  der  Feinde.  Unter  Saul 
beginnt  dann  die  große  Erhebung.  Er  versteht  es,  die  Nord- 
stämme zum  Reich  Israel  zu  vereinigen,  fällt  aber  selbst  mit 
Jonathan,  der  seine  Heldenlaufbahn  mit  der  Erschlagung  des 
Phihstervogtes  von  Gibea  begonnen  hatte,  in  der  unglücklichen 
Schlacht  am  Berge  Gilboa.  Nun  übernimmt  der  Fürst  des  Süd- 
staates Juda,  David,  der  ursprünglich  als  Fürst  von  Kaleb  ebenfalls 
ein  Vasall  der  Philister  gewesen,  die  Führung,  erringt  durch 
seine  militärischen  Erfolge  die  Hegemonie  unter  den  hebräischen 
Stämmen  und  vereinigt  nun  Nord-  und  Südstaaten  unter  der 
Führung  Judas  zu  dem  Davidischen  Einheitsreich  Israel- Juda. 
In  diesen  und  den  folgenden  Zeiten  findet  zwischen  Juden 
und  Philistern  eine  ausgiebige  Rassenmischung  statt.  Schon 
in  den  mehrhundertjährigen  Kriegen  sind  sicher  zahllose  Kriegs- 
gefangene als  Sklaven  und  Sklavinnen  in  die  jüdische  Gemein- 
schaft aufgenommen  worden.  David  hielt  sich,  genau  wie  es 
später  die  Römer  bei  ihren  Kämpfen  gegen  die  Germanen 
taten,  philistäische  Kerntruppen,  „Krethi  und  Plethi",  um  dem 
überlegeneren  Gegner  ebenbürtige,  auf  seine  Kampfmethoden 
«ingeübte  Krieger  entgegenzustellen  und  seine  eigenen  Truppen 
mit  der  fremden  Kampfesweise  vertraut  zu  machen,  so  wie 
ihrerseits  die  Philister  sich  hebräischer  Söldner  bedienten.  Als 
sich  schließlich  der  Kampf  in  einer  Art  Remis  dahin  entschied, 
daß  die  Juden  auf  das  Binnenland,  die  PhiHster  auf  den  Küsten- 
strich beschränkt  blieben,  begannen  die  friedlichen  Beziehungen 
und  mit  ihnen  die  Mischehen  im  großen  Maßstab.  Als  Nehemia, 
600  Jahre  nach  den  Philistersiegen  Sauls  und  Davids,  im  Jahre 
424  die  nachexilische  jüdische  Kolonie  in  Palästina  besucht, 
sah  er  „in  selbigen  Tagen  Jehudim,  die  heimgeführt  hatten 

139 


Weiber  von  Asdod  (Philisterland),  Ammon  und  Moab,  deren 
lünder  zum  Teil  asdodisch  oder  die  Sprache  eines  anderen 
Stammes  redeten"  —  über  ein  halbes  Jahrtausend  also  währte 
der  Zufluß  phihstäischer  Elemente.  Bedenkt  man,  daß  die 
Zahl  der  von  Esra  vorgefundenen  Juden  sich  auf  allerhöchstens 
einige  Hunderttausend  belief  —  60  000  waren  ja  nur  aus  Baby- 
lon zurückgewandert  — ,  so  erscheint  diese  Mischung  gerade 
in  diesen  kritischen  Zeiten  der  Regeneration  für  die  spätere 
Rassenkomplexion  der  Juden  ganz  besonders  folgenschwer. 
Durch  die  Philister  ist  vermutlich  das  nordische 
Element  —  Blondheit,  Blauäugigkeit,  hoher  Wuchs  —  in 
den  Rassenkomplex  des  jüdischen  Volkes  getreten. 
Zwar  sind  die  Philister  nicht  die  einzige  Quelle  „germanischen"" 
Blutes  geblieben;  aber  durch  die  Frühgeschichtlichkeit,  die 
Dauer  des  Zustromes,  die  Geringzahl  der  Juden  und  die  Gegen- 
sätzlichkeit des  Rassencharakters  hat  die  Mischung  mit  den  Phi- 
listern mehr  als  jede  andere  sich  tief  und  unauslöschlich  in  die 
Rassenphysiognomie  der  Juden  eingegraben.  Auf  sie  ist 
wohl  in  erster  Linie  der  noch  heute  unter  den  Juden 
so  auffallende  germanische  Einschlag  (etwa  10%  der 
jüdischen  Rassenmerkmale)   zurückzuführen. 

JJie  große  Windstille  um  das  Jahr  1000  v.  Chr.,  die  die  kleinen 
Vögel  auf  den  Zweigen  dazu  benutzt  hatten  auch  einmal  zu 
zwitschern,  war  nur  die  Pause  zwischen  zwei  Stürmen  gewesen. 
Bald  fegten  von  neuem  in  Blitz  und  Donner  die  Ungewitter 
der  Geschichte  über  Vorderasien  und  knickten  alle  jungen 
Reiser  und  Blüten.  Auch  Israel  und  Juda  sanken  zu  Boden. 
Mit  seinem  alles  zerstampfenden  Gigantenfuß  zertrat  das  ge- 
fräßige Ungetüm  Babel  auch  „Jakob,  den  Wurm  im  Staube". 
734  besetzt  Tiglat-Pileser  das  flache  Land  des  Nordreiches  Israel 
und  deportiert  die  Hauptmasse  seiner  Bevölkerung ;  721  zerstört 
Sargon  II.  die  widerspenstige  Hauptstadt  des  Nordreichs  Sa- 
maria  und  entführt  27  280  Edle  in  eine  ferne  assyrische  Provinz. 
An  ihrer  Stelle  werden  Rebellen  aus  einem  entgegengesetzten 
Teil  des  babylonischen  Reiches  in  Samaria  angesiedelt.  Dieses^ 
ist  das  Ende  des  Reiches  Israel  und  der  Untergang  der  „Zehn 
Stämme".  Die  deportierten  Israeliten  sind  verschwunden,  wie 
fast  alle  Völker  des  orientalischen  Altertums  untergegangen 
in  dem  Strudel  der  Geschichte.  Man  hat  nach  ihnen  in  allen. 
Weltteilen  gefahndet.  Wozu?  Kann  man  nach  Tinte  fischen^ 
die  in  einen  Bach  geflossen? 

140 


Ein  Rest  von  Besitzlosen  und  Versprengten,  die  des  Weg- 
führens  nicht  wert  erschienen,  blieb  zurück.  Aus  ihnen  gingen 
durch  Mischung  mit  den  angesiedelten  babylonischen  Straf- 
kolonisten die  Samaritaner  hervor,  die  sich,  als  unbedeu- 
tende Kolonie  von  den  Eroberern  verschont,  durch  allen 
Wechsel  der  Geschichte  bis  auf  den  heutigen  Tag  gleich  einem 
Eiland  in  dem  brandenden  Meer  der  Völker  erhalten  haben. 
Durch  Religionsgesetze  abgeschlossen  und  auf  Inzucht  an- 
gewiesen, sind  sie  heute,  ähnlich  den  aussterbenden  Indianern 
in  Amerika,  auf  einige  spärliche  Reste,  etwa  150  Individuen, 
zusammengeschmolzen.  Die  Anthropologen  haben  diesen  fos- 
silen Rest  des  alten  Israel  begreiflicherweise  mit  besonderem 
Interesse  untersucht  und  festgestellt,  daß  die  Samaritaner  mit 
dem  Typus  des  modernen  Juden  in  den  wesentlichsten  Punkten 
vollkommen  übereinstimmen.  Nur  in  zweien  weichen  sie  ab. 
Sie  sind  erstens  größer,  woraus  man  schließen  kann,  daß  das 
heutige  Mindermaß  der  Juden  auf  die  Ghetto-Degeneration 
und  nicht  auf  eine  Rasseneigentümlichkeit  zurückzuführen  ist; 
zweitens  sind  sie  ausgesprochen  langköpfig,  woraus  sich  folgern 
läßt,  daß  die  Juden  damals,  wie  die  heutigen  Araber  und  die 
alten  Germanen,  eine  langschädelige  Rasse  repräsentierten,  die 
mit  der  Intensität  der  Kultur  und  namentlich  der  geistigen 
Betätigung  sich  allmählich  zu  einer  rundköpfigen  umgewandelt 
hat,  wie  sich  dies  bei  allen  modernen  Kulturvölkern  der  Neuzeit 
als  einheitlich  biologisches  Gesetz  zu  vollziehen  scheint. 

Durch  den  Untergang  der  10  Stämme  ist  vom 
einstigen  israelitisch- jüdischen  Volk  einzig  der 
Stamm  Juda  (nebst  einem  Teil  vom  Stamme  Benjamin) 
übrig  geblieben.  Die  heutigen  Juden  sind  keine  „Israeliten", 
sondern  die  Nachkommen  dieses  einen  Stammes  Juda,  der  im 
Gegensatz  zu  den  Israeliten,  die  wie  die  Ammoniter  und  Edo- 
miter  Habiri  =  Hebräer  der  arabischen  Hochfläche  gewesen, 
aus  der  Gruppe  der  ägyptischen  Auswanderer  hervorgegangen 
sind.  Die  heutigen  Juden  sind  vorwiegend  die  Nach- 
kommen der  ausBabylonien  gepilgerten  Terachiden, 
in  Kanaan  ansässigen  Abrahamiden  und  in  Ägypten 
gewesenen  Jakobiden. 

Der  Stamm  Juda  kam  als  letzter  nach  Kanaan,  kam  von 
Süden  und  saß  im  südlichsten  Teil  von  Palästina.  Da  der  nörd- 
liche Teil  von  den  Hethitern,  der  südliche  hingegen  mehr  von 
den  Philistern  durchsetzt  war,  so  ist  anzunehmen,  daß  er  sich 
weniger  als  seine  Bruderstämme  mit  den  armenischen  Hethi- 

141 


lern  als  vielmehr  mit  den  nordischen  Philistern  gemischt  hat. 
Daß  der  Stamm  Juda,  wie  es  Chamberlain  darlegt,  „politisch, 
sozial  und  religiös  im  Schlepptau  des  offenbar  viel  begabteren 
Israel*'  geschwommen  sei,  „von  Beginn  an  als  ein  sittenloser 
imd  aus  Blutschande  hervorgegangener  Stamm  dargestellt 
wird",  der  sich  „durch  Schöpferkraft  selbst  auf  dem  beschränkten 
religiös-gesetzgeberischen  Gebiet  nie  ausgezeichnet  hat  und 
selbst  sein  Eigenstes  entlehnt  hat",  daß  ,,also  alles  Schöpferische 
in  den  wesentlichsten  Stücken  israelitisches  Werk,  nicht  das 
Werk  Judas"  gewesen  sei  und  daß  folglich  —  quod  erat  demon- 
strandum —  die  heutigen  Juden  die  minderwertigsten  Elemente 
des  schon  an  und  für  sich  so  minderwertigen  alt  jüdischen  Volkes 
repräsentieren,  beruht  auf  ebenso  bewußten  Entstellungen  wie 
gröblichen  Verkennungen  der  klarsten  Tatsachen.  Mit  einer 
solchen  Argumentation  kann  vielleicht  ein  Redner  in  einer 
Volksversammlung  Beifall  erringen,  aber  in  einem  großange- 
legten Werk  vorgetragen,  vermag  sie  nur  ein  so  vernichtendes 
Urteil  zu  zeitigen  wie  jenes,  das  Friedrich  Hertz  in  seinem  geist- 
vollen Buch  „Moderne  Rassentheorien"  über  Chamberlain  ge- 
fällt hat,  daß  nämlich  „seine  hochmütige  Unwissenheit  auf 
sämtlichen  von  ihm  behandelten  Gebieten  nur  durch  seine 
Kritiklosigkeit  und  Gehässigkeit  übertroffen  wird".  Alle  In- 
dizien, die  Chamberlain  vorbringt,  fußen  auf  der  von  ihm 
gefhssentlich  übergangenen  Tatsache,  daß  Juda  eben  der 
jüngste,  etwa  um  150  Jahre  hinter  den  Israelstämmen  in  der 
Kultur  zurückstehende  Staat  ist.  Daher  nimmt  zwar  das  König- 
tum seinen  Anfang  in  Israel  unter  Saul,  erreicht  aber  seine  Blüte 
in  Juda  unter  David  und  Salomo,  daher  sind  zwar  die  ältesten 
Propheten  Israehten,  alle  großen  aber,  deren  Worte  in  den 
„Schriftpropheten"  der  Nachwelt  überliefert  sind,  waren  mit 
Ausnahme  des  Juda  nahestehenden  Benjaminiten  Hosea  Juden. 
Aus  dem  Kreise  der  Juden  sind  das  Deuteronomium  und  der 
Priesterkodex,  sind  die  Psalmen  und  Sprüche,  Hiob  und  Hohe 
Lied  und  die  Dokumente  des  Neuen  Testaments  hervorgegangen. 
Nach  Wellhausen,  den  Chamberlain  so  gern  zitiert,  wenn  es  ihm 
paßt,  und  ebenso  konsequent  ignoriert,  wenn  seine  Ansichten  ihm 
unbequem  sind,  waren  die  Juden  ,, schon  vor  dem  Exil  von  ihren 
Nachbarn  und  Völkern  gehaßt  und  verfolgt  wie  der  weiße  Rabe  von 
dem  schwarzen,  weil  sie  etwas  anderes  und  besseres  sein  wollten". 

Ivnapp  150  Jahre  nach  dem  Untergang  Israels  ereilt  das  gleiche 
Schicksal  Juda.   597  v.  Chr.  verwüstet  Nebukadnezar  das  Land 

142 


und  deportiert  10000  aus  Adel  und  Hofkreisen;  11  Jahre  später 
>vird  die  rebellische  Stadt  zerstört  und  nun  vollständig  evakuiert. 
Die  Zahl  der  deportierten  Juden  gibt  der  Augenzeuge  Jeremia 
auf  6400  an,  eine  wohl  viel  zu  tief  gegriffene  Summe;  auf 
40000  schätzt  sie,  wohl  der  Wahrheit  nahe  kommend,  der  Histo- 
riker Eduard  Meyer.  Die  Öde  eines  durch  Deportation  ent- 
völkerten Landes  schildert  eine  Urkunde  Sardanapals  in  fast 
sentimentaler  Melancholie:  „Die  Stimmen  der  Menschen,  das 
Stampfen  der  Rinder  und  Schafe,  das  Erklingen  froher  Musik 
schloß  ich  von  seinen  Feldern  aus;  Wildesel,  Gazellen  und 
alles  Getier  des  Feldes  ließ  ich  in  ihnen  lagern." 

Während  das  Nordreich  Samaria  von  den  Assyrern  in  eine 
Strafkolonie  verwandelt  worden  und  damit  für  die  Israeliten 
hoffnungslos  verloren  war,  blieb  Judäa  unbesiedelt,  und  so 
konnte  das  deportierte  Volk  mit  seinen  Ketten  auch  die  Hoff- 
nung nach  Babylon  tragen,  dereinst  seine  Heimat  neu  be- 
ziehen zu  dürfen.  49  Jahre  nach  Beginn  der  Gefangenschaft, 
als  eben  noch  die  Letzten  der  jerusalemi tischen  Generation  am 
Leben  waren  und  die  unvermeidliche  Assimilation  in  den 
Herzen  der  Exulanten  noch  nicht  über  Nationalgefühl  und 
Heimatsehnsucht  die  Oberhand  gewonnen  hatte,  ging  diese 
Hoffnung  mit  der  Zerstörung  des  Chaldäerreiches  durch  Cyriis 
in  Erfüllung. 

Das  babylonische  Exil  ist  sowohl  rassen-  wie  kulturgeschicht- 
lich der  große  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  Juden.  Es 
ist  die  Peripetie  im  Drama,  in  der  der  Held  in  tiefste  Schuld 
und  Schmach  versinkt,  um  sich  geläutert  zu  erheben.  Ge- 
richtet —  gerettet!  Durch  den  Untergang  der  10  Nordstämme 
war  Judäa  auf  sich  selbst  gestellt.  Nun  war  es  nicht  mehr  ein 
Stamm  unter  Stämmen,  sondern  ein  inmitten  einer  feindlichen 
Welt  auf  sich  selbst  gestelltes  Völkchen  mit  einem  Gott,  einer 
Religion,  einer  Nationalidee,  die  niemand  mit  ihm  teilte.  So 
hatte  schon  das  Jahrhundert  vor  dem  Exil  —  das  Jahrhundert 
der  großen  Propheten  —  stark  nationahsierend  gewirkt.  Aber 
noch  war  das  junge  Kolonistenvolk  mit  tausend  Fasern  ver- 
wurzelt in  der  altkanaanitischen  Heidenkultur  des  Landes. 
Nun  wurde  es  mit  Gewalt  von  den  Kultstätten  der  kanaaniti- 
schen  Götter,  von  seiner  Zionsburg,  die  nach  der  naiven  Volks- 
vorstellung der  unbezwingbare  Bergsitz  Gottes  war,  vom  Schau- 
platz seines  politischen,  religiösen  und  sozialen  Ringens  hin- 
weggenommen und  wie  eine  Heiderose  in  den  Kulturgarten 
Babel  getragen.    Hier  nun  lebte  das  Volk,  allen  Beziehungen 

143 


xiir  Umwelt  entrissen,  ein  halbes  Jahrhundert  ganz  und  gar 
in  sich  gesponnen  —  ein  Gefangener,  der  hinter  Kerkermauern 
zu  Einkehr  und  Umkehr  sich  in  den  Sinn  seines  Daseins  ver- 
senkt. Das  babylonische  Exil  ist  die  Puppenzeit,  die  Meta- 
morphose in  der  Geschichte  der  Juden.  Die  kanaanitisch- 
hebräische  Larve  spann  sich  ein,  und  aus  der  Hülle  breitete 
nach  50  Jahren  innerer  Wandlung  Juda  seine  mit  den  heiligen 
Zeichen  gezierten  Schwingen.  Aus  Jahwe,  der  auf  dem  Zions- 
berg  seinen  Sitz  gehabt  und  dem  man  die  gefangenen  Könige 
der  Feinde  geopfert,  der  als  Nationalgott  ein  Gott  gewesen  unter 
Göttern,  denen  man  als  Schirmherren  der  Bundesgenossen  neben 
ihm  in  Jerusalem  Opfer  brachte,  dessen  Machtsphäre  wie  die 
eines  Königs  von  den  Grenzen  des  Landes  beschränkt  war  und 
dem  man  sich  nicht  anderwärts  nahen  konnte  als  vor  seinem 
Wolkensitz  zu  Zion  —  aus  diesem  Duodezfürsten  des  Himmels 
wurde  der  Herr  der  Welt.  Gott  Zebaoth,  dessen  Allheit  und 
Einheit  kein  Bildnis  faßt  und  kein  Name  nennt,  dessen  Macht 
keine  Grenzen  kennt  und  dessen  Huld  kein  Ende  weiß,  dessen 
Opfer  nicht  die  Lenden  der  Schlachttiere,  sondern  zerknirschte 
Herzen  und  zerrissene  Seelen  sind.  „Wozu  mir  die  Menge 
€urer  Opfer?  Satt  bin  ich  der  Widder  und  des  Fettes  eurer 
Schafe,  und  das  Blut  eurer  Farren  widert  mich  an.  Über- 
drüssig bin  ich  eurer  Monde,  und  eure  Feste  hasse  ich,  eine  Bürde 
sind  sie  mir  geworden,  ich  bin  müde  sie  zu  tragen.  Waschet 
€uch  von  euren  Sünden,  schaffet  fort  euren  Frevel,  lernet  Gutes 
tun  und  trachtet  nach  Wohltat,  tuet  Abbruch  der  Gewalt, 
sprechet  Recht  den  Waisen  und  führet  die  Sache  der  Witwen... 
Was  können  Opfer  mir  sein?  Da  Völker  vor  mir  sind  wie  die 
Tropfen  am  Eimer  und  der  Staub  an  der  Wagschale  ?  Siehe,  die 
Eilande  wehen  vor  mir  dahin  wie  der  Staub  im  Winde.  Der 
Libanon  reicht  mir  nicht  zum  Holzscheit  und  sein  Wild  nicht 
zur  Hekatombe.  Ein  Nichts  seid  ihr  vor  mir,  ja  weniger  als 
Nichts,  Leere,  wie  Heuschrecken  sind  vor  mir  die  Bewohner 
der  Erde  —  sie  dorren  dahin  vor  meinem  Hauche  .  .  .  Vor  mir 
ward  kein  Gott  gebildet  und  nach  mir  wird  kein  anderer  sein, 
Ich  bin  der  Ewige,  Ich,  und  niemand  außer  mir  ..."  Aus  dem 
Opferkult  am  Zionsberge  wurde  in  der  großen  Buße  zu  Babel 
der  ethische  Monotheismus  der  Propheten.  An  die 
Stelle  der  Gabe  trat  das  Gebet,  an  den  Platz  der  Handlung 
die  Empfindung  —  der  Geist  errang  seinen  Sieg  über  die  Materie. 
In  Babylon  verharrten  die  zwangsweise  angesiedelten  Juden 
keineswegs  in  stummer  Resignation,  sondern  paßten  sich  rasch 

144 


dem  neuen  Milieu  an  und  wurden  tätige  Glieder  der  babylo- 
nischen Gesellschaft.  Zahlreiche  Juden  verließen,  vom  Glanz 
der  Städte  gelockt,  den  Ansiedlungsrayon  und  stiegen  dank 
ihrer  Rührigkeit  in  den  Residenzen  zu  Ämtern  und  Würden 
empor.  Hier  in  Babylon  treten  uns  die  Juden  zum  ersten  Mal 
als  Kaufleute  entgegen,  und  zwar  gleich  als  Inhaber  be- 
deutender Firmen.  Im  babylonischen  Exil  vollzog  sich  durch 
die  Losreißung  von  der  Scholle,  die  Berührung  mit  dem 
Großstadtleben  und  die  Aneignung  der  höheren  Kultur- 
fähigkeiten unter  den  Juden  der  Übergang  vom  Bauernstand 
zu  den  Handelsberufen  —  keine  Rassen-  sondern  eine  Milieu- 
erscheinung. 

Hand  in  Hand  mit  der  Assimilation  an  das  babylonische 
Kulturleben  ging  naturgemäß  die  Abkehr  von  der  patriarcha- 
lischen Lebensführung  der  Väter.  Aber  so  wenig  wie  1000  Jahre 
später  die  stürmische  Geschichte  Europas  vermochte  das  bewegte 
Leben  Babyloniens  das  Eiland  Juda,  das  das  Schicksal  mitten 
in  seine  Wogen  getragen,  zu  zerwaschen.  Nur  Sand  und 
Bröckel  fielen  ab,  der  harte  Stein  hielt  stand.  Mochten 
noch  so  viele  nach  den  höchsten  Würden  geizen  und,  wie 
€s  die  Keilschrifttafeln  lehren,  als  Hofbeamte,  Bankiers,  Han- 
delsherren ihre  hebräischen  Namen  mit  babylonischen  ver- 
tauschen, der  Stamm  hielt  treu  an  Juda  und  Jerusalem.  „An 
den  Wassern  Babels  saßen  wir  und  weinten,  wenn  wir  Zions 
dachten  .  .  .  Eh'  soll  uns  die  Rechte  dorren,  eh'  wir  dein 
vergäßen,  und  die  Zunge  uns  am  Gaumen  kleben,  wenn  wir 
deiner  nicht  mehr  sprächen,  Jerusalem!"  Und  als  Cyrus,  der 
Zerschmetterer  Babylons,  die  Erlaubnis  gab  zur  Rückkehr, 
da  machten  sich  ungefähr  ebensoviele  wie  vor  50  Jahren  als 
Sklaven  eingezogen  waren,  als  freie  Männer  auf  und  verließen 
die  reichen  Städte,  die  sicheren  Positionen,  die  blühenden 
Kolonien,  um  in  das  Land  ihrer  Väter  zurückzukehren,  das 
indes  zu  einer  Wüstenei,  zu  einem  Tummelplatz  von  Beduinen- 
horden, einem  Blachfeld  für  Löwen  und  Schakale,  einer  Trüm- 
merstätte von  zerfallenen  Tempeln  und  versiegten  Brunnen 
geworden  war  —  ein  grandioses  Schauspiel  von  „Glaube  und 
Heimat".  Und  gewißlich  waren  es  —  und  hierin  liegt  eine  der 
Bedeutungen  dieses  Auszuges  für  die  Rassengeschichte  —  nicht 
die  Schlechtesten,  die  sich  aus  den  Armen  der  babylonischen 
Armida  rissen.  Es  war  eine  Auslese !  Die  Rückkehr  von  42  000 
Juden  aus  den  gesegneten  Gefilden  Babyloniens  zu  den  Ruinen 
Jerusalems  ist  die  Manifestation  eines  heroischen  Idealismus, 

.10    Kahn,  Die  Juden.  145 


die  in  der  Wagschale  des  Urteils  über  den  Rassenwert  der  da- 
maligen Juden  alle  Chamberlain'schen  Klügeleien  über  die 
blutschänderische  Bastardnatur,  das  Rassenschuldbewußtsein 
und  die  angeblich  doktrinäre  Gewaltsamkeit  dieser  staatlich- 
religiösen Restitution  aufhebt,  als  würde  gegen  ein  Häuflein 
Spatzenfedern  in  eine  Wagschale  eine  Bleikugel  geworfen. 

Die  Zustände,  die  die  Exulanten  bei  ihrer  Rückkehr  fanden, 
waren  trostlos.  Von  allen  Seiten  waren  Freibeuter  in  die  ent- 
völkerte Landschaft  eingefallen,  von  Norden  die  Phönizier, 
von  Westen  die  Philister,  von  Süden  die  Edomiter,  von  Osten 
die  Beduinen  der  arabischen  Wüste.  In  zäher  Arbeit  mußte 
ihnen  das  Land  entrungen  werden.  Nolens  volens  trat  man 
nach  anfänglichen  Gegensätzen  zu  den  Fremden  in  friedliche 
Beziehungen;  immer  häufigere  Mischehen  waren  die  Folge, 
und  80  Jahre  später  drohte  die  Kolonie  wie  ein  Steckling  zwi- 
schen Unkraut  in  dem  Völkergestrüpp  erdrosselt  zu  werden. 
Mit  Sorgen  verfolgten  die  Juden  Babylons  das  Schicksal  des- 
Mutterlandes  und  sandten  ihm  unter  der  Führung  des  Prie- 
sters Esra  reiche  Mittel  und  1600  neue  Kolonisten.  Bekümmert 
muß  dieser  konstatieren:  „Nicht  haben  sich  abgesondert  das 
Volk  von  Israel  und  die  Priester  und  die  Leviten  von  den  Völ- 
kern der  fremden  Länder,  ungeachtet  ihrer  Greuel,  von  den 
Kanaanitern,  Hethitern,  Perisitern,  Jebusitern,  Ammonitern, 
Moabitern,  Ägyptern  und  Amoritern.  Sondern  sie  haben  ihre 
Töchter  für  sich  genommen  und  ihre  Söhne,  daß  der  heilige 
Stamm  sich  mischte  mit  den  Völkern  der  fremden  Länder. 
Und  die  Oberen  und  Fürsten  waren  die  Ersten  bei  dieser  Un- 
treue." In  genialer  Erkenntnis  des  Problems  setzt  Esra  in 
einer  Volksversammlung  den  Beschluß  durch,  daß  sämtliche 
Mischehen  gelöst  und  alle  fremden  Frauen  und  Bastardkinder 
aus  der  jüdischen  Gemeinschaft  ausgestoßen  werden.  Nach 
feierlicher  Eidesleistung  wird  eine  Kommission  ernannt,  deren 
Mitglieder  in  den  einzelnen  Distrikten  für  die  Durchführung 
der  Maßregel  Sorge  tragen.  „Und  sie  vollendeten  es  an 
allen  Männern,  die  fremde  Weiber  heimgeführt  hatten"  — 
eine  in  der  Geschichte  der  Völker  einzigartige 
Großtat  bewußter  Rassenzucht,  die  das  jüdische 
Volk  nicht  nur  vor  dem  damals  drohenden  Un- 
tergang gerettet,  sondern  durch  ihren  weiter 
wirkenden  Geist  als  einziges  von  allen  antiken 
Kulturvölkern  bis  auf  den  heutigen  Tag  in 
seiner    spezifischen    Eigenart   erhalten   hat.      Mit 

146 


dieser  rassenbiologischen  Glanzleistung  der  Misch- 
ehenverdammnis durch  Esra  und  Nehemia  endet 
als  erster  Abschnitt  in  der  Rassengeschichte  des 
jüdischen  Volkes  die  Periode  der  Rassenkreuzung 
durch  Mischehen.  Mischehen  sind  auch  fernerhin  nichts 
Seltenes,  aber  ihr  Charakter  ist  ein  anderer.  Die  Mischehe 
der  vorexilischen  Zeit  ist  eine  legitime  Form  des  Connu- 
biums.  Sie  ist  die  Ehe  des  Königs  wie  des  Knechtes.  Die 
Nachkommen  dieser  Ehen  werden  zum  großen  Teil  sofort  oder 
später  ins  Judentum  aufgenommen.  Die  Mischehe  der  nach- 
exilischen  Zeit  ist  gesetzlich  und  gesellschaftlich  verpönt.  Sie 
ist  ein  Abfall  und  zumeist  von  dem  Austritt  des  jüdischen  Elters 
oder  der  in  der  Ehe  gezeugten  Kinder  begleitet.  Die  vorexili- 
schen Mischehen  sind  Infusionen,  die  nachexilischen  Aderlässe. 

IVlit  dem  Ende  der  Mischehen  ist  aber  nicht  das  Ende  der 
Mischung  erreicht,  sondern  es  setzt  eine  neue  Form  der  Rassen- 
kreuzung ein:  der  Proselytismus.D  asZeitalterdesProselytis- 
mus  ist  nach  der  Periode  der  Mischehen  der  zweite  Ab- 
schnitt in  der  Rassengeschichte  des  jüdischen  Volkes. 
Die  Erscheinung  des  Proselytismus  wurde  sowohl  theo- 
retisch wie  praktisch  durch  das  babylonische  Exil  bedingt. 
Theoretisch  durch  die  Wandlung  der  Religion.  Aus  dem  alten 
Nationalgott  Israels  war  der  Herr  der  Welten  geworden,  „der 
mit  seiner  hohlen  Hand  das  Meer  erschöpft  und  den  Himmel 
mit  seiner  Spanne  umfaßt,  der  den  Staub  der  Erde  in  ein 
Maß  hebt.  Berge  mit  einem  Gewichte  wiegt  und  Hügel  in  einer 
Wage  .  .  .  dessen  Berg  aufgerichtet  sein  wird  über  allen  Bergen, 
und  zu  dem  die  Völker  strömen  und  die  Nationen  sprechen: 
„Wohlan,  lasset  uns  pilgern  zum  Berge  des  Ewigen,  hin  zum 
Hause  des  Gottes  Jakobs,  daß  er  uns  lehre  seine  Wege  zu  fin- 
den und  seine  Pfade  zu  wandeln,  denn  von  Zion  wird  ausgehen 
die  Lehre  und  das  Wort  des  Ewigen  von  Jeruschalajim."  Und 
der  zu  Juda  spricht:  „Siehe  da,  mein  Knecht,  den  ich  mir  halte, 
mein  Erkorener,  an  dem  meine  Seele  Wohlgefallen  hat,  über 
deine  Stirne  bringe  ich  meinen  Geist,  daß  du  das  Recht  ver- 
kündest den  Völkern  .  .  .  Ich  der  Ewige  habe  dich  berufen  zum 
Heile  und  deine  Hand  erfaßt  und  dich  gebildet  und  erwählt 
zum  Band  für  die  Völker  und  zur  Leuchte  der  Nationen,  Blinden 
die  Augen  zu  öffnen,  aus  ihren  Kerkern  die  Gefesselten  zu  be- 
freien, aus  den  Finsternissen  der  Gefängnisse  die  Schmachtenden 
heraufzuführen  .  .  .  zum  Norden  spreche  ich:  gib  her!  und  zum 

10»  147 


Süden :  halte  nicht  zurück !  Bringe  meine  Söhne  aus  der  Ferne  und 
meine  Töchter  von  den  Enden  der  Erde;  jeglichen  bringe  herbei, 
der  sich  zu  meinem  Namen  bekennt,  versammelt  seien  die 
Nationen  und  zusammenkommen  mögen  die  Völker  ..." 

Mit  dieser  theoretischen  Wandlung  verknüpften  sich  in 
wunderbarer  Weise  die  äußeren  Umstände,  die  durch  den 
Beginn  der  Diaspora  und  die  Berührung  Israels  mit  den 
heidnischen  Völkern  die  Vorbedingung  für  den  Proselytismus 
schufen.  Die  Katastrophe  von  586  hatte  die  Juden  nicht 
nur  nach  Babylonien  geführt;  in  alle  Winde  waren  die  Heimat- 
losen zerstoben  und  gründeten  in  Ägypten,  in  Nordafrika, 
in  Kleinasien  und  im  Kaukasus  die  ersten  Diaspora-Gemeinden. 
Sofort  setzte  der  Proselytismus  ein.  In  Babylonien  ,, schlie- 
ßen sich  die  Söhne  der  Fremden  dem  Herren  an,  ihm  zu 
dienen  und  seinen  Namen  zu  verehren".  Auf  einer  Urkunde 
aus  dem  Jahre  420  v.  Chr.  ist  ein  Ägypter  namens  Ashor 
erwähnt.  4  Jahre  später  nennt  sich  derselbe  hebräisch  Nathan. 
,, Herrliches  rühmt  man  von  dir,  du  Stadt  Gottes",  singt  der 
86.  Psalm,  dessen  Inhalt  allerdings  sehr  dunkel  und  nur  mehr 
zu  erraten  als  zu  übersetzen  ist.  „Aus  Rahab  und  Babel,  aus 
Philisterland  Tyrus  und  dem  Mohrenlande  Kusch  sind  Be- 
kenner  von  mir  gebürtig.  Aber  jeder  von  ihnen  nennt  Zion 
seine  Mutter,  und  er  selber,  der  Höchste  im  Himmel,  hält  alle- 
samt fest  .  .  .  Aller  Heimat  ist  in  dir,  Jerusalem." 

Der  beginnende  Proselytismus  gewinnt  seine  besondere 
rassengeschichtliche  Bedeutung  durch  den  weltpolitischen  Um- 
schwung, der  sich  in  jenen  Jahrhunderten  vollzieht.  An  der 
Spitze  seiner  blonden  Makedonen  kommt  der  arische  Halb- 
gott Alexander  und  stürzt  die  tönernen  Kolosse  der  morschen 
Riesenreiche  des  Orients.  Er  selbst  verfällt  dem  Zauber  der 
großen,  nun  schon  abgelebten  Buhlerin  Babel,  die  sein  junges 
Heldentum  zu  Schanden  macht.  Aber  den  Sieg  des  jugendlichen 
Europa  über  das  alternde  Asien  vermag  sie  nicht  zu  hindern. 
Auf  Marduks  leer  gewordenen  Greisenthron  steigt  der  locken- 
umwallte olympische  Zeus.  Auf  den  Sockel,  von  dem  zwei 
Jahrtausende  ihre  semitische  Mutter  Istar  Königen  und  Völkern 
zugelächelt,  stellt  sich  Aphrodite  in  der  jugendhchen  Marmor- 
schönheit ihres  Griechentums  —  freilich  nur  zu  einem  kurzen 
„arischen"  Zwischenspiel,  um  von  Istars  semitischer  Madonnen- 
enkelin Maria  bald  für  abermals  Jahrtausende  verdrängt  zu 
werden.  Ungezählte  Griechen,  ein  anthropologisches  Gemisch 
von  brünetten  Mediterranen  und  blonden  Norden,  strömen  nach 

148 


Syrien,  Ägypten  und  den  Euphratländem,  Allenthalben  entstehen 
griechische  Kolonien;  wie  eine  Rosenhecke  über  zerfallenem 
Gemäuer,  blüht  griechisches  Leben  über  den  Ruinen  der  alt- 
semitischen Kultur.  Palästina  wird  griechische  Provinz  und  in 
den  Wirbel  hellenisch-römischer  Geschichte  gerissen.  Jüdische 
Sitte  und  griechische  Schönheit  vermählen  sich  in  Judäa  zur 
kurzen  Schöngeistehe  des  Hellenismus. 

Der  Verkehr  zwischen  Ost  und  West  entwickelt  sich  rapide. 
Die  Juden  wenden  sich  dem  Handel  zu,  und  Judäa  wird  als 
Durchgangsland  zwischen  Asien  und  Europa  eine  der  gesegnet- 
sten Provinzen.  Das  bescheidene  Gut  mehrt  sich  zu  reichem 
Besitztum,  die  patriarchalischen  Sitten  verfeinern  sich  zu  grie- 
chischem Luxus.  Hellenische  Sklaven  bilden  die  natürliche 
Staffage  zum  griechischen  Inventar  des  Hauses.  Nach  Landes- 
brauch und  talmudischem  Gebot  wurden  diese  Sklaven  zu- 
meist der  Beschneidung  unterworfen  und  ins  Judentum  auf- 
genommen, wogegen  sie  sich  um  so  weniger  sträubten,  als  sie 
unter  den  Juden  humane  Behandlung  erfuhren.  ,,Wie  ein  Ein- 
geborener sei  euch  der  Fremdling  .  .  .  Seid  milde  gegen  den 
Fremdling,  denn  Fremdhnge  wäret  ihr  in  Ägypten."  Der  jü- 
dische Sklave  war  kein  Arbeitstier,  das  man  zu  Tode  peitschte, 
sondern  ein  Hausgenosse,  der  an  Festen  und  Fasten  teilnahm 
und  dadurch  mit  der  Familie  seines  Herrn  zu  Leid  und  Freud 
verwuchs.  Der  römische  Sklave  war  der  Willkür  und  Grau- 
samkeit seines  Besitzers  so  schonungslos  ausgeliefert,  daß  selbst 
Mommsen  gesteht:  „Mit  denen  der  römischen  Sklavenschaft 
verglichen,  sei  die  Summe  aller  Negerleiden  ein  Tropfen"  —  ließ 
doch  selbst  der  sittenstrenge  Cato,  der  unseren  Sekundanern 
als  moralische  Idealfigur  vor  Augen  gestellt  wird,  seine  Sklaven 
so  lange  Mühlsteine  drehen,  bis  sie  tot  zur  Erde  fielen.  In 
Israel  wurde  Sklavenmißhandlung  bestraft,  Sklaventötung  mit 
dem  Tode  geahndet !  Für  Sklavin  besitzt  die  hebräische  Sprache 
gar  keinen  anderen  Ausdruck  als  Schifcha  =  Familienange- 
hörige. Unter  diesen  Umständen  ist  es  begreiflich  und  durchaus 
glaubhaft,  daß  die  Judaisierung  der  Sklaven  wenn  nicht  die 
Regel,  so  doch  ungemein  häufig  und  für  die  Konstitution  der 
späteren  Rasse  nicht  belanglos  war^). 

*)  Auf  dem  jüdischen  Friedhof  zu  Rom  findet  man  mehrfach  Grab- 
steine, die  jüdische  Herren  ihren  zum  Judentum  übergetretenen  Sklaven 
errichteten,  so  den  einer  Proselytin  Felicitas,  die  den  Namen  Noßmi  an- 
genommen hatte.  In  der  Mischna  wird  die  Grabrede  erwähnt,  die  Rabbi 
Gamaliel  seinem  Haussklaven  Tabi  hielt. 

149 


Der  Proselytismus  unter  den  Sklaven  wurde  durch  den 
starken  Anteil  der  Juden  am  Sklavenhandel  begünstigt.  Bis 
ins  Mittelalter  hinein  waren  die  Juden  durch  ihre  internationalen 
Beziehungen  die  prädestinierten  Transithändler  dieses  gang- 
barsten Artikels  der  Antike.  Man  braucht  gar  nicht  die  Unzahl 
der  Bekehrungsanlässe  und  Übertrittsmotive  anzudeuten,  um 
die  Annahme  zu  rechtfertigen,  daß  die  Zahl  der  übertretenden 
Sklaven  gewiß  außerordentlich  hoch  gewesen.  Namentlich 
später,  als  der  Proselytismus  Mode  wurde,  werden  Tausende 
und  Abertausende  den  bequemen  Weg  ins  Judentum  genom- 
men haben,  um  dem  Elend  der  Entrechtung  zu  entsteigen  und 
wieder  Menschen  zu  werden.  Noch  im  Jahre  600  n.  Chr.  muß 
der  Westgotenkönig  Reccared  in  Spanien  strenge  Gesetze  gegen 
den  Übertritt  der  Sklaven  ins  Judentum  erlassen;  es  wurde  den 
Juden  das  Recht  entzogen,  christliche  Sklaven  zu  bekehren  und 
die  Beschneidung  an  ihnen  zu  vollziehen.  Diese  Gesetze  emp- 
fanden die  Juden  als  so  drückend,  daß  sie  dem  König  bedeu- 
tende Summen  für  die  Aufhebung  boten.  Als  sein  Nach- 
folger Sisebut  den  Thron  bestieg,  „beschäftigten  ihn  gleich  im 
Anfang  seiner  Regierung  die  Juden.  Sein  Gewissen  fühlte  sich 
beschwert,  daß  trotz  des  reccaredischen  Gesetzes  noch  immer 
christliche  Sklaven  jüdischen  Herren  dienten,  von  ihnen  zum 
Judentum  geführt  wurden  und  gern  darin  verharrten."  Aus 
Babylonien  berichtet  noch  aus  dem  11.  Jahrhundert  ein  Rab- 
biner, daß  „von  den  Sklavinnen,  die  die  Juden  kaufen,  einige 
sofort,  einige  später  zum  Judentum  übertreten,  manche  von 
ihnen  dagegen  weigern  sich  beharrlich  Proselyten  zu  werden". 

Durch  die  tausendjährige  Praxis  der  Sklaven- 
halterei,  des  Sklavenhandels  und  der  allgemein 
geübten  Bekehrung  der  Sklaven  sind  unzählige  An- 
gehörige aus  allen  Gruppen  der  weißen  und  zu  ge - 
ringemTeil  auch  der  schwarzen  Rasse  dem  jüdischen 
Volke  zugeführt  worden  und  haben  —  soweit  sie 
der  nordischen  Rasse  angehörten  —  den  Grund- 
typus des  Juden  weiterhin  „germanisiert".  Neben 
der  Mischung  mit  den  Philistern  ist  die  Aufnahme 
nordischer  Sklaven  als  die  zweite  Quelle  der  nor- 
dischen Elemente   unter  den  Juden  anzusehen.^) 

*)  Daß  in  dem  Jahrtausend  militärischer  Gewaltherrschaft  manch 
makedonischer  Hoplit  und  römischer  Legionär  und  später  manch  blonder 
Vandale  und  Gote  Vater  eines  jüdischen  Sprößhngs  wurde,  ist  unter  Be- 
rücksichtigung der  besonderen  Verhältnisse  selbstverständlich.    So  sollen 

150 


Frühzeitig  begann  der  Proselytismus  über  die  Grenze  der 
Sklaverei  hinauszuwirken.  Die  antike  Götterlehre  war  nicht 
bildungsfähig.  Es  gab  Götter  oder  es  gab  keine.  Und  als  man 
mit  zunehmender  Aufklärung  erkannte,  daß  es  keine  gab,  flüch- 
teten die  tiefer  veranlagten  Geister  aus  dem  Sinnentaumel  der 
orgiastischen  Kulte  der  Verfallszeit  in  die  reinen  Lehren  des 
Juden-  und  Christentums.  Zwischen  den  Sekten  der  Juden  und 
der  Judenchristen  bestand  für  den  Heiden  der  Römerzeit,  der 
aus  der  Welt  des  Bacchus  und  der  Isis  kam,  kein  prinzipieller 
Unterschied.  Solange  die  Übertritte  aus  freien  Stücken  und 
innerem  Verlangen  erfolgten,  führten  sie  den  Konvertiten  ebenso 
leicht  zu  dem  einen  wie  anderen  Bekenntnis.  Rassenbiologisch 
ist  dieses  Moment  der  Freiwilligkeit  nicht  zu  unterschätzen. 
Während  später  unter  dem  Zuge  der  Zeit  und  dem  Schwert 
der  Eroberer  der  große  Haufe  wähl-,  willen-  und  gedankenlos 
das  Christentum  annahm,  waren  es  in  den  griechisch-römischen 
Zeiten  vorzugsweise  die  aufgeklärten  und  idealeren  Elemente, 
die  im  Juden-  und  Christentum  jene  Befriedigung  fanden,  die 
ihr  höheres  Verlangen  in  der  heidnischen  Welt  der  Marmorgötter 
vergeblich  suchte.  Wie  zwei  Schwämme,  die  man  über  einen 
Schlamm  gelegt,  sogen  sie  aus  dem  faulenden  Grund  der  ver- 
sumpfenden Antike  alles,  was  klar  war,  in  sich  auf.  Zahlenangaben 
über  die  Menge  der  Proselyten  sind  natürlich  unmöglich ;  auf  jeden 
Fall  muß  sie  beträchtlich  gewesen  sein.  Reinach  schreibt :  „Das 
enorme  Wachstum  der  Juden  in  Ägypten,  Cypern  und  Cyrene 
läßt  sich  nicht  anders  erklären  als  durch  reichliche  Infusion  heid- 

beispielsweise  nach  der  Zerstörung  Jerusalems  die  römischen  Legionen, 
die  von  hier  nach  Germanien  in  die  Standquartiere  der  Limesgegend 
überführt  wurden,  jüdische  Mädchen  als  Sklavinnen  mit  sich  genommen 
haben.  „Die  aus  jüdischem  und  germanischem  Blut  geborenen  Kinder 
waren  von  den  Müttern  im  Judentum  erzogen  worden,  weil  die  Väter 
sich  nicht  um  sie  bekümmert  haben.  Diese  Mischlinge  sollen  nun  die 
ersten  Gründer  der  jüdischen  Gemeinden  zwischen  Worms  und  Mainz 
gewesen  sein"  (Graetz).  In  den  südrussischen  Provinzen  pflegten  im 
Mittelalter  die  Kosaken  die  jüdischen  Mädchen  und  Frauen  zu  rauben, 
um  sie  nachher  gegen  Lösegeld  wieder  zurückzugeben.  Da  es  die  Regel 
war,  daß  eine  solche  Frau  geschwängert  zurückkam,  wurden  besondere 
rabbinische  Bestimmungen  über  ihre  Behandlung  erlassen.  In  diesem 
Zusammenhang  ist  auch  der  Zwangsehen  zu  gedenken,  durch  die  jüdische 
Frauen  gewaltsam  mit  christlichen  Männern  verehelicht  wurden.  So  heißt 
es  beispielsweise  von  der  großen  Judenverfolgung  unter  Chmielnitzki  im 
17.  Jahrhundert,  daß  „die  jüdischen  Frauen,  die  zur  Taufe  gezwungen 
waren,  in  Massen  von  ihren  Kosakenmännern,  die  ihnen  aufgedrungen 
waren,  zu  ihren  Familien  zurückflohen*'. 

151 


nischen  Blutes.  Der  Proselytismus  ergriff  die  oberen  wie  die  unteren 
Klassen  der  Gesellschaft.  Das  Beispiel  der  großen  Anzahl  Juden 
gewordener  Sklaven  wirkte  allerdings  mehr  auf  die  Kameraden 
als  auf  die  Herren."  Schürer,  der  wohl  unstreitig  beste  Kenner 
der  jüdischen  Geschichte  der  Römerepoche,  schreibt  in  seiner 
monumentalen  „Geschichte  des  jüdischen  Volkes  im  Zeitalter 
Christi"  über  die  griechisch-römischen  Proselyten:  „Wie  groß 
deren  Zahl  war,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  In  der  Anfangs- 
zeit der  jüdischen  Propaganda  ist  sie  vermutlich  sehr  groß  ge- 
wesen, denn  die  ungeheure  Ausbreitung  des  Judentums  läßt  sich 
aus  der  Vermehrung  des  Volkes  allein  kaum  erklären." 

Die  rassengeschichtliche  Bedeutung  des  Proselytismus  darf 
nicht  —  wie  es  zumeist  geschieht  —  unterschätzt,  aber  auch 
nicht  überschätzt  werden.  Bei  weitem  nicht  alle  Anhänger  der 
jüdischen  Lehre  traten  ins  jüdische  Volk  ein;  die  meisten  blieben 
vielmehr  Römer  und  Griechen  jüdischen  Glaubens,  wurden 
„Proselyten  am  Tore",  übten  keine  Beschneidung  aus  und 
durften  keine  Ehe  mit  Juden  eingehen.  Aus  ihren  für  den  Mono- 
theismus vorbereiteten  Kreisen  gewannen  die  Apostel  die  zahl- 
reichsten Anhänger  für  das  Christentum.  Trotzdem  werden  sich 
unzweifelhaft  viele  von  ihnen  gerade  bei  der  Familiarität  der 
jüdischen  Lebensführung  und  den  engen  Beziehungen  zwischen 
Kult-  und  Familienleben  den  Juden  dauernd  angeschlossen 
haben.  Von  solchen  gleichsam  nur  korrespondierenden  Mitglie- 
dern des  Judentums  spricht  Flavius  Josephus,  wenn  er  erwähnt: 
„Schon  seit  langer  Zeit  ist  bei  der  Menge  ein  großer  Eifer  für 
unsere  Gottesverehrung  zu  finden;  es  gibt  keine  Stadt,  weder 
bei  Hellenen  noch  bei  Barbaren  noch  sonst  irgendwo,  und  kein 
Volk,  wohin  nicht  die  Feier  des  Sabbats,  wie  wir  sie  üben, 
gedrungen  wäre  und  nicht  das  Fasten  und  das  Anzünden  der 
Lichte  und  viele  unserer  Speisegebote  beobachtet  würden." 
Mit  einer  solchen  römischen  Proselytengemeinde,  dem  „Epaphro- 
ditischen  Kreis",  verkehrte  er  nach  der  Zerstörung  Jerusalems 
in  Rom,  von  ihr  empfing  er  die  Anregung  zu  seiner  „Geschichte 
des  jüdischen  Krieges",  für  sie  verfaßt  er  die  Streitschrift  gegen 
den  Antisemiten  Apion,  in  der  es  heißt:  „Wir  haben  keinen 
Grund  die  Griechen  zu  hassen  oder  zu  beneiden.  Im  Gegen- 
teil, viele  von  ihnen  haben  für  unsere  Gesetze  Interesse  ge- 
wonnen, und  manche  von  ihnen  sind  treue  Anhänger  derselben 
geworden,  während  andere,  die  keine  Kraft  zum  Ausharren  be- 
saßen, wieder  abgefallen  sind."  „Wären  wir  nicht  selbst  von 
der  Vortrefflichkeit    unserer  Gesetze    überzeugt,    würden    wir 

152 


durch  die  Menge  ihrer  Anhänger  darauf  geführt  werden,  stok 
auf  sie  zu  sein,"  In  Rom  erregte  die  Hinneigung  zahlreicher 
vornehmer  Römer  und  vor  allem  Römerinnen  zum  Judentum 
den  Ärger  aller  nationalistischen  Kreise.  Cicero,  Horaz,  Tacitus, 
Seneca  und  Juvenal  machten  ihrem  Ärger  Luft  über  die  Juden 
und  die  überhandnehmende  Sitte,  ,,am  siebentenTage  zu  faulenzen 
und  Schweinefleisch  für  so  kostbar  zu  halten  wie  Menschenfleisch". 
Diese  Krämerseelen !  Glaubten,  wenn  man  an  einem  Tage  keine 
Geschäfte  machte,  müsse  es  aus  Faulheit  geschehen,  und  wenn 
man  kein  Schweinefleisch  berühre,  halte  man  es  für  kostbar! 
Eine  Weisheit  wie  die  des  Botokuden,  den  man  vor  ein  Orchester 
führte,  und  der  auf  die  Frage,  welchen  Eindruck  er  gewinne, 
bei  den  Klängen  einer  Symphonie  erwiderte :  Man  macht  Lärm ! 

Je  mehr  sich  die  Antike  ihrem  Ende  näherte,  um  so  weitere 
Kreise  ergriff  der  Proselytismus.  Unter  Tiberius  fiel  die  „jü- 
dische" Gattin  eines  einflußreichen  Senators  ein  paar  jüdischen 
Gaunern  zum  Opfer,  was  den  Anlaß  zur  ersten  Judenverfolgung 
gab.  Unter  Hadrian  mußte  ein  Gesetz  erlassen  werden,  das  die 
Beschneidung  von  Römern  verbot.  Domitian  ließ  einen  Neffen 
mit  seinem  Anhang  hinrichten  und  die  Frauen  dieses  Kreises 
auf  eine  Insel  verbannen,  „weil  sie  auf  den  Abweg  der  jüdischen 
Lebensführung  geraten  waren".  Großes  Aufsehen  erregte  in  der 
römischen  Gesellschaft  eines  Tages  der  Übertritt  der  angesehenen 
Patrizierin' Valeria  mitsamt  ihren  Sklavinnen,  der  aber  durchaus 
nicht  vereinzelt  blieb.  Als  eifrige  Jüdin  war  beispielsweise  Be- 
turia  Paulina  bekannt,  auf  deren  Grabstein  ihr  jüdischer  Bei- 
name Sarah  zu  lesen  ist.  Also  erfüllte  sich  in  Rom  die  Weis- 
sagung des  Zacharja:  „Und  es  werden  Zehn  von  allen  Zungen 
der  Völker  den  Zipfel  eines  jüdischen  Mannes  fassen  und  spre- 
chen: wir  werden  mit  euch  gehen,  denn  wir  haben  vernommen, 
daß  Gott  mit  euch  ist." 

In  den  östlichen  Teilen  des  Imperium  Romanum  gab  es  in 
fast  jeder  größeren  Stadt  Gemeinden  jüdischer  Proselyten.  „In 
Antiochia",  berichtet  Josephus,  „zogen  die  Juden  eine  Menge 
Griechen  zu  ihrem  Glauben  hinüber,  wodurch  diese  gewisser- 
maßen zu  einem  Bestandteil  ihrer  Gemeinde  wurden."  Ein 
griechischer  Proselyt,  Aquila  von  Pöntus,  übersetzte  die  Bibel 
so  vortrefflich  ins  Griechische,  daß  seine  Übersetzung  die  olft- 
zielle  Septuaginta  verdrängte.  In  Damaskus  sollen  fast  sämt- 
liche Frauen  dem  Judentum  angehangen  haben.  Als  die  Damas- 
zener die  unter  ihnen  wohnenden  Juden  überfallen  wollten, 
„glaubten  sie  jetzt  den  Angriff  aufs  leichteste  ausführen  aia 

153 


können.  Scheu  hatten  sie  nur  noch  vor  ihren  Weibern,  die  mit 
wenigen  Ausnahmen  zur  jüdischen  Rehgion  übergetreten  waren" 
(Josephus). 

In  Adiabene,  einem  Vasallenstaat  des  Partherreiches,  traten 
die  Fürstin  und  der  Kronprinz  des  wahrscheinlich  aus  Maze- 
donien stammenden  Königshauses  unabhängig  und  heimlich 
voreinander  zum  Judentum  über  und  veranlaß ten  hernach  den 
Übertritt  der  gesamten  Familie.  Wegen  seines  offenen  Bekennt- 
nisses zum  neuen  Glauben  brachte  der  König  später  die  ganze 
Dynastie  in  Gefahr.  Die  Königin  hing  mit  der  vollen  Inbrunst 
der  Konvertitin  an  der  für  wahr  erkannten  Lehre.  Sie  unternahm 
Wallfahrten  nach  Jerusalem,  lebte  14  Jahre  als  Nasiräerin  und 
ließ  sich  vor  den  Toren  der  heiligen  Stadt  in  einem  Mausoleum 
begraben,  dessen  Trümmer  noch  heute  unter  der  fälschlichen 
Bezeichnung  Königsgräber  gezeigt  werden. 

In  Judäa  selbst  wurde  der  Proselytismus  in  großem  Stil  be- 
trieben. Hyrkan  unterwirft  die  Edomiter,  die  als  ein  Hebräer- 
stamm mit  den  Israeliten  nach  Kanaan  gewandert,  aber  nicht 
in  den  Staatsverband  der  Zwölf-Stämme  eingetreten  waren,  und 
zwingt  sie  zur  Annahme  des  Judentums.  Sein  Sohn  Aristobul 
verfährt  ebenso  mit  dem  unterworfenen  Beduinenstamm  der  Itu- 
räer.  Aus  dem  Stamm  der  Edomiter,  römisch  Idumäer,  geht  Anti- 
pater  hervor.  Sein  Sohn  ist  Herodes.  Salome  ist  zwar  judäische 
Prinzessin,    aber  keine  Jüdin  von  Stamm  sondern  Edomiterin. 

Durch  den  Proselytismus  treten  somit  genau  wie 
durch  die  Mischehen  der  ersten  Epoche  Elemente 
aus  allen  Zweigen  der  weißen  Rasse,  Ägypter, 
Araber,  Armenier  und  Iranier,  Kaukasier,  Griechen, 
Römer  und  Germanen  zum  Judentum  über.  Wenn 
auch  nur  ein  Teil  von  ihnen  durch  Mischehe  in  das  jü- 
dische Volk  eingeht,  so  ist  doch  der  Gesamtzuwachs 
bei  dem  großen  Verbreitungsgebiet  derjudenund  der 
langen  Dauerder  Pro  sei  ytenperiode  (1200  Jahre)  gewiß 
als  sehr  beträchtlich  anzusehen.  Der  Proselytismus 
ist  die  dritte  Quelle  der  nordischen  Elemente  unter 
den  Juden. 

JDurch  Proselytismus  hat  sich  ferner  den  Juden  eine  Anzahl 
von  Fremdstämmen  angegliedert,  die  zwar  das  jüdische  Bekennt- 
nis annahmen,  im  übrigen  aber  ihre  nationale  Einheit  und  Ge- 
schlossenheit nicht  aufgaben  und  mit  dem  jüdischen  Volk  gar 
keine  oder  nur  sehr  geringe  Mischungen  eingegangen  sind,  so 

1&4 


daß  man  sie  gar  nicht  als  Juden  sondern  als  Fremd  stamme 
jüdischen  Glaubens  bezeichnen  muß.  Zu  ihnen  gehören 
die  jemenitischen  Juden  in  Arabien,  die  Falascha  in  Abessinien, 
die  Mawambu  der  Loangoküste,  die  Kala  Israel  in  Indien,  die 
chinesischen  Juden  der  Provinz  Honan,  die  Juden  im  Kaukasus 
und  zu  einem  gewissen  Teil  die  Chasaren. 

In  Arabien  muß  es  frühzeitig  jüdische  Gemeinden  als 
Kristallisationskerne  des  Proselytismus  gegeben  haben.  Schon 
in  den  salomonischen  Zeiten  entstehen  längs  der  Küsten  zahl- 
reiche jüdische  Handelsniederlassungen.  In  Südarabien  gab  es 
um  450  n.  Chr.  zwei  arabische  Stämme,  die  nach  den  Vor- 
schriften der  jüdischen  Gesetze  lebten.  Sie  wurden  von  einem 
himjari tischen  (südarabischen)  Nachbarstamm  bekriegt,  wider- 
standen aber  tapfer,  worauf  der  feindliche  Fürst  mit  ihnen  in 
Unterhandlungen  trat.  Hierbei  lernte  er  ihr  Judentum  kennen 
und  begeisterte  sich  derart  dafür,  daß  er  es  mit  seinem  Heere 
annahm.  Nun  regierte  eine  ganze  Dynastie  himjaritisch-jüdischer 
Könige,  deren  einer  sich  in  seinem  religiösen  Eifer  sogar  zu 
Christenverfolgungen  hinreißen  ließ.  Als  Nachkommen 
dieser  arabischen  Proselyten,  in  deren  Überzahl  sich 
wahrscheinlich  die  einstigen  jüdischen  Kolonisten  und  späteren 
Zuwanderer  verloren  haben,  sind  die  heutigen  jemeni- 
tischen Juden  aufzufassen.  Sie  sind  als  Araber  den 
Juden  nah  rassenverwandt.  So  mögen  die  Hebräerstämme  aus- 
gesehen haben,  die  als  Beduinen  nach  Kanaan  zogen,  und  unter 
denen  sich  die  Israelstämme  befanden.  Jene  alten  Hebräer 
aber  sind  —  soweit  sie  nicht  mit  dem  Nordreich  Israel  unter- 
gingen —  durch  Rassenmischung  mit  den  Jakobstämmen,  mit 
Babyloniern,  Ägyptern,  Hethitern,  Phihstern,  Römern,  Griechen, 
Makedonen,  Grermanen  usw.  zu  Juden  geworden;  alle  diese 
späteren  Komponenten,  die  dem  heutigen  Juden  seine  be- 
sondere Physiognomie  verleihen,  fehlen  dem  Jemeniten.  Der 
jemenitische  Jude  ist  kein  Rassenjude  sondern 
ein  Araber  jüdischer  Konfession. 

Auf  dem  Arabien  gegenüberliegenden  Ufer  des  Roten  Meeres 
nahm  ein  abessinisches  Volk,  scheinbar  ein  Mischstamm  von 
Weißen  und  Negern,  das  Judentum  an,  die  Falascha,  ein 
durch  Fleiß,  Geschick  und  Sauberkeit  ausgezeichnetes  Völkchen, 
das  heute  schätzungsweise  150000  Menschen  umfaßt.  In  ihnen 
hat  man  Reste  der  prähistorischen  und  in  der  Bibel  oft  ge- 
nannten kuschitischen  Urbevölkerung  zu  erblicken  gesucht. 
An  der  Loangoküste,    südlich   der  Kongomündung,   lebt  der 

155 


Negerstamm  der  Mawambu  nach  jüdischem  Ritual,  angeb- 
lich durch  1493  bei  den  spanischen  Verfolgungen  aus  Kastilien 
vertriebene  Juden  bekehrt.  Auf  Ceylon  soll  es  um  1200  n.  Chr. 
32000  Eingeborene  gegeben  haben,  die  die  jüdischen  Gesetae 
befolgten,  von  denen  heute  nur  noch  an  der  malabarischen  Küste 
eine  kleine  Gemeinde  weißer  echter  Juden  und  eine  größere 
schwarzer  Proselyten  —  die  schwarze  „Kala  Israel"  Indiens 
—  lebten.  In  China  lebt  in  Kai-Fung-Fu,  Pr-  vinz  Honan,  eine 
Kolonie  chinesischer  Juden,  die  durch  j üdische  Emigranten 
begründet  worden  ist. 

In  vollkommene  Dunkelheit  gehüllt  sind  Kultur  und  Rassen- 
geschichte der  Kaukasusjuden.  Nach  einigen  Quellen,  die 
allerdings  wenig  glaubwürdig  erscheinen,  seien  die  10  Israelstämme 
nach  der  Zerstörung  von  Samaria  721  v.  Chr.  nach  dem  Kaukasus 
deportiert  worden;  Juden  des  babylonischen  Exils  sollen  ihnen 
gefolgt  sein  und  sich  hier  mit  den  Georgiern  vermischt  haben.  Die 
Georgier  (Grusinen)  gehören  dem  iranischen  Zweig  der  weißen 
Rasse  an  und  zeichnen  sich  durch  hohe  Gestalt,  ebengeformte 
Züge,  dunkles  Haar  und  helle  Hautfarbe  aus.  Nach  der  Zerstörung 
Jerusalems  sollen  die  jüdischen  Kaukasusgemeinden  zahlreichen 
Zuzug  aus  der  Diaspora  erhalten  haben.  Historisch  beglaubigt 
ist  nur,  daß  im  Mittelalter  Juden  aus  Persien  und  Südrußland 
nach  den  Kaukasusgebieten  ausgewandert  sind.  Sie  scheinen 
dort  eingeborene  Gebirgsstämme  zum  Judentum  bekehrt  und 
dann  selbst  durch  Engzucht  oder  Mischung  mit  ihnen  unter- 
gegangen zu  sein,  so  daß  wir  in  den  heutigen  Kau- 
kasusjuden autochthone  Kaukasusstämme  mit  ge- 
ringem jüdischen  Einschlag  vor  uns  sehen.  Später 
haben  sie  sich  wahrscheinlich  mit  Kirgisen  (Mongolen  aus  der 
Wolga-Ebene)  vermischt,  so  daß  die  heutigen  Kaukasusjuden 
sich  vermutlich  aus  drei  Rasse-  und  Kulturelementen,  (semi- 
tischen) Juden,  (arischen)  Iraniern  und  (mongolischen)  Turaniern 
zusammensetzen.  Sie  wohnen  hauptsächlich  im  Gebiet  von 
Daghestan,  dem  gegen  das  Kaspische  Meer  abfallenden  Teil 
des  Kaukasus.  Ein  Kaukasusjude  oder  besser  gesagt  jüdischer 
Kaukasier  namens  Anbal  aus  dem  iranischen  Volksstamm  der 
Osseten  war  einer  der  Verschwörer,  die  1174  den  russischen 
Fürsten  Bogolubski  ermordeten. 

Eine  besondere  Stellung  in  der  Geschichte  des  jüdischen  Pro- 
selytismus  nehmen  dieChasaren  ein,  die  als  ein  südrussisches 
Reitervolk  nördlich  vom  Kaukasus  im  Gebiet  der  heutigen  Don- 
Kosaken  lebten.  Unter  diesen  Chasaren  wohnten  seit  den  Juden- 

156 


Verfolgungen  im  byzantinischen  Reich  zahlreiche  Juden.  Als 
man  von  Byzanz  aus  Bekehrungsversuche  an  den  noch  heid- 
nischen Fürsten  dieser  Stämme  unternahm,  gelang  es  den  dor- 
tigen Juden,  den  Chasarenfürsten  Bulan  zur  Annahme  des  Juden- 
tums zu  bewegen,  so  daß  dieser  im  Jahre  750  n.  Chr.  mit  4000 
seiner  Krieger  übertrat  und  alsdann  das  Judentum  unter  seinem 
Volk  verbreitete.  Zuerst  muß  das  Judentum  diesen  Tataren 
so  wenig  gestanden  haben  wie  der  Heiligenschein  dem  bewaff- 
neten Mohren  auf  dem  Grünewald'schen  Mauritiusbild.  Allmäh- 
lich aber  mühten  sich  die  Steppenreiter,  treue  Anhänger  des 
Judentums  zu  werden.  Die  Könige  legten  sich  jüdische  Namen 
bei  und  hießen  der  Reihe  nach  Obadja,  Manasse,  Chanukkah, 
Isaak,  Sebulon,  und  „ihre  Augen  waren",  wie  einer  von  ihnen 
schrieb,  „auf  Jerusalem  und  die  babylonischen  Schulen  gerich- 
tet". In  seiner  Blütezeit  um  900  bildete  das  Ghasarenreich  einen 
angesehenen  Staat,  wurde  aber  seit  965  von  den  aufstrebenden 
Russen  zurückgedrängt  und  erlag  1016  einem  Zweifrontenangriff 
der  verbündeten  Russen  und  Byzantiner.  Die  chasarischen 
Prinzen  flüchteten  nach  Toledo  und  widmeten  sich  hier  dem 
Talmudstudium.  Die  Kriegsgefangenen  wurden  von  den  Russen 
nach  Kiew  und  anderen  südrussischen  Städten  deportiert,  wo 
sie,  mit  den  ansässigen  Juden  verschmelzend,  den  Grundstock 
für  die  russische  Judenheit  bildeten.  Kiew  ist  kurz  nach  1100 
die  führende  Gemeinde  Südrußlands.  Ein  großer  Teil  der  jü- 
dischen Chasaren  wanderte  nach  Taurien  und  der  Halbinsel 
Krim  und  begründete  hier  das  Karäertum,  den  Buchstaben- 
glauben an  die  Bibel,  wodurch  sie  uns  wieder  einmal  den 
Saulus-Paulus-Beweis  liefern,  daß  niemand  in  seiner  Liebe  so 
maßlos  zu  sein  pflegt  wie  der  Proselyt. 

Die  Anthropologie  der  Chasaren  ist  verwickelt  und  durch- 
aus noch  nicht  geklärt.  Allgemein-historisch  fallen  sie  unter 
den  Begriff  der  Hunnen;  ethnologisch  und  anthropologisch  ge- 
hören sie  zu  dem  großen  Stamm  der  Tataren;  innerhalb  der 
Tatarengruppe  wieder  zu  den  Uraltürken.  Als  solche  sind  sie 
mit  den  Avaren,  Magyaren,  Bulgaren  verwandt.  Sie  sind  nicht, 
wie  man  zuweilen  liest,  Mongolen,  haben  sich  aber  in  einem  von 
Mongolen  (Kirgisen  und  Kalmücken)  bewohnten  Land  nieder- 
gelassen und  mit  der  dortigen  Bevölkerung  —  wie  einst  die  Juden 
mit  den  Kanaanitern  —  vermischt,  wodurch  sie  mongohschen 
Typus  erwarben.  Infolgedessen  ist  in  der  Tat  durch  die 
Chasaren  das  mongolische  Element  —  kleiner  Wuchs, 
Rundköpfigkeit,  schwarzes  schUchtes  Haar,  breite  Nase,  breiter 

157 


Mund,  breite  Backenhöcker,  Schieflage  der  Augen  —  in  den 
Typen  komplex  des  jüdischenVolkes  getragenworden. 

Mit  und  neben  den  Chasaren  sind  zahlreiche  andere  Volks- 
elemente aus  dem  unübersehbaren  Völkergemisch  Großrußlands 
ins  Judentum  geströmt.  Das  Riesenreich  Rußland,  dem  jede 
biologische,  kulturelle  und  politische  Einheit  fehlte,  in  dessen 
hundertsprachigen  Völkergemischen  das  Christentum  nur  spät 
und  schwer  Wurzel  zu  fassen  vermochte,  ist  bis  auf  den  heutigen 
Tag  ein  dankbares  Feld  für  den  Proselytismus  geblieben.  Im 
15.  Jahrhundert  gründete  in  Nowgorod  und  anderen  Städten 
ein  Jude  namens  Zacharja  Proselyten-Sekten,  unter  denen  die 
Subotniki  nach  Fishberg  heute  nicht  weniger  als  2  Millionen 
Anhänger  besitzen  sollen  ( ?  ),  die  mit  großer  Zähigkeit  am  Juden- 
tum hängen  und,  wie  es  dann  immer  unausbleiblich  ist,  vereinzelt 
sich  den  Juden  selber  durch  Anknüpfung  familiärer  Beziehungen 
anschließen.  1907  wanderten  beispielsweise  100  russische  Bauern- 
familien der  Subotniki-Sekte  nach  Palästina  und  siedelten  sich 
dort  im  „Heiligen  Lande"  an.  An-Ski  hat  neuerdings  über  eine 
Sekte  berichtet,  die  sich  die  „Juden-Gewordenen"  nennt,  im 
Wolga-Gebiet  in  großen  Dörfern  wohnt  und  deren  Zahl  er  auf 
100  000  schätzt.  Im  anthropologischen  Typus  echt  großrussische 
Bauern,  leben  sie  nach  jüdischem  Ritual.  Bei  der  Beschreibung 
ihres  Gottesdienstes  heißt  es:  „Auch  der  Vorbeter  war  ein 
stämmiger  breitschultriger  Bauer,  ein  Hüne  von  Gestalt,  mit 
echt  slawischem  Gesicht,  breiter  Nase,  klaren  grauen  Augen 
und  dicken  blonden  Pajes." 

W^elche  Rolle  diese  und  ähnliche  Sekten,  ja  welche  Rolle  der 
Proselytismus  überhaupt  in  der  Entwicklungsgeschichte  der 
russischen  Juden,  die  heute  die  kompakte  Mehrheit  des  jüdischen 
Volkes  repräsentieren,  gespielt  haben  mag,  entzieht  sich  völHg 
unserer  Kenntnis.  Sind  wir  doch  über  die  Frühgeschichte  der 
Ostjuden  so  wenig  unterrichtet,  daß  wir  nicht  einmal  wissen, 
auf  welchen  Wegen  die  Mehrzahl  von  ihnen  nach  Rumänien, 
Galizien,  Bessarabien,  Polen  und  Rußland  zugewandert  ist. 
Wahrscheinlich  sowohl  von  Süden  über  das  Kaukasus-  und 
Schwarze-Meer-Gebiet,  wie  von  Westen  über  Deutschland,  wo 
die  Juden  unter  Karl  dem  Großen  sich  nach  Osten  schon  bis 
Magdeburg  und  Merseburg  ausgebreitet  hatten.  990  sind  sie 
in  Böhmen  zu  Wohlstand  gelangt  und  erregen  dort  durch  den 
Besitz  christlicher  Sklaven  den  Unwillen  des  Preußenapostels 
Adalbert  von  Prag.  1100  werden  sie  in  Gnesen  erwähnt.  Im 
13.   Jahrhundert  lebten  in  Ungarn  „nach  einem  Bericht  des 

158 


Erzbischofs  Robert  von  Gran  aus  dem  Jahre  1229  an  den  Papst, 
damals  noch  Juden  mit  christlichen  Frauen  ungesetzlich  in 
Mischehen  und  letztere  traten  häufig  zum  Judentum  über; 
christliche  Eltern  verkauften  ihre  Kinder  an  Juden,  manche 
ließen  sich  auch  aus  Gewinnsucht  beschneiden,  so  daß  binnen 
weniger  Jahre  viele  Tausende  vom  Christentum  abfielen"  (von 
Czörnig).  Diese  Beziehungen  haben  sich,  je  weiter  nach  Osten, 
um  so  länger,  bis  in  das  19.  Jahrhundert  als  legale  Zustände 
fortgesetzt.  1817  richteten  die  Kansker  Juden  in  Sibirien  ein 
Gesuch  an  die  russische  Regierung,  mit  den  eingeborenen  Mäd- 
chen der  turkotatarischen  Kalmückenstämme  Ehen  schließen 
zu  dürfen,  da  die  Judengemeinden  unter  Weibermangel  litten. 
Diese  sibirischen  Kolonistengemeinden  sind  zu  angesehenen 
Gliedern  der  russischen  Judenheit  herangewachsen. 

Aus  all  diesen  Einzelberichten  gewinnt  man  den  Eindruck, 
daß  der  Proselytismus  in  der  Frühgeschichte  der  öst- 
lichen Juden  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  hat,  wo- 
für die  Häufigkeit  slawischer  und  mongolischer  Züge  unter  den 
Juden  ein  sichtbares  Beweismaterial  liefert.  Fishberg  hat  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  die  Blondheit  unter  den  Ostjuden 
nicht,  wie  es  die  Amoritertheorie  Chamberlains  verlangt,  mit 
dem  germanischen  hohen  Wuchs  sondern,  entsprechend  der 
slawischen  Konstitution,  mit  kurzem,  gedrungenem  Körperbau 
verbunden  ist,  während  die  hochgewachsenen  Juden  in  der 
Mehrzahl  dunkelhaarig  sind^). 

Durch  den  Zustrom  slawisch-mongolischen  Blutes  wurden 
die  osteuropäischen  Juden  um  eine  Nuance  bereichert,  die  dem 
Juden  der  West-  und  Südländer  fehlt,  so  daß  die  zur  Zeit  der 
Zerstörung  Jerusalems  einheitHch  charakterisierte  Masse  der 
Juden  nun  in  zwei  Lager  geteilt  wurde:  die  russischen  Juden 
oder  Aschkenasim  und  die  sogenannten  spanischen  Juden 
oder  Sephardim.  Die  Aschkenasim  unterscheiden 
sich  von  den  Sephardim  durch  den  slawisch-mon- 
golischen Einschlag.  Der  aschkenasische  Typus  ist  der 
reichere;  er  trägt  den  sephardischen  in  sich;  er  ist  der  jüngere 
Typ,  während  der  Sepharde  der  ältere,  „echtere"  ist.    Daher 

^)  Für  die  Zuverlässigkeit  der  anthropologischen  Angaben  ist  es 
bemerkenswert,  daß,  wie  von  fast  jeder  anderen,  so  auch  von  dieser  Fest- 
stellung, die  doch  eigentlich  einwandfrei  zu  datieren  sein  müßte,  durch 
andere  Autoren  genau  das  Gegenteil  behauptet  wird.  Majer  und  Koper- 
nitzki  fanden,  daß  Blondheit  unter  den  Ostjuden  häufiger  mit  Körper- 
größe als  mit  Gedrungenheit  zusammengehe. 


findet  man  unter  den  Aschkenasim  alle  Typen  der  Sephardim, 
aber  den  Sephardim  fehlt  der  slawisch-mongolische  Typ  des 
russischen  Juden. 

Milieueinflüsse  haben  den  Unterschied  zwischen  Aschkenasim 
und  Sephardim  noch  verstärkt.  Die  Sonne  Spaniens  und  Afrikas 
hat  die  seit  2000  Jahren  dort  lebenden  Juden  gebräunt;  der 
Aufenthalt  im  russischen  Norden  die  Farbe  der  dortigen  Juden 
gehellt.  Außerdem  ist  es  eine  bekannte  Erscheinung,  daß  das 
soziale  Milieu  „abfärbt".  Der  Deutsche  ändert  in  Amerika  in 
wenigen  Jahren  seine  Physiognomie  unter  Annäherung  an  den 
amerikanischen  Typus;  der  Europäer  japanisiert  sich  in  Japan; 
das  Ghetto  besitzt  seine  eigene  Physiognomie.  So  haben  die 
Juden,  die  seit  vielen  Jahrhunderten  unter  den  Arabern  leben, 
arabische  Allüren  angenommen,  während  die  Juden  im  Osten 
russische  Stigmata  erwarben. 

Durch  den  Proselytismus  im  Osten  sind  der  Judenheit  noch 
«in  Mal,  und  zwar  zum  letzten,  blonde  Elemente  in  größeren 
Mengen  zugeflossen,  so  daß  man  nunmehr  einen  Überblick 
über  die  Quellen  der  Blondheit  unter  den  Juden 
besitzt. 

Als  solche  sind  zu  betrachten: 

1.  Die  Spielart:  Wie  unter  allen  Völkern  der  weißen  Rasse 
kommen  auch  unter  den  Juden  Blondlinge  als  einfache  Varie- 
täten zur  Beobachtung.  Selbst  der  Begründer  der  Politisch- 
anthropologischen Schule  Woltmann  vertritt  die  Ansicht,  „daß 
dn  großer  Teil  der  blonden  Juden  nicht  aus  einem  Bluteinschlag 
von  nordischen  Stämmen  sondern  aus  einer  Eigenvariation  der 
hethitischen  Rasse  hervorgegangen  ist". 

2.  Das  Milieu:  Der  nunmehr  bald  zweitausendjährige  un- 
unterbrochene Aufenthalt  im  Norden  hat  selbstverständlich  auf 
die  Juden  des  Nordens  ebenso  aufhellend  gewirkt,  wie  er  es  fort- 
gesetzt auf  alle  Völker  der  nordischen  Breiten  tut.  Daß  Miheu- 
einflüsse  äußerst  rasch  bemerkbar  werden  können,  haben  die 
Veränderungen  der  Europäer  in  Amerika,  Japan  und  in  den 
Tropen  erwiesen. 

3.  Geschlechthche  Zuchtwahl:  Es  mag  sein,  daß  in  den  ver- 
schiedenen Ländern,  wie  die  Autoren  hervorheben,  eine  gewisse 
Zuchtwahl  stattfindet,  indem  bei  Heiraten  jene  Typen  bevor- 
zugt werden,  die  dem  Schönheitsideal  des  Landes  entsprechen, 
also  im  Süden  die  Brünetten,  im  Norden  die  Blonden.  Doch 
wird  diese  Zuchtwahl  bei  den  Juden  des  Mittelalters,  deren 
Richtlinien    bei    der    Eheschließung    fast    ausschließlich    von 


160 


^* 


intellektuellen,  religiösen  und  sozialen  Gesichtspunkten  und 
am  allerwenigsten  von  ästhetischen  geleitet  wurden,  nur  einen 
minimalen  Einfluw  geübt  haben  können. 

4.  Mischehen  mit  den  Eingeborenen,  die  im  Norden  zur  Ver- 
mehrung der  Blondlinge,  im  Süden  zur  Vermehrung  der  Brü- 
netten führen.   In  engster  Beziehung  zu  diesen  Mischehen  steht 

5.  der  Proselytismus  in  dem  erwähnten  Umfang,  der  natür- 
lich ebenfalls  im  Süden  die  Vermehrung  der  Brünetten,  im  Nor- 
den die  Vermehrung  der  Blonden  begünstigte.  Da  namentlich 
im  frühen  Mittelalter  und  ganz  besonders  wieder  im  Osten  der 
Zustrom  von  Proselyten  sehr  stark  gewesen  zu  sein  scheint, 
erklärt  sich  durch  ihn  der  hohe  Prozentsatz  von  Blonden  unter 
den  Aschkenasim  des  Ostens  gegenüber  den  im  allgemeinen 
dunkleren  Sephardim  des  Südens. 

6.  Frühgeschichtliche  Rassenkreuzung  mit  den  wahrschein- 
lich nordisch  blonden  Philistern  und  später  mit  Griechen,  Römern 
und  Angehörigen  germanischer  Stämme 

IVlit  der  Aufhebung  der  Sklaverei  und  der  all- 
gemeinen Christianisierung  endet  etwa  um  das  Jahr 
1000  der  Proselytismus  und  mit  ihm  der  zweite  Ab- 
schnitt in  der  Rassengeschichte  des  jüdischenVolkes. 
Durch  ihr  Gesetz  dazu  angehalten,  durch  Not  ge- 
zwungen, leben  die  Juden  von  nun  an  in  einer 
Inzucht,  die  in  ihrer  Dauer  und  Strenge  in  der  Ge- 
schichte der  westlichen  Völker  ohne  Beispiel  ist 
Aus  dieser  dritten  Periode,  der  Epoche  der  Rein- 
zucht, ist  das  jüdische  Volk  nach  allen  voran- 
gegangenen Kreuzungen  und  Mischungen  als  eine 
anthropologisch  umgrenzte  Einheit,  als  eine  Rasse 
hervorgegangen.  Innerhalb  dieser  Rasse  herrscht  ent- 
sprechend der  Vielzahl  der  Komponenten  und  der  Kürze  der  Rein- 
zuchtpeiiode  ein  großer  Typenreichtum.  Es  gibt  nicht  einen 
jüdischen  Typ;  man  kann  aus  einem  Gruppenbild  von  100  Per- 
sonen nicht  einen  Juden  mit  Sicherheit  herauslesen,  so  wenig  man 
es  von  irgendeiner  anderen  „Kulturrasse"  der  Menschheit  ver- 
mag. Fertigt  man  jedoch  Bilder  von  100  Juden  an,  so  kann  man 
das  jüdische  Typenbild  aus  100  Typenbildern  anderer  Völker 
ohne  Besinnen  erkennen.  Die  Juden  sind  eine  Rasse  —  nicht 
im  strengen  Sinn  der  Zoologie,  und  noch  weniger,  wie  man  es  so 
viel  mit  falschem  Stolz  verkünden  hört,  eine  ,,seit  Jahrtausenden 
rein  erhaltene  Rasse",  wohl  aber  in  jenem  weiteren  und  höheren 

\l     Kahn,  Die  Jiid*a.  161 


« 


Sinn,  den  Kulturgeschichte  und  Sprachgebrauch  dem  Terminus 
Rasse  gegeben  haben.  Wenn  man  das  Wort  Rasse  auf  nationale 
Einheiten  anwendet,  deren  Gheder  durch  gleichen  Milieueinfluß 
und  fortgesetzte  Inzucht  einander  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
art-  und  blutsverwandt  geworden  sind  und  sich  nun  auch  kör- 
perlich und  geistig  verwandt  fühlen  —  wenn  man  in  diesem  Sinn 
die  Deutschen,  die  Franzosen,  die  Engländer  als  Rassen  germa- 
nischen, gallischen,  britischen  Schlages  bezeichnet  und  als  Völ- 
kerindividualitäten charakterisiert  und  gegenüberstellt,  so  ist 
auch  der  Jude  unter  diesen  Begriff  der  Rasse  zu  setzen.  In  ihrer 
Gesamtheit  bilden  die  Juden,  allem  Reichtum  der  Typen  und 
allen  historischen  Mischungen  zum  Trotz,  eine  ebenso  anthro- 
pologisch-kulturologisch  charakterisierte  Einheit  wie  nur  irgend- 
eine andere  Bluts-  und  Kulturgemeinschaft  der  westlichen  Welt. 
Die  einzelnen  jüdischen  Typen  mag  man  unter  Arabern,  Ira- 
niern,  Armeniern,  Ägyptern,  Mongolen,  Germanen  und  Slawen 
^  original  wiederfinden;  aber  eine  aus  diesen  Komponenten,  in 

™  diesem  spezifischen  Mischungsverhältnis  zusammengesetzte,  erst 

2000  Jahre  gemischte  und  dann  1000  Jahre  rein  gezüchtete  und 
—  was  die  Hauptsache  ist  —  psychisch  so  eigentümlich  und  ein- 
heitlich orientierte  Gemeinschaft  wie  die  heutige  Judenheit 
findet  sich  nur  einmal  auf  Erden,  ist  eine  Individualerscheiming 
unter  den  Völkern  und  repräsentiert  sich  uns  mithin  als  das, 
was  wir  in  dem  höheren  Sinn  der  Kulturgeschichte  als  Rasse 
bezeichnen. 

Endlose  Debatten  werden  darüber  gesponnen,  ob  die  Juden 
eine  Rasse,  eine  Nation  oder  eine  Glaubensgemeinschaft  dar- 
stellen, Debatten,  die  nie  zu  einem  Ende  führen  können,  weil 
die  Fragestellung  falsch  ist:  die  Juden  sind  weder  das  eine  noch 
das  andere,  sondern  das  eine  und  andere  zugleich.  Durch  den 
Zusammenschluß  verschiedener  Volksstämme  zu  einer  politi- 
schen und  kulturellen  Gemeinschaft  entstand  um  das  Jahr  1000 
V.  Chr.  die  jüdische  Nation.  Als  Nachkommen  dieses  durch 
die  Römer  versprengten  Volkes  sind  die  heutigen  Juden  eine 
durch  ein  politisches  Zufallsschicksal  über  die  Erde  verstreute 
Nation.  Man  hat  eingewendet,  ein  Volk,  das  keine  Heimat  mehr 
besitze  und  keinen  Staatsverband  mehr  bilde,  sei  nicht  mehr 
Nation  zu  nennen.  Mit  Recht.  Aber  das  jüdische  Volk  besitzt 
eine  Heimat  und  bildet  einen  Staatsverband  —  in  der  Idee,  im 
Willen,  und  das  entscheidet  alles.  Das  Kriterium  der  Nation  ist  nicht 
der  reale  Besitz  eines  Landes  und  nicht  die  Realisation  eines  Staats- 
verbandes— wie  können  zwei  so  äußerliche,von  rein  mechanischeD 

162 


Zufällen  abhängige  und  jederzeit  wieder  wendbare  Konditionen 
eine  Idee,  wie  die  Nation  doch  einzig  ist,  zunichte  machen?  — 
das  Kriterium  der  Nation  ist  die  Blutsverwandtschaft  der  Leiber 
und  das  Solidaritätsgefühl  der  Seelen,  sind  Bewußtsein  und 
Wille,  gegenüber  allen  anderen  Gemeinschaften  der  Erde  eine  ge- 
schlossene Brüderschaft  zu  bilden.  Wenn  in  den  Juden  die  Idee  der 
Heimat  nicht  mehr  lebt,  wenn  sie  nicht  mehr  die  Erinnerung  an  die 
gemeinsame  Vergangenheit  und  die  Hoffnung  auf  eine  gemeinsame 
Zukunft  verbindet,  wenn  sie  sich  nicht  mehr  als  Glieder  eines 
Volkes  fühlen,  sondern  statt  russische  Juden  Russen  und  statt 
polnische  Juden  Polen  sein  wollen  und  sich  x-beliebigen  Mushiks, 
unter  die  sie  das  Zufallsschicksal  verschlagen,  körperlich  und 
seelisch  näher  fühlen  als  einem  Juden,  der  ihnen  irgendwo  in  der 
Welt  die  Hand  zu  einem  Brudergruße  schüttelt  —  dann  erst  hören 
sie  auf,  das  was  sie  sind,  eine  Nation  zu  sein.  Aber  noch  ist  in  ihnen 
über  alle  differenzierenden  Einflüsse  der  verschiedenen  Milieus  der 
Weltzerstreuung,  über  alle  Akklimatisationen  und  Assimilationen 
an  die  verschiedenen  Völker  und  Sitten  der  Diaspora  und  über  alle 
Nivellierungen  des  InternationaHsmus  das  spezifisch  Jüdische  in 
Lebensführung  und  Weltanschauung  sieghaft  geblieben.  Noch 
übertönt  in  allen  jüdischen  Herzen  das  Lecho  daudi  die  Marseil- 
laisen der  verschiedenen  Gastnationen,  noch  horcht  der  Jude,  ob 
er  im  Zyhnder  an  der  Londoner  Börse  oder  im  Kaftan  über 
den  polnischen  Markt  geht,  ob  er  als  Farmer  in  Argentinien  mit 
dem  Präriepferd  über  seine  Weidewiesen  oder  unter  der  Sonne 
Afrikas  auf  Kamelen  im  Burnus  über  die  Wüste  reitet,  wie  auf 
die  Stimme  der  Mutter,  wenn  man  ihm  Schalom  alechem!  zu- 
ruft. Das  alte  Band  umschlingt  die  alten  Herzen  und  ein  neues 
Geschlecht  wirkt  seine  Fäden  neu  .  .  . 

Da  die  Kulturtendenz  des  jüdischen  Volkes  eine  religiöse  war 
und  seit  Aufhebung  der  nationalen  Einheit  die  alte  Staats- 
religion das  stärkste  Band  für  die  zerstreuten  Volksgenossen 
bildet,  ist  die  Judenheit  zugleich  Religionsgemeinschaft.  Aber 
durchaus  nicht  nur.  Man  hört  nicht  auf  Jude  zu  sein,  wenn  man 
Atheist  wird  und  Schweinefleisch  ißt.  Durch  die  Taufe  kann  man 
katholisch  werden,  aber  nicht  Germane.  Denn  Jude  sein  heißt,  über 
den  Rahmen  einer  Glaubensgemeinschaft  hinaus  Glied  eines  Volkes 
von  bestimmtem  Nationalcharakter,  Typus  einer  Rasse  von  be- 
stimmtem anthropologischen  Einschlag  Zu  sein.  Und  so  wenij^ 
man  seine  Haut  von  sich  streifen  kann,  so  wenig  vermag  man  sieb 
dieser  Wesensart  zu  entäußern.  Nur  durch  Mischehe  kann  ein  Jude 
in  seinen  Nachkommen  die  Eigenart  des  jüdischen  Wesens  allmäh- 

11«  16a 


Wf 


lieh  zum  Erblassen  bringen,  so  wie  man  Rotwein  durch  immer 
erneute  Mischung  mit  Wasser  allmählich  seiner  Farbe  beraubt. 

Das  Tripleproblem  Rasse,  Nation  oder  Glaubensgemeinschaft, 
jedes  einzelne  schon  verstrickt  genug,  wird  dadurch  noch  ver- 
schränkter, daß  sich  die  Grenzen  der  drei  Kategorien  nicht 
decken.  Der  jüdischen  Glaubensgemeinschaft  haben  sich  Völker 
angeschlossen,  ohne  durch  Mischehe  und  soziale  Anpassung  in 
die  jüdische  Rasse  oder  Nation  einzutreten.  Dadurch  gibt  es 
Bekenner  der  jüdischen  Religion,  die  weder  nach  Rasse  noch 
Nation  zu  den  Juden  zu  zählen  sind,  z.  B.  die  jemenitischen 
Juden,  die  Araber  sind  und  die  man  statt  jemenitische  Juden 
besser  jüdische  Jemeniten  nennt,  ferner  die  kaukasischen  Juden, 
die  richtiger  jüdische  Kaukasier  genannt  würden,  die  Falascha 
Abessiniens  und  die  sonstigen  Proselytengemeinden  der  Fremde. 

In  der  Ignorierung  dieser  einfachen  Tatsache,  daß  nicht 
alle  Bekenner  des  Judentums  Juden  sind,  sondern  viele  von 
ihnen  nur  „Proselyten  am  Tore",  scheiterten  alle  bisherigen  Ver- 
suche, die  jüdischen  Rassentypen  anthropologisch  zu  sichten. 
Fishberg  stellt  die  Photographien  von  jüdischen  Chinesen,  spa- 
nischen Juden  und  abessinischen  Falascha  zusammen  und  be- 
hauptet, nachdem  er  in  einem  dicken  Buche  alle  Unterschiede 
zwischen  ihnen  aufgezählt,  „daß  die  Rassenhomogenität  der 
Juden  nichts  als  eine  Mythe  sei".  Wie  billig  ist  diese  Wahrheit ! 
Mit  eben  demselben  Recht  kann  man  drei  englische  Untertanen, 
einen  Hottentotten,  einen  Buren  und  einen  Inder,  nebeneinander 
stellen  und  damit  der  Welt  beweisen,  „daß  die  Rassenhomo- 
genität der  Briten  nichts  als  Mythe  sei".  Die  strenge  Schei- 
dung zwischen  den  echten  Juden  der  Rasse  und 
den  fremdrassigen  Proselytenvölkern  jüdischen 
Bekenntnisses  muß  die  Voraussetzung  aller  künf- 
tigen anthropologischen  Untersuchungen  über  die 
Juden  bilde n.  Nur  wenn  man  die  Proselytenvölker  ausschei- 
det und  sich  auf  die  Untersuchung  der  Nachkommen  der  palä- 
stinensischen Juden,  der  Aschkenasim  undSephardim,  beschränkt 
und  auch  hier  wieder  die  historischen  Soaderschicksale  und 
späteren  Kreuzungen  genau  berücksichtigt,  kann  man  vielleicht 
zu  einer  anthropologischen  Charakteristik  der  heutigen  jüdischen 
Rasse  gelangen.  Alle  bisherigen  Arbeiten  über  die  Anthro- 
pologie die  Juden  haben  diese  Fundamentaltatsache  außer 
acht  gelassen  und  sich  dadurch  mit  dem  Stempel  der  Unzuläng- 
lichkeit gezeichnet.  Sie  werden  vor  dem  Richterstuhl  der 
Nachwelt  einmal  ebenso  mitleidiges  Lächeln  finden  wie  heute 

164 


vor  unseren  Blicken  etwa  die  ,,Historia  naturalis"  des  Albertus 
Magnus.  Wer  auch  nur  in  jenen  skizzenhaften  Umrissen, 
in  denen  es  hier  versucht  wurde,  die  Geschichte  der  jüdischen 
Rasse  überschaut,  wird  erkennen,  daß  das  Problem  unver- 
gleichlich komplizierter  ist  als  gemeinhin  angenommen  wird 
und  leider  auch  so  vielfach  von  seinen  Untersuchern  auf- 
genommen wurde;  daß  sich  das  jüdische  Rassenproblem 
weder  in  dem  Rahmen  eines  Abendvortrags  „lösen",  noch, 
um  nur  eine  der  bekanntesten  Publikationen  zu  nennen,  in 
einer  30-Seiten-Broschüre  wie  der  von  Stratz  auch  nur  einiger- 
maßen angemessen  behandeln  läßt.  Dazu  ist  es  viel  zu  groß 
und  tief,  viel  zu  verwickelt  und  verworren;  nur  ernster  Fleiß 
und  reiches  Wissen,  weiter  Blick  und  tief  sondierende  Kritik 
vermögen  es  zu  meistern.  Und  für  unsere  Zeit  mit  ihrem  dürf- 
tigen Einblick  in  die  alte  Geschichte  und  ihren  unzulänglichen 
Methoden  der  Anthropologie  erscheint  es  vorderhand  völlig  un- 
angreifbar. Daher  ist  auch  das,  was  hier  im  Vorangegangenen 
gegeben  wurde,  durchaus  nicht  als  eine  Lösung  des  Problems 
der  jüdischen  Rasse  sondern  nur  als  eine  Übersicht  über  das  zu 
bearbeitende  Material  anzusehen.  Erst  wenn  wir  die  Fragen 
nach  der  Gliederung  der  weißen  Rasse  und  dem  Verhältnis  ihrer 
Völker  zueinander,  wenn  wir  die  Stammesgeschichte  der  Baby- 
lonier  und  Ägypter,  der  Amoriter  und  Kanaaniter,  der  Hethiter, 
der  Philister  und  der  Chasaren  kennen,  wenn  wir  über  den  Umfang 
der  Mischehen,  des  Proselytismus  und  der  Sklavenbekehrungen, 
über  die  Frühgeschichte  der  Ostjuden  und  auf  naturwissen- 
schaftlichem Gebiet  über  die  Einflüsse  des  Milieus,  der  Inzucht 
und  der  Kreuzungen  genauere  Kenntnisse  erworben,  vor  allem 
aber  auch  in  den  Besitz  von  Methoden  gelangt  sind,  Menschen- 
typen überhaupt  exakt  zu  charakterisieren  und  zu  klassifizieren 
—  erst  wenn  all  diese  und  hundert  andere  Vorbedingungen  er- 
füllt sind,  können  wir  zu  einem  abschließenden  Urteil  über  die 
RassenstoUung  der  Juden  gelangen.  Bis  dahin  müssen  wir  uns 
mit  den  allgemeinen  Abgrenzungen,  wie  sie  hier  gezogen  wurden, 
begnügen.  Es  ist  gewiß  nicht  viel,  wenn  man  am  Ende,  dem  Berg- 
fülirer  gleich,  der  einen  Wanderer  einen  schweren  Weg  umsonst  ge- 
leitet, nichts  zu  sagen  hat  als:  Siehe,  es  ist  Nebel  um  uns,  kein 
Ziel  der  klaren  Aussicht  winkt  —  ignoramus.  Aber  es  ist  besser, 
sich  mit  sokratischer  Einsicht  in  die  Klause  der  Bescheidenheit 
zurückzuziehen  als,  wie  die  Germanentheoretiker  es  tun,  Potem- 
kin'sche  Dörfer  aufzubauen  und  sich  an  einer  Illusion  zu  be- 
geistern. 

165 


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DIE     KULTUR     DER     JUDEN 


Wenn  man  einen  Menschen  nach  den  Grundsätzen  der  huma- 
nistischen Erziehung  mit  der  Kultur  der  Griechen  und 
Römer  vertraut  machte,  ohne  ihm  Kenntnis  von  der  Existenz  des 
jüdischen  Volkes  zu  geben,  und,  nachdem  man  ihn  ganz  mit  der 
Antike  und  der  Bewunderung  für  sie  erfüllt  hat,  eines  Tages  die 
Bibel  brächte  und  ihm  sagte :  Siehe,  hier  im  Osten,  wo  nach  deiner 
und  der  Griechen  Meinung  nur  Barbaren  lebten,  trat  2000  Jahre 
vor  Plato  ein  Volk  auf  den  Schauplatz  der  Geschichte,  dessen 
Chronik  diese  Bibel  ist.  Sie  beginnt  mit  einem  Schöpfungsmythus, 
in  dem  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Religionen  die  Welt  nicht 
aus  einem  Kampf  der  Götter  sondern  als  das  wohldurchdachte 
Werk  eines  liebenden  Allvaters  geschaffen  wird.  Seine  Heroen 
sind  keine  Drachenkämpfer  und  Riesentöter  sondern  Patriar- 
chen, deren  Leben  von  Frömmigkeit  und  Sittlichkeit  erfüllt  ist. 
Der  Nationalheld  dieses  Volkes  ist  kein  Schlachtensieger  sondern 
ein  Rehgionsverkünder,  der  als  höchste  PfHchten  Abkehr  vom 
Götzendienst  und  liebende  Verehrung  eines  Gottes,  werk- 
tägliche Arbeit,  Achtung  vor  den  Eltern,  Sabbat  für  Knecht 
und  Vieh,  Unantastbarkeit  des  Lebens  und  Heiligkeit  des  Eides, 
der  Ehe  und  des  Eigentumes  fordert.  In  dem  Kommentar  zu 
diesem  Gesetz,  der  das  gesamte  Leben  des  Volkes  bis  in  seine 
Einzelheiten  nach  sittlich-sozialen  Grundsätzen  regelt,  finden 
sich  Maximen  wie:  Es  soll  keine  Armen  geben  in  Israel.  Liebe 
deinen  Nächsten  wie  dich  selbst.  Liebe  auch  den  FremdHng 
wie  dich  selbst.  Deinen  Feind,  den  hungert,  speise  mit  Brot; 
wenn  ihn  dürstet,  tränke  ihn  mit  Wasser.  Wenn  du  den  Esel 
deines  Widersachers  erliegen  siehst  unter  seiner  Last,  so  nimm 
sie  ihm  ab.  Du  sollst  den  Lohn  des  Tagelöhners  nicht  über 
Nacht  in  deinem  Haus  behalten.  Beuge  nicht  das  Recht  des 
FremdHngs,  sei  den  Waisen  ein  Beschützer  und  pfände  einer 
Witwe  nicht  das  Kleid.  Koche  nicht  das  Zicklein  in  der  Milch 
seiner  Mutter. 

An  dieses  Gesetzbuch  schließen  sich  Gesänge,  Psalmen,  die 
durch  Würde,  Ernst  und  Inbrunst  eine  einzigartige  Stellung  in 
der  Lyrik  der  Welthteratur  einnehmen.  Ihnen  folgen  die  Reden 
der  Propheten,  Preis-,  Mahn-  und  Bußreden,  Tyrtäussänge  und 

10$ 


Philippicae,  Dithyramben  und  Ekstasen,  in  denen  der  ethische 
Gehalt  des  Deuteronomiums  den  engen  Rahmen  kultischer  Vor- 
schriften sprengt  und  sich  zum  philosophischen  Weltbekenntnis 
des  ethischen  Monotheismus  weitet.  Feurige  Visionen  und 
flammende  Weissagungen  durchleuchten  wie  Nordlicht  und 
Kometenschein  den  Sternenhimmel  ihrer  Prophetie.  Hieran 
reihen  sich  Poesien  verschiedenster  Gattung:  das  Liebesidyll 
Sulamith  —  ein  Hohelied  der  keuschen  Minne,  entstanden  als 
Protest  gegen  die  Laszivität  der  modischen  Liebeslyrik  des 
Auslandes;  die  Pastorale  Ruth  —  eine  Glorifikation  der 
Freundschaft,  Dankbarkeit  und  sozialen  Wohlfahrt;  die  Novelle 
Esther  —  eine  Verherrlichung  der  dem  Vaterlande  auch  im  Glück 
der  Fremde  bewahrten  Treue ;  Hiob  —  das  Faustdrama  der  über- 
wundenen Versuchung;  das  Jeanne  d'Arc-Schauspiel  Judith; 
das  Heldenlied  Deborah,  der  Roman  Simson,  die  Legende  Daniel, 
die  Ballade  Belsazar,  das  Märchen  Jona,  die  Sentenzensammlun- 
gen Salomonis  und  Sirachis  und  als  zweiter  Teil  das  Neue  Testa- 
ment, in  dem  der  Gedankenschatz  der  jüdischen  Reformatoren 
niedergelegt  ist,  mit  der  Bergpredigt,  dem  Proto-Manifest  alles 
SoziaUsmus  und  Kommunismus  auf  Erden,  dem  Korintherbrief, 
diesem  Ur-  und  Allhymnus  des  siegenden  Vertrauens  auf  die 
Macht  der  Liebe,  und  als  Abschluß  des  Ganzen  der  Apokalypse 
Johannis,  dem  farbenreichsten  Phantasiegemälde,  das  jemals 
eine  Menschenseele  aus  den  Tiefen  ihrer  Träume  in  die  Welt 
der  Worte  projizierte. 

Wenn  man  dem  Schüler  der  Antike  mit  diesen  Bemerkungen 
die  Bibel  überreichte,  könnte  es  anders  sein,  als  daß  ihn  höchste 
Bewunderung  für  dieses  Volk  ergriffe,  und  er  es  ganz  gewißlich, 
wenn  nicht  höher,  so  doch  mindestens  ebenbürtig  neben  Grie- 
chen und  Römer  stellte  ?  Daß  in  dem  Kopfe  dieses  vorurteilsfrei 
erzogenen  Menschen  niemals  auch  nur  der  Schatten  eines  Zwei- 
fels an  dem  vollen  Rassenwert  der  Juden  aufkommen  könnte? 
Daß  er  die  Motive  eines  solchen  Zweifels  gar  nicht  begriffe  ?  Er, 
der  Vorurteilslose  nicht  —  wir  begreifen  sie.  Denn  wir  haben  sie  ja 
kraft  einer  falschen  Erziehung  an  uns  selber  erfahren.  Auch 
wir  lernten  die  Bibel  mißachten,  weil  man  sie  uns  zu  hoch  zu 
achten  zwingen  wollte.  Weil  man  sie  uns  zu  frühe  zwischen 
Märchenbüchern  und  Ammengeschichten  als  mystische  Offen- 
barung lehrte,  als  ein  Polizeireglement  des  Himmels  fürchten, 
aber  nicht  als  Menschenwerk  bewundern.  Und  was  man  nicht 
bewundern  lernt,  lernt  man  nicht  lieben.  Wer  schaut  auf  das 
täglich  über  uns  erstrahlende  Mirakel  der  Sonne?    Niemand, 

169 


r-,  W 


denn  es  ist  uns  seit  der  Jugendzeit  alltäglich.  Doch  wenn  ein 
Komet  am  Himmel  leuchtet,  stellen  wir  uns  auf  die  Dächer 
und  beginnen  zu  bestaunen.  Wenn  man  mit  zwanzig  Jahren 
Kung-fu-tse  und  Lao-tse  zur  Hand  bekommt,  ist  man  er- 
griffen, bei  den  „alten  Chinesen"  —  300  Jahre  vor  Christus  — 
die  Maximen  der  Barmherzigkeit  zu  finden.  Daß  Moses  1000 
Jahre  vorher  diese  Lehren  in  einer  unvergleichlich  genialeren 
Konzeption,  nicht  einer  Sekte  weltentsagender  Asketen  als  ge- 
läuterte Altersweisheit,  sondern  einem  ganzen  Volke  als  Real- 
verfassung vorgezeichnet  hatte,  und  daß  dieses  Volk  bis  zu 
Kung-fu-tse's  Zeit  schon  ein  Jahrtausend  nach  dem  strengen 
Sittenritual  des  mosaischen  Gesetzes  lebte  und  als  Blütenfrucht 
des  Weihedaseins  ganze  Generationen  heiliger  Helden  geboren 
hatte,  aus  deren  Reihe  die  Hochgestalten  der  Propheten  ragen  — 
daß  alsbald  hernach  aus  diesem  Volke  Christus  und  die  Zwölf- 
zahl seiner  Jünger  hervorgingen,  von  der  arischen  Nachwelt  mit 
der  Gloriole  des  Heiligenscheins  geschmückt,  weil  sie  zu  gött- 
lich schienen,  als  daß  sie  hätten  Sterbliche  sein  können,  daß  alle 
diese  Menschen  von  der  Patriarchengestalt  Abrahams  bis  zum 
Apokalyptiker  Johannes  Juden  gewesen  waren,  daß  all  der  un- 
erschöpfliche Reichtum  der  Gedanken  und  Empfindungen,  daß 
all  die  Weisheit,  Gnade,  Güte  und  Barmherzigkeit,  all  die 
Nächstenliebe  und  Friedfertigkeit,  die  aus  der  Bibel  hervor- 
leuchten, daß  all  das  heiße  Gottvollendungsringen,  all  die  feste 
Zukunftszuversicht  in  die  Erfüllung  des  messianischen  Reiches, 
all  die  Hingabe  für  diese  Idee  „des  Himmels  auf  Erden"  von 
der  Opferung  Isaaks  bis  zum  Märtyrertod  eines  Petrus  oder 
Akiba,  kurz  alles  das,  was  man  als  Offenbarung,  Auserwähltheit 
und  Verkündigung  feiert,  betet,  im  Staube  liegend  erschauernd 
anhört,  daß  alles  dieses  nicht  ein  Gnadengeschenk  des  Himmels 
sondern  das  erlebte  und  gestaltete  Werk  des  jüdischen  Volkes 
war,  seine  Dichtung,  Kunst  und  Philosophie,  seine  National- 
schöpfung, sein  Wesen,  sein  Wille,  seine  Rasse  —  dessen  waren 
wir  uns  nicht  bewußt  geworden.  Man  hatte  es  uns  falsch  und 
zu  früh  gelehrt.  Man  hatte  uns  den  klaren  Wein  nicht  wie  den 
Griechennektar  in  den  schäumenden  Schalen  der  Begeisterung 
kredenzt  sondern  als  Katechismenweisheit  aus  den  Stöpsel- 
flaschen des  Moralunterrichts,  dreimal  täglich  einen  Löffel, 
verabfolgt,  als  sei  es  Lebertran.  Und  wovon  der  Jüngling  zu 
gegebener  Zeit  freudetrunken  worden  wäre,  davon  wurden  die 
Kinder  in  den  Montagmorgenstunden  müde.  Und  sie  haßten 
diesen  Trank,  und  empfinden  heute  noch,  wenn  man  von  Bibel 

170 


spricht,  den  bitteren  Nachgeschmack  der  mit  Rohrstock  und 
Arreststunde  beigebrachten  Schulmoral.  Das  Ambrosia  ist  ihnen 
Lebertran  geblieben. 

Ein  Volk,  dessen  Volksbuch  die  Bibel  ist,  i  s  t  rassenwertig. 
Daß  man  über  den  Rassenwert  eines  solchen  Volkes  eine  Ver- 
teidigungsschrift verfaßt,  ist  ein  Verdammnisurteil  für  die  Zeit, 
der  man  es  muß,  ist  ein  Armutszeugnis  für  die  Kultur,  die  den 
Gedanken  hieran  in  dem  Hirne  eines  Menschen  hat  erwecken 
können.  Wenn  die  Juden  in  ihrer  ganzen  Geschichte  nichts  ge- 
leistet hätten  als  dieses  eine  Werk,  wenn  sie  heute  nichts  mehr 
leisteten,  sondern  nur  noch  als  lebende  Kulturfossilien  einher- 
gingen wie  die  Panzerlurche  Australiens,  so  müßte  die  Mensch- 
heit ihnen  Achtung  zollen  um  dieses  einen  Buches  willen,  das 
seit  zweitausend  Jahren  die  unerschöpfliche  und  bis  an  die 
Schwelle  der  Neuzeit  fast  einzige  Quelle  geistigen  Labsals  für 
die  Massen  der  westlichen  Welt  gewesen.  Wieviel  Trost,  Er- 
bauung, heiße  Inbrunst,  Kraft  und  Mut  und  heiligen  Vorsatz 
hat  die  Menschheit  nicht  aus  diesem  einen  Buch,  dem  Buche 
■der  Bücher,  geschöpft?  Dem  Kind  wird  es  als  erstes  Weih- 
geschenk aufs  Kissen  seines  Taufbestecks  gelegt,  die  Braut 
•empfängt  es  mit  der  Morgengabe,  der  Soldat  trägt  es  als  Amu- 
lett in  seinem  Ranzen,  und  dem  Sterbenden  wird  aus  ihm  vor- 
gelesen als  den  letzten  Worten,  die  die  Welt  ihm  mitzugeben 
hat.  Als  Kaiser  Wilhelm  zum  letzten  Mal  vor  seine  Truppen  trat, 
schloß  er  seine  Rede  mit  Zitaten  aus  den  Psalmen;  als  Präsi- 
dent Wilson  zu  den  Friedensverhandlungen  schritt,  empfing  er 
,,zur  speziellen  Verwendung  für  die  Friedenskonferenz"  eine  in 
Leder  gebundene  Bibel.  Welche  Wirkung  hat  Plato  auf  den 
arischen  Geist  geübt  ?  Unter  50  000  haben  ihn  drei  gelesen  und 
hat  ihn  einer  verstanden.  Kants  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  ist 
und  bleibt  dem  Volke  ein  Mysterium.  Die  ganze  deutsche  Natio- 
nalliteratur vom  Hildebrandslied  bis  zum  Zarathustra  hat  auf 
die  geistige  Entwicklung  der  Deutschen  nicht  im  entferntesten 
die  Wirkung  ausgeübt  wie  dieses  eine  jüdische  Buch,  dieses,  wie 
Goethe  gesagt  hat,  ,,ewig  wirksame  Werk".  Die  erste  deutsche 
Geistestat  in  der  Geschichte  ist  die  Übersetzung  der  Bibel. 
Mit  ihr  beginnt  die  Geschichte  der  deutschen  Nationalkultur. 
Man  überlege  sich,  wie  seltsam  es  ist:  der  deutsche  Geist  er- 
wacht, will  ein  erstes  Werk,  sein  erstes  nationales  Werk  voll- 
führen —  und  übersetzt  das  Volksbuch  der  Juden  in  seine 
Sprache.  Und  bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  dieses  Judenwerk 
das  einzige  Buch  geblieben,  das  man  in  jedem  deutschen  Bauern- 

171 


hause  finden  kann.  Streicht  man  Schopenhauers  Welt  als  Wille, 
das  populärste  philosophische  Werk,  oder  selbst  Deutschlands 
volkstümlichste  Dichtung,  den  Faust,  aus  dem  Bewußtsein  der 
Gegenwart,  so  risse  man  keine  fühlbare  Lücke  in  das  Gedächt- 
nis der  Zeit.  Aber  undenkbar  ist  die  heutige  Kultur  ohne  die 
Bibel.  An  ihr  sind  die  Völker  Europas  groß  geworden.  An  ihr 
haben  die  Nationen  lallen  gelernt.  Sie  ist  die  Ammenmilch 
der  Geister.^) 

Hin  peinliches  Gefühl  für  alle  von  der  Einzigkeit  ihres  Ger- 
manentums und  der  Minderwertigkeit  der  Juden  überzeugten 
Hauserianer  und  Chamberlainisten.  Wie  frohlockten  sie  daher, 
als  die  versunkene  Kultur  Babyloniens  neu  ans  Tageslicht  ge- 
fördert wurde  und  man  entdeckte,  daß  biblische  Motive,  Rede- 
wendungen und  Kunstformen  babylonisches  Erbgut  waren  — 
die  Schöpfungsmythe  nach  einem  babylonischen  Vorbild  ent- 
worfen, die  Sintflutsage  babylonische  Legende,  der  Sabbat 
eine  babylonische  Institution  —  nun  war  die  geistige  Sterilität 
der  Juden  klar  erwiesen.  Nicht  einmal  ihr  Einziges  und  Eigenstes 
original!  Selbst  ihre  Chronik  Entlehnung.  Die  Juden  auch  im 
Altertum  wie  in  der  Neuzeit  schöpferisch  unfähige  Vermittler. 
Es  ist  wahr.    Die   Bibel   übernimmt   babylonische   Motive. 

*)  Brunner:  „Die  Nachahmung  des  jüdischen  Geistes  war  und  ist 
eine  ganz  unverhältnismäßig  allgemeinere  und  tiefer  einschneidende  als 
die  des  griechischen.  Bei  aller  Hoheit  und  Wunderbarkeit  der  griechischen 
Schöpfung:  an  das  Allgenügende  der  Bibel  reicht  sie  nicht  heran;  ganz 
unbestreitbar,  der  jüdische  Gedanke  hat  größere  Menschheitsbreit,  eund 
was  er  tatsächlich  geleistet,  ist  nicht  zu  zählen  und  nicht  zu  wägen  . . . 
Was  ist  unsere  Abhängigkeit  von  Griechenland  in  einigen  Einzelheiten 
und  das  Gräzisieren  von  ein  paar  Dichtern  und  Künstlern,  was  ist  das 
gegen  das  Judaisieren  der  ganzen  Welt?  . . .  Wie  unbedeutend  erscheint 
die  Wirkung  des  klassischen  Griechisch,  verglichen  mit  dem,  was  das  un- 
reine Judengriechisch  der  Septuaginta  und  des  Neuen  Testaments  über 
die  Welt  vermocht  hat!  Die  Ideen  des  Judentums  sind  weit  und  breit 
den  Völkern  bei  hoch  und  niedrig,  arm  und  reich,  bei  denkend  und  nicht- 
denkend, gelehrt  und  unwissend,  bei  gläubig  und  ungläubig  tief,  tief  ins 
feinste  Mark  und  Leben  gedrungen."  —  „Was  ist  so  bedeutend  in  der 
Geschichte  und  Kultur,  was  gleichermaßen  befruchtend  für  die  Mensch- 
heit, grenzenlos  wirksam  mit  seinem  Leben  und  mit  dem  Widerschein 
seines  Lebens  heute  noch  und  ganz  gewiß  auch  noch  morgen  als  das  Juden- 
tum?" —  „Das  Judentum  mit  seinen  Gedanken  und  seiner  Gedanken- 
stimmung ist  die  hauptgeschichtliche  Überlieferung  seiner  Kultur  und 
die  tiefste  und  lebendigste  Wirklichkeit  unserer  Völker  —  das  Judentum 
aufgeben,  das  heißt  für  unsere  Völker  ihr  Dasein  aus  dem  Weltgefüge 
reißen." 

172 


Aber  diese  Tatsache  ist  für  die  Beurteilung  des  Bibelwertea 
ungefähr  ebenso  wesentlich  wie  die  Feststellung,  daß  Egmont 
gar  keine  Erfindung  Goethes  ist  sondern  dreihundert  Jahre 
vorher  in  Flandern  leibhaftig  gelebt  hat.  Palästina  war  ein 
babylonisches  Kulturland  wie  das  mittelalterliche  Italien  ein 
solches  des  christlichen  Europa,  und  daß  sich  das  jüdische  Volk 
mit  seinen  kosmogonischen  Vorstellungen  im  Gedankenkreis 
der  babylonischen  Welt  bewegt,  ist  ebenso  natürhch,  wie  daß 
die  italienischen  Künstler  in  ihren  Werken  christliche  Motive 
darstellen.  Ist  Raffael  ein  geringerer  Künstler,  weil  die  Madonnen 
nicht  seine  Erfindung  sind  ?  Leonardo  kein  originaler  Schöpfer, 
weil  er  das  Abendmahlmotiv  der  Bibel  entnommen  ?  Goethe  ein 
Plagiator,  weil  er  den  Griechen  die  Iphigenie  „gestohlen"? 

Stoff  ist  rohes  Material.  Entscheidend  ist  der  Geist,  der  ihn 
gestaltet.  Daß  sich  der  Weltanschauungsbau  des  Judentums  aus 
babylonischen  Ziegeln  aufbaut,  ist  dem  Kenner  der  vorder- 
asiatischen Geschichte  so  selbstverständlich,  daß  ihm  jeder 
Disput  darüber  nur  ein  Lächeln  entringen  kann.  Doch  welch 
Gebäude  ward  errichtet  ?  Aus  Astartesockeln  „ward  dem  Ewigen 
ein  Altar  gebaut",  aus  Isishallen  das  Allerheiligste  geschaffen. 
Nicht  von  der  Voraussetzung  der  Unterschiede  darf  man,  nach 
dem  Rezept  von  Delitzsch,  Übereinstimmungen  suchen  und 
wie  ein  Spitzel  jubilieren,  wenn  man  ein  babylonisches  Tüpfel- 
chen im  jüdischen  Texte  findet,  sondern  umgekehrt,  von  der 
Voraussetzung  der  Übereinstimmung  ausgehend,  muß  man  die 
Unterschiede  hervorkehren.  Die  babylonische  Weltanschauung 
ist  die  entwicklungsgeschichtliche  Vorstufe  des  Judentums,  Babel 
und  Bibel  nicht  Parallelismen,  sondern  Deszendenz!  Was  hat 
der  jüdische  Geist  aus  der  babylonischen  Weltanschauung,  die 
im  vorgriechischen  Altertum  so  allmächtig  war  wie  im  Mittelalter 
die  christliche,  was  hat  der  jüdische  Geist  aus  ihr  zu  schaffen 
gewußt?  —  das  ist  die  Fragestellung  des  Problems  Babel  und 
Bibel. 

Durch  die  Entdeckung  der  babylonischen  Unterlagen  ist 
das  Judentum  nicht,  wie  der  Delitzsch'sche  Antisemitismus  trium- 
phiert, als  Plagiat  und  Epigonenwerk  entlarvt  und  degradiert, 
sondern  hebt  sich  nun  erst  in  seiner  welthistorischen  Bedeutung, 
in  seiner  scharf  umgrenzten  und  umstrahlten  Silhouette  gegen 
den  dunklen  Hintergrund  der  babylonischen  Zeitgeschichte  ab: 
der  Pilger-  und  Prophetenzug  der  Menschheit.  Ähnlich  der  spä- 
teren römischen  ist  die  babylonische  Weltkultur  —  darum  eben 
ward  sie  Weltkultur!  —  eine  ethisch  arme  Machtzivilisation  des 

173 


Militarismus  und  Merkantilismus.  Weltgeschehen  und  Menschen- 
leben ein  nach  der  Himmelsmechanik  laufendes  Uhrwerk,  das  Indi- 
viduum ein  eingeschraubtes  Rad  in  dieser  kosmischen  Maschinerie. 
Die  Zeiten  kreisen  in  monotonen  Schleifen.  Freiheit,  Sittlichkeit 
und  Fortschritt  in  höherem  philosophischen  Sinne  haben  keinen 
Antrieb  in  diesem  Mechanismus.  Das  Judentum  ist  nicht,  wie 
es  Chamberlain  scholastisch  konstruiert,  die  Repräsentation  des 
semitischen  Wesens  sondern,  wenn  man  semitisch  mit  babylo- 
nisch identifiziert,  der  Protest  gegen  diese  Weltanschauung, 
die  siegende  Überwindung  des  polytheistisch-astrologischen  Ba- 
bylonismus. Es  ist  der  semitische  Protestantismus,  und  der  Jude 
nicht  der  Prototyp  des  Semiten  sondern  sein  Gegner,  der  — 
Antisemit. 

Als  „Protestant"  zieht  Abraham  von  Ur  und  Harran  in  ein 
fernes  Land,  um  im  Gegensatz  zu  seinen  Zeitgenossen  „dem 
Ewigen  einen  Altar  zu  bauen",  so  wie  die  Quäker,  um  das  wahre 
Christentum  zu  leben,  aus  dem  bigotten  England  fliehen.  Als 
„Protestant"  gegen  den  ägyptischen  Despotismus,  der  nicht 
nur  Leiber  sondern  auch  die  Seelen  knechtet,  führt  Moses 
sein  Volk  in  die  Wüste  und  proklamiert  ihm  hier  sein  auf  Frei- 
heit und  Sittlichkeit  begründetes  Gesetz.  Als  „Protestanten" 
gegen  den  Babylonismus  im  Judentum  erheben  die  Propheten 
ihre  Stimme  gegen  Babel,  „den  goldenen  Kelch  in  der  Hand 
Jahwes,  der  die  ganze  Erde  trunken  macht";  als  „Protestanten" 
gegen  den  römischen  Krämergeist  der  Bourgeoisie  und  den 
Kapitalismus  der  Wirtschaftsform  wandern  Christus  und  seine 
Jünger  als  Protestanten  und  Prediger  der  Umkehr  durch  das 
judäische  Land. 

Man  hat  die  Veranlagung  zum  Protestantismus  als  ein  Rassen- 
merkmal der  Germanen  bezeichnet.  Eine  so  dehnbare  Kappe 
wie  das  Schlagwort  Protestantismus  läßt  sich  natürlich  über 
jeden  Schädel  ziehen.  Aber  mit  Ausnahme  des  ersten  und 
des  letzten  der  deutschen  Genies,  Luther  und  Nietzsche,  zeigen 
die  großen  Repräsentanten  des  deutschen  Geistes:  Händel,  Bach, 
Mozart,  Beethoven,  Leibniz,  Kant,  Schopenhauer,  Schiller, 
Goethe,  Friedrich  der  Große  und  Bismarck,  keinen  Zug  von  Pro- 
testantismus, und  der  Protestantismus  jener  beiden  war  nichts 
anderes  als  der  Protest  des  nordisch  männlichen  Charakters 
gegen  das  unmännlich  ungermanische  Ideal,  das  das  aus  dem 
Orient  via  Rom  importierte  Christentum  ihrer  Heimat  auf- 
gezwungen hatte.  Mit  ungleich  größerem  Rechte  könnte  man  diese 
Tendenz  dem  jüdischen  Geiste  zuschreiben.   Von  Abraham  und 

174 


Jakob,  die  die  Götter  ihrer  Väter  zertrümmern,  und  Moses,  der 
im  Zorn  „den  Mizri  schlug",  bis  zu  den  modernen  Führern  des 
Sozialismus  und  Kommunismus  sind  die  weitaus  meisten  jüdi- 
schen Charakterköpfe  der  Weltgeschichte  Kämpfer,  Überwinder, 
Neuverkünder,  Protestanten  —  ewige  Protestanten  gegen  das 
ewige  unausrottbare  Unrecht  der  menschlichen  Gesellschafts- 
ordnung. 

Es  wäre  eine  äußerst  dankbare  Aufgabe  für  einen  Berufenen, 
das  Verhältnis  von  Bibel  zu  Babel  unter  dem  Gesichtspunkt  ,,Das 
Judentum  als  Überwinder  des  Babylonismus"  ausführhch  dar- 
zustellen. Die  Unterlagen  dafür  sind  schon  heute  durch  Hunderte 
von  Textparallelen  aus  der  Keilschriftliteratur  gegeben.  Dann 
würde  sich  ein  anderes  als  das  von  Delitzsch  nicht  nur  flüchtig 
sondern  auch  oberflächlich  entworfene  Bild  enthüllen,  das  die 
Juden  als  Epigonen  der  Babylonier  zeichnet.  Nach  der  Dar- 
stellung von  Delitzsch  erscheint  beispielsweise  der  biblische 
Schöpfungsbericht  als  eine  poetisch  matte  Nachgestaltung, 
um  nicht  zu  sagen  Verunstaltung  eines  erhabenen  babylonischen 
Motivs.  In  Wahrheit  muß  das  Verhältnis  jedem,  der  über  die 
äußere  Technik  der  Poesie  den  Geist  der  Dichtung  zu  erfassen 
weiß,   als  gerade  entgegengesetzt  erscheinen. 

In  der  babylonischen  Kosmogonie  lebt  zu  Beginn  der  Welt 
Tihamat,  die  Drachengöttin,  als  Personifikation  des  Urmeeres.  Sie 
gebiert  die  Götter  als  ihre  Söhne,  die,  genau  wie  die  ihnen  nach- 
gebildeten homerischen,  nichts  anderes  als  Menschen  in  Über- 
lebensgröße sind.  Sie  geraten  mit  ihrer  Mutter  in  Streit  und 
beschließen  nach  einem  olympischen  Mahl,  als  ihnen  ,,der  Bauch 
vom  Weintrinken  voll  geworden,  daß  sie  trunken  waren  und  ihr 
Herz  höher  schlug",  daß  der  Lichtgott  Marduk  die  widerspenstige 
Drachenmutter  töten  solle.  Zum  Beweise  seiner  Würdigkeit  läßt 
Marduk  vor  allenGöttern  einen  Mantel  (Weltsymbol)  verschwinden 
und  wieder  erscheinen.  Dann  wappnet  er  sich,  fährt  Tihamat 
entgegen,  die  unterdes  zu  ihrer  Unterstützung  Ungeheuer  erzeugt 
hat,  wechselt  mit  ihr  homerische  Reden,  tötet  sie  und  zerteilt 
ihren  Leib.  Die  Schilderung  dieses  Drachenkampfes  ist  freilich 
von  hohem  poetischen  Schwung  getragen  und  macht,  Dühring 
und  Chamberlain  zum  Trotz,  den  epischen  Fähigkeiten  der  Se- 
miten alle  Ehre.  Nach  Abschluß  des  siegreichen  Kampfes  er- 
richtet Marduk  aus  dem  oberen  Teil  der  erschlagenen  Drachen- 
mutter den  Himmel,  aus  ihrem  unteren  die  Erde.  Am  Ende  der 
Schöpfung,  die  sich  nun  wie  im  biblischen  Text  in  sechs  Tagen 
vollzieht,  soll  der  Mensch  geschaffen  werden.  Einem  Gotte  wird 

175 


der  Kopf  abgeschlagen  und  aus  seinem  Blut  vermischt  mit  Erde 
der  erste  Mensch  geformt. 

Dieses  in  nuce  die  Vorlage  des  jüdischen  Berichtes,  in  dem 
beispielsweise  das  Wort  Tihamat  hebraisiert  als  Tehom  für 
Urmeer  übernommen  ist  und  sich  noch  durch  seinen  artikel- 
losen Gebrauch  als  babylonischer  Eigenname  verrät  —  eine  kraß 
anthropomorphistisch- polytheistische  Kosmogonie  ohne  den 
geringsten  Anflug  zur  Erhabenheit  und  ohne  ethische  Idee, 
einzig  geschrieben,  Ursprung  von  Erde  und  Göttern  zu  erklären 
und  den  Weltmachtsanspruch  Babylons  als  Mittelpunkt  der 
Erde  historisch  zu  begründen.  Demgegenüber  im  biblischen 
Bericht  —  der  „Faust"  ist  nicht  vom  Puppenspiel  verschiedener — 
ein  gütiger  Gott  als  die  selbstverständliche,  gar  nicht  der  Erklä- 
rung bedürfende  Voraussetzung  des  Daseins,  und  die  Welt  das 
planvolle,  in  Liebe  und  Weisheit  geschaffene  Kunstwerk  seiner 
Hände,  und  als  Krone  der  Schöpfung  der  Mensch,  „im  Ebenbilde 
Gottes  schuf  er  ihn"  —  ein  erhabener  Hinweis  auf  den  Götter- 
funken in  unserem  Busen  und  auf  die  im  Innersten  unserer 
Natur  verankerte  Verpflichtung  des  Menschen  zu  Sitte,  Fröm- 
migkeit und  Streben  nach  Gottvollkommenheit.  Der  babylo- 
nische Schöpfungsbericht  ist  eine  postskripte  Einleitung  zum 
babylonischen  Astrologismus  und  Imperialismus;  der  biblische 
ist  der  Versuch  einer  naturwissenschaftlichen  Begründung  der 
Religion  als  der  höchsten   menschlich-sittlichen  Verpflichtung. 

Das  Verhältnis  der  beiden  Schöpfungsmythen  ist  für  sämt- 
liche Parallelen  bis  zur  Offenbarung  des  Johannis  typisch.  Wohin 
man  greift,  immer,  wie  der  Hallesche  Theologe  Cornill  in  seinem 
verbreiteten  Buch  über  den  „Israelitischen  Prophetismus"  sagt, 
das  nämliche  Resultat,  „daß  alles,  was  Israel  von  anders  her 
entlehnte,  von  ihm  zu  etwas  völlig  Neuem  und  Eigenem  um- 
gebildet wurde,  so  daß  es  schwer  wird,  in  der  herrlichen  israeli- 
tischen Umgestaltung  und  Neuschöpfung  das  ursprüngliche 
Original  wiederzuerkennen  .  .  .  Israel  gleicht  in  geistiger  Be- 
ziehung dem  fabelhaften  Könige  Midas,  welchem  alles,  was  er 
berührt,  sich  zu  Gold  verwandelt." 

Gold.  Den  Servihsmus  ägyptischer  Untertanengesinnung 
wandelt  es  in  die  Demut  staubbewußten  Menschentums,  den 
Despotismus  asiatischen  Tyrannenwahns  in  eine  auch  noch  heute 
vorbildlich  demokratische  Auffassung  der  Staatsidee. 

Auf  ägyptischen  Papyris  fand  man  die  ,, Vorbilder"  der  bi- 
blischen Sprüche.  „Krümme  deinen  Rücken"  heißt  es  in  einem 
Spruch  des  Ptah-hotep  „vor  deinem  Oberhaupt,   deinem  Vor- 

176 


gesetzten  vom  Königshause.  So  wird  dein  Haus  bestehen  mit 
deiner  Habe  und  deine  Bezahlung  wird  eine  richtige  sein. 
Schhmm  ist  es,  wenn  der  Vorgesetzte  zürnt,  aber  man  lebt,  wenn 
er  milde  ist."  „Heil  dem  Manne"  khngt  das  Echo  dieses  Zeit- 
geistes im  Herzen  Israels  „der  Weisheit  gefunden,  und  dem 
Menschen,  der  Einsicht  gewonnen!  Denn  besser  der  Verkehr 
um  sie  als  Verkehr  um  Silber  und  reicher  als  Gold  ihr  Ertrag. 
Teurer  ist  Einsicht  als  Perlen,  und  alle  deine  Kostbarkeiten 
kommen  ihr  nicht  gleich.  Dauer  der  Tage  ist  in  ihrer  Rechten, 
in  ihrer  Linken  Fülle  und  Ehre.  Ihre  Wege  sind  freundliche 
Wege  und  alle  ihre  Steige  —  Heil!"  In  den  Tel-el-Amarna- 
Briefen  entdeckte  man  den  Stil  der  psalmistischen  Rede:  „An 
den  König,  meinen  Herrn,  meinen  Gott,  meine  Sonne,  die 
Sonne  vom  Himmel!  Ich,  der  Präfekt  von  X,  bin  dein  Diener, 
bin  der  Staub  an  deinen  Füßen,  bin  der  Knecht  deiner  Rosse. 
Zu  Füßen  des  Königs,  meines  Herrn,  falle  ich  nieder,  sieben- 
mal und  aber  siebenmal,  auf  den  Bauch  und  auf  den  Rücken." 
Dieser  typischen  Anrede  folgen  Texte,  die  sich  in  ihrem  Cha- 
rakter ähneln  wie  ein  Lakai  dem  anderen.  „Mein  Herr  und 
König"  schreibt  der  ägyptische  Statthalter  von  Tyrus  an 
den  Pharao  von  Ägypten  „ist  der  göttliche  Sonnensohn,  der 
sich  alle  Tage  über  den  Erdkreis  erhebt  nach  dem  Willen  seines 
wohltätigen  Vaters,  des  himmlischen  Gottes  Sonne.  Seine  Worte 
spenden  Leben  und  Wohlfahrt,  allen  Ländern  gibt  Ruhe  seine 
Macht.  Wie  der  Gott  Ramman,  so  donnert  er  vom  Himmel 
nieder,  und  das  Erdreich  zittert  vor  ihm  ...  ja,  wer  dem  König, 
seinem  Herrn,  gehorcht  und  in  Liebe  seiner  gedenkt,  über  ihn 
geht  der  Gott  der  Sonne  auf,  und  ein  gutes  Wort  aus  dem  Munde 
seines  Herrn  flößt  ihm  Leben  ein.  Willfahrt  er  aber  den  Worten 
des  Herrn  nicht,  so  geht  seine  Stadt  unter,  und  sein  Haus  und 
sein  Name  erlöschen  für  alle  Zeiten  und  in  allen  Ländern.  Wer 
aber  dem  Herrn  als  treuer  Diener  gehorcht,  dessen  Stadt  ist 
fest  begründet  und  sein  Haus  sicher  gebaut  und  sein  Name 
wird  währen  alle  Zeiten."  Ein  anderer  nicht  minder  großer 
Schmeichler  vor  dem  Herrn  schreibt:  „Ein  treuer  Diener  meines 
Königs  bin  ich.  Ich  blicke  hierhin  und  blicke  dorthin,  aber  es 
wird  mir  nicht  hell  in  den  Augen;  nun  aber  schaue  ich  auf  den 
König,  meinen  Herrn,  und  siehe,  es  wird  hell  in  mir.  Ein  Ziegel 
weicht  wohl  aus  der  Mauer,  aber  ich  weiche  nicht  von  meines 
Königs  Füßen  .  .  .  fest  ruht  auf  meinem  Nacken  das  Joch  meines 
Königs  und  ich  trage  es."  Das  sind  Proben  der  Weltanschauung, 
die  Israel  nährte.   Nährte  wie  die  Drachenmutter  Tihamat  den 

12    Kahn,  Die  Jaden.  177 


Göttersohn  Marduk,  der  groß  an  ihr  wurde  —  um  sie  zu  bekämpfen 
und  zu  überwinden.  In  Israel  ist  der  König  der  erste  Diener 
seines  Staates,  dem  das  Gesetz  befiehlt:  „Er  soll  sich  nicht  yie\ 
Pferde  halten  .  .  .  auch  soll  er  nicht  viel  Weiber  nehmen,  daß  sein 
Herz  nicht  abtrünnig  werde,  und  Gold  und  Silber  soll  er  nicht 
die  Menge  haben  .  .  .  und  er  soll  alle  Tage  seines  Lebens  in  dem 
Gesetzbuch  lesen,  auf  daß  er  lerne  den  Ewigen  seinen  Gott  zu 
fürchten  .  .  .  daß  er  sein  Herz  nicht  erhebe  über  seine  Brüder 
und  nicht  weiche  von  Gottes  Geboten  weder  rechts  noch  links." 
Nicht  Gottes  Sohn,  ja  nicht  einmal  „von  Gottes  Gnaden",  sondern 
Mensch  unter  Menschen,wirft  er  sich,  ein  Nichts  im  Staube  vor  dem 
Herrn  der  Welt,  in  Demut  nieder:  „Neige,  Ewiger,  dein  Ohr  und 
erhöre  mich,  denn  ich  bin  arm  und  dürftig.  Erfreue  die  Seele 
deines  Knechtes,  denn  zu  dir  erhebt  sie  sich,  o  Herr!  Denn  du 
allein  bist  groß  und  du  einzig  tust  Wunder,  o  Gott.  Lehre  mich 
deine  Pfade  wandeln  in  deiner  Wahrheit  und  mein  Herz  deinen 
Namen  fürchten.  Wende  dich  zu  mir  und  sei  mir  gnädig, 
leihe  Macht  deinem  Knechte  und  hilf  dem  Sohne  deiner  Magd^)." 
„Siehe,  in  Schuld  ward  ich  gezeugt,  und  in  Sünden  empfing  mich 
meine  Mutter.  Entsündige  mich  mit  Ysop,  daß  ich  weiß  werde 
wie  Lilien,  und  wasche  mich,  daß  ich  reiner  sei  als  Schnee '^)." 
Nicht  Menschenabgott  und  Tyrann  über  Knechten  —  Vorbild, 
Führer,  Weiser  will  er  werden  Volk  und  Zeitgenossen,  denen  er 
—  einzigartige  Erscheinung  der  Antike!  —  über  die  Grenzen 
seines  Landes  hinaus  als  königlicher  Künder  psalmistischer 
Weisheit  zuruft 3):  „Höret  dieses  all  ihr  Völker,  horchet  auf, 
ihr  Weltbewohner !  Ihr  Söhne  der  Freien  und  Söhne  der  Knechte, 
Reiche  und  Arme  zumal,  mein  Mund  redet  Weisheit  und  meines 
Herzens  Sinnen  ist  Einsicht .  .  .  Schauet  auf  die,  so  auf  ihre 
Habe  vertrauen  und  mit  ihres  Reichtums  Fülle  sich  brüsten, 
die  aber  ihren  Bruder  nicht  lösen  würden  aus  seiner  Knecht- 
schaft ...    Sie  wähnen,  ihre  Häuser  seien  für  die  Ewigkeit  und 

1)  Ps.  86. 

a)  Ps.  51. 

«)  Ob  die  Psalmen  tatsächlich  von  Königen  verfaßt  sind,  ist  neben- 
sächlich gegenüber  der  Tatsache,  daß  die  Überlieferung  des  Volkes  sie 
ihnen  als  den  Würdigsten  zuschrieb.  Daß  auch  im  babylonischen  Kultur- 
kreis vereinzelte  Geister  sich  zur  Höhe  monotheistischer  Rehgion,  ja  selbst 
zur  Reinheit  prophetischer  Gottauffassung  erheben,  ist  natürlich,  z.  B.  in 
dem  wundervollen  Fragment  „Gegen  deinen  Gott  sei  reinen  Herzens,  das 
ist  der  Schmuck,  den  die  Gottheit  verleiht"  —  aber  solche  Äußerungen 
wahrhafter  Religiosität  sind  in  Babylonien  und  Ägypten  ebenso  die  seltene 
Ausnahme  wie  sie  im  jüdischen  täglicher  Typus  sind. 

178 


ilire  Wohnungen  für  alle  Geschlechter,  Ländereien  nennen  sie 
nach  ihrem  Namen  —  aber  der  Mensch  in  seinem  Glanz,  wo 
hat  er  Bestand  ?  .  .  .  Schafen  gleich  wandert  er  in  die  Gruft, 
und  der  Schnitter  weidet  ihn  .  ,  .  ein  Morgen  —  und  seine 
Schönheit  ist  verblaßt  und  ein  Grab  seine  Wohnung  geworden  . . . 
Fürchtet  euch  nicht,  so  einer  mächtig  wird  unter  euch,  so  seine 
Güter  sich  mehren  .  .  .  tröstet  euch,  nichts  nimmt  er  mit  bei 
seinem  Tode,  und  nichts  von  seiner  Habe  sinkt  ihm  nach  ins 
Grab  .  .  .  Und  wenn  nicht  Einsicht  sein  Herz  erfüllt,  all  seinem 
Reichtum  zum  Trotz,  gleicht  er  dem  Vieh,  dem  stummen. *)•' 

JJie  Geschichte  ist  eine  Schauspielerin,  die  mittags  die  „Ma- 
dame Sans  gene"  und  abends  die  Antigene  spielt.  Sie  gleicht 
der  Serpentintänzerin,  die  jetzt  in  Rot  erstrahlt  und  nun  in 
Gelb  erblaßt,  um  eine  Sekunde  später  in  Purpur  aufzuflammen, 
je  nach  der  Scheibe,  die  der  Regisseur  „Historiker"  vor  den 
Scheinwerfer  der  Wahrheit  schaltet  .  .  . 

Delitzsch  heißt  den  Sabbat,  der  seit  drei  Jahrtausenden 
Jude  gewesen,  Babylonier  werden,  und  er  folgt  wie  ein  Akteur, 
der  sich  zwischen  zwei  Szenen  verkleidet,  dem  Geheiß  des  In- 
tendanten. „Da  auch  die  Babylonier  einen  Sabbattag  hatten", 
schreibt  er  in  seinem  berühmten  Vortrag,  „.  .  .  so  dürfte  kein 
Zweifel  sein,  daß  wir  die  in  der  Sabbat-  bzw.  Sonntagsruhe 
beschlossene  Segensfülle  im  letzten  Grunde  jenem  alten  Kultur- 
volk am  Euphrat  und  Tigris  verdanken."  Klingen  in  uns  wirk- 
lich, wenn  wir  —  schönstes  aller  semitischen  Worte,  die  in  den 
Sprachschatz  der  Völker  eingingen  —  Sabbat  sagen,  klingen 
in  uns  wirklich  Akkorde  nach,  die  Babylon  in  den  Saiten  der 
Menschheitsseele  anschlug  ? 

In  Babylon  gab  es  gemäß  der  astrologischen  Zeiteinteilung 
Glücks-  und  Unglückstage.  Der  Hauptunglückstag  der  Woche 
war  als  der  siebente  —  die  Unglücks-Sieben  —  der  sabbattu ;  an 
ihm  durften,  weil  sie  mißlingen,  kein  Geschäft  abgeschlossen, 
kein  Eid  geleistet,  kein  Fluß  überschritten,  kein  Fleisch  gekocht, 
kein  Bad  genommen,  vom  König  kein  Rock  gewechselt  werden. 
Auch  für  den  fünften  und  sechsten  — Unglücksfreitag — gab  es  der- 
gleichen Gebote,  weil  ja  nach  der  babylonischen  Weltanschauung 
das  ganze  Menschenleben  mit  allem  Gelingen  und  Mißglücken 
vom  Himmel  vorgezeichnet  ist.  Aus  diesem  babylonischen  Dies 
ater  schufen  die   Juden  durch  den  ethischen  Gedanken,   daß 

')  Ps.  49. 
12.*  179 


selbst  Gott  am  siebenten  Tag  aus  Freude  an  der  Schönheit  und 
Wohlschaffenheit  der  Schöpfung  ruhte,  den  Sabbat,  den  Feiertag 
des  Hebten  Friedens  und  der  leuchtenden  Freude,  eine  himm- 
lische Fermate  im  irdischen  Sechs-Achtel-Takt  der  Werktags- 
woche, deren  heilige  Stille  kein  profaner  Laut,  des  Jubels  nicht 
und  nicht  der  Trauer,  kein  Fehdeton  und  kein  Befehlsruf  stören 
dürfen,  denn  heilig  ist  dieser  Tag,  dem  ganzen  Volk  als  eine 
ewige  Possessio  sacrosancta  von  seinen  Führern  zugeschworen, 
an  ihm  ist  jedes  Wesen  von  Sonnenuntergang  zu  Sonnen- 
untergang geweiht.  Denn  als  in  Ägyptens  Ziegelgruben  alle, 
Herr  wie  Knecht  und  Weib  wie  Kind,  an  ihren  Leibern  spüren 
mußten,  welch  eine  Qual  ein  Leben  ist,  das  einen  Menschen 
ohne  Pause  freien  Atems  ans  Tretmühlrad  erzwungener  Arbeit 
kettet,  da  schwuren  sie  sich  zwischen  ihren  Seufzern  das  Ge- 
lübde ab,  einst  frei  geworden,  in  ihres  Landes  Grenzen  kein 
Geschöpf,  nicht  Mensch,  nicht  Vieh,  zu  diesem  Sklaven- 
schicksal zu  verdammen.  Hier  unter  den  Knuten  der  ägyp- 
tischen Schergen  entrang  sich  ihrem  gequälten  Busen  die  er- 
habene Überzeugung,  daß  ein  jedes  Wesen,  wie  niedrig  es 
das  Schicksal  auch  gestellt,  ein  sittlich  Anrecht  habe  auf  ein 
Siebenteil  der  Ruhe,  auf  einen  Sabbat,  an  dem  die  Menschen- 
seele sich,  dem  Ewigen,  Überirdischen  zugewendet,  den  Nöten, 
Nichtigkeiten  und  Notwendigkeiten  des  Alltags  entschwingen 
könne,  ja  entschwingen  müsse,  denn  durch  diesen  Sabbattag 
der  Seele  werde  erst  die  Woche  wert,  gelebt  zu  sein.  „Sechs 
Tage  sollst  du  arbeiten"  —  hier  klingt  zum  ersten  Mal  in 
der  Geschichte  der  Kultur  das  hohe  Lied  der  Arbeit  an,  das 
heute  die  Halle  der  Menschheit  als  hunderttausendstimmiger 
Choral  durchbraust,  —  „aber  der  siebente  sei  dir  ein  Feier- 
tag, dir,  deinem  Sohn  und  deiner  Tochter,  deiner  Magd  und 
deinem  Knecht,  deinem  Vieh  und  dem  Fremdhng,  der  in  deinen 
Toren  weilt",  an  diesem  siebenten  Tage  wird  —  Triumph  der 
jüdischen  Weltanschauung!  —  der  Alltag  durch  den  Sabbat, 
die  Profanität  des  Erdenlebens  durch  die  Heiligkeit  himm- 
lischer Erhebung  überwunden.  An  diesem  Tag,  da  alle  Schran- 
ken fallen  und  es  nicht  Arme  mehr  und  Reiche  gibt,  da 
niemand  darben  darf  in  Israel  und  jedes  Hauses  Türen  offen 
stehen,  da  sich  der  Arme  als  Bruder  an  den  Tisch  des  Reichen 
setzt,  an  dem  die  Feindschaft  ihre  Lanze  senkt  und  der  Haß 
sein  Beil  vergräbt,  der  Dränger  schweigt  und  der  Schuldner 
frei  ist,  an  dem  die  Träne  dem  Lächeln  und  die  Trauer  der 
Freude   weichen,   an   dem   der  Frieden  triumphiert  über  den 

180 


Kampf,  die  Gerechtigkeit  über  die  Unbill  und  die  Liebe  über 
die  Feindschaft,  an  dem  die  ganze  Nation  sich  der  Erfüllung 
nahefühlt,  „ein  Königreich  von  Priestern  und  ein  heilig  Volk 
zu  sein",  an  diesem  Weihetag  der  Woche  sieht  Israel  sein 
messianisch  Ideal  verwirklicht,  dem  es  als  dem  unverrück- 
baren Ziel  seiner  geschichtlichen  Sendung  zustrebt.  Durch  die 
sechs  Weltepochen  des  Völkerwerktags  hin  zum  Sabbat  der 
Menschheit! 

Aus  sittlichen  Motiven  geboren  und  zu  sittlichen  Erfüllungen 
verpflichtend,  hat  der  jüdische  Sabbat  nichts,  aber  auch  gar 
nichts  mehr  gemein  mit  dem  Unglücks-sabattu  des  Babyloniers, 
ja,  auch  nichts  gemein  mit  dem  arischen  Sonntag,  diesem 
Misch-Masch  von  Weihe  und  Gemeinheit,  diesem  Centaurntag, 
dessen  Morgenstunden  die  Menge  in  die  Kirche  strömen  sieht  und 
dessen  Abend  sie  in  den  Bordellen  findet.  Der  jüdische  Sabbat 
ist  unvergleichHch  mehr  als  profane  Arbeitspause  oder  ein  Tag 
vulgären  Volksvergnügens:  weltüberwindende  Würde  weiht  die 
Stunden,  die  vom  Glanz  des  Sabbatlichts  durchstrahlt  sind. 
Sabbattag  in  einer  jüdischen  Stadt  —  wer  lebte  ihn?  Und 
wer  ihn  lebte  —  wer  vergißt  ihn  ?  Da  lärmen  keine  Karussells, 
da  laufen  nicht  die  Kellner  schwitzend  mit  den  Kaffeetassen 
zwischen  den  besetzten  Tischen  und  schleppt  nicht  der  müde 
Gaul,  der  in  der  Woche  seinen  Karren  zog,  die  Sippschaft  seines 
Herrn  zur  Rennbahn  hin  —  „auf  daß  dein  Ochs  und  dein 
Esel  ruhen  und  sich  erhole  der  Sohn  deiner  Magd  und  der 
Fremde  in  deinen  Toren  .  .  .  darum  hat  dir  der  Ewige,  dein 
Gott,  den  Sabbat  befohlen." 

Indem  das  Judentum  so  den  Sabbat  als  den  einzig  benann- 
ten Tag  der  Woche  nicht  nur  über  alle  Arbeitstage  sondern 
in  der  Strenge  seiner  Heiligkeit  sogar  über  alle  Feste  hebt, 
proklamiert  es  in  ihm  eines  seiner  erlauchtesten  Postulate:  die 
Superiorität  der  sabbatlichen  Kontemplation  über  den  werk- 
täglichen Aktivismus.  Hoch  steht  die  Arbeit  —  „sechs  Tage  sollst 
du  arbeiten!"  —  aber  höher  die  Ruhe;  höher  als  die  Tat,  die  ihn 
erzeugt,  steht  der  Gedanke,  den  sie  gebiert.  Die  Tat  ist  Tihamat, 
die  Drachenmutter,  der  alles  Leben  verdankt ;  der  Geist  ist  Mar- 
duk,  der  Lichtsohn,  der  sie  überwindet.  Operari  sequitur  esse. 
Arbeit:  Weg  zum  Leben,  aber  nicht  wie  in  unserer  amerika- 
nistischen Welt  Inhalt  und  Endzweck.  An  den  Werktagen 
arbeitet  man,  aber  man  lebt  am  Sabbat,  wenn  die  Lichter 
glänzen,  wenn  die  Psalmen  klingen,  die  Kinder  den  Worten 
der  Mütter  lauschen  und  die  Männer  über  heiligen  Schriften 

181 


im  Gespräch  die  Fäden  uralter  Weisheit  zu  immer  neuen  Ge- 
dankenbildern weiter  spinnen.  Der  Sabbat  ist  die  sieben- 
tägige Verkündigung  der  Autonomie  des  Geistes  über  den 
Körper,  der  Suprematie  der  Freiheit  über  alle  irdischen  Bin- 
dungen^). 

Diese  Stichproben  könnten  genug  beweisen  —  aber  Proben 
beweisen  nichts,  weil  man  durch  sie  alles  beweisen  kann.  Man 
kann  aus  Goethe  einen  Katechismus  für  einen  christlichen  Jüng- 
lingsverein zusammenstellen  und  ebenso  leicht  ein  Brevier  für 
einen  Atheistenklub.  Man  kann  ihn  ebenso  als  einen  Kantianer 
malen,  wie  es  Chamberlain  tut,  oder  als  Spinozisten  und  Monisten 
ausbeuten,  wie  es  Haeckel  beliebt.  Und  gar  ein  Volk?  Volk 
im  Sinne  einer  Realität  gibt  es  ja  gar  nicht.  Volk  ist  eine  Idee, 
eine  Dichtung,  eine  Legende,  ein  Wunsch,  ein  Haß,  ein  Ideal, 
eine  Karikatur.  Welches  Bild  und  Zerrbild  vom  Deutschen 
ist  nicht  gemalt  worden  —  und  welches  zu  Unrecht?  Volk 
ist  Proteus.  Man  kann  von  ihm  alles  sagen,  und  was  man  sagt, 
stimmt  und  stimmt  nicht.  Mit  der  Pinzette  der  Spitzfindigkeit 
kann  man  aus  dem  Riesenmosaikporträt  eines  Volkes  Steine 
jeder  Form  und  Farbe  lösen;  aber  um  sein  Antlitz  zu  erkennen, 
muß  man  sich  entfernen  und  den  großen  Umriß  schauen.  Der 
Alltag  stirbt,  das  Ewige  allein  lebt  weiter.  Wenn  wir  das  Wort 
Athen  vernehmen,  denken  wir  nicht  an  die  Scheußlichkeiten 
der  30  Tyrannen,  nicht  an  das  Scherbengericht  und  dieBestecli- 
lichkeit  der  Feldherren  sondern  an  die  Säulen  der  Propyläen 
und  das  Gastmahl  des  Plato.  Die  Richter,  die  Sokrates  verurteilt 
haben,  kennen  wir  nicht  und  wollen  wir  nicht  kennen;  aber  wie 
dieser  Heihge  und  Held  zu  Tode  ging,  ist  eine  unvergeßliche 
Szene  in  dem  großen  Schauspiel  der  Geschichte.  Uns  schierl's 
den  Teufel,  ob  Goethe  mit  dem  Herzog  sich  die  Mädchen  geteilt 
hat,  oder  ob  Leonardo  zu  Rom  mit  Knaben  Umgang  hatte.  Daß 
jener  den  Faust  geschrieben  und  dieser  die  Cena  gemalt,  sind 
die  Gedanken,  die  uns  mit  ihnen  ewig  und  einzig  verbinden. 
Wenn  wir  Judäa  vor  den  Richterstuhl  der  Nachwelt  fordern, 
so  fragen  wir  es  nicht  mit  Chamberlain'scher  Malice,  was 
irgendein  obskurej*  Rabbi  an  einer  Mischna-Stelle  ausgeklügelt 
hat,  welch  mystischen  Unsinn  Kabbalisten  über  den  Vollbart 
Gottes  spintisiert,  wir  tragen  nicht  aus  Herder  und  Voltaire, 

^)  Daß  die  Vorstellung  der  Autonomie  des  Geistes  eine  spezifisch 
jüdische  und  ein  Leitgedanke  des  Judaismus  sei,  hat  Zollschan  in  seinem 
ideenreichen  Buch  „Das  Rassenproblem"  näher  ausgeführt. 

182 


die  die  Juden  etwa  ebenso  kannten  wie  Chamberlain  die  Chi- 
nesen, antisemitische  Zitate  zusammen  —  wofür  findet  man 
keine  Zitate^)?  —  sondern  richten  wie  an  Rom  und  Hellas,  wie 
an  Leonardo  und  Goethe,  so  an  Israel  die  vor  dem  Forum  der 
(jeschichte  einzig  berechtigte  und  richtende  Frage:  Was  war 
der  Sinn  deines  Daseins  ?  Was  von  deinem  Wesen  lebt  im  Geist 
der  Menschheit  wirkend  weiter?  In  welchen  Männern,  welchen 
Taten  hat  sich  das  Ewige  in  dir  manifestiert? 

Jüreimal  fand  der  jüdische  Gedanke  einen  Repräsentanten 
von  welthistorischer  Bedeutung.    Der  erste  war  Moses. 

Moses  ist  eine  in  der  Geschichte  der  Kulturvölker  fast  einzig- 
artige Erscheinung:  ein  Nationalheld  ohne  Waffen.  Um  die 
bronzenen  Heroen  unserer  Märkte  klagt  in  Sturmesnächten  das 
Wehgeschrei  der  Witwen,  unter  den  erhobenen  Hufen  ihrer 
stählernen  Rosse  wimmern  die  Seelen  niedergetretener  Kinder. 

^)  Was  von  Zitaten  im  allgemeinen  und  von  Chamberlains  im  beson- 
deren tu  halten  ist,  beweisen  seine  Zitierungen^Herders,  der  in  den  „Grund- 
lagen" wohl  ein  Dutzend  Mal  als  einer  der  Kronzeugen  gegen  die  Juden 
aufgerufen  wird.  Da  steht  bei  Chamberlain  aus  Herders  Feder:  „Ein 
Ministerium,  bei  dem  der  Jude  alles  gilt,  eine  Haushaltung,  in  der  ein 
Jude  die  Schlüssel  zur  Garderobe  oder  der  ganzen  Kasse  des  Hauses  führt, 
ein  Departement  oder  Kommissariat,  in  welchem  die  Juden  die  Haupt- 
geschäfte treiben  —  sind  auszutrocknende  Pontinische  Sümpfe."  Oder: 
„Das  jüdische  Volk  verdarb  in  der  Erziehung,  weil  es  nie  zur  Reife  einer 
politischen  Kultur  auf  eigenem  Boden,  mithin  auch  nicht  zum  wahren 
Gefühl  der  Ehre  und  Freiheit  gelangte."  Blättert  man  aber  in  den  viel- 
bändigen Werken  Herders  selber  nach,  ist  man  erstaunt,  neben  diesen 
abfälligen  Urteilen  mindestens  ebensoviele  Ausrufe  höchster  Be\vunde- 
rung  für  dieses  selbe  Volk  zu  finden,  ganz  zu  schweigen  von  den  Hymnen 
auf  die  Größe  und  Schönheit  seiner  Dichtungen,  die  bekanntUch  Herder 
als  einer  der  ersten  Neueren  gewürdigt.  „Israel",  sagt  er  an  einer  Stelle, 
„war  und  ist  das  ausgezeichnetste  Volk  der  Erde;  in  seinem  Ursprung 
und  Fortleben  bis  auf  den  heutigen  Tag,  in  seinem  Glück  und  Unglück, 
in  Fehlem  und  Vorzügen,  in  seiner  Niedrigkeit  und  Hoheit  so  einzig,  so 
sonderbar,  daß  ich  die  Geschichte,  die  Art,  die  Existenz  dieses  Volkes 
für  den  ausgemachtesten  Beweis  der  Wunder  und  Schriften  halte,  die 
wir  von  ihm  haben  und  wissen  . . .  seine  noch  unvollendete  Führung 
ist  das  größte  Poem  der  Zeiten  und  geht  wahrscheinlich  noch  bis  zur 
Entwicklung  des  letzten  noch  unberührten  Knotens  aller  Erdnationen 
hindurch."  Und  als  Parallele  zum  ersten  Zitat:  „Alle  Gesetze,  die  den 
Juden  ärger  als  Vieh  achten,  ihm  nicht  über  den  Weg  trauen  und  ihn 
damit  täglich,  ja  stündUch  ehrlos  schelten:  sie  zeugen  von  der  fort- 
währenden Barbarei  des  Staates,  der  aus  barbarischen  Zeiten  solche  Ge- 
setze duldet  . . .  daher  ist  es  der  Europäer  Pflicht,  die  Schulden  ihrer 
Vorfahren  zu  vergüten." 

183 


Alexander,  Cäsar,  Napoleon  —  was  sind  sie  uns?  Alexander» 
erste  Großtat  war  die  Zerstörung  von  Korinth,  nach  der  er  an 
einem  Tage  60000  Korinther  —  Griechen!  —  als  Sklaven  ver- 
kaufte, um  seine  Rüstungen  gegen  das  Perserreich  zu  finanzieren. 
Was  ist  an  dieser  Tat  unsterblich?  Cäsar  hat  in  siebenjährigem 
Feldzug  Gallien  an  Menschen,  Vieh  und  Schätzen  ausgeplündert. 
Um  welcher  ewigen  Werte  willen  ist  dieser  Raubkrieg  heute 
noch  erinnerungswürdig  ?  Was  kümmern  uns  die  Abenteurer- 
züge Napoleons  nach  Ägypten  oder  Rußland  und  all  die  anderen 
„Katzbalgereien",  die  nach  Schopenhauer  der  Inhalt  der  euro- 
päischen Geschichte  sind  ?  Andere  Probleme  bewegen  die  Welt. 
Heroen  einer  überwundenen  oder,  wenn  nicht  überwundenen, 
so  zu  überwindenden  barbarischen  Vergangenheit  sind  die 
Helden  dieser  Taten.  Wie  die  Telegraphenstangen  vor  den 
Augen  eines  Schnellzugreisenden  schrumpfen  diese  Größen  von 
gestern  vor  den  Blicken  der  vorwärtseilenden  Menschheit. 
Aber  Moses,  Moses,  wie  ihn  Michelangelo  gemeißelt  hat  als 
den  Gesetzgeber  der  Menschheit,  größer  als  je  thront 
er  heute  auf  seinem  marmornen  Sockel,  eine,  wie  Henry  George 
zu  Glasgow  sagte,  „jener  Sternenseelen,  die  nicht  undeutlich 
werden  durch  die  Entfernung  sondern,  glühend  in  den  Strahlen 
ewiger  Wahrheit,  ihr  Licht  bewahren,  indes  Gesetze,  Religionen, 
Sprachen  wechseln  und  untergehen".  Lau  tirzach!  —  Du  sollst 
nicht  töten!  Lau  sachmaud!  —  Du  sollst  nicht  trachten  nach 
dem  Gute  deines  Nächsten!  Du  sollst  den  Sabbath  heihgen 
deinem  Knechte!  Du  sollst  die  Witwe  nicht  bedrücken  und 
die  Waise  nicht  bedrängen!  Du  sollst  dem  Fremdling  gleiches 
Recht  gewähren  wie  dem  Bruder !  Keinen  Armen  soll  es  geben 
in  deiner  Gemeinschaft !  Jeder  habe  teil  am  Boden  des  Landes  t 
Der  Zehnte  deines  Ertrages  gehöre  dem  Dürftigen  (nicht  dem 
König !) . , .  diese  vor  3000  Jahren  von  Moses  dem  Volke  ver- 
kündeten Maximen  sind  die  sozialen  Grundrechte,  um  deren 
Anerkennung  die  Gegenwart  in  ihren  Revolutionen  ringt  mit 
den  Gewalten  der  Vergangenheit.  Moses,  1250  Jahre  vor 
Christus,  ist  der  erste  Proklamator  der  Menschen- 
rechte in  der  Geschichte  der  Menschheit. 

Durch  die  Auffindung  des  Codex  Hammurabi,  des  um 
1000  Jahre  älteren  Vorbildes  der  Sinai-Gesetze,  ist  die  mosaische 
Schöpfung  nicht  diskreditiert  sondern  im  Gegenteil  nun  erst  in 
ihrer  wahren  Kulturbedeutung  erkennbar  geworden.  Die  Gesetze 
Hammurabis  sind  die  bewunderungswürdigen  Polizeivorschrif- 
ten eines  absolutistischen  Machthabers  über  ein   unmündiges 

184 


Volk.  Ihr  Stil  ist:  „Wer  dieses  oder  jenes  Verbrechen  begeht, 
dem  wird  die  Hand  abgeschlagen  oder  er  zahlt  eine  festgesetzte 
Buße"  —  Paragraphen,  aber  keine  sittlichen  Postulate.  Die 
Begriffe  Ethos,  Liebe,  Pflicht  und  Sünde  sind  diesem  Reglement 
des  bürgerlichen  Lebens  fremd.  Wie  alles  in  der  babylonischen 
Welt  hochentwickelte  ZiviUsation,  aber  nicht  Kultur.  Aus 
diesem  B.  G.  B.  Babyloniens  —  nicht  aus  ihm  selber  sondern 
aus  der  älteren,  beiden  gemeinsamen  Vorlage  —  schuf  Moses 
nicht  ein  neues  Gesetz  sondern  eine  Religion,  die  sich, 
statt  mit  Paragraphen  an  den  Bürgersinn  der  Untertanen,  mit 
moralischen  Forderungen  an  das  Gewissen  sittlich  autonomer 
Menschen  wendet.  „Ihr  sollt  mir  sein  ein  Königreich  von 
Priestern  und  ein  heihg  Volk!*'  beginnt  die  Sinai -Verkündi- 
gung —  schönster  Appell,  der  je  an  eine  Nation  in  der  Geschichte 
gerichtet  ward.  Und  erster  ihrer  Sätze  ist  nicht  Befehl  noch  dro- 
hend, nein,  orgeltönend  wie  das  große  Tutti-Initiale  der  Bach-  und 
Händel-Messen  hebt  die  Verkündigung  an:  „Ani  elauhechem . . . 
Ich  bin  der  Ewige,  dein  Gott"  —  die  Vorstellung  eines  all- 
waltenden, gütigen,  alles  gerecht  überschauenden  Gottes,  der 
eifervoll  Liebe,  Sittlichkeit  und  Demut  fordert  und  mit  Lohn 
und  Strafe  vergilt,  ist  die  fundamentale  ethische  Prämisse, 
auf  der  sich  das  Gebäude  der  mosaischen  Religion  auf- 
baut. „Ihr  sollt  keinen  Fremdhng  kränken  und  nicht  knech- 
ten, denn  Fremdlinge  wäret  auch  ihr  in  Ägypten.  Ihr  sollt 
keine  Witwe  und  Waise  bedrücken,  denn  ich  höre  ihr  Geschrei 
und  mein  Zorn  entbrennet.  Wenn  du  das  Kleid  deines  Nächsten 
gepfändet,  ehe  die  Sonne  untergegangen,  gib  es  ihm  zurück. 
Denn  dieses  ist  seine  einzige  Hülle  für  den  Leib  —  worauf  soll 
er  schlafen?  Und  wenn  es  geschieht,  daß  er  zu  mir  schreit,  so 
werde  ich  ihn  hören,  denn  ich  bin  erbarm ungsvoll." 

Hammurabis  Paragraphen  sind  koordiniert.  Moses  hebt 
—  eine  wahrhaft  geniale  Leistung  auf  dem  Gebiet  der  Volks- 
pädagogik—  die  wichtigsten  in  der  prägnanten  Fassung  der  „Zehn 
Gebote"  heraus,  zehn  Sätze,  die  sich  von  allem,  was  jemals 
ein  sterblicher  Mund  verkündete,  am  tiefsten  in  das  Gedächtnis 
der  Menschheit  eingegraben  haben.  Wenn  ein  Mensch  vom 
Hauch  der  Kultur  auch  nur  mit  dem  flüchtigsten  Wehen  ge- 
streift ist,  so  raunten  ihm  die  Genien  der  Geschichte  die  Zehn 
Gebote  in  Ohr  und  Herz.  Man  gehe  über  die  Marschen  hinter 
den  Dünen  der  Nordsee  und  trete  in  die  Häuser  der  harten  Fries- 
landsbauern, man  steige  die  Täler  der  Venn  empor  und  frage  die 
Kinder  der  Eifel,  man  suche  auf  den  Matten  Oberbayerns  die 

185 


hohen  Hütten  der  Sennen  oder  wandle  durch  die  Hafenstraßen 
Hamburg  —  vergeblich  fragt  man  Hunderttausende  nach  einem 
Spruch  von  Goethe,  einer  Melodie  von  Mozart  oder  einem  Bild 
von  Dürer  —  spurlos  ist  die  Kultur  der  Vorzeit  an  den  Massen 
der  Völker  vorübergegangen.  Dem  weitaus  größten  Teil  der 
Nation  sind  selbst  die  elementarsten  und  grandiosesten  Schöp- 
fungen seiner  eigenen  Nationalkultur  so  fremd  wie  uns  das 
Hindostanisch  oder  die  Mysterien  von  Eleusis.  Als  ein  Kultur- 
historiker sich  vor  einigen  Jahren  auf  den  Markt  zu  Frankfurt 
begab  und  die  Frauen,  die  dort  hinter  ihren  Fischen  saßen, 
fragte:  was  sie  von  Goethe  wüßten?  wandte  sich  eine,  im 
Glauben,  sie  werde  nach  einem  Dorf  gefragt,  zu  ihrer  Nach- 
barin: „Weißt  du,  wo  Goethe  liegt?"  Hätte  er  die  Frank- 
furter Frauen  statt  nach  Goethe  nach  Moses  gefragt,  dem  alt- 
israelitischen Helden,  der  ihnen  räumlich  und  geschichtlich 
hundertmal  ferner  gelebt  hat  als  der  Geistesheros  ihrer  Stadt, 
er  hätte  von  keiner  eine  so  ahnungslose  Antwort  erhalten.  Denn 
wenn  jemand  etwas  weiß,  wenn  er  eines  kennt  aus  dem 
Kulturschatz  der  Menschheit,  so  sind  es  die  Zehn  Gebote,  die 
Moses  dem  jüdischen  Volk  vor  31  Hundert  Jahren  am  Wüsten- 
berg des  Sinai  gelehrt.  Das  einzige  geistige  Kulturgut,  das  die 
arischen  Völker  wirklich  verbindet,  ist  ihr  gemeinsames  — 
jüdisches  Erbe. 

Ihren  menschheitsgeschichtlichen  Wert  verdanken  die  Zehn 
Gebote  neben  ihrem  unantastbaren  ethischen  Gehalt  nicht 
zum  wenigsten  ihrer  mustergültigen  Formulierung.  Nicht  Gesetze 
sind  sie,  nicht  streng  und  nicht  milde,  nicht  barsch  und  nicht 
bittend,  nicht  drohend  und  nicht  verheißend,  nicht  Appell  an 
den  Verstand  und  nicht  Petitionen  an  das  Herz  sondern  als 
Gebote  wenden  sie  sich  an  das  moralische  Gewissen  in  uns. 
Und  zwar  in  eben  jenem  Ton  des  kategorischen  Imperativs, 
den  3000  Jahre  später  der  größte  arische  Philosoph  mit  dem 
Aufgebot  seiner  ganzen  europäisch-philosophischen  Bildung 
als  die  einzige  in  der  moralischen  Welt  wirkende  Formel 
erkannt  und  als  Quintessenz  der  Ethik  proklamiert  hat:  Du 
sollst! 

Wenn  jemals  im  Sinne  der  Kant'schen  Definition  —  „Religion 
ist  die  Erkenntnis  aller  unserer  Pfhchten  als  göttUcher  Gebote" 
(d.  h.  so  heilig,  als  wären  sie  göttliche  Gebote)  —  Religion  ge- 
schaffen wurde,  so  geschah  es  hier  am  Sinai  „in  der  Einzigkeit 
der  Stunde,  da  Moses  dem  Volke  Israel  die  Zehn  Gebote  brachte 
und  vorlas.    Die  Geschichte  hielt  den  Atem  an.    Es  war  eine 

186 


erhabene  Stunde,  deren  Schuldner  die  Menschheit  für  immer 
bleibt  1)"  (G.Friedrich).  - 

Selbstverständlich  hat  sich  die  Entwicklung  des  ethischen 
Monotheismus  nicht  in  jener  Theatralik  abgespielt,  die  die 
spätere  Überlieferung  dem  Volke  popularisierend  ausmalt.  Der 
Gott  des  Sinai,  der  aus  Blitz  und  Wolken  redet,  war  Natur- 
und  Nationalgott.  Seine  Erhebung  und  Vergeistigung  zum 
universellen  und  spirituellen  Weltprinzip,  dem  man  sich  nicht 
mit  Opferduft  und  Erstlingsfrüchten  naht,  ist  das  Ergebnis 
einer  jabrhundertlangen  konsequent  verlaufenden  Entwicklung, 
die  erst  bei  den  Propheten  durch  die  Betonung  der  Moral  und  die 
Zurücksetzung  des  Kultes  ihren  idealen  Abschluß  findet.  Aber  ge- 
rade diese  Logik  der  Entwicklung  charakterisiert  die  jüdische 
Religion  als  eine  Schöpfung,  die  nicht,  wie  den  Ariern  das  Christen- 
tum, von  außen  als  Kulturstuck  aufgetragen  und  angekleistert 
wurde  sondern  notwendig  und  lebendig  aus  der  Entelechie  der 
Rasse  hervorwuchs  —  zu  Religion  kristallisierte  Rassenseele. 

Der,  wenn  auch  vielleicht  nicht  größte,  so  doch  welthistorisch 
zur  größten  Bedeutung  gelangte  Repräsentant  des  ethischen 
Monotheismus  der  Propheten  ist  Christus.  Seit  die  moderne 
Kritik  begonnen  hat,  Christus,  von  allem  Transzendentalen  be- 
freit, nicht  mehr  als  Mythos  sondern  als  geschichtliche  Persönlich- 
keit aufzufassen,  hat  sich  auch  die  Rassenlehre  seiner  bemächtigt 
und  es  nicht  an  Beweisen  mangeln  lassen,  die  Christus  —  da  er 
genial  war,  konnte  er  nicht  Jude  sein  —  zum  Germanen  oder 
mindestens  NichtJuden  stempeln.  ,,Er  war  der  schärfste  Anti- 
semit aller  Zeiten,"  schreibt  der  Semigotha,  ,,aber  seitdem  das 
Denken  und  Urteilen  im  deutschen  Volke  abgestellt  wurde, 
wird  die  plumpe  Lüge  verbreitet,  Christus  sei  ein  Jude  gewesen." 
In  der  Österr.  Wochenschrift  (1902)  wird  sogar  klipp  und  klar 
seine  Abstammung  von  den  —  Westfalen    nachgewiesen.    Die 

1)  Ob  Moses  in  dem  Umriß  der  biblischen  Gigantenfigur  gelebt  hat, 
und  ob  das  uns  als  mosaisches  Gesetz  überlieferte  Werk  in  seinem  ganzen 
Umfang  von  ihm  vollendet  wurde,  ist  eine  ebenso  müßige  Frage  wie  die 
berühmte  Streitfrage  über  die  Persönlichkeit  Homers.  Odyssee  und  Ilias 
sind  Volksdichtung  und  Individualwerk.  Hinter  der  Einheit  und  Ge- 
schlossenheit großer  Ideen  und  Kunstformen  steht  eine  Persönlichkeit. 
Jeder  Zweifel  hieran  ist  ein  Attentat  gegen  den  Geist  der  Geschichte.  In 
einer  Abhandlung,  die  diese  Heroen  nicht  als  Persönlichkeiten  sondern 
als  Rasse-  und  Nationaltypen,  als  die  Idealfiguren  bestimmter  Völker 
und  Volkscharaktere  analysiert,  sinkt  das  Problem  vollends  zur  Be- 
deutungslosigkeit herab. 

187 


rasseiiiheoretischen  Ausführungen  Chamberlains  über  Christus 
sind  ein  Paradebeispiel  Chamberlain'scher  Rabulistik.  Im  Laufe 
eines  vielseitenlangen  Textes,  der  den  ahnungslosen  Laien 
nolens  volens  durch  ein  wahres  Urwalddickicht  unkontrollier- 
barer Kompilationen  historischer  „Tatsachen"  und  Zitate  hin- 
durchzerrt, wird  dem  Medium  Leser  von  seinem  großen  Hyp- 
notiseur Autor,  ganz  nach  den  Regeln  der  Hypnose,  erst  schüch- 
tern, dann  immer  eindringlicher  die  beabsichtigte  Suggestion 
aufgezwungen:  Christus  ist  kein  Jude  gewesen.  Bescheiden 
klingt  es  an:  „Es  liege  nicht  die  geringste  Veranlassung  zu  der 
Annahme  vor,  die  Eltern  Jesu  Christi  seien  der  Rasse  nach 
Juden  gewesen."  Vier  Seiten  später  lautet  es  schon  bestimmter: 
„Wer  die  Behauptung  aufstellt,  Christus  sei  ein  Jude  gewesen, 
ist  entweder  unwissend  oder  unwahr."  Nachdem  nun  Renan, 
der  sonst  so  hochverehrte  und  vielzitierte,  wegen  seiner  Be- 
hauptung „Jesus  etait  un  Juif"  verdächtigt  wird,  von  der  Al- 
liance  Israelite  mit  Geld  bestochen  zu  sein  —  welch  vornehmes 
Argument  gegen  einen  verstorbenen  geistigen  Gegner!  —  wird 
der  Ton  bestimmter:  „Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  Christus 
kein  Jude  war,  daß  er  keinen  Tropfen  echt  jüdischen  Blutes 
in  den  Adern  hatte,  ist  so  groß,  daß  sie  einer  Gewißheit  fast 
gleichkommt",  um  dann  am  Schluß  mit  dem  für  Chamberlain- 
sche  Deduktionen  charakteristischen  Endsatz  auszuklingen : 
„Daß  Jesus  Christus  der  jüdischen  Rasse  nicht  angehörte,  kann 
als  sicher  betrachtet  werden."  Durch  den  Erfolg  seines  Buches 
siegestrunken  über  jede  Schranke  kritischer  Zurückhaltung  tau- 
melnd, versteigt  sich  der  „nüchterne  Empiriker",  der  seinen 
Lesern  versichert,  daß  er  „nur  Sachen  vorbringt,  deren  Richtig- 
keit jeder  Mensch  kontrollieren  kann",  auf  folgenden  Gipfel 
der  Unverfrorenheit:  „Christus  war  kein  Jude;  das  läßt  sich 
ohne  jede  Möghchkeit  einer  Gegenrede  historisch  nachweisen." 
Erhabene  Weisheit!  „Ohne  jede  Möglichkeit  einer  Gegenrede!" 
Der  große  Heldenhäuptling  der  Karl  May- Romane,  Winnetou, 
war  kein  Indianer  —  „ohne  jede  Möglichkeit  einer  Gegenrede!" 
Denn  wir  wissen  von  Winnetous  Rasse  genau  so  viel  und  eben 
so  wenig  wie  von  jener  Christi  —  nicht  ein  Sterbenswörtchen*)! 

^)  Daß  es  in  einer  Chamberlain 'sehen  Abhandlung,  in  der  Willkür 
und  Parteilichkeit  das  Konzept  diktieren,  nicht  ohne  flagrante  Wider- 
sprüche abgeht,  ist  fast  selbstverständlich.  30  Seiten  später  behauptet 
er,  vom  geistigen  und  morahschen  Gebiet  noch  einmal  auf  die  Frage 
der  Rassenzugehörigkeit  Christi  zurückkommend:  „Diese  Grundanschau- 
ungen lassen  Christum  als  moralisch  zu  den  Juden  gehörig  «rkenneu  . . . 
Christus  ist  ein  Jude  .  . ." 

188 


Wir  wissen  über  Christus  nichts,  als  was  die  Nachwelt  über 
ihn  berichtet  und  —  gedichtet  hat.  Aus  dem  Schoß  des  jüdischen 
Volkes  von  jüdischen  Eltern  geboren  und  selbst  sich  stolz  ein 
Enkel  Davids  heißend,  bewegt  er  sich  in  der  Atmosphäre  jüdi- 
scher Gedankenwelt,  bekennt  sich,  wie  selbst  Ghamberlain 
gesteht,  vom  ersten  bis  zum  letzten  Atemzug  zur  Weltanschau- 
ung des  Judentums  und  dokumentiert  sich  dadurch  ebenso  als 
Jude  wie  Moses  oder  David,  Jesaja  oder  Hiob.  Er  ist  ebenso 
Jude  wie  Phidias  ein  Grieche  und  Cäsar  ein  Römer  war  —  „ohne 
jede  Möglichkeit  einer  Gegenrede".  Daß  es  einem  Manne 
Chamberlain'scher  Weltauffassung  in  der  Seele  zuwider,  daß 
Christus  ein  Jude  gewesen,  ist  begreiflich.  Aber  die  peinliche 
Tatsache  ist  nun  einmal  selbst  mit  dem  glänzendsten  Aufgebot 
historischen  Wissens  und  dialektischer  Fähigkeiten  nicht  aus  der 
Welt  zu  schaffen. 

Christus,  der  größte  Kulturträger  der  weißen  Rasse,  der  ein- 
zige, der  von  den  sonst  so  uneinigen  arischen  Völkern  unterschieds- 
los als  höchster  Heros  verehrt  wird,  zu  dem  Millionen  in  allen 
Erdteilen  in  ihren  stillen  und  lauten  Gebeten  als  zu  ihrem  Hei- 
land und  Erlöser  aufschauen  und  der  auch  wirklich  ihr  Heiland 
gewesen,  denn  er  war  es,  der  ihnen  in  die  Einsamkeit  ihrer 
Barbarenwälder  die  Grundbegriffe  der  Kultur  getragen,  der 
sie  lehrte,  daß  des  Nachbars  Hof  nicht  da  sei,  um  bei  Nacht 
geplündert,  und  des  Fremden  Mannes  Weib  nicht,  um  geraubt 
zu  werden,  daß  auf  Fellen  würfeln  und  Met  zu  bechern  nicht 
des  Daseins  höchste  Zwecke  sondern  daß  es  hinter  den  nich- 
tigen und  flüchtigen,  nackten  und  nüchternen  Tatsachen  des 
Alltags  noch  ein  Reich  des  Geistes  und  der  Geister  gebe,  und  daß 
es  ein  Höheres  sei,  dem  Transzendenten  dieses  „Himmelreiches" 
in  und  über  uns  nachzuhängen,  als  sich  einem  Mannenführer  zu 
Mord  und  Totschlag  zu  verschreiben,  und  der  durch  diese  Ein- 
pflanzung der  ethischen  Elementarbegriffe  den  Barbaren  erst 
zum  Menschen  hob,  dieser  —  wie  sagt  doch  Chamberlain  —  Er- 
retter „der  agonisierenden  Menschheit  aus  den  Krallen  des  ewig 
Bestialischen",  dem,  wie  Renan  als  Sprecher  der  Arier  bekennt, 
„jeder  von  uns  verdankt,  was  er  Besseres  in  sich  hat",  war  ein 
Jude  und,  was  weit  wesentlicher  ist  als  die  Frage  seiner  Rassen- 
zugehörigkeit, er  war  ein  Verkünder  jüdischer,  seit  Jahrhunderten 
traditionell  gewordener  Weltanschauung.  „Ihr  sollt  nicht  wähnen, 
daß  ich  gekommen  bin,  das  Gesetz  oder  die  Propheten  aufzulösen; 
ich  bin  gekommen  nicht  aufzulösen  sondern  zu  erfüllen..."  Die 
Kardinalformeln   seiner   Lehre    sind    Sätze    des    alten  Testa- 

189 


ments.  „  ,Du  sollst  den  Ewigen  deinen  Gott  lieben  mit  ganzem 
Herzen,  ganzer  Seele  und  ganzem  Vermögen'  (Mose  V,  6)  — 
dieses  ist  das  höchste  Gebot.  ,Du  sollst  deinen  Nächsten 
lieben  wie  dich  selbst'  (Mose  III,  19)  —  ist  das  zweite.  In 
diesen  beiden  Sätzen  ruht  das  ganz  Gesetz,"  Und  als  der 
reiche  Jüngling,  der  von  der  „neuen"  Lehre  hörte,  ihn  nach 
ihrem  Inhalt  fragt,  hat  er  ihm  nichts  zu  sagen  als:  „Halte  die 
Gesetze  Moses!"  Und  als  dieser  —  ein  echtes  Kind  —  ein 
„Neues"  verlangt,  weiß  er  nichts  hinzuzufügen  als:  „Du  bist 
reich.  Verkaufe  deine  Schätze  und  gib  den  Erlös  den  Armen." 
Von  dem  ersten  Satz  der  Bergpredigt:  „Selig  sind  die,  die 
arm  an  Geist  sind,  denn  das  Himmelreich  ist  ihrer"  (Zitat 
aus  Jesaja)  bis  zu  seinem  letzten  Sterbenswort  am  Kreuze: 
„Eli,  Eli,  lama  asabthani"  .  .  .  Mein  Gott,  mein  Gott,  warum 
hast  du  mich  verlassen?  (Anfang  des  22.  Psalmes)  ist  die  ganze 
Lehre  dieses  großen  Ethikers,  der  sein  Volk  mit  Inbrunst  liebte 
und  nicht  anders  als  alle  Propheten  vor  ihm  es  aus  den  Ban- 
den der  Kulturgefahren  zu  reinem  Menschentum  erlösen  wollte, 
durchtränkt  mit  dem  Blut  und  durchweht  von  dem  Geiste  jüdi- 
scherTradition  und  jüdischer  Gesinnung.  „KeinWort  Jesu  Christi", 
bekennt  Schürer,  „ist  denkbar  ohne  die  Voraussetzung  der  jüdi- 
schen Geschichte  und  der  ganzen  Vorstellungswelt  des  jüdischen 
Volkes^)."  Ob  ein  Mensch  zu  seiner  Andacht  sich  vor  einen 
Thoravorhang  stellt  oder  vor  ein  Christuskreuz,  ob  er  beim  Ein- 
tritt in  ein  Gotteshaus  sein  Haupt  bedeckt  hält  oder  es  entblößt, 
ob  er  seine  Gebete  lateinisch  spricht  oder  hebräisch,  trifft  nicht 
das  Wesen  sondern  nur  die  Form  des  Kultes.  Der  Sinn  eines 
religiösen  Aktes  ist  die  Empfindung,  die  er  im  Beter  auslöst. 
Religion  ist  die  Sittlichkeit,  zu  der  ein  Mensch  sich  auf  Grund 

*)  Bninner:  „Das  Jüdische  ist  jüdisch  und  bleibt  jüdisch  . . .  und 
Christus  als  der  Auszug  des  jüdischen  Geistes  und  als  Höhepunkt  der  prin- 
zipiellen Vollendung  des  jüdischen  Gedankens,  des  Gedankens  von  der 
Einheit  Jahwes  und  von  der  Einheit  des  Menschengeschlechts,  Christus 
als  Symbol  und  Personifikation  dieses  Gedankens  .  . .  die  leidenschaft- 
liche Hingabe  der  Juden  an  diesen  Gedanken  hat  diesen  Menschencharakter 
Christus  hervorgebracht  und  dieser  Christus  ist  und  bleibt  der  Jude  der 
Juden,  der  Jude  mit  der  höchsten  Kraft  des  Judeseins  und  recht  eigentlich 
also  die  Spitze  des  Judentums,  zu  der  man  nicht  auf  andere  Art  als  am 
Judentum  hinaufgelangen  kann  —  die  erste  rechte  Ausgabe  der  Evan- 
gelien von  jüdischer  Hand,  die  baldigst  kommen  möge,  und  die  zunächst 
nur  Christus  in  seinen  Zusammenhang  nicht  allein  mit  dem  alten  Testa- 
ment sondern  auch  mit  der  rabbinischen  Literatur  stellen  soll,  wird  alle 
Welt  überzeugen  und  niemand  kann  weiter  sagen,  Christus  und  Juden- 
tum seien  das   Eine,  was  das  Andere  nicht  ist." 

190 


seiner  religiösen  Weltanschauung  als  dem  kategorischen  Impe- 
rativ seines  Handelns  und  Denkens  bekennt.  Was  an  der  Lehre 
Christi  sittlich  ist  und  nicht  sinnlich,  Kern  und  nicht  Kult, 
was  als  das  Wesen  und  Wesentliche  des  Cliristentums  alle 
bisherigen  Reformationen  überdauert  hat  und  alle  künftigen 
überdauern  wird  und  die  unerschütterliche  Grundlage  aller 
kommenden  Staats-  und  Zukunftsreligionen  bilden  muß,  das  sind 
die  von  Moses  am  Sinai  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  der 
Menschheit  verkündeten,  von  den  Propheten  hundertfach  vor 
Christus  laut  gepredigten  und  von  Christus  gelehrten  und  ver- 
kündeten Fundamentalideen  der  jüdischen  Weltanschauung.  Du 
sollst  deinen  Gott  lieben  (nicht  fürchten!),  Vater  und  Mutter 
ehren,  deinem  Knecht  und  Vieh  den  Sabbat  geben,  du  sollst 
nicht  töten  und  nicht  stehlen,  deinen  Nächsten  wio  dich  selber 
achten,  deinem  Bruder  die  Hand  auftun,  die  iVrmut  bekämpfen, 
die  Ecken  deiner  Felder  für  die  Armen  stehen  lassen,  die  Witwe 
nicht  pfänden,  die  Waise  nicht  drängen,  den  Lohn  des  Mietlings 
nicht  über  Nacht  in  deinem  Haus  behalten,  das  Böcldei)i  nicht 
in  der  Milch  seiner  Mutter  kochen,  dem  Esel  deines  Widersachers 
die  Last  erleichtern,  statt  Opfer  bringen  Gerechtigkeit  üben  und 
danach  streben,  ein  heilig  Volk  von  Priestern  zu  sein  —  in  diesen 
ewig  unumstößlichen  deuteronomischen  Sätzen  der  Gottes-  und 
der  Menschenliebe,  des  Tierschutzes,  der  Gerechtigkeit  und  des 
Sozialempfindens  sind  die  Grundlinien  aller  nur  erdenklichen 
Religionen  vorgezeichnet.  Ein  Neues  hat  weder  Christus  ge- 
geben noch  irgend  einer  der  Propheten  und  kein  Neuerer  nach 
ihnen  —  ein  Neues  gibt  es  nicht.  Selbst  Kant's  so  viel  geprie- 
sener und  zitierter  kategorischer  Imperativ:  „Handle  so,  daß 
die  Maxime  deines  Willens  zugleich  als  Prinzip  einer  allgemeinen 
Gesetzgebung  gelten  könnte",  ist  nichts  anderes  als  die  in  den 
philosophischen  Dialekt  gekleidete,  geradezu  wörtliche  Über- 
setzung des  mosaischen  Grundsatzes  der  Nächstenliebe.  So  wie 
der  hl.  Augustinus  schrieb:  „Post  Jesum  Christum  nulla 
scientia"  —  nach  Jesum  Christum  keine  Wissenschaft,  so  gibt  es 
nach  Moses  kein  Neues  in  der  Religion  —  Post  Mosim  nulla 
religio.  Niemand  hat  dies  deutlicher  ausgesprochen  als  in  seiner 
großen  Bescheidenheit  Christus  selber. 

Man  hat  in  der  Zentralstellung  der  Liebe  durch  Christus  eine 
entscheidende  Wendung  der  jüdischen  Ideenrichtung  erblicken 
wollen.  Wer  aber  die  Geschichte  des  Zeitalters  kennt,  weiß,  daß 
alle  wahren  Träger  der  Entwicklung  —  natürlich  nicht  der 
Pfründen- Klerus  und  die  Haute-finance  Jerusalems,  die  Christus 


bekämpft  —  diese  Kernidee  des  Judentums  auf  ihre  Fahne  ge- 
schrieben und  das  Banner  der  Liebe  als  Panier  getragen.  Um 
nur  zwei  unmittelbare  Zeitgenossen  aufzuführen:  Hillel,  der  Ver- 
treter der  konservativ-patriarchahschen  Richtung,  faßte  den 
Grundgedanken  der  jüdischen  Lehre  für  die  Heiden  in  den  einen 
Satz:  ,,Was  du  nicht  willst,  das  man  dir  tu,  das  füg  auch  keinem 
andern  zu!"  und  schrieb,  daß  Liebe  zum  Frieden  und  Liebe 
Bum  Menschen  (Friedfertigkeit  und  Nächstenhebe)  die  Pfade 
sur  Erfüllung  des  Gesetzes  seien.  Philo,  Repräsentant  der  moder- 
nistischen Partei,  bezeichnete  Verehrung  gegen  Gott  und  Liebe 
gegen  die  Menschen  (also  ebenfalls  ganz  entsprechend  der  For- 
mulierung Christi)  als  die  zwei  Säulen  der  Sittlichkeit  und  gab 
dem  Gedanken  von  der  Mittelpunktstellung  der  Liebe  die  philo- 
sophische Formel:  „Das  ganze  geschriebene  Gesetz  ist  nichts 
anderes  als  ein  Symbol  der  Liebe."  Hundert  Parallelen  zeit- 
genössischen Schrifttums  weniger  bekannter  Autoren  ließen 
sich  anreihen.  Erst  durch  die  Kerkerhaft,  in  die  das  Juden- 
tum in  den  folgenden  Jahrhunderten  durch  Christentum 
und  Heimatlosigkeit  gezwängt  wurde,  verlor  der  ethische  Pro- 
phetismus wie  der  vom  Lichte  ausgesperrte  Höhlenmolch  der 
Adelsberger  Grotten  Farbe  und  Sehkraft,  um  in  der  Moder- 
luft des  Ghettos  zur  Stubendürre  mittelalterlicher  Scholastik 
und  zur  Lampenblässe  kabbalistischer  Mystik  zu  verkümmern. 
Um  Christus  zu  würdigen,  darf  man  weder  auf  die  Geschichte 
des  Papsttums  blicken  noch  auf  das  mittelalterliche  Mar- 
tyrium der  Juden,  an  beiden  ist  er  —  selber  Märtyrer  —  un- 
schuldig. Die  Geschichte  des  Christentums  ist  die  Geschichte 
der  Verkennung  Christi.  „Es  ist  das  Schicksal  des  Meisters, 
mißverstanden  zu  werden."  Daß  der  orientalisch-jüdische,  in 
tausendjährigem  Ringen  geläuterte  Gottes-  und  Ethos-Begriff 
ebenso  von  den  kultursatten  Heiden  des  Römerreiches  wie  den 
halbwilden  Barbaren  der  germanischen  Wälder  mißverstanden 
und  mißhandelt  wurde,  nimmt  nicht  wunder.  Was  aus  der 
Lehre  Christi  Jahrhunderte  später  als  Christentum  hervorging, 
ist  als  ein  Ragout  aus  jüdischen  und  heidnischen,  indischen,  ägyp- 
tischen, babylonischen,  griechischen,  römischen  und  nordischen 
Vorstellungen  und  Mythen  zusammengebraut  worden.  Der 
Marienkult  und  die  Heiligenverehrung,  Rosenkranz  und  Bilder- 
prozession, Ablaß  und  Beichte,  Zölibat  und  Nonnenwesen,  Un- 
fehlbarkeitsdogma und  Konzilienbeschlüsse  und  all  ihre  histo- 
rischen Folgeerscheinungen  wie  die  Hexenverbrennung,  die 
Inquisition,  die  Judenverfolgungen,  die  Kreuzzüge,  die  Ritter- 

192 


Schaft  Christi  und  das  Tedeum  der  Schlachten  —  sie  haben 
mit  Christus  und  seiner  Religion  so  viel  zu  tun  wie  die  Leibniz- 
cakes  mit  der  Monadenlehre.  Im  Namen  dessen,  der  gepredigt : 
„Ihr  sollt  nicht  Schätze  sammeln  auf  Erden,  denn  man  kann 
nicht  zween  Herren  dienen,  Gott  nicht  und  dem  Mammon",  er- 
hebt sich  unter  der  „Stellvertretung  Christi"  als  Ecclesia  mili- 
tans  die  pracht-  und  machtlüsternste  Organisation  der  Welt- 
geschichte; im  Namen  dessen,  der  gepredigt,  daß  ,,ein  Kamel 
eher  durch  ein  Nadelöhr  gehe,  als  daß  ein  Reicher  in  den  Himmel 
komme"  —  ,,ihr  sollt  nicht  Schätze  sammeln,  da  Motten  und 
Rost  sie  fressen!"  —  haben  die  „Jünger  Christi"  ihre  Klöster  zu 
den  größten  Schatzkammern  und  Weinkellern  der  Welt  ge- 
wendet und  sitzen  als  „Äbte  von  St.  Gallen"  in  den  Sesseln 
der  Cenarien,  indes  die  Kinder  —  ,,Wer  ein  solches  aufnimmt 
in  meinem  Namen,  der  nimmt  mich  auf"  —  an  den  Brüsten 
ausgemergelter  Mütter  in  den  Gassenwinkeln  Hungers  sterben; 
im  Namen  dessen,  der  den  Stein  nicht  aufheben  ließ  gegen  eine 
Ehebrecherin,  sind  Ungezählte,  die  kein  anderes  Verbrechen 
begingen  als  einer  Leidenschaft  zu  unterliegen,  vom  Mucker- 
tum in  Not  und  Tod  gehetzt  und  von  der  Bigotterie  auf  Folter 
und  Feuerscheit  gespannt  und  verbrannt  worden;  im  Namen 
dessen,  der  wider  die  Schriftgelehrten  eiferte,  ,,die  das  Wort  be- 
folgen und  die  Barmherzigkeit  vergessen",  wurden  Jahrhunderte 
lang  um  eines  Jota  willen  zwischen  Arianern  und  Athanasianern 
blutige  Kriege  geführt i);  im  Namen  dessen,  der  gepredigt: 
„Segnet,  die  euch  fluchen,  tuet  wohl  denen,  die  euch  hassen", 
wurden  in  Europa  ein  Jahrtausend  lang  vom  Sachsenblutbad 
Karls  des  Großen  bis  zur  Hugenottenverfolgung  Ludwigs  XIV. 
dem  „Evangelium  der  Liebe"  zu  Ehren  die  scheußlichsten  Ver- 
brechen an  den  charaktervollsten  Menschen  der  Geschichte 
verübt;  im  Namen  dessen,  der  am  Kreuze  sterbend  für  seine 
Peiniger  betet:  ,, Vater,  vergib  ihnen!"  wurde  sein  Volk  in  einem 
tausendjährigen  Amoklauf  durch  die  Jahrhunderte  gehetzt, 
stürmt  noch  heute  der  Mob  des  Ostens  durch  die  Gassen  zum 
Pogrom.  Das  Leiden  Christi  hebt  erst  an  mit  seinem  Tode  .  .  . 
Das  historische  Christentum  ist  ein  Hohn  auf  den  historischen 
Christus.  Träte  heute  Petrus  in  den  nach  ihm  benannten  Dom 
zu  Rom,  so  würde  er  meinen,  aus  kurzem  Stundenschlaf  erwacht, 
zu  Zeiten  Neros  einen  Heidentempel  zu  betreten.  Und  stände 
Christus    unter    dem  Volk  im    Hintergrund   und    sähe    vorne 

1)  Homo-oiisia   oder  Homoi-ousia:    Gottgleichheit  oder  Gottähnlich- 
keit Christi? 

IS    Kahn,  T»ie  Juden.  193 


zwischen  Weihrauchkesseln  und  Votivfiguren  einen  Priester  in 
einem  Spitzenkleide  stehen  und  auf  ein  Schellenzeichen  vor 
einem  Schnitzbild  in  die  Knie  sinken,  und  sähe  rings  den  Reich- 
tum, Gold  und  Marmor,  Samt  und  Seide,  Baldachine,  Silber- 
leychter,  indes  draußen  auf  den  Kirchentreppen  die  Armen 
frierend  um  Almosen  betteln,  und  hörte,  dieses  sei  die  Halle, 
daraus  sein  Stellvertreter  der  Menschheit  seine  Lehre  kündet  — 
er  zerrisse  sein  Gewand  und  würde  wieder  draußen  in  der  Wüste 
predigen  ...  als  die  Römerknechte  ihm  den  Purpurfetzen  um 
die  Schulter  hängten  und  die  Dornenkrone  auf  die  Stirne 
preßten  und  „Judenkönig"  spotteten,  wurde  er  nicht  blutiger 
verhöhnt. 

Oscar  Wilde  sah  bei  einem  Osterfest  zu  Rom  Papst  und 
Klerus  im  Festgepränge: 

„Silberfanfaren  schallten  durch  den  Dom; 
In  Ehrfurcht  lag  das  Volk  rings  auf  den  Knien 
Und  auf  dem  Throne,  wie  ein  Gott,  erschien, 
Hoch  hergetragen  über'm  Menschenstrom, 

In  Rot  und  Weiß  der  heil'ge  Herr  von  Rom 
In  Priesterkleid  und  Königshermelin; 
Und  sieh,  drei  goldne  Kronen  krönten  ihn: 
In  Glanz  und  Pracht  so  zog  er  durch  den  Dom. 

Mein  Herz  nahm  still  zurück  den  weiten  Weg 
Zu  einem,  der  am  öden  Meeresstrand 
Hinschritt  und  nirgends  eine  Stätte  fand: 

,,Der  Fuchs  hat  Gruben  und  sein  Nest  der  Rabe, 
Ich  habe  nicht,  da  ich  mein  Haupt  hinleg. 
Und  tränenbitterer  Wein  ist  meine  Labe.  ^)" 

Die  Reformation  Luthers  ist  der  Protest  gegen  das  Heiden- 
tum in  der  Kirche.  Sie  ist  eine  Umkehr.  Zurück  zu  Christus. 
Vom  Papst  zu  Luther  ist  der  halbe  Weg  zurück  ins  Urchristen- 
tum. Luther  reißt  der  Kirche  ihre  heidnisch-antike  Maske  ab,  und 

*)  Sven  Hedin  berichtet  vom  Heiligen  Grabe  Christi  zu  Jerusalem: 
„Der  Ort,  der  auf  Erden  der  heiligste,  der  erhabenste,  der  am  ehrfürch- 
tigsten gehütete  sein  sollte,  den  man  vor  Andacht  stumm,  höchstens  flü- 
sternd betritt diesen  Ort  haben  die  Priester  der  einander  feind- 
lich gesinnten  Religionsgemeinschaften  in  eine  Räuberhöhle  verwandelt,. 
wo  man  sich  mit  kleinlichstem,  unversöhnHchstem  Neid  um  eingebildete  Vor- 
teile und  angemaßte  Rechte  streitet.  Um  Schlägereien  vorzubeugen,  müssen 
•jl  türkische  Soldaten  diese  wunderliche  Christenheit  bewachen.  Wer  gedenkt 
'  hier  noch  der  Worte  der  Bergpredigt:  „SeHg  sind  die  Friedfertigen,  denn  sie 
sollen  Gottes  Kinder  heißen?"  Die  strotzende  Pracht  ringsum  ist  nur  ein 
Markt  der  Eitelkeiten  1   Überall  hier  ist  der  Tisch  des  reichen  Mannes  ge- 

194 


im  halb  entschminkten  Christentum  des  Protestantismus  erkennt 
man  schon  wieder  die  Züge  des  jüdischen  Originals.  Die  weitere 
Entwicklung  ist  logisch  vorgezeichnet.  Genau  wie  in  der  pro- 
phetischen Entwicklung  des  Judentums  wird  auch  in  der  ferneren 
Geschichte  des  Christentums  die  Sinnlichkeit  von  der  Sittlichkeit, 
der  Kult  von  der  Moral  überwunden  werden,  und  der  gereifte 
Rationalismus  des  nächsten  Reformators  wird  zur  Reinheit 
arianischer  Christauffassung  zurückkehren,  die  mittelalterliche 
Dogmatik  stürzen  und  durch  die  reine  Lehre  Christi  zurück- 
kehren zum  entkulteten  ethischen  Monotheismus  der  Propheten. 
In  der  Entwicklung  des  europäischen  Christentums  dokumen- 
tiert sich  der  Fluch  aller  Gewaltpolitik.  Diese  Religion  ist  nicht 
eine  Manifestation  der  Rassenpsyche  Europas,  ist  nicht  als 
Blütenschmuck  am  Baum  des  arischen  Völkerstamms  hervor- 
gewachsen sondern  eine  Importweire  wie  Zimt  und  Zitrone. 
Die  orientalische  Weltanschauung  steht  dem  nordischen  Ger- 
manen so  schlecht  wie  der  Negerfrau  der  Guineaküste  die 
rote  Seidenbluse,  die  ihr  ein  enghscher  Händler  aufgeschwatzt. 
Der  Jude,  der  in  seinen  Tallith  gehüllt,  geschlossenen  Auges 
Gebete  flüstert,  ist  eine  Charaktergestalt;  das  polnische  Bauern- 
mädchen, das  —  ganz  indogermanische  Heidin  —  dem  Mutter- 
gottesbilde Blumen  bringt,  bewegt  sich  in  der  Szenerie  ihrer 
Gedankenwelt;  aber  der  deutsche  Kürassier,  der  vor  der 
Attacke,  um  Franzosenköpfe  zu  säbeln,  seine  Stallknechtshände 
demutsvoll  zu  einem  Vaterunser  faltet  —  „Helm  ab  zum  Gebet!" 
—  ist  eine  Karikatur;  eine  Walküre  mit  Engelflügelchen  am 
Panzer;  ein  Spott  auf  Christus  und  ein  Verrat  an  dem  Geist 
seiner  Väter.  Herrlich  sind  die  alten  Helden  Germaniens,  die 
um  ihren  Götterbaum  dröhnend  ihre  Bardenlieder  singen;  aber 
der  Enkel,  der  in  der  Kutte  nach  den  Kugeln  eines  Rosenkranzes 
Litaneien  hersagt,  ist  entartet.  Widukind  hätte  die  Sachsen- 
eiche stehen  lassen    sollen;  Karl    der  Große  hätte   nicht  die 

deckt,  während  der  Arme  vor  der  Türe  liegt  und  nach  den  Brosamen 
greift,  die  von  seinem  Tische  abfallen  . .  .  Selbst  hier  rast  der  Tanz  um 
das  goldene  Kalb!"  Von  der  Geburtstätte  Christi  erzählt  er:  „Als  die 
Lateiner  einmal  in  dem  ihnen  zugewiesenen  Raum  einen  Teppich  legten, 
schnitten  die  Griechen  eine  Ecke  davon  ab,  die  auf  ihr  Gebiet  hinüber- 
reichte 1  Das  Eigentumsrecht  an  einem  Fenster  war  bestritten,  und  30  Jahre 
lang  spannen  die  Spinnen  ihre  Netze,  weil  jeder  dem  anderen  sogar 
das  Reinemachen  verwehrte  I  Von  Konstantinopel  erhielten  die  Armenier  - 
die  Erlaubnis,  an  ihrer  Decke  noch  eine  Lampe  aufzuhängen;  die  Griechen  • 
betrachteten  das  als  einen  Eingriff  in  ihre  Rechte  und  nahmen  die  Lampe 
fort.    Die  leere  Kette  hängt  aber  noch  da." 

!»•  195 


4500  Recken  köpfen  sollen,  weil  sie  sich  weigerten,  das  Kreuz 
zu  nehmen.    Die  toten  Sachsen  hatten  recht  getan. 

„Den  deutschen  Mannen  gereicht's  zum  Ruhm, 
Daß  sie  gehaßt  das  Christentum"  (Goethe). 

Nicht  am  Kreuz,  für  seine  Feinde  betend,  stirbt  das  deutsche 
Ideal;  auf  schnaubendem  Roß  fliegt,  von  Walküren  umzogen, 
der  gefallene  Held  durch  glühende  Wolkentore  nach  Walhall. 

Alle  Tyrannei  ist  von  Übel,  aber  von  größtem  die  des 
Geistes.  Europa  hätte  sich  ungleich  charaktervoller  und 
eigenartiger  entwickelt,  wenn  es  nicht  durch  die  fanatischen 
Apostel  mit  Kreuz  und  Schwert  gewaltsam  gegen  den  gesunden 
Instinkt  des  Volkes  christianisiert  worden  wäre.  Die  germanische 
Frühkultur  zeigt  in  ihren  Mythen  und  Märchen  herrliche  Keime 
künftiger  Blüte;  schade,  daß  man  sie  gekappt  und  auf  ihren 
Stumpf  das  orientalische  Reis  des  Christentums  gepfropft  hat. 
Dann  hätten  Deutschlands  größte  Geister  nicht  in  fremden 
Ländern  ihrer  Seele  Heimat  suchen  müssen,  dann  hätte  Luther 
—  der  erste  Deutsche  —  nicht  ein  Protestant,  Schiller  nicht 
Hellene,  Goethe  Heide,  Schopenhauer  Buddhist  und  Nietzsche 
Antichrist  zu  werden  brauchen,  sondern  hätten  Bejaher  einer 
Kultur  sein  können,  die,  statt  orientalisch-europäische  Bastard- 
schöpfung, in  des  Wortes  gutem  Sinne  nordisch-national  ge- 
wesen wäre.  Schwert  und  Mission  sind  nicht  die  Mittel,  Welt- 
anschauungen zu  schaffen;  sie  müssen  errungen  sein,  erlebt; 
dann  nur  können  sie  Höchstes  auf  Erden  werden  —  Religion. 

Im  Gegensatz  zu  Ghamberlain,  der  Christus  zeitlos  auffaßt 
und  durch  Scholastizismen,  durch  die  man  alles  beweisen  kann, 
ihn  als  den  Verneiner  des  Judentums  hinstellt,  ist  Christus,  genau 
wie  jede  andere  historische  Erscheinung,  einzig  als  Zeitfigur  zu 
begreifen.  Christus  ist  der  Protestant  gegen  den  zeitgenössischen 
Formalismus  in  der  Religion  und  den  Kapitalismus  in  der  Wirt- 
schaftsordnung; Protestant  gegen  eine  satte  Bourgeoisie,  die 
vom  Krämertum  Roms  und  vom  Ästhetentum  des  Hellenismus 
angefressen  ist ;  gegen  eine  Theokratie,  die  in  den  Vorhöfen  des 
Heiligtums  Maklertische  aufstellt  und,  statt  Gutes  zu  tun,  ihre 
Zeit  mit  talmudistischen  Haarspaltereien  hinbringt.  Hierin  ist 
er  der  unmittelbare  Nachfolger  der  großen  Propheten.  Nicht 
j  gegen  die  Juden  oder  gegen  das  mosaische  Gesetz  sondern  gegen 
das  Antijüdische  im  zeitgenössischen  Judentum  predigt  er,  so 
wie  Luther  gegen  das  Unchristliche  in  der  Kirche,  Savonarola 
gegen  die  Weltlichkeit  des  Papstes,  Nietzsche  gegen  das  Anti- 

196 


deutsche  im  Bürgertum  von  1880  wettert.  Christus  ist  so 
wenig  ein  Verneiner  des  Judentums  wie  Luther  ein  Leugner  des 
Christentums. 

Als  Geißler  der  Schwächen  und  Wecker  der  Gewissen  ergeht 
sich  Christus  ebenso  in  Hyperbeln  wie  alle  großen  Läuterer  der 
Seelen,  wie  Jesaja  und  Jeremia  vor  ihm,  wie  Savonarola, 
Voltaire,  Schopenhauer  und  Nietzsche  nach  ihm.  Nimmt  man 
Schopenhauer  wörthch,  ist  die  Welt  ein  Narrenhaus  und  muß 
ein  Mensch  Kretin  sein,  um  in  Deutschland  Universitätspro- 
fessor zu  werden.  Welch  ein  Bild  der  deutschen  Kultur  —  der 
klassischen  Zeit  Goethes,  Kants,  Beethovens  und  Humboldts! 

—  gewänne  die  Nachwelt,  wenn  sie  in  20  Jahrhunderten  Schopen- 
hauer läse,  wie  sie  heute  das  Evangelium  Matthäi  von  den  Juden 
liest!  Und  Schopenhauers  „Welt  als  Wille"  ist  wahrlich  in  seiner 
Ai't  nicht  geringerer  Werte,  Wahrheiten  und  Weisheiten  voll 
wie  das  Testamentum  novum.  Liest  man  Nietzsche  wörtlich, 
muß  man  glauben,  die  Deutschen  —  der  Glanzepoche  Bismarcks ! 

—  seien  samt  und  sonders  Motten,  Maden  und  Mehlwürmer 
gewesen,  und  nach  den  Zeitgemälden  der  Pazifisten  und  Kom- 
munisten unserer  Tage  ist  die  Gesellschaft,  die  hinter  dem  Hel- 
dengeschlecht von  1914  steht,  ein  Verband  von  Piraten  und  Bri- 
ganten  zur  Plünderung  der  Allgemeinheit.  Christus  war  Pro- 
phet und  Prediger  —  Politik  und  Prosa  lagen  ihm  fern.  Was  als 
rhetorische  Wendung  wirkungsvoll,  wird  als  Staatsmaxime 
utopistisch.  „Sorget  nicht  für  euer  Leben,  was  ihr  essen  und 
trinken  werdet  .  .  .  sehet  die  Vögel  unter  dem  Himmel  an,  sie 
säen  nicht,  sie  ernten  nicht,  der  himmlische  Vater  nährt  sie 
doch;  schauet  auf  die  Lilien  des  Feldes^  wie  sie  wachsen,  sie 
arbeiten  nicht,  sie  spinnen  nicht"  —  das  ist  eine  Lehre,  mit  der 
Bettelmönche  über  die  Gasse  ziehen  können,  aber  ein  Volk 
kann  nach  ihr  nicht  leben.  Das  vielgeschmähte  mosaische 
„Aug'  um  Auge,  Zahn  um  Zahn"  —  eine  Formel,  die  dem  baby- 
lonischen Gesetz  entnommen  ist,  aber  in  Israel  (im  Gegensatz 
zu  Babylon)  niemals  wörtlich  ausgeführt  wurde  sondern  nur 
Prinzip  war  —  diese  Maxime  ist  der  zwar  harte,  aber  einzig 
mögliche  Grundsatz  für  eine  Welt,  in  der  man  noch  2000  Jahre 
nach  Christus  einen  Revolver  in  seinen  Koffer  packt,  wenn 
man  auf  Reisen  geht ;  noch  heute  sprechen  die  Gerichte  Europas 
nach  diesem  Prinzip  ihre  Urteile  über  die  Gewalttat :  der  Mörder 
wird  gemordet.  „So  dir  jemand  einen  Streich  gibt  auf  deinen 
rechten  Backen,  dem  biete  auch  den  anderen  dar",  ist  das 
Bekenntnis  einer  schönen  Seele,  von  der  wir  stolz  sein  können, 

197 


daß  sie  jüdisch  ist,  aber  es  ist  keine  Moral  für  eine  Welt, 
in  der  man  glücklich  sein  muß  seine  Freunde  zu  finden,  um 
stark  genug  zu  sein  seinen  Feinden  zu  begegnen.  Nur  mit 
seinem  Untergange  könnte  ein  Volk  die  Realisation  dieser 
Ideologien  erkaufen.  Daß  Christus  die  Predigt  dieser  kom- 
munistischen Manifeste  in  einem  kapitalistischen  Staat  und 
die  Verkündung  seiner  Gottesabstammung  vor  einer  dogma- 
tischen Orthodoxie  mit  dem  Tode  bezahlt  hat,  kann  nach  den 
europäischen  Analogien  von  Sokrates  und  Seneca,  Galilei  und 
Giordano  Bruno,  Luther  und  Huß,  Blum  und  Kinkel,  kann  in 
dem  Zeitalter  von  Ferrer  und  Jaures,  Liebknecht  und  Luxem- 
burg, Eisner,  Landauer,  Levine  und  Haase  nur  ein  Kind  — 
oder  einen  Heuchler  in  Entrüstung  setzen  .... 

„Die  töricht  genug  ihr  volles  Herz  nicht  wahrten, 
Dem  Pöbel  ihr  Gefühl,  ihr  Schauen  offenbarten, 
Hat  man  von  je  gekreuzigt  und  verbrannt^)." 

*)  Um  Mißverständnissen  vorzubeugen :  Christus  wird  hier,  ebenso  wie 
späterhin  Marx,  einzig  als  Typus  gewürdigt,  als  Träger  der  in  der  Geschichte 
des  jüdischen  Volkes  vom  ersten  Erzvater  bis  zum  Kommunistenführer 
der  Gegenwart  ungebrochen  lebendigen  Idee  von  der  Errichtung  des  ge- 
rechten Reiches  (Reich  Gottes)  auf  Erden,  die  in  Moses,  Christus,  Marx 
nur  ihre  drei  historisch  bedeutendsten  Repräsentanten  gefunden  hat. 
Was  und  wie  sie  im  einzelnen  vergänglich  wirkten,  ist  irrelevant  gegen- 
über der  alles  überragenden  ewigen  Idee,  die  sie  vertreten.  Daß  Christus 
oder  vielmehr  seine  Anhänger  dem  jüdischen  Transzendentalismus  ge- 
wisse neue,  von  den  Juden  als  fremd  empfundene  Elemente  zugetragen, 
tangiert  das  Wesen  seiner  Erscheinung  so  wenig,  wie  daß  Marx  den  histo- 
rischen Materialismus  vertreten,  und  ist  daher  in  diesem  welthistorischen 
Zusammenhang  gänzhch  außer  acht  gelassen  und  zu  lassen.  Der  Genius 
ist  nicht  nur  ewig  wirkender  Geist,  sondern  auch  ein  in  seiner  Zeit  leben- 
der Mensch  und  bedarf  einer  zeitgeschichthchen  Form,  eines  sterblichen 
Gefäßes,  um  seiner  Mitwelt  den  Nektar  seiner  unsterblichen  Idee  zu 
reichen.  Heute  lebend,  würde  Christus  wieder  den  Menschheitserlöser 
spielen,  aber  entsprechend  dem  veränderten  Wesen  der  Zeit,  sich  anderer 
Propagandamittel  bedienen  als  der  Lehren  seiner  Gottesherkunft,  Him- 
melssendung und  Verkündigung  des  jüngsten  Gerichtes.  Er  würde  auf 
den  Barrikaden  der  Kommunisten  stehen.  Daß  eine,  weil  zum  Sittlichen 
unfähige,  im  Sinnlichen  befangene  Welt,  nach  den  bunten  Wimpeln  der 
Attribute  greifend,  die  Idee  zertreten,  ist  so  wenig  seine  Schuld,  wie  Goethe 
für  den  Goethebund  verantwortlich  ist.  Christus  ist  nicht  der  Begründer 
sondern  nur  der  Anlaß  des  Christentums.  Desgleichen  Marx.  Daß  er 
den  historischen  Materialismus  verfochten,  ist  für  seine  weltgeschichtliche 
Sendung  nebensächUch.  Schon  50  Jahre  später  geboren,  würde  er  über 
diesen  Zeitgedanken  der  Dezennien  Buckles,  Büchners,  Darwins  ebenso 
hinausgewachsen  sein  wie  über  seine  Modemeinung  von  der  notwendigen 
„Überwindung"  des  Judentums.  Christus  und  Marx  werden  hier  als 
zwei  Typen  einer  spezifischen  Kulturbetätigung  herausgehoben,  so  wie 
man  Luther  und  Bismarck  als  zwei  typisch  deutsche  Charaktere  feiern 

198 


\>hristus  hat  die  Menschheit  nicht  erlöst.  1800  Jahre  nach 
ihm  harrt  sie  wie  in  seinen  Tagen  aus  Knechtung  und  Entrech- 
tung seufzend  des  erlösenden  Messias.  Die  Ketten,  die  die  Skla- 
ven trugen,  sind  gefallen  —  doch  die  Sklaven  sind  geblieben. 
Statt  an  die  Galeerenbank  sind  sie  an  das  Tretrad  der  Maschine 
geschmiedet,  statt  ins  Bagno  in  die  Tropenhölle  des  Sweating- 
house  zu  lebenslänglichem  Arbeitskerker  verurteilt.  Wie  in  Särge 
sind  sie  eingepfercht  in  die  Zellen,  Kammern  und  Kästen 
ihrer  Wolkenkratzer  und  Mietskasernen,  wie  in  Gräber,  die  die 
Menschheit  verschlingen  wollen,  sinken  täglich  die  Hekatomben 
in  die  Tiefen  der  Gruben  —  und  in  ihnen  allen,  allen  lebt 
doch  die  Lust  nach  Licht  und  Liebe,  Freiheit  und  Freude  — 
Millionen  sehnen  täglich  in  Tränen  vom  Himmel  ihren  Heiland 
nieder  —  umsonst.     Europens   „allerchristlichste   Majestäten'* 

kann,  ohne  darum  Lutheraner  oder  Militarist  zu  sein,  und  wie  beispiels- 
weise Nietzsche,  gewiß  alles  andere  als  Anhänger  der  Bismarck-Politik,  in 
dem  Eisernen  Kanzler  das  Ideal  eines  Heroen  verehrte.  Statt  Christus 
könnte  man  als  Modell  zu  diesem  Typenbild  des  jüdischen  Weltgenies 
Jesaja  oder  Amos,  statt  Marx  Lassalle  oder  Börne,  Eisner  oder  Landauer 
wählen,  wenn  jenen  der  Erfolg  dieser  beschieden  gewesen  wäre.  In  seinem 
unterdes  erschienenen  Buch  über  den  ,, Judenhaß  und  die  Juden"  bei- 
spielsweise stellt  Brunner  neben  Moses  und  Christus  als  drittes  jüdisches 
Weltgenie  Spinoza,  den  er  vom  Standpunkt  einer  wirklich  monotheisti- 
schen Weltauffassung  für  den  größten  nicht  nur  dieser  drei  sondern  sogar 
aller  Menschen  hält.  ,, Moses,  Christus,  Spinoza  —  von  diesen  Dreien  aber 
der  größte  ist  Spinoza;  der  höchste  aller  Menschen  ist  Spinoza;  der  König 
der  Menschheit,  würde  ich  sagen,  wenn  die  Menschheit  danach  wäre, 
von  ihm  sich  regieren  zu  lassen  und  nach  der  Wahrheit  zu  erkennen  das 
in  ihrer  Geschichte  Einzige  und  EinmaHge  dieses  Spinoza.  Moses  und 
Christus  sind  des  Tempels  Fenster,  Spinoza  aber  ist  die  Tür  —  wer  nicht 
durch  diese  Tür  der  Philosophia  perennis  eingeht,  der  gelangt  nicht  in  das 
Innere,  mag  undeutlich  nur  von  außen  hineinschauen.  Wer  die  Wahrheit 
liebt,  kann  sie  ganz  in  Spinoza  lieben;  man  kann  wohl  die  Wahrheit  mehr 
lieben  als  sogar  den  Piaton:  nicht  mehr  als  den  Spinoza.  Immer  wieder 
betone  ich  die  Vollkommenheit  Spinozas,  und  daß  er  der  einzige  voll- 
kommene Philosoph:  gegen  ihn  erscheinen  alle  die  übrigen  romantisch 
und  unsicher.  Spinozas  Ethik  ist  die  in  jeder  Zeile  klassische  philosophische 
Explikation  des  Einheitsgedankens,  das  mächtigste  Weihelied  —  alle 
die  Dinge  der  Welt  sind  die  klingenden  Saiten  zum  ungeheuren  Liede 
von  der  Einheit."  In  diesem  Zusammenhang  interessant  sind  die  Ahnen- 
reihen, die  Nietzsche,  der  unzweifelhaft  am  weitesten  in  die  Zukunft  des 
Menschengeschlechts  weisende  Prophet  der  Gegenwart,  als  seine  Vor- 
fahren aufzählt:  „In  dem,  was  Zarathustra,  Moses,  Mohammed,  Jesus, 
Plato,  Brutus,  Spinoza,  Mirabeau  bewegte,  lebte  auch  ich  schon."  ,,Wenn 
ich  von  Plato,  Pascal,  Spinoza  und  Goethe  rede,  so  weiß  ich,  daß  ihr 
Blut  in  dem  meinen  rollt."  „Meine  Vorfahren  Heraklit,  Empedokles, 
Spinoza,  Goethe  .  .  ." 

19» 


mästen  sich  am  Handel  mit  Afrikas  „schwarzer  Ebenholz  wäre"; 
Tyrannenträume  zu  verwirklichen,  führen  die  Napoleoniden 
Flotten  nach  Ägypten  und  Heere  nach  Sibirien,  Winden  und 
Wölfen  und  eisigen  Flüssen  zum  Fraß;  die  arischen  Genies 
dichten  Dramen,  malen  Bilder,  singen  Symphonien  —  doch  für 
den  Jammer  der  Millionen  rühren  sich  keine  Saiten  auf  dem 
Psalter  ihrer  Seele.  Der  Kanon  des  Polyklet  oder  die  Lösung 
des  Fermat  sind  ihnen  wichtiger  als  das  Glück  der  Massen. 
Wie  Fettaugen  schwimmen  sie,  im  Sonnenschein  der  Künste 
schillernd,  über  der  salzigen  Tränensuppe  des  Völkerelends. 
Soll's  so  ewig  weiter  währen?  Aus  tausend  Seufzern  tönt  ein 
Lachen,  über  unendlichen  Scharen  Leidgebeugter  schweben  die 
wenigen  beflügelten  Genien  beglückten  Daseins  —  muß  er  da 
nicht  wiederkommen,  niederkommen  er,  der  Messias,  der  mit 
seinem  all-liebenden  Herzen  der  Menschheit  ganzes  Leid  umfaßt 
und  sich  wieder  auf  den  Ölberg  stellt,  die  Arme  ausgebreitet: 
„Kommt  her  zu  mir  alle,  die  ihr  mühselig  seid  und  beladen?" 

1818  geht  der  Stern  von  Bethlehem  zum  zweiten  Male  auf. 
Wieder  steigt  er  empor  über  den  Dächern  Judäas:  Marx. 

Wenn  Christus  im  Himmel  die  Scharen  all  derer  an  sich 
vorüberziehen  ließ,  die  in  seinem  Namen  gehandelt,  und  Gott- 
Vater  spräche  zu  ihm:  ,, Weise  mir  den,  der  am  vollkommensten 
deine  Lehre  erfüllte"  —  er  ließe  alle  Päpste,  Mönche  und  Nonnen, 
alle  Kreuzfahrer  und  Missionare  an  sich  vorüberziehen;  alle 
Maler,  die  ihn  verherrlicht,  alle  Dichter,  die  ihn  besungen.  Jahr- 
hunderte schritten  an  ihm  vorbei.  Bis  er  die  Apostelgestalt  von 
Marx  erblickte.  Auf  seine  Schultern  legte  er  seine  Hände:  ,,Du 
bist  meiner  Verkündigung  wahrer  Erfüller.  Du  hast  nicht  mit 
dem  Schwert  meine  Lehre  verbreitet,  hast  nicht  das  Gesetz 
höher  gestellt  als  die  Liebe  und  den  Mammon  nicht  neben  Gott. 
Dir  war  der  Arme  mehr  als  der  Reiche,  und  der  Hohe  nicht  soviel 
wie  der  Niedere.  Grenzenlos  war  deine  Liebe,  nicht  Völker  und 
nicht  Religionen  achtend  —  alle,  alle,  die  das  Leid  gedrückt, 
hast  du  Brüder  genannt  —  die  Menschheit  zu  erlösen  war,  wie 
mir  dereinst,  dein  Ziel.    Du  bist  der  erste  wahre  Christ." 

Man  hat  das  Christentum  die  Religion  des  Mitleids  genannt. 
Die  Tat  Moses'  war  eine  Tat  des  Mitleids,  die  Tat  des  Marx  ist 
eine  solche.  Marx  ist  kein  Gelehrter,  der  den  Sozialismus  aus- 
geklügelt, kein  Nationalökonom,  der  eine  neue  Wirtschaftsform 
ersonnen,  ihn  treibt,  „wunderbar  groß  über  alle  häusliche  Qual 
die  Qualen  der  Millionen  empfindend",  der  heiße  Wille  Erlöser 
zu  sein,  jener  „leidenschaftliche  Hang  zum  Altruismus",  der 

200 


schon  in  seiner  Jugend  den  Vater  zu  der  Prophezeiung  hinriß, 
„er  sei  bestimmt,  der  Humanität  zu  dienen".  Nicht  Wissen- 
schaft, nicht  PoHtik,  nicht  Demagogenehrgeiz  treiben  ihn,  son- 
dern Ethos  —  er  ist  wie  Moses  und  wie  Christus  ein  Prophet. 
Wir  Zeitgenossen  können  die  Bedeutung  von  Marx  so  wenig 
ermessen,  wie  Petrus  und  Paulus  die  Tragweite  des  Christentums 
erkennen  konnten.  Aber  schon  heute  läßt  der  Donnergang  des 
Zeitgeschehens  ahnen,  daß  ein  neuer  Tag  der  Menschheit  an- 
gebrochen, als  dessen  Phöbus- Apoll  der  Genius  der  sozialen  Idee 
die  Sonnenrosse  der  Geschichte  lenkt.  Man  hat  das  Erscheinen 
Christi  als  Welt-  und  Zeitenwende  fixiert.  Mit  Recht.  Wie  das 
Zentralgestirn  den  Kometen,  hat  er  die  Menschheit  Europas  aus 
ihrer  Bahn  gelenkt  zu  einem  neuen  Jahrtausend-Umlauf  der 
Geschichte.  Seit  jener  Zeit  hat  sich  dergleichen  nichts  ereignet. 
Die  Entdeckung  Amerikas  ist  nicht  der  Anbruch  einer  neuen 
Epoche,  wie  die  Geschichtsbücher  lehren,  denn  sie  hat  nicht 
revolutionierend  auf  den  Geist  gewirkt.  Was  ist  Großes  ge- 
schehen? Ein  neuer  Erdteil  entdeckt,  mit  ungezählten  Büffel- 
herden, die  man  ihrer  Felle  wegen  bis  zum  letzten  Exemplar 
dahingeschlachtet ;  neue  Völker,  die  in  ihrer  Unschuld  leichte 
Opfer  waren  für  die  Gold-  und  Mordgier  ihrer  unersättlichen 
Entdecker;  neue  Zucker-,  Baumwoll-,  Kaffeefelder,  die  man  durch 
Neger  kultivieren  ließ,  die  man  mit  Hundepeitschen  auf  die 
Plantagen  trieb ;  neue  Städte,  neue  Gruben,  neue  Schlote,  und  in 
ihrem  Qualm  das  alte  Elend  —  aber  keine  „Neuzeit".  Auch  die 
Erfindung  des  Fernrohrs,  die  Entdeckung  der  Gravitationsgesetze 
oder  die  Konstruktion  der  Dampfmaschine  sind  keine  epochalen 
Ereignisse.  Eine  neue  Epoche  beginnt,  wenn  ein 
neuer  Geist  erwacht.  Die  Neuzeit  brach  in  jenen  Tagen 
an,  als  in  Frankreich  die  Rufe  Freiheit!  Gleichheit!  Brüderlich- 
keit! erschollen,  als  Marx  und  Engels  in  London  das  Kommu- 
nistische Manifest  verkündigten.  Das  sind  die  ersten  Morgen- 
rufe des  neuen  Menschheitstages,  dessen  Frührot  heute  die 
Horizonte  der  Geschichte  flammend  umleuchtet.  Ein  neuer 
Geist,  ein  neuer  Wille!  Seit  die  Sonne  unterging  an  jenem 
Kreuzigungsabend  über  Golgatha,  hat  Nacht  gelegen  über 
der  Menschheit.  Mißverstehen  der  reinen  Lehren  senkte  sich 
wie  Nebel  über  die  Geister.  Fanatismus  schlug  sie  mit 
Blindheit,  und  durch  das  Dunkel  klirrten  die  Waffen  und 
tönte  das  Geschrei  der  Kämpfenden  und  Besiegten.  Nun  be- 
ginnt ein  neuer  Tag  zu  dämmern:  die  Marseillaise  klingt,  die 
Girondisten  ziehen  im  Morgenschein  vorbei,  und  an  die  grauen 

201 


Mauern  des  alten  Staatsgefängnisses  schlägt  Marx  im  ersten 
Frühlicht  das  Kommunistische  Manifest  —  der  dritte  Tag  der 
Schöpfungswoche,  die  zum  Menschheitssabbat  führt. 

Seit  der  Ausbreitung  des  Christentums  hat  keine  Lehre  die 
Menschheit  so  zu  tiefst  moralisch  aufgewühlt  wie  die  Idee 
von  Marx ;  scheint  keine  andere  so  berufen,  die  gesamte  Gliede- 
rung der  menschlichen  Gesellschaft  im  Sinn  des  idealen  Juden- 
Ghristentumes  zu  verändern  und  veredeln  wie  der  Sozialis- 
mus. Christus  hat  das  europäische  Indi  vi  dualgewissen  ge- 
weckt, Marx  das  Sozialgewissen  der  Gesamtheit.  Jener  hat 
die  Sklaverei  der  Antike,  dieser  die  Knechtschaft  des  Mittel- 
alters überwunden.  Mit  jenem  hebt  das  Mittelalter  an,  mit 
diesem  die  wahre  Neuzeit. 

Und  ihr  Evangelium  ist  der  Sozialismus.  Wir,  die  wir 
in  der  Schule  als  „Geschichte"  die  spanischen  Raubzüge 
und  die  Schlachtentage  von  1870  lernten,  fassen  es  nicht. 
Wir  kommen  aus  der  Dunkelheit  und  sind  vom  neuen  Licht 
geblendet.  Aber  die  Zukunft,  der  die  Genealogien  der  bran- 
denburgischen Fürsten  ein  Gelächter  sind,  wird  das  Auf- 
treten von  Marx  als  ein  eben  solches  Ereignis  feiern  wie 
die  heutige  Menschheit  die  Geburt  von  Christus.  Als  in  Ruß- 
land auf  den  Trümmern  des  mittelalterlichen  Zarenreiches  der 
erste  kommunistische  Staat  errichtet  wurde,  schmolz  man  die 
Denkmäler  der  entthronten  Tyrannen  ein  und  goß  aus  ihnen 
als  erste  eine  Statue  von  Marx  —  das  ist  der  Geist  der  wahren 
„Neuzeit"  .  .  . 

In  seiner  Wirkung  auf  die  Weltgeschichte  und  nicht  in  seiner 
„objektiven"  Leistungsgröße  liegt  die  Bedeutung  von  Marx. 
In  der  Geschichte  wird  —  hart  aber  wahr  —  das  Urteil  durch 
den  Erfolg  bestimmt.  Als  Gründer  einer  obskuren  Sekte  wäre 
Christus  —  bei  wörtlich  derselben  Lehre  —  nicht  der  große 
Genius  der  Menschheit.  Es  hat  vielleicht  größere  Propheten 
gegeben,  aber  das  Schicksal  hat  keinen  wie  ihn  zum  Welten- 
wender erhoben.  Livingstone  und  Stanley  haben  ihre  Expedi- 
tionen mit  ungleich  größerem  Aufwand  von  Wissen  und  Willen 
in  Szene  gesetzt  als  Kolumbus,  sie  haben  unverhältnismäßig 
mehr  gelitten,  sie  waren  unvergleichlich  höhere  Heroen,  da  sie 
wußten,  was  ihnen  bevorstand.  Aber  sie  haben  nur  einen  Erd- 
teil durchquert,  während  Kolumbus  einen  solchen  entdeckte. 
Kopernikus  kann  sich  nicht  im  entferntesten  an  Geist  mit 
Kepler  und  Galilei  messen,  aber  er  als  der  glückliche  Erste  ist 
<ier  „Motor  Solls,  orbium  coelestium  turbator"  geworden.   Kants 

202 


„Kritik  der  reinen  Vernunft"  mag  ein  ungleich  gedankenreicheres 
Werk  sein  als  „Das  Kapital".  Aber  die  schwergeschriebene  Meta- 
physik wird  für  alle  Zeit  nur  die  Delikatesse  philosophischer 
Feinschmecker  bleiben,  indes  die  Lehre  von  Marx  zum  Evange- 
lium der  Massen  wurde,  sein  „Kapital"  zur  ,, Bibel  des  Arbeiters". 

Daß  2000  Jahre  nach  der  Verkündigung  des  Evangeliums 
der  Liebe  an  die  Völker  des  arischen  Kreises  aus  einer  Zahl  von 
mehr  als  400  MilUonen  gläubiger  Christen  es  wieder  ein  Jude 
und  dennoch  wieder  ein  Jude  gewesen,  den  das  Mitleid  mit 
der  Menschheit  hinriß  zu  einem  neuen  Sinai,  einer  neuen  Predigt 
am  Berge  —  kann  diese  Duplizität  der  Taten  Zufall  sein? 
Zufall?  Das  Negative,  daß  etwas  nicht  geschieht,  mag  Zu- 
fall sein,  das  Positive  ist  niemals  Zufall  in  der  Geschichte. 
Daß  ein  Genie  wie  Kleist  in  jungen  Jahren  stirbt,  mag  man 
als  „Zufall"  beklagen.  Ebenso  Raffaels,  Mozarts,  Schuberts 
allzu  frühen  Tod.  Was  sie  nicht  geschrieben,  ist  Zufall, 
brutaler  Zufall.  Aber  die  Penthesilea,  die  Sixtina,  der  Figaro 
sind  keine  Produkte  des  Zufalls.  Schöpfung  ist  Notwendig- 
keit. Moses,  Christus,  Marx  sind  drei  Repräsen- 
tanten einer  spezifischen  Rasse  und  Rassenveran- 
lagung, die  in  derEigenart  ihres  Wesens  und  ihrer 
Leistungen  in  der  Geschichte  der  Menschheit  ein- 
zig dasteht,  und  der  durch  diese  Einzigartigkeit 
der  Begabung  —  wie  jedem  anderen  Kulturvolk  — 
eine  bestimmte  Mission  im  Dienste  der  Mensch- 
heit zufällt.  Die  genialen  Repräsentanten  dieser  spezifisch 
jüdischen  Begabung  sind  die  Propheten-  und  Apostelge- 
stalten, aus  deren  Reihe  als  höchste  Inkarnation  des  jüdischen 
Wesens  und  Willens  der  Erlösertypus  hervorragt,  wie  ihn  das 
jüdische  Volk  der  Menschheit  in  den  drei  Epochen  ihrer  Ge- 
schichte dreimal  geschenkt  hat:  Moses,  Christus,  Marx. 

An  solchen  spezifisch  jüdischen  Erlöser-  und  Propheten- 
naturen, deren  Ziel  nicht  schwächlicher  Kompromiß  mit  der 
gegenwärtigen  Weltordnung,  sondern  die  Verwirklichung  eines 
wahrhaft  neuen  Reichs  im  Sinn  der  allgemeinen  Glückserfül- 
lung ist,  sind  auch  unsere  Zeiten  des  revolutionären  Um- 
schwunges reich:  Solch  eine  echt  jüdische  Prophetengestalt 
aus  dem  19.  Jahrhundert,  durch  den  heiligen  Zorn  der  be- 
leidigten Gerechtigkeit  von  Begeisterung  zu  Begeisterung  ge- 
tragen, steter  Anwalt  der  Bedrängten  und  Bedrückten,  Führer 
zum  messianischen  Ideal  des  Menschheitsglückes,  ist  Lassalle, 
der  sechzehnjährig  sein,  Lebensprogramm   aufstellte  mit  dem 

203 


Satze:  „Warum  soll  ich  zum  Märtyrer  werden?  Warum?  Weil 
Gott  mir  die  Stimme  in  die  Brust  gelegt,  die  mich  aufruft  zum 
Kampfe,  weil  Gott  mir  die  Kraft  gegeben,  ich  fühle  es,  die  mich 
befähigt  zum  Kampfe !  Weil  ich  für  einen  edlen  Zweck  kämpfen 
und  leiden  kann!  Weil  ich  Gott  mit  den  Kräften,  die  er  mir 
zu  bestimmtem  Zweck  gegeben,  nicht  betrügen  will.  Weil  ich, 
mit  einem  Wort,  nicht  anders  kann."  Seinen  Pfaden  und 
Fahnen  wandelt  in  unseren  Tagen  die  Legion  der  jüdischen 
Revolutionäre  nach,  die  seit  Jahrzehnten  in  Rußland  der  Sache 
der  Freiheit  dienten  und  deren  bekannte  Repräsentanten  in 
den  westlichen  Ländern  Eisner,  Luxemburg,  Levine,  Toller, 
Landauer,  Szamuely  und  viele  andere  geworden  sind.  Man 
mag  über  die  Zweckmäßigkeit  ihrer  Handlungen  denken,  wie 
man  will,  man  mag  ihr  Schicksal  hinter  Festungsmauern 
und  Gefängnisgittern,  selbst  ihren  Totschlag  auf  den  Straßen 
sub  specie  der  Zeitgeschichte  für  notwendig  und  verdient 
halten  —  wer  seine  Meinung  nicht  aus  seinem  Morgenblättchen 
im  Abonnement  bezieht  sondern  sich  die  Mühe  gibt,  sich  in 
Werdegang,  Gedankenwelt  und  Schicksalslauf  auch  anders- 
denkender Menschen  zu  versenken,  kann  nicht  umhin,  vor  der 
Lauterkeit  ihrer  Gesinnung  und  dem  Mut  ihrer  Überzeugungs- 
treue so  viel  Achtung  zu  empfinden  wie  vor  irgendweich  anderen 
Helden  der  Geschicht'e.  So  wenig  Jeremias  durch  seine  Steini- 
gung, Christus  durch  seinen  Galgentod  zwischen  zwei  Ver- 
brechern, Spinoza  durch  seine  Exkommunikation  und  Marx 
durch  die  Kgl.  preußischen  Haftbefehle  vor  der  Nachwelt  de- 
gradiert sind,  so  wenig  kann  ihr  Bildnis  für  den  Historiker 
durch  Hohnurteil  und  Haßgefühl  der  Zeitgenossen  getrübt 
werden.  Durch  Kolben  und  Kugel  können  die  Zeitgenossen 
einen  ihnen  unbequemen  Genius  aus  der  Liste  der  Lebendigen 
aber  nicht  aus  den  Annalen  der  Menschheit  streichen.  Ohne 
politische  Stellungnahme,  ohne  bestimmte  Auswahl  und  ohne 
jedes  Werturteil  sind  im  folgenden  einige  der  modernen  Re- 
volutionäre, über  die  durch  die  Tageshteratur  etwas  zu  er- 
fahren war,  herausgegriffen,  um  als  Typen  zu  dienen,  damit 
die  Riesenbühne  des  Welttheaters,  über  deren  Horizont  die 
historisch  versteinerten  Gigantenfiguren  von  Moses,  Christus, 
Marx  wie  Memnonssäulen  thronen,  durch  lebendige  Akteure 
der  Zeitgeschichte  Inhalt  und  Kolorit  gewinnt.  Daß  E isner 
und  Toller  spezifisch  dichterisch  begabte  Ideologen  sind,  ist 
allgemein  bekannt,  besonders  seit  den  vielen  hundert  Auf- 
führungen von  Tollers  pazifistischem  Drama  „Die  Wandlung", 

204 


das  auch  als  ein  Beitrag  zur  Rassenpsychologie  der  Juden,  zu 
aar  spezifisch  jüdischen  Art,  auf  die  Erlebnisse  der  Kriegszeit 
und  Revolution  zu  reagieren,  wertvoll  ist.  Tollers  Dichtung 
entspringt,  wie  auch  seine  nicht  jüdischen  gerichtlichen  Begut- 
achter aussagten,  ebenso  wie  sein  ganzes  revolutionäres  Auf- 
treten ,, stärkstem  Ethos". 

Levine  —  ,,ein  Mann  von  großem  Wissen,  von  scharfem 
Verstand,  von  tiefer  politischer  Einsicht  und  Kenntnis,  begabt 
mit  einem  stahlharten  Willen,  voller  Güte,  voller  Aufopferungs- 
fähigkeit und  Tapferkeit,  war  ein  Idealist  von  reinstem  Kri- 
stall", der,  ähnlich  Lassalle,  einem  vermögenden  Hause  ent- 
stammte, aber  allem  Reichtum  entsagte,  um  zuerst  als  Vor- 
kämpfer der  Revolution  in  den  russischen  Gefängnissen  zu 
schmachten  und  später  in  Deutschland  hinter  dem  Schraub- 
stock in  den  Fabriken  in  Reih  und  Glied  mit  seinen  Genossen 
zu  stehen.  Sein  bekanntes  Wort:  „Wir  Kommunisten  sind 
alle  nur  Tote  auf  Urlaub!"  sollte  sich  an  ihm  erfüllen.  Mit  dem 
Rufe:  „Es  lebe  die  Weltrevolution!"  empfing  er  die  Schüsse 
des  Kommandos,  das  ihn  exekutierte. 

Ein  Prophet,  durchglüht,  um  nicht  zu  sagen,  besessen  von 
der  Idee,  die  Menschheit  zu  erlösen,  war  Landauer.  Er  sah, 
tat  und  lebte  alles  unter  dem  einen  Gesichtspunkt :  wie  •  die 
Menschheit  von  den  Fesseln  der  gegenwärtigen  Knechtschaft 
zu  befreien  und  zu  einem  Menschentum  der  Schönheit,  Liebe 
und  der  W^ürde  zu  erheben  sei.  Selbst  Goethe  betrachtet  er 
—  wie  charakteristisch!  —  unter  diesem  Gesichtswinkel:  „Ich 
möchte  alles,"  sagte  er  einmal  zu  einer  Goethefeier,  „was  das 
eine:  Goethe  mir  bedeutet,  mit  starkem  sicherem  Druck  in 
Eines  zusammenballen  können,  bis  es  kristallisch  würde  und 
über  uns  allen  schwebte  als  unerhört  leuchtender  farbiger  Edel- 
stein. Und  dann  möchte  ich  in  euch  hineingreifen,  die  ihr  da 
unten  seid  seit  Jahrtausenden  und  Schmach  und  Elend  erdulden 
müßt,  dann  möchte  ich  euch  zusammenschweißen  zu  einem 
Haufen  und  euch  kneten,  bis  eure  armen  Körper,  die  verödeten 
Hallen  eurer  Seele,  zu  einem  Klumpen  ungestalteter  Häßlich- 
keit zusammengebacken  wären.  Seht,  darum  zeige  ich  euch 
Goethe,  damit  ihr  seht,  was  ihr  selber  seid !  Solche  Überragenden 
gehen  im  Laufe  der  Zeit  aus  dem  Menschengeschlecht  hervor. 
Und  was  habt  ihr  mit  euch  anfangen  lassen,  was  aus  euch  ge- 
macht ?  Wohl  arbeitet  ihr  hart  und  schwer,  um  zu  leben.  Aber 
warum  lebt  ihr,  wofür?"  Landauer  wurde,  schreibt  Bab  in 
einer   Gedächtnisschrift   über  ihn,   ,, gestachelt,   getrieben,   be- 

205 


flügelt  von  dem  Gefühl,  daß  diese  Welt  unerträglich  sei,  diese 
Welt,  wo  Adel  nicht  arbeitet  und  Arbeit  nicht  adelt,  wo  deshalb 
alle  Bewegung  überhetzt,  verzerrt,  fruchtlos  und  häßlich  wird, 
und  aller  Reichtum,  alle  Schönheit  in  stumpfer  Bewegungs- 
losigkeit ersticken,  verfaulen,  verwesen  muß.  Er  wollte  diese 
Welt  nicht  ertragen,  er  fand  nicht,  daß  man  irgend  etwas 
anderes  fühlen  oder  tun  dürfe,  als  für  ihre  Änderung  wirken." 
Aus  der  Münchener  Kommunistenzeit  erzählt  ein  Teilnehmer, 
„daß  ihn  nichts  so  ergriffen  habe  wie  die  reine  Güte  und  Mensch- 
lichkeit, mit  der  er  Gustav  Landauer  auf  allen  Plätzen,  an  allen 
Straßenecken,  in  allen  Sälen  sprechen  sah  —  keineswegs  immer  zur 
Masse,  viel  zu  kleinen  Gruppen,  viel  zu  einzelnen  und  immer  bereit 
zu  helfen,  zu  ermutigen,  aufzurichten,  zu  belehren,  zu  trösten." 
Rosa  Luxemburg  gilt  den  Menschen,  die  sie  nur  aus  den 
Zeitungsberichten  der  bürgerlichen  Presse  kennen,  als  eine 
Hyäne  in  Weibergestalt,  eine  politische  Furie.  Wer  aber  ins 
Innere  dieses  Kämpferherzens  schaut,  blickt  in  das  Paradies 
einer  geradezu  von  einem  heiligen  Frieden  übersonnten  Seele, 
die  mit  ihrer  Liebe  und  ihrem  Erlöserwillen  alles  Menschenleid 
und  allen  Tierschmerz  und  noch  das  kleinste  Blümchen  und 
letzte  Gräschen  umfaßt  —  mit  einem  kriegsgefangenen  rumäni- 
schen Büffel,  der  in  ihrem  Gefängnistor  von  einem  rohen  Sol- 
daten blutig  geschlagen  wird,  empfindet  sie  mehr  Mitleid  als 
mancher  Armeekommandant  mit  einer  zusammengeschossenen 
Division  .  .  .  „Sonitschka,  die  Büffelhaut  ist  sprichwörtlich  an 
Dicke  und  Zähigkeit,  und  die  war  zerrissen!  Die  Tiere  standen 
ganz  still  erschöpft,  und  eines,  das,  welches  blutete,  schaute 
dabei  vor  sich  hin  mit  einem  Ausdruck  in  dem  schwarzen  Ge- 
sicht und  den  sanften  schwarzen  Augen  wie  ein  verweintes 
Kind  .  .  .  ich  stand  davor,  und  das  Tier  blickte  mich  an,  mir 
rannen  die  Tränen  herunter  ...  es  waren  seine  Tränen,  man 
kann  um  den  liebsten  Bruder  nicht  schmerzlicher  zucken,  als 
ich  in  meiner  Ohnmacht  um  dieses  stille  Leid  zuckte.  Wie 
weit,  wie  unerreichbar  verloren  die  freien,  saftigen,  grünen 
Weiden  Rumäniens!  Wie  anders  schien  dort  die  Sonne,  blies 
der  Wind,  wie  anders  waren  die  schönen  Laute  der  Vögel  oder 
das  melodische  Rufen  der  Hirten.  Und  hier  —  diese  fremde, 
schaurige  Stadt,  der  dumpfe  Stall,  das  ekelerregende  muffige 
Heu  mit  faulem  Stroh  gemischt,  die  fremden  furchtbaren  Men- 
schen und  —  die  Schläge,  das  Blut,  das  aus  der  frischen 
Wunde  rinnt  ...  0  mein  armer  Büffel,  mein  armer  geliebter 
Bruder,  wir  stehen  hier  beide  so  ohnmächtig  und  stumm  und 

206 


sind  nur  eins  in  Schmerz,  in  Ohnmacht,  in  Sehnsucht . . .  Liebste, 
seien  Sie  trotz  alledem  ruhig  und  heiter.  So  ist  das  Leben, 
und  so  muß  man  es  nehmen,  tapfer,  unverzagt  und  lächelnd 
—  trotz  alledem.*'  —  „.  .  .Wenn  dies  schrille  klagende  Piepsen 
unter  meinem  Fenster  (im  Gefängnis)  beginnt  .  .  .  bekomme 
ich  buchstäblich  einen  Herzkrampf  . . .  Ich  sage  mir  vergeb- 
lich, daß  es  lächerlich  ist,  daß  ich  ja  nicht  für  alle  hungrigen 
Haubenlerchen  der  Welt  verantwortlich  bin  und  nicht  um  alle 
totgeschlagenen  Büffel  weinen  kann  . . .  Und  wenn  der  Star 
für  einige  Tage  verstummt,  habe  ich  wieder  keine  Ruhe,  daß 
ihm  was  Böses  zugestoßen  sein  mag  ...  So  bin  ich  aus  meiner 
Zelle  nach  allen  Seiten  durch  feine  Fäden  an  tausend  kleine 
und  große  Kreaturen  geknüpft  und  reagiere  auf  alles  mit  Un- 
ruhe, Schmerz,  Selbstvorwürfen."  —  „Wie  merkwürdig,  daß 
ich  ständig  in  einem  freudigen  Rausch  lebe  —  ohne  jeden 
besonderen  Grund.  So  liege  ich  zum  Beispiel  hier  in  der  dunklen 
Zelle  auf  einer  steinharten  Matratze,  um  mich  im  Hause  herrscht 
die  übliche  Kirchhofsstille,  man  kommt  sich  vor  wie  in  einem 
Grab.  (Es  folgt  eine  dichterisch  geradezu  vollendete  Schilderung 
der  Gefängniseinsamkeit.)  ...  Da  liege  ich  still  allein,  gewickelt 
in  diese  vielfachen  schwarzen  Tücher  der  Finsternis  —  und 
dabei  klopft  mein  Herz  von  einer  unbekannten  inneren  Freude, 
wie  wenn  ich  im  strahlenden  Sonnenschein  über  eine  blühende 
Wiese  gehen  würde.  Und  ich  lächle  im  Dunkeln  dem  Leben, 
wie  wenn  ich  irgendein  zauberhaftes  Geheimnis  wüßte,  das  alles 
Böse  und  Traurige  lügen  straft  und  in  lauter  Helligkeit  und 
Glück  wandelt  . . .  Ich  glaube,  das  Geheimnis  ist  nichts  anderes 
als  das  Leben  selbst;  die  tiefe  nächtliche  Finsternis  ist  so  schön 
und  weich  wie  Sammet,  wenn  man  nur  richtig  schaut.  Und  in 
dem  Knirschen  des  feuchten  Sandes  unter  den  langsamen, 
schweren  Schritten  der  Schild  wache  singt  auch  ein  kleines 
schönes  Lied  vom  Leben  —  wenn  man  nur  richtig  zu  hören 
weiß.  In  solchen  Augenblicken  denke  ich  an  Sie  und  möchte 
Ihnen  so  gern  diesen  Zauberschlüssel  mitteilen,  damit  Sie  immer 
und  in  allen  Lagen  das  Schöne  und  Freudige  des  Lebens  wahr- 
nehmen, damit  Sie  auch  im  Rausch  leben  und  wie  über  eine 
bunte  Wiese  gehen  .  .  .  ich  möchte  Ihnen  meine  unerschöpf- 
liche innere  Heiterkeit  geben,  daß  Sie  in  einem  sternbestickten 
Mantel  durchs  Leben  gehen,  der  Sie  vor  allem  Kleinen,  Tri- 
vialen und  Beänstigenden  schützt." 

Wenn  die  Frau,  die,  frei  von  jeder  Pose,  diese  Worte  schrieb, 
jahrzehntelang  ihre  Brandreden  gegen  den  preußischen  Militaris- 

207 


mus  schleuderte,  um  immer  wieder  nach  kurzen  Pausen  der 
Freiheit  von  einem  Gefängnis  ins  andere  zu  wandern  und  in 
den  Tagen  der  Revolution  wie  in  einem  Rausch  von  einem 
Ort  zum  anderen  zog,  um  zum  Kampf,  nicht  zum  harmlosen 
Geplänkel  sondern  zum  letzten  unerbittlichen  Entscheidungs- 
kampf mit  der  alten  Weltordnung  aufzufordern,  bis  sie  von 
einem  Büttel  niedergeschlagen  und  wie  ein  toter  Hund  ver- 
scharrt wurde  —  so  kann  es  nur  die  große  Flamme  propheten- 
haften  Gerechtigkeitszornes  und  religiöser  Ekstase  gewesen  sein, 
die  sie  dahintrugen  und  im  Allgefühl  mit  den  Schmerzen  der 
Menschheit  und  im  Glauben  an  den  Anbruch  der  Erlösungs- 
stunde das  eigene  Leid  bis  zur  Selbstaufopferung  vergessen 
ließen.  „Warum  soll  ich  gerade  zum  Märtyrer  werden?  Warum? 
Weil  Gott  mir  die  Stimme  in  die  Brust  gelegt  .  .  ."  hatte  Las- 
salle gesagt  —  diese  ekstatische  Hingabe  an  eine  für  die  Zeit- 
genossen utopische  und  daher  für  die  Zeitgenossen  vielleicht 
mit  Recht  ,,verwerfhche"  Idee,  diese  geheimen  Wanderpredigten 
vor  den  Letzten  der  Menschheit,  diese  Zornreden  gegen  das 
herrschende  nicht  Recht  sondern  Unrecht,  die  daraus  ent- 
springende Verfolgung  durch  die  Machthaber  und  daran  an- 
schließende Unstetigkeit  des  Lebens,  dazu  ein  innerer  Seelen- 
friede, der  aus  dem  unerschütterlichen  Glauben  an  den  Sieg 
der  gerechten  Sache  entspringt  und  alles,  selbst  das  Letzte 
lächelnd  hinnimmt,  und  schHeßlich  das  ,, schimpfliche"  Ende 
auf  der  Gasse  —  das  ist  der  immer  wiederkehrende  Typus  der 
Passion,  die  ihre  Opfer,  ihre  Helden  von  der  Krippe  zu  Bethlehem 
zum  Kreuz  von  Golgatha  hinführt.  Zwischen  der  großen  Passion 
und  diesen  tausend  kleinen  ist  kein  Unterschied  des  Wesens 
sondern  nur  ein  Unterschied  des  Grades,  der  Zeiten  und  der 
Mittel.  Sie  sind  der  Typus  der  jüdischen  Genialität  und  des 
jüdischen  Schicksals^). 

Uer  jüdische  Genius  ist  nicht  schaffend  und  schauend  wie 
der  arische,  seine  Genialität  ist  nicht  die  des  Hirnes,  des  Auges 
oder  der  Hand,  sondern  ist  Genialität  des  Herzens.  Das  jü- 
dische Genie  ist  Seelengenie.  Ist  Genialität  des  Herzens 

1)  Selbst  der  moderne  Antichrist  der  Juden  OttoWeininger  war,  so 
paradox  es  klingt,  ein  ethischer  Charakter.  Die  Triebfeder  seines  Handelns 
war  das  Ethos.  „Ihn  beschäftigte",  schreibt  der  Herausgeber  seines  Nach- 
lasses, ,,in  der  ersten  Periode  seines  Lebens  und  Schaffens  nur  die  Frage 
nach  der  Erkenntnis  an  sich,  in  der  zweiten  aber  mit  geradezu  herrlicher 
Ausschließlichkeit  der  Gedanke  an  das  Ethische,  Göttliche  in  Welt  und 

208 


weniger  als  die  des  Verstandes?  Mit  der  Genialität  seines 
Herzens  tränkte  Judäa  die  jungen  Barbaren  des  Erdkreises, 
tränkt  es  noch  heute  im  Namen  der  Missionen  die  Neger  im 
Sudan  und  die  Feuerländer  Patagoniens.  Durch  die  Genialität 
seines  Herzens  ist  Israel  die  ethische  Mutter  der  Menschheit 
geworden. 

Jede  Rasse  —  besser  gesagt  Nation,  da  es  sich  um  Kultur- 
gemeinschaften und  nicht  um  zoologische  Gruppen  handelt  — 
ist,  wenn  sie  sich  überhaupt  als  schöpferisch  bewährt,  spezifisch 
begabt.  Der  Satz  des  bekannten  Anthropologen  Kollmann: 
,,Alle  europäischen  Rassen  sind,  soweit  wir  bisher  in  das  Ge- 
heimnis der  Rassennatur  eingedrungen  sind,  gleich  begabt  für 
jede  Aufgabe  der  Kultur"  widerspricht  allen  naturwissen- 
schaftlichen wie  historischen  Tatsachen  in  gleicher  Weise.  Ge- 
wiß, so  wie  jedes  normale  Kind  Lateinisch  und  Algebra  zu 
lernen  vermag,  so  kann  jedes  europäische  Volk  Wagnerdiri- 
genten,  Chemieprofessoren  und  Divisionskommandeure  hervor- 
bringen. Wo  aber  gibt  es  ein  Volk,  das  sich  erdreisten  kann 
zu  sagen,  es  vermöge  eine  italienische  Renaissance  herbei- 
zuführen? Es  könne  Hellenentum  aus  sich  gebären?  Es  könne 
die  Reihe  jener  Komponisten  nachzeugen,  die  den  Messias  und 
die  H-Moll-Messe,  die  IX.  und  die  Meistersinger  schufen?  Es 
könne  die  Pilgerschar  der  Propheten  und  Apostel  von  Arnos 
und  Hosea  über  Jesaja  und  Jeremia  bis  zu  Christus,  Petrus, 
Paulus  und  Johannes  unter  die  Menschheit  senden?  Nein! 
Gleichviel,  ob  die  spezifische  Rassenbegabung  primär  und 
immanent  ist,  wie  es  die  Rassentheoretiker  behaupten,  oder  Ef- 
ziehungsprodukt  und  Variante,  wie  es  die  Milieutheoretiker 
lehren,  die  Tatsache  besteht,  daß  sie  ist,  und  daß  sie  den 
schöpferisch  begabten  Nationen  wie  Sternbildern  ihre  feste 
Stellung  im  Gradnetz  des  geschichtlichen  Himmels  anweist. 
Die  hellenische  Kunst,  die  italienische  Malerei,  die  deutsche 
Musik,  der  j  üdische  Prophetismus  —  einmalig  und  einzigartig  sind 
sie,  nie  vordem  gewesen,  niemals  wiederkehrend,  für  alle  Völker, 
alle  Zeiten  unnachahmlich,  denn  sie  sind  Manifestationen  des  ab- 
solut Einmaligen  und  Einzigartigen — der  genialen  Individuahtät. 

Menschen."  Auch  den  Selbstmord,  den  er  als  blutjunger  Student  beging, 
verhängte  er  über  sich  selbst  als  ethischer  Richter  über  den  ethischen 
Verbrecher.  „Alles,  was  ich  geschrieben  habe,"  hinterläßt  er,  „ist  mit 
bösem  Willen  geschrieben.  Ich  töte  mich,  um  keinen  anderen  zu  töten. 
Nur  ein  gemeiner  Verbrecher  wartet  auf  den  Henker,  ein  ethischer  Ver- 
brecher richtet  sich  selbst." 

14    Kahn,  Die  Juden.  20^ 


Schöpferische  Völker  sind  wie  schöpferische 
Menschen  Individualitäten.  Die  Fabrikware  der  Natur 
mag  unter  Völkern  wie  unter  Individuen  sich  ähneln  wie  die 
Schafe  einer  Herde;  die  Namen  der  Negerstämme  Ostafrikas 
sagen  uns  so  wenig  wie  die  Emmas  und  Ellas,  die  uns  das 
Frühstück  servieren.  Aber  die  Worte  Hellas  und  Rom,  Babel 
und  Judäa,  Granada  und  Florenz,  Paris,  Nürnberg  und  Weimar 
erwecken  in  uns  die  gleichen  spezifischen  Empfindungen  wie 
die  Namen  Homer  und  Dante,  Shakespeare  und  Cervantes  —  sie 
sind  unverrückbar,  unersetzlich,  inkommensurabel.  Man  kann 
sie  nicht  gegeneinander  wägen  wie  die  Kohlköpfe  auf  dem 
Wochenmarkt.  Goethe  ist  nicht  Schiller,  und  Kant  nicht  größer 
als  Plato,  denn  jeder  ist  eine  Individualität,  nicht  größer  und 
nicht  kleiner  —  anders.  Römer  sind  keine  Griechen,  und  die  flan- 
drischen Maler  kein  Ersatz  für  die  Nürnberger  Meister.  Die  Römer 
haben  der  Welt  nichts  von  dem  gegeben,  womit  Hellas  sie  be- 
glückte. Keine  Kunst,  keine  Dichtung,  keine  Philosophie,  keine 
Wissenschaft.  Waren  sie  darum  minderwertig  ?  Sie  waren  anders. 
Die  Juden  wiederum  haben  weder  "griechische  Kunst  noch  eine 
römische  Kriegsgeschichte  aufzuweisen.  Sind  sie  darum  geringer? 
Ihrer  sind  die  mosaischen  Gebote,  sind  die  Propheten,  die 
Psalmen  und  die  Evangelien  —  vergebens  sucht  man  ihres- 
f-leichen  unter  den  Völkern  der  Antike  und  der  Moderne  — 
andersartig  als  die  andern,  sind  sie  einzig,  unvergleichlich  — 
Individualität. 

In  dem  Individualcharakter  der  Nation  Hegt  die  Bedingung 
ihrer  Beschränktheit.  Um  etwas  zu  sein,  darf  man  nicht  alles 
«ein.  Nur  Menschen  und  Völker,  die  nichts  sind,  können  alles. 
Der  Jude  ist  Ethiker  —  ist's  nicht  genug?  War  Kant,  nach 
Ghamberlains  Urteil  der  größte  aller  Deutschen,  mehr?  Den 
Juden  vorzuwerfen,  sie  seien  rassenminderwertig,  weil  sie  keine 
Künste  getrieben,  ist  ebenso  töricht,  als  wollte  man  Kants 
,, Kritik  der  Urteilskraft"  zum  Vorwurf  machen,  daß  sie  keine 
Bilder  besitzt.  Verlangt  man  von  einem  Pfarrer,  daß  er  Arien 
singt,  und  von  einem  Philosophen,  daß  er  Tango  tanze? 

Der  Arier,  „zum  Sehen  geboren,  zum  Schauen  bestellt",  blickt 
lim  sich,  wirkt  sich  aus  und  schafft.  Er  wird  zum  Künstler, 
Forscher  und  Eroberer.  Der  Jude,  in  sich  gekehrt,  versenkt 
sich,  sieht  die  Gesichte  der  inneren  Welt  und  verkündet  sie  als 
Vision  und  Erleuchtung;  er  wird  zum  Heiligen  und  Propheten. 
Der  Höhepunkt  des  religiösen  Erlebnisses,  wenn  man  den  Aus- 
druck Rehgion  überhaupt  auf  das  Hellenentum  anwenden  darf^ 

210 


ist  für  den  Griechen  das  Eleusinische  Fest:  trunkenen  Aue  s, 
Blumen  im  Haar,  umtanzt  er  mit  der  Mänade  das  dionysische 
Bild  —  Evoe  Bacche !  Der  Jude  steht,  in  sein  hären  Sterbegewand 
gehüllt,  als  fastender  Beter  und  fleht  zerknirschten  Herzens 
von  seinem  Gott  irdischer  Sünden  heihge  Entsühnung  —  Tag 
der  Versöhnung  heißt  sein  höchstes  Fest.  Der  Grieche  ist  Artist 
und  als  solcher  populär.  Wer  kennt  nicht  die  Venus  von  Milo  ? 
Der  Jude  ist  Metaphysiker.  Wer  liest  die  „Kritik  der  reinen 
Vernunft"?  Zwischen  den  Statuen  der  griechischen  Kunst 
spaziert  das  Publikum  herum  wie  in  unseren  Museen :  Ach,  wie 
herrlich!  Liegt  doch  alles  auch  so  klar  vor  Augen  und  erfordert 
weder  Mühe  noch  Verständnis,  um  für  schön  befunden  zu  werden. 
Jeder  Backfisch,  der  die  Selekta  besucht,  kann  vor  dem  Apoll 
von  Belvedere  in  Verzückung  geraten.  Dann  aber  öffnet  der 
Cicerone  der  Kultur  die  Tür  zur  BiM'  -thek  des  Judentums  und 
sagt:  Seht,  welch  nüchterner  Stall!  Aber  ist  ein  Buch  ein  ge- 
ringerer Besitz  als  eine  Büste? 

Ästhetisierende  Völker,  wie  die  europäischen,  haben  leicht 
vielseitig  zu  sein.  Ethische,  wie  die  Asiaten,  vermögen  es  nicht. 
Ethik  denkt  man  nicht,  man  schafft  sie  nicht  wie  ein  Kunstwerk, 
das  man  heute  anfängt  und  morgen  endet,  man  führt  sie  nicht 
wie  einen  Feldzug,  den  man  nach  49  Tagen  siegreich  abschließt 
—  „ein  neues  Ruhmesblatt  in  der  Geschichte"  —  Ethik  muß 
man  leben.  Gestalten  wie  Jesaja  und  Ezechiel,  Hiob  und  Jona, 
Paulus  und  Petrus  fallen  nicht  aus  einem  Volke  wie  die  Treffer 
einer  Lotterie  aus  100000  Nieten.  Ein  Volk  muß  seine  Männer 
leben,  vorleben  muß  es  sie.  Große  Männer  sind  die  Meilensteine 
am  Wege  einer  Nation.  An  den  Säulen  der  deutschen  Dramatik 
von  Hans  Sachs  über  Lessing,  Schiller,  Goethe  zu  Hebbel  und 
Ibsen  kann  man  den  Entvicklungsgang  der  gesamten  mittel- 
europäischen Kultur  ablesen.  Wie  primitiv  ist  der  Nürnberger 
Schwankpoet!  Welch  eine  Geschichte  mi  .?>  ein  Volk  durchlebt 
und  durchlaufen  haben,  ehe  ein  Olympier  wie  Goethe  über  ihm 
vom  Götterthron  der  Schönheit  niederspricht !  Wieviel  tragische 
Probleme  und  Konflikte  müssen  die  Seele  einer  Zeit  zerreißen, 
der  ein  Ibsen  in  Gesellschaftsdramen  den  Spiegel  ihres  Wesens 
vorhält!  Einem  Moses,  einem  Christus,  einem  Marx  müssen  Ge- 
nerationen von  Gottsuchern  und  Erlösernaturen  vorangegangen 
sein.  Selbst  wenn  der  ungeheuerliche  Satz  Renans:  „Die  jüdische 
Rasse  zeigt  fast  nichts  als  negative  Eigenschaften;  sie  besitzt 
keine  Mythologie,  kein  Epos,  keine  Wissenschaft,  keine  Philo- 
sophie, keine  Erfindung,  kein  bürgerliches  Leben"  —  Wahrheit 

u*  211 


wäre,  würde  er  noch  nicht  das  Geringste  über  den  Rassen-  und 
Kulturwert  der  Juden  aussagen.  Als  ob  ein  Volk,  das  die  Bibel 
besitzt,  noch  eine  „Mythologie"  vonnöten  hätte!  Als  ob  das 
Volk  der  Psalmen,  der  Prophetenreden  und  der  Evangelien 
noch  ein  homerisches  Epos  schreiben  oder  eine  Singernähma- 
schine zu  erfinden  nötig  hätte,  um  seinen  Rassenwert  zu  er- 
weisen! Wenn  eine  tausendjährige  Pflege  der  Wissenschaft  und 
Künste  in  den  Köpfen  der  ersten  Geschichtsphilosophen  Europas 
keine  reiferen  Gedanken  gebar,  dann  ist  der  gesunde  Instinkt 
jener  Völker  zu  loben,  die  die  Betätigung  geringer  schätzten 
als  die  Betrachtung  und  die  Aktivität  opferten,  um  sich  ganz 
der   Kontemplation  hinzugeben. 

Renans  verschrobenes  Urteil  über  die  Juden  ist  nicht  die 
Marotte  eines  Sonderlings  —  es  ist  das  Urteil  der  Zeit.  Einer  Zeit, 
die  den  gesunden  Maßstab  für  Kulturbewertung  verloren  hat, 
weil  sie  in  einem  Moderausch  befangen  ist:  Hellenismus.  Die 
Geisteskultur  der  europäischen  Moderne  steht  unter  der  Diktatur 
der  hellenischen  Klassik.  Die  Titanen  von  Weimar,  in  deren 
Schatten  das  Jahrhundert  lebte,  waren  Hellenisten.  Begreiflich. 
Sie  waren  die  Stürmer  und  Dränger  einer  neuen  Kultur,  die 
Jünglinge  der  Neuzeit,  und  nichts  ist  so  geeignet,  das  emp- 
fängliche Herz  schönheitsdurstiger  Jugend  zu  füllen  und 
zu  stillen  wie  die  ästhetische  Kultur  der  Griechen.  Daher 
werden  junge  Epochen  stets  das  Land  der  Griechen  mit  der 
Seele  suchen.  Daher  die  große  Bedeutung  des  Klassizismus  für 
die  Erziehung.  Aber  der  reifende  Mann  wächst  über  den  Ästhe- 
tizismus  des  Jünglings  hinaus.  Man  verfolge  nur  den  Gang  der 
Kunstgeschichte  in  der  Renaissance;  man  folge  Goethe  vom 
Homer  lesenden  Werther  über  die  Iphigenie  und  die  Römischen 
Elegien  zu  Wilhelm  Meister  und  dem  Divan;  oder  Nietzsche  von 
der  Geburt  der  Tragödie  bis  zu  Zarathustra.  Der  Mann  steht 
nicht  mehr  wie  der  Schüler  vor  dem  Parthenon-Fries  als  der 
höchsten  Offenbarung  der  Weltseele;  ihm  ist  es  zu  Bewußtsein 
gekommen,  daß  es  noch  andere  Probleme  auf  Erden  gibt  als 
den  „Laokoon".  Das  20.  Jahrhundert  mit  seinen  weltbewegenden 
Revolutionierungen  wird  über  die  so  wichtig  genommene  Hel- 
lenenschwärmerei des  19.  Jahrhunderts  lächeln  wie  ein  Mann 
über  eine  Sekundanerliebe. 

Mit  dem  hellenischen  Ideal  wird  die  Jugend  trunken  gemacht 
wie  mit  einem  schweren  Bier,  und  mit  diesem  für  die  meisten 
Menschen  einzigen  Kulturrausch  taumelt  sie  durch  das  Leben. 
Selbst  Leute,  die  sich  berufen  fühlen,  eine  Kulturgeschichte  der 

212 


Menschheit  zu  schreiben,  sind  noch  im  Alter,  wenn  sie  Nobel- 
preise tragen,  umnebelt  vom  Primanerrausch.  Dafür  zeugt  die 
„Allgemeine  Kulturgeschichte"  Richets,  die  als  einzige  wert 
befunden  wurde,  während  des  Krieges  aus  dem  Französischen 
ins  Deutsche  übersetzt  zu  werden,  durch  das  aller  histo- 
rischen Wahrheit  hohnsprechende  Urteil  über  die  Griechen: 
„Hellas  ist  der  Lehrmeister  der  Menschheit  gewesen,  es  ist  in- 
mitten einer  noch  halbwilden  Völkerwelt  erstanden,  die  es  dann 
vollkommen  umgewandelt  hat.  Es  hat  das  Ideal  an  uns  weiter- 
gegeben, das  es  selbst  bei  sich  auszudenken  gewußt  hat  und  das 
allmählich  auch  das  unsere  geworden  ist.  Es  hat  die  mensch- 
Uche  Vernunft  auf  den  Thron  erhoben;  es  hat  die  Liebe  zum 
Vaterland  gelehrt;  es  hat  die  Wissenschaft,  die  die  Wahrheit, 
die  Kunst,  die  die  Schönheit,  und  die  Sittlichkeit,  die  die  Pflicht 
ist,  geschaffen.  Mit  dem  griechischen  Denken  hat  das  bar- 
barische Zeitalter  der  Menschheit  sein  Ende  erreicht."  In  Wahr- 
heit ist  Griechenland  so  wenig  wie  Judäa  „inmitten  einer  noch 
halbwilden  Völkerwelt  entstanden",  sondern  ein  neuer  Zweig 
am  großen  Stamm  des  babylonischen  Kulturbaums.  Babel  ist  die 
große  Urmutter  der  Antike ;  sie  ist  die  Tihamat,  die  die  Götter- 
söhne gebiert  —  selbst  noch  keine  Göttin!  Babylonien  ist  als 
Urstaat  primitiv,  universell,  undifferenziert.  Es  ist  der  Stamm, 
der  noch  keine  Blüten  und  Früchte  trägt;  aber  ihm  entsprießen 
die  Äste,  und  er  nährt  sie  alle.  Persien  und  Hellas,  Rom, 
Judäa  und  Karthago  sind  die  Zweige,  in  denen  die  Universal- 
zivilisation des  Urstammes  Babylon  sich  zu  den  Individual- 
kulturen  der  Einzelnationen  entfaltet.  Baumund  Blüte!  Die  grie- 
chische Kultur  ist  weder  autochthon  noch  hat  sie  sich,  wie  es 
Schulen  und  Geschichten  lehren,  von  Athen  und  Sparta  aus- 
gebreitet, sondern  —  ex  Oriente  lux!  —  in  einer  Welle  von 
Asien  über  die  Ägeis  nach  Europa  ergossen.  Die  ersten  grie- 
chischen Kulturstätten,  wie  Ithaka  und  Mykene,  sind  keine 
Wunderblumen  mitten  im  europäischen  Urwald,  sondern  Küsten- 
metastasen orientalischer  Kultur  am  Rande  der  europäischen 
Wildnis,  von  den  Segeln  semitischer  Fahrer  an  die  Gestade 
Europas  getragen.  Nicht  als  ein  Rätsel  unvermittelter  und  daher 
unbegreiflicher  Schöpfung  wie  die  Schaumgeburt  Aphroditens, 
sondern  als  Frucht  der  Vermählung  orientalischer  Reife  mit  der 
Jugendfrische  arischer  Schöpferkraft  ist  die  griechische  Schön- 
heit geboren.  Paris  und  Helena!  Im  Gedächtnis  der  Griechen, 
dieser  wie  Nietzsche  sie  nennt,  „besten  Erben  und  Schüler  Asiens", 
war  diese  Erinnerung  an  Asien  lebendiger  als  in  den  Köpfen 

213 


der  heutigen  Gelehrten.  Über  die  Dardanellen  wird  Europa, 
Tochter  eines  phönizischen  Königs,  von  Zeus  entführt.  Der 
Tempel  der  Demeter  Megara  war  ein  semitisches  Heiligtum; 
Phoroneus,  dem  die  Argiver  die  Erfindung  des  Feuers  zu- 
schrieben, ein  asiatischer  Semit.  Kadmos,  der  Gründer  The- 
bens, ,,der  die  Schmiedekunst,  das  Ackergerät  und  die  Schrift 
nach  Griechenland  brachte",  ist  ein  Phönizier  (Kadmos  vom 
hebräischen  Kedem  =  Aufgang,  Osten,  Ostländer);  Kekrops, 
der  Gründer  Athens,  ist  ein  babylonischer  Cherub;  der  Gründer 
von  Argolis  ein  Sohn  des  semitischen  Bei;  aus  Phrygien  stammt 
das  Königsgeschlecht  der  Tantaliden,  aus  Kleinasien  bringen 
Lykurg  und  Selon  ihre  Gesetze,  in  denen  man  das  baby- 
lonische Vorbild  ebenso  unschwer  wie  im  mosaischen  erkennt^); 
nicht  in  Sparta  und  Athen,  in  Kleinasien  erlebte  das  Griechen- 
tum seine  erste  und  in  vieler  Hinsicht  schönste  Blüte;  Homer 
ist  ein  Asiate  und  kein  Europäer;  in  Kleinasien  lebten  seine 
Gesänge  Jahrhunderte  lang  im  Munde  der  Rhapsoden,  eh» 
Lykurg  sie  nach  Griechenland  brachte,  und  im  babylonischen 
Gilgamesch-Epos  ist  das  mindestens  tausend  Jahre  ältere  Vor- 
bild der  homerischen  Odyssee  gefunden  worden,  zu  dieser  etwa 
in  gleichem  Verhältnis  stehend  wie  die  babylonische  Schöpfungs- 
mythe  zur  biblischen.  Die  Welt  der  Odyssee  ist  in  ihrem  patri- 
archalischen Charakter  dem  Alten  Testament  mindestens  so 
nahe,  wie  sie  dem  Athen  des  Alcibiades  fern  liegt.  Das  asiatisch« 
lonien  und  nicht  das  europäische  Griechenland  ist  die  Heimat 
der  großen  Klassiker  der  Naturphilosophie  und  das  Land  der 
ersten  Künstler.  Die  beflügelte  Nike  ist  keine  griechische  Göttin 
sondern  ein  babylonischer  Cherub.  Apoll  von  Tenea  ist  ein 
Ägypter.  Und  als  die  Enkel  dieser  Griechen  mit  der  typischen 
Selbstüberschätzung  der  Überreifen  nach  Ägypten  kamen  und 
ruhmredig  auf  ihre  Statuen  und  Dramen  wiesen,  entgegneten 
ihnen  die  ägyptischen  Priester  weise  und  bewußt:  Unsere  Kinder 
seid  ihr!   Wer  nicht  Knaben  in  der  Tertia  unterrichtet  sondern 

*)  Die  Wandlungen,  die  die  Verfassungen,  Gesetze  und  Rechtsbegriffe 
iu  Hellas  und  Rom  im  Laufe  der  Jahrhunderte  erfuhren,  zeigen  deutlich 
die  alimähliche  Arisierung  im  Sinne  der  Entsozialisierung  und  Enthumani- 
sierung  der  ursprünglich  semitisch-sozialen  Grundsätze.  Es  würde  zu  den 
wichtigsten  und  gewiß  interessantesten  Aufklärungen  führen,  wenn  ein 
Berufener,  Orientalist  und  Hellenist  zugleich,  die  semitischen  Wurzeln 
der  klassischen  Frühkultur  und  die  allmähliche  Entsemitisierung  mit  all 
den  dadurch  bedingten  Fort-  und  Rückschritten  klarlegte.  Vgl.  Spengler: 
,,Ich  glaube,  daß  man  heute  noch  nicht  ahnt,  wieviel  vom  Corpus  Juris 
(dem  Werk,  nicht  dem  römischen  Rechtsbewußtsein)  vom  Nil  stammt." 

214 


eine  Kulturgeschichte  der  Menschheit  schreibt,  darf  nicht  über 
das  Scharmützel  bei  Marathon  in  Ekstase  geraten  und  seinen 
Lesern  das  Backfischideal  eines  Hellenen  vormalen,  der  niemals 
als  einzig  in  der  Phantasie  der  Nachwelt  lebte.  Er  muß  aus  dein 
Konvolut  der  geschichthchen  Episoden  den  Sinn  der  griechi- 
schen Geschiclite  herausschälen  und  als  die  große  welthistorische 
Mission,  die  die  Griechen  im  Dienst  der  Menschheit  erfüllten, 
die  entscheidende  Umbiegung  der  orientalisch- 
altsemitischen  Denkweise  in  die  europäisch-arische 
Weltanschauung  der  Moderne  erfassen  und  dar- 
stellen. Wie  die  Juden  Herz  und  Seele,  so  haben  die 
Griechen  Verstand  und  Sinne  aus  dem  Larvenschlafe  des 
Babylonismus  zu  beflügeltem  Dasein  erweckt.  Wie  jene  auf 
moralisch-religiösem  Gebiet,  haben  diese  auf  dem  wissenschaft- 
lich-künstlerischen den  babylonischen  Astrologismus  über- 
wunden und  den  befreiten  Geist  zu  autonomen  Schöpfungen 
entfesselt,  so  daß  wir  diesen  beiden  Völkern,  wie  Moleschott 
sagt,  „den  eigentlichen  Menschenadel  verdanken".  Judäa  finc: 
das  diffuse  Ur-Sonnenlicht  Babyloniens  mit  dem  Brennspiegol 
moralischer  Konzentration  auf  und  entzündete  damit  das  hei- 
lige Feuer  der  Religion  auf  den  Altären  der  Menschheit;  Grie- 
chenland zerlegte  es  mit  dem  Prisma  seines  Geistes  und  malte 
das  Regenbogenband  der  Künste  zu  ewig  leuchtender  Schön- 
heit an  den  Völkerhimmel  der  Geschichte. 

Welch  bedenkliche  Trübungen  selbst  des  moralischen  Emp- 
findens ,,das  kalte  Fieber  der  Gräkomanie"  (Schiller)  zu  zeitigen 
vermag,  beweist  ein  zweiter  Sprecher  der  europäschen  Kultur. 
Treitschke  hat  einmal  gesagt:  „Eine  Statue  von  Phidias  wiegt 
alles  Elend  der  Millionen  antiken  Sklaven  auf"  —  ein  Satz,  von 
dem  wir  mit  Genugtuung  feststellen,  daß  ihn  einer  der  größten 
Wortführer  des  modernen  Antisemitismus  ausgesprochen  hat. 
Ein  Satz,  vor  dessen  Gemütsroheit  sogar  das  Herz  des  begeisterten 
Kunstfreundes,  ja  des  Künstlers  selbst  und  gerade  des  Künstlers 
verletzt  zurückschreckt.  Ein  Raffael,  der  in  der  strahlenden 
Güte  seines  Wesens  wie  unter  einem  Heihgenschein  einherging, 
ein  Leonardo,  der  des  Morgens  die  Würmer  vom  Wege  las,  daß 
die  Spaziergänger  sie  nicht  zerträten  —  beleidigt  fliehen  ihre 
Manen  aus  dem  Bannkreis  derTreitschke'schen  Rede.  Wenn  das 
Elend  der  Massen  der  Preis  seiner  Werke  gewesen,  hätte  Michel- 
angelo, der  stets  bereite  Helfer  der  Bedrängten,  seine  Pietä  zer- 
schlagen und  die  Peterskuppel  in  Simson-Zorn  über  seinen 
Titanenschultern  zusammenbersten  lassen.  Treitschkes  Satz  ist 

215 


ebenso  unkünstlerisch  wie  unchristlich,und  wenn  ihn  einHistoriker 
2000  Jahre  nach  Christus  noch  empfindet,  ja  unter  dem  Beifall 
der  Menge  auszusprechen  wagt,  so  beweist  das  nur,  wie  fremd 
diesem  Apostel  der  ,,rein  christlichen  Kultur"  selbst  die  elemen- 
tarsten Begriffe  der  Ethik  Christi  geblieben  sind.  Gerade  um- 
gekehrt muß  das  wahre  Weltbekenntnis  lauten:  ,,Alle  Statuen 
A'on  Phidias  wiegen  das  Elend  der  Millionen  nicht  auf."  Nichts 
steht  höher  als  das  Glück  der  Menschheit,  wie  es  das  jüdische 
Volk  als  erstes  und  bisher  einziges  im  messianischen  Zukunfts- 
bild als  oberstes  Ziel  der  Geschichte  vorgezeichnet  hat:  das 
Zeitalter  der  persönlichen  Freiheit  und  der  sozialen  Gerechtig- 
keit, des  Völkerbundes  und  des  Weltfriedens,  ,,da  Jeder  unter 
seinem  Feigenbaume  wohnt,  da  die  Schwerter  umgeschmiedet 
werden  zu  Sicheln  und  die  Speere  zu  Rebmessern",  „da  kein  Volk 
sich  wider  das  andere  erhebt,  und  sie  nicht  fürder  lernen  den 
Krieg",  da  selbst  das  Tier,  nicht  mehr  mit  Feuerbüchse  und 
Hundemeute  zum  Sonntagsmorgenspaß  von  Müßiggängern  ge- 
hetzt, traulich  zu  Füßen  des  Weisen  kauert.  Dann  erst,  wenn 
durch  reine  Menschlichkeit  alle  menschlichen  Gebrechen  gesühnt 
sind,  wenn  nicht  mehr  ein  deutscher  Dichter  singen  muß 

Daß  ich  hoch  im  Lichte  gehe, 
Müssen  tausend  Füße  bluten, 
Tausend  küssen  ihre  Ruten, 
Tausend  fluchen  ihrem  Wehe  .  .  . 

dann  erst  thronen  der  olympische  Zeus  und  die  ludovisische  Hera 
auch  mit  moralischer  Berechtigung  in  den  Hallen  der  Schönheit, 
nicht  mehr  himmelentrückte  Idole  einzelner  gottbegnadeter 
Künstler,  die  ihrer  Mitwelt  um  Jahrtausende  vorausgeeilt,  nicht 
mehr  steinerner  Appell  an  das  steinerne  Gewissen  unheiliger  Zei- 
ten, sondern  als  die  marmorne  Ob jektivation  einer  auch  marmor- 
reinen moralischen  Gesittung  und  Gesinnung.  Dann  erst  wird 
der  Parthenon  mit  seinen  Göttergestalten,  wird  die  Sixtinische 
Kapelle  mit  ihren  Himmelsgemälden  mehr  sein  als  ein  Museum,  bei 
dessen  Eintritt  man  Welt  und  Gegenwart  vergißt,  vergessen  muß, 
um  sie  zu  genießen,  dann  erst  werden  sie  zu  wahren  offenen 
Tempelhallen  einer  ihrer  auch  moralisch  würdigen  Menschheit, 
Treitschke  ist  nur  ein  extremer  und  übermäßig  lauter  Ver- 
treter der  modernen  Weltanschauung,  in  der  die  schöpferischen 
ßrrungenschaften  maßlos  überschätzt  werden  auf  Kosten  der 
moralischen  Qualitäten^).  In  der  man  glaubt,  daß  es  die  Mensch- 

')  Selbst  Hans  Blüher,  ein  von  jüdischer  Weltanschauung  stark  be- 
fruditeter  Arier  vornehmer  Gesinnung,  entwürdigt  eine  sonst  feinsinnige 

216 


heit  herrlich  weit  gebracht,  weil  sie  sich  in  Kunstseide  kleidet, 
Mittagszeitungen  liest  und  im  Auto  zum  Derby  fährt.  In  der 
ein  Riebet  eine  Kulturgeschichte  zu  schreiben  glaubt,  wenn 
er  jedes  seiner  von  dem  unermeßlichen  Elend  der  Kriegsgeschichte 
erfüllten  Kapitel  mit  einem  Dithyrambus  auf  die  gleichzeitigen 
Erfolge  der  Wissenschaft  und  Technik  schließt,  so  wie  man 
einem  Kinde,  das  einen  Löffel  Rizinusöl  heruntergeschluckt 
hat,  hernach  ein  Chokoladenplätzchen  auf  die  Zunge  legt.  So- 
lange die  Staaten  nach  einem  Wort,  das  Thomas  Moore  vor  mehr 
als  400  Jahren  prägte,  „Verschwörungen  der  Reichen  gegen 
die  Armen"  sind,  solange  man,  wie  es  mit  der  Luftschiffahrt 
geschehen,  Erfindungen  nur  darum  ein  Interesse  entgegen- 
bringt, weil  man  in  ihnen  neue  Instrumente  zum  Mord  der 
Nebenvölker  oder  profitverheißende  Handelsware  sieht,  solange 
man  vor  demEntree  des  Theaters  im  Straßenschmutz  den  Zitter- 
krüppel hegen  sieht  —  ,,mit  Stolz  schaut  das  gesamte  Vaterland 
auf  seine  Heldensöhne,  denen  der  unauslöschliche  Dank  aller  gewiß 
ist"  —  solange  nicht  die  elementarsten  Sätze  der  Moral  und  des. 
Sozialempfmdens  zu  den  selbstverständlichen  Maximen  des 
öffentlichen  Lebens  erhoben  sind,  so  lange  darf  die  Menschheit 
nicht  stolz  auf  ihre  technischen  Leistungen  sein;  im  Gegen- 
teil, sie  muß  in  Scham  versinken,  daß  sie,  die  mit  ihres  Geiste» 
Flügeln  zu  den  Sternen  auffliegt,  mit  den  lahmen  Schwingen 
ihrer  Moral  noch  nicht  einmal  die  Sinaihöhe  erklommen  hat, 
von  der  vor  drei  Jahrtausenden  Moses  als  ersten  und  hehrsten 
Grundsatz  der  Kultur  die  beiden  ewigen  Worte  niederrief:  ,,Lau 
tirzach!  Du  sollst  nicht  töten!"  Die  Kruppschen  Werke  sind 
mit  ihren  Riesenmagneten  und  Elektroturbinen  ein  imposantes 
Denkmal  der  Zivilisation.  Aber  der  Satz  Moses'  „Du  sollst 
deinen  Nächsten  lieben  wie  dich  selbst !"  ist  mehr.  Er  ist  K  u  1 1  u  r. 
Der  wahre  Kulturschatz  eines  Volkes  sind  nicht  seine  Realien, 
sondern  seine  Imponderabilien.  So  wie  man  Bildung  als  dasjenige 

und  moralisch  hochwertige  Revolutionsrede  durch  die  Blasphemie:  „Es 
gibt  nichts  Gleichgültigeres  als  das  Glück  der  Menschheit  im  humanitären 
Sinne:  es  kommt  einzig  und  allein  auf  das  schöpferische  Glück  ihrer 
besten  Exemplare  an"  —  ein  Satz,  der  dem  Antisemiten  Lagarde  nach- 
oder  gleich  empfunden  ist,  der,  ganz  Gesinnungs-  und  Gefühlsgenosse  von 
Treitschke,  einmal  gesagt  hat:  „Mit  der  Humanität  müssen  wir  brechen, 
denn  nicht  das  allen  Menschen  Gemeinsame  ist  unsere  eigenste  Pflicht, 
sondern  das  uns  Eignende  ist  es.  Die  Humanität  ist  unsere  Schuld,  die 
Individualität  unsere  Aufgabe."  Als  ob  Humanität  und  Individualität 
Gegensätze  wären,  die  sich  ausschließen!  Nein,  Humanität  und  Indi- 
Tidualitatl 

217 


definiert  hat,  was  einem  Menschen  übrig  bleibt,  wenn  er  alles 
vergißt,  was  er  gelernt  hat,  so  kann  man  Kultur  als  dasjenige 
bezeichnen,  das  einem  Volke  übrig  bleibt,  wenn  es  alles  verliert, 
w-as  es  besessen.  Gegen  eine  Statue  braucht  nur  der  Speer  eines 
Barbaren  anzuklirren,  und  sie  sinkt  in  Staub ;  aber  der  Geist,  der 
sie  geboren,  ist  unzerstörbar,  und  das  Gefühl,  das  sie  in  den 
Herzen  ihrer  Bewunderer  erweckte,  lebt  unvergänglich  wirkend 
weiter.  An  Gefühlswerten  war  die  griechische  Kultur  trotz  ihres 
Reichtums  an  realen  Schöpfungen  arm.  Hierin  liegt  die  Ursache 
ihres  raschen  Verfalls.  „Wir  waren  schön,"  läßt  Jakob  Burck- 
hardt  die  Olympier  sagen,  „aber  wir  waren  nicht  gut  —  und 
darum  mußten  wir  untergehen."  Völker,  die  ihren  Kindern 
keine  Seelenwerte  ins  Exil  zu  geben  haben,  können  Katastrophen 
nicht  überdauern.  Niemals  wären  die  Juden  der  Knechtschaft 
Ägyptens  entronnen,  wenn  nicht  ihr  „Gott"  sie  herausgeführt 
hätte.  Niemals  wären  sie  aus  der  babylonischen  Gefangenschaft 
heimgekehrt,  hätte  nicht  ,, Jerusalem"  in  ihren  Herzen  weiter- 
gelebt und  durch  die  Nacht  des  Exils  wie  ein  „Star  of  hope" 
geleuchtet:  ,,Eh'  soll  uns  die  Hand  verdorren,  eh'  wir  dein  ver- 
gäßen, Jerusalem !  Eh'  soll  uns  die  Zung'  am  Gaumen  kleben, 
eh  wir  deiner  nicht  mehr  sprächen,  Zion!"  Selbst  das  länder- 
fressende Rom  konnte  ,,den  Wurm  Jakob"  nicht  vertilgen.  Es 
konnte  ihn  verschlingen,  aber  wie  Jona  lebte  er  im  Bauch  des 
Ungetüms  weiter,  ja,  er  schwoll  an  in  ihm,  jenem  merkwürdigen 
Pilze  ähnlich,  der  aus  den  Eingeweiden  der  Fliege  durch  die  Poren 
ihres  Leibes  herauswächst.  Schon  wenige  Jahrzehnte  nach  der 
Zerstörung  Jerusalems  klagt  Tacitus  angesichts  der  Ausbreitung 
des  Juden-Christentums,  ,,daß  die  Besiegten  die  Sieger  besiegen". 
Und  warum  ?  Weil  der  Geist  —  dies  ist  sein  einziger  Trost  auf  dieser 
Erde,  die  ihn  haßt  —  unangreifbar  ist.  Was  da  droben  rauchte, 
waren  Fetzen  tyrischen  Purpurs;  was  da  krachend  stürzte, 
Balken  aus  den  Zedern  Libanons;  die  Tempelgefäße  konnten 
die  Knechte  des  Titus  auf  ihre  Quadrigen  häufen,  aber  den  Gott, 
den  dieses  Volk  in  seinem  Busen  trug,  konnten  sie  ihm  nicht  aus 
seinem  Herzen  reißen:  stolz  und  aufrecht,  durch  nichts  Wesen- 
haftes verarmt,  schritten  die  Besiegten  zwischen  den  hoch- 
beladenen  Beutewagen  ihrer  Feinde  durch  die  verbrannten 
Tore,  so  wie  einst  Blas  unbeschwert  zwischen  den  bepackten 
Bürgern  seiner  brennenden  Vaterstadt  dahinging:  Omnia  raea 
mecum  porto! 

Der  Mangel  an  Imponderabilien  ist  die  Ursache  des  Bankrotts 
der  Antike.    Als  die  große  Kulturkatastrophe  hereinbrach,  da 

218 


fror  es  die  heidnische  Seele  auf  den  Trümmern  des  zusammen- 
gestürzten Hauses.  Sie  suchte  in  den  Aschenresten,  und  was 
fand  sie?  Einen  Marmorlcopf,  einen  Dialog  des  Plato  und  eia 
Fragment  des  Corpus  civile  —  keine  Remedien,  eine  gebrochene 
Seele  aufzurichten.  Da  hörte  sie  in  der  Ferne  Pilger  Psalmea 
singen  und  horchte  auf;  und  sie  schlich  hin  und  stimmte  ein  ins 
große  Hallelujah! 

Alle  Bestrebungen,  die  auf  Schaffung  und  Besitz  von  Realien 
ausgehen,  dienen  nicht  der  wahren  Kultur;  Völker,  deren  höch- 
stes Ziel  Realien  sind:  Herrschaft,  Macht,  Besitz,  Finanzen, 
Heere,  Kauffahrteien,  Kolonien,  verdienen  nicht  den  Ehrentitel 
der  Kulturnation.  In  China  schenkte  der  Kaiser  seinen  sieg- 
reichen Feldherren  nicht  Provinzen  sondern  einen  berühmten 
Teppich  oder  eine  alte  Handschrift.  In  einem  japanischen 
Nationaldrama  schlitzt  sich  der  Held  in  einem  brennenden 
Hause  den  Bauch  auf,  um  in  seinen  feuchten  Eingeweiden  ein 
Bild  vor  der  Flammenglut  zu  schützen.  In  Indien  verzichtet  der 
Königssohn  Buddha  auf  die  Landeskrone,  um  in  den  Wäldern 
über  das  Leiden  der  Menschheit  und  seine  Überwindung  nach- 
zusinnen. In  Israel  stob  das  Volk  mitten  im  königlichen  Fest  aus- 
einander, als  der  Hirte  vonTekoa  seine  Prophetenstimme  erhob. 
In  Griechenland  war  es  höchste  nationale  Ehre,  den  olympischen 
Kranz  zu  besitzen  —  ein  Ülbaumzweig  galt  mehr  als  eine  Königs- 
krone. Aber  in  Rom  war  es  der  Traum  der  Jugend,  „Karriere" 
zu  machen  und  Präfekt  einer  reichen  Provinz  zu  werden,  um 
sie  nacli  allen   Regeln  römischer  Erpresserkunst  auszusaugen. 

Babylon  und  Rom  sind  die  Repräsentanten  des  Machtstaates, 
der  die  Zivilisation  erhebt,  aber  die  Kultur  erdrosselt;  in  dem 
Organisation,  Kolonisation,  Mihtarismus  und  Merkantilismus 
ihre  Förderung  finden,  Städte,  Straßen,  Aquädukte,  Kolosseen, 
Siegesalleen  und  Marmorbäder  gebaut  werden,  aber  die  Kultur 
im  Staatsbetrieb  erstickt.  Im  Gegensatz  zur  Zivilisation  ist 
Kultur  —  in  höchstem  Sinn  verstanden  —  unpraktisch,  zweck- 
los, ziel-  und  zeitlos.  Sie  hat  keinen  Marktwert  und  kein  Staats- 
interesse. Was  hat  ein  Mann,  der  Theaterfiguren  im  Kopfe  hat 
oder  dem  Monde  nachhängt,  im  römischen  Senat  zu  suchen? 
Was  soll  ein  Hamburger  Bankhaus  mit  einem  Kommis  beginnen, 
der  den  Rand  seines  Kontobuches  mit  Gedichten  beschmiert: 
„Du  bist  wie  ein  Blume  .  .  ."  Für  die  Zivihsation  ist  der  große 
Mensch,  wie  schon  die  Chinesen  erkannten,  geradezu  „ein  öffent- 
liches Unglück".  Zivilisation  ist  die  Verwirklichung  des  Mög- 
lichen,  die   Realisation  des   Nützlichen,   die  Durchführung  des 

219 


Notwendigen.  Zivilisation  ist  die  Ausi\utlfüng  des  Augenblicks 
ohne  Rücksicht  auf  die  Ewigkeit,  Kultur  hingegen  die  Indi- 
viduation  des  Ewigen  ohne  Rücksicht  auf  den  Augenblick. 
Kultur  ist  das  Anti-Ephemere,  ist  das,  was  im  Gegensatz  zur 
„Forderung  des  Tages",  zum  Mechanistischen  der  logischen  Ent- 
wicklung, das  kommen  mußte,  nicht  kommen  muß,  unbedingt 
ist,  supramechanistisch,  durch  keine  Logik  zu  erklären,  keine 
Notwendigkeit  zitiert,  sondern  als  Eigenerscheinung  auftaucht, 
plötzlich  da  ist  wie  der  Blitz  am  Himmel  —  wozu?  aufblüht 
und  auffliegt  wie  Schmetterling  und  Rose  an  einem  Früh- 
lingstag —  wofür  ?  In  Rom  mußte  ein  Anlaß  da  sein,  wenn  etwas 
geschah;  als  Titus  Jerusalem  unterworfen  hatte,  stellte  man 
eine  Säule  auf ;  ein  Kolosseum  wurde  gebaut,  weil  das  Volk  nach 
oircenses  schrie;  die  Prachtbäder  von  Bajä  wurden  Tyrannen  zur 
Lust  errichtet.  Für  einen  praxi teleischen  Hermes,  eine  „Elektra", 
ein  „Gastmahl",  an  dem  die  Weisen  über  den  Eros  diskutieren, 
war  in  Rom  kein  Anlaß.  Sein  einziges  Epos  ist  dem  Herrscher- 
haus zur  Ahnenchronik  geschrieben,  und  die  Zehnpfennigweisheit 
der  Horazischen  Oden  beginnt  mit  der  servilen  Tirade :  Maecenas 
atavis  edite  regibus  —  nicht  einen  einzigen  Genius,  der  ein 
Werk  um  seiner  selber  willen  schuf,  hat  dieses  Weltreich  in 
seiner  tausendjährigen  Geschichte  geboren.  Unter  der  Riesen- 
fülle seiner  Hinterlassenschaften  finden  oder  vermissen  wir  eben- 
sowenig einen  Namen  für  die  Dankaltäre  unserer  Verehrung  wie 
in  Babylon,  Was  Babylon  und  Rom  der  Welt  gegeben,  sind 
nicht  Schöpfungen,  sondern  Errungenschaften.  Kalender  und 
Alphabet,  Geometrie  und  Majolikafiguren  sind  unausbleibliche 
Requisiten  jeder  Zivilisation;  sie  müssen  kommen,  so  wie  heute 
Fernseher  und  Taschentelephone  unvermeidliche  Erfindungen 
der  kommenden  Jahrzehnte  sind.  Aber  Genesis  und  Psalmen, 
Hiob  und  Hohes  Lied,  Bergpredigt  und  Apokalypse  sind  ein- 
zigartig ;  die  Dias  und  die  Antigene  sind  so  wenig  bedingt  und 
so  unwiderruflich  wie  Menschen,  die  lebten  und  gestorben  sind ; 
die  Gioconda  und  der  Colleoni  sind  durch  keine  Logik  als  not- 
wendig, nützlich  oder  richtig  zu  konstruieren ;  die  Missa  solemnis 
und  derParsifal,Tasso  und  Zarathustra  sind  ohne  Vorbild  und  ohne 
Möghchkeit  der  Wiederkehr.  Die  gepflasterte  Straße  von  Assur 
ist  eine  Bewunderung  erweckende  Anlage;  jedoch  wir  könnten 
ihresgleichen  an  zehn  verschiedenen  Orten  der  Erde  wiederfinden. 
Würde  37  mal  auf  Erden  sich  die  Weltgeschichte  wiederholen, 
würde  es  37  mal  gepflasterte  Straßen,  astronomische  Tabellen 
und  juristische  Edikte  geben;  aber  die  Odyssee  und  die  Neunte 

220 


würden  niemals  wiederkehren.  Sie  sind  Kultur;  Kultur  ist  das 
Einzigartige. 

Zivilisation  ist  zentrifugal  gerichtet  und  strebt  nach  Expan- 
sion; Kultur  ist  entgegengesetzt  zentripetale  Intensivierung. 
Jene  breitet  sich  aus  zur  Fläche,  diese  verdichtet  sich  zum  Punkt. 
Athen,  Jerusalem,  Venedig,  Weimar  stehen  auf  der  Landkarte  der 
Kultur  wie  Blumen  auf  einer  Wiese;  die  Provinzen  der  baby- 
lonischen und  römischen  Weltherrschaft  muten  uns  an  wie  die 
Felder  eines  Gemüsegartens.  Die  eine  Bannmeile  von  Athen 
umschloß  mehr  Kulturwerte  als  die  87  Provinzen  des  Römischen 
Reiches.  Golgatha  war  der  Schauplatz  einer  Stunde;  aber  diese 
eine  Stunde  hat  mehr  Glaube,  Liebe,  Hoffnung  aus  Menschen- 
brust gelockt  als  ein  Jahrtausend  babylonischer  Großmacht; 
die  vier  Lettern  Zion  lösen  in  den  Herzen  der  Menschheit  höhere 
Empfindungen  aus  als  vier  Jahrhunderte  römischer  Geschichte. 

Die  Macht,  dem  Augenblicke  abgehandelt,  ist  dem  Augen- 
blick verfallen ;  die  Kultur,  dem  Ewigen  enthoben,  ist  der  Ewig- 
keit anheimgegeben.  Die  Weltherrschaften  Sardanapals  und 
Timurs  sind  zerstoben  und  wären  der  Menge  nicht  einmal  mehr 
mit  Namen  bekannt,  gäben  sie  nicht  unseren  Dichtern  Stoffe 
für  Oper  und  Lustspiel.  Herodes  ,,der  Große"  trägt  eine  Krone 
aus  Pappe  und  singt  Arien,  und  Salome  tanzt  auf  den  Brettern 
zur  Belustigung  des  Parterres ;  aber  wenn  die  Worte  des  jüdischen 
Tischlersohns  aus  Bethlehem  gesprochen  werden,  sinken  Fürsten 
und  Monarchen  in  den  Kirchen  auf  die  Knie.  Athen  ist  ein 
Trümmerhaufen  und  das  Forum  romanum  eine  Ruinenstätte, 
aber  der  Torso  der  Venus  von  Milo  thront  als  schönstes  Kunst- 
werk der  Welt  über  Völkern  und  Zeiten.  Die  Flotten  Venedigs 
sind  untergegangen,  seine  Feste  verrauscht,  seine  Dogen  ver- 
modert,aber  die  Meisterbilder  Tizians  leuchten  in  unvergänglicher 
Schönheit  von  den  Wänden  der  leeren  Paläste  am  Markusplatz. 
Spanien  —  was  ist  uns  Spanien?  Einst  ging  die  Sonne  nicht 
unter  in  den  Grenzen  seiner  Macht.  Wenn  wir  heute  —  noch  kein 
halb  Jahrtausend  später  —  das  Wort  Spanien  hören,  denken  wir 
an  Traubenkisten  und  die  spanische  Grippe.  Die  Macht  ist  nichts, 
der  Geist  ist  alles.  Die  Juden  haben  niemals  eine  Macht  besessen, 
sie  besitzen  heute  keine  und  wollen  in  alle  Ewigkeit  keine  soge- 
nannte Macht  besitzen.  Wenn  wir  bei  Chamberlain  und  seinen 
Gesinnungsgenossen  lesen,  daß  die  Juden  nach  der  Weltmacht 
streben  — ,, dieser  eine  hat  jedes  Opfer,  jede  Schmach  auf  sich  ge- 
nommen, um  nur  einmal,  gleichviel  wann,  das  messianische  Welt- 
reich der  Alleinherrschaft,  Jahwe  zu  ewigem  Ruhm,  anzutreten" 

221 


—  so  lächeln  wir.  Diese  Menschen  sehen  im  Delirium  graue  Mäuse, 
und  die  Chimären  ihres  Wahns  halten  sie  für  die  Drohgestal- 
ten  ihrer  Gegner.  Wir  Kinder  dieser  Zeit  haben  ja  erlebt,  wie 
die  Macht  sich  aufbläht  wie  eine  Seifenblase,  schillert  vor  aller 
Welt  —  und  zerstiebt  zu  nichts.  Wir  wehren  uns  gegen  die 
Macht;  wir  fürchten  sie.  Sie  ist  ein  Fluch.  Wir  aber  wollen  den 
Segen.  Und  das  ist  der  Geist,  jener  Geist,  der  des  Raumes  nicht 
bedarf,  da  die  Zeit  ihm  angehört,  und  der  mit  Freuden  auf  die 
Gegenwart  verzichtet,  um  der  Ewigkeit  gewiß  zu  sein. 

So  wenig  Politik  nach  römischem  Muster  das  einzige  Agens 
Dationalen  Lebens  bilden  darf,  so  unerläßlich  sind  gewisse  poli- 
tische Prämissen  für  die  Geburt  schöpferischer  Kultur.  Als 
Individualerscheinung  spottet  das  Genie  jeder  rechnerischen 
Gesetzmäßigkeit,  ja  selbst  der  Definition.  Aber  als  histo- 
risches Phänomen,  als  Sozialgestalt  ist  sein  Erscheinen  strengen 
Gesetzen  unterworfen.  Das  lehrt  der  flüchtigste  Blick  ül-er 
die  historisch  -  geographische  Verteilung  der  Genies:  die  Zu- 
sammenhäufung der  jüdischen  Propheten  im  Jahrhundert  des 
babylonischen  Exils,  der  Apostel  um  Christus,  der  griechischen 
Künstler  im  perikleischen  Zeitalter,  der  arabischen  Geister 
um  Harun  al  Raschid,  die  Hochflut  der  Renaissancekünstler 
in  Italien,  die  Blüte  der  bildenden  Künste  in  Holland,  die 
Klassik  der  deutschen  Musik.  Wie  Sternschnuppenschwärme 
leuchten  die  Scharen  der  Genies  sporadisch  auf  in  der  Atmo- 
sphäre großer  Zeiten.  Und  das  Gesetz  ihrer  Bahn?  Geniahtät 
ist  Überschuß  an  Volkskraft ;  Genie  ist  der  Kristall,  der  aus  der 
übersättigten  Kulturlösung  eines  Volkes  hervorschießt,  scheinbar 
plötzlich,  in  Wahrheit  aber  durch  die  zunehmende  Lösungsstärke 
seit  langem  genährt;  in  ihm  gewinnt  die  form-  und  farblose 
Massenpsyche  des  Volkes  funkelnd-farbige  Individualgestalt. 
Junge  Völker  mit  noch  ungesättigten  Kulturlösungen  können 
keine  Geniekristalle  treiben;  bei  jedem  Volk  geht  dem  Erscheinen 
des  Genies  ein  Jahrtausend  der  A-Genialität  und  ein  Jahrhundert 
der  Talente  voraus.  Die  Talente  sind  die  Kriställchen,  die  die 
Erreichung  des  Sättigungsgrades  ankündigen,  sie  sind  die  Blätter, 
die  vor  der  Blüte  des  Genies  an  den  Zweigen  des  Kulturbaums 
gprießen.  Deutschland  weist  im  ersten  Jahrtausend  seiner  Ge- 
schichte auch  nicht  einen  Namen  auf.  Den  Cimbern  und  Teu- 
tonen sieht  niemand  an,  daß  einst  aus  ihrer  Mitte  Kant  und 
Goethe  treten.  Noch  zur  Zeit  Friedrichs  des  Großen,  als  die 
Genien  der  deutschen  Klassik  schon  in  ihren  Wiegen  lagen, 
war  nach  Bellermann  „der  Beweis  nötig,  daß  es  auch  unter  den 

222 


Deutschen  große  Leidenschaften  und  bedeutende  Charakler"^ 
geben  könne",  und  im  gleichen  Zeitalter  sprachen  d'Alembert 
und  Diderot  den  Russen  —  der  Großvätergeneration  Tolstois, 
Turgenjeffs  und  Dostojewskis!  —  die  Möghchkeit  ab,  jemals 
kultivierte  Europäer  werden  zu  können.  Prophezeiungen  über 
die  Kulturbefähigung  von  Völkern  sind  daher  mit  größter  Vor- 
sicht aufzunehmen.  Daß  ein  Volk  zur  Zeit  keine  Kultur  besitzt, 
ist  durchaus  noch  kein  Beweis,  daß  es  ihrer  nicht  auch  fähig 
wäre.  Die  Völker  des  Ostens  von  Europa  sind,  wenn  nicht  alle 
Zeichen  trügen,  gewiß  nicht  weniger  begabt  als  die  des  Westens; 
was  ihnen  zur  Kultur  noch  fohlt,  ist  nichts  als  —  Zeit,  Ver- 
gangenheit. Amerika  hat  auf  geistigem  Gebiet  kein  Genie  hervor- 
gebracht. Und  wieviel  Kräfte  sind  doch  lebendig  in  diesem 
Volk  der  Völker!  Wie  viele  Glücksritter,  Condottiere  des  Handels 
und  Napoleone  der  Industrie  hat  es  geboren!  Wieviel  Kohlen- 
nabobs,  Trustmagnaten,  Eisenbahnkönige!  Technische  Erfin- 
dungen die  Fülle!  Aber  kein  Genie  der  Kultur!  Keinen  Dichter, 
keinen  Maler,  keinen  Klassiker,  keinen  Philosophen.  Nicht 
einen  einzigen  Schriftsteller  von  wirklichem  Weltrang  —  die 
beiden  Miniaturmeister  Poe  und  Emerson  als  Kündertalente 
kommender  Genies  ausgenommen.  Es  kann  noch  kein  Genie 
geboren  haben,  ihm  fehlt's  an  Sättigung,  es  ist  noch  Most,  der 
sich  absurd  gebärdet;  Kultur  ist  Wein,  alter  abgelagerter  Wein. 
Vergangenheit,  schöpferische  Kulturvergangenheit  ist  es  auch, 
die  den  europäischen  Juden  zur  Entfaltung  bildnerischer  Kräfte 
auf  den  Gebieten  des  modernen  Lebens  fehlt.  Sind  sie  doch  erst 
durch  ihre  Emanzipation  vor  nicht  viel  mehr  als  hundert  Jahren 
aus  dem  Puppenzustand  des  mittelalterlichen  Ghettojudentumes 
,, Europäer"  geworden,  eine  viel  zu  kurze  Spanne,  um  gegenüber 
einer  wesensfremden  Welt  vom  ersten  Schritt  der  Näherung  bis 
zur  seelischen  Vermählung,  Befruchtung  und  Geburt  von  Eigen- 
schöpfung durchzudringen. 

„Uns  fehlt  nur  eine  Kleinigkeit  .  .  . 
Nur  Zeit." 

Die  alten  Schwingen  sind  gebrochen,  und  die  neuen  sind 
noch  nicht  gewachsen.  Genie  ist  Überschuß  an  Volkskraft 
—  aber  Simson  sind  die  Locken  geschoren.  Genie  ist  Kristall 
der  gesättigten  Lösung  —  aber  der  Kelch  Judas  ist  mit  Tränen 
verwässert.  Genie  ist  Blüte  am  Baum  nationaler  Kultur  —  aber 
der  Stamm  Israels  ist  entwurzelt.  „Die  schöpferischen  Kräfte 
des  jüdischen  Menschen  und  des  jüdischen  Volkes",  heißt  es  in 
dem  Programm  der  jüdisch-volkssozialistischen  Partei  Hapoel- 

?,?3 


Hazair,  ,,sind  in  ihrer  Auswirkung  behindert  durch  seine  Tren- 
nung vom  Boden  der  produktiven  Arbeit  und  der  historisch- 
nationalen  Heimat  und  Kultur."  Ahasver  auf  der  Landstraße,  den 
Buckel  gekrümmt  unter  der  Last  des  Trödels,  findet  nicht  die  blaue 
Blume.  Nur  dem  Träumer,  der  zwischen  den  Triften  seinerHeimat- 
dörfer,  einen  Himmel  in  sich  tragend,  wandelt,  blüht  sie.  Genie  will 
Resonanz.  Wie  voll  tönt  Schillers  Pathos  über  dem  schwingenden 
Boden  der  Zeitseele;  wie  süß  klingt  Eichendorffs  Postkutschen- 
lyrik durch  die  Blütennächte  der  Biedermeierjahre.  Hinter 
Arno  Holz'  ,,Buch  der  Zeit"  dröhnen  die  Hämmer  von  1890. 
Aber  die  Harfe  Judas  hängt  zerrissen  in  den  Weiden  Babels  . . . 
Von  diesem  Volk,  das  tausend  Jahre  hinter  Ghettomauern 
in  den  Banden  der  Gefangenschaft  geschmachtet,  sich  nur  mit 
■einem  Schandfleck  auf  dem  Kleide  jenseits  seiner  Stadtgefäng- 
nisse bewegen  und  als  einziges  Gewerbe  den  „ehrlosen  Handel" 
mit  Plunder  und  Zinsschein  treiben  durfte,  das  sich  an  jedem 
Schlagbaum  den  Schweinen  gleich  verzollen  lassen  und  vor 
jedem  Kinde  auf  den  Anruf:  Jude,  Hut  ab!  seine  Mütze  ziehen 
mußte,  und  in  dem  man  so  durch  Ächtung  und  Entrechtung 
•das  Ehrgefühl  erdrosselt  und  das  Selbstvertrauen  erwürgt  hat, 
von  diesem  Prügelknaben  des  Mittelalters,  diesem  Kaspar 
Hauser  der  europäischen  Geschichte  zu  erwarten,  daß  es,  kaum 
im  Licht  der  Freiheit  atmend,  einen  Dichter  zeuge,  der  wie 
■Goethe  in  olympischer  Göttlichkeit  über  Welt  und  Menschheit 
thront,  der  wie  Schiller  mit  der  Feuerfackel  der  Begeisterung 
gegen  den  Himmel  der  Finsternis  anstürmt,  daß  es  in  den  ersten 
Dezennien  seines  europäischen  Miterlebens  einen  Sänger  gebäre, 
der  wie  Bach  des  Weltalls  Harmonien  mit  dem  Saitennetze 
eines  Flügels  einfängt  oder  wie  Beethoven  mit  Geigen  und  Bässen 
das  Schicksal  und  alle  Dämonen  von  Himmel  und  Erde  beschwört, 
daß  es  —  das  niemals  einen  Pinsel  rührte  —  nun  sofort  einen  Maler 
hervorbringt,  der  wie  Böcklin  Frühlingsduft  und  Sirenensang  auf 
Leinewand  zaubert  oder  wie  Rodin  in  einen  Ballen  Ton  alle 
Leiden  und  Gedanken  eines  70  jährigen  Menschenlebens  griffelt 
—  vom  jüdischen  Volk  des  ersten  Jahrhunderts  seiner  Eman- 
zipation diese  Maximalleistungen  arischer  Aktivität  zu  fordern, 
ist  eine  solche  Ironie,  als  stellte  man  ein  Karussellpferd  auf  die 
Bahn  und  verlangte,  daß  es  mit  den  trainierten  Rennern  über 
die  Hürden  spränge.  Daß  dieses  Volk  überhaupt  die  fast  zwei- 
tausendjährige Entwurzelung  aus  der  Heimaterde  überdauert 
und  sich  ungebrochen  von  dem  tausendjährigen  Kettenlager 
seines  Ghettokerkers  neu  erhoben  hat,  ist  Wunder  genug  und 

:224 


Zeugnis  höchster  psychodynamischer  Kräfte.  Unter  der  Regie- 
rung Friedrichs  des  Großen  wurde  der  Großvater  des  Bankiers 
Bleichröder  von  der  jüdischen  Gemeinde  zu  BerUn  ausgewiesen, 
weil  er  beim  Lesen  eines  deutschen  Buches  ertappt  worden  war. 
50  Jahre  später  erschien  Heines  „Buch  der  Lieder"  .  .  . 

Die  Zahl  der  Juden  beträgt  in  Deutschland  weniger  als  1% 
der  Bevölkerung  und  entspricht  ungefähr  der  Bewohnerzahl 
von  Mecklenburg-Schwerin.  Hat  schon  jemand  die  Behaup- 
tung aufgestellt,  die  Mecklenburger  seien  rassenminderwertig, 
weil  sie  keinen  Goethe,  keinen  Bach,  keinen  Kant  geboren? 
Oder  von  ihnen  Kulturleistungen  verlangt,  mit  denen  sie  sich 
den  großen  Millionenvölkern  Europas  ebenbürtig  gegenüber- 
stellen könnten  ?  Die  Mecklenburger  auf  der  einen  und  die  Deut- 
schen auf  der  anderen  Seite  ?  Sähe  man  selbst  von  der  Tatsache 
der  spezifischen  Rassenbegabung  und  der  Ungunst  der  Bedin- 
gungen ab,  so  müßten  gegen  ein  einziges  jüdisches  Genie  deren 
100  deutsche  aufgewiesen  werden.  Deutschland  muß  100  musi- 
kalische, dichterische,  künstlerische  und  philosophische  Genies 
hervorbringen,  ehe  es  das  erste  jüdische  in  die  Schranken  rufen 
dürfte.  In  welcher  Disziplin  aber  hat  Deutschland  seit  der 
Judenemanzipation  100  überragende  Geister  geboren?  In  der 
Musik,  dem  ureigensten  und  glücklichsten  Schaffensgebiet  der 
germanischen  Rasse,  hat  Deutschland  selbst  bei  weiter  Fassung 
des  Begriffs  Genie  in  den  beiden  vergangenen  Jahrhunderten 
noch  keine  zwölf  ,,der  Klasse  für  sich"  geboren  (man  könnte 
etwa  folgende  neun  zusammenstellen:  Händel,  Bach,  Haydn, 
Mozart,  Beethoven,  Schubert,  Schumann,  Wagner,  Brahms). 
Die  Juden  können  also  mit  größtem  Gleichmut  noch  der  Geburt 
von  90  deutschen  Bachs  und  Schuberts  entgegensehen,  ehe  sie 
der  rassentheoretischen  Behauptung,  daß  die  Juden  musikalisch 
ungenial  seien,  auch  nur  die  Möglichkeit  eines  Rechtes  zu- 
gestehen. Sie  können  dieses  im  Vertrauen  auf  den  Satz:  erst 
Talente,  dann  Genies  —  mit  um  so  größerer  Zuversicht,  als  sie  in 
diesem  ersten  Jahrhundert  der  musikalischen  Betätigung  eine 
weit  über  die  Proportionalzahl  hinausgehende  Fülle  musikali- 
scher Talente  in  die  Welt  gesendet  haben.  Man  braucht  nur 
die  zwölf  Namen  Mendelssohn,  Meyerbeer,  Moscheies, 
Offenbach,  Goldmark,  Brüll,  Halevy,  Rubinstein, 
Joachim,  Mahler,  Korngold  und  Bizet  (letzter  ein  Halb- 
jude und  zwar  Abkömmling  von  spanischen  Marannen)  zu 
nennen,  um  jeden  Versuch,  ihrer  1000  im  Kreise  arischer  Kom- 
ponisten zu  suchen,  als  aussichtslos  zu  verwerfen.    Auf  allen 

16    Kahn,  Die  Juden.  -225 


übrigen  Gebieten  der  schaffenden  Künste  das  nämliche  Bild. 
Keine  Genies  von  Gigantenformat,  denn  dazu  fehlen  die  na- 
tionalen Vorbedingungen,  aber  eine  solche  Fülle  der  Talente, 
daß  den  Juden  vice  versa  die  glänzendste  Zukunft  verheißen 
scheint^). 

Den  Dühring'schen  Satz :  „Ihre  ganze  lange  Geschichte  hin- 
durch haben  die  Juden  auch  nicht  in  einer  Wissenschaft  etwas 
produziert"  und  sein  Chamberlain'sches  Echo  von  „der  absoluten 
Ignoranz  und  kulturellen  Roheit  eines  Volkes,  welches  auf  keinem 
einzigen  Felde  menschlichen  Wissens  oder  Schaffens  jemals  das 
Geringste  geleistet  hat",  bewiesen  die  Juden  in  dem  ersten 
Jahrhundert  ihrer  Mitarbeit  auf  wissenschaftlich-technischem 

^)  Der  verhältnismäßig  weit  über  den  Prozentsatz  hinausgehende  An- 
teil der  Juden  an  den  wissenschaftlichen  Leistungen  ist  allbekannt.  In 
den  bildenden  Künsten  hingegen  war,  der  ganzen  Lebensanschauung  der 
jüdischen  Bourgeoisie  des  19.  Jahrhunderts  entsprechend,  die  Betätigung 
der  Juden  auffallend  gering.  Trotzdem  brachte  die  ältere  Generation 
Meister  von  der  Bedeutung,  Liebermanns  und  Israels,  die  junge 
in  Pechstein,  Pissaro,  Kandinski  u.  a.  begabte  Vertreter 
der  neueren  Richtung  hervor.  Die  Literatur  ist  bekanntlich  mit  jüdi- 
schen Autoren  derart  gesättigt,  daß  man  von  einem  ,, deutsch-jüdischen 
Parnaß"  gesprochen  hat.  Hier  seien  im  Vorübereilen  als  die  bekann- 
testen —  darum  durchaus  noch  nicht  die  besten!  —  genannt  aus  der 
Lyrik:  Heine,  den  Bismarck  den  , .stärksten  Lyriker  nach  Goethe"  ge- 
nannt hat,  Lorm,  Salus,  Hofmannsthal,  Mombert,  Walter 
Cal6,  Werfel,  Else  Lasker-Schüler,  diese  unter  den  dichtenden 
Frauen  Deutschland»  wohl,  trotz  allem,  die  lyrisch  begabteste;  aus  der 
Dramatik :  Schnitzler,  Fulda,  Heyermanns,  Beer-Hofmann; 
aus  der  Belletristik:  Berthold  Auerbach,  Kompert,  Franzos, 
Rodenberg,  Nordau,  Peter  Alte nberg,  Georg  Hirschfeld, 
Georg  Hermann,  Holländer,  Zweig,  Brod,  Wassermann 
usw.;  eine  Stellung  für  sich  nimmt  Fritz  Mauthner  ein.  In  der 
Literaturgeschichte  hat  allein  das  eine  Problem  Goethe  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten nicht  weniger  als  sechs  jüdische  Bearbeiter  von  Weltruf  gefunden : 
aus  der  älteren  mehr  deskriptiven  Schule  Ludwig  Geiger,  den  lang- 
jährigen Herausgeber  des  Goethejahrbuches,  R.  M.  Meyer,  den  Ver- 
fasser der  ersten  deutschen  (preisgekrönten)  Biographie;  Bielschowski, 
den  Goethebiographen  (28.  Aufl. !) ;  aus  der  neueren  mehr  kritischen  Schule 
Simmel  und  Gundolf,  deren  Bücher  anerkanntermaßen  zu  den  besten 
Analysen  des  Goetheproblems  gehören,  und  neuerdings  Georg  Brandes. 
Hierzu  kommt  noch  Emil  Ludwig  mit  seiner  3 bändigen  biographi- 
schen Analyse.  Als  ein  Kuriosum,  das  aber  charakteristisch  ist,  möge 
hier  erwähnt  sein,  daß  die  einzigen  drei  populär  gewordenen  Kriegs- 
gedichte: der  ,, Haßgesang"  von  Lissauer  (leider!  Dafür  wurde  er  aber 
auch  mit  dem  Adlerorden  IV.  bestraft!),  das  Soldatenlied  „Annemarie" 
von  Freund  und  das  Volkshed  „Drüben  am  Wiesenrand"  von  Zncker- 
mann,  das  einzige  Kriegsgedicht,  das  berufen  erscheint,  in  den  deut- 
schen Liederschatz   einzugehen  —  von  drei  Juden  verfaßt  worden  sindl 

226 


Gebiet  durch  die  Erfindung  des  Mikrophons  (Berliner),  des 
Benzin- Automobils  (Marcus),  des  Elektromobils  (David- 
sohn),  des  Gyroskops  (Popper-Lynkeus),  des  starren 
Luftschiffs   (Schwarz)^),   der  Galvanoplastik  (Jacoby),   der 

Aus  Mischehen  mit  Juden  (Eitern  oder  Großeltern)  sind  hervorgegangen 
(nach  Otto  Hauser):  Hans  von  Maries,  Ph.  Spitta,  Paul  Heyse,  Georg 
Ebers,  Friedr.  Spielhagen,  Wildenbruch,  Rud.  v.  Gottschall,  AI.  Dumas 
d.  J.,Pontoppidan,  Peter  Nansen  usw..  Juden  waren  Saint-Saens  (Samson 
u.  Dalila)  und  CatuUe  Mend^s,  der  Heine  Frankreichs.  Der  tschechische 
Nationaldichter  Vrchlichky  (eig.  Name  Emil  Frida)  entstammt  einer 
jüdischen  Rabbinerfamilie.  Schließlich  sei  noch  erwähnt,  daß  es  selbst 
schon  einen  jüdischen  Minnesänger  gegeben  hat,  Süskind  v.  Trimberg 
(um  1200),  der  sein  typisch  jüdisches  Schicksal  besingt  in  dem  Gedicht: 

„Ich  Tor  wollt  durch  die  Lande  ziehn, 

Zu  zeigen  meine  Kunst, 

Will  von  der  Herren  Hof  nun  fliehn, 

Da  fehlt  mir  ihre  Gunst. 

Will  wachsen  lassen  mir  den  Bart, 

Die  grauen  Haare  mein. 

Und  will  nach  alter  Juden  Art, 

Nur  leben  mir  allein. 

Mein  Mantel  soll  mir  wallen  lang 

Tief  unter  meinem  Hute, 

Demütiglich  sei  jetzt  mein  Gang, 

Und  nicht  mehr  sing  ich  höfischen  Gesang, 

Seit  mich  die  Herren  trieben  fort  von  ihrem  Gute." 

*)  Bekanntlich  —  oder  vielmehr  nicht  bekanntlich  —  hat  Zeppelin 
die  Patente  und  Baupläne,  die  die  Prinzipien  des  starren  Luftschiffs  be- 
treffen, von  der  Witwe  des  im  Erfinderelend  gestorbenen  jüdischen  Kon- 
strukteurs des  ersten  starren  Luftschiffs  erworben.  David  Schwarz 
legte  1890  seine  Pläne  zum  Bau  eines  starren  Luftschiffes  aus  Aluminium 
der  österreichischen  Regierung  vor,  die  mangels  der  nötigen  Geldmittel 
von  der  Ausführung  Abstand  nahm.  1892  wurde  das  starre  Aluminium- 
luftschiff in  Petersburg  gebaut,  konnte  aber  nicht  aufsteigen,  da  das  ge- 
lieferte Material  zu  schlecht  war.  1894  (?)  erlaubte  ihm  endlich  die  deutsche 
Mihtärbehörde,  auf  dem  Tempelhofer  Feld  das  80  m  lange  und  12  m 
breite  Luftschiff  aufsteigen  zu  lassen.  Das  diesbezügliche  Telegramm 
wurde  Schwarz  auf  der  Straße  zugestellt.  Die  Freude  über  die  Erreichung 
seines  langjährigen  Zieles  war  so  übermächtig,  daß  er  vom  Herzschlag 
getroffen  tot  umsank.  Ein  Jahr  später  stieg  das  Luftschiff  in  Gegenwart 
von  Graf  ZeppeUn  auf  und  flog,  wurde  aber  bei  der  Landung  infolge  der 
Ungeschicklichkeit  des  Führers  zerstört.  Nun  kauften  Kommerzienrat 
Berg  und  Graf  Zeppelin  die  Patente  von  der  Witwe  des  Erfinders  laut 
Vertrag  vom  19.  Februar  1898  und  schritten,  indem  sie  Material  und  Pro-; 
peller  aus  der  gleichen  Fabrik  wie  vordem  Schwarz  bezogen,  zum  Bau 
des  ersten  „Zeppeüns". 

18«  227 


Quecksilberlampe  und  des  Farbenweisers  (Arons)^),  des  Elek- 
trizitätsmessers (Aron),  des  künstlichen  Indigos  (Baeyer)^), 
des  künstlichen  Alizarins  (Liebermann),  des  Salvarsans 
(Ehrlich),  der  Syphilisreaktion  (Wassermann),  durch  die 
Begründung  der  Luftstickstoffgewinnung  (Haber),  der  Phy- 
siko-Biologie  (Loeb),  der  Kaliindustrie  (Frank),  der  Petro- 
leumindustrie (Schreiner),  der  Elektroindustrie  (Rathenau), 
der  Bernsteinindustrie  (Becker),  durch  den  Ausbau  der  deut- 
schen Handelsflotte  (Ballin)  und  zahllose  andere  technische 
und  industrielle  Leistungen^). 

Ein  Physiker  von  weitestem  Ausmaß  und  seltener  philo- 
sophischer Tiefe  war  Heinrich  Hertz,  der  entgegen  ander- 
weitigen Ausstreuungen  einer  noch  heute  mehrfach  vertretenen 
ehemals  rein  jüdischen  Familie  aus  Hamburg  mit  dem  frühe- 
ren Namen  Hersch,  Hirsch  entstammt.  Ein  Verwandter  von. 
Heinrich  Hertz  ist  der  mehrfach  zitierte  Verfasser  des  vorzüg- 
lichen Buches  ,, Moderne  Rassetheorien"  Friedrich  Hertz  (in 
zweiter  Auflage  jetzt  „Rasse  und  Kultur"),  in  dem  der  wissen- 
schaftliche Antisemitismus  eine  gründliche  Kritik  erfährt.  Am 
bekanntesten  ist  Hertz  als  Entdecker  der  elektro-magnetischen 
Hertz'schen  Wellen,  die  die  Erfindung  der  drahtlosen  Tele- 
graphie  eingeleitet  haben,  und  neben  dem  Engländer  Maxwell 
als  Entdecker  der  Übereinstimmung  von  Licht  und  Elektrizität, 
weniger  bekannt,  aber  um  so  bedeutender  als  Verfasser  der 
„Prinzipien  der  Mechanik",  die  für  die  moderne  theoretische 
Physik  grundlegend  geworden  sind.  Wie  bedeutend  Hertz  sein 
muß,  erhellt  aus  der  Tatsache,  daß  Chamberlain  ihn,  trotzdem 
er  Jude  ist,  in  den  „Grundlagen"  neben  Agassi z,  Faraday  und 
Robert  Mayer  als  Mann  von  unvergänglicher  Bedeutung  feiert 
und  in  seinem  unvergleichlich  besseren  Werk  über  Kant  nicht 

1)  Mehr  als  durch  seine  Erfindungen  und  bedeutenden  mathematischen 
Leistungen  ist  der  kürzlich  verstorbene  Physiker  und  verdienstvolle  Be- 
rechner der  „Elektrizitätskonstante  des  Wassers"  durch  den  „Fall  Arons" 
bekannt  geworden.  Arons,  Schwiegersohn  von  Bleichröder,  wurde  vom 
preußischen  Kultusministerium  seiner  Dozentur  enthoben,  weil  er  sich 
aktiv  an  den  Bestrebungen  der  sozialdemokratischen  Partei  beteiligte. 
Auf  dem  Schuldkonto  dieses  Mannes,  dem  auch  seine  Gegner  absolute 
Lauterkeit  der  Gesinnung  und  rein  ethische  Motive  nachsagen  mußten, 
standen  als  einzige  Verbrechen:  die  Gründung  der  ,, Berliner  Arbeiter- 
Bildungsschule",  des  Gewerkschaftshauses,  die  erste  Ausstellung  zur  Be- 
kämpfung der  Schundliteratur,  die  Einrichtung  von  Weihnachtsfeiern  für 
Handwerksburschen  und  ähnliche  soziale  Betätigungen,  für  die  er  sein 
bedeutendes  Vermögen  auswarf. 

2)  Halbjude  aus  Mischehe. 

228 


weniger  als  achtzehnmal  als  Gewährsmann  anführt  und  ihn  hier 
den  „großen,  so  früh  der  Welt  entrissenen  Hertz",  „den  genialsten 
Physiker",  und  sein  Buch  „das  genialste  physikalische  Fach- 
buch neuerer  Zeit"  nennt^). 

Jüdischen  Köpfen  ist  eine  Reihe  der  interessantesten  und 
geistvollsten  Gedankenschöpfungen  der  letzten  zwei  Jahrzehnte 
entsprungen:  die  Seitenkettentheorie  Ehrlichs,  die  Psycho- 
analyse von  Freud,  die  Periodizitätslehre  von  Fließ,  die 
Lehre  Semons  von  der  Mneme,  die  M  -f- W-Theorie  Wei- 
ningers,  das  Esperanto  Zamenhofs  und  die  Relativitäts- 
lehre von  Einstein,  die  von  der  internationalen  Fachwissen- 
schaft als  eine  der  bedeutendsten  geistigen  Errungenschaften 
unseres  Zeitalters,  als  eine  kopernikanische  Erweiterung  unseres 

^)  Die  Inkonsequenz  der  meisten  Antisemiten,  daß  sie  die  ihnen  in 
Wahrheit  weder  als  Zeitgenossen  noch  als  historische  Erscheinung  be- 
kannten Juden  in  Bausch  und  Bogen  ablehnen,  dagegen  mit  den  ihnen 
persönlich  zufällig  bekannten  Juden  freundlichst  lächelnd  verkehren  und, 
wenn  man  sie  auf  diesen  Zwiespalt  hinweist,  stereotyp  erwidern:  „Ja  Sie, 
Verehrtester,  sind  eine  rühmliche  Ausnahme,  wenn  alle  Juden  so  wären 
wie  Sie!"  —  diese  Inkonsequenz  erreicht  bei  Chamberlain  geradezu  einen 
unübersteiglichen  Gipfel.  Seine  ,, Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts",  das 
Paradewerk  des  wissenschaftlichen  Antisemitismus,  widmet  er  „in  Dank- 
barkeit und  Verehrung"  einem  Juden,  dem  Wiener  Universitätsrektor 
und  Botaniker  Wiesner!  Seit  wann  ist  es  Mode,  daß  man  in  einen  Blumen- 
strauß, den  man  „in  Dankbarkeit  und  Verehrung"  überreicht,  eine  Kreuz- 
otter hineinsteckt?  Sein  Schwiegervater  Richard  Wagner  nannte  zwar 
das  Judentum  den  „triumphierenden  Dämon  des  Verfalls",  nahm  aber 
keinen  Anstoß  daran,  jüdisches  Geld  für  seine  Bayreuther  Gründung  an- 
zunehmen und  Juden  in  den  Kreis  seiner  Freunde  und  Interpreten  zu 
ziehen.  Die  erste  Parsifalaufführung  dirigierte  der  Jude  Hermann  Levi, 
neben  Hans  von  Bülow  der  genialste  und  unermüdHchste  Wagnerdirigent. 
Der  Jude  Neumann  reiste  als  Wagnermissionar  mit  Sängern  und  Kulissen 
in  der  halben  Welt  herum  und  baute  so  das  Fundament  zu  jenem  Wohl- 
stand, auf  dem  Haus  Wahnfried  errichtet  wurde  —  die  Heimat  Chamber- 
lainsl  —  Den  Dühring'schen  Satz  von  der  „Unfähigkeit  der  Juden  sogar 
zur  Musik  und  bloße  Reklamefähigkeit  für  das  Unbedeutende  . . .  Wo 
sie  sich  mit  den  Wissenschaften  abgegeben,  hat  das  stets  nur  einen  ge- 
schäftUchen  Zweck  gehabt",  beleuchtet  aus  Wagners  Kreis  die  folgende 
Begebenheit.  Als  Liszt  eines  Tages  Hermann  Levi  mit  seinem  Stammes- 
genossen Heinrich  Borges  bekannt  machte,  sagte  er:  „Sehen  Sie,  Herr 
Levi,  dieser  Herr  Borges  war  Wagnerianer  zu  einer  Zeit,  wo  noch  keine 
Geschäfte  damit  zu  machen  waren."  „Das  gleiche",  fährt  Siegfried  Wag- 
ner, der  diese  Szene  referiert,  fort,  „könnte  auch  über  George  Davidsohn 
gesagt  werden.  Er  und  Dohm  waren  fast  die  einzigen  Männer,  die  damals 
in  den  Berliner  Zeitungen  für  die  Kunst  meines  Vaters  eintraten  —  mit 
Enthusiasmus  und  nie  wankender  Treue."  —  Jüdische  Schrittmacher  vor 
deutschen  Weltmeistern  sind  auf  der  Rennbahn  der  neueren  Geschichte 

229 


zeitlichen  Weltbildes  aufgefaßt  wird.  Nur  die  deutsch-völkisch 
orientierten  Kreise  sind  seit  Einsteins  Bekenntnis  zum  Juden- 
tum anderer  Meinung,  und  es  ist  lustig  zu  lesen,  wie  sie  in  ihren 
Publikationen  die  Relativitätstheorie  bald  für  ein  jüdisches  Re- 
klameprodukt, bald  für  eine  bedeutende  Theorie  aber  deutschen 
Ursprungs,  bald  als  überhaupt  unbewiesen  und  falsch  hinstellen. 
„Die  lieben  Deutschen  kenn'  ich  schon";  hat  Goethe  vor  hundert 
Jahren  hart,  aber  für  diese  Kreise  passend  zu  Riemer  in 
eben  diesem  Zusammenhang  gesagt,  „erst  schweigen  sie, 
dann  mäkeln  sie,  dann  beseitigen  sie,  dann  bestehlen  und 
verschweigen  sie." 

Für  den  Dühring'schen  Satz:  ,,Wo  die  Juden  sich  mit  der 
Wissenschaft  abgegeben,  hat  dies  stets  nur  einen  geschäftlichen 
Zweck  gehabt",  der  in  fast  allen  antisemitischen  Werken 
stereotyp  wiederkehrt,  bietet  der  jüdische  Esperantoerfinder 
Zamenhof  eine  glänzende  Illustration.  Zamenhof  opferte 
Glück  und  Leben  der  Erfindung  einer  Weltsprache,  die  er  nicht 
aus  wissenschaftlichem  oder  überhaupt  praktischem  Interesse, 
sondern  einzig  wegen  ihrer  „interna  ideo"  zu  verbreiten  suchte, 
um,  wie  es  in  der  Esperantohymne  heißt,  die  Jahrtausende  alten 
Schranken  zwischen  den  Völkern  zu  fällen  und  den  Friedens- 
traum der  Menschheit  zu  erfüllen  —  eine  spezifisch  jüdische 
Idee,  ein  Lösungsversuch  des  uralt  jüdischen  Propheten-  und 

häufige  Erscheinungen,  zuweilen  durch  die  Kraßheit  des  Kontrastes 
geradezu  komisch  wirkend,  so  wenn  beispielsweise  der  Jude  Moses  Men- 
delssohn, der  selber  erst  heimUch  in  seinem  altjüdischen  Elternhaus 
deutsch  erlernen  mußte,  Friedrich  d.  Gr.  öffentlich  den  Gebrauch  des 
Französischen  vorhält  und  zu  deutschem  Sprachgebrauch  auffordert,  oder 
wenn  sich  100  Jahre  später  der  deutsche  Heros  Bismarck  des  jüdischen 
Publizisten  Harden  als  literarischen  Rolands  bedient  und  nach  seinem 
Tode  in  dem  Juden  Emil  Ludwig  (Gohn)  einen  seiner  hebevollsten  Bio- 
graphen findet.  Die  erste  in  deutscher  Sprache  populär  gewordene  Goethe- 
biographie war  die  des  englischen  Juden  L  e  w  e  s ,  die  zweite  die  von  Richard 
Moses  Meyer.  Kants  bedeutendster  Propagandist  und  Erneuerer  war 
Hermann  Cohen,  Schopenhauers  einziger  Schüler  und  Herold  der  Jude 
Frauenstädt.  In  Berlin  waren  es  die  —  nach  damaliger  ,, Weltbürger- 
mode" sämtlich  getauften  —  Jüdinnen  Rahel  Varnhagen,  Henriette  Herz, 
Dorothea  Schlegel  (Enkelin  von  Moses  Mendelssohn)  Frau  von  Grotthus, 
Frau  von  Eybenberg  und  die  Schwestern  Meyer,  die  in  der  damaligen 
allgemeinen  Ignorierung  Weimars  für  Goethe  eintraten.  Börne  war  der 
erste,  der  sich  für  Kleist  einsetzte  usw.  Als  Fontane  seinen  70.  Geburts- 
tag feierte,  erschien  statt  des  erwarteten  preußischen  Ade!s,  dessen  Land 
und  Stand  er  verherrlicht  hatte,  nur  der  bibhsche,  was  er  der  Welt 
in  einem  sarkastischen  Gedicht  mitteilt,  das  mit  dem  Passus  schließt: 
„Kommen  Sie,  Cohnl" 

230 


Messiasproblems  der  Weltbeglückung  mit  dem  modernen  Mittel 
der  Völkerverständigung.  Der  glücklich-unglückliche  Erfinder, 
,,ein  Mensch  von  lauterem  Charakter,  edelster  Gesinnung  und 
wärmster  Menschenliebe,  der  sein  ganzes  Leben  selbstlos  nur 
dem  Wohle  der  Menschheit  widmete"  und  für  seine  Absichten 
zuerst  für  geisteskrank  erklärt  wurde  und  später  gegen  eine 
Welt  des  Spottes  um  sein  tägliches  Brot  zu  ringen  hatte, 
veröffentlichte  sein  Werk  mit  der  Erklärung:  ,,r)ie  inter- 
nationale Sprache  ist,  wie  jede  nationale,  allgemeines  Eigen- 
tum; der  Autor  entsagt  für  immer  allen  persönlichen  Rech- 
ten an  ihr." 

Im  Hinblick  auf  den  immer  wiederkehrenden  Vorwurf,  daß 
es  den  Juden,  wenn  auch  nicht  an  Talent,  so  doch  an  wissen- 
schaftlichem Idealismus  und  persönlichem  Opfermut  mangele, 
sei  hier  auf  die  auffallend  große  Zahl  von  jüdischen  Entdeckungs- 
reisenden alter  und  neuer  Zeit  hingewiesen.  Daß  Kolumbus 
mütterhcherseits  fast  sicher,  väterlicherseits  wahrscheinlich  von 
spanischen  Juden  stammt,  hat  neuerdings  ein  spanischer  Ge- 
lehrter nachzuweisen  gesucht,  soll  hier  jedoch  nur  als  Kuriosum 
erwähnt  sein,  da  uns  nichts  ferner  liegt,  als  nach  germanen- 
theoretischem Rezept  in  aller  Welt  und  allen  Zeiten  nach 
jüdischen  Genies  zu  fischen.  Tatsache  ist,  daß  die  Expedition 
des  Kolumbus  mit  jüdischem  Geld  finanziert  wurde  und  daß 
der  erste  Europäer,  der  den  amerikanischen  Festlandsboden 
betrat,  der  Jude  Luis  de  Torres  war.  Unter  den  jüdischen 
Entdeckungsfahrern  in  neuester  Zeit  sind  bekannt  gewor- 
den Hermann  Burchardt,  der  unter  tausend  Gefahren 
Yemen  durchforschte  und  auf  der  dritten  Reise  erschossen 
wurde  und  dessen  Tod  Schweinfurth  als  „einen  unend- 
Hchen  Verlust  für  die  Länder-  und  Völkerkunde"  beklagte. 
Sodann  der  weltberühmte  Emin  Pascha  (Eduard  Schnitzer 
aus  Oppeln),  der  es  bis  zum  Generalgouverneur  des  Sudan 
brachte,  wonach  er  dieses  Gebiet  der  Kultur  erschloß  und 
besonders  den  durch  Sklavenhandel  unterdrückten  Einge- 
borenen seine  Fürsorge  zuwandte.  Neben  seiner  weitgehenden 
politischen  Tätigkeit  widmete  er  sich  vielseitigen  wissenschaft- 
lichen Untersuchungen  und  Sammlungen,  trat  später  während 
des  Mahdi-Aufstandes  durch  seinen  persönlichen  Mut  hervor, 
ertrug  unendliche  Leiden,  ohne  in  seiner  Entdeckertätigkeit  zu 
erlahmen,  trat  dann  in  deutsche  Dienste,  hißte  als  erster  die 
deutsche  Flagge  in  Tabora,  erforschte  den  Albert- Njansa  und 
wurde  schließlich,  halbblind  und  todesmatt,  von  Eingeborenen 

231 


w- 


getötet.  In  einer  reichen  Literatur,  aus  der  Stanleys  „Im< 
dunkelsten  Afrika"  am  bekanntesten  geworden  ist,  sind  die 
Verdienste  Emin  Paschas  verewigt  worden. 

Nicht  weniger  gefahrvolle  Entdeckungsreisen  machten  die- 
Juden  Vambery  und  Glaser.  Vamb6ry  reiste,  um  den  Ur- 
sprung der  ungarischen  Sprache  aufzudecken,  als  Derwisch 
verkleidet,  ähnlich  wie  später  Sven  Hedin,  in  noch  von  Euro- 
päern unbetretene  Gebiete  Zentralasiens  und  war  nach  seiner 
Rückkehr  Gegenstand  allgemeiner  Bewunderung  in  der  euro- 
päischen Welt.  Eduard  Glaser  bereiste  in  entsprechender 
Verkleidung  das  unbetretene  Arabien  und  brachte  ein  großes 
Material  altarabischer  Inschriften  nach  Deutschland,  wo  es 
noch  heute,  in  Kisten  verpackt,  der  Bearbeitung  harrt.  „Nie- 
mals wohl  hat  ein  Forscher  der  Wissenschaft  ein  reicheres 
Erbe  hinterlassen  als  Eduard  Glaser.  Es  leuchtet  ein,  daß 
die  Erschließung  dieses  gewaltigen  Materials  das  ganze  Stu- 
dium des  alten  Arabiens  auf  völlig  neue  Grundlagen  stellen  muß." 

Den  von  Renan  hervorgehobenen  Mangel  bürgerlichen  Sinnes 
bekundeten  die  Juden  in  dem  ersten  Jahrhundert  ihres  Anteils 
an  der  europäischen  Politik  damit,  daß  in  England  der  Jude 
D Israeli  die  Weltmachtstellung  Großbritanniens  begründete 
(Suezkanal,  Indien,  Afrikakolonien,  Afghanistan,  Berliner  Kon- 
greß), in  Frankreich  der  Jude  Gambetta,  ,,in  einer  Person 
ein  umsichtiger  Staatsmann,  ein  Verwaltungsgenie  ersten  Ranges 
und  ein  glühender  Patriot",  mit  dem  Juden  Cremieux  als 
Finanzminister  aus  dem  zusammengebrochenen  Kaiserreich  das 
moderne  Frankreich  schuf,  und  daß  in  Italien  der  Jude  Otto- 
lenghi  als  Kriegsminister  die  itahenische  Armee  reorganisierte 
und  der  Jude  Luzzatti  durch  seine  weitreichenden  Wirtschafts- 
reformen den  Wohlstand  des  geeinigten  Königreiches  herbei- 
führte. Deutschland  versagte  sich  durch  den  Ausschluß  der  Juden 
ihren  tätigen  Anteil  an  der  Regierung,  konnte  aber  nicht  ver- 
hindern, daß  sämtliche  Parteien  der  deutschen  Volksvertretung 
mit  Ausnahme  des  konfessionellen  Zentrums  unter  der  Führung 
von  Juden  begründet  wurden  (Konservative  Partei  Stahl*), 

^)  In  der  „Konservativen  Monatsschrift"  1912  wird  über  den  Juden 
Stahl,  der  vor  seiner  Taufe  Schlesinger  hieß,  geschrieben:  „Ohne  Vergleich 
in  der  Geschichte  der  deutschen  Parteien  —  auch  die  Bedeutung  von 
Marx  für  die  Sozialdemokratie  nicht  ausgenommen  —  sind  die  Verdienste, 
die  sich  Julius  Stahl  als  einzelner  um  die  wissenschaftiiche  Begründung 
der  konservativen  Staats-  und  Rechtsanschauung  erworben  hat;  und 
daß  es  ihm  beschieden  war,   diese  theoretisch  gewonnene  Anschauung: 

232 


Nationalliberale  Las k er,  Freisinn  Bamberger,  SoziaMemo- 
kratie  LassalJe^),  daß  der  Vizepräsident  der  Nationalversamm- 
lung 1848  der  Jude  Gabriel  Riesser,  der  Präsident  der  Frank- 
furter Nationalversammlung,  erster  Reichstagspräsident  und  erster 
Reichsgerichtspräsident,  der  Mann,  der  „zweimal  die  deutsche 
Kaiserkrone  in  seinem  Koffer  trug",  der  Jude  Simson  war, 
und  daß  die  neue  deutsche  Reichsverfassung  —  angeblich  ein 
Meisterstück  —  unter  Mithilfe  zweier  Juden  von  dem  Juden 
Preuß  geschaffen  wurde. 

Genug  der  Namen!  Positiv  zwar  ein  Beweismaterial  von 
imponierendem  Eindruck,  würde  ja  ihr  Fehlen  aus  den  drei  an- 
geführten Gründen  der  numerischen  Unterlegenheit,  der  Ungunst 
der  Bedingungen  und  der  Spezifizität  der  Rassenbegabung  nicht 
den  geringsten  Schluß  auf  eine  Minderwertigkeit  der  Juden  zu- 
lassen. Die  Juden,  die  ihre  Genien  des  Herzens,  ihre  Patriarchen 
und  Psalmisten,  Propheten,  Erlöser  und  Apostel  haben,  brauchten 
gar  keine  überragenden  Dichter,  Philosophen,  Erfinder  und 
Staatsmänner  hervorzubringen,  so  wenig  die  Römer  Künstler, 
die  Engländer  Musiker,  die  Niederländer  Dramatiker  aufzuweisen 
nötig  haben,  so  wenig  Kant  poetisch,  Goethe  musikahsch, 
Nietzsche  mathematisch  begabt  sein  mußten,  um  als  vollwertig 
zu  gelten.  Alle  diese  Namen  beweisen  nur,  daß  das  jüdische 
Volk  trotz  seiner  spezifischen  Begabung  und  trotz  der  un- 
günstigsten Schaffensbedingungen  sich  auch  auf  den  Gebieten 
der  praktischen  Kultur  den  höchstbegabten  Nationen  der  Gegen- 
wart ebenbürtig  zur  Seite  stellen  kann. 


in  bedeutsamer  parlamentarischer  Führerstellung  auch  zu  betätigen» 
mußte  seinen  Einfluß  und  sein  Ansehen  begreiflicherweise  nur  noch  ver- 
stärken." Sehr  originell  macht  sich  Brunner  über  den  Antisemitismus 
der  heutigen  Konservativen  lustig,  die  sich  als  die  Jünger  des  Herrn 
Joelsohn-Stahl  und  Jesu  Christi,  des  Sohnes  Josephs,  so  grimmig  gegen 
die  „minderwertigen"  Juden  wenden:  „Die  Judenverachtung  der  frommen 
Konservativen  und  ihr  Feuereifer  und  Heldentum  des  Entjudens  klingt 
unmusikalisch  zu  ihrer  Frömmigkeit  und  ihrem  Konservatismus,  welche 
beide  sich  einigermaßen  prächtig  aufeinander  reimen;  denn  der  Kon- 
servatismus ist  der  Jude  Joelsohn  und  ihre  Frömmigkeit  ist  der  Jude 
Josephsohn."  (Brunner  irrt:  Stahl  hieß  vor  seiner  Taufe  nicht  Joelsohn 
sondern  Schlesinger.) 

1)  Lassalle  war  sozusagen  der  leibliche  Vater  der  deutschen  Sozial- 
demokratie. Ihr  geistiger  Vater  war  Börne,  der  als  erster  in  Deutsch- 
land gegen  die  politische  Unfreiheit  in  Wort  und  Rede  auftrat.  Von 
ihm  stammt  der  Satz:  „Ehrfurcht  ist  die  Leibwache  der  Könige  gewesen, 
Furcht  war  es,  Gewohnheit  ist  es,  Liebe  wird  es  sein." 

233 


liftd  selbst  wenn  keine  Namen  klängen  und  keine  Taten 
sprächen  —  gibt  es  nicht  ein  Größeres  als  große  Taten? 
Größer  als  Großes  tun  ist  groß  zu  sein.  „Besser  ein 
Langmütiger",  heißt  es  in  den  Sprüchen  Salomonis,  „als 
ein  Held,  und  wer  sein  Gemüt  bezwingt,  ist  stärker  als  ein 
Städtebezwinger."  Ist  Moses  am  Sinai  nicht  größer  als  Achill 
am  skäischen  Tor?  Christus  in  der  Passion  nicht  größer  als 
Caesar  im  Triumphzug?  Kultur  erweist  sich  nicht 
durch  Taten,  die  sie  vollbringt,  sondern  durch  den 
Geist,  den  sie  gebiert  —  durch  ihr  Ethos.  Die  Sta- 
tuen des  Phidias,  die  Dialoge  des  Sokrates,  die  Dramen  Äschylos', 
die  Heldentaten  des  Miltiades  sind  ewig  verehrungswürdig. 
Jedoch  sie  lassen  uns  nicht  vergessen,  daß  der  Bildner  der 
Athene  von  seinen  neidischen  Zunftgenossen  verleumdet  und 
vom  feilen  Volk  gerichtet,  daß  Sokrates,  der  einzige  Ethiker 
seiner  Nation,  durch  den  Schierlingsbecher  umgebracht  und  daß 
Äschylos,  der  Schöpfer  der  Tragödie,  zum  Tode  durch  Steinigen 
verurteilt  wurde,  während  Marathons  Sieger  an  seinen  Wunden 
nicht  auf  dem  Schlachtfeld,  sondern  im  Schuldgefängnis  starb  — 
so  arm  war  diese  Zeit  an  Ethos. 

Die  Geschichte  Roms  ist  die  Geschichte  der  Zivilisierung  Euro- 
pas. Aber  sie  ist  zugleich  die  Geschichte  des  größtorganisierten 
und  längstandauernden  Verbrechens,  das  jemals  an  der  Mensch- 
heit begangen  wurde :  der  systematischen  Knechtung  aller  freien 
Völker,  um  sie  in  der  schäm-  und  schonungslosesten  Weise  aus- 
zubeuten für  Rom,  dieses  „Tier  mit  eisernen  Zähnen,  ehernen 
Klauen  und  steinernem  Herzen,  das  vieles  verzehrte  und  den 
Rest  mit  Füßen  trat".  Caesar,  der  nach  den  Angaben  des  Plu- 
tarch  in  Gallien  im  Laufe  seines  siebenjährigen  Feldzuges 
„800  Städte  einnahm,  300  Völker  unterjochte,  3  Millionen 
Krieger  besiegte,  von  denen  eine  Million  auf  den  Schlachtfeldern 
umkam,  und  eine  Million  als  Sklaven  nach  Itahen  geschleppt 
wurden",  Cäsar  hat  seine  Römerstraßen  wahrlich  nicht  gebaut, 
um  der  Kultur  zu  dienen,  damit  die  Töchter  des  Vercingetorix  spa- 
zieren gehen  oder  1000  Jahre  später  die  Kreuzfahrer  auf  ihnen 
ins  Gelobte  Land  hinabziehen  könnten,  sondern  um  seine  orga- 
nisierten Mörderscharen  mit  Waffen  und  Proviant  zu  weiteren 
Plünderungszügen  zu  versorgen  gegen  freie,  glückliche,  noch 
nicht  vom  Fluche  römischer  Kultur  berührte  Völker.  Er  för- 
derte die  Menschheit,  nicht  weil,  sondern  trotzdem  er  ein  Römer 
war!  Bewundernd  steht  man  vor  dem  majestätischen  Rondell 
des  Colosseums,   aber  die  Gigantik  des  Amphitheaters  vermag 

234 


nicht  die  Erinnerung  von  der  Stirn  zu  scheuchen,  daß  nicht  freie 
Hände  es  als  Werk  der  Freude  schufen,  sondern  daß  es  als  ein 
Seufzerbau  errichtet  wurde,  errichtet  werden  mußte  von 
Sklaven,  die  kein  anderes  Verbrechen  begangen  hatten,  als 
daß  sie  frei  und  nicht  die  Knechte  Roms  gewesen.  Auf 
<lieson  Blöcken,  halb  gemauert,  saßen  Kinder,  die  im  Weinen 
ihrer  Mütter  dachten,  denen  Roms  Begierde  sie  geraubt; 
über  den  Fliesen  dieser  Arena  loderten  in  Pech  und  Bast 
gebunden  die  Apostel  der  Liebe  als  lebende  Fackeln  zur 
Sonntagnachmittagsbelustigung    des    Pöbels    der   Cäsarenstadt 

—  Roms  Fanale! 

Nur  das  Motiv  adelt  die  Tat.  Kolumbus  ist  nicht  groß; 
denn  er  zog  nicht  aus  ein  Neuland  zu  entdecken,  sondern  für 
das  unersättliche  Spanien  einen  billigen  Schiffahrtsweg  zur 
.Vusbeutung  Indiens  aufzufinden.  Kann  er  dafür,  daß  er  auf 
den  Bahamas  landete?  Ein  Semmelweiß,  den  das  Mitleid  mit 
den  sterbenden  Müttern  und  Kindern  Wiens  dazu  trieb,  das 
Wochenfieber  zu  ergründen,  und  der  dann  Stellung  und  Ge- 
sundheit opferte,  um  seine  philanthropischen  Reformen  gegen 
eine  Fachwelt  durchzusetzen,  von  der  man  nicht  entscheiden 
kann,  ob  sie  dümmer  als  schlecht  oder  schlechter  als  dumm  war  — 
er  gilt  mehr.  Goethes  Schöpfungen  sind  durch  Schönheit,  Weis- 
heit und  Weite  der  Formen  und  Gedanken  ohnegleichen,  aber 
die  Hochgebirgswelt  des  Olympiers  ist  nur  selten  von  der  Sonne 
warmer  Menschlichkeit  durchstrahlt.  Was  Schiller  so  unver- 
gleichlich über  den  größeren  Dioskuren  hebt,  war,  wie  Goethe 
selbst  empfunden  — 

„Und  hinter  ihm  in  wesenlosem  Scheine 
Lag,  was  uns  alle  bindet,  das  Gemeine" 

—  das  war  das  Ethos,  das  diese  Feuerseele  vom  ersten  bis 
zum  letzten  Atemzug  durchglühte  und  ihn  durch  das  „Lied  an 
die  Freude",  durch  einen  Marquis  Posa  zum  Bannerträger  der 
ewigen  Menschheitsideale  werden  Heß.  In  echt  jüdischer  Welt- 
auffassung hat  auch  Heine  sein  ethisches  Streben  höher  gestellt 
als  seine  dichterischen  Leistungen.  „Ich  habe  nie  großen  Wert 
gelegt  auf  Dichterruhm,  ob  man  meine  Lieder  preist  oder  tadelt, 
das  kümmert  mich  wenig.  Aber  ein  Schwert  sollt  ihr  mir  auf 
den  Sarg  legen;  denn  ich  war  ein  braver  Soldat  im  Befreiungs- 
kriog  der  Menschheit." 

Der  Intellekt  hat  in  den  wissenschaftlichen  und  technischen 
Errungenschaften  des  19.  Jahrhunderts  seine  Triumphe  gefeiert; 

235 


aber  die  Moral  liegt  von  den  Rädern  der  Maschinen  zerstampft 
am  Boden.  Hinter  den  glanzvollen  Bildern  im  Buche  der  Technik 
grinsen  uns  die  hohlen  Mienen  der  hungernden  Weber  und  die 
hektischen  Wangen  der  sterbenden  Mimis  entgegen.  Dem  Guten 
und  dem  Genius  ist  keine  Stätte  zwischen  den  sausenden 
Riemen  bereitet.  Die  Schönheit  geht  als  Bettelmädchen  durch 
die  Gassen,  die  Muse  friert  in  kalter  Dachmansarde  und  das 
Große  — 

„Niemand  sieht  es, 
Niemand  hört  es  im  Geschrei, 
Mit  bescheidner  Trauer  zieht  es 
Still  vorbei." 

„Es  ist  herzzerreißend",  sagt  Hölderlin-Hyperion,  dieser 
,, Bürger  in  den  Regionen  der  Gerechtigkeit  und  Schönheit",  zu 
den  Deutschen,  „wenn  man  eure  Dichter  sieht!  Voll  Hoffnung 
wachsen  die  Musen  Jünglinge  heran!  Du  siehst  sie  sieben  Jahre 
später,  und  sie  wandeln  wie  Schatten  still  und  kalt;  es  ist  ein 
Verzweiflungskampf,  den  ihr  gestörter  schöner  Geist  mit  den 
Barbaren  kämpft."  Fast  alle,  die  das  Unglück  hatten,  groß 
zu  sein  in  einer  Welt,  in  der  groß  sein  Großes  leiden  heißt, 
kämpften  diesen  „Verzweiflungskampf  des  schönen  Geistes  mit 
den  Barbaren".  Deutsche  Dichter  sind  fast  alle  deutsche  Mär- 
tyrer gewesen.  Bürger,  Schöpfer  der  schönsten  deutschen 
Ballade,  „hatte  nichts  zu  essen,  als  was  ihm  seine  Freunde 
schickten".  Hebbel,  Deutschlands  tiefster  Tragiker,  fleht,  nach- 
dem er  bekannt :  „Ich  habe  seit  zwei  Monaten  noch  nicht  fünfmal 
warm  zu  Mittag  gegessen",  die  Menschheit  an  —  um  eine  Hose! 
Wie  ein  Verbrecher  wird  bei  Nacht  und  Nebel  Schiller,  der  den 
Proletariertod  gestorben,  in  eine  Modergrube  gesenkt.  Goethe, 
dem  die  Jahrhunderte  nichts  anhaben  werden,  muß  kapitulieren 
vor  dem  Zeitgeist:  er  räumt  nach  26 jähriger  Wirksamkeit  als 
Intendant  die  Bühne,  von  der  er  Tasso  und  Iphigenie  zum 
erstenmal  zur  Menschheit  sprechen  ließ,  vor  einem  —  dressierten 
Pudel.  Und  60  Jahre  später  prägt  Nietzsche  das  bitter-wahre 
Wort  von  ihm:  „Goethe  ist  in  der  Geschichte  der  Deutschen 
ein  Zwischenfall  ohne  Folgen."  Schubert,  zu  arm,  sich  ein 
Klavier  zu  mieten,  muß  seine  Bücher  verkaufen,  um  eine  Vor- 
stellung des  „Fidelio"  zu  besuchen,  und  Beethoven,  der  sich 
täglich  neu  „den  unglücklichen,  unglücklichsten  aller  Sterblichen" 
nennt,  erhält  für  die  Missa  solemnis,  22  Jahre  nach  dem  Er- 
scheinen seiner  ersten  Symphonie  7  —  sage  und  schreibe  sieben 

236 


Subskribenten.  Mozart  ist  in  einem  Massengrab  verschollen, 
weil  nicht  ein  Mensch,  auch  nicht  ein  einziger  dabei  stand, 
als  der  Totengräber  die  Leiche  dritter  Klasse  in  das  Sammel- 
feld der  Namenlosen  scharrte  —  nicht  ein  Kreuz  aus  Holz 
hatte  die  Menschheit  übrig  für  diesen  strahlendsten  Genius  des 
Jahrhunderts.  Aber  der  modegewaltige  Kapellmeister  zu  Hofe, 
Salieri,  durfte  offen  jubilieren:  „Es  ist  ein  Genie  gestorben, 
aber  seien  wir  froh,  daß  er  nicht  mehr  da  ist;  man  hätte  uns 
sonst  bald  für  unsere  Kompositionen  kein  Stück  Brot  mehr  ge- 
geben!" Und  im  strengeren  Schwesterreich  der  Forschung  ?  Robert 
Mayer  wird  ins  Irrenhaus  gesperrt,  weil  er  den  Fachgenossen 
zum  Trotz  als  Dilettant  ein  VVeltgesetz  gefunden.  Ein  Gräfe, 
dessen  Haus  der  Montsalvatsch  der  Blinden  war,  wird  von 
seinen  eigen-  und  eifersüchtigen  Zunftgenossen  bis  ans  Grab 
gehetzt.  Über  Schopenhauer  gibt  das  Ministerium  —  ein  Jahr- 
zehnt nach  dem  Erscheinen  seines  „Welt  als  Wille"!  —  die 
offizielle  Auskunft:  „Er  hat  keinen  Ruf  irgendeiner  Art,  weder 
als  Schriftsteller  noch  als  Lehrer",  und  es  hatte  recht;  dieser 
Klassiker  des  Gedankens  und  des  Stils  hatte  keinen  Ruf 
irgendeiner  Art;  seine  Werke  wurden  eingestampft  zu  Pack- 
papier für  Heringe  und  Kleister,  und  seine  „Parerga",  heute 
der  Labetrunk  aller  sich  Läuternden,  fanden  noch  32  Jahre 
später  keinen  Verleger;  und  indes  die  Säle  zu  klein  waren, 
die  Hegelschüler  zu  fassen,  fanden  vor  seinem  Pult  sich  nicht 
die  Drei,  die  das  Gesetz  für  ein  Kolleg  verlangt.  Und  ist's  bis 
heute  anders  worden  ?  Während  die  Ebers-  und  Marlittromane 
Deutschland  überschwemmen,  fragt  sich  Nietzsche,  der  wie 
Böcklin,  Wagner,  Feuerbach  in  freigewählter  Verbannung 
droben  in  der  Firnenwelt  über  Tag  und  Menschheit  lebt,  ob  er 
noch  in  deutscher  Sprache  schreiben  solle,  da  ihn  ja  in  deut- 
scher Sprache  niemand  lese.  1910  machte  der  bekannte  Päd- 
agoge Petzold  beim  preußischen  Kultusministerium  eine  Ein- 
gabe um  Streichung  einiger  Unterrichtsstunden,  damit  er  den 
zwölfjährigen  Otto  Braun  unterrichten  könne,  da  die  phäno- 
menalen Geistesanlagen  diesen  Knaben  so  hoch  über  das  all- 
gemeine Niveau  erhöben,  daß  kein  Schulunterricht  diesem 
Genie,  das  er  mit  Michelangelo  und  Dante  verglich,  genügen 
könne.  Auf  sein  ausfülirliches  Expose,  dem  er  Proben  von  der 
außerordentlichen  Leistungsfähigkeit  beilegte,  erhielt  er  die  Ant- 
wort: „Euer  Hochwohlgeboren  teilen  wir  hierdurch  mit,  daß  der 
Herr  Minister  uns  beauftragt  hat,  Sie  in  seinem  Namen  auf  Ihre  be- 
fremdliche Eingabe  vom . . .  entschieden  ablehnend  zu  bescheiden." 

237 


„Entschieden  ablehnend"  —  das  ist  der  typische  Besc^\cid, 
den  das  Genie  von  seiner  Zeit  erhält.  Aber  wenn  ein  Librettist 
aus  Schubertmelodien  ohne  Witz  und  Würde  ein  „Dreimäderl- 
haus"  zusammensintert  oder  der  Modekomödiant,  nachdem 
er  Romeo  und  Hamlet  gespielt,  für  einen  Sitten-,  i.  e.  Unsitten- 
film einen  Reißer  grimassiert,  überschütten  ihn  die  Göttinnen 
des  Tages  mit  dem  klingenden  Segen  der  Gunst.  Die  Kultur 
Europas  ist  keine  Kultur,  kann  es  nicht  sein,  denn  ihr  fehlt 
dazu  der  Urgrund  alles  Seins:  der  Wille.  Ihre  Räder  kreisen 
nicht,  um  das  Kulturgut,  sondern  um  das  Aktienkapital  zu 
mehren;  sie  gräbt  nach  Kohlen,  nicht  um  Frierende  zu  wär- 
men, sondern  um  die  Kuxe  zu  verdoppeln;  Höhe  der  Valuta 
gilt  ihr  mehr  als  Hoheit  der  Gesinnung.  Heere  dienen  ihr,  die 
„Interessensphären"  auszudehnen,  Kolonien,  nicht  um  niedere 
Völker  zu  beglücken,  sondern  um  Bananen  und  Senegal- 
neger zu  importieren  für  den  Bruderkampf  gegen  den  Welt- 
marktkonkurrenten. Sie  hat  das  heilig-freie  Du  sollst!  der 
Sinaiverkündigung  zum  despotischen  Du  mußt !  des  Militarismus 
und  Klerikalismus  degradiert.  Aus  dem  Evangelium  schuf  sie 
Index  und  Inquisition,  den  Sabbat  hat  sie  zum  Sonntagsrummel 
entweiht,  die  Kunst  zum  Galan  lerieartikel  des  Drei-Mark-Bazars 
prostituiert.  Bethlehem  ist  zur  Steel-Compagny  geworden,  die 
Granaten  fabriziert,  das  Gymnasion  zur  Berlitz  School,  der 
Musenstreit  zum  Taylorsystem.  Der  Segen  der  Arbeit  hat  sich 
verwandelt  in  den  Fluch  des  Amerikanismus.  Statt  nach  Ewig- 
keitswerten, Menschheitsaufstiee  und  Weltbeglückung  strebt  sie 
nach  den  Profanitäten  und  Profiten  des  Alltags.  Ihre  Thora  ist 
der  Kurszettel  und  ihr  Orakel  das  Renntelegramm  —  sie  ist 
keine   Kultur! 

Prächtig  schaut  das  Haus  Europens  aus  mit  seinem  gotischen 
Schnitzwerk,  seinen  Bildern,  Klassikern  und  kunstvollen 
Mechanismen;  aber  kalt  ist's  in  ihm,  die  Seele  friert,  denn 
seine  Herde  sind  leer,  ihnen  fehlt  die  wärmende  Glut  der 
Liebe.  „Und  wenn  ich  mit  Menschen-  und  mit  Engelszungen 
redete  und  hätte  der  Liebe  nicht,  so  wäre  ich  tönend  Erz  und 
klingende  Schelle  .  .  .  Und  wenn  ich  weissagen  könnte  und  wüßte 
alle  Geheimnisse  und  alle  Erkenntnisse  und  hätte  den  Glauben, 
ich  könnte  Berge  versetzen,  und  hätte  der  Liebe  nicht  —  so  wäre 
ich  nichts."  Liebe!  Erst  wenn  wir  mit  demselben  Eifer,  mit 
dem  wir  heute  trachten,  Kapitalisten  guter  Aktien  zu  sein, 
danach  streben  „Kapitalisten  guter  Instinkte"  zu  werden, 
wenn  unsere  Tagesdevise    nicht  mehr  lautet,  gut  zu   leben, 

23H 


sondern  gut  zu  werden,  wenn  wir  nach  Heines  Kulturideal 
„das  arme  glückenterbte  Volk  und  den  verhöhnten  Genius  und 
die  geschändete  Schönheit  wieder  in  ihre  Würde  einsetzen"  und 
so  in  einer  harmonischen  Vermählung  arischer 
Schöpferfreude  mit  semitischem  Sittlichkeits- 
willen einer  Weltanschauung  huldigen,  die  in  ebenbürtiger 
Pflege  Sinne  und  Sitte  kultiviert,  und  deren  hohes  Ziel  — 
gleichviel  ob  Utopie  oder  nicht,  so  doch  Ziel  —  das  ,, dritte 
Reich"  der  Geister  mit  den  messianischen  Erfüllungen  bildet, 
dann  erst  können  wir  uns  rühmen,  ein  Geschlecht  zu  sein, 
wert  des  großen  Erbes  der  Vergangenheit,  würdig  der  hehren 
Verheißung  der  Zukunft,  die  uns  die  Propheten  Judäas,  die 
Künstler  Griechenlands  und  die  Genien  des  Nordens  als  das 
einzige  Ziel  wahrer  Kultur  gewiesen. 


2m 


i\  A  G  li  W  0  K  T 


Die  erste  Auflage  des  vorliegenden  Buches  hat  mancherlei  Lob 
und  vielerlei  Tadel  erfahren.  Wissenschaftler  bemängelten, 
•daß  es  nicht  wissenschaftlich  genug  sei,  Laien,  daß  es  zu  wissen- 
schaftlich wäre,  Freigeister  haben  es  verketzert,  weil  Religion 
und  Bibel  zu  hoch  geachtet  würden,  die  Gläubigen,  weil  es  zu 
sehr  den  Geist  des  Freigeists  atme,  Sozialisten  lehnten  es  ab, 
weil  es  nationalistisch  sei,  Nationalisten,  weil  es  sozialistisch 
wäre.  Christen  waren  empört,  weil  es  das  Christentum  lästere, 
Juden  entsetzt,  weil  es  Christus  feiert .  .  .  Wer  vieles  bringt, 
wird  jedem  etwas  bringen  —  um  zu  tadeln.  Ich  muß  ge- 
stehen, daß  alle  recht  haben,  aber  ich  habe  weder  ein  wissen- 
schaftliches Werk  noch  eine  Populärschrift,  weder  ein  Ketzer- 
buch noch  eine  Missionarsbroschüre  verfassen  wollen,  mich 
weder  christologisch  noch  nationalistisch  noch  sozialistisch  ge- 
bärden wollen,  ich  habe  ein  Buch  schreiben  wollen,  wie  es  dieser 
Zeit,  Juden  wie  Christen  nottut,  und  habe,  ohne  mich  einer 
Partei  oder  Tendenz  zu  verschreiben,  mit  meinem  Herzblut  ge- 
schrieben und  hätte  als  Motto  über  das  Ganze  setzen  können: 

„Ich  bin  kein  ausgeklügelt  Buch  — 

Ich  bin  ein  Mensch  mit  seinem  Widerspruch." 

Nur  gegen  einen  Vorwurf  will  ich  mich  wehren:  daß  ich  ein 
jüdischer  Chauvinist,  ein  ,, jüdischer  Chamberlain"  sei.  Chau- 
vinismus besteht  in  der  Überschätzung  des  eigenen  und  Unter- 
schätzung des  fremden  Wesens.  Ich  mag  das  jüdische  Wesen 
überschätzen,  dieses  Urteil  ist  subjektiv  und  auf  Erfahrung, 
Weltanschauung  und  Charakteranlage  begründet.  So  wie  der 
■eine  die  Musik,  der  andere  die  Malerei  höher  schätzt,  so  be- 
wertet der  eine  Reflexion  und  Ethik,  der  andere  Produktion 
und  Ästhetik  höher.  Über  diese  Imponderabilien  läßt  sich  nicht 
streiten.  Aber  man  kann  mir  nicht  vorwerfen,  daß  ich  das 
Wesen  anderer  unterschätze.  Der  Chamberlain'sche  Chauvinis- 
mus, dessen  Bekämpfung  ja  die  Grundidee  des  Buches  ist,  liegt 
-darin,  daß  er  die  Germanen  zum  Zentralgestirn  im  System  der- 
Völker  erhebt  und  alle  anderen  Rassen  und  Kulturen  zu  Pla- 
neten und  Planetoiden  degradiert,  die  von  dieser  Germanen- 

240 


Sonne  ihr  befruchtendes  Licht  erhalten.  Er  baut  ein  germano- 
zentrisches  Völkersystem.  Ich  dagegen  vertrete  mit  einer  Deut- 
lichkeit und  Wiederholung,  die  doch  eigenthch  jedes  Mißver- 
ständnis ausschließen  müßte,  den  Satz  von  der  absoluten  Un- 
vergleichlichkeit und  folglich  absoluten  Eigenwertigkeit  aller 
Kulturen  und  Kulturvölker.  Ich  baue  doch  nicht  als  Spiegel- 
bild des  Chamberlain'schen  germano-zentrischen  ein  judäo- 
zentrisches  System,  sondern  gebrauche  das  Bild  eines  Gartens, 
in  dem  wie  Bäume  und  Sträucher  die  einzelnen  Völker  und 
Kulturen  unab wägbar  gegeneinander  als  Individualerscheinun- 
gen  stehen.  „Menschenrasse  ist  kein  Etikett,  kein  Adels-  und 
kein  Paria-Stempel  .  .  .  Rasse  heißt:  Was  haben  Schicksal  und 
Wille  aus  dir  geschaffen?"  (S.  17).  ,,Sind  wir  nicht  alle  Brüder 
von  Adam  her?"  (S.  17).  Das  Kapitel  Rasse  klingt  aus  in  dem 
Gedanken:  „Nicht  Höherentwicklung  ist  das  Ziel  des  Welt- 
geschehens, sondern  Vielgestaltigkeit,  nicht  Leistungsfähigkeit, 
sondern  Eigenart  ...  Zu  sein,  möglichst  viele  zu  sein  und  jeder- 
mann eigen,  das  ist  der  Sinn  .  .  ."  (S.  22).  Das  Kapitel  „Der 
Semit"  schließt  nicht  mit  einem  Chamberlain'schen  Hymnus 
auf  die  Weltleistungen  der  Semiten,  sondern  im  Gegenteil  mit 
einer  Satire  auf  die  Selbstberauschungsmethode  der  Politischen 
Anthropologie,  um  die  Sinnlosigkeit  jedes  Rassendünkels  zu 
glossieren.  Die  Spezialuntersuchungen  über  die  Kulturbefähi- 
gung der  Juden  gipfeln  in  den  Sätzen:  „Moses,  Christus,  Marx 
sind  drei  Repräsentanten  einer  spezifischen  Rasse,  der  durch 
die  Einzigartigkeit  ihrer  Begabung  wie  jedem  anderen 
Kulturvolk  eine  bestimmte  Mission  im  Dienst  der  Mensch- 
heit zufällt"  (S.  203).  „Die  hellenische  Kunst,  die  italienische 
Malerei,  die  deutsche  Musik,  der  jüdische  Prophetismus  —  ein- 
malig und  einzigartig  sind  sie"  (S.  209).  „Die  Worte  Hellas 
und  Rom,  Babel  und  Judäa,  Granada  und  Florenz,  Paris, 
Nürnberg  und  Weimar  erwecken  in  uns  spezifische  Empfin- 
dungen, sie  sind  unverrückbar,  unersetzlich"  (S.  210).  ,,Der 
Arier  wird  zum  Künstler,  Forscher  und  Eroberer,  der  Jude  zum 
Heiligen  und  Propheten"  (S.  210).  „Wie  die  Juden  Herz  und 
Seele,  haben  die  Griechen  Verstand  und  Sinne  aus  dem  Larven- 
schlaf des  Babylonismus  zu  beflügeltem  Dasein  erweckt"  (S.  215). 
„Genesis  und  Psalmen,  Hiob  und  Hohes  Lied,  Bergpredigt  und 
Apokalypse  sind  einzigartig;  die  Ilias  und  die  Antigone  nicht 
bedingt  und  unwiderruflich;  dieGioconda  und  der  CoUeoni  durch 
keine  Logik  zu  konstruieren.  Die  Missa  solemnis  und  der  Par- 
sifal,  Tasso  und  Zarathustra  sind  ohne  Vorbild  und  ohne  Wieder- 

16    Kahn,  Die  Judos  241 


kehr"  (S.  220).  Und  des  Ganzen  Schlußgedanke  lautet:  „Har- 
monische Vermählung  arischer  Schöpferfreude  mit  semitischem 
Sitthchkeitswillen",  „Hinstreben  zu  jenen  Verheißungen  der 
Zukunft,  die  uns  die  Propheten  Judäas,  die  Künstler  Griechen- 
lands und  die  Genien  des  Nordens  als  das  einzige  Ziel  wahrer 
Kultur  gewiesen" ist  das  Chauvinismus?  Sätze  wie  Welt- 
manns: „Von  den  Mongolen  haben  nur  einige  die  untere  Stufe 
der  Kultur  erreicht"  oder  Chamberlains  „die  wahre  Geschichte 
beginnt  in  dem  Augenblick,  wo  der  Germane  das  Erbe  des 
Altertums  ergreift.    China,   Indien,   Babylon,   Judäa,   Persien» 

Griechenland  und  Rom  sind  für  uns  Prolegomena"  — 

solche  Grundgedanken  des  Chauvinismus  würden  in  meine  Aus- 
führungen hineinpassen  wie  Maschinengewehre  auf  die  Redner- 
pulte eines  Friedenskongresses.  Gerechtigkeit  will  ich,  Gleich- 
berechtigung! Ich  will  das  jüdische  Aschenbrödel,  dieses  Kind, 
das  so  gut  aus  adligem  Geblüt  ist  wie  die  anderen  Kulturnationen 
der  Antike  und  Moderne,  aus  seiner  Küchenverbannung  hinauf- 
führen in  den  Festsaal  der  Prinzen  und  Prinzeßchen,  wo  es  die 
Krone  der  Religion  so  stolz  und  strahlend  auf  seiner  Stirne 
tragen  darf  wie  die  anderen  ihre  Diademe  der  Kunst  und  der 
Musik,  der  Technik  und  der  Wissenschaft.  Ich  kämpfe  gegen 
eine  Welt  böswilliger  Verleumder  und  irregeführter  Massen  für 
eine  wissenschaftliche  Rehabilitation,  so  wie  (si  licet  parva 
maioribus  comparare)  Zola  seinerzeit  für  die  Rehabilitation  des 
ungerecht  vom  Antisemitismus  auf  die  Teufelsinsel  verbannten 
Dreyfuß  —  ein  Symbol!  —  gekämpft  hat  und  keine  Ruhe  ließ, 
bis  dieses  Justizverbrechen  gesühnt  war.  Und  wenn  ich  in 
diesem  Kampf  vielleicht  hie  und  da  allzu  emphatisch  für  den 
Angeklagten  eintrete,  so  halte  man  dies  der  Leidenschaftlich- 
keit zugute,  mit  der  man  für  eine  gerechte  Sache  kämpfen  muß, 
um  sie  zum  Siege  zu  führen. 

Wenn  ich  bisweilen,  wie  mir  mehrfach  vorgeworfen  wurde, 
mit  einer  gewissen  ironischen  Überlegenheit  über  deutsche 
Kulturerscheinungen  rede,  so  geschieht  es  in  einem  Abwehr- 
reflex zu  der  maßlosen  Selbstüberhebung  der  Germanentheore- 
tiker und  in  Kritik  der  platt-alltäglichen  Überschätzung  des 
Zivilisatorischen  gegenüber  dem  Kulturellen,  des  Handgreiflichen 
gegenüber  dem  unvergleichlich  wichtigeren  Immanenten.  Mit 
keiner  Silbe  aber  werden  die  wahren  Kulturleistungen  des  Arier- 
tums,  wird  die  Majestät  der  arischen  Geister  von  Welt-  und 
Ewigkeitsrang  angetastet.  Sie  sind  mir,  eben  weil  sie  unersetz- 
lich und  inkommensurabel  sind,  gleichwert  jedem  antiken  und 

242 


jedem  orientalischen  Genie.  Wenn  ich  heute  mit  einem  Buch 
auf  eine  Insel  verbannt  würde,  wüßte  ich  nicht,  ob  ich  die  Bibel 
oder  Shakespeares  Dramen,  Goethe  oder  Schopenhauer  wählen 
sollte.  Verachtet  wird  von  mir  nur  der  heute  so  populäre 
Dünkel  der  Völker,  die  sich  für  groß  halten,  weil  sie  große 
Geister  besessen  und  daraus  das  Recht  herleiten  klein  zu  sein, 
statt  die  Pflicht  zu  empfinden,  ihnen  nachzueifern. 

Man  hat  mir  unter  dem  Stichwort  Chauvinismus  ferner  ent- 
gegengehalten, daß  ich  ,,den  Juden"  idealisiere,  und  auf  „die 
Juden"  hingewiesen.  Aber  es  lag  ja  nicht  in  meinem  Plan, 
ein  Charakterbild  des  Juden,  sondern  des  „ewigen  Juden", 
dessen,  was  ewig  am  Juden  ist,  zu  entwerfen,  so  wie  ich  ja  auch 
ausdrücklich  (S.  182/183)  nicht  von  den  Athenern,  sondern  von 
Athen,  nicht  von  Ostelbien,  sondern  von  Nürnberg  und  Weimar, 
nicht  von  den  Deutschen,  sondern  von  den  unsterblichen 
Deutschen  rede.  „Wie  an  Rom  und  Hellas,  wie  an  Leonardo 
und  Goethe,  so  richten  wir  an  Israel  die  vor  dem  Forum  der 
Geschichte  einzig  berechtigte  Frage:  Was  war  der  Sinn  deines 
Daseins?  Was  von  deinem  Wesen  lebt  im  Geist  der  Mensch- 
heit wirkend  weiter?  In  welchen  Männern,  welchen  Taten  hat 
sich  das  Ewige  in  dir  manifestiert  ?"  Der  Historiker,  der  künftig 
die  Geschichte  des  letzten  Krieges  schreibt,  wird  von  Hinden- 
burg,  von  den  Helden  der  ,, Emden",  den  Fliegern  und  den 
U-Boot-Männern  sprechen.  Er  wird  nichts  von  den  aktiven 
Stabsärzten  in  den  Etappenbüros,  den  Proviantmeistern  mit 
den  Eisernen  Kreuzen,  den  bayrischen  Malzschiebern  und  den 
allerhöchst  fürstlichen  Kapitalsverschleppern  berichten.  Die 
Zeitgenossen  sind  allezeit  und  überall  dieselben,  sie  sind  nicht 
typisch  für  ein  Volk,  sie  sind  bei  Juden  wie  bei  Germanen,  in 
der  Antike  wie  in  der  Moderne  einander,  wenn  auch  nicht 
gleich,  so  doch  brüderlich  verwandt  im  Sinne  des  Heine'schen 
Verses: 

„Niemals  habt  ihr  mich  verstanden. 
Niemals  auch  verstand  ich  euch. 
Nur  wenn  wir  im  Kot  uns  fanden, 
Da  verstanden  wir  uns  gleich." 

Wie  galten  ehedem  im  alten  Deutschland  Gewinnsucht  und 
Schiebertum,  Putz  und  Völlerei  für  typisch  jüdisch  und  wie 
sind  diese  „spezifisch  jüdischen"  Eigenschaften  im  Laufe  des 
Krieges  in  den  weitesten  Kreisen  des  kriegsgewinnlerischen 
Deutschland    epidemisch    und   endemisch  geworden!    Wie  die 

lö*  243 


tierische  Natur  sind  auch  die  tierischen  Triebe  allen  Menschen 
gemein,  nur  in  Geist,  Gesinnung,  Größe  zeigen  und  scheiden 
sich  die  Charaktere. 


iLinen  dritten  Ausdruck  des  Chauvinismus  hat  man  in  der 
These  von  der  Einzigartigkeit  der  jüdischen  Kulturleistungen 
erblicken  wollen.  Aber  in  dem  Satz  von  der  Einzigartigkeit 
einer  Erscheinung  liegt  doch  kein  Werturteil.  Auch  die  Pyg- 
mäen Afrikas  sind  einzigartig.  Hierin  liegt  doch  lediglich  das 
Bekenntnis  zu  einer  wissenschaftlichen  Anschauungsform,  Und 
ich  mag  zwanzigmal  in  mich  gehen  und  zwanzigmal  um  mich 
sehen:  wie  bei  den  Römern  der  Feldherr,  bei  den  Griechen  der 
Künstler,  in  der  Renaissance  der  Maler,  in  Deutschland  der 
Musiker,  so  ist  in  Judäa  der  Prophet  mit  seinem  Gerechtig- 
keitszorn und  Erlöserwillon  erstanden  —  eine  für  diese  Nation 
typische  und  in  der  Weltgeschichte  einzigartige  Erscheinung. 
So  wie  nirgends  wieder  trotz  tausendfach  reicherer  Tätigkeit 
die  griechischen  Plastiker  überboten  oder  auch  nur  erreicht 
worden  sind,  nirgends  in  der  Moderne  die  italienischen  Meister 
oder  gotischen  Bauherrn  übertroffen  wurden,  nirgendwo  in  der 
Welt  die  deutschen  Komponisten  ihresgleichen  haben,  so  haben 
die  jüdischen  Propheten  trotz  hundertfacher  Kopien  nur 
schwächliche  Epigonen  gefunden. 

Und  wenn,  wie  man  mir  weiter  entgegengehalten  hat,  Moses 
nur  Mythos  wäre  und  Christus  die  Schöpfung  der  Evangelisten, 
wenn  in  diesem  Sinne  auch  Siegfried,  Karl  der  Große  und 
Barbarossa  nicht  Schöpfer,  sondern  Geschöpfe  ihres  Volkes 
gewesen  wären  —  nun,  wenn  das  Volk  sie  nicht  geboren,  so 
hat  das  Volk  sie  sich  geschaffen,  in  seinem  Ebenbilde,  nach 
seinem  Rassenideal  sich  geschaffen,  und  dann  wären  sie  erst' 
recht  und  nun  in  höchstem  Grado  Personifikationen  der  Rassen- 
eigentümlichkeit, Inkarnationen  einer  ganz  spezifischen  Rassen- 
veranlagung, sich  seine  Helden  zu  denken.  Ob  sie  in  dem  Sinne 
wie  die  Geschichte  berichtet,  lebten  oder  nicht:  Rom  gebar 
oder  schuf  sich  die  Reihe  strenger  Könige,  Republikaner,  Prä- 
toren und  Cäsaren,  in  Germaniens  Walhall  strahlen  als  Gestalten 
eines  vom  römischen  grundverschiedenen  Typs  Siegfried,  Ro- 
land, Dietrich  von  Bern,  Karl  der  Große,  Barbarossa,  Friedrich 
derXjroße  (in  diesem  letzten  scheint  die  Heroenkurve  aus  dem 
rein  Militaristischen  ins  Ethische  einzubiegen,  man  denke  an 
Worte  wie  „Ich  bin  der  erste  Diener  meines  Staates",  „Wenn 

244 


einer  meiner  Kerle  denken  würde,  so  würde  er  mich  totschießen" 
usw.).  Israel  umgibt  das  Haupt  seiner  Helden,  auch  wenn  sie 
streitbar  waren,  mit  dem  Heiligenschein  des  Prophetismus, 
seine  Heroen  sind  Abraham,  der,  wenn  er  mit  seinen  Knechten 
vom  Kriegszug  heimkehrt,  Altäre  baut,  Moses,  der  nach  der 
Schlacht  mit  seinem  Gotte  Zwiegespräch  hält  und  vom  Berg- 
thron seines  Ruhmes  die  Heiligen  Tafeln  hinabreicht  —  wann 
ward  je  ein  Armeebefehl  diesesgleichen  erlassen  ?  — ,  David,  der 
neben  seinem  Heldenleben  mit  allen  Tugenden  und  Lastern  des 
Söldnerkönigs  Psalmen  singt  und  Zion  errichtet,  Salomo,  der 
Weisheit  spricht  und  den  Tempel  baut,  und  schließlich,  nach- 
dem die  jugendlich  militärische  Epoche  überwunden  ist,  die 
lange  Reihe  der  pazifistischen  Nationalhelden  von  Arnos  bis  Jo- 
hannes. 

Keine  These  hat  soviel  Widerspruch  erfahren  wie  die  An- 
reihung von  Marx  an  Moses  und  Christus.  Ich  begreife  diesen 
Widerspruch  durchaus,  war  auf  ihn  gefaßt  und  billige  ihn  sogar. 
Wer  aber  in  einem  Buch  eine  bestimmte  Überzeugung  zum  Aus- 
druck bringen  will,  muß  sich  auf  eine  Formel  festlegen,  will  er 
nicht  im  Uferlosen  zerflattern.  So  hat  sich  Schopenhauer  auf 
die  Formel  vom  Willen  und  Nietzsche  auf  die  Formel  vom  Über- 
menschen festgelegt,  so  hat  Spengler  sich  in  seinem  großen  Werk 
auf  ganz  bestimmte  —  anfechtbare,  aber  doch  in  gewissem  Um- 
fang wahre  —  Formeln  einstellen  müssen,  so  hat  Brunner  die 
Formel  Moses,  Christus,  Spinoza  gewählt,  um  die  Idee  des  Mono- 
theismus zu  verfolgen.  Solch  eine  Formel  ist  die  Schwäche  eines 
Buches,  aber  auch  seine  Stärke.  Nur  weil  der  Mensch  eine  feste 
Wirbelsäule  hat,  kann  er  aufrecht  stehen,  ein,  wie  alle  Fach- 
männer wissen,  mit  sehr  viel  Nachteilen  verbundener  Vorzug. 
Ich  habe  auf  diese  mir  selbst  durchaus  bewußte  Schwäche  schon 
selber  in  der  großen  Anmerkung  zu  Christus  (S.  198)  hingewiesen, 
dadurch  aber  bei  meinen  Kritikern  keine  Gnade  gefunden,  und 
wiederhole  darum  noch  einmal:  Marx  wird  nicht  aus  irgend- 
welcher parteipolitischer  Überschätzung  oder  subjektiver  Vor- 
liebe gewählt,  sondern  weil  er  der  erste,  der  populärste  und  in 
seinen  Folgen  für  die  Geschichte  bedeutendste  Repräsentant 
jenes  jüdischen  Typus  in  der  Moderne  geworden  ist,  den  ich  als  den 
spezifisch  jüdischen  und  für  die  zukünftige  Entwicklung  des 
Menschengeschlechts  wichtigsten  ansehe.  In  Marx,  so  scheint  mir, 
tritt  der  jüdische  Genius,  nachdem  er  mehr  als  tausend  Jahre 
im  Ghetto  eingesperrt  war,  wieder  auf  den  Plan  der  Welt- 
geschichte, um  die  große  jüdische  Idee  des  Prophetismus,  die 

245 


Idee  der  Welterlösung  durch  soziale  Gerechtigkeit  wieder  auf- 
zunehmen. Nachdem  über  die  Pfade,  die  Moses  und  Christus 
der  Menschheit  angebahnt,  das  zweitausendjährige  Dorngestrüpp 
der  Versklavung  und  Entrechtung,  das  Distelgewirr  des  Hasses 
und  der  Zwietracht  gewuchert  sind,  bahnt  Marx  von  neuem 
mit  dem  Schwert  der  Gerechtigkeit  der  Menschheit  den  Weg  in 
jene  Zukunft,  die  Moses  der  Menschheit  am  Ende  dieses  Weges 
als  „Land  der  Verheißung"  gewiesen.  Darum  besitze  ich  auch 
den  —  ich  weiß  es  wohl  —  gefährlichen  Mut,  an  Marx  die  jüdi- 
schen Revolutionäre  der  engeren  Zeitgeschichte  anzureihen,  so- 
weit ihr  Handeln  rein  ethischen,  prophetischen  Motiven  ent- 
springt —  —  —  nicht  aus  Überschätzung  oder  poütischer 
Gefolgschaft  oder  bläßlichem  Romantizismus,  sondern  einzig, 
weil  ich  in  ihnen  die  spezifisch  jüdische  Art  der  Weltauffassung 
und  der  geschichtlichen  Aktivität  erblicke,  weil  sie  sich  in  ihren 
Motiven,  ihren  Mitteln  und  ilu-en  Zielen  —  nur  in  anderem  Zeit- 
gewand —  an  die  Propheten  anschließen,  weil  auch  sie  die 
Menschheit  die  Straße  der  Gerechtigkeit  führen  wollen,  deren 
Meilensteine  das  Erbarmen  und  die  Friedfertigkeit  sind,  und  als 
deren  Ziel  von  fern  der  goldene  Garten  messianischer  Glücks- 
erfüllung leuchtet.  Ich  fühle  mich  zu  diesem  Mut  berechtigt,  weil 
ich  keine  Zeitgeschichte  schreibe  und  keine  Werturteile  fälle,  son- 
dern eine  Typologie  des  jüdischen  Charakters  sub  specie  aeterni- 
tatis  aufzustellen  suche,  ein  Typenbild  entwerfe,  das  in  seinem 
Weltgeschichtsflug  aus  der  Vogelperspektive  über  alles  Tages- 
geschichtliche, Politische  und  Provinziale  hinwegsieht. 

Glauben  meine  Kritiker  ernsthaft,  mir  etwas  Neues  zu  sagen, 
wenn  sie  mir  vorhalten,  daß  Marx  getauft  war  und  eine  Schrift 
gegen  die  Juden  geschrieben  hat  ?  Diese  Tatsache  ist  in  diesem 
Zusammenhang  so  belanglos  wie  das  Mißverhältnis  zwischen 
Spinoza  und  den  Juden  seiner  Zeit.  Oder  ist  Heine  nicht  der 
Typus  eines  Juden,  weil  er  getauft  war  und  über  das  Judentum 
Witze  machte?  Für  den  Juden  von  1840  ist  es  vielleicht  cha- 
rakteristischer, daß  er  sich  taufen  ließ  und  antisemitisch  gebär- 
dete,  als  das  Gegenteil.  Und  wie  sollte  Marx,  der  Begründer  des 
Sozialismus,  gut  auf  die  Juden  zu  sprechen  sein,  die  in  ihren  — 

für  die  Zeit-,  nicht  Weltgeschichte ! prominentesten 

Vertretern  die  Häupter  des  Kapitalismus  waren?  Marx  steht  zur 
zeitgenössischen  Judenheit  Westeuropas  in  etwa  demselben  Ver- 
hältnis wie  Moses  zu  den  Goldenen-Kalb-Anbetern,  wie  Christus 
zu  den  jüdisch-römischen  Finanziers  Jerusalems,  wie  Spinoza 
zu  den  Rabbinern  Amsterdams.   In  ihnen  allen  kämpft  der  Geist 

246 


des  Judentums  gegen  den  Geist  der  zeitgenössischen  Judenheit, 
der. ewige  Geist  einer  hehren  Geschichtsauffassung  gegen  den 
un-hehren  Un-Geist  eines  bekämpfungswürdigen  Tages. 

Schließhch  ist  mir  vorgehalten  worden,  man  hätte  gar  nicht 
auf  Chamberlains  Rassentheorie  eingehen,  sondern  diese  ganze 
Art  der  Geschichtsauffassung  ablehnen  sollen  —  aber  wie  kann 
ein  Angeklagter  sich  vor  seinem  Gerichtshof,  und  das  ist  in 
diesem  Fall  doch  der  gesamte  europäische  und  neuerdings  auch 
amerikanische  Rassenantisemitismus  —  anders,  rechtfertigen 
als  durch  Entkräftigung  jener  Indizien,  die  man  ihm  vorhält? 
Kann  man  sich  vor  einem  Revolverhelden  schützen,  indem  man 
Psalmen  singt?  Ob  man  dem  Faktor  Rasse  eine  Bedeutung 
beilegt  oder  nicht  —  die  Welt  kämpft  mit  dieser  Waffe 
gegen  uns,  und  daher  müssen  wir  Hieb  für  Hieb  parieren,  und 
schaden  kann  doch  eine  rassentheoretische  Behandlung  des 
Themas  zur  Klärung  der  Frage  keinesfalls.  Wer  sich  unbefriedigt 
fühlt,  mag  das  vorliegende  Buch  wenigstens  als  negativen  Teil, 
als  den  Waffengang  mit  der  Rassentheorie  hinnehmen  und  sich 
gerade  durch  diese  vermeintliche  Unzulänglichkeit  veranlaßt 
fühlen,  nun  nach  seiner  Geschichtsauffassung  der  Welt  zu  be- 
weisen, daß  auch  ohne  Rassentheorie  der  Anspruch  der  Juden 
auf  Gleichachtung  mit  den  Kulturvölkern  der  Antike  und 
Moderne  gerechtfertigt  ist. 


KARTE      1 


Die     Völkerwanderungen     in     Vorderasien 


KARTE      II 


Vorderasien 


NAMENVERZEICHNIS 


Abderrahman  Sufi  108. 
Abdichiba  130. 
Abimelech  133,  136. 
Abraliam  121,  122.  123.  ]24. 

170.  174,  245. 
Achill  2?,4. 

Adalbert  v.  Prag  158. 
Aggassiz  228. 
Ahab  136. 
Akiba  170. 
Al-Bucasis  108. 
d'Alembert  223. 
Alexander  148,  184. 
AI-Farabi  110. 
Al-Hazen  108. 
Al-Kindi  110. 
Al-Maimon  108. 
Altdorfer  52. 
Altenberg  226. 
Ambrosiiis,  hl.  57. 
Ammon  30,  09. 
Arnos  199,  209. 
Amraphel  121. 
Aphrodite  148. 
Apiou  152. 
Äscliyluß  234. 
Aquila  von  Pontus  153. 
Aristobul  154. 
Aren  228. 
Arons  227. 
Auerbach  226. 
Augustin,  hl.  191. 
Avicenna  108. 

Biib  232. 

Bach  174.  224,  225. 

Bneyer  228. 

BaUin  228. 

Bamberger  233. 

Barbarossa  244. 

Becker  228. 

Beddoe  66. 

Beer-Hofmann  226. 

Beethoven  43,  57,  .58,  61,  71, 

78,  174,  224,  225,  236. 
Bei  89,  214. 
Bellermann  222. 
Belsazar  169. 
Benfey  23. 
Ben  Musa  108. 
Berg  227. 
Berliner  227. 
Bethmann-HoUweg  38. 
Bethina  v.  Arnim  79. 
Beturia  Paulina  153. 
Bielschowski  226. 
Bilka  124. 
Biflmarck  174,  198,  199,  226, 

230. 
Bizet  225. 
Blüher  216. 
Blum  198. 
B()cklin  224,  237. 
Bohl  99. 

Börne  199,  230,  233. 
Botticelli  52. 
Boucher  52. 
Brahms  61,  64,  225. 
Brandes  95. 
Braun  237. 


Brod  226. 
Brüll  225. 
Brunner  8,  33,  97,  172,  190, 

199,  233,   245. 
Brutus  199. 
Büchner  108. 
Buckles  198. 
Buddha  118,  219. 
Bulan  157. 
Bülow  229. 
Burchardt  231. 
Burckhardt  218. 
Bürger  236. 

Cal6  226. 

Cantor  230. 

Cäsar  55,  182,  187,  231,  232. 

Cervantes  55,  58,  210. 

Chamberlain  15,  27,  28,  30, 
32,  34ff.,  46,  57ff.,  65, 
66,  72,  75,  76,  80,  87,  88, 
96ff.,  101,  112,  114,  115, 
119,  132,  142,  172,  174, 
175,  182,  183,  188ff.,  196, 
210,  221,  226,  228,  229, 
240,  242,  246. 

Chenoch  119. 

Christus  65,  76,  86.  117  ff., 
170,  174,  187 ff..  198ff.  bis 
212,   222,   234,  240,  244ff. 

Cicero  153. 

Cimabue  HO. 

Clay  98. 

Cohen  230. 

Cornill  176. 

Correggio  52. 

Cortez  29. 

Cröniieux  232. 

Cyrus  117,  118,  143,  146. 

Czörnig  159. 

Daniel  169. 

Dante  31,  55,  57,  58,  61,  210 

David  55,   56,   74ff.,   133ff., 

139,  142,  189,  245. 
Davidsohn  227. 
Davidsohn  229. 
Darwin  52,  198. 
Deborah  132,  169. 
Dehmel  125. 
Delitzsch    93,    94,    98,    105, 

135,  173,  179. 
Diderot  223. 
Dietrich  von  Bern  244. 
Disraeli  232. 
Dohm  229. 
Domitian  153. 
Draper  107. 
Dreyfuss  242. 
Driesmans  31,  47,  59,  112. 
Dumas  227. 
Dühring    32,    58,    175,    226, 

229,  230. 
Dürer  31,  62,  186. 

Ebers  227. 
Ehrlich  228,  229. 
Eichendorff  224. 
Einstein  229,  230. 
Eisner  198,  199,  204. 
Emerson  223. 


Emin  Pascha  231. 
Empedokles  199. 
Esau  124. 
Esra  146. 
Esther  169. 
Eybenberg  230. 
Ezechiel  134,  211. 

Faraday  228. 

Ferrer  198. 

Feuerbach  61,  237 

Finot  23,  46,  49. 

Firdusi  55. 

Fishberg  5,  6,  158,  159. 

Flavius  Josephiis  152,  154. 

Fliess  229. 

Fontane  230. 

Fouillet  46. 

Fragonard  52. 

Frank  228. 

Franzos  226. 

Frauenstädt  230. 

Freud  229. 

Freund  226. 

Friedrich  G.  187. 

Friedrich  d.  Gr.  61,  64,  17, 

244. 
Fulda  226. 

GalUei  31,  198,  202. 

Qamaliel  150. 

Gambetta  232. 

Geiger  Laz.  23. 

Geiger,  Ludw.  226. 

George  Henry  184. 

Giesebrecht  47. 

Gilead  136. 

Giordano  Bruno  198. 

Glaser  232. 

Gobineau  23,  27,  28,  33,  111. 

Goethe  31,  52,  57  ff.,  71,  78, 
171,  173,  174,  182,  183, 
186,  196,  199,  205,  210, 
211,  212,  222.  224,  225, 
226,  230,  233,  235,  236, 243. 

Goldmark  225. 

Goliath  119. 

Gottfried  v.  Bouillon  135. 

Gottschal   227. 

Graefe  237. 

Graetz  151. 

Graut  Allan  46. 

Grünewald  52. 

Gudea  98. 

Gundolf  226. 

Haase  198. 

Habakuk  138. 

Haber  228. 

Hadrian  143. 

Haeckel  52,  119,  182. 

Hafis  55. 

Hagar  123,  124. 

Halevy  89,  225. 

Hammurabi    56,    92ff.,    99, 

104,  121  ff.,  184ff. 
Hanatoux  33. 
Händel  174,  185,  225. 
Hans  Sachs  211. 
Harden  230. 


250 


Hartmami  23. 

Harun  al  Raschid  222. 

Hauser  28ff.,   34,   54ff.,   60, 

64,  69  ff.,  99,  172. 
Haydn  225. 
Hebbel  211,  286. 
Heine  38,  76,  225,  220,  235, 

239,  243,  246. 
Heraklit  199. 
Herder  183. 
Hermann  226. 
Herodes  154,  221. 
Herodot  101. 
Herrmann,  H.  59. 
Hertz,  Friedr.  6,  7,  06,  142, 

228 
Hertz,  Helnr.  228. 
Hertzberg  100. 
Herz,  Henriette  280. 
Heyermanns  226. 
Heyse  227. 
Hillel  192. 

Hiob  169,  189,  2U.  220. 
Hirschfeld  226. 
Hofmannstal  226. 
Holbein  52. 
Hölderlin  236. 
Holländer  226. 
Holz  224. 

Homer  187,  210,  214. 
Hommel  101. 
Horaz  153,  220. 
Hosea  142,  209. 
Humboldt  52. 
Huß  19S. 
Huxley  23,  67. 
Hyrkan  154. 

Ibn  Juni»  108. 

Ibsen  119,  211. 

Ignatius  v.  Loyola  59,  60. 

Ikow  65. 

Tsebel  136. 

Ismael  124. 

Israel  127  ff. 

Israels  226. 

Istar  118,   148. 

Jacobe  66. 

Jacoby  227. 

Jakob  124,  128.  174. 

.Tanchamu  125. 

Jaurös  198. 

Jephta  136. 

Jeremias  148.  197,  204,  209. 

Jertibaal  136. 

Jesaja    138,    189,    190,    197, 

199,  211. 
Jethro  128. 
Joachim  225. 
Johannes  169,  170,  209. 
Jona  169,  211. 
Jonathan  139. 
Joseph  125  ff. 
Josua  121,  132,  ISS. 
Judith  169. 
Judt  5,  6,  66. 
Juvenal  153. 

Kadmofl  214. 

Kandinski  226. 

Kant  31,  43,  58,  61,  64,  78, 
171,  174,  186.  191,  202, 
210,  222,  225,  230,  233. 

Karl  d.  Gr.  195,  244. 

Kepler  202. 

Kinkel  198. 


Kittel  07.  '  i 

Kleist  203,  230. 

Kollmann  202,  209. 

Kolumbus  29,  231,  235. 

Kompert  226. 

Korngold  225. 

Kopemicki  66,  159. 

Kopernikus  202. 

Kranach  52. 

Krause  59. 

Kung-fu-tse  170. 

Laban  124. 

Lagarde  217. 

Landauer  198,  199,  204ff. 

Lao-tse  170. 

Lasker  233. 

Lasker-Schüler  226. 

LassaUe  199,  203.  283. 

Latham  23. 

Leah  124. 

Leibniz  59,  174. 

Leonardo  da  Vinci  51,   173, 

182,  183,  215. 
Leasing  58,  211. 
Levin6  198,  204ff. 
Levy  229. 
Lewea  230. 
Liebermanu,  31.  226. 
Liebermann  228. 
Liebknecht  198. 
Lissauer  226. 
Liszt  229. 
Livingstone  202. 
Loeb  228. 
Lord  Headly  96. 
Lord  Kelvin  52. 
Lorm  226. 
Ludwig  226,  280. 
V.  Luschaa  17,   25,  97,   101, 

102. 
Luther  31,   67,    172,    194ff., 

196,  198. 
Luxemburg  198,  204,  206  ff. 
Luzzatti  232. 

Mahlcr  225. 

Majer  66,  169. 

Makka  136. 

Malzan  67. 

Marcus  227. 

Marduk  121,   148,    175,   178, 

181. 
Maröes  227. 
Maria  148. 
Marro  66. 
Marx  198  ff.,  211,   232,   246, 

246. 
Matiegka  72. 
Mauthner  226. 
Maxwell  228. 
Mayer  228,  237. 
Mendds  227. 

Mendelssohn,  Mosea  230. 
Mendelssohn  22."). 
aienschikow  33. 
Menzel  43,  61,  64. 
Merneptah  126. 
Meyer,  Ed.  88,  97,  98,  148. 
Meyer,  R.  M.  226.  230. 
Meyer,  Schwestern  230. 
Meyerbeer  225. 
Michelangelo    31,    67,     110, 

184,  215. 
Mirabeau  199. 
Mohammed  118,  199. 
Moleschott  215. 
MöUer  V.  d.  Brück  102. 


Mombert  226. 
Mommsen  149. 
Moore  217. 
Mortillet  72. 
Moscheies  225. 
Moses  95,  117,  118,  126,  128, 
170,  174,   183ff.,  190,  191, 

198,  200,    211,    217,    234, 
244  ff. 

Mozart    61,    174,    186,    199, 

203,  225,  237. 
Müller,  M.  23,  25. 

Nansen  227. 

Napoleon  57,  69.   I6i. 

Naram-Sin  86,  88,  91. 

Nebukadnezar  107,  140. 

Nehemia  139. 

Neumann  229. 

Newton  52. 

Nicolaus  V.  Damascas  122. 

Nietzsche  49,  174,  196,  197, 

199,  212,    213,    233,    236, 
237,  245. 

Nimrod  87. 
Nordau  226. 

Oedipus  116,  118. 
Offenbach  225. 
Orelli  67. 
Ottolenghi  66,  232. 

Pascal  199. 

Paulus  201,  209,  211. 

Pechstein  226. 

Penka  23. 

Petnus  170,  201,  209,  211. 

Petzold  237. 

Pharao  125,  126. 

Phidias  189,  234. 

Philo  192. 

Pictet  23. 
,    Pissarro  226. 

Plato  168,  171,  182,  189,  210, 
219. 
j    Poe  223. 

Pontoppidan  227. 

Popper-Lynkeus  227. 

Porges  229. 

Pösche  23. 

Poussin  52. 

Preuß  233. 

Radioff  67. 

ftaffael  31,  52,  67,  61,  173, 

203,  215. 
Rahel  124. 
Ramses  127. 
Ranke  62. 
Rathenau  228. 
Reccared  150. 
Reiuach  151. 
Rembrandt  31,  34,  52. 
Renan  32,  33,  46.  188,  211, 

212.  232. 
Riebet  213,  217. 
Riemer  230. 
Rodenberg  226. 
Rodin  224. 
Roland  244. 
Rubens  31,  62. 
Rubinstein  226. 
Ruth  136,  169. 

Saint-Sagns  227. 
Salieri  237. 
Salmanassar  106. 
Salome  154,  221. 


251 


Salomo   66,    133,    1S6,    142, 

169,  246. 
Salus  226. 
Sarai  (Sarah)  121. 
Sardanapal  105,  143,  221. 
Sargon  I.  86,  89ff.,  117,  122. 
Sargonll.  140. 
Saxil  139,  142. 
Savonarola  196,  197. 
Sawa  80. 
Schaaffhanaen  72. 
Schiller  67,  58,  61,  174,  196, 

210,    211,    215,    224,    235, 

236. 
Schlegel,  Dorothea  230. 
Schlegel,  Fr.  23. 
Schnitzler  226. 
Schopenhauer    58,    61,    172, 

174,    184,    196,    197,    230, 

237,  243,  245. 
Schrader  23. 
Schreiner  228. 
Schubert  203.  -225,  236. 
Schumann  225. 
Schürer  152.  190. 
Schwarz  227. 
Schweinfurth  231. 
Semigotha  187. 
Semmelweiß  235. 
Semon  229. 
Seneca  153,  19S. 
Sergi  23. 

Shakespeare  31,  57,  210,  248. 
Siegfried  244. 
Simmel  226. 
Simson  136,  169. 
Simsen,  Ed.  233. 
Sirach  169. 


Sisebut  150. 

Sisera  132. 

Sokrates  61,    182,   193.    234. 

Spengler  107  ff..  214,  245. 

Spielhagen  227. 

Spinoza  38,  58,  76,  199.  204, 

246. 
Spitta  227. 
Stahl  232,  233. 
Stanley  202,  232. 
Stratz  62,  73,  165. 
Süsskind  v.  Trimberg  227. 
Sven  Hediu  194. 
Szamuely  204. 

Tacitus  47,  163,  218. 
Taine  60. 

Talko-Xryueciwiczs  66. 
Taylor  72. 
Terach  120ff. 
Theilhaber  226. 
Thierry  47. 
Tiberius  153. 
Tihamat  181,  213. 
Tintoretto  52. 
Tizian  52,  221. 
Toller  204. 
Tomascheck  23. 
Tores  231. 
Törok  67. 

Treitschke  215,  216,  217. 
Tylor  23. 

üria  136. 

Vacher  de  la  Pouge  65. 
Vamb6ry  229. 
Van  Dyk  31. 


Varnhagen,  Rahel  230. 
Virchow  23,  66,  72. 
Voltaire  31,  95,  107. 
Vrchlichky  227. 

'Wackernagel  6V. 

Wagner,  R.  27,  61,  208,  226, 
229,  237. 

Wagner,  S.  229. 

Wassermann,  Jakol>  226. 

Wassermajm  228. 

Watteau  52. 

Wejninger  35,  36,  229, 

Weißenterg  66,  67. 

Wellhausen  97,  132,  142. 

Werfel  226. 
1    Widukind  195. 

Wiesner  229. 
I    Wilde  194. 
j    Wildenbruch  227. 
I    Willmanns  58. 

Wilser  34,  38ff. 
!    Wirth  46,  58,  102. 
I    Woltmaun    28.    31,    34,    54, 
1        57ff.,  112,  242. 

Zacconi  33. 

Zacharja  153. 
!    Zamenhof  229,  2^0. 
i    Zarathustra  190. 

Zeppelin  227. 
i    Zeus  148. 
1    Zilpa  124. 

Zoia  242. 

Zollschan   5,   6,   66,    74,   80. 
107  ff.,  182. 

Zuckermann  226. 

Zweig  226. 


S   A   C    H   V   E    R    Z    E   I   C    H    N    I   S 


Abessinier  80,  85,  155. 
Abrahamiden  122  ff.,  141, 166. 
Adiabene  154. 
Afghanen  80. 
Ägypten  125ff.,  131. 
Ägypter  80.  81,  166. 
Akkad  87  ff. 
Alphabeth  89,  90. 
Alpine  Rasse  a.  homo  alpinus. 
Amalekiter  129,  131.  166. 
Amerika  29,  201,  223. 
Amerikanische  Rasse  68. 
Ammoniter  129,  131,  166. 
Amoriter  74,  96ff.,  123. 
Antiochia  153. 
Antisemiten-Katechismus  77. 
Araber  48,  80 ff.,  107 ff.,  154, 

166. 
Arabien  81  ff.,  153. 
Aramäer  106,  107. 
Arier   23ff.,    80,    82,    137  ff., 

210ff. 
Arische  Weltanschauung 

115ff. 
Armenier  23,  75,  80  ff.,  154, 

166. 
.Aschkenasim  159ff.,  167. 
Asdod  139,  140. 
Askalon  138. 
Assur  105  ff. 

Assyrer  81,  105ff.,  143ff. 
Astrologismus  116£f. 
Athen  221. 


Avaren  48. 
Azteken  29. 

Babel  61,  105,  115,  140,  174, 

210. 
Babel  und  Bibel  173. 
Babylonien  80—107,   120ff., 

131,  137,  150,  175 ff.,  219. 
Babylon : 

Exil  107. 113ff..  143  ff..  148. 

Gesetzgebung  93ff.,  197. 

Kalender  86. 

Schrift  87. 

Stil  120. 

Weltanschauung  llöff. 
Bajuvaren  31. 
Basken  60,  102. 
Beduinen  83,  84,  91,  106. 
Berber  80. 

Bergpredigt  169,  197. 
Bibel  113,  153,  168ff. 
Blondheit  54ff.,  69ff.,  72  bis 

78,  140,  154,  159,  160ff. 
Burgunder  31. 

Chaldcäer  107. 
Chauukka  119. 
Chasaren  155  ff.,  167. 
Chauvinismus  240  ff. 
Chinesen  29,  33,  219. 
Chinesische  Juden  166. 
Christentum  187  ff. 
Cimbern  48,  98. ' 


Codex  Haiiimurabi  93  ff.,  123, 

184ff. 
Cordova  108,  109. 
Corpus  iuris  214. 

Daghestan  156. 
Damascus  122,  153. 
Davidisches  Reich  187,  139. 
Deborah-Lied  132. 
j    Deuteronomium  113,  114. 
Deutschen  32,  49,  89.  96,  97, 

197,  242. 
Deutsch-nationales  Taschen- 
buch 77. 
Diaspora  148  ff. 

Edomiter  129,  131,  164,  166, 

167. 
Elamiten  91. 
Erlösermotiv  117  ff. 
Erlösertyp  203. 
Esperanto  230. 
Ethik  186,  144,  168ff.,  184ff., 

195,  210ff.,  216ff.,  234ff. 
Etruskpr  46,  102. 

Falascha  85,  166. 
Franken  31,  48. 

Genie  52ff.,  208ff.,  235ff. 
Blondheit  64  ff. 
Germanischer  Typ  52ff. 
Jüdische  Genialität  20»ff. 
Kopfform  71. 


252 


Georgier  3  56. 

Gerechtigkeitswille  93 — 95. 
Germanen  23.  27—77,  96ff., 

140,  151,  154,  167,  195. 
Genialität  52  ff. 
Körpergröße  63  ff. 
Ursprung  38. 
Wanderungen  42f£.,  99ff. 

Germanentheorie    27 — 77, 

38ff.,  llOff. 
Geser  130,  133. 
Gilgamesch  214. 
Goseu  125,  128. 
Goten  48. 
Gotik  109. 
Griechen  29,   31,  84,   148ff., 

154,  167,  210,  213 ff.,  219. 
Grusinen  156. 

Hamiten  23,  80. 
Handbuch  der  Judenfrage  77. 
Harran  ]20ff. 
Hebräer  74,  96,  102,  130  ff., 

141,  167. 
Hellenismus  148  ff.,  212. 
Hethiter  81,  90.  100  ff.,  128. 

131,  140ff.,  167. 
Himjaviten  155. 
Homo  alpinus  69ff.,  82, 102. 
Horiter  122. 
Hunnen  48. 
Hyksos  102. 

Iberer  102. 

Inder  23.  80,  81. 

Indexlehve  64  ff. 

Indlanisierung  6ß. 

Indogermanen  90. 

Inka  29. 

Iran  81  ff. 

Iranier  23,  80,  154. 

Ismaeiiter  131. 

Israel  132,  137,   140fi,,  219. 

T8raelstämmel27ff.,  137. 166. 

Israelstele  127. 

Italer  23. 

Italiener  60,  52,  60. 

Ituräaer  154,  167. 

Jahwe  128,  144. 
Jakobstämme     127 /i'.,     137, 

141.  166. 
Japaner  62. 
Jebusiter  134. 
Jericho  133. 
Jerusalem    51,    ISO.    133 ff., 

218. 
Joseplip-Erzäli'.ung  i25ff. 
Juda  132,  137,  141  ff. 
Juden  31ff.,  61—78,  113  bis 

167,  195. 

in  Abessinien  155. 

in  Afrika  155,  156. 

in  Arabien  155. 

in  Böhmen  158. 

in  China  155,  156. 

in  Indien  155,  156. 

Im  Kaukasus  155,  156. 

in  Rom  152,  153. 

in  RußLand  151,  156ff. 

in  Sibirien  159. 

in  Spanien  150. 

in  Ungarn  159. 

Ägyptisiening  126  ff. 

Anteil  am  modernen  Kul- 
turleben 225ff. 

Arabisierung  129. 


Blondheit  73  ff.,  140,  154, 

159,  160ff. 
als  Erfinder  und  Entdecker 

226  ff. 
Ethik  B.  Ethik. 
Genialität  61  ff.,  76,  208ff., 

223ff. 
als    Glaubensgemeinschaft 

161  ff. 
als  Handelsvolk  133. 
Körpergröße  63. 
Mischehen    s.    Bassenmi- 
schung. 
Mischung    mit    Germanen 

140,   151,  lOOff. 
Nationalbewußtstein    124, 

127. 
als  Nation  161  ff. 
Nomadentum  133. 
Rasse  6,  7.  32,  78—80,  101, 

124ff.,      131ff.,      134ff., 

151,  161ff. 
Rassenminderwertigkeit 

36,  77,  183. 
Rassenmischung  113,124ff., 

134ff.,  139, 146ff.,  ISlff., 

155  ff. 
Rassenzucht  146. 
Schadelform  65—72. 
Zwangsehe  151. 

Kabylen  80. 
Kala  Israel  155. 
Kalender,  babylonischer  86. 
Kanaan  122,  123,  124,  129ff., 

134ff. 
Kanaaofter  129ff.,  137,  166. 
Kauaaniterschlacht  132. 
Kanaanitische    Wanderung 

92  ff. 
Kaphtor  138. 
Karäer  157. 
Kariben  33. 
Karthago  100,  213. 
Kassiten  105. 
Kaukasier  80,  154,  167. 
Kaukasusjuden  155,  156. 
Kelten  23,  46ff. 
Keniter  128. 
Kirgisen  156,  157. 
Kommunismus  198ff. 
Königsgräber  154. 
Korintlierbrief  169. 
Körpergröße  63,  64. 
Kosaken  151. 
Kreta  138. 

Kreti  und  Plethi  139. 
Kreuzfahrer  134. 
Kultur  51ff.,  209ff.,  217ff. 
Kurzköpfigkeit  64—72. 
Kuschiten  85,  123. 

Langobarden  31. 
Langschädel  64ft. 
Letten  33. 

Makkabäer  11 ',\ 
Marxismus  200ff. 
Mauretanier  48. 
Mawambu  156. 
Meder  80. 
Meggiddo  130,  132. 
Midianiter  128,  129,  131,  166. 
Milieu  13ff.,  160. 
Miücutheoretiker  14fl. 
Mischehen  113,  124  ff.,  134ff., 

139ff.,  146,  160ff. 
MittelläncNBche  Rasse  79  £f. 


Moabiter  129,  131,  166. 
Mongolen  28,  159ff.,  166. 
Monotheismus  106,  144.  187 

195. 
Mykene  100,  213. 

Wation  21ff.,  49ff..   i62ff. 
Xinive  105  ff. 
Nippur  89. 
-Vomaden  83. 
Kormannen  31,  48. 
Numidier  48. 

Odyssee  214. 

Ostern  119. 

Ostgoten  31. 

Ostjuden  s.  Aschkenasim. 

Paddan-Aram  122. 
Palästina  83,  122  ff. 
Papsttum  31, 116, 117, 192ff., 

196. 
Passah  119. 
Peutateuch  118. 
Pei-ser  80. 
:'eru  29. 
Petra  130. 
Philister  138ff.,   141ff.,  146, 

167. 
Phönizier  81,  100,  101,  146. 
Polen  33. 

PoIitischeAnthropologie  2Sff . 
Preußen  31. 

Priesterkodex  113,  114. 
Propheten  53,  106.  138,  142. 

144,  146,  148.  196.  209  ff. 
Proselyten  am  Tore  152,  104. 
Proselytismiis  1 24, 1 25, 147 ff , 

161  ff. 
Protestantismus     174.     175, 

196. 
Psalmen  178. 

Rasse  6,  7,  11—22.  38—78, 

209  ff. 
Rassenbegabung  205  ff. 
Rassenmischung  lOff. 
Rassenreinheit  19  ff. 
Rassentheorie  15ff. 
Bassentypen  68. 
Refaim  122. 
Reformation  194  ft. 
Relativitätstheorie  229 
Rembrandt  als  Erzieher  84. 
Renaissance  31,  209. 
Revolution,  deutsche  204ff. 
Revolution,  französische  31. 
Römer   47  ff.,   84,    149,    154, 

167,  210 ff.,  219,  234. 
Russische  Juden  151. 

Sabbath  179  ff. 
Samaria  136,  140. 
Samaritaner  67,  141. 
Sanskrit  23. 
Sardinien  102. 
Schädelform  64ff. 
Schöpfungsbericht  128,  175. 
Schrift-Erfindung  87,  89. 
Seevölker  138. 
Semiten  23,  79 — 112. 

Weltanschauung  116ff. 

Wissenschaft  120. 
Semitentheorie  62. 
Sephardim  159  ff.,  167. 
Sichem  121.   133. 
Sinai  128,  129,  185. 
Sinear  120  ff. 
^klavenbekehrung  149  ff. 


253 


Slawen  23,  156  ff.,  167. 
Sozialismns  200  ff.,  245. 
Spanier  51,  221. 
Subotniki  158. 
Sumer  87  ff. 
Sumerer  86ff. 
Susa  91. 
Syrer  81. 

Taanach  180,  132. 
Tarquinius  102. 
Tataren  156  ff.,  167. 


Tel-ePAmarna  129  if. 

Terachiden  121ff.,  128,   141, 
166. 

Tigris  84  ff. 

Tschechen  33. 
i    Turanier  82. 

Türken  23,  80. 
j    Turkestaner  Juden  67. 

Typologie  54ff. 

i    Ur  120ff. 
I    Ungarn  33. 


Ursprung    des    Mensciieux«^ 
schlechta  16  ff. 

Venedig  221. 

■Westgoten  31,   150. 

Yankee  68. 
Yemeniten  67,  15.'. 

Zivilisation  200,  21711. 
Zwangsehen  151. 
Zehn  Gebote  187. 
Zuchtwahl  14. 


D'IE    WELTBÜCHER 

EINE  JÜDISCHE  S C H R ITTE NTO  LG E 

Band     1/2:    Moses   Mendelssohn,  Jerusalem. 

„  3:    Manasseben  Israel,    Rettung  der  Juden 

„       4/5 :    Samson    Raphacl    Hirsch,    Neunzehn    Briefe    über 

Judentum. 
„  6:    Fritz    Mordechai    Kaufmann,    Vier  Essais    über 

^        ostjüdijdie  Dichtung  und  Kultur. 
„  7:    Henry   George,    Moses  der  Gesetzgeber. 

„  8:    Heinrich    Loewe,    Sdiclme  und  Narren   mit  jüdisdien 

Kappen. 
„  9:    Aus    dem    Sohar.    ÜBertragungen  von  J.  Seidmann. 

,,    10/11:    Chaim    Nach  man    Bialik,     Gedidite  I.     Aus    dem 

HeBräisdjen  üßertragen  von  Louis   Weinßerg. 
„         12:    L.Schapiro,  Die  Stadt  derToten  und  andere  Erzählungen. 

Aus  dem  JidisSen  üßertragen  von  Siegfried SSmitz. 
„   13/14:    Leben  und  Worte  des  Balsdiemm.  Nadi  diassidisdien  Sdiriften 

Auswaßf  und  Üßertragung  von  Safomo  Birnßaum 
,,    15/16:    Lyrisdje  Diditung  deutsdier  Juden. 
„   20/21 :    Ostjüdisdie   Liebeslieder.      ÜBertragungen  jüdisSer  Vofks' 

dicßtung  von  Ludwig  Strauß. 
„         22:    Ch.  N.  Bialik:    Gedidite  II.    Aus  demJidisSen  üBer' 

tragen  von  Ludwig  Strauß. 
,,        25:    Der    Zauberer.    Auswahl  hebräisdier Makamendiditung 

des  Mittelalters.  Üßertragen  von  Moritz  Steinscßneider. 
,,   Ibßl:    Abraham    ihn    Esra:    Budi  der  Einheit.     Aus    dem 

HeBräisSen  üßersetzt  neßst  ParaffefstefCen  und  Erfäute" 

rungen  zur  Matßematik  Ißn  Esras  von  Ernst  Mütfer. 

Die    Sammlung   wird    fortgesetzt. 

Die  Büdier  sind  sowohl  einzeln  zu  haben  wie  audi  in  Kassetten  und  zwar : 

a>  Die  komplette  Reihe  <15  Bänddien),  b)  Denker  und  Seher  <Nr.  1/2,3,4/5, 

9, 13/14,  26/27).  c)  Diditcr  und  Erzähler  <Nr.  10/11. 12, 15/16,20/21,22,25). 

d)  Bialik  <Nr.  10/11,  22). 

Die  Büdier  wie  die  jeweiligen  Preise  durdi  jede  Budihandlung. 


WELT^VERLAG    /    BERLINW9 


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SCHRIFTEN  ZUR  KULTUR  UND  POLITIK 


Dr.  Ar  an  Barth:  Orthodoxie  und  Zionismus 
Dr.  Nathan  Birnbaum :  Um  die  E^vigkeit 

Adolf  Böhm :  Die  Zionistische  Bewegung 

♦ 

Aloses  Heß:  Sozialistische  Aufsätze 

* 

Das  Deutsche  Judentum.,  seine  Parteien  und  Organisationen 

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Felix  V.  Luschan:   Völker,  Rassen,  Sprachen 

Nathan  ben  Nathan:  Die  Erbpacht 

* 

Felix  Welt  seh:  Nationalismus  und  Judentum 

♦ 

Karl  Wilhelm  :  Jüdische  Planwirtschaft  in  Palästina 

* 

Theodor  Zlocisti: 
Moses  Heß,  der  Vorkämpfer  des  Sozialismais  und  des  Zionisnms 

Die  Bücher  wie  die  je-weilig-cn  Preise  durch  jede  Buchhandlung 

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Bucbdruckerei  Gustav   Ascher  G.m.b.H..  Berlin  SW.  61. 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


GN 

K3 
1922 


Kahn,  Fritz 

Die  Juden  als  Rasse 
und  Kulturvolk 


mum