Skip to main content

Full text of "Die Kapitulationen der Türkei, deren Aufhebung und die neuen deutsch-türkischen Rechtsverträge"

See other formats


JX 

1568 

K8 


rs  r.' 


Die 


apitulationen  derTürkei 

deren  Aufhebung   und   die   neuen 
deutsch-türkischen  Rechtsverträge 


von 


Dr.  jur.  Max  Kunke. 


O^^D 


1918 

fOünchen,  Berlin  und  Leipzig 

J.  Schweitzer  Verlag 

(Arthur  Sellier). 


Die 


Kapitulationen  derTürkei 

deren  Aufhebung    und   die   neuen 
deutsch-türkischen  Rechtsverträge 


von 


Dr.  jur.  Max  Kunke. 


O^^D 


1916 

[München,  Berlin  und  Leipzig 

J.  Schweitzer  Verlag 

(Arthur  Sellier). 


i:ric 


Inhalts- Verzeichnis. 

Seite 

"Vorbemerkung 1 

I.  Teil. 
Geschichte  der  Kapitulationen. 

Einleitung 3 

1.  Kapitel:    Zur  Vorgeschichte  der  Kapitulationen 5 

Die  ersten  Handelsbeziehungen  zwischen  Griechen- 
land und  Aegypten 5 

Die  Entwicklung  im  römischen  Reiche     ....  5 

Die  Entwicklung  in  Griechenland 7 

Die  Entwicklung  im  Kalifat 7 

Die  Entwicklung  in  Aegypten  ........  7 

Die  Entwicklung  im  byzanthinischen  Reiche  11 

2.  Kapitel:    Entstehungsgründe    und   Geschichte    der    Kapitu- 

lationen mit  der  Türkei 13 

Die  religiösen  Anschauungen  der  Mohammedaner  14 

Die  Vereinbarungen  mit  Genua  und  Venedig   .    .  15 

Die  Verträge  mit  Frankreich 20 

Die  französische  Kapitulation  von  1528   ....  21 

Die  französische  Kapitulation  von  1535    ....  22 

Die  französische  Kapitulation  von  1569    ....  28 

-Die  englischen  Bestrebungen  zur  Erreichung  einer  Kapitulation  31 

Die  französische  Kapitulation  von  1581    ....  31 

Die  französische  Kapitulation  von  1597    ....  33 

Die  französische  Kapitulation  von  1604    ....  35 

Die  französische  Kapitulation  von  1673    ....  38 

Die  französische  Kapitulation  von  1740    ....  41 

Die  Kapitulationen  mit  den  Niederlanden 52 

Der  Firman  von  1609  und  die  holländische  Kapi- 
tulation von  1612 52 

Die  holländische  Kapitulation  von  1680    ....  55 

-Die  Kapitulationen  mit  Oesterreich 58 

Der  Wiener  Friede  von  1615 59 

Der  Firman  vom  Jahre  1617 59 

Der  Karlowitzer  Friede  von  1699 60 

Der  Firman  von  1700 61 

Der  Passarowitzer  Friede  und  der  Handelsvertrag 

von  1718      61 

Der  Belgrader  Vertrag  von  1739 65 

Der  Vertrag  Oesterreichs  mit  der  Türkei  von  1784 

(Sened) 66 


—    IV    — 

Seite 

Die  Beziehungen  der  Pforte  zu  Russland 66 

Der  Vertrau  vom  13.  Juni  1700 67 

Der  Vertraji  am  Pruth  vom  Jahre  1711     ....  67 

Der  russisch-türkische  Vertrag  vom  Jahre  1720   .  68 

Der  Belgrader  Vertrag  von  1739      ......  68 

Der  Vertrag  von  Kutschuk-Kaynardgi  von  1774   .  68 

Die  Konvention  vom  Jahre  1779  .......  70 

Der  russisch-türkische  Handelsvertrag  von  1783  .  70 

Der  Friede  von  Jassy  von  1791 74 

Der  Vertrag  von  Ackermann  (1826) 74 

Der  Adrianopeler  Vertrag  von  1829 74 

Die  Beziehungen  des  osmanischen  Reiches   zu  Preussen  und 

Deutschland 74 

Der  preussisch-türkische  Vertrag  von  1761       .    .  75 

Die  Handelskonvention  von  1840 77 

Der  Vertrag  von  1862 77 

Der  türkisch-deutsche  Vertrag  vom  26.  Aug.  1890  77 

Die  Verträge  der  Türkei  mit  verschiedenen  anderen  Staaten  .  79 


Anhang. 

Die  Einrichtung  der  Konsulargerichtsbarkeit  einzelner  Staaten 

in  der  Türkei 

Die  Konsulargerichtsbarkeit  Deutschlands 
Die  Konsulargerichtsbarkeit  Frankreichs  . 
Die  Konsulargerichtsbarkeit  Englands  .  . 
Die  Konsulargerichtsbarkeit  Russlands 


82 
82 
84 
84 
84 


11.  Teil. 

Die  Aufhebung  der  Kapitulationen  und  die  neuen 
deutsch-türkischen  Rechtsverträge. 

Einleitung 85 

1.  Kapitel:    Die  Rechtsnatur  der  Kapitulationen 87 

2.  Kapitel:     Die  Wirkung  der  Kapitulationen 92 

a)  Vorbemerkung 92 

b)  Die  Zollprivilegien 93 

c)  Die  Steuerfreiheit 96 

d)  Die  Konsulargerichtsbarkeit 98 

e;  Die  Exterritorialität 102 

f}    Die  Postprivilegien 105 

3.  Kapitel:    Die  Abschaffungsbestrebungen  der  Türkei,  deren 

Wirkungen  und  Erfolge 105 

Die  Pariser  Konferenz  von  1856 106 

Das  türkische  Memorandum  vom  14.  Sept.  1860  .  107 

Die  türkische  Zirkularnote  vom  24.  April  1862  .  108 
Das  Reglement  relatlf  aux  consilats  etrangers  von 

1863 109 

Der  türkische  Firman  vom  16.  Juni  1867  (Protokoll 

V.  9.  Juni  1868) HO 


—     V     — 

Seite 
Die  Einrichtung  der  gemischten  Gerichte  .  .  .111 
Die  Zirkularnote  der  Türkei  vom  11.  Okt.  1881  .  114 
Der  Erlass  der  Pforte  betreff  die  Zollfreiheit  der 

Konsuln  (vom  27.  Juli  1869)      .......  116 

Die  Aufhebungsbestrebungen  im  Jahre  1897  .  .116 
Das  österreichisch-türkische  Abkommen  vom  26. 

Februar  1909 119 

Der  türkisch-italienische  Friede  von  1912    .    .    .119 

Die^ türkischen  Reformen 121 

Der  Hatti  Scherif  von  Gülhane  (1839)  ....  121 
Der  Hatti  Humaiun  vom  18.  Februar  1856  ...  123 
Die  Reformierung  der  Scheriatgerichte     ....  125 


Anhang  zu  den  türkischen  Aufhebungsbestrebungen. 

Die  Meerengenfrage 127 

Türkische  Zirkularnote  von  1798 127 

Die  Note  der  Pforte  an  Preussen  im  Jahre  1806  .  128 

Der  Adrianopeler  Frieden  von  1829 129 

Der  russisch-türkische  Vertrag  von  Unkiar-Iske- 

lessi  (1833) 129 

Abkommen  vom  15.  Juli  1840 130 

Abkommen  vom  13.  Juli  1841 130 

Pariser  Konferenz  von  1856 131 

Londoner  Konferenz  von  1871 132 

Berliner  Vertrag  von  1878 -.132 


4.  Kapitel:    Die  Aufhebung  der  Kapitulationen   im  Lichte  der 

Geschichte  und  des  Völkerrechts 133 

Die  einer  Aufhebung  widersprechenden  Meinungen  134 
Die  türkische  Auffassung  von  der  Einseitigkeit  der 

Kapitulation 135 

Die  clausula  rebus  sie  stantibus 138 

Die  Möglichkeit  einer  Aufhebung  für  den  Kriegsfall  145 

-5.  Kapitel :    Die  neuen  deutsch-türkischen  Rechtsverträge  vom 

11.  Januar  1917 148 

Einleitung 148 

1.  Ein  Konsularvertrag 149 

2.  Vertrag  über  Rechtsschutz  und  gegenseitige  Rechts- 

hilfe in  bürgerlichen  Angelegenheiten   .     .    161,  162 

3.  Auslieferungsvertrag 164 

Ablehnungsgründe 168 

Weitere  gegenseitige  Rechtshilfe  in  Strafsachen    .  17U 

4.  Niederlassungsvertrag 171 

5.  Vertrag  über  gegenseitige  Zuführung  von  Wehr- 
•  flüchtigen  und  Fahnenflüchtigen  der  Land-  und 

Seestreitkräfte 176 

6.  Vertrag   über   die    Anwendung   des  Konsularver- 

trages auf  die  deutschen  Schutzgebiete     .    .    .  177 


—    VI    — 

Seite 

7.  Vertrag  über  die  Anwendung  des  Vertrages  über 

Rechtsschutz  und  Rechtshilfe  auf  die  deutschen 
Schutzgebiete 179 

8.  Vertrag  über  die  Anwendung  des  Auslieferungs- 

vertrages auf  die  deutschen  Schutzgebiete    .    .  180 

9.  Vertrag  über  die  Anwendung  des  Niederlassungs- 

vertrages auf  die  deutschen  Schutzgebiete    .    .  181 

10.  Vertrag  über  die  Anwendung  des  Vertrages  über 
die  gegenseitige  Zuführung  von  Wehrflüchtigen 
und  Fahnenflüchtigen  der  Land-  und  Seestreit- 
kräfte auf  die  deutschen  Schutzgebiete     ■    .    .  182 


Literatur- Verzeichnis. 

Albin.    Les  grands  traites  politiques  (seit  1815  if.)  1911. 
AI  brecht.    Grundriss  des  osmanischen  Staatsrechts.  Berlin  1905- 
Amari.    I  diplomi  arabi  del  Archivio  Florentino  Florenz  1863/1864. 
Ancien  diplomate,  un.  Le  regime  des  capitulations,  son  histoire^ 

ses  applications,  ses  modifications.  Paris  1898. 
Antonopoulos  u.  Mayer.  (Dr.  Stamatios  Antonopoulos.)  Ueber 

die  Exterritorialität   der   Ausländer   in   der   Türkei   etc.   im 

Jahrbuch  der  internationalen  Vereinigung  für  vergleichende 

Rechtswissenschaft    und    Volkswirtschaftslehre    1.  Jahrgang. 

Berlin  1896  S.  95  ff. 
Aristarchi-Bey.  Legislation  Ottomane,  ou  recueil  des  lois,  regle- 

ments,  ordonnances,  traites,  capitulations  et  autres  documents 

officiels   de   l'Empire   ottoman.    Konstantinopel    1873—1888 

(7  Bände). 
Arvieux.  (Memoire  du  Chevalier  d'Arvieux)  6  Bände.  Paris  1737. 

(Vgl.  Testa). 
ßaschet  Armand.  Histoire  de  la  chancellerie  secrfete  Paris  1870. 
V.  Bar.  Lehrbuch  des  internationalen  Privat- und  Strafrechts  1892. 
C  H.  Becker.  „Die  Türkei"  in:  Deutschland  und  der  Weltkrieg. 

Leipzig  1915. 
Bein.    Die  Kapitulationen.    Beurteilt   nach  Völkerrecht  und  tür- 
kischem Staatsrecht,  Berlin  1916. 
Bei  in.    Des  Capitulations  et  des  traites  de  la  France  en  Oriefit 

Paris  1870. 
Benoit.  Etüde  sur  les  capitulations  entre  l'Empire  Ottoman  et  la 

France  et  sur  la  reforme  judiciare  en  Egypte.  Paris  1890. 
Bluntschli.    Das  moderne  Völkerrecht   der  zivilisierten  Staaten 

1868,  3.  Auflage  1878. 
Bonfils.    Manuel  de  droit  international  public.  Paris  1912. 
Bonfils-Grah.    Völkerrecht.    Berlin  1904. 
Bosse t   De  la  juridiction  consulaire.  Lausanne  1908. 
Charriere.    Negociations   de  la  France    en  Orient  4.  Bd.    Paris 

1848—1860. 
Clunet.    Journal  du  droit  international  prive  etc.  Paris  1905. 
Deligeorges.     Die  Kapitulationen  der  Türkei.  I.  Teil  1907. 
Depping.    Histoire  du  commerce  entre  le  Levant  et  l'Europe  etc. 

Paris  1830. 
Dumont.    Corps  universel  diplomatique  du  droit  des  gens  1726  ff. 
E.  Engelhardt.     La   Turquie    et   le    Tanzimat    ou    l'histoire    des 

reformes   dans  l'Empire  Ottoman  depuis  1826.    (1882—1884 

2.  Bd ) 
Feraud-Giraud.    La  juridiction  franpaise   dans  les  Echeiles  du 

Levant  et  de  Barbarie.  2  Bände.  Paris  1866. 


—     VIII     — 

Fkssan.  Histcire  ttr.eiöle  et  raisonr.ee  de  la  diplomatie  franpaise 
7  Bände  1811. 

Fleischmann     Völkerrechtsquellen.  Halle  a.  d.  S.  1905. 

F  riedrich.     Grundsätze  des  Völkeirechts.     Leipzig  1915. 

Gar  eis.     Institutionen  des  Völkerrechts  1901. 

Gatteschi.  Manuale  di  diritto  publico  e  privato  ottomano.  Alles- 
sandria  di  Egitto  1865  (vgl.  Revue  historique  de  droit  franpais 
et  etranger  vom  September  und  Oktober  1862. 

Gavillot.  Essai  sur  les  droits  des  europeens  en  Turquie  et  en 
Egypte.  Les  capitulations  et  Ja  reforme  judiciaire.  Paris  1875. 

Genevois.  Histoire  crilique  de  la  juridiction  consulaire.  Paris 
1866. 

v.  G  rünau.  Die  Staats-  und  völkerrechtliche  Stellung  Aegyptens. 
Leipzig  1903. 

V.Hammer.  Geschichte  des  osmanischen  Reiches.  4  Bände. 
Prag  1840  (10  Bände  Pest  1827-1834). 

Heffter-Gef  f  cken.  Das  europäische  Völkerrecht  der  Gegenwart 
auf  den  bisherigen  Grundlagen.  8.  Ausgabe.  Berlin  1888. 

Heilborn.  Völkerrecht  in  von  Holzendorff-Kohlers  Enzyklopädie 
der  Rechtswissenschait  7.  Auflage,  Bd.  5.  Berlin  1914. 

Helmolts.  Weltgeschichte  (Band  5  Zimmerer).  Leipzig  und  Wien 
1905. 

Heyd.  Le  colonie  commericiali  degli  Italiani  in  Oriente  nel  mediö 
evo.  Venezia  et  Torino  1866. 

v.  Heyking.     L'exterritorialite.  Berlin  1889. 

V.  H  oltzendorff.  Handbuch  des  Völkerrechts.  4  Bände.  Bd.  1 
1885. 

Hübler.  Die  Magistraturen  des  völkerrechtlichen  Verkehrs. 
Berlin  1900 

Hübler  In  von  Stengls  Wörterbuch  des  deutschen  Verwaltungs- 
rechts (Artikel  Konkordate). 

Jellinek.  Die  rechtliche  Natur  der  Staatsverträge.  Berlin  und 
Wien  1880. 

Jorga.    Geschichte  des  osmanischen  Reiches.  Gotha  1908. 

Kiesselbach.  Der  Gang  des  Welthandels  und  die  Entwicklung 
des  europäischen  Völkerlebens  im  Mittelalter.  Stuttgart  1760. 

Kipp.    Geschichte  der  Quellen  des  römischen  Rechts.  Leipzig  1909. 

V.  König.    Handbuch  des  deutschen  Konsularwesens.  Berlin  1914. 

K  oran. 

Lammasch.  „Das  Recht  der  Auslieferung  wegen  politischer  Ver- 
brechen." In  Holtzendorffs  Handbuch  des  Völkerrechts  1884 
Bd.  3.  S.  485  ff. 

Laurent.  Etudes  sur  l'histoire  de  l'humanite  (18  Bände  1851  bis 
1870  Brüssel.  Die  ersten  Bände  tragen  den  Untertitel: 
L'histoire  du  droit  des  gens  et  des  relations  internationales 
Brüssel  1862). 

Lawrence.    The  principles  of  international  law.  4.  Aufl.  1910. 

Lehmann.  Die  Kapitulationen.  Weimar  1917  (deutsche  Orient- 
bücherei). 

Lippmann.    Die  Konsularjurisdiction  im  Orient.  Leipzig  1898. 

V.  Liszt.     Völkerrecht  9.  Auflage  1913,    10.  Auflage    Berlin  1915. 

Malfatti.  Handbuch  des  österreichischen  Konsularwesens.  Wien 
1897. 

Mandelstam.  La  justice  Ottomane  dans  ses  rapports  avec  les 
puissances  etrangferes.    Paris  1911. 


—     IX     — 

F.  V.  Martens.    Das  Konsularwesen  und  die  Konsularjurisdiction 

im  Orient,  deutsch  von  Skersf.  Berlin  1874. 
Martens.     Recueil  des  traites  et  Conventions  conclus  par  la  Russie 

avec  les  puissances  etrangeres.  15.  Band.  1909. 
Martens-Bergbohm.    Das  internationale  Recht   der  zivilisierten 

Nationen.     Völkerrecht.     Deutsch   von  Bergbohm.   2  Bände. 

1883—1886,  Berlin. 
Charles  de  Martens.  Guide  diplomatique  5.  Aufl.  von  Geffcken. 

Leipzig  1866. 

G.  F.  de  Martens.     Recueil  des  traites   (von  1761  an:  Göttingen 

1817—1835.  8  Bände).  Nouveau  recueil  des  traites  von 
1808-1839  (16  Bände.  Göttingen  1817-  1842.  Fortgesetzt 
als  nouveau  recueil  general  des  traites  von  1840—1874. 
(20  Bände.  Göttingen  1843  1875).  Fortgesetzt  deuxieme 
Serie  von  1876  an.  Seit  1887  herausgegeben  von  Stoerck. 
(v.  1876  an  35  Bände).  Von  1908  an  troisieme  serie  heraus- 
gegeben von  Triepel. 

Mas  Latrie.  Traites  de  paix  et  de  commerce  et  documents  di- 
vers, concernant  les  relations  des  Chretiens  avec  les  Arabes 
de  l'Afrique  septentrionale  au  moyen-äge  recueillis  par  ordre 
de  l'empereur  et  publies  avec  une  introduction  historique. 
Paris  1868,  1872. 

V.  Miltitz.    Manuel  des  Consuls,  London  und  Berlin  1837. 

Mo  hl.    Reichsstaatsrecht  1873. 

H.  V.  Moltke.  Brieie  über  Zustände  und  Begebenheiten  in  der 
Türkei  aus  den  Jahren  1835-1839.  7.  Auflage.  1911. 

Müller-Jochmus.  Geschichte  des  Völkerrechts  im  Altertum. 
Leipzig  1848. 

Noradounghian.  Recueil  d'actes  internationaux  de  l'empire 
Ottoman  (Bd.  1  von  1300-1789  Paris  1897,  Band  2  von 
1789-1856  Paris  1900,  Band  3  von  1856—1878  Paris  1902, 
Band  4  von  1878—1902,  Paris  1903). 

Nys.  Le  droit  international.  Les  principes,  les  theories,  lesfaits. 
2.  Auflage  1912. 

d'Ohsson.  Tableau  general  de  l'Empire  Ottoman.  Paris  1824 
(1791). 

Oppenheim.  International  Law,  A  treatise.  1.  Band  2.  Auflage 
1912.  2.  Band  1906. 

Freih.  v.  Overbeck.  Die  Kapitulationen  des  osmanischen  Reiches. 
Beigabe  zur  Zeitschrift  für  Völkerrecht  herausgegeben  von 
Prof.  Dr.  Köhler  und  Prof.  Dr.  Fleischmann.     Breslau  1917. 

Freih.  v.  Overbeck.  Der  deutsch-niederländische  Niederlassungs- 
vertrag im  Archiv  für  öffentliches  Recht  Bd.  23.  S.  124. 

Palm  er.    The  Caliph  Haroun  Alrashid.  London  1880. 

Pelissie  du  Rausas.  Le  regime  des  Capitulations  de  l'Empire 
Ottoman  Band  1,  Paris  1902,  Band  2  Paris  1905. 

Pouqueville.  Memoire  historique  et  diplomatique  sur  le  com- 
merce et  les  etablissements  francais  au  Levant  depuis  Tans 
de  500  de  J.  Chr.  jusq'ä  la  fin  du  XVII  siecle  (s.  Memoires 
de  rinstitut,  Acdemie  des  Inscriptions  et  Belles-lettres. 
Paris  1833  T.  10.) 

Pradier-Fodere.  La  question  des  Capitulations  dans  Revue  de 
droit  international  Bd.  1  1869. 

Rivier.    Principe  du  droit  des  gens.  2  Bände.  Paris  1896. 

Rivier.     Lehrbuch  des  Völkerrechts  2.  Auflage.  Stuttgart  1899. 


Rey.  La  protection  diplomatique  et  consulaire  dans  les  Echeiles 
du  Levant  et  de  Barbarie.  Paris  1899. 

V.  Savifjny.  üescliichte  des  römischen  Rechts  im  Mittelalter. 
Band  1   1815. 

V.  Savijjnv.  System  des  heutigen  römischen  Rechts,  Band  8, 
Berlin  1849. 

Schau  be.  Handelsgeschichte  der  romanischen  Völker  des  Mittel- 
meergebietes bis  zum  Ende  der  Kreuzzüge.  München  und 
Berlin  1906  im  Handbuch  der  mittelalterlichen  und  neuen 
Geschichte  herausgegeben  von  Below  undMeinicke  Abt.  3). 

Seligmann.  Beiträge  zur  Lehre  vom  Staatsgeschäit  und  Staats- 
vertrag 1890. 

Schmidt  Bruno,  lieber  die  völkerrechtliche  Klausel  „rebus  sie 
stantibus",  sowie  einige  verwandte  Völkerrechtsnormen  1907 
(Siehe  Abhandlungen  Staats-  und  völkerrechtlicher  Verträge 
herausgegeben  von  Jellinek  und  Mayer  Bd.  VI.  Heft  12. 

Sohm.     Institutionen  des  römischen  Rechts,  Leipzig  1908. 

Stoerck.    In  von  Holtzendorffs  Rechtsenzyklopädie  5.  Aufl.  1890. 

Strupp.     Urkunden  zur  Geschichte  des  Völkerrechts.  Gotha  1911. 

Strupp.  Ausgewählte  diplomatische  Aktenstücke  zur  orientalischen 
Frage.  Gotha  1916. 

Taylor.     A  treatise  on  international  public  law  1902. 

Testa.    Recueil  des  traites  de  la  porte  ottoman.  Paris  1864. 
10  Bände. 

Travers  Twiss.  The  Law  of  Nations  etc  2  Bände,  1861—1863, 
1875—1884.  Eine  selbständige  französische  Uebersetzung 
dieses  Werkes  erschien  1887  und  1889  in  2  Bänden:  Le  droit 
des  gens  ou  des  nations  considerees  comme  communautes 
politiques  independantes 

Treaties  between  Turkey  and  foreign  powers,  compiled  by 
the  librarial  and  keeper  of  the  papers  foreign  Office.  London 
1855. 

V.  Uli  mann.  Völkerrecht  im  Marquardsens  Handbuch  des  öffent- 
lichen Rechts  1898  und  1908  im  öffentlichen  Recht  der 
Gegenwart,  Tübingen. 

Vandal.     Une  ambassade  fran(;aise  sous  Louis  XV.  Paris  1889. 

Walker,  Thomas  Alfred.  A  manuel  of  Public  international  Law 
1895. 

Walker.    The  science  of  international  law  1893. 

Wheaton,  Henry.  Elements  of  international  law.  S.Auflage  1889 
(mit  Kommentar  von  Lawrence).  Neue  Ausgabe  von  Atley 
1904. 

Zink  eisen.  Geschichte  des  osmanischen  Reiches  in  Europa. 
Hamburg  und  Gotha  1840—1863.  7  Bände. 

Zorn.  In  Stengels  Wörterbuch  des  deutschen  Staats-  und  Ver- 
waltungsrechts (Art.  Konsuln)  2.  Auflage  von  Fleischmann 
Tübingen  1913. 


Sammelwerke  und  Zeitschriften. 

Abhandlungen  Staats-  und  völkerrechtlicher  Verträge.  Heraus- 
gegeben von  Jellinek  und  Mayr. 

Archive  de  l'institut  de  droit  international.  Paris  1877  ff. 

Archives  diplomatiques  Recueil  international  de  diplomatie  et 
d'histoire  par  L.  Renault  et  Fardis.  Paris  1861  ff. 


—     XI     — 

Annuaire  de  l'institut  de  droit  international.  Paris  1877  ff.  (siehe 

hier  insbesondere   die   Sitzungsberichte   über   die  Verhand- 
lungen dieses  Instituts. 
Archiv  für  öffentliches  Recht    (seit  1886  herausgegeben  von  La- 

band,  0.  Mayer  und  Stoerck). 
Archiv  für  Rechts-  und  Wirtschaftsphilosophie. 
Bachem's  Staatsle.vikon  3.  und  4.  Auflage.  Freiburg  1912. 
Balkanrevue    (Monatsschrift   für  die  wirtschaftlichen  Interessen 

der  Südost-europäischen  Länder).   4.  Jahrgang.    Balkanverlag 

1917. 
Blätter  für  vergleichende  Rechtswissenschaft  und  Volkswirtschafts- 
lehre 1906  ff. 
Jahrbuch     der    internationalen    Vereinigung    für    vergleichende 

Rechtswissenschaft  und  Volkswirtschaftslehre  1895  ff. 
Jahrbuch    des   öffentlichen  Rechts   herausgegeben    von   Jellinek, 

Laband  und  Piloty  1907  ff. 
Journal  du  droit  international  prive  et  de  la  jurisprudence  com- 

paree.  Seit  1874  in  Paris  herausgegeben  von  Clunet. 
Juristenzeitung,  deutsche. 
Oesterreichische    Monatsschrift    für    den    Orient.    Wien   1917 

•Heft  6. 
Oesterreichische  Rundschau  Band  8,  HeftS.  Wien  und  Leipzig 

1917. 
Re  cu eil  "international    des   traites   du  XXe  siecle   von  Baron  de 

Descamps  et  Renault  seit  1901. 
Revue  de  droit  international  et  de  legislation  comparee  (Brüsseler 

Revue)  1869  ff.  herausgegeben  von  Rolin. 
Revue  general  de  droit  international  public  (Pariser Revue  1894 ff.) 

herausgegeben  von  Pillet  et  Fauchille. 
Staatsarchiv,  das.  Begründet  von  Aegidi  und  Klauhold  seit  1861. 
The  American  Journal  of  international  law.  1907  ff. 
Welt  des  Islam.s.  V.  Jahrgang  1917. 
Zeitschrift   für    internationales    Privat-    und   öffentliches   Recht 

seit  1891  jetzt  herausgegeben  von  Niemeyer. 
Zeitschrift  für  Völkerrecht  und  Bundesstaatsrecht  1906  ff.  jetzt 

herausgegeben  von  Kohler   («iehe  daselbst  Abhandlung  von 

Bunuccii  Bd.  IV.  S.  449  u.  466  ff.). 


Vorbemerkung. 

„Am  11.  Januar  1917  sind  im  Auswärtigen  Amt  von 
den  Bevollmächtigten  des  Deutschen  Reiches  und  des 
osmanischen  Reiches  eine  Reihe  von  Verträgen  unter- 
zeichnet worden,  die  dazu  bestimmt  sind,  die  Rechtsbe- 
ziehungen zwischen  den  beiden  Reichen  in  erschöpfender 
Wieise  zu  regeln.  Es  sind  dies  ein  Konsular-Vertrag,  ein 
Vertrag  über  Rechtsschutz  und  gegenseitiger  Rechtshilfe 
in  bürgerlichen  Angelegenheiten,  ein  Ausheferungsvertrag,. 
ein  Niederlassungsvertrag,  sowie  ein  Vertrag  über«  ge- 
genseitige Zuführung  von  Wehrpflichtigen  und  Fahnen- 
flüchtigen der  Land-  und  Seestreitkräfte,  Dazu  kommen 
noch  fünf  weitere  Verträge,  wonach  die  Bestimmungen 
der  bezeichneten  Rechtsverträge  auf  die  deutschen  Schutz- 
gebiete den  besonderen  Verhältnissen  dieser  Gebiete  ent- 
sprechend ausgedehnt  werden.  Die  Verträge  sollen  das  in 
der  Türkei  bisher  in  Geltung  gewesene  System  der  so- 
genannten Kapitulationen  durch  neue,  dem  modernen 
Völkerrecht    entsprechende    Bestimmungen    ersetzen."  i) 

Soweit  die  amtliche  Verlautbarung  vom  15.  Januar 
1917.  , 

Durch  diese  umfassende  Regelung  der  Rechtsver- 
hältnisse wurde  ein  Zustand  beseitigt,  der  schon  seit  dem 
Eintritt  der  Türkei  in  die  Völkerrechtsgemeinschaft  (Pa- 
riser Konferenz  1856)  eigentlich  unhaltbar  hätte  sein 
müssen. 

Wie  wir  später  sehen  werden,  hatte  die  Türkei  schon 
des  öfteren  Schritte  zur  Beseitigung  der  drückenden 
Fremdenvorrechte  unternommen,  wenn  auch  jedesmal 
ohne  nennenswerten  Erfolg.  Erst  der  Ausbruch  des 
Weltkrieges  bot  der  Türkei  bei  der  Uneinigkeit  der 
meisten  Vertragskontrahenten  eine  willkommene  Gelegen- 
heit, durch  eine  Kundmachung  vom  8.  September  1914 
die   Kapitulationen   mit  den  verschiedenen  Mächten  mit 

1)  Münchener  Neuesten  Nachrichten  Nr.  25   vom  26.  1.  1917. 

1 


Wirkung  vom  1.  Oktober  1914  einseitig  aufzuheben.  Diese 
Verlautbarung  des  osmanischeii  Reiches  rief,  wie  nicht 
anders  zu  erwarten  war,  auf  reindlicher  und  neutraler 
Seite  mehr  oder  mind€r  scharfe  Protestkundgebungen  her- 
vor. Deutschland  tat,  wie  es  bei  seinem  langjährigen 
Freundschaftsverhältnis  mit  der  Türkei  auch  kaum  anders 
denkbar  war,  den  ersten  Schritt  zur  Anerkennung  der 
türkischen  Forderung,  indem  es  am  11.  Januar  1917  neue, 
auf  völkerrechtlicher  Grundlage  beruhende  Verträge  mit 
der  Pforte  abschloss.  Ob  dies  den  deutschen  Kaufleuten 
im  Orient  zum  Segen  gereichen  wird,  muss  der  Zu- 
kunft vorbehalten  bleiben.  Deutschland  musste  sich  eben 
sagen,  dass  eine  tatkräftige  Politik  nicht  nur  Gaben 
spendet,    sondern    auch    Opfer    fordert. 

Unsere  Aufgabe  wird  es  vielmehr  sein,  zum  Ver- 
ständnis des  Ganzen  zunächst  in  einem  I.  Teil  die  Ent- 
wicklung und  den  Inhalt  der  Kapitulationen  mit  der 
Türkei  darzustellen,  um  dann  in  einem  Teil  11  die  Auf- 
hebungsbestrebungen der  Pforte  und  die  dafür  und  da- 
gegen sprechenden  Gründe  erörtern  zu  können,  woran 
sich  eine  kurze  Behandlung  der  neuen  deutsch-türkischen 
Verträge  schliessen  wird. 


I.  Teil. 

Geschichte  der  Kapitulationen. 

Einleitung. 

Ehe  wir  an  eine  Darstellung-  der  Geschichte  der  Ka- 
pitulationen schreiten,  wird  es  sicherlich  von  allgemeinem 
Interesse  sein,  zunächst  eine  Zusammenstellung-  verschie- 
dener Ansichten  über  die  Bedeutung  und  die  Herkunft 
des  Wortes   Kapitulationen  selbst  zu  geben. 

Das  Nächstliegende  wäre  natürlich  die  Ableitung  von 
der  Einteilung-  in  Kapitel,  welche  Ansicht  zumindest 
ebensoviel  Anhänger  als  Gegner  hat.  B.  W.  von  König 
und  der  Pariser  Gelehrte  Pelissie  du  Rausas  sind  zum 
Beispiel  für  diese  Anschauung,  während  ihr  in  Bachems 
Staatslexikon  in  ziemlich  scharfen  Ausdrücken  entgegen- 
getreten wird.  1)  Eine  ähnliche,  wenn  auch  nicht  gleiche 
Auffassung  über  diese  Frage  hat  der  Petersburger  Völ- 
kerrechtslehrer F.  von  Martens,  der  sich  bezüglich  der 
Erklärung  dieses  Wortes  Mas  Latrie  anschliesst,  welcher 
aus  der  Sitte  der,  Christen  und  Muselmänner  im  Mittelalter 
bei  ihren  Verhandlungen  eine  Sorte  von  Artikeln  (ca- 
pitula)  als  Entwurf  des  Vertrages  mitzubringen,  die  Be- 
zeichnung des  ratifizierten  Vertrages  selbst  als  Kapitula- 
tion herleitet.  2)  (Vgl.  auch  Feraud-Giraud  Bd.  I  S.  SO.) 
Eine  andere  originelle  Auffassung  ist  die  von  Bon- 
fils-Grah,  der  dieses  Wort  aus  dem  Italienischen  ab- 
leitet, in  welcher  Sprache  „Capitulazione''  Uebereinkom- 
men,  Vertrag  bedeutet.  Zur  Bekräftigung  s'einer  An- 
schauung: fügt  'er  hinzu,  dass  die  ersten  Verträge,  die 
Sarazenen  und  Christen  schlössen,  in  italienischer  Sprache 
abgefasst  waren,  da  diese  damals  die  diplomatische  Spra- 
che der  Levante  war.  3)  Viel  vertreten  finden  wir  auch 
die  Auffassung,  dass  das  Wort  Kapitulation  die  französi- 
sche Uebersetzung  des  arabischen  Wortes  Sulh,  d.  i. 
Friede,    sei.*) 

1)  B.  W.  von  König  Handbuch  des  deutschen  Konsularwesens 
S.  144.  P.  du  Rausas  Bd.  1.  S.  1. 

2)  Martens  S.  107  Konsularwesen. 

3)  Siehe  Bonfils-Grah  Völkerrecht  1904. 

4)  Vgl.  Antonopoulos  und  Meyer  in  dem  Jahrbuch  der  inter- 
nationalen Vereinigung.  Siehe  auch  Miltitz  Bd.  I.  S.  524  Anm.  5 
u.  a.  m. 


—     4     — 

Das  Wort  Kapitulation  selbst  wird  in  verschiedener 
Bedeutung  gebraucht  und  zwar  sowohl  als  Kriegs-  als 
auch  als  Friedenskapitulationen. 

Im  ersteren  Sinne  wird  das  Wort  b€i  Uebergabe  von 
Festungen,  Truppenteilen  usw.  angewendet,  z.  B.  Kapi- 
tulation von  Sedan,  Metz.  In  all  diesen  Fällen  erstreckt 
sich  jedoch  eine  solche  Abmachung  nur  auf  die  mili- 
tärische Zuständigkeit  des  abschliessenden  Kommandan- 
ten. 

Die  Friedenskapitulation  hat  einen  ganz  anderen 
Zweck.  Sie  soll  ohne  Rücksicht  auf  etwaige  Sitten  und 
Gebräuche  fremder  Völker  den  dort  befindlichen  christ- 
lichen Ausländern  einen  starken  vertragsmässigen  Schutz 
vor  Verfolgungen  gewähren  und  z.  B.  in  den  mohamme- 
danischen Gebieten  es  den  Moslems  ermöglichen,  mit  den 
Fremden  trotz  der  Gebote  des  Korans  in  Beziehungen 
zu  treten.  Wir  sehen  also,  dass  diese  vor  allem  berufen 
ist,  internationale  Beziehungen  zu  regeln  und  deshalb 
halte  ich  die  Auffassung  Beins  für  vollkommen  richtig, 
dass  die  Kapitulationen,  die  unter  den  Karolingern  dem 
deutschen  Reichsrecht  einverleibt  wurden,  mit  den  Kapi- 
tulationen, die  wir  hier  behandeln  werden,  fast  nichts  zu 
tun  haben,  „da  es  sich  bei  den  ersteren  lediglich  um 
Akte  handelt,  die  in  das  Innere  der  Staatsmaschine  ein- 
greifen. Sie  ordnen  Interna,  ohne  Bezug  zu  nehmen  auf 
irgendwelche  internationale  Beziehungen."  i)  Die  für 
uns  in  Betracht  kommenden  Kapitulationen  mit  osmani- 
schen  Gebieten  waren  zunächst  zeitlich  begrenzt  und  gli- 
chen eher  Waffenstillstandsabkommen,  denn  völkerrecht- 
lichen Verträgen.  Im  Laufe  der  Jahrhunderte  gewann  je- 
doch das  Wort  Kapitulation  immer  mehr  die  Bedeutung 
solcher  beide  Teile  bindenden  'I  raktate  und  wir  v.'crden» 
noch  des  öfteren  Gelegenheit  haben,  auf  diese  wichtige 
Streitfrage  zurückzukommen,  ob  demnach  eine  einseitige 
Aufhebung  zulässig  war.  Meiner  Ansicht  nach  beruht 
auf  dieser  immer  erneut  betonten  türkischen  Auffassung, 
dass  die  Kapitulationen  schlechthin  nur  Waffenstillstands- 
natur besassen,  auch  d;ie  von  mancher  Seite  vertretene  An- 
Ansicht, dass  man  für  die  türkischen  Abmachung(en, 
Kriegs-  und  Friedenskapitulation  gleichsam  zusammen- 
schweissen  könne,  da  diese  zwar  friedliche  Beziehungen 
regeln,  aber  dennoch  für  ein  kriegerisches  Verhältnis  ge- 
schaffen wurden.  2)  Wie  dem  auch  sei,  haben  dennoch  die 

1)  Siehe  Bein  S.  2  ff. 

2)  Siehe  Bein  S.  3. 


—     5     — 

Beziehungen  der  Türkei  mit  den  auswärtigen  Städten  und 
Mäciiten  lange  Zeit  zu  den  verschiedensten  Erörterungen 
Anlass  gegeben.  In  unserer  folgenden  Darstellung  wer- 
den wir  nunmehr  diese  Verhältnisse  gemäss  ihrem  Ur- 
sprung- und  ihrer  Geschichte  zu  behandeln  haben,  um  so- 
wohl füi  die  türkische,  als  auch  für  die  ausländische  Mei- 
nung das  richtige  Verständnis  zu  finden. 

I.  Kapitel. 
Zur  Vorgeschichte  der  Kapitulationen. 

Sir  Twiss  erwähnt  in  seinem  Werke  Le  Droit  des 
Gens,  dass  die  erste  Art  einer  Kapitulation  wohl  den 
Kaufleuten  von  Tarsos  rund  1200  vor  Christi  verliehen 
worden  sei.  Das  Bemerkenswerteste  an  diesem  Prixileg 
Avar  der  Umstand,  dass  es  Leuten  verliehen  wurde,  die 
nicht  dieselbe  Religion  hatten  wie  die  Bewohner  des 
Landes,  dessen  Gastfreiheit  sie  genossen.  Dies  war  be- 
reits ein  grosser  Fortschritt  auf  dem  Wege  zur  Duldsam- 
keit gegenüber  anderen  Konfessionen  und  ein  erster 
Schritt  auf  dem  Wege  zum  internationalen  Verkehr  der 
Völker. 

Später  waren  es  vor  allem  die  Griechen,  die  in 
Aegyplen  festen  Fuss  fassten.  Durch  ihren  weit  aus- 
gebreiteten Handel,  der  sich  bis  über  die  Gebiete  des 
Schwarzen  Meeres  hinaus  erstreckte,  sahen  sie  sich  ge- 
nötigt, auch  mit  König  Amasis  von  Aegypten  verschiedene 
Handeisverträge  abzuschliesscn.  Der  Erfolg  dieser  Be- 
mühungen bestand  in  der  Erlaubnis  zur  Gründung  ver- 
schiedener Faktoreien,  wo  die  Griechen  nach  ihrem  Recht 
und  Gesetz  leben  durften.  Von  der  Begünstigung,  die 
König  Amasis  (570 — 526)  der  milesischen  Kolonie  Nau- 
kratis  angedeihen  liess,  wird  berichtet,  dass  sich  der 
König  nicht  scheute,  in  dem  dort  erbauten  griechischen 
Tempel   selbst  Weihgeschenke   darzubringen,  i) 

Mit  dem  Emporkommen  anderer  grosser  Handels- 
plätze zur  Zeit  Alexanders  des  Grossen  sank  jedoch  die 
Bedeutung  der  griechischen  Kolonie  immer  mehr.  -) 

Die  Entwicklung  im  römischen  Reiche, 

Wenn  wir  auf  die  römische  Weltpolitik  übergeiien, 
so  lässt  sich   dort  noch  bis   etwa   250  vor  Christi  eine 


1)  Trotz  dieser   völkerfreundlichen    Politik   musste   sich  sein 
Nachfolger  Psammetich  III.  den  Persern  unterwerfen. 

2)  Vgl.  auch  Miltltz  Manuel  des  Consuls  Bd.  I.  S.  9. 


—    6    — 

den  fremden  Kaufleuten  freundliche  Gesinnung  beobach- 
ten, die  sich  darin  zeigt,  dass  den  Angehörigen  der 
Staaten,  mit  denen  Rom  Handeisverträge  abgeschlossen 
hatte,  auch  Zutritt  zum  Recht  der  römischen  Bürger, 
d,  h.  dem  'us  civile  gewährt  wurde.  VölJig  änderte  sich 
jedoch  diese  den  Fremden  günstige  Politik  seit  dem 
dritten  Jahrhundert.  Uebermütig  geworden  durch  seine 
grossen  Erfolge  und  Eroberungen  wollte  Rom  den  Frem- 
den nicht  mehr  die  Vergünstigung  des  ius  civile  zuteil 
werden  lassen  und  schloss  sie  kurzerhand  vom  Genüsse 
desselben  aus.  Dies  hatte  zur  Folge,  dass  die  Fremden 
nur  nach  ihrem  eigenen  Handelsrecht  leben  konnten,  ihre 
Geschäfte  mit  römischen  Bürgein  keine  formelle  Gültig- 
keit besassen  und  hierdurch  der  gesamte  Rechtsverkehr 
sehr  ungünstig  beeinflusst  wurde.  Daher  konnte  dieser 
Zustand  nicht  von  langer  Dauer  sein  und  bereits  im 
Jahre  242  vor  Christus  wurde  für  die  Fremden  ein  praeter 
peregrinus  bestellt,  der  ihrer  Rechtslosigkeit  einiger- 
massen  abhelfen  sollte.  „Aus  den  verschiedenen,  in 
den  Peregrinenprozessen  zur  Anwendung  gebrachten 
Fremdenrechten  entwickelte  sich  ein  allgemeines  römi- 
sches Fremdenrecht  (ius  gentium),  dessen  Inhalt  die 
Grundsätze  bildeten,  die  sich  im  Verkehre,  zumal  im 
Handelsverkehr  mit  den  Ausländern,  insbesondere  mit  den 
Griechen,  auf  dem  Wege  der  Rechtsübung  allmählich  aus- 
gebildet hatten  und  auch  in  dem  Gebiet  des  praeter  pere- 
grinus Aufnahme  fanden."  i)  Späterhin  fand  das  ius 
gentium  wegen  seiner  vielen  nützlichen  Stellen  im  römi- 
schen Privatrecht  selbst  Aufnahme.  Kipp  betont  dement- 
sprechend, dass  sich  das  römische  Recht  aus  Sonder-  und 
Stadtrecht  allmählich  zu  einem  allgemeinen  Weltrecht 
ausbildete.  -)  Wie  wir  bereits  oben  anführten,  begann 
das  ius  gentium  immer  mehr  in  das  römische  Privat- 
recht selbst  einzudringen.  Es  ist  daher  leicht  begreiflich, 
dass  bereits  im  Jahre  212  Caracalla,  gestützt  auf  die  stets 
wachsende  Grösse  seines  Vaterlandes  und  die  bedeuten- 
den Vorzüge  des  ius  gentium,  durch  die  Lex  Antoniniana, 
das  ius  civile  und  das  ius  gentium  zu  verschmelzen  suchte. 
Es  sollte  aber  erst  der  gewaltigen  gesetzgeberischen  Tä- 
tigkeit eines  Kaisers  Justinian  vorbehalten  sein,  die  beiden 
Rechte  fast  vollkommen  zu  vereinigen,  sodass  sich  im 
römischen  Reiche  Fremde  und  römische  Bürger  beinahe 
völlig  gleichstanden. 

1)  Siehe  Salkowsky  §  8  B. 

2)  Siehe  Kipp  Geschichte  der  Quellen  des  römischen  Rechts. 


—     7     — 

In  Griechenland. 

Dieselbe  Rolle  wie  die  römischen  praetöres  peri- 
grini  bilden  im  alten  Griechenland  die  sogenannten  Pro- 
xenen,  die  nach  Laurent  immer  Bürger  des  Staates 
waren,  in  dessen  Gebiete  sie  die  Rechte  und  Interessen 
der  Untertanen  fremder  Staaten  zu  wahren  und  auch  vor 
Gericht  zu  vertreten  hatten,  i)  Sfhon  aus  diesem  Grunde! 
ihrer  Staatsangehörigkeit  wird  man  schwerlich  in  ihnen 
oder  in  den  praetöres  perigrini  Konsuln  erblicken,  die 
die  Vorläufer  unserer  heutigen  völkerrechtlichen  Kon- 
sularinstitution   nach   jeder   Hinsicht  sein  könnten. 

In   Kalifat. 

Erst  seit  dem  8.  Jahrhundert  lassen  sich  Bezieh- 
ungen zwischen  christlichen  und  arabischen  Fürsten  nach- 
weisen. Besonders  bemerkensv/ert  sind  hiefür  die  Be- 
mühungen und  Erfolge  Karls  des  Grossen.  Während  sei- 
ner Herrschaft  empfing  der  Kalif  Harun-a!-Raschid  (der 
Gerechte)  mit  all  dem  von  ihm  so  sehr  geliebten  Pompe 
eine  fränkische  Gesandtschaft  im  Jahre  797  und  machte 
hiedurch  seinen  Namen  im  ganzen  Abendlande  bekannt.  ^') 
In  der  Folgezeit  gelang  es  Karl  dem  Grossen,  diesen 
freundschaftlichen  Verkehr  auf  das  Tatkräftigste  zu  för- 
dern und  zum  Wohle  seiner  dort  lebenden  Untcrtaner^ 
auszubauen.  Vor  allem  gebührt  ihm  der  Ruhm,  den  Grund- 
stein zur  Konsulargerichtsbarkeit  in  der  Levante  gelegt 
zu  haben,  wenn  ihm  das  auch  nach  Sir  Twiss  nur  für 
Syrien  und  Palästina,  nicht  aber  auch  für  Aegypten  ge- 
lang, 3)  Allmählich  festigte  sich  die  Stellung  der  Aus- 
länder im  Kalifenreiche  immer  mehr,  sodass  wir  bereits 
gegen  Ende  des  ersten  Jahrtausend  hier  Beamte  sehen, 
die  von  ihrem  Heimatstaat  gesandt  wurden,  um  die 
dort  lebenden  Franken  zu  schützen,  deren  Streitigkeiten 
zu   schlichten   und   je   nach   Gebühr   auch   zu   bestrafen. 

Was  Aegypten  anbetrifft,  so  befand  sich  dieses, 
von  Natur  aus  überaus  reiche  Land  nach  Eroberung  durch 
die  Araber  in  den  Händen  einer  für  das  Seewesen  ziem- 
lich ungeeigneten  Nation.  Trotzdem  hatten  jedoch  die 
Beherrscher  Aegyptens  ein  grosses  Interesse  daran,  die 

1)  Laurent,  Histoire  du  droit  des  gens  et  des  relations  inter- 
nationales .  .  .  Brüssel  1862.  Teil  II.  S.  119  ff.  Müller  Jochmus 
Geschichte  des  Völkerrechts  Im  Altertum  Leipzig  1848  S.  108. 

2)  Palmer  The  Caliph  Haroun  Alraschid  London  1880. 

3)  Sir  Twiss  S.  460. 


—     8     — 

Schatze  des  Landes  nach  Möglichkeit  zu  verwerten.    Bei 
die'^eni  Bestreben  konnte  ihnen  nichts  erwünschter  sein 
als  eine  Annäherung  an  grosse  seefahrende  Völker,  wie 
es   damals   vor   allem    die   italienischen    Staaten    waren. 
Nachdem  der  erste  grosse  Bekehrungseifer  der  Moslems 
sich  g'e'egt  hatte,  war  daher  nichts  natürlicher,  als  dass 
die  Araber  in  regem  Verkehr  mit  den  italienischen  Staa- 
ten traten  und  denselben  weitest  gehende  Vergünstigun- 
gen  zuteil   werden   Hessen.     Der  Beginn   dieser   Bezieh- 
ungen wird  von  den  Gelehrten  verschieden  angenommen. 
Miltitz  behauptet  in   seinem   Manuel  des   Consuls,   dass 
von   einem  Vertrag  zwischen  Arabern  und  Christen  vor 
dem  13.  Jahrhundert  keine  Rede  sein  könne,  i)    An  einer 
anderen  Stelle  seines  Werkes  spricht  er  jedoch  davon, 
dass  Angehörige  der  Stadt  Pisa  sich  bereits  im  12.  Jahr- 
hundert in  Alexandrien  und  Kairo  niedergelassen  hätten.-) 
Martens  erklärt  hiezu  in  seinem  Werke  „Das  Konsular- 
wesen'', dass  neuere  Forschungen  ergeben  hätten,  dass 
schon  seit  dem  7.  Jahrhundert  Beziehungen  zwischen  Ita- 
lienern und   Bewohnern  Aegyptens  stattgefunden  hätten 
und  dass  der  erste  Vertrag  von  Pisa  im  Jahre  1154  mit 
dem   ägyptischen    Herrscher   eingegangen    wurde.     Bein 
berichtet  hiegegen  aus  Clunet  „Journal  de  droit  internatio- 
nal  prive*',   dass  Amalfi   als   die   erste  Stadt  angegeben 
werden    könne,    deren    Kaufleute    am    Ausgang   des    19. 
Jahrhunderts   die   ersten   derartigen   Zugeständnisse  ge- 
währt  wurden,   sodass   sie   unter  der   Oberhoheit  eines 
Beamten  ihres  Staates  mit  Alexandrien   Handel  treiben 
konnten.  3) 

Da  trat  plötzlich  ein  Ereignis  ein,  das  für  die  christ- 
hchen  Bestrebungen  bei  den  muselmanischen  Völkern 
leicht  verhängnisvoll  werden  konnte.  Wie  das  heilige 
Feuer  des  Bekehrungseifers  die  Moslems  dazu  entflammt 
hatte,  gegen  eine  Welt  ihren  Glauben  durchsetzen  zu 
wollen,  so  erfasste  die  Botschaft  des  Papstes  die  da- 
malige christliche  Welt  und  überall  wurde  zum  Zuge  gegen 
die  Mohammedaner  und  zur  Befreiung  der  heiligen  Stät- 
ten geworben.  Nichtsdestoweniger  blieben  die  Bezieh- 
ungen mit  Aegypten  hiervon  fast  völlig  unberührt,  ja  die 
dortigen  Herrscher  forderten  die  europäischen  Kaufleute 
sogar  auf,  das  ägyptische  Reich  auch  fernerhin  aufzu- 
suchen und  sicherten  ihnen  Freiheit  der  Person  und  des 


1)  Miltitz  Manuel  des  Consuls  T.  II.  T.  I.  S.  155  und  398. 

2)  Miltitz  T.  II.  T.  I.  S.  134. 

3)  Bein  S.  7,  Clunet  Paris  1905  S.  127. 


—     9     — 

Eigentums  zu.  i)  Besonders  Genua  und  Pisa  sind  mit 
unter  den  ersten  der  bevorzugten  Staaten  zu  nennen,  die 
bereits  im  12.  Jahrhundert  so  weitgehende  Rechte  be- 
sassen,  dass  ihnen  ein  rasches  Aufblühen  ihrer  Nieder- 
lassungen ermöglicht  wurde.  -)  Die  oben  erwähnte  Kapi- 
tulation von  1154  verlieh  den  Angehörigen  des  genuesi- 
schen Staates  das  Recht  der  eigenen  juristiktion,  Freiheit 
der  Person  und  des  Vermögens  und  bestimmte  ferner, 
dass  kein  Genosse  für  die  Schuld  eines  Landsmanns 
zu  haften  hätte.  Diese  letztere  Bestimmung  war  be- 
sonders wertv'oU  wegen  der  Unsicherheil  im  Lande  und 
dem  leicht  in  Gewalttätigkeiten  ausartenden  Rachedurst 
der  Bevölkerung.  Auch  hier  sehen  wir  bereits  die  später 
immer  wiederkehrende  Bestimmung,  dass  Schiffe  der 
Pisaner  nicht  ohne  Weiteres  zurückgehalten  werden  dür- 
fen, ein  Zugeständnis,  das  für  seefahrende  Kaufleute  von 
grosser  Wichtigkeit  sein  musste. 

In  der  Folgezeit  wurden  die  Verträge  noch  des  öfte- 
ren bestätigt  und  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  er- 
weitert. Der  im  Jahre  1215  zwischen  Pisa  und  Aegyp- 
ten  abgeschlossene  Vertrag  war  in  dieser  Hinsicht  wohl 
am  vollkommensten  und  enthielt  bereits  die  Anordnung, 
dass  in  Streitigkeiten  zwischen  Aegyptern  und  Pisaner 
letztere  das  Recht  hätten,  sich  im  Notfalle  bis  an  den 
Sultan  zu  wenden.  Ein  ganz  ähnliches  Recht  also,  wie  es 
den  Franzosen  und  späterhin  auch  den  anderen  Natio- 
nen in  der  Türkei  gewährt  wurde.  Im  Laufe  der  Zeit 
schwächten  sich  jedoch  die  freundschaftlichen  Bezieh- 
ungen zwischen  Pisa  und  Aegypten  immer  mehr  ab,  wo- 
bei die  päpstlichen  Verbote  eine  ziemlich  grosse  Rolle 
spielten.  Verboten  doch  damals  die  Dekrete  des  römi- 
schen Bischofs  unter  Androhung  der  schwersten  Strafen 
den  gesamten  Handel  mit  Aegypten.  Für  eine  Weile 
übte  dies  auch  auf  die  Politik  der  Völker  einen  bestimmen- 
den Einfluss  aus,  aber  bald  genug  setzte  sich  Venedig 
bereits  im  13.  Jahrhundert  über  all  diese  Bedenken  hin- 
weg und  trat  in  regen  Verkehr  mit  dem  ägyptischen 
Staate.  Der  erste  bedeutsame  Vertrag  fällt  nach  Tafel  und 
Thomas  in  das  Jahr  1238.^)  Nach  einer  Reihe  von  Be- 
stätigungen  erhielt  Venedig  späterhin   eine  mit  grossen 


1)  Martens  S.  110. 

2)  Die  Republik  Venedig   gelang   dies   jedoch  nach   Depping 
erst  zu  Beginn  des  13.  Jahrhunderts. 

3)  Taiel  und  Thomas  Urkunden  11.  S.  336.  und  Martens  S.115. 
vgl.  auch  Miltitz  T.  (Tome)  T.  I.  S.  62. 


—     10    — 

V^orrechten  ausgestattete  Kapitulation  (1302).  Es  wird  die 
Konsularjurisdiktion  anerkannt  undden  Venezianern  eben- 
so wie  frülier  den  Angehörigen  von  Pisa  das  Recht  ge- 
währt, selbst  an  den  Sultan  heranzutreten.  Von  den 
früheren  Abmachungen  wurden  ferner  die  Zusicherung 
über  die  Freiheit  der  Fremden  und  über  die  Unverletz- 
lichkeit ihres  Vermögens  übernommen,  wozu  noch  die 
Bestimmung  kam,  dass  der  jeweilige  Konsul  auch  die 
freiwillige  Gerichtsbarkeit  hinsichtlich  der  Verwaltung 
des  Vermögens  eines  verstorbenen  Venezianers  über- 
tragen erhielt.  Wie  gross  die  den  Venezianern  gewähr- 
ten Vergünstigungen  waren,  können  wir  auch  daraus  er- 
sehen, dass  für  deren  Schiffbrüchige  jegliches  Strandrecht 
für  aufgehoben  erklärt  wurde  (vgl.  die  entsprechenden  Be- 
stimmungen der  französischen  Kapitulationen  mit  der 
Türkei  weiter  unten).  Nach  verschiedenen  Bestätigungen 
und  Erweiterungen  ihrer  Rechte  schlössen  die  Venezianer 
mit  dem  ägyptischen  Sultan  noch  die  Kapitulation  vom 
Jahre  1388  ab.  Von  da  an  sinkt  die  Bedeutung  des 
ägyptisch-venezianischen  Handelsverkehrs  immer  mehr 
und  erst  im  Jahre  1517  erhielten  die  Kapitulationen  wie- 
der Bedeutung,  als  Aegypten  durch  die  Türkei  unter- 
worfen wurde  und  die  Venezianer  aus  diesem  .anlasse 
eine  neuerliche  Bestätigung  ihrer  Rechte  für  das  gesamte 
otomanische  Staatsgebiet  erhielten,  i)  (Vgl.  weiter  unten 
die  Kapitalationen  mit  der  Türkei.) 

In  der  Folgezeit  trat  noch  besonders  Florenz  hervor^ 
das  durch  die  Bemühungen  Lorenzo's  von  Medici  weit- 
gehende Vorrechte  erhielt.  Maitens  erwähnt  besonders 
die  Kapitulation  aus  dem  Jahre  1484  und  bemerkt,  dass 
deren  24.  Artikel  die  ausserordentlich  weitgehende  Be- 
stimmung enthielt,  dass  Angehörige  des  llorentinischen 
Staates  von  den  ägyptischen  Gerichten  selbst  gegen  An- 
griffe anderer  europäischer  Staatsangehöriger  zu  schützen 
seien.  Dies  ist  eine  Bestimmung,  die  sich  in  dieser  Be- 
deutung in  keiner  der  späteren  Kapitulationen  vorfindet, 
denn  „es  ist  offenbar,  dass  die  angeführte  Bestimmungi  der 
Florentiner  Kapitulation  vom  Jahre  1484  zu  unvermeid- 
lichen Kolissionen  mit  anderen  Völkern  hat  führen  müs- 
sen, wenn  sie  überhaupt  jemals  in  Anwendung  gebracht 
worden  ist".  Bis  zur  Eroberung  Aegyptens  wurde  dann 
noch   eine   Reihe   neuer   Verträge   zwischen   den   beiden 


1)  Vgl.  Hevd  T.  II.  S.  277.    Hammer  Bd.  II.  S.  505  u.  Martens. 
S.  118  fl. 


—    11    — 

Staaten  abgeschlossen,  von  denen  die  Kapitulation  vom 
Jähre  1509  die  letzte  war.  i) 

Zur  gleichen  Zeit  wie  die  Städterepubliken  und  Für- 
stentümer bewarben  sich  auch  Arragonien  und  Frankreich 
um  Rechte  und  Zusicherungen.  Da  uns  für  unsere  Dar- 
stellung Frankreich  besonders  interessiert,  so  wollen  wir 
dessen  Beziehungen  zu  Aegypten  etwas  näher  betrach- 
ten. Die  französischen  Könige  hatten  sich  seit  jeher  da- 
für eingesetzt,  ihren  Untertanen  alle  möglichen  Handels- 
erleichterungen im  Orient  zu  verschaffen  und  bereits  um 
die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  wurden  in  Alcxandrien 
und  Tripolis  Konsuln  angestellt,  wenn  auch  die  Be- 
hauptung Pouquevilles,  wie  iVlartens  bemerkt,  dass  auch 
die  Besitzungen  anderer  Völker  unter  dem  Schutz  Frank- 
reichs zu  stehen  kamen,  nicht  ganz  glaublich  erscheint.-) 
Ferner  soll  bereits  Karl  der  Kühne  im  Jahre  1270  einen 
Handelsvertrag  im  Interesse  seiner  Untertanen  abgeschlos- 
sen haben.  Miltitz  erwähnt  in  seinem  Werke  „Manuel  des 
Consuls*',  dass  der  Sultan  von  Aegypten  in  einem  Hand- 
schreiben an  den  französischen  König  dessen  Untertanen 
für  die  meist  begünstigte  Nation  erklärte  und  die  Er- 
richtung eines  französischen  Konsulats  in  Aegypten  ge- 
stattete. Im,  übrigen  ist  aus  den  französisch-ägyptischen 
Verträgen  bei  weitem  kein  so  klares  Bild  zu  erhalten  über 
die  damaligen  Verhältnisse,  wie  aus  den  Kapitulationen 
der  italienischen  Staaten.  Von  ausschlaggebender  Bedeu- 
tung vyurden  die  französischen  Abmachungen  erst  seit  der 
Eroberung  Aegyptens  für  die  Türkei.  Was  Syrien  und 
Palästina  betrifft,  so  schlössen  die  eben  behandelten  Staa- 
ten mit  den  dort  siegreichen  Sarazenen  gleichfalls  Ver- 
träge ab,  die  den  Schutz  der  Untertanen  und  die  Konsular- 
einrichtungen  betrafen.  (Näheres  über  die  sehr  inter- 
essanten venezianischen  Konsularinstitutionen  siehe  Mar- 
tens  „Das  Konsularwesen",  S.  12Q  ff.)  Späterhin  wurden 
ferner  rtiit  den  Staaten  der  Berberei,  insbesondere  mit 
Tunis,  verschiedene  Verträge  abgeschlossen,  über  die 
von  Martens  gleichfalls  sehr  ausführlich  berichtet.  (Siehe 
daselbst  S.  133  ff.) 

Im  byzantinischen   Reiche. 

Die  Stadt  Amalfi  mit  ihrem  regen  Handelsgeist  war 
auch  hier  die  erste  der  italienischen  Republiken,  die  mit 

1)  Martens  S.  121  !f. 

2)  Martens  S.  126   Pouquevilles,   Memoire  de  ["Institut.     Aca- 
demie  des  Inscriptions  et  Belleslettres.    Paris  1838.  T.  X.  S.  542. 


—     12     — 

Byzanz  Beziehungen  anknüpfte.  Doch  nach  dem  Jahre 
1135  sank  ihre  Bedeutung  immer  mehr  und  sie  musste 
ihre  Stellung  zunächst  an  Pisa  und  bald  darauf  an  das 
aufblühende  Venedig  abtreten. 

Letzterem  Staate  wurde  bereits  im  Jahre  1060  vom 
Kaiser  Konstantin  X.  Dukas  (1059—1067)  das  Recht  ge- 
währt, Richter  zu  bestellen,  die  in  bürgerlichen  Rechts- 
streitigkeiten und  Strafsachen  ihrer  Landsleute  zu  ur- 
teilen hatten.  Auf  die  Klagen  des  venezianischen  Ge- 
sandten wegen  der  fortwährenden  Verletzung  der  Ab- 
machungen verlieh  die  goldene  Bulle  Kaiser  Alexis  IIL 
im  Jahre  119Q  den  Venezianern  eine  Vergünstigung,  die 
in  keiner  der  späteren  Kapitulationen  so  weitgehend  m.ehr 
zu  finden  ist.  Er  bestimmte  nämlich,  dass  die  Venezianer 
selbst  Streitsachen  mit  den  Untertanen  des  griechischen 
Kaisers  durch  ihren  Richter  entscheiden  lassen  könnten, 
sofern  nur  der  geschädigte  Grieche  kein  besonders  hoher 
Staatsbeamter  wäre,  i)  Nach  der  Eroberung  von  Kon- 
stantinopel durch  die  Kreuzfahrer  im  Jahre  1204  (12.  April) 
wurde  der  byzantinische  Kaiser  Marzuphlos  abgesetzt,  die 
Stadt  grösstenteils  geplündert,  wobei  Venedig  die  reich- 
sten Kunstschätze  sich  aneignete  und  Graf  Balduin  von 
Flandern  am  16.  Mai  zum  Kaiser  von  Konstantinopel  ge- 
wählt. Unter  diesem  lateinischen  Kaisertum  war  die 
Macht  des  venezianischen  Staates  eine  schier  unbe- 
schränkte zu  nennen.  Martens  schreibt  mit  Recht,  dass 
„in  den  Zeiten  des  lateinischen  Kaiserstaates  der  vene- 
zianische Podestä  oder  Konsul  nicht  nur  der  Wahrer  der 
Interessen  seiner  Mitbürger,  sondern  sogar  die  zv/eite 
Person  nach  dem  lateinischen  Kaiser,  sozusagen  der 
Vizekaiser  von  Byzanz  war*'.  -)  Genua  erhielt  im  Jahre 
1204  die  Ermächtigung  eine  Vorstadt  von  Konstantinopel 
unter  der  ausschliesslichen  Herrschaft  seiner  eigenen  Be- 
amten zu  bewohnen.  3)  Diese  Vorzugsstellung  verstand 
Genua  immer  weiter  auszubauen,  sodass  es  bereits  im 
Jahre  1261,  als  das  Geschlecht  der  Paläologen  wieder  den 
griechischen  Kaiserthron  in  Besitz  nahm,  die  gleiche 
Stellung  einnahm  wie  Venedig  unter  dem  lateinischen 
Kaiserstaate.  Von  der  venezianischen  Macht  selbst  blieb 
nur  der  Titel  Podestä,  den  sich  nunmehr  der  genuesische 
Konsul  beilegrte. 


1)  Heyd  Bd.  I.  S.  83-85  u.  a.  m. 

2)  Martens  S.  91  {f. 

3)  Bonfils-Ürah  S.  389. 


—     13    — 

Marseille  Hess  sich  das  Recht,  Konsuln  zu  bestellen,, 
durch  Montferrat,  dem  Herrscher  von  Tyrus,  und  durch 
Johann  d'Ibelin,  dem  Herrscher  von  Beirut,  im  Jahre  1223 
einräumen.  Desgleichen  Narbonne  durch  Androny- 
kus  III.,  dem  Kaiser  von  Konstantinopel  (1340),  sowie 
von  den  St.  Johannis-Rittern  von  Jerusalem  auf  Rhodus 
(1351  und  1356)  und  von  Alexandrien  1377.  Montpeiller 
hatte  in  Konstantmopel,  Antiochien,  Tripolis  (1243),  im 
Königreich  Cypern  (1247),  in  Alexandrien  1267  und  auf 
Rhodus  1356  einen  Konsul  und  eine  Strasse,  die  für  seine 
Kaufleute  bestimmt  war. 

In  all  diesen  Abkommen  sehen  wir  die  immer  wie- 
derkehrende Bestimmung,  dass  die  Fremden  durch  ihren 
eigenen  Konsul  abgeurteilt  werden  sollen.  Dies  hat 
seinen  ürund  einesteils  in  der  damals  noch  vielfach  herr- 
schenden Recht'sunsicherheit,  andererseits  aber  auch  in 
dem  Prinzip  der  „Persönlichkeit  des  Rechts*',  d.  h.  jeder 
Fremde  musste  nach  den  Gesetzen  seiner  Heimat  behan- 
delt werden,  wobei  es  gleichgültig  war,  ob  er  auf  byzan- 
tinischem oder  levantinischem  Boden  seinen  Wohnsitz 
hatte.  Hieraus  ergab  sich  aber  die  Notwendigkeit,  die 
Rechtspflege  einem  mit  dem  jeweils  in  Frage  kommenden 
Recht  vertrauten  Beamten  zu  übertragen.  Ein  solcher 
Beamte  war  der  Consul  d'outre  mer  oder  ä  Fetranger,  der 
neben  seiner  autoritativen  Stellung  als  Oberhaupt  der 
kleinen  genuesischen,  venezianischen  oder  marseilleaini- 
schen  Genossenschaft  auch  gleichzeitig  der  Richter  über 
deren   Händel   war.  i) 

II.  Kapitel. 

Entstehungsgründe  und  Geschichte  der  Kapitulationen 
mit  der  Türkei. 

Wie  wir  aus  der  vorhergegangenen  Darstellung  er- 
sehen konnten,  schlössen  die  handeltreibenden  Staaten 
sowohl  in  christlichen  wie  mohammedanischen  Gebieten 
mit  den  dortigen  Herrschern  zum  Schutze  ihrer  Ange- 
hörigen Kapitulationen  ab,  die  sich  jedoch  je  nach  dem. 
Bekenntnisse  der  beiden  vertragschliessenden  Teile  we- 
sentlich unterschieden,  da  ein  verschiedener  Glaube  meist 
auch  die  Zusicherung  der  Religionsfreiheit  erforderte. 
Die  Kapitulationen  der  späteren  osmanischen  Reiche  hat- 
ten bereits  ihre  Vorläufer  in  den  oben  behandelten  byzan- 

1)  Siehe  Bonfils-Grah  S.  398. 


—    u    — 

tinischen  Abmachungen.  Von  Martens  bemerkt,  „das  die 
Reichte  und  die  Tätigkeit  der  Konsuln  anfangs  unter  dem 
Schutze  der  territorialen  Gewalt  eines  christlichen  Staates 
sich  entfalten  und  klar  werden,  während  späterhin  die 
Konsulate  mit  der  Staatsgewalt  der  Muselmänner  zu  rech- 
nen hatten**,  i)  Dieses  zuletzt  angeführte  Argument  ist 
wohl  auch  der  hauptsächlichste  Unterschied  unter  den  Ka- 
pitulationen mit  christlichen  oder  mohammedanischen 
Aufenthaltsstaaten.  Denn  nachdem  sich  die  Herrschaft 
der  Osmanen  endgültig  in  den  bisher  christlichen  Gebieten 
festgesetzt  hatte,  mussten  die  dort  ansässigen  europä- 
ischen Kaufleute  vor  allem  darauf  bedacht  sein,  die  gros- 
sen Interessen  der  ausgedehnten  christlichen  Faktoreien 
mit  Nachdruck  zu  wahren.  Zunächst  bestand  wohl  eine 
gewisse  Sicherheit  in  dem  Bedürfnis  der  orientalischen 
Gewalthaber  mit  den  Völkern  des  Abendlandes,  Verkehrs- 
und Handelsbeziehungen  zu  unterhalten.  Dies  konnte 
den  christlichen  Kaufleuten  jedoch  auf  die  Dauer  nicht 
genügen,  da  durch  die  Religionsvorschriften  der  sieg- 
reichen Mohammedaner  eine  neue  schwere  Bedrohung; 
für  die  Fremden  entstand.  Nach  dem  Koran  sind  die 
Menschen,  die  nicht  Bekenner  des  Islams  sind,  Bewohner 
der  Welt  des  Krieges  (Dar-ul-Harb),  im  Gegensatz  für 
den  Rechtgläubigen,  den  Bewohnern  der  Welt  des  Is- 
lams (Dar-ul-Islam).  Den  Gläubigen  gegenüber  haben 
die  ersteren  immer  als  Feinde  zu  gelten,  ausgenommen 
die  Zeit  eines  Waffenstillstandes  oder  einer  Bürgschafts- 
leistung, d.  h.  wenn  die  Fremden  unter  dem  Schutze  des 
Sultans  standen  (Aman).  -)  D'Ohsson  sagt  daher  auch, 
dass  der  Krieg  gegen  die  Ungläubigen  eine  der  gottge- 
fälligsten Taten  gewesen  sei.  ^) 

Zufolge  ihrer  Religionsvorschriften  unterscheiden  die 
Moslems  vier  Kategorien  von  Menschen: 

„1.  Die  Müslemin  oder  Anhänger  Mohammeds.  Die- 
se besitzen   alle  bürgerlichen   und  politischen   Rechte. 

2.  Die  Ziinmi.  Darunter  versteht  man  die  Christen, 
Hebräer  und  Götzenanbeter,  die  unter  muselmanischer 
Botmässigkeit  stehen.  Heutzutage  nennt  man  diese  Volks- 
kiassen  der  Türkei  die  Rajah. 


1)  Siehe  von  Martens  S.  53. 

2)  Siehe  Boniils  und  Martens  S.  177.  Aman  bedeutet  soviel 
wie  Sicherheit  der  Ungläubigen  und  kommt  aus  dem  Arabischen 
Siehe  Mas  Latrie  I.  Kapitel  Einleitung  S.  85. 

3)  D'Osshon  Tableau  general  de  l'Empire  Ottoman  Paris  1824 
Bd.  5  S.  64,  50  und  Martens  S.  178  ff. 


—     15     — 

3.  Die  Mustamins  oder  Ausländer,  die  sich  unter 
dem  Schutze  der  völkerrechtUchen  Verträge  der  Türkei 
zeitweiUg  in  der  Türkei  aufhalten  oder  aber  angesiedelt 
haben."  (Weiter  oben  wurde  das  Aman  des  Sultans 
erwähnt  und  ist  hiezu  zu  bemerken,  dass  eben  die  mit 
dieser  Gnade  bedachten  Fremden  als  Mustamin  betrach- 
tet wurden.) 

„4.  Endlich  die  Harbi  oder  Feinde  der  Moslemin, 
d.  h.  alle  die  Völker,  die  sich  nicht  zum  Islam  bekennen 
und  mit  denmohammedanischen  Staaten  keine  völker- 
rechtlichen  Freundschaftsbündnisse  geschlossen  haben.'' 

Martens  bemerkt  noch  zu  dieser  seiner  Darstellung, 
dass  das  Wort  Harbi  darauf  hindeutet,  dass  mit  diesen 
Völkern  Kriege  geführt  werden  soll.  (Vgl.  Dar-ul- 
Harb.)  i) 

Diese  Scheidewand  hatte  aber  auch  das  Gute  zur 
Folge,  dass  sich  die  Mohammedaner  auf  Grund  des 
geistlichen  Schereatrechtes  nicht  in  die  religiösen  und 
zivilrechtlichen  Fragen  der  Fremden  einmischten,  so  dass 
diese  in  den  meisten  Beziehungen  eine  ziemlich  freie 
Selbstverwaltung  hatten.  Nichtsdestoweniger  war  für  die 
Fremden  die  Einteilung  in  die  Klasse  der  Harbi  eine 
ständige  Bedrohung  und  dies  umsomehr,  da  „der  tür- 
kische Kaiser'',  wie  der  Venezianer  Marco  Antonio  im 
Jahre  1573  schrieb,  „keine  anderen  Gesetze  kennt,  die  die 
Rechtspflege,  die  Staatsverwaltung  und  die  religiösen 
Bteziehungen  bestimmen  könnten,  ausser  dem  Koran".  2) 
Martens  pflichtet  diesen  Ausführungen  bei,  indem  er  be- 
merkt, dass  „wirklich  eine  unteilbare  Vermengung  der 
Religion  und  des  Rechtes,  der  Moral  und  des  Gesetzes, 
der  Kirche  und  des  Staates  die  charakteristische  Eigen- 
schaft  des   türkischen   Reiches   bilde".  ^) 

!♦  Die  Vereinbarungen  mit  Genua  und  Venedig. 

Als  Muhamed  II.  Konstantinopel  dem  byzantinischen 
Kaiser  Konstantin  XI.  Degrades  entrissen  hatte,  waren 
es  als  erste  die  Genueser,  die  sich  noch  im  gleichen, 
Jahre  1453  dem  türkischen  Eroberer  unterwarfen.  Sie 
wurden  deshalb  von  ihm  mit  einiger  Schonung  behandelt, 
d.  h.  ihre  Häuser  wurden  nur  erbrochen,  aber  nicht  ge- 
plündert, sie  selbst  wurden  zu  einer  Kopf-  und  Grund- 

1)  Martens  S.  179  if. 

2)  Martens  S.  178  ff. 

3)  Martens  S.  178  ff. 


—     16     — 

Steuer  0  herangezogen  (Ghizet  und  Charadsch).  Kurz 
darauf  wurde  den  Genuesen  bereits  ein  Freibrief  gewährt, 
der  ihnen  Freiheit  des  Handels  und  der  Person  zu- 
sicherte (29.  Mai  1453).  2)  Ferner  wurde  ihnen  Be- 
freiung von  besonderen  Abgaben  gewährt  und  sie  durf- 
ten sich  für  ihre  Rechtsstreitigkeiten  einen  eigenen  Be- 
amten wählen,  dessen  Person  für  unverletzlich  erklärt 
wurde.  Gleichzeitig  können  .wir  hierbei  eine  interessante 
Feststellung  machen,  dass  Genua  die  Rechte  und  Frei- 
heiten einer  meistbegünstigten  Nation  gewährt  wurden. 
Diese  Gunst  zeigt  uns  deutlich  die  international-rechtliche 
Bedeutung  der  Kapitulationen  in  der  Türkei.  Denn  in  der 
Folge  wurde  diese  Klausel  der  Gleichstellung  der  Unter- 
tanen und  Rechte  der  vertragschliessenden  Staaten  fast 
in  alle  Kapitulationen  der  Türkei  aufgenommen  und  es 
ist  deshalb  nicht  einzusehen,  weshalb  Frankreich  Jahr- 
hunderte hindurch  eine  Vorzugsstellung  gegenüber  den 
anderen  Nationen  beanspruchte.  In  dem  preussisch-tür- 
kischen  Freundschaftsvertrage  sehen  wir  im  Artikel  4 
die  Meistbegünstigung  in  der  Hinsicht  umgrenzt,  dass 
den  preussischen  Konsuln  und  Untertanen  dieselbe 
Vorzugsstellung  eingeräumt  werden  soll,  wie  den  Unter- 
tanen der  übrigen  befreundeten  Staaten.  In  den  späteren 
Ausführungen  werden  wir  übrigens  noch  des  öfteren  auf 
diese    Erscheinung   zurückzukommen    haben.  •'^) 

Ein  ungleich  härteres  Los  als  Genua  traf  Venedig, 
das  wegen  der  Unterstützung,  die  es  dem  byzantinischen 
Reich  hatte  angedeihen  lassen,  fast  seine  sämtlichen,  in 
Konstantinopel  ansässigen  Untertanen  durch  Tod  oder 
Gefangennahme  verlor,  wobei  auch  sein  dortiger  Bai- 
lo  ^)  getötet  wurde.  ^)  (Dieser  Vorgang  zeigt  die  Be- 
deutung der  Zusicherung  an  die  Genueser,  durch  die 
deren  Bailo  für  unverletzlich  erklärt  worden  war.)  Erst 
am    15.    April    1454   wurde   zwischen    Venedig  und   der 


1)  Von  Hammer  Bd.  I.  S.  426  und  428. 

2)  Der  Originaltext  dieses  Abkommens  findet  sich  nicht  ab- 
gedruckt wohl  aber  eine  Wiederholung  in  der  Confirmation  des 
lettres-patentes  de  1453  von  Adrianopel  aus  d.  J.  1612.  s.  Nora- 
dounghian  Bd.  1  S.  111  \\. 

3)  Ueber  die  Meistbegünstigungsklausel  in  den  verschiedenen, 
anderen  Kapitulationen  siehe  Antonopoulos  S    102.  Anm.  4. 

4)  Bailo  bezeichnet  nach  Miltitz  Bd.  2,  1,  S.  25  mit  Anm.  2 
den  venezianischen  Gesandten  in  Konstantinopel,  dann  aber  auch 
die  übrigen  dortigen  Gesandten  und  wurde  schliesslich  gleichbe- 
deutend mit  Konsul  gebraucht. 

5)  Miltitz  Bd.  2  S.  3. 


—     17     — 

Türkei  der  Friede  von  Adrianope!  geschlossen,  detn  bald 
darauf,  am  18.  April  des  gleichen  Jahres,  ein  Ueberein- 
"kommen    /wischen    den    beiden    Staaten   folgte.  ^) 

Die  Grundprinzipien  dieser  Kapitulationen  teilt  Mar- 
tens  in  zwei  Kategorien,  von  denen  die  erste  die  Rechte 
und  Interessen  der  Christen,  die  zweite  deren  Pflichten 
gegenüber  dem  Aufenthaltsstaate  enthält.  Die  erste 
Gruppe  umfasst  denn  auch  „die  Sicherheit  der  Personen 
und  des  Verkehrs ;  die  richterliche  und  administrative 
Gewalt  der  Konsuln;  den  Besitz  von  Faktoreien*  Kir- 
chen und  dergleichen ;  die  individuelle  Verantwortlich- 
keit; die  Abschaffung  des  Strandrechts  und  die  Bewah- 
rung des  Vermögens  Schiffbrüchiger;  Aufhebung  des 
Heimfallrechts  (droit  d'aubaine) ;  gegenseitiges  Verbot 
des  Piratenwesens;  verschiedene  Massregeln  zur  Förde- 
rung  der    Handelsbeziehungen'*. 

Diesen  Rechten  standen  folgende  Pflichten  gegen- 
über: „Beschränkung  des  Verkehrs  auf  bestimmte  Hä- 
fen; Vorschriften  hinsichtlich  der  inneren  Einrichtung 
der  Faktoreien ;  Regeln  bezüglich  des  Schleichhandels  und 
des  Verkaufs  und  der  Beschlagnahme ;  ferner  Reziprozi-^ 
tat  des    Beistandes   und   der  Schutzgewährung."-) 

In  der  Behandlung  der  einzelnen  Kapitulationen  wer- 
den wir  uns  bemühen,  möglichst  eingehend  diese  einzel- 
nen Grundzüge  in  den  verschiedenen  Verträgen  aufzu- 
suchen, miteinander  zu  vergleichen,  um  dann  hieraus  zu 
ersehen,  wieviel  von  ihnen  in  den  jeweiligen  Abmachun- 
gen  Aufnahme   fand. 

Der  oben  erwähnte  Vertrag  zwischen  Venedig  und 
der  Türkei  umfasst  im  Ganzen  19  Artikel  und  enthält 
Bestimmungen,  die  den  Venezianern  Freiheit  des  Han- 
dels, aber  unter  einer  zweiprozentigen  Verzollung  ge- 
statten, ihnen  ferner  die  Aufstellung  eines  Konsuls  ge- 
währten, der  neben  der  Verwaltung  der  venezianischen 
Angelegenheiten  auch  die  Jurisdiktion  auszuüben  hatte 
und  im  übrigen  alle  Rechte  bestätigte,  die  der  Konsul 
bereits  vorher  schon  innegehabt  hatte.  ^)  Ferner  wurde 
aus  den  früheren  Verträgen  auch  die  Bestimmung  über- 
nommen, dass  die  Hinterlassenschaft  eines  verstorbenen 
Venezianers  von   Seiten  der  türkischen   Behörden  unan- 


1)  Den  Text  siehe  bei  Gavillot,  Essai  sur  les  droits  des  euro- 
peens  en  Turquie  .  .  .  S.  14  }.    Martens  S.  181.     Ulimann  S.  198. 

2)  Martens  S.  148  und  149. 

3)  Depping  Histoire  des  commerce  T.  II.  S.  217,  Miltitz  T.  II. 
1.  S.  74  if.    Martens  S.  182, 

2 


-     18     — 

tastbar  sein  solle  und  dem  Konsul  zur  Verfügung  zu 
halten  sei.  Aus  dieser  Bezugnahme  auf  alte  Abmacliun- 
gen  (siehe  weiter  oben),  die  mit  einem  christlichen  Staate 
geschlossen  wurden,  können  wir  ersehen,  dass  es  nicht 
allein  der  Religionsunterschied  zwischen  Christentum  und 
Islam  war,  der  zu  den  Kapitulationen  führte,  wenn  auch 
die  mohammedanische  Religion  aus  den  bereits  ange- 
führten Gründen  zur  Beibehaltung  und  Ausdehnung  des 
Privilegiensystems    wesentlich    beitrug. 

Bei  dieser  venezianisch-türkischen  Abmachung  ent- 
steht ferner  die  Streitfrage,  üb  sie  als  ein-  oder  zwei- 
seitig aufzufassen  sei.  Nach  der  türkischen  Auffassung 
gibt  es  überhaupt  keine  zweiseitigen  Kapitulationen.  Für 
den  Anfang  der  türkischen  Fremdenpolitik  mochte  diese 
Ansicht  auch  stimmen,  da  der  Aufenthalt  des  Fremden 
auf  ottomanischem  Gebiete  wesentlich  von  der  Laune 
des  Sultans  abhing  und  der  Stolz  die  morgenländisclien 
Fürsten  für  ihre  Zusicherungen  auch  gerne  das  Gewand 
der  Gnade  wählen  Hess.  Erst  später  entschloss  sich  das 
osmanische  Reich  dazu,  mit  den  europäischen  Mächten 
in  Wirklichkeit  förmliche  zweiseitige  Verträge  zu  schlics- 
sen.  Der  erste  derartige  Vertrag  wird  jedoch  verschie- 
den angenommen.  Von  Liszt  erbhckt  den  ersten  auch 
nach  türkischer  Auffassung  zweiseitigen  Vertrag  erst 
in  der  letzten  türkisch-französischen  Kapitulation 
von  1740,1)  während  Bonfils  „einen  wirklich  zwei- 
seitigen Vertrag**  schon  in  dem  venezianisch-türkischen 
Abkommen  von  1454  erblickt.  2)  Für  die  letztere  Auffas- 
sung scheint  neben  der  Bezeichnung  des  Aktes  selbst 
als  Vertrag  auch  der  Umstand  zu  sprechen,  dass  mehrere 
gegenseitige  Versprechen  gegeben  werden,  •^)  z.  B.  die 
Zusicherung,  dass  auch  die  Türken  in  venezianischen  Ge- 
bieten volle  Handlungsfreiheit  geniessen  können.  In 
der  äusseren  Form  erscheint  jedoch  diese  Abmachung 
als  durchaus  einseitig.  Bemerkenswert  ist  ferner  der 
16.  Artikel  dieses  Uebereinkommens,  der  Venedig  er- 
mächtigt, enisprechend  dem  bisherigen  Brauche  einen 
Beamten,  der  den  Namen  Baüli  führt,  zu  entsenden,  und 
der  Sultan  sich  verpflichtet,  diesem  den  Beistand  des 
Paschas  von  Rumelien  zu  gewähren,  i)  So  hatte  es  Vene- 
dig, das  schon  zur  Zeit  der  byzantinischen  Herrschaft  eine 
Vorzugsstellung  genoss,  durch  die  Tüchtigkeit  seines  Ge- 
sandten Marcello  durchgesetzt,  dass  seine  im  osmanischen 

1)  V.  Liszt  S.  144. 

2)  Bonfils-Grah  S.  465. 

3)  Gavillot  S.  18. 

4)  Bonfils-Grah  S.  466  5.  Abs. 


—     19     — 

Reiche  befindlichen  Untertanen  die  weitgehendsten  Pri- 
vilegien genossen  und  hieraus  erklärt  es  sich  auch,  dass 
die  anderen  Nationen  in  ihren  Kapitulationen  mit  der 
Pforte  die  Gleichstellung  mit  den  Venezianern  als  einen 
grossen  Erfolg  bewerteten.  (Vgl.  die  Ausführung  von 
Martens  über  die  russischen  Kapitulationen  von  1783  im 
Konsularwesen,  S.  244.)  Diese  freundschaftlichen  Be- 
ziehungen zwischen  der  grossen  Stadt  und  der  Türkei 
wurden  jedoch  des  öfteren  durch  Zwistigkeiten  und  offene 
Kämpfe  unterbrochen.  Nach  einem  für  Venedig  unglück- 
lichen Kriege  wurde  erst  im  Jahre  147Q  ein  neuer  Vertrag 
abgeschlossen,  der  im  wesentlichen  die  Bestimmungen 
des  Vertrags  von  1454  enthielt,  gleichzeitig  aber  Venedig 
zu  einer  drückenden  Tributzahlung  heranzog,  i)  Am 
14.  Juli  1480  erfolgte  die  endgültige  neuerliche  Anerken- 
nung der  Kapitulation  vom  18.  April  1454.2)  Eine  wei- 
tere Erneuerung  des  Vertrages  fand  im  Jahre  1502  ■) 
statt,  aber  unter  der  Bedingung,  dass  der  venezianische 
Konsul  immer  nach  drei  Jahren  gewechselt  werde.  Nach 
Heyd  erhielt  Venedig  eine  neuerliche  Bestätigung  seiner 
sämtlichen  Rechte  im  Jahre  1517.^)  (Dieselben  wurden, 
wie  wir  bereits  erwähnt  haben,  zur  Zeit  der  Eroberung 
von  Aegypten  für  das  gesamte  ottomanische  Staatsge- 
biet hinsichtlich  der  Abkommen  mit  Aegypten  ausge- 
dehnt.) 

Der  letzte  Vertrag  wurde  im  Jahre  1540  (20.  Okto- 
ber) abgeschlossen,  nachdem  Venedig  einen  überaus  un- 
glücklichen Krieg  geführt  hatte,  der  ihm  zusammen  mit 
den  Friedensschlüssen  von  14/9  und  vom  14.  Dezember 
1502  fast  seinen  ganzen  Besitz  im  Osten  mit  Ausnahme 
von  Kreta,  Cypern,  den  Jonischen  Inseln  und  einigen; 
Plätzen  in  Albanien  kostete.  Als  eine  freilich  kaum 
nennenswerte  Entschädigung  wurden  hiefür  die  Vene- 
zianer von  der  Kopf-  und  Grundsteuer  befreit,  aber  auch 
nur  diejenigen,  die  sich  nicht  aut  ottomanischem  Staats- 
gebiet  angesiedelt   hatten.  ■') 

In  diesem  Friedensvertrag  von  1540  sehen  wir  be- 
reits das  Gerippe  des  ersten  türkisch-französischen  Ver- 


1)  Von  Hammer  Bd.  1  S.  543. 

2)  Der  Vertrag  wurde  in  griechischer  Sprache  abgeschlossen. 
Vgl.  Noradounghian  Bd    I.  S.  20.    D'Ohsson  VII  S.  442. 

3)  Hammer  111.  S.  330. 

4)  Heyd  II.  S.  330. 

5)  Dieser  Friedensvertrag  besitzt  italienischen  Text  und  legte 
Venedig  eine  Tributzahlung  von  30000  Dukaten  aui.  Vgl.  Miltitz 
11.  1,  S.  76  fi.    Martens  S.  183. 


—    21     — 

träges  vor  uns.  Neben  der  Zusicherung  aller  früheren 
Handcjsvorrechte  wird  Venedig  für  berechtigt  erklärt, 
alle  drei  Jahre  einen  neuen  Konsul  für  den  Bereich  von 
Konstantinopel  zu  ernennen.  Auch  hier  sehen  wir  be- 
reits den  Grundsatz  verwirklicht,  dass  gegen  keinen  Vene- 
zianer ein  Prozess  geführt  werden  darf  ohne  Anwesen- 
heit seines  Konsuls.  Ferner  darf  kein  Venezianer  für 
die  Schulden  seiner  Landsleute  haftbar  gemacht  werden 
und  war  es  den  türkischen  Behörden  verboten,  sich  in 
Streitigkeiten  zwischen  Venezianern  einzumischen.  Auch 
eine  gegenseitige  Auslieferungspflicht  wurde  vereinbart 
und  das  gewohnheitsmässige  Strandrecht  (d.  h.  Strand- 
raub) für  unstatthaft  erklärt.  Wie  wir  jedoch  bereits  an 
anderer  Stelle  ausführten,  sank  währenddessen  die  poli- 
tische Bedeutung  Venedigs  immer  mehr  und  das  allge- 
meine Interesse  wandte  sich  zwei  neuen  Angelpunkten  der 
Weltpolitik  zu,  nämlich  Frankreich  und  dem  Habsburger 
Weltreiche. 

Die  Verträge  mit  Frankreich, 

Die  gleichen  Gründe,  die  die  italienischen  Staaten 
veranlassten  trotz  der  päpstlichen  Bannstrahlen  mit  den 
Moslems  Handel  zu  treiben,  waren  es  auch,  die  die 
anderen  europäischen  Nationen  ihr  Augenmerk  auf  den 
Orient  richten  liess.  Ausbau  des  Handels  und  Schutz 
der  Iiiteressei!  seiner  Untertanen  veranlassten  den  fran- 
zösischen Staat,  mit  seiner  ganzen  Maclitfülle,  seinen  Un- 
tertanen an  die  Seite  zu  treten.  Neben  diesen  wirtschaft- 
lichen Erwägungen  war  jedoch  ein  Hauptbevveggrund 
für  diesen  französischen  Schritt  die  damalige  politische 
Lage.  Um  diese  zu  verstehen,  müssen  wir  einen  Blick 
auf  die  Geschichte  des  16.  Jahrhunderts  werfen. 

Suleiman  IL  war  einige  Monate  nach  der  Thron- 
besteigung Karls  V.,  des  erbitterten  Feindes  Franz  L, 
zur  Herrschaft  gelangt.  Unter  seiner  Leitung  erreichte 
das  türkische  Reich  den  Höhepunkt  seiner  Macht  und 
die  Türken  waren  damals  durch  den  Besitz  Ungarns  und 
ihren  Einfall  in  Oesterreich  die  furchtbarsten  Gegner 
Karls  V.,  der  sich  gezwungen  sah,  zur  Rettung  der  öster- 
reichischen Hauptstadt  ins  Feld  zu  ziehen.  Zu  gleicher 
Zeit  bedrohte  der  Korser  Barbarossa  mit  seinen  Flotten 
die  Handelsschiffahrt  des  Mittelmeeres.  Nach  dessen 
Vernichtung  zog  Karl  V.  gegan  Algier  und  Tunis  und 
liess  gleichzeitig  Franz  I.  durch  einen  Sondergesandteii 
auffordern,  seinen  Besitz  nicht  anzutasten,  da  er  für  die 


—     21     — 

gesamte  christliche  Welt  die  Waffen  ergriffen  habe.  Un- 
ter diesen  Verhältnissen  suchte  nun  Franz  1.  eine  Annähe- 
rung an  den  türkischen  Sultan,  um  so  den  riesigen  Plänen 
Karls  V.  eine  Grenze  zu  setzen.  (Vgl.  von  Hammer,  Ge- 
schichte des   osmanischen   Reiches.) 

Bereits  im  Jahre  1528  war  Franz  I.  wegen  der  fran- 
zösischen Handelsinteressen  in  Aegypten  mit  Sulei- 
man  II.  in  Beziehungen  getreten,  wobei  ein  Vertrag  zu- 
stande kam,  der  den  französischen  und  katalonischen 
Vertretern  die  gleichen  Rechte  bestätigte,  die  sie  dort 
bereits  vor  der  Eroberung  durch  die  Türken  besassen. 
Charrierei)  und  Testa  2)  gehen  näher  auf  den  Vertrag 
ein  und  betonen  vor  allem  die  Konsularjurisdiktion  und 
einige  persönliche  Vorzugsrechte  der  Konsuln,  die  u.  a. 
die  wichtige  Bestimmung  umfassten,  dass  der  Konsul 
Gegenstände  für  seinen  eigenen  Bedarf  zollfrei  einführen 
dürfe,  für  keine  Schulden  haftbar  gemacht  werden  könne 
und,  falls  er  nicht  selbst  welche  besass,  jederzeit  un- 
gehindert das  Land  verlassen  könne.  Auch  wurde  ihm 
die  Exterritorialität  zuerkannt.  Zum  Schlüsse  dieser  Ka- 
pitulation wird  erklärt,  dass  überliaupt  alles  par  la  voye 
ancienne  (nach  altem  Herkommen)  fortdauern  solle.  Bei 
der  grossen  Bedeutung  des  gewohnheitsmässig  einge- 
bürgerten Rechtes  war  diese  Bestimmung  von  nicht  zu 
unterschätzender  Bedeutung.  Ihrer  Form  nach  bewegt 
sich  diese  Kapitulation  ganz  m  den  Bahnen  der  im  Mit- 
telalter den  italienischen  Staaten  gewährten  Qunstbe- 
zeugungen,  war  also  demnach  nichts  weiter  als  ein  Gna- 
denbrief. 

Wie  wir  bereits  oben  ausführten,  hatte  Franz  I. 
mit  der  Zeit  ein  immer  grösseres  Interesse  daran,  einer 
Kapitulation  in  der  Türkei  neben  kulturellen,  vor  allem' 
politische  Vorteile  abzugewinnen,  um  so  sein  ^erheblich 
gesunkenes  Ansehen  in  Europa  wieder  herzustellen.  Hier- 
bei ging  Franz  I.  mit  grosser  politischer  Klugheit  vor 
und  es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  dass  seine  ehrgeizige 
Alutter  dabei  eine  grosse  Rolle  spielte. 

Zunächst  wurde  während  seiner  Gefangenschaft  ein 
Ausländer  namens  Jean  Frangipani  nach  Konstantinopel 
gesan-dt,  der  dem  Sultan  einen  Brief  in  bewegten  Worten 
einen  Feldzug  in  Ungarn  anraten  sollte.  Diese  Mis- 
sion gelang  über  Erwarten  gut  und  bereits  einige  Zeit 


1)  Charriere  Bd.  1  S.  121. 

2)  Testa  Recueii  ....   Paris  1864   Bd.  1    S.  23.     Vgl.  Revue 
d'histoire  diplomatique  Paris  1890  S.  551. 


später  führte  der  Sultan  seinen  siegreichen  Feldzug  gegen 
das  ungarische  Reich  durch.  ')  Zu  dieser  von  Erfolg  ge- 
krönten Sendung  wählte  man  zunächst  einen  Nichtfranzo- 
sen,  da  hierdurch  dem  französischen  Könige  die  Gelegen- 
heit geboten  ward,  sich  für  den  Fall  des  Nichtgelingens  mit 
einer  Verleugnung  seines  Abgesandten  auf  leichte  Weise 
aus  der  ganzen  Angelegenheit  zu  ziehen.  Er  niusste 
diese  Vorsicht  beobachten,  da  seui  ungewöhnlicher  Schritt 
grosses  Aufsehen  bei  der  gesamten  Christenheit  hervor- 
zurufen geeignet  war  und  er  für  ein  misslungenes  Werk 
sich  nicht  auch  noch  die  Feindschaft  des  Papstes  aufbür- 
den  wollte. 

Kühn  geworden  durch  das  Gelingen  der  Sendu)ig" 
Frangipanis,  zögerte  der  König  von  Frankreich  nun  nicht 
mehr,  seinen  Gesandten  Jean  de  la  Foret  in  einer  offi- 
ziellen Weise  nach  Konstantinopel  zu  entsenden  und 
diesem  gelang  es  auch  im  Jahre  1535,  die  erste  grosse 
Kapitulation  zwischen  Frankreich  und  der  Türkei  zustande 
zu  bringen.  -) 

Gemäss  diesem  Zeitpunkte  ist  es  nur  schwer  ver- 
ständlich, v\ie  französische  Schriftsteller  sagen  können, 
dass  Frankreich  auch  in  dieser  Beziehung  „an  der  Spitze 
der  Zivilisation  stehe  und  dass  sein  Verkehr  mit  der 
Türkei  durch  den  grossmütigen  Wunsch  hervorgerufen 
sei,  diesem  Staate  das  Reis  der  europäischen  Kultur 
aufzupropfen".  •^)  Es  ist  wohl  aber  auch  übertriebene 
französische  Eitelkeit,  wenn  Pelissie  du  Rausas  meint, 
dass  ,,la  premiere  Capitulation  est  une  Capitulation  fran- 
gaise'',  abef  es  kommt  hierbei  auch  auf  den  Standpunkt  an, 
den  der  Autor  einnimmt.  Betrachtet  er  seine  Behaup- 
tung von  dem  Standpunkte  aus,  dass  der  Vertrag  von  1533 
überhaupt  das  erste  derartige  uebereinkommen  gewesen 
sei,  so  ist  dies  zweifellos  übertrieben,  denn   wir  haben 

1)  Pel.  du  Rausas  S.  4  H.  Charriere  Neg.  de  la  France  dans 
le  Levant  Teil  I.  S.  117  ff.  u.  Anm. 

2)  Martens  S  186  ff  von  Miltitz  Bd.  11,  1  S.  214  ff.  Den 
Text  siehe  Strupp  Bd.  LS.  11  Noradoungfiian  Bd.  l.  S.  83  ff. 

3)  Martens  S.  185.  Am  besten  erfiellen  die  wahren  Beweg- 
gründe Frankreichs  aus  einem  Schreiben,  das  der  Gesandte 
iNoailles  im  März  1572  an  den  König  Karl  XI.  von  Frankreich 
richtete.  Die  für  uns  in  Betracht  kommende  Stelle  lautet:  der 
dritte  Grund  um  dessentwilien  ihre  Vorgänger  das  Einverständnis 
zwischen  Frankreich  und  der  Pforte  bewahrten  und  aus  welchem 
es  seit  46  Jahren  die  hochseligen  Fürsten  Franz  der  Grosse  und 
Heinrich  noch  enger  gestalteten,  lag  darin,  dass  sie  der  hervor- 
ragenden Grösse  des  österreichischen  Hauses  ein  Gegengewicht 
bieten  wollten  .  .  ."  fsiehe  Antonopoulos  S.  106  ff.). 


—     2J     — 

gesehen,  dass  die  Initiative  auf  diesem  Gebiete  vor 
allem  den  italienischen  Staaten  gebührt.  ^)  Geht  man 
aber  von  dem  Gesichtspunkte  aus,  dass  diese  Kapitulation 
der  erste  zweiseitige  völkerrechtliche  Traktat  zwischen 
der  Türkei  und  einem  europäischen  Staate  gewesen  sei, 
deren  Rechten  und  Pflichten  gegenseitig  festsetzte,  und 
nicht  mehr  in  seinem  Inhalte  den  selbstherrlichen  Gna- 
denbriefen gleichkam,  so  ist  die  Behauptung  des  fran- 
zösischen Gelehrten  in  ernsthafte  Erwägung  zu  ziehen.  -) 
Auch  nach  Holtzendorff  ist  dieses  Uebereinkommen  von 
1535  der  erste  eigentliche  Vertrag,  der  die  Rechtsver- 
hältnisse insbesondere  die  Kompetenz  der  Konsuln  regelt. 
Für  diese  Auffassung  spricht  auch  der  Satz  am  Schlüsse 
des  ersten  Absatzes  des  Vertrages:  au  nom  et  honneur 
desdites  seigneuries,  sürete  des  etats  et  benefice  de  leurs 
Sujets,  ont  traite  et  conclu  les  chapitres  et  accords  qui 
s'ensuivent.  Gleich  der  erste  Artikel  beginnt  auch : 
„Premierement  ont  traire,  fait  et  conclu  .  .  ." 

Für  die  Zvveiseitigkeit  des  Vertrag'es  spricht  auch 
der  ktzte  Abschnitt,  der  eine  Ratifikation  innerhalb.  6  Mo- 
naten vorsieht,  und  wobei  nicht  zu  übersehen  ist,  dass 
der  Vertrag  nur  für  eine  bestimmte  Zeitdauer  „durant  la 
vie  chacun  d'eux**  abgeschlossen  wurde.  Der  türkische 
Originaltext  des  Vertrages  uar  nach  Antonopoulcs  dem 
Gelehrten  d'Ohssen  bekannt,  der  einzelne  Abschnitte 
desselben  auch  anführt.  •^)  Bei  der  grossen  Wichtig- 
keit dieses  Vertrages  für  die  späteren  Kapitulationen  wird 
es  von  Vorteil  sein,  die  wesentlichsten  Punkte  desselben 
zu  erwähnen. 

Nach  den  üblichen  Freundschaftsversicherungen,  die 
sogar  auf  alle  später  etwa  noch  zu  erwerbenden  Gebiete 
ausgedehnt  werden,  teilt  uns  der  1.  Abschnitt  mit,  dass 
den  Vertrag  einerseits  Sultan  Suleiman  II.  abschloss,  der  in 
den  Fragen  ,-,des  calamites  et  inconvenients,  qui  ad- 
viennent  de  la  guerre",  von  seinem  Kriegsminister  Ibra- 
him unterstützt  wurde,  und  andererseits  König  Franz  I., 
der  durch  le  Sieur  Jean  de  la  Foret,  conseille-secretaire 
et  ambassadeur  du  tres-excellent  et  tres  puissant  princc 


1)  Von  Martens-Berbohm  Völkerrecht  Berlin  1886  Bd.  II.  S.  68. 

2)  Von  Martens  S.  186.  Lippmann  Konsularjuristiktion  im  Orient 
Leipzig  1898  S.  57  ff.  Von  Miltitz  Bd.  I.  S.  524  von  Hammer 
Bd.  II.  S.  122.  Bonfils-Grah  S.  466,  Pei.  du  R.  S.  3  ff.  Von  dem 
Vertrage  selbst  gibt  es  nur  italienische  und  französische  Ueber- 
setzungen.    (Travers-Twiss  S.  454). 

3)  Moutljurea  d'Ohsson,  Tableau  general  de  I'Empire  ottoman 
Paris  1791.    Antonopoulos  S.  94  ff. 


—     -'4     — 

Frangois",  vertreten  wurde.  Der  wesentliche  Inhalt  des 
für  die  Folge  sehr  bedeutsamen  Vertrages  vom  Februar 
1535  bestund  in  der  Zusicherung  von  weitestgehenden 
Rechten  an  die  Franzosen,  wobei  wir  sehen,  dass  die 
Artikel  1,  2,  10,  11,  13,  15  zweiseitigen  Charakter  tra- 
gen, während  die  übrigen  Artikel  mehr  Gegenstände 
der  inneren  Verwaltung  regeln. 

Zunächst  wird  im  ersten  Artikel  gegenseitig  freie 
Schiffahrt  zugesichert  und  völlige  Sicherheit  für  Person 
und  Habe  der  Untertanen  der  beiden  vTrtragschliessen- 
den  Staaten  an  allen  Orten  Frankreichs"  und  der  Türkei 
„de  maniere  que  tous  ies  sujets  et  tributaires  desdits 
seigneurs,  qui  voudrent,  puissent  librement  et  sürement 
.  .  naviguer,  .  .  .  demeurer,  conserver  et  retourner  aux 
ports,  cites  et  quelconques  pays,  Ies  uns  des  autres,  pour 
ieur  negoce,  memement  pour  iait  et  compte  de  marchan- 
dises."  Der  Handel  selbst  sollte  durch  keinen  will- 
kürlichen   Zwang   behindert    werden    (Angarie). 

Im  2.  Artikel  wird  den  beiderseitigen  Untertanen 
volle  Handelsfreiheit  zugesichert,  so  dass  „lesdits  sujets 
et  tributaires  desdits  seigneurs  pourroiit  .  .  .  acheter, 
vendre,  changer,  conduire  et  transporter  par  mer  et  par 
terre,  d'uii  pays  ä  l'autre  toute  sorte  de  marchandises 
non  prohibees''. 

Es  wird  auch  bestimmt,  iass  kein  Türke  in  Frank- 
reich und  kein  Franzose  in  der  Türkei  besondere  Ab- 
gaben zu  leisten  habe,  ausser  den  „coutumes  daces  et 
gabelles  ordinaires'*.  Im  3.  Aitikel  wird  festgestellt,  dass 
der  König  von  Frankreich  das  Recht  haben  soll,  ebenso 
wie  nach  Alexandrien,  auch  nach  Konstantinopel  und 
Pera  sowie  an  andere  Orte  des  osmanischen  Reiches 
einen  „Baille*',  Konsul,  zu  entsenden,  i)  Selben  wird 
das  Reciit  eingeräumt,  alle  Zivil-  und  Strafsachen,  die  un- 
ter den  Kaufleulen  und  anderen  Untertanen  des  franzosi- 
schen Königs  entstehen  sollten,  aburteilen  zu  dürfen  und 
zwar  nach  eigenem  Recht  („selon  Ieur  foi  et  loi  sans 
qu'aucun  juge,  cadi,  sousbachi,  ou  autre  en  empeche*'). 
Sollte  zufällig  ein  türkischer  Richter  ein  Urteil  gefällt 
haben,  das  über  eine  solche  Angelegenheit  bestimmte,  so 
sollte  dieses  nichtig  sein  (de-nul  effet).  -)     Im  4.  Artikel 

1)  Lehmann  S.  19.  Unter  Bezugnahme  auf  Alexandrien  können 
wir  auch  eine  Anlehnung  an  die  Kapitulation  von  1528  erblicken. 

2)  Dies  hatte  nur  eine  Ausnahme  falls  die  Parteien  selbst 
<lieses  Gericht  gewählt  hatten.  Wie  die  meisten  anderen  Staaten 
verbot  jedoch  Frankreich  bereits  durch  ein  Edikt  von  1778  art.  2 
den  Franzosen  sich  gegenseitig  vor  türkischen  Gerichten  zu  verklagen. 


—     25     — 

Avird  bezüglich  etwaiger  Streitigkeiten  zwischen  Türken 
und  Franzosen  festgestellt,  dass  die  Kaufleute  und  Un- 
tertanen des  Königs  von  Frankreich  durch  zivilreclitliche 
Klagen  eines  Türken  nicht  belästigt  werden  dürfen,  es 
sei  denn,  dass  letzterer  ein  Schriftstück  aus  des  Hand 
•des  Gegners,  des  „heudjer"  des  Kadi;  oder  des  Konsuls 
vorzeigen  kann.  Auf  jeden  Fall  ist  aber  die  Anwesenheit 
eines  französischen  Dragomans  unbedingt  erforderlich. 
Der  5.  Artikel  behandelt  die  Strafsachen  und  bestimmt, 
dass  französische  Untertanen,  die  an  türkischen  Staatsan- 
•gehörigen  ein  Verbrechen  verübt  haben,  nur  von  der 
hohen  Pforte  selbst  verurteilt  werden  können,  zu  deren 
Vertretung  aber  auch  der  erste  ,, Leutnant  des  Sultans^' 
befugt  ist.  Die  bei  allen  späteren  Kapitulationen  stets 
wiederkehrende  Zusicherung  der  Religionsfreiheit  ist  auch 
bereits  in  dieser  Kapitulation  enthalten,  deren  6.  Artikel 
bestimmt,  dass  französische  Untertanen  wegen  ihres  Glau- 
bens keinen  Belästigungen  und  Verleumdungen  ausge- 
setzt sein  sollen,  ein  Zugeständnis,  das  bei  dem  religiösen 
Fanatismus  der  Muselmänner  von  grosser  Bedeutung 
•war. 

Gemäss  den  Besdmmungen  des  7.  Artikels  sollten 
.auch  die  Franzosen  keine  Haftung  für  Schulden  von 
Landsleuten  tragen.  Es  wird  nur  verlangt,  dass  der  fran- 
zösische König  gerecht  urteilen  solle,  falls  der  Schuldner 
•einst  in  sein  Land  zurückkehren  sollte  (Prinzip  der  indi- 
viduellen Verantwortlichkeit).  Im  8.  Artikel  wurde  die 
Unverletzlichkeit  franzosischen  Eigentums  zugesichert  und 
bestimmt,  dass  keine  Wegnahme  desselben  ex  iure  anga- 
riae  stattfinden  dürfe.  Ein  grelles  Schlaglicht  auf  die 
damaligen  Zustände  wirft  auch  die  Bestimmung  dieses 
Artikels,  dass  weder  französische  Kaufleute,  noch  deren 
Angestellte  oder  Schiffe  zu  Zwangsdiensten  herangezogen 
werden  dürfen.  Von  wesentlicher  Bedeutung  war  auch 
•das  Recht  der  Testierfreiheit,  das  den  Franzosen  gemäss 
Art.  9  die  Unverletzlichkeit  ihres  Nachlasses  zusicherte. 
Falls  kein  letzter  Wille  vorhanden  sein  sollte,  übt  der 
Konsul  die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  für  die  Nachlass- 
verwaltung aus,  und  nur  falls  kein  solcher  vorhanden  ist, 
der  Kadi.  (Eine  ganz  ähnliche  Bestimmung  treffen  v.ir 
bereits  in  der  venezianisch-türkischen  Kapitulation  von 
1454.) 

Bedeutungsvoll  ist  ferner  der  10.  Art.,  der  wieder  auf 
•Gegenseitigkeit  beruht.  Er  betrifft  die  Freilassung  der 
^beiderseitigen  verknechteten  .Angehörigen,  welcher  auch 


—     2G     — 

ein  etwa  erfolgter  Olaubenswechsel  nicht  hinderlich  sein 
soll.  Neue  Versklavung  ist  Friedensbruch  und  dem  ge- 
schädigten Staate  wird  vollstes  Bestrafungsrecht  zuer- 
kannt („si  aucun  corsaire  ou  autre  homme  des  pays 
de  Tun  desdits  seigneurs  attentait  de  faire  prise  ou 
violence  sur  la  robe  ou  les  personnes  de  l'obeissance  de 
l'autre  scigneure  .  .  .  le  punir  comme  infracteur  de  la 
paix*')-  Von  der  Courtoisie  en  mer  handelt  der  11.  Ar- 
tikel, >der  bestimmt,  dass  französische  und  türkische  Schiffe 
sich  gegenseitig  durch  Hissen  der  Flagge  zu  begrüsscn 
haben  und  dass  jede  Durchsuchung  oder  Belästigung 
ausser  an  den  festgesetzten  Orten  zu  vermeiden  sei. 

in  den  folgenden  Artikeln  wird  noch  bestimmt,  dass 
die  einlaufenden  französichen  Schiffe  gegen  angemessejie 
Bezahlung  jegliche  Unterstützung  zu  erhalten  haben.  Eine 
Durchsuchung  dürfe  nur  am  Ausgang  aus  den  Darda- 
nellen stattfinden.  Für  den  Fall  eines  Schiffbruchs  be- 
stimmt Art.  13,  dass  eine  Anwendung  des  Strandrechts 
auf  Franzosen  unzulässig  sei  und  dass  deren  Eigentum 
im  Falle  eines  etwaigen  Todes  dem  Konsul  zu  übergeben 
sei,  der  von  den  betreffenden  Ortsbehörden  auf  Ver- 
langen jede  Unterstützung  zu  erhalten  hätte. 

Die  Unantastbarkeit  französischen  Besitzes  zeigt  be- 
sonders der  14.  Artikel,  der  davon  spricht,  dass  ein 
entlaufener  Sklave  in  keinem  französischen  Hause  gesucht 
werden  dürfte,  sondern  dass  dies  vielmehr  den  betreffen- 
den Franzosen  selbst  anheimgestellt  werden  müsste.  Für 
den  Fall  der  Auffindung  des  Sklaven  soll  derselbe  seinem 
rechtmässigen  Eigentümer  wiedergegeben,  der  „Rece- 
leur*'  vom  Konsul  bestraft  werden.  Ferner  wurde  fest- 
gesetzt, dass  sowohl  Türken  wie  Franzosen  erst  nach 
zehnjähriger  Anwesenheit  in  dem  einen  oder  anderen 
Lande  Steuern  und  Zwangsdienste  auf  sich  zu  nehmen 
hätten.  Diese  Bestimmung,  von  der  die  Franzosen  in- 
folge der  Unlust  der  Türken  ins  Ausland  zu  gehen  den 
Hauptvorteil  zogen,  suchten  sie  schliesslich  noch  gänz- 
lich hinfällig  zu  machen,  indem  eine  französische  Ordo- 
nance  vom  21.  März  1731  Art.  2  den  Franzosen  einen 
längeren  Aufenthalt  als  von  10  Jahren  in  der  l.evante 
verbot.  ^) 

Von  Interesse  ist  ferner  der  18.  Artikel,  der  dem 
Papst,  England  und  Schottland  den  Beitritt  offen  hält,, 
allerdings  nur  für  die  Dauer  von  8  Monaten.    Trotzdem 


1)  Vgl.  D€\.  S.  53  Anm.  1. 


—     27     — 

lehnte  es  England  ab,  der  „uneigennützigen  Zivilisations- 
wut" Frankreichs  eine  drückende  Schützlingsstellung  zu 
verdanken!)  und  schloss,  wie  noch  zu  behandeln  sein 
wird,  im  Jahre  1580  mit  Murad  III.  selbst  eine  Kapitu- 
lation ab. 

Im  übrigen  ist  die  Kapitulation  von  1533  im  Wesent- 
lichen, wie  wir  sehen  konnten,  teils  dem  ägyptisch-fran- 
zösischen Abkommen  von  1528,  teils  den  venezianisch- 
türkischen Abmachungen  unter  Hinzufügung  von  einigen 
neuen  Bestimmungen  nachgebildtl 

Spielten  bei  der  AbschliessuHg  dieses  ersten  Ver- 
trages im  Wesentlichen  auch  politische  Gesichtspunkte 
mit,  so  sah  sich  Frankreich  späterhin  genötigt,  aus  rein 
kurlturellem  Interesse  zum  Schutze  seiner  Untertanen  die 
crv/orbenen  Rechte  bestätigen  und,  falls  nötig,  auch 
erweitern  zu  lassen.  Wie  erinnerlich,  wurde  die  Kapitu- 
lation von  1535  für  die  Lebensdauer  der  beiden  Herr- 
scher abgeschlossen,  sodass  das  Ableben  Franz  !.  den 
zweiseitigen  Vertrag  gleichsam  ohne  Gegenkontrahenten 
Hess.  Trotzdam  verkannte  Heinrich  II.  teilwei.^e  die 
grosse  Bedeutung  des  von  Franz  I.  begonnenen  Unterneh- 
mens, und  schloss  trotz  des  Bundesvertrages  gegen  Spa- 
nien vom  Jahre  1555  den  Frieden  von  Chateau  Cham- 
bresi  ab,  ohne  den  türkische-i  Sultan  Suleiman  in  Be- 
tracht zu  ziehen.  -)  Die  gleiche,  den  Erfordernissen  der 
Zeit  gegenüber  ziemlich  wesensfremde  Politik  trieb  zu- 
nächst auch  Karl  IX.,  bis  ihn  ein  Zufall  zum  Abschluss 
einer  neuen   Kapitulation  brachte. 

Charriere  teilt  mit,  dass  ein  portugiesischer  Händ- 
ler (der  spätere  Herzog  von  Naxos),  der  in  der  Gunst 
des  Sultans  sehr  hoch  stand,  bei  demselben  den  franzö- 
sischen König  als  seinen  Schuldner  verklagte,  und  VvCgen 
des  ohnehin  gespannten  Verhältnisses  zwischen  Karl  IX. 
und  SoHman  auf  die  französischen  Schiffe  Beschlag  legen 


1)  Dass  auch  die  übrigen  Staaten  das  Protektorat  Frankreichs 
nicht  gerne  sahen,  erhellt  auch  aus  dem  bereits  erwähnten  Schreiben 
des  Gesandten  Noailles  von  1572  worin  dieser  darüber  klagt,  dass 
es  in  Italien  und  Spanien  keine  einzige  kleine  Provinz  gäbe,  welche 
die  Gelegenheit  vorübergehen  liesse  (in  der  Türkei)  ihren  eigenen 
Konsul  zu  ernennen,  um  sich  auf  diese  Weise  von  dem  Schutze 
Frankreichs  zu  befreien,  der  ihnen  doch  immer  so  nützlich  ge- 
wesen wäre-  (Siehe  Charr.  Neg.  Bd.  3  S.  223.j 

2)  Nichtsdestoweniger  gelang  es  Heinrich  II.  andererseits  die 
Stellung  der  französischen  Konsuln  in  Palästina  zu  einer  allmäch- 
tigen zu  machen,  sodass  sie  auch  consuls  des  pelerins  genannt 
wurden,  da  sie  allen  nach  Palästina  wallfahrenden  Pilgern  vor- 
standen.    Siehe  von  Martens  S.  190. 


—     28     — 

licss.  Demgegenüber  konnte  Frankreich  nicht  mehr  taten- 
los bleiben,  wie  es  dies  bisher  bei  der  alexandrinischen 
Konsulatswahl  den  Marseillern  und  Türken  gegenüber 
getan  hatte,  und  beauftragte  einen  besonderen  Gesandten, 
bei  der  Pforte  Protest  einzulegen.  Einen  richtigen  Er- 
folg zeitigien  jedoch  diese  Beschwerden  erst  nach  dem 
Ableben  Solimans  und  erst  am  18.  Oktober  1569  wurde 
eine  neue  Kapitulation  zwischen  Karl  IX.  und  Selim  11. 
abgeschlossen,  i)  Diese  Kapitulation  war  jedoch  nicht 
mehr  ein  zweiseitiger  Vertrag,  sondern  der  äusseren 
Form  nach  vielmehr  ein  Gnadenbrief.  -)  Vielfach  wird 
sie  auch  als  „Lettres-patentes"  bezeichnet.  Auf  den 
einseitigen  Charakter  deuten  schon  die  selbstherrlichen 
Worte  gleich  zu  Beginn  dieser  Kapitulation  hin:  „nous 
avon  accepte  et  accorde  et,  en  outre,  concedc  cette  pre- 
sente  notre  capitulation**.  ^)  Zunächst  werden  in  die- 
ser Kapitulation  die  einzelnen  Abmachungen  derjenigen 
von  1535  wiederholt,  die  jedoch  durch  einige  neuere  Be- 
stimmungen eine  wichtige  Ergärfzung  erfahren.  In  den 
ersten  Bestimmungen  finden  wir  eine  Erneuerung  der 
Bestimmungen  über  die  Freiheit  der  Schiffahrt  und  die 
Unterdrückung  des  Piratenwesens,*)  ferner  wird  neuer- 
dings jeder  Strandraub  strengstens  untersagt,  jedoch  .unter 
der  Voraussetzung,  dass  sich  die  Franzosen  in  den  tür- 
kischen Gebieten  nur  mit  ihren  eigenen  Angelegenheit-jn 
beschäftigen  und  sich  friedlich  innerhalb  ihrer  Grenzen 
verhalten. 

In  dem  Vertrag  von  1535  konnten  wir  sehen,  dass 
die  individuelle  Haftpflicht  sich  auf  die  Schulden  er- 
streckte, während  Art.  4  der  Kapitulation  von  1569  sie 
auch  auf  Delikte  ausdehnt.  (Au  cas  qu'aucun  des  Fran- 
qais  se  trouve  debiteur,  ou  en  quelque  autre  sorte  füt 
toupable   et   s'enfuit   .  .  .  .") 

Da  wegen  des  stark  verbreiteten  Fremdenhasses  die 
Ausländer  für  ihre  Behauptungen  oft  nur  wenig  Glauben 
fanden,  bestimmte  der  6.  Artikel,  dass  Geschäfte  von  her- 
vorragender Wichtigkeit  stets  schriftlich  abzuschliessen 
und  in  öffentliche  Bücher  einzutragen  seien.  Dies  war 
gegenüber  dem  unsicheren  Zeugenbeweise  für  die  Frem- 
den  von  grossen   Vorteil.     Aus   dem   gleichen   oben   an- 

1)  Charrifere  Bd.  3  S.  60  Bd.  H.  S.  70  ff.    Martens  S.  191. 

2)  Martens  S.  192    Lippmann  S.  61    Miltitz  Bd.  2,  2  S.  102  ff. 
■der  Text  befindet  sich  bei  Noradounghian  S   88  ff. 

3)  Vgl.  Noradoungfiian. 

4)  Vgl.  auch  art.  17  über  die  Bestrafung  der  Schuldigen. 


—     29     — 

geführten  Grunde  sah  man  sich  veranlasst,  eine  Be- 
stimmung gegen  Verleumdung  französischer  Untertanen 
zu  erlassen,  da  nicht  selten  derartige  falsche  Anschuldi- 
gungen zu  Erpressungen  benutzt  wurden.  (Vor  allem 
wurden  ihnen  oft  ReligionsJästerungen  vorgeworfen.) 

Bezüglich  des  Sklavereivvcsens  bestimmte  der  8.  Ar- 
tikel, dass,  falls  ein  Sklave  von  einem  französischen  Kon- 
sul als  Franzose  bezeichnet  würde,  derselbe  sofort  an 
die    Regierung    in    Konstantinopel    zu    schicken    sei.  ^) 

Während  die  Kapitulation  von  1535  eine  Besteue- 
rung von  Franzosen  nach  zehnjährigem  Aufenthalte  im 
Lande  zuliess,  bestimmt  der  Art.  9,  dass  „de  France  et 
des  lieux  ä  eile  soumis  les  'hommes  qui  habitcnt  nos- 
dits  pays  et  cites,  maries,  ou  non  maries,  faisant  trafic 
marchandise,  ou  autre  exercice,  de  ceuxlä  ne  sera  dc- 
manjde  tribuf*. 

Von  Interesse  ist  auch  ferner  der  10.  Artikel,  der  eine 
Versetzung  der  in  Alexandrien,  Tripolis,  Syrien,  Algier 
und  sonstigen  Plätzen  befindlichen  Konsulate  sowie  eine 
stete  Erneuerung  des  Konsulatpersonals  durch  geeig- 
nete Personen  gestattete. 

Wenn  wir  bis  jetzt  durch  die  Bestimmungen  der  ein- 
zelnen Artikel  immer  auf  türkische  Ausstände  auf- 
merksam gemacht  wurden,  so  zeigt  uns  der  11.  Artikel 
auch  solche  auf  französischer  Seite,  Er  spricht  ganz 
offen-  davon,  dass  die  Franzosen  das  Erfordernis  der  An- 
wesenheit ihres  Dragomans  nicht  zu  einer  Verschlep- 
pung des   Prozesses  selbst  ausnützen  dürfen.  -) 

Eine  Durchsuchung  französischer  Schiffe  soll  nach 
Art,  14  nur  bei  der  Durchfahrt  durch  die  Dardanellen 
zulässig  sein.  Da  sich  die  gleiche  Bestimmung  bereits 
in  der  Kapitulation  von  1535  vorfmdet,  so  kann  sich  ihre 
verschärfte  Wiederholung  wohl  aus  einer  Verletzung  die- 
ser Zusicherung  erklärlich  machen.  Eine  solche  Hessen 
sich  die  türkischen  Behörden  im  Laufe  der  Zeit  auch  tat- 
sächlich zuschulden  kommen,  indem  sie  das  Durch- 
suchungsrecht willkürlich  auch  auf  Gallipoli  ausdehnten. 


1)  Der  Text  des  Art.  selbst  lautet:  Advenant  qu'il  se  trouve 
esclaves  franpais  ou  qui  soient  soumis  ä  la  France,  et  que  ieurs 
consuls  certiJient  etre  Frangais,  voulons  que  semblabies  esclaves 
et  Ieurs  maitres,  ou  du  moins  ieurs  procureus  soient  incontinent 
mandes  et  envoyes  ä'notre  tres-haute  cour,  et  fait  ä  ce  qu'en 
icelle  Ieurs  causes  soient  vues  et  entendues. 

2)  Aussi  ne  iaut-ii  qu'ils  fassent  cavillation,  disant  ledit  inter- 
prete  n'est  ä  present  et  ne  i'entretiendrant,  mais  le  prepareront. 
(siehe  Nor.  Bd.  1.  S.  92).    Martens  S.  193.    Lippmann  S.  61. 


—     30     — 

Dem   sollte   durch   die   neue   Abmachung  von    15öQ  aus- 
drückhch  vorgebeugt  werden. 

Nachdem  noch  im  15.  Artikel  die  gegenseitige  Bc- 
grüssung  der  Schiffe  wieder  festgesetzt  wurde,  folgt  im 
Art.  16  die  interessante  Bestimmung,  dass  im  übrigen 
die  Franzosen  alle  den  Venezianern  gewährten  Rechte 
gleich  beibehalten  sollten.  Da  jedoch  Frankreich  sicher- 
lich keine  geringeren  Privilegien  als  Venedig  besass,  so 
kani!  es  sich  hier  nur  um  die  gewöhnliche  Meistbegün- 
stigungsklausel handeln,  wie  wir  eine  solche  bereits  bei 
Genua  (1453)  sahen.  Zum  Schlüsse  der  Kapitulation 
wird  nochmals  allen  in  Betracht  kommenden  Stellen  (nos 
lieutenants-generaux  de  nos  provinces  et  gouverneurs, 
capitaines,  nos  esclaves,  les  juges  ordinaires  des  Lieux, 
les  donaniers,  maitres  et  capitaines  de  nos  vaisseaux  et 
d'autres  vaisseaux  volontaires**)  die  genaue  BefoJgung 
der  vorstehenden  Bestimmung  zur  Pflicht  gemacht 
(Art.    18). 

Hervorzuheben  ist  an  dieser  Kapitulation  ferner  der 
Umstand,  dass  der  mittelalterliche  Grundsatz  „actor  se- 
quitur  forum  rei'*  durch  den  11.  Artikel  endgültig  be- 
seitigt wurde,  nachdem  bereits  die  Vereinbarung  von 
1535  dies  im  Prinzip  ausgesprochen  hatte.  Es  zeigt  von 
dem  erwachenden  Selbstgefühl  des  türkischen  Sultans, 
dass  dei selbe  es  seiner  nicht  mehr  würdig  erachtet,  dass 
türkische  Staatsangehörige  ihre  Klage  vor  dem  Konsu- 
largerichte des  französischen  Untertanen  erheben  sollen. 
Ferner  sehen  wir  bereits  im  Eingang  der  Kapitulation 
eine  Art  Protektoratstellung  Frankreichs  gegenüber  den 
anderen  Nationen  ausgesprochen,  die  sich  noch  nicht  im 
Besitze  einer  Kapitulation  befanden.  Das  Wort  Pro- 
tektorat selbst  wurde  freilich  noch  nicht  angewendet,  ^) 
wie  dies  erst  später  in  dem  Traktate  von  1740  geschah. 
Diese  Protektoratstellung  hatte  ihre  Ursache  in  dem  leb- 
haften Wunsche  aller  Nationen,  im  Orient  eine  möglichst 
geschützte  Stellung  einzunehmen.  Wie  wir  bereits  aus- 
führten, war  dies  bei  dem  Charakter  des  türkischen  Rechts 
nur  auf  Grund  von  Verträgen  möglich,  zu  deren  Abschlies- 
sung  oft  langwierige  Verhandlungen  nötig  waren,  zu 
deren  Leitung  sich  nicht  jeder  kleine  Staat  einen  eige- 
nen Gesandten  leisten  konnte.  Wollten  sie  sich  daher  die 
gossenr  Handelsvorteile  nicht  entgehen  lassen,  so  blieb 
ihnen   nichts   anderes   übrig,   als   sich   unter   den   Schutz 


1)  Bosset,  de  la  jur.  cons.  Lausanne  1908. 


—  kl- 
einer grossen,  mit  weitgehenden  Vergünstigungen  ausge- 
statteten Macht  zu  stellen.  (Vcrgl.  die  consuls  des  pele- 
rins  Frankreichs  in  Palästina.)  Vor  allem  war  es  das 
französische  Reich,  das  diesen  Faktor  zum  Ausbau  einer 
drückenden  Vorherrschaft  im  Orient  zu  benutzen  ver- 
stand. Neben  der  politischen  Bedeutung  infolge  der  Aus- 
dehnung seines  Einflusses,  verschafften  diese  „Beschüt- 
zungen" dem  betreffenden  Staate  auch  eine  schöne  Sum- 
me an  Konsulatseinnahmen  (vergl.  Charriere  und  Rey).^) 

Die   englischen    Bestrebungen    zur   Erreichung   einer 
Kapitulation. 

Bei  der  oben  geschilderten  Sachlage  hatte  Frankreich 
naturgemäss  ein  grosses  Interesse  daran,  sich  auf  dem 
Gebiete  der  Protektoratsherrschaft  keine  Konkurrenz 
grosszuziehen.  Aber  trotz  seiner  heissen  Bemühungen 
sollte  ihm  dies  nicht  einmal  bei  Genua,  geschweige  dann 
bei  England  gelingen.  Wie  wir  bereits  hervorhoben, 
folgte  England  der  im  vorletzten  Abschnitt  der  französi- 
schen Kapitulation  enthaltenen  Einladung  zum  Beitritt 
nicht,  sonciern  versuchte  selbst  eine  Kapitulation  zu  er- 
wirken. Von  Hammer  berichtet  uns  über  deren  Vor- 
geschichte, dass  dl  ei  englische  Kaufleute  Harebonie, 
Eibron  und  Stapny  den  Sultan  um  ein  Schreiben  an  ihre 
Königin  Elisabeth  baten.  Nachdem  si^  dies  durch  reiche 
Oeschenke  erreicht  hatten,  kam  es  zu  einem  regen  Brief- 
wechsel beider  Staatsoberhäupter.  Frankreich  hatte  nun 
niclits  Eiligeres  zu  tun,  als  an  einer  Widerrufung  aller 
den  Engländern  bisher  gewährten  Rechte  zu  arbeiten..-) 
Eine  Zeitlang  sollte  ihm  dies  auch  gelingen  und  die  Kapi- 
tulation aus  dem  Jahre  1581  bot  Frankreich  zunächst 
volle  Entschädigung. 

Die  französisch-türkische  Kapitulation  von  1581.^) 

Der  eigentliche  Inhalt  ist  zunächst  nur  eine  VJ/'ieder- 
holung  der  bereits  früher  bebandelten  Bestimmungen. 
Aber  ein  deutliches  Schlaglicht  auf  das  Ziel  der  fran- 
zösischen Politik  wirft  ein  Artikel,  der  bestimmt,  dass 
„Venezianer,  Genuesen,  Engländer,  Portugiesen,  Katalo- 
nier,  Bürger  von  Ancona  und  Ragusa**,  nur  mehr  unter 

1'  Rey.  S.  1,  37  if.  Charriere  Bd.  2  S.  490  Bd.  2  S.  746  Anm. 
Hammer  Geschichte  Bd.  3  S-  464. 

2)  Vgl.  Charriere  Bd.  3  S.  884,  924. 

3)  Vgl.  den  Text  siehe  Miltitz  Bd.  li.  2  S.  106—111.   Treaties 
Turley  S.  179  i\.    Un  ancien  diplomate  S.  85  ff. 


—     32     — 

dem  Schutze  Frankreichs  Handel  treiben  und  sich  in  der 
Türkei  ansiedeln  dürfen,  i)  Wir  sehen  hier  bereits  die 
Klausel  der  „Unwiderruflichkeit'*  angeführt,  trotz  des 
äusseren   Charakters    eines   Gnudenbriefes. 

Dieser  Erfolg  Frankreichs  sollte  jedoch  nicht  von 
nachhaltiger  Wirkung  sein.  Wenn  es  auch  den  üesandten 
Frankreichs  in  den  Jahren  1554  und  1578  gelang,  die  Be- 
mühungen Genuas,  Toscanas  und  Ragusas  hinsichtlich 
eigener  Konsulate  zunichte  zu  machen,  so  sollten  sie  doch 
bei  den  Engländern  auf  gleichwertige  Diplomaten  stosscH. 
Nachdem  es  zunächst  dem  französischen  Gesandten  M.  de 
Gcrminy  gelungen  war,  den  Engländern  die  ersten  Früch- 
te ihrer  Beinühungen  formeil  wieder  zu  entreissen,  so 
musste  er  es  doch  zugeben,  dass  Herborne  (Harebronne) 
der  Titel  Gesandter  verliehen  und  der  ausdrückliche  Auf- 
trag  gegeben    wurde,    schnellstens    zu   handeln.  -) 

Dass  England  hierbei  nicht  immer  mit  den  lautersten 
Mitteln  zu  Werke  ging,  zeigt  uns  eine  Stelle  bei  Pellissie 
du  Rausas,  der  davon  spricht,  dass  England,  um  sich  bei 
der  Pforte  einzuschmeicheln,  nicht  davor  zurückschreckte, 
sich  als  ausserhalb  der  christlichen  Staaten  stehend  zu 
bezeichnen.  Der  religiöse  Glaube  der  Engländer  hätte 
sich  nämlich  nach  dem  Bildersturm  dem  der  Türken 
erheblich  genähert.  •^)  Umso  auffallender  ist  daher  der 
Titel,  den  sich  die  Königin  Elisabeth  in  einem  Schreiben» 
an  den  Sultan  beilegt.  Sie  bekennt  sich  hier  als  „wahre, 
unüberwindliche  und  grossmütigste  Vorkärnpferin  des 
wahren  Glaubens  wider  die  den  Namen  Christi  falsch 
bekennenden    Götzendiener".^) 

Durch  diese  verschiedenen  -Machenschaften  gelang 
es'  England  schliesslich  im  Mai  des  Jahres  1583  .eine 
Kapitulation  zu  erhalten,  die  von  Harborne  im  Namen  der 
Königin  von  England,  und  vom  Grossvezier  im  Namen  des 
Sultans  Murad  III.  unterzeichnet  wurde.  Dieser  Vertrag 
ist  in  seinen  ersten  12  Artikeln,  wie  Rausas  anführt,, 
„l'exacte   reproduction   de   la   Capitulation   frangaise   de 


1)  Der  Text  dieser  Stelle  lautet:  „Que  les  Venetiens  en  hors 
les  Genois  et  Anglais  et  Portugals  et  Espagnols,  et  marchands 
Catalans  et  Siciliens  et  Ancönitains,  et  Ragusais  et  entierement 
tous  ceux  qui  ont  chemine  sous  le  nom  et  banniere  de  France 
d'anciennete  jusqu'ä  jourd'hui  et  en  la  condition  qu'ils  ont  chemine, 
que  d'ici  en  avant,  iis  ayent  äycheminer  de  la  meme  maniere." 

2i  Vgl.  Charriere  T.  II.  S.  793.  T.  III.  S.  255.  Hammer  Ge- 
schix;hte  II  S.  512  ff. 

3)  Pellissie  du  Rausas  S.  34  (Bd.  I.) 

4)  Hammer  Geschichte  S.  313. 


—     33     — 


!^i  '  i^  f"  %  1^^^'  ^'^""^^  genügte  England  nicht,  und 
im  Laufe  der  Zeit  wurden  die  Beziehungen  zwischen  der 
Pforte  und  dem  enghschen  Reiche  immer  inniger..  2) 
Mit  der  den  Englandern  eigenen  Geschickhchkeit  ver- 
standen es  deren  Konsuln,  ihre  Stellung  auf  das  Wirk- 
samste auszubauen  und  ihren  Protesten  nachdrückliche 
Wirkung  zu  verschaffen.  (Vgl.  auch  Martens  S.  223) 
Spaterhm  wurde  diese  Kapitulation  noch  des  öfteren  be- 
ll^i^3^""p  ^^"^uert.  So  im  Jahre  1593  und  im  Jahre 
1603. 3)  Ferner  wurde  eine  neue  Kapitulation  abge- 
schlössen  im   Jahre   16061)   (nach  Hammer   1604)   unter 

krt?  Tl  '  n-  -^'^l'  ^^^f>  ""^'''  ^''^  ^-  ""d  1675  unter 
Karl  II.  Diese  Kapitulation  vom  September  1675  ent- 
hielt im  Art  18  die  MeistbegünstigungsklauseF)  und 
gewahrt  England  in  reiner  Privilegienform  nebst  der  Er- 
laubnis zur  Errichtung  verschiedener  Konsulate  vollste 
Handelsfreiheit  (Art.  25)  einen  dem  französischen  und 
venezianischen  Zolltarif  gleichen  Prozentsatz  und  im  übri- 
gen die  gleichen  Rechte,  wie  wir  sie  in  den  früheren 
Kapitulationen   kennen   gelernt  haben  7) 

Bestätigt  wurde  diese  Kapitulation  durch  die  Abkom- 
men vom  5.  Januar  1809,  16.  August  1838  und  29.  April 

Die  französische  Kapitulation  vom  Jahre  1597  ») 

Qi  y^^'r.^^  ^}^^^7  Frankreich,  das  als  der  mächtigste 
Staat  im  Orient  jeden  Rivalen  zu  erdrücken  versuchte  imd 
möglichst  viel  Schützlinge  um  sich  sammeln  wollte  so 
trat  jetzt  England  an  seine  Stelle.  Pellissie  du  Rausas 
betont  mit  vollem  Recht,  dass  England  nach  seiner  Ge- 
wohnheit die  Welt  vor  eine  vollendete  Tatsache,  ein  fait 
accomph,  stellte,  indem  es  eine  florentinische  Kolonie  in 

1)  Rausas  Bd.  I.  S.  35. 

2)  Von  Miltitz  Bd.  II.  S.  781. 

3)  Siehe  Noradounghian  Bd.  I.  S.  37    Bd.  I    S   38 

4)  Siehe  Miltitz  Bd.  II    2  S.  785,  Nor.  Bd.  I.  S   39 

5)  Noradounghian  1624.     Siehe  daselbst  Bd.  I    S.  45 

i.nJ^.  r''  '^1''^  siehe  Nor.  Bd.  I.  S.  146.  Der  Text  dieses  art  18 
Fr.n^=;iJ''"'  les  Privileges,  articies  et  capitulations  accordes  aux 
Francais,  aux  Venitiens  et  ä  d'autres  Princes,  qui  entretiennent 
des  rapports  d'amitie  avec  la  Subline  Porte,  äyant  egalem entl?e 
accordes  par  faveur  aux  Angiais  .  .    "  g-iemeni  ete 

vom^THh„wk-'.c?K-"''^    ^'"'   "^'^  Befreiung  vom  Charadsch  und 
Jo^  u  ^•'^.^ssabie;  ausgesprochen  (siehe  art.  13  u.  32) 
8)  Siehe  Nor.  S.  37.  Bd.  1.    Den  Text  siehe  bei  un  anc.  dipl 


_     34     — 


Alexandrien  von  dem  französischen  Protektorate  ab- 
spenstig machte  und  unter  seinen  eigenen  Schutz  stenite. 
Dies  führte  alsbald  französischerseits  zu  diplomatischen 
Schritten,  denen  England  die  Lage  Frankreichs  entgegi^n- 
hielt  die  diesem  die  Besorgung  seiner  eigenen  Angele- 
genheiten auf  das  Höchste  erschwere,  um  wieviel  mehr 
diejenigen  fremder  Staaten.  Aber  erst  nach  langwierigen 
Verhandlungen  sollte  es  Frankreich  gelingen,  gegen  diese 
Intriguen  soweit  anzukämpfen,  däss  seinen  berechtigten 
Handelsinteressen  in  einer  Kapitulation  vom  25.  Februar 
1597  Rechnung  getragen  wurde.  Eine  Vernichtung  der 
Stellung  Englands,  wie  es  die  französische  Regierung 
beabsichtigte,  sollte  jedoch  nicht  mehr  gelingen. 

Zwar  bestätigt  diese  Kapitulation  fast  noch  aus- 
drücklicher als  die  früheren  die  alleinigen  Rechte  Frank- 
reichs bezüglich  der  Protektion  der  fremden  Nationen, 
aber  nunmehr  sind  hievon  nicht  nur  die  Venezianer,  son- 
dern auch  die  Engländer  ausgenommen.  („De  nouveau 
nous  commandons  que,  les  Venetiens  et  Anglais  en  lä, 
toutes  les  autres  nations  ennemies  de  notre  Grande 
Porte,  les  quelles  n'ont  d'ambassadeur  ä  icelle,  .  .  . 
elles  aient  d'y  marcher  sous  la  banniere  de  France . .  /')  i) 
Von  den  gegenseitigen  Ränken  der  beiden  Staaten  zeigt 
auch  ein  Satz  des  1.  Artikels,  der  darauf  hinweist,  dass 
der  englische  Gesandte  den  Anordnungen  Frankreichs 
keine  Hindernisse  in  den  Weg  legen  sollte.  Im  übrigen 
werden  Konterbandeb'estimmungen  für  verschiedene  Wa- 
ren, wie  Leder,  Wolle  usw.,  aufgehoben  und  den  türki- 
schen Behörden  untersagt,  auf  die  Franzosen  beim  Wech- 
seln ihres  Geldes  einen  Zwang  auszuüben.  -)  Neuerdings 
verschärft  werden  die  Anordnungen  zur  Steuerung  des 
Piratenunwesens.  Von  jetzt  ab  soll  die  französische 
Regierung  bei  echtigt  sein,  für  die  ihren  Untertanen  durch 
Seeräuberei  zugefügten  Verluste  vollen  Schadenersatz  zu 
verlangen.  Auch  hier  findet  sich  schon  der  später  in 
der  Kapitulation  von  1740  genauer  ausgeführte  Satz,  dass 
französische  Staatsangehörige,  die  auf  feindlichen  Schif- 
fen gefangen  genommen  werden,  sofort  wieder  freizu- 
geben sind.  Diese  Bestimmung  sollte  jedoch  nicht  gelten, 
falls  Franzosen  auf  Kaperschiffen  angetroffen  würden.^) 
Ferner  sehen  wir  die  Konsularexterritorialität  ausgespro- 

1)  Vgl.  auch  Rausas  Bd.  1.  S.  37. 

2)  Vgl.  das  Memorandum  des  Gesandten  Heinrich  iV.  Savary 
de  Breves  bei  Testa  Bd    1.  S.  454. 

3)  V,'l    IUI  Oh.     S.  7Ü. 


—  So- 
eben und  eine  Besteuerungsfreiheit  der  bei  der  fran- 
zösischen Gesandtschaft  angestellten  Dragomane.  Inter- 
essant ist  auch  die  Verordnung,  zufolge  der  alle  Gebühren 
für  das  Ein-  und  Ausladen  von  Waren  auf  französischen 
Schiffen  an  die  französischen  Behörden  zu  entrichten  sind. 
Miltitz  charakterisiert  diese  Kapitulation  in  Kürze 
mit  ungefähr  folgenden  Worten:  Es  sei  am  25.  Februar 
1597  ein  Vertrag  und  Kapitulation  zwischen  Heinrich  IV. 
und  Muhamed  III.  zu  Gunsten  der  Gesandten  von  Frank- 
reich usw.  sowie  für  die  französischen  Kaufleute  in  der 
Levante  abgeschlossen  worden,  sowie  für  jede  andere  Na- 
tion, die  im  Begriffe  sei,  mit  der  Türkei  Handel  zu  trei- 
ben und  zwar  unter  der  Bedingung,  dass  sie  unter  der 
Flagge  und  dem  Protektorate  des  Königs  von  Frankreich 
fahre,  i) 

Die  Kapitulation  mit  Frankreich  vom  Jahre  1604. 

Mit  den  Erfolgen  des  Jahres  15Q7  gab  sich  Frank- 
reich nur  kurze  Zeit  zufrieden.  Bereits  7  Jahre  spater 
bei  der  Thronbesteigung  Achmeds  1.  Hess  sich  die  fran- 
zösische Regierung  die  Kapitulation  von  1597  ausdrück- 
lich bestätigen.  Bezüglich  der  Protektoratstellung  hat  der 
6.  Artikel  der  neuen  Kapitulation  fast  den  gleichen  Wort- 
laut wie  der  1.  Artikel  derjenigen  von  1597,  nur  mit  dem 
bemerkenswerten  Unterschiede,  dass  die  fremden  Na- 
tionen nicht  mehr  „les  autres  Nations  ennemies'',  son- 
dern „les  autres  Nations  alienees'*  genannt  werden. 
Auch  wird  ausdrücklich  daraui  hingewiesen,  dass  der 
englische  Gesandte  niemals  die  verschiedenen  Nationen 
hindern  dürfe,  sich  unter  den  Schutz  Frankreichs  zu 
begeben.-)  Von  Martens-Bergbohm  zeigt  an  der  Hand 
des  4.  Artikels,  wie  gross  das  die  anderen  Staaten  nie- 
derdrückende Bestreben  Frankreichs  war,  möglichst  viele 
unter  seine  Obhut  zu  bringen  und  nur  wenn  sie  unter 
französischer  Flagge  segelten,  sollten  sie  den  gleichen 
Schutz  wie  die  Franzosen  selbst  geniessen.  ••)  (Also  eine 
ganz  ähnliche   Bestimmung  wie  in  der  Kapitulation  von 

1)  Siehe  von  Miltitz  Bd.  II.  2  S.  111  (1839). 

2)  Der  Text  der  Kapitulation  vom  20.  Mai  1604  befindet  sich 
bei  Nor.  Bd.  I.  S.  93  H.  Siehe  art.  4:  „.  .  .  et  generalement  toutes 
autres  nations,  quelles  qu'elles  ,soient,  puissent  librement  venir 
trafiquer  par  nos  pays,  sous  l'aveu  et  sürete  de  la  bannifere  de 
France,  laquelle  ils  porteront  comme  leur  sauvegarde  .  .  ."  Vgl. 
art.  6. 

3)  Von  Martens-Bergbohm  Bd.  2.  S.  88  Völkerrecht.  Wortlaut 
des  art.  4  siehe  unter  Anm.  2. 


_     36     — 

1597.)  Bemerkenswert  ist  auch,  dass  in  diesen  ersten 
Artikeln  festgesetzt  wurde,  dass  Venezianer  und  Eng- 
länder französischen  Konsuln  Gehorsam  schuldig  seien, 
wenn  sie  bei  Streitigkeit  untereinander  oder  mit  türki- 
schen Staatsangehörigen  deren  Schutz  geniessen  wollten. 
Dies  zeigt  deutlich  die  grosse  Rivalität  zwischen  Frank- 
reicli  und  England,  da  ja  letzterer  Staat  bereits  seit  1580 
seinen  Gesandten  bei  der  türkischen  Regierung  hatte,  i) 

Im  Art.  3  ist  neuerdings  das  Zeremoniell  für  den 
französischen  Gesandten,  Konsul  usw.  festgesetzt  und  be- 
stimmt, dass  weder  sie  noch  die  französischen  Kaufleute 
beunruhigt  oder  belästigt  werden  dürfen.  Art.  41  be- 
stätig-t  ferner  das  Recht  der  französischen  Regierung  in 
Alcxandrien,  Tripolis  (Syrien),  Algier  und  in  den  anderen 
Städten  des  ottomanischen  Staatsgebietes  Konsulate  zu 
errichten  oder  zu  versetzen,  ohne  dass  die  türkischen' 
Behörden  sie  daran  hindern  dürfen.  (Vgl.  Art.  10  der 
Kapitulation  von  1569.)  Den  Konsuln  selbst  wird  wieder 
Exterritorialität  zugestanden  und  festgesetzt,  dass  Klagen 
gegen  sie  nur  vor  die  hohe  Pforte  gebracht  werden  dür- 
fen, die  darüber  Recht  sprechen  werde.  Art.  22  bestätigt 
die'  Steuerfreiheit  der  Dragomane  und  der  Dolmetscher, 
die  sich  in  den  Diensten  des  Gesandten  befinden.  Des- 
gleichen sollen  alle  Gegenstände,  die  für  den  persön- 
lichen Gebrauch  des  französischen  Gesandten  bestimmt 
sind,  vollkommen  steuerfrei  sein  (ne  soient  sujette  ä 
aucunes  taxes  ou  impots).  Hinsichtlich  des  Zeremo- 
niells soll  der  französische  Gesandte  als  Doyen  gelten 
und  demnach  den  Vorantritt  vor  allen  anderen  Botschaf- 
tern besitzen,  welches  Recht  auch  den  französischen  Kon- 
suln  durch    Art.   29   Abs.   2   zuerkannt   wird. 

Art.  26  hebt  alle  früheren  türkischen  Kapitulationen 
auf  und  gleicht  in  seinem  Wortlaute  fast  vollständig  dem 
7.   Artikel. 

Hinsichtlich  des  Handels  wird  bestimmt,  dass  der- 
selbe keinen  Abgaben  unterliegen  solle,  die  nicht  genau 
festgesetzt  seien.  (Ueber  die  einzelnen  Arten  dersel- 
ben vgl.  Art.  18,  16  und  32:  „Voulons  toutefois  qu'ils 
soient  tenus  de  payer  les  droits  ordinaires  de  nos  ports 
et  havres.")  Fernerhin  wird  angeordnet,  dass  die  Geld- 
cinfuhr  gemäss  Art.  9  vor  Erpressungen  und  Abgjiben 
gesichert  sein  solle  und  dass  das  auf  französischen  Schif- 
fen befindliche  feindliche  Gut  vor  jeder  Wegnahme  ge- 
schützt  sein    soll    (Art.    12).     Neu   ist   die    Bestimmung 

1)  Siehe  auch  Testa  Bd.  I.  S.  151. 


—     37     — 

hinsichtlich  der  Korallenfischerei,  wo  den  Franzosen  das 
Recht  eingeräumt  wird,  im  Qolfe  von  Stora-Courcouri  den 
abhängigen  Staaten  von  Algier  und  an  allen  anderen 
Orten  der  Barbarie,  Algier  und  Tunis  ohne  jedes  Hinder-;^ 
nis  die  Korallenfischerei  zu  betreiben  (Art.  21).  Die 
Piraten  werden  wie  in  den  früheren  Kapitulationen  mit 
den  strengsten  Strafen  bedroht  und  dem  Urteile  der 
französischen  Behörden  unterstellt  (Art.  19  und  20).  Fran- 
zösische Staatsangehörige,  die  auf  Kaperschiffen  getrof- 
fen werden,  sollen  als  Kriegsgefangene  (nous  declarons 
aussi  qui  ceux  qui  seront  trouves  sur  des  vaisseaux  de 
corsaires  seront  esclaves  de  bonne  guerre")  behandelt 
werden  (vgl.  Art.  10  und  11).  In  gleichem  Masse,  wie 
dem  Piratenwesen  gesteuert  wird,  werden  auch  die 
Rechte  und  Freiheiten  der  Schiffahrt  neuerdings  durch 
die  Art,  20 — 32  genau  geregelt  und  ein  besonderer 
Art.  44  enthält  wieder  die  Bestimmung,  dass  die  fran- 
zösischen Schiffe  nicht  verpflichtet  seien,  sich  untersuchen 
zu  lassen,  es  sei  denn  am  Ausgange  aus  den  Dardanel- 
len. 1) 

Art.  17  schützt  die  Kaufleute  vor  den  immer  mehr 
in  Schwung  gekommenen  Erpressungen  der  Zollpächter, 
die  durch  hohe  Zölle  die  französischen  und  andere  Kauf- 
leute am  Weiterführen  ihrer  Waren  verhinderten  und  sie 
so  zu  einer  billigen  Abgabe  derselben  veranlassten. 

Auch  die  religiösen  Rechte  der  Franzosen  wurden 
wieder  anerkannt,  indem  der  Sultan  bestimmte,  dass  den 
französischen  Untertanen  und  den  mit  Frankreich  be- 
freundeten Staaten  der  Besuch  des  heiligen  Grabes  zu 
Jerusalem  ohne  Hindernis  gestattet  sein  soll.  (Vgl.  Art.  5.) 
Auch  die  Bestimmungen  gegen  ungerechte  Verleumdun- 
gen („en  les  accusants  d'avoir  ou  parle  ou  blaspheme 
contre  notre  sainte  religion  .  .  .")  werden  wiederholt. 
(Siehe  Art.  38.) 

Hinsichtlich  der  Gerichtsbarkeit  wird  die  Zusiche- 
rung gegeben,  dass  dieselbe  mit  Ausnahme  der  Tot- 
schläge (meurtres)  in  den  Händen  der  französischen  Be- 
hörden liegen  solle,  letztere  aber  vor  ein  Sondergericht 
zu  kommen  hätten. 

Art.  39  spricht  wieder  die  Befreiung  der  Franzosen 
von  der  Haftung  für  Schulden  ihrer  abwesenden  Lands- 
leute aus  mit  Ausnahme  einer  etwaigen  Verbürgung  durch 


1)  Siehe  aber  art.  44  Abs.  2:  „Nous  defendons  qu'ils  le  soient 
ä  Gallipoli,  comme  ils  ont  ete  contraints  par  le  passe". 


—     88     — 

contrat  authentique  et  passe  par  devant  personne  pu- 
blique. 

Für  gemischte  Prozesse  gilt  das  gleiche  wie  in  der 
Kapitulation  von  1597. 

Zum  Schlüsse  dieser  sehr  umfangreichen,  50  Kapitel 
umfassenden  Kapitulation  wird  jede  Verletzung  ihrer 
Bestimmungen  mit  schwerer  Strafe  bedroht  und  es  er- 
folgt eine  eidliche  Versicherung,  die  solange  wirken  soll, 
als  der  „Kaiser"  i)  von  Frankreich  in  der  Bevv  ahrung 
der  türkischen  Freundschaft  standhaft  und  fest  sein 
wird.  2)  Ihrem  Aeussern  nach  trägt  diese  Kapitulation 
einen   mehr   einseitigen   Charakter. 

Die  französisch-türkische  Kapitulation  von  1673. 

In  der  nach  der  Kapitulation  von  1604  anbrechen- 
den Periode  sehen  wir  die  Stellung  Frankreichs  neuer- 
dings durch  heftige  Kämpfe  in  Europa  schwer  erschüttert. 
War  es  schon  vorher  bemüht  gewesen,  die  Rivalität  Eng- 
lands hinsichtlich  der  Protektoratsbestrebungen  durch 
das  Hatti-Sherif  vom  20.  April  1607  (Ergänzung  der 
Kapitulation  von  1604)3)  wenigstens  scheinbar  zu  bre- 
chen, so  konnte  es  nach  den  grossen  Wirren  der  Jahre 
1618  bis  1672  nicht  mehr  umhin  eine  neuerliche  Bestäti- 
gung seiner  Rechte  zu  verlangen.  Denn  auch  der  Hatti- 
Sherif  von  1607  erfüllte  nicht  die  Sehnsucht  Frankreichs, 
England  und  Venedig  wieder  unter  das  französische  Pro- 
tektorat zurückversetzt  zu  sehen.  Aber  das  war  nicht 
der  alleinige  Grund.  Wenn  Belin  von  der  Kapitulation 
des  Jahres  1604  zunächst  berichten  kann,  sie  „hatte  einen 
starken  Einfluss  auf  die  Türken"  und  wer  dies  kennte 
„dem  wird  die  grosse  Wichtigkeit  dieses  internationalen 
Traktates  verständlich  sein",*)  so  galt  dies  denn  doch 
nur  für  die  nächsten  Jahre. 

In  einem  Lande,  in  dem  wie  in  der  damaligen  Tür- 
kei der  religiöse  Fanatismus  und  der  Fremdenhass  eine 
Hauptrolle  spielten,  war  jede  Vereinbarung  und,  wenn 
sie  auch  in  die  schönsten  Worte  gekleidet  war,  völlig 
nutzlos,  wenn  sie  nicht  „in  dem  von  der  Regierung  ver- 

1)  Diese  Bezeichnung  als  Empereur  de  France  ist  sehr  auf- 
fallend und  begegnet  uns  auch  wiederholt  in  den  späteren  Kapitu- 
lationen. 

2)  Der  Text  lautet  in  Art.  50:  De  ne  contrevenir  ä  ce  qui  est 
porte  par  ce  traite  de  paix  et  capitulation,  tant  que  l'empereur 
de  France  sera  constant  et  ferme  ä  la  conservation  de  notre  amitie". 

3)  Text  s.  Nor.  Bd.  I.  S.  108. 

4)  Belin  Capitulations  S.  8a 


fo]j{ten  Ziele  den.  nötigen  Boden  und  die  nötige  Unter- 
stützung fand".  1)  Wohl  zum  grössten  Teil  durch  die 
Hetzarbeit  der  englischen  Diplomaten  aufgestachelt,  ver- 
gessen sich  die  türkischen  Behörden  den  französischen 
Untertanen  gegenüber  immer  mehr  und  schreckten  im 
Jahre  1617  nicht  davor  zurück,  selbst  den  französischen 
Gesandten  auf  die  Liste  der  Kopfsteuerpflichtigen  zu 
setzen.  -)  Hammer  erwähnt  jedoch,  dass  die  Pforte 
diese  völlig  ungerechtfertigte  Verfügung  bereits  im 
darauffolgenden  Jahre  auf  den  energischen  Protest  des 
französischen  Gesandten  hin  aufliob  und  die  französischen 
Verträge    neuerdings    bestätigte.  ') 

Ais  nun,  wie  bereits  oben  erwähnt,  die  schwersten 
Wirren  das  gesamte  Gleichgewicht  Europas  zu  zerstören 
drohten,  schien  es  die  Türkei  an  der  Zeit  zu  halten,  die 
letzten  Fesseln  abzustreifen  und  ihrem  eigenen  Belieben 
zu  folgen.^)  Ein  besonders  scharfes  Urteil  für  die  di- 
maligen  Zustände  gab  ein  französischer  Staatsmann  ab, 
der  dieselben  für  vollkonjmen  unhaltbar  erklärte.  ^)  Aber 
erst  nach  dem  Siege  Ludwigs  XIV.  in  den  Niederlanden 
war  die  Stellung  Frankreichs  wieder  soweit  befestigt, 
dass  es  mit  der  Forderung  nach  einer  neuen  Kapitu- 
lation hervortreten  konnte. 

Dieselbe  kam  dann  auch  im  Jahre  1673'')  zustande 
und  wiederholt  zum  grössten  Teil  die  Bestimmungen  der 
Kapitulation  von  1604,  enthält  aber  auch  einige  neuo 
Zugeständnisse  an  Frankreich.  So  wurden  die  Fran- 
zosen zu  anerkannten  Beschützern  der  heiligen  Stätten 
und  der  dorthin  pilgernden  Wallfahrer  erklärt.  (Siehe 
Art,  43.  „II  fut  accorde  ä  l'Empereur  de  France,  par 
les  Capitulations  .  .  .  .,  que  toutes  les  Nations  qui  n'ont 
point  leur  Ambassadeur  ordinaire  ä  notre  Porte  .' .  ., 
puissent  trafiquer  sous  la  Banniere  de  France  et  visiter 
les  Saints  Lieux  .  .  .")  Die  bei  der  französischen  Bot- 
schaft angestellten  Dragomane,  die  ja  meist  selbst  Tür- 
ken waren,  wurden  den  Franzosen  gleichgestellt. '')  Fer- 
ner wurde  den  französischen  Untertanen  die  Abhaltung 

1)  Martens  S.  203. 

2)  Martens  S.  204. 

3)  Martens  S.  204.    Belin  S.  89  und  90.    Koradounghian  Bd.  I. 
S.  43,  Miltitz  Bd.  II.  2  S.  102. 

4)  Vgl.  Zinkeisen  Bd.  IV.  S.  202.  Martens  S.  205. 

5)  Siehe  Testa  Bd.  I.  S.  10. 

6)  Den  Text  siehe  Nor.  Bd.  I.  S.  136  bis  145. 

7)  Sie  wurden  z.  B.  durch  Art.  14  von  der  Personaisteuer  und 
allen  übrigen  Abgaben  für  befreit  erklärt. 


—     40     — 

eines  Gottesdienstes  im  Hospital  von  Oalata '^)  gestattet 
und  den  dort  befindlichen  Geistlichen  Schutz  zugesagt. 
Sehr  wertvoll  für  die  Sicherheit  der  im  Orient  angesiedel- 
ten Europäer  musste  auch  die  Zusicherung  sein,  dass 
die  Pforte  den  in  den  Hafenplätzen  befindlichen  Kirchen 
(Smyrna,  Saida,  Alexandrien  usw.)  ihren  Schutz  ange- 
deihcn  lassen  will.  Natürlich  hatte  auch  diese  Bestim- 
mung die  Voraussetzung,  dass  das  Ansehen  der  fran- 
zösischen Regierung  an  diesen  Orten  gross  genug  war, 
diesen  Zusicherungen  den  nötigen  Nachdruck  zu  ver- 
leihen. Neu  ist  in  dieser  Kapitulation  die  Bestimmung, 
dass,  wenn  im  Prozesse  eines  Türken  gegen  einen  Fran- 
zosen der  Streitwert  4000  Asper  übersteigt,  der  kaiser- 
liche Divan  selbst  die  Angelegenheit  zu  entscheiden 
hätte.-)  Art.  13  dieser  „articles  nouveaux"  befreite  die 
Franzosen  von  der  zu  vielen  Missbräuchen  benützten 
Einrichtung  des  sogenannten  Blutgeldes  (Prix  du  sang). 
Wurde  nämlich  in  dem  von  Franzosen  bewohnten  Stadt- 
teile ein  Toter  gefunden,  so  forderten  die  Behörden  ohne 
Rücksicht  auf  Schuld  das  Wehr-  oder  Blutgeld.  ">)  Für 
die  Zukunft  sollte  es  daher  bei  einem  derartigen  Funde 
verboten  sein,  dass  die  Franzosen  „soient  molestes  en 
leur  demandant  le  Prix  du  Sang,  si  ce  n'est  qu'on  prouve 
en  justice  que  ce  sont  eux  qui  ont  fait  le  mal".  Dieses 
Uebereinkommen  ermässigte  ferner  den  Zoll  (tarif  dou- 
nier)  von  5 o/o  auf  3 o/o,  ein  Zugeständnis,  das  übrigens 
den  Engländern  bereits  gewährt  worden  war.  (Siehe 
Art   5  der  „articles   nouv.*'.)'*) 

Die  Forderungen  aber,  die  Ludwig  XIV.  durch  seinen 
Beauftragten  Herrn  De  Noitel  befriedigt  sehen  wollte, 
wurden  durch  diese  Kapitulationen  nur  zum  Teil  erfüllt. 
Er  verlangte  z.  B.,  dass  die  von  den  Griechen  besetzten 
heiligen  Stätten  wieder  den  Katholiken  zurückgegeben 
werden  sollen.  Dem  wurde  jedoch  nicht  entsprochen 
und  die  Türkei  begnügte  sich  vielmehr  mit  der  oben  er- 
wähnten Zusicherung  des  Schutzes  der  Kapuziner  und 
Jesuiten  und  der  Wiederherstellung  ihrer  Kirchen.  •')  Aber 
auch  dem  Wunsche  Ludwigs  XIV.,  sich  als  Hort  der 
Christenheit  im  Orient,  ähnlich  der  Stellung  des  Sultans 
gegenübei   den  Muselmännern,  begrüsst  zu  sehen,  ging 


1)  Siehe  art.  3  und  besonders  art.  4  der    „articles  nouveaux' 

2)  Siehe  art.  12  der  „art.  nouv.". 

3)  Vgl.  Miltitz  Teil  II.  2.  S.  119. 

4)  Vgl.  Martens  S.  207. 

5)  Siehe  Rausas  S.  70  und  71. 


—      41      — 

nicht  in  Erfüllung.  Im  1.  Artikel,  der  14  Forderungen, 
die  s^n  Gesandter  dem  Sultan  überbrachte,  verlangte  er 
nämlich  für  sich  eine  derartige  Stellung,  dass  „der 
Kaiser  von  Frankreich  der  Protektor  der  Chiistenheit 
neben  seiner  Hoheit  sei,  dass  die  christliche  Religion^ 
immer  in  den  Gegenden  des  ottomanischen  Reiches,  wo 
sie  bis  jetzt  da  war,  ausgeübt  werden  solle".  Zur  ge- 
nauen Erläuterung  aller  seiner  Wünsche  in  dieser  Hin- 
sicht verwandte  er  eben  nicht  weniger  als  14  Artikel,  i) 
Wenn  diese  Kapitulation  auch  nicht  den  Ehrgeiz  eines 
Ludwig  XIV.  erfüllen  konnte,  so  kommt  ihr  doch  unleug- 
bar das  Verdienst  zu,  neben  verschiedenen  Vergünsti- 
gungen, die  sie  den  Fremden  gewährte,  auch  das  Ein- 
spruchsrecht derselben  in  religiösen  Dingen  nicht  herab- 
gesetzt zu  haben. 

Die  Kapitulation   Frankreichs  voni  Jahre  1740. 

Die  gleiche  Politik,  die  zur  Kapitulation  vom 
5.  Juni  1673  geführt  hatte,  setzte  auch  Ludwig  XV.  fort. 
Um  das  Jahr  1736  erlitt  die  Türkei  schwere  Verlustie 
durch  die  wohldurchdachten  Einfälle  der  Russen,  die  sich 
in  den  Besitz  der  ganzen  Krim  setzten,  ihr  freies  Schiff- 
fahrtsrecht im  Schwarzen  Meer  proklamierten,  und  so- 
gar das  ganze  Ufer  dieses  Meeres  vom  Kaukasus  bis  zur 
Mündung  der  Donau  für  sich  in  Anspruch  nahmen. 

Zu  gleicher  Zeit  drangen  die  österreichischen  Trup- 
pen in  die  Gebiete  der  Moldau  und  der  Walachei.  Die 
Türkei  sah  wohl  ein,  was  es  bedeuten  würde,  unter  die- 
sen Bedingungen  Frieden  zu  scliliessen  und  wandte  sich 
daher  an  Frankreich  um  Hilfe,  -)  dessen  damaliger  Ver- 
treter der  Marquis  de  Villeneuve  war.  Dieser  Staat 
hatte  damals  selbstverständlich  das  grösste  Interesse 
daran,  die  Integrität  der  Türkei  zu  erhalten  und  sie  nicht 
zwischen  Russland  und  Oesterreich  aufteilen  zu  lassen. 
Pellissie  du  Rausas  führt  mit  Recht  an,  dass  „das  Ver- 
schwinden der  Türkei  die  Vernichtung  der  Arbeit  Col- 
berts  und  Ludwigs  XIV.  und  der  handelspolitische  Ruin 
Frankreichs  gewesen  wäre  .  .  ."  ^)  Auch  bei  der  Vor- 
geschichte dieser  Kapitulation  sehen  wir  fast  die  glei- 
chen Zustände  wie  bei  dem  Abschlüsse  des  Traktates 
von  1535:  Die  politischen  Interessen  überwiegen  weit- 
aus   die    religiöser    und    völkerfreundlicher    Natur.      All 

1)  Siehe  Rausas  S.  61  ff. 

2)  Vgl.  Rausas  I.  S.  73  ff. 

3)  Vgl.  Rausas  S.  74. 


—     42     — 

die  Vorteile  eines  guten  Friedens  mit  den  Wünschen 
Frankreichs  zu  verbinden  und  mit  möglichstem  Geschick 
einem  Erfolge  zuzuführen,  soUte  die  Aufgabe  des  oben 
erwähnten  Diplomaten  bilden.  Zunächst  trat  er  noch 
nicht  mit  Forderungen  heraus,  sondern  wartete,  bis  auf 
Seiten  der  türkischen  Feinde  Rückschläge  eintreten  wür- 
den. Nachdem  Oesterreich  infolge  schlechter  Verpfle- 
gung verschiedene  Gebiete  wieder  räumen  musste  und 
zum  Frieden  geneigt  war,  liess  Karl  VI.  durch  Villeneuve 
in  seinem  Namen  mit  der  Pforte  unterhandeln,  die  je- 
doch diesmal  so  masslose  Forderungen  stellte,  dass  der 
Feldzug  von  neuem  begann.  Erst  der  Friede  von  Belgrad 
sollte  endgültige  Beruhigung  für  Europa  bringen.  Der 
Preis  für  diese  geschickte  Unterhändlerarbeit  Villeneuves 
war   die   Kapitulation   vom    28.   Mai    1740.1) 

Sie  ist  bei  weitem  die  längste  und  bedeutsamste  aller 
Kapitulationen,  die  im  Laufe  der  Zeit  mit  Frankreich 
abgeschlossen  wurden  und  bildet  auch  gleichsam  den 
Schlussstein  der  türkisch-französischen  Verträge  dieser 
Artikel.  2)  Sie  enthält  nicht  weniger  als  85  Artikel,  von 
denen  freilich  über  die  Hälfte  eine  blosse  Wiederholung 
früherer   Kapitulationen   sind. 

Zunächst  ist  bei  dieser  Kapitulation  auffallend  die 
Beilegung  der  verschiedensten  Titel.  Für  die  Charakteri- 
sierung der  damaligen  Gebräuche  ist  sie  nicht  uninter- 
essant. So  nennt  sich  der  Sultan  nicht  weniger  als  „le 
Sultan  des  glorieux  Sultans,  l'Empereur  des  Puissants 
Empereurs  le  distributeur  de  coronnes  aux  Cosroes  qui 
sont  assis  sur  les  trönes,  l'ombre  de  Dieu  sur  la  terre*^ 
etc. 

Auch  der  König  von  Frankreich  liess  sich  mit  den 
höchsten  Titeln  bezeichnen,  wie  „la  gloire  des  grands 
princes  de  la  croyanne  de  Jesus  .  .  .  l'empereur  de  France 
et  d'autres  vastes   royaumes   qui  en  dependent  etc.*'. 

Pellissie  du  Rausas  bemerkt  gegenüber  diesen  Aus- 
zeichnungen, dass,  w^nn  dies  auch  im  Orient  nicht  über- 
raschend wirke,  es  doch  ein  bezeichnendes  Schlagücht 
auf  die  jeweiligen  Machtverhältnisse  Frankreichs  werfe, 
da  bei  den  früheren  Kapitulationen  bei  weitem  nicht  so 

1)  Den  Text  siehe  Noradounghian  Bd.  I.  S.  277.  Strupp  Bd.  I. 
S.  48.  Eine  deutsche  Uebersetzung  der  Kapitulation  siehe  im 
österreichischen  wirtschaftspolitischen  Archiv  S.  355. 

2)  Die  früheren  Kapitulationen  wurden  wie  erinnerlich  meist 
nur  für  die  Lebensdauer  des  Sultans  abgeschlossen,  während  diese 
Ewigkeitsdauer  besitzen  sollte. 


—     43     — 

hohe  Titel  gegenseitig  zur  Anwendung  kamen.  \)  Er- 
wähnenswert ist  bei  dieser  Kapitulation  insbesondere  die 
Bestimmung,  dass  sie  für  immer  Geltung  behalten  solle 
und  nicht  durch  das  Ableben  des  jeweiligen  Sultans  in 
Frage  gestellt  werden  könne.  Durch  die  Beseitigung  der 
früheren  Waffenstillstandsart  wurde  eine  Erneuerung  für 
späterhin  überflüssig.  (Bisher  waren  die  Kapitulationen 
nicht  weniger  als  11  Mal  bekräftigt  worden.)  Wegen  der 
grossen  Bedeutung,  die  diese  Kapitulation  für  die  Folge- 
zeit hatte  und  nach  der  Auffassung  verschiedener  Staaten 
ja  noch  heute  haben  soll,  wollen  wir  auf  dieselbe  näher 
eingehen. 

Was  die  politische  Seite  des  Vertrages  anlangt,  so 
haben  wir  die  Festsetzung  der  Vertragsdauer  bereits 
erwähnt.  Inwieweit  dies  auf  die  politischen  Verhältnisse 
von  wirklichem  Einflüsse  hätte  sein  können,  soll  einer 
späteren  Erörterung  vorbehalten  bleiben.  (Siehe  Inhalt 
Teil  II.) 

Nach  der  formellen  Bedeutung  dieses  Abkommens 
zu  urteilen,  enthält  es  gegenüber  den  früheren  Kapitu- 
lationen nichts  wesentlich  Neues.  Art.  17  bestätigt  nach 
einer  überschwänglichen  Würdigung  der  alten  Freund- 
schaftsbeziehungen zwischen  Frankreich  und  der  Pforte, 
dass  „les  ambassadeurs  de  France  residant  ä  notre 
Porte  de  felicite,  viendront  ä  notre  supreme  divan,  et 
...  ils  aient,  suivant  l'ancient  coutume,  le  pas  et  la 
preseance  sur  les  ambassadeurs  d'Espagne  et  des  autres 
rois". 

Pellissie  du  Rausas  erwähnt  ferner  im  Anschluss  an 
Charriere,  dass  dieses  Recht  des  französischen  Ge- 
sandten zum  ersten  Male  im  Jahre  1580  nach  einem  er- 
regten diplomatischen  Kampfe  wegen  der  Rechte  Vene- 
digs gewährt  wurde.  140  Jahre  später,  im  Anschluss  an 
den  Frieden  von  Passarowitz,  wurde  dieses  Recht  Frank- 
reichs neuerdings  Testgestellt.  2)  Nochmals  erwähnt  wird 
dieses  Recht  im  Anschluss  an  die  Konsuln  im  Art.  44 
des  vorliegenden  Abkommens.  Seit  dem  Wiener  Kon- 
gress  vom  Jahre  1815,  der  all  die  einzelnen  Vorrechte 
der  Gesandten  von  Neuem  regelte,  hatte  diese  Bestim- 
mung nur   mehr   historischen    Wert.  3) 

Betreffs  der  Schutzgewalt  Frankreichs  in  religiösen 
Angelegenheiten    ist   zunächst  gleich   der   1.    Artikel   zu 


1)  Vgl.  Rausas  S-  79  ff. 

2)  Rausas  S.  82,  und  Charriere  S.  3,  S.  889  und  916. 

3)  Vergl.  Rausas  Bd.  I.  S.  83. 


—     41     — 

erwähnen.  Dieser  bestimmt,  dass  die  französischen  Pil- 
ger, die  nach  dem  heiHgen  Grabe  ziehen,  ebensowenig, 
wie  diejenigen,  die  sich  in  der  aortigen  Kirche  befinden, 
behelligt  werden  sollen.  Die  Art.  32,  33,  34,  35,  o6  wie- 
derholen eigentlich  nur  Rechte,  die  Frankreich  bereits 
in  der  Kapitulation  von  1673  gewährt  worden  waren.  Also 
Fortdauer  der  Privilegien  hinsichtlich  der  freien  Reli- 
gionsübung, Schutz  der  Kirchen,  in  den  bekannten  türki- 
schen Hafenstädten  usw.  Im  Art.  82  wird  dann  noch 
die  ungestörte  Ausbesserung  der  Kirchen  gestattet,  ohne 
dass  hiebei  Erpressungen  stattfinden  dürfen,  und  die 
oftmalige  Durchsuchung  der  kirchlichen  Gebäude  auf  ein 
einziges  Mal  im  Jahre  herabgesetzt.  („Es  soll  nur  eine 
einzige  Durchsuchung  im  Jahre  stattfinden  für  die  Kirche 
des  Ortes,  den  sie  nennen,  das  Grab  Jesus.'*)  In  diesen 
religiösen  Angelegenheiten  führte  Ludwig  XV.  durch 
seinen  Gesandten  Marquis  de  Villeneuve  die  Politik 
seines  Vorgängers  getreulich  weiter.  Rausas  sagt  daher 
mit  Recht,  dass  Frankreich,  wenn  es  auch  keine  formelle 
Anerkennung  seines  Protektorates  über  alle  Christen  in 
der  Türkei  erreichen  konnte,  sich  doch  so  betrug,  als 
wenn  es  sie  erhalten  hätte,  ^)  und  nicht  zögerte,  sich  in 
verschiedene  allgemeine  Streitigkeiten  der  Christen  ein- 
zumischen und  dieselben  zu  entscheiden. 

Aber  nicht  nur  auf  religiösem,  sondern  auch  auf 
handelspolitischem  Gebiete  hatte  der  französische  Ge- 
sandte es  vortrefflich  verstanden,  für  sein  Land  die  grösst- 
möglichsten  Vorteile  herauszuschlagen.  Im  Vergleiche 
mit  früheren  Kapitulationen,  ja  selbst  mit  der  gewiss  weit- 
gehenden von  1673,  gewährte  der  Traktat  von  1740  noch 
weit  günstigere  Zugeständnisse  Bestimmte  er  doch  in 
seinem  Art.  56,  dass  nicht  nur  bestimmte  aufgezählte  Wa- 
ren, sondern  überhaupt  alle  nicht  verbotenen  Artikel  von 
jetzt  ab  ausgeführt  werden  dürfen  („ils  puissent,  en 
payant  la  douane'  suivant  les  capitulations  iniperials, 
charger  sans  oppisitions  toutes  celles  qu'ils  ont  coutume 
de  charger  pour  leur  pays,  .  .  ä  Texception  toutefois 
de  Celles  qui  sont  prohibees".)  -)     Art.  57  bestimmte  in 

1)  Rausas  S.  83  Bd.  I. 

2)  Interessant  sind  hierbei  die  Bestimmungen  der  Art.  37  u. 
55  über  die  Abgabe  des  „masdarye"  oder  des   „mezeterie". 

Während  der  Art.  37  die  französischen  Kaufleute  dieser  Steuer 
unterwirft,  werden  sie  im  Art.  55  hiervon  befreit.  Der  für  uns  in 
Betracht  kommende  Text  des  37.  Art.  lautet:  „Les  Frampais  paieront 
le  droit  de  masdarye  sur  le  pied  que  le  paient  les  marchands 
anglais,  et  les  receveurs  de  ce  droit,  pui  seront  ä  Constantinople 


—    45    — 

der  Frage  der  Zolltarife,  die  von  den  Türken  sehr  häufig' 
nicht  auf  der  vereinbarten  Höhe  von  3 o/o  gehalten  wur- 
den, dass  dieselben  bezüglich  des  sehr  ausgebreiteten 
Handels  in  Tüchern  neu  ausgearbeitet  werden  sollen.. 
(Draps.)  Erwähnenswert  sind  noch  die  Art.  58,  62  und 
64,  die  die  Zollabgabe  für  die  in  Frankreich  hergestellten 
„Fes"  (Art.  58)  auf  eine  einmalige  herabsetzen,  in  er- 
giebigen Jahren  die  freie  Ausfuhr  von  getrockneten  Früch- 
ten in  geringerer  Menge  gestatten  (Art.  62)  und  neuer- 
dings wiederholen,  dass  von  eingeführtem,  geprägtem 
Gelde  keine. Abgaben  gefordert  werden  sollen  und  auch 
kein  Wechselzwang  ausgeübt  werden  dürfe  (Art.  64).  i) 
(Siehe  auch  Art.  3  der  Kapitulation:  „les  marchands  et 
autres  Fran^ais  n'ont  point  paye  de  droits  sur  les  piastres 
qu'ils  ont  apportees  de  leur  pays  dans  nos  Etats".)  Be- 
züglich des  Art.  60,  der  bestimmt,  dass  auf  Mäkler,  die  die 
französischen  Kaufleute  halten,  kein  „Qhedik"  erhoben 
werden  soll,  sagt  Gavillot  sehr  richtig,  dass  dies  „eine 
dieser  arbitären  Taxen"  sei,  „die  unter  einer  anderen 
Form  wieder  zu  erstehen  scheinen,  sobald  sie  durch  eine 
Kapitulation  beseitigt  sind",  i) 

Ferner  wurde  bestimmt,  dass  ein  osmanischer  Gläu- 
biger, der  bei  Vorlegung  eines  Wechsels  von  einem  fran- 
zösischen Schuldner  keine  Bezahlung  erhält,  sich  nicht 
zu  Gewaltmassregeln  hinreissen  lassen  dürfe,  sondern 
nur  eine  Bestätigung  der  Zahlungsverweigerung  ver- 
langen könne;  im  übrigen  haben  die  französischen  Behör- 
den für  die  Befriedigung  des  türkischen  Gläubigers  Sorge 
zu  tragen.  1) 

Das  schon  des  öfteren  erwähnte  Prinzip  der  indivi- 
duellen Verantwortlichkeit  sehen  wir  auch  in  der  Kapi- 
tulation von  1740  angewendet.  (Vgl.  Art.  53,  54,  ferner 
auch  Art.  22  und  23.)  Art.  53  setzt  fest,  dass  bei  eineml 
„banqueroute  averee  et  manifeste"  eines  französischen 
Kaufmanns  sich  die  Gläubiger  nur  an  die  Konkursmasse 


et  ä  Galata,  ne  pourront  les  molester  pour  en  exiger  davantage". 
Demgegenüber    bestimmt    der    Wortlaut    des    Art.  55  das  gerade 

Gegenteil:    „  .  • lorsque    les   Fran9ais  negocient  ces 

sortes  de  marchandises  aves  quelqu'un,  Tonne  puisse  exiger  d'eux, 
sous  quelque  pretexte  que  ce  seit,  le  droit  de  masdarye,  dont 
l'exemptionleur  est  pleinement  accorde  par  l'article  de  la  masdarye." 

1)  Die  Bestimmung  des  Art.  64  findet  sich  zum  erstenmal  in 
der  Kap.  von  1604.    Ueber  die  Gründe  vergl.  Rausas  Bd.  I.  S  176.. 

2)  Vgl.  Gavillot  S.  76. 

3)  Del.  bemerkt  hiezu,  dass  in  Italien  die  Erklärung  des  Pro- 
testaten noch  heutzutage  den  Protest  ersetzen  kann.  Siehe  daselbst 
S.  17  Anm.  4. 


—     40     — 

und  nur  an  die  ocmeinsamen  Schuldner  halten  können.  Fer- 
ner dürfe  weder  der  Gesandte,  der  Konsul,  der  Dragoman 
oder  irgend  ein  anderer  Franzose  hiefür  verantwortlich 
gemacht  werden.  Art.  54  betreit  die  französischen  Be- 
hörden und  Kaufleute  von  der  Haftung  für  unter  fran- 
zösischer Flagge  verübte  Seeräubereien,  eine  FBestim- 
mung,  die  wohl  viel  Gutes  an  sich  hatte,  andererseits  aber 
auch  zu  verschiedenen  unlauteren  Machenschaften  der 
Franzosen  führen  konnte,  i)  Gleichzeitig  wurde  bestimmt, 
dass  der  Konsul  die  Befugnis  haben  solle,  die  betreffen- 
den Schiffspapiere  genau  zu  prüfen  und  insbesondere 
die  Berechtigung  zum  Führen  der  französischen  Flagge 
festzustellen  (que  les  consuls  fran^ais  examineront  avec 
soin  et  feront  savoir  si  les  bätiments  qui  viendront  dans 
nos  ports,  avec  le  pavillon  de  France,  sont  veritablement 
fran(jais).  -)  Art.  6Q  enthält  die  zum  Missbrauch  direkt 
herausfordernde  Bestimmung,  dass  kein  Gläubiger  einen 
französischen  Schuldner  zurückhalten  dürfe,  v.enn  sijjh 
der  Gesandte  oder  die  Konsuln  für  ihn  verbürgt  hätten. 
Wie  wir  aus  Art.,  48  ersehen  können,  war  jedoch  die 
Stellung  des  Konsuls,  der  „veretablementfrangais''  ■')  war, 
derart  priviligiert,  dass  er  auf  die  Anklage  eines  Türken 
niemals  gezwungen  werden  konnte,  vor  einem  türki- 
schen Gerichte  sich  ?u  verantworten.  ^)  Er  konnte  viel- 
so  war  die  Stellung  eines  türkischen  Gläubigers  wahr- 
haftig  „beneidenswert".^) 

Für  den  Mandel  Frankreichs  ist  ferner  die  Verord- 
nung des  59.  Artikels  von  grosser  Bedeutung,  wodurch 
den  Franzosen  das  Recht  gegeben  wurde,  in  Friedens- 
zeiten vollkommen  ungehindert  im  Bereiche  des  türki- 
mehr  zu  seiner  Vertretung  seinen  Dragoman  schicken; 
wenn  dieses  Vorrecht  dann  auch  noch  missbraucht  wurde, 

1)  Der  Art.  23  bestimmt  wieder  gleich  der  Kapitulation  von 
1673,  dass  niemand  für  Schulden  seines  Landmannes  haftbar  ge- 
macht werden  könne  und  ferner,  dass  das  Vermögen  eines  ver- 
storbenen Franzosen  entweder  den  durch  das  Testament  Berech- 
tigten oder  andernfalls  dem  Konsul  zur  weiteren  Verwendung  aus- 
zuliefern sei. 

2)  Vgl.  die  Anm.  Bianchis  in  Nor.  i.  S.  301  über  die  Entwick- 
lung dieser  Bestimmung. 

3)  Dennoch  waren  französische  Konsuln  manchmal  nicht  „veri- 
tablement francpais"  (vgl.  Notes  de  Bianchi  in  Nor.  S.  304  XXI. 

4)  s.  Art.  48:  Ceux  qui  sont  sous  la  domination  de  ma  Sub- 
lime Porte,  muselmans  ou  raya,  tels  qu'ils  soient,  ne  pourront 
forcer  les  consuls  de  France,  veritablement  fran^ais.  ä  comparaitre 
personellement  en  justice,   lorsqu'ils  auront  des  drogmans  ....". 

5)  Wie  wir  bereits  des  öfteren  ausführten,  wurde  auch  dessen 
Erscheinen  oft  missbraucht. 


—     47     — 

sehen  Staates  par  terre  ou  par  mer,  ja  selbst  auf  der 
Donau  UTid  Tanais  Handel  /u  treiben  und  ihnen  ferner  die 
Ein-  und  Ausluhr  nach  Russland  gestattet  wurde.  Art. 
73  und  74  bestimmen  noch,  dass  für  französische  Schiffe 
bestimmte  Nahryngsmittel  und  zur  Ausbesserung  not- 
wendige Gegenstände  keinem  Zoll  unterliegen  sollen. 
Eine  dem  französischen  Handel  günstige  Bestimmung 
enthält  auch  Art  77,  der  festsetzt,  dass  in  Seenot  ge- 
ratene französische  Schifte  mit  ihren  Ware«n  keinem  Zoll 
oder  irgend  welchen  Abgaben  unterliegen  sollen,  fjiUs 
das  Schiff  wieder  hergestellt,  oder  die  Waren  umgeladen 
und  nach  ihrem  Bestimmungsort  gebracht  würden.  Selbst- 
verständlich wird  auch  durch  diesen  Artikel  gleich  den 
übrigen  Kapitulationen  solchen  Schiffen  weitgehende  Hilfe 
zugesagt.  Dem  Schutze  der  französischen  Schiffahrt  dien- 
ten ferner  die  Anordnungen  der  Art.  78  und  79,  die  eine 
Belästigung  der  Schiffe  durch  erpresserische  Zurückhal- 
lungsversuche  türkischer  Beamter  unter  nichtigen  Vor- 
wänden, sowie  einen  Angriff  auf  französische  Fahrzeuge 
durch  Kriegsschiffe  verboten.  Die  Vorschriften  der  frühe^ 
ren  Kapitulationen  gegen  die  Kaperei  werden  durch 
Art.  11  und  81,  teilweise  durch  die  neue  Bestimmung  des 
Art.  54,  erneuert  und  ergänzt.  Ferner  wird  eine  Re- 
quirierung französischer  Schiffe  ohne  Zustimmung  des 
Konsuls  oder  des  Besitzers  strengstens  untersagt  (Art.  80). 

Zu  all  diesen  Vergünstigungen  kam  ab'Cr  noch  eine 
Neufestsetzung  und  Ausdehnung  der  persönlichen  Schutz- 
rechte sowohl  der  französischen  Behörden  als  der  Fran- 
zosen selbst.  Neben  der  beieits  erwähnten  Vorrang- 
stellung des  französischen  Gesandten,  wird  demselben 
und  den  Konsuln  auch  gestattet,  sich  nach  ihrem  Belieben 
Dragomane  und  Janitscharen  ,,de  tels  .  .  .  qu'ils  vou- 
dront'*  zu  halten.  (Siehe  Art.  45  und  50.)  Waren  diese 
Angestellte  Franzosen,  so  sollte  der  Konsul  auch  voll- 
kommene Gewalt  über  sie  haben.  (Das  gleiche  Recht 
stand  dem  Gesandten  zu.)  Aber  auch,  wenn  diese 
Voraussetzung  der  französischen  Staatsangehörigkeit  nicht 
zutraf,  so  standen  sie  doch  unter  der  ausschliesslichen 
Gerichtsgewalt  der  Konsuln  oder  der  Gesandten.  (Siehe 
Art.  46.)  1)  Die  Steuerfreiheit  der  bei  der  Gesandtschaft 
angestellten  Personen  wird  hier  zum  ersten  Mal  nur  für 
eine   beschränkte    Anzahl    und   zwar  für   15   anerkannt. 


1)  Vgl.  Martens  S.  214. 


—     4S     — 

(Art.  -47.)  ')  Von  geringerer  Bedeutung  ist  ferner  die 
Bestimmung  des  Art.  49,  der  den  türkischen  Beliörden 
befiehlt,  die  Konsuln  an  der  Hissung  der  französischen 
Flagge  gleich   den  Gesandten   nicht  zu   inndern. 

Die  Bestimmung  der  Kapitulation  von  1673,  die  den 
Franzosen  ungestörten  Weinbezug  zusicherte,  wurde 
durch  Art,  51  neuerdings  zugestanden.  Desgleichen  die 
Vergünstigung,  dass  keine  Kopfsteuer  (Charadsch)  er- 
hoben  werden   darf.    (Art.   63  und  67.) 

Art.  63  bestimmt  ferner,  dass  die  Franzosen  bich  der 
ortsüblichen  Tracht  bedienen  können,  sofern  sie  dies 
für  ihre  Bequemlichkeit  und  Sicherheit  als  notwendig 
erachten.  Ebenso  können  sie  sich  mit  einem  von  ihrer 
Behörde  bestätigten  Pass  überallhin  begeben.  '^) 

In  der  Bestimmung  des  4.  Artikels  sehen  wir  bereits 
ein  r->rinzip  verwirklicht,  das  uns  in  dem  europäischen 
Völkerrechte  erst  im  19.  Jahrhundert  begegnet.  Enthält 
doch  dieser  Artikel  bereits  neben  der  Bestimmung,  dass 
Franzosen,  die  auf  feindlichen  Schiffen  betroffen  werden, 
nicht  zu  Sklaven  gemacht  werden  dürfen,  auch  die  Fest- 
setzung, dass  das  auf  denselben  befindliche  französische 
Gut  nicht  eingezogen  werden  darf,  es  sei  denn,  dass  die 
Franzosen  gleichfalls  feindliche  Handlungen  unternom- 
men, oder  nach  der  Auffassung  Bianchis  in  „l'intention 
que  l'acte  reel  l'hostilite''  sind.  Dieser  Artikel  enthält 
kurz  gesagt  die  Bestimmung  „unfrei  Schiff,  frei  Gut'*, 
ein  Grundsatz,  den  erst  die  Pariser  Seerechtdeklaration 
von  1856  sich  zu  eigen  machte,  indem  sie  unter  feind- 
licher Flagge  fahrendes  neutrales  Gut  für  unantastbar 
erklärte. 

Eine  grosse  Erniedrigung  für  die  Türkei  musste  der 
5.  Artikel  bilden,  der  den  Franzosen  für  den  Handel 
mit    dem    Feinde    gleichsam    einen    Freibrief    ausstellte, 

1)  Diese  Bestimmung,  die  hier  zum  ersten  Mal  auftritt,  war 
durch  den  schnöden  Nutzen,  den  man  aus  der  Steuerfreiheit  der 
Angestellten  der  Gesandtschaft  herausholte,  notwendig  geworden. 
Auch  in  Art.  9  und  10  des  Dardanellenvertrages  mit  England 
vom  5.  Januar  1809  verwahrte  sich  die  Türkei  dagegen:  „La  pa- 
tente de  protection  anglaise  ne  sera  accordee  ä  personne  d'entre 
les  dependants  et  negociants  sujets  de  la  Sublime  Porte  .  .  .  ." 
s.  Rec.  int.  des  trait.  du  XIX.  Siecle.  Paris  1914.  s.  Nor.  II.  S.  81. 
Vgl  auch  Art.  18,  der  den  Konsuln  la  preseance  sur  les  consuls 
d'Espagne  et  des  autres  rois  zugesteht  und  ferner  die  Zoll-  und 
Abgabenfreiheit  der  französischen  Diplomaten,  mit  der  starker 
Missbrauch  getrieben  wurde,  auf  die  Kleidung  und  die  Nahrungs- 
mittel, die  für  den  persönlichen  Gebrauch  der  Gesandten  bestimmt 
waren,  beschränkte. 

2)  Diese  Inlandspässe  (Teskeres)  sind  seit  1908  aufgehoben. 


—    49     — 

indem  er  bestimmte,  dass  französische  Schiffe,  die  Nah- 
rungsmittel nach  feindhchem  Gebiete  führen,  von  tür- 
kischen Schiffen  unter  einem  solchen  Vorvvand  nicht  an- 
gehalten, noch  deren  Besatzung  zu  Sklaven  gemacht  wer- 
den dürfen. 

Bezüglich  der  Abgaben  bestimmte  der  8.  Artikel,  dass 
die  Franzosen  keine  Erhöhung  derselben  zu  gewärtigen 
hätten  („seront  estimees  au  nicme  prix  qu'elles  Tont  ete 
anciennement  pour  l'exaction  de  douane  qui  se  perce- 
vera  de  la  meme  fagon,  sans  qu'il  soit  fait  aucune  aug- 
mentation  sur  l'estime  desdites  marchandises**.)  Art. 
9 — 14  enthält  noch  genauere  Bestimmungen  über  die 
unzulässigen  Abgaben. 

Von  grosser  Wichtigkeit  für  die  persönliche  Sicher- 
heit der  Franzosen  wurde  der  70.  Artikely^  der  die  IJn- 
betretbarkeit  einer  französischen  Wohnung  ohne  Beisein 
des  Gesandten  oder  Konsuls  gewährleistet.  Besagt  doch 
der  Wortlaut  dieser  Bestimmung,  dass  „die  Beamten 
der  Justiz  und  die  Offiziere  der  hohen  Pforte  ebenso 
Vv'ie  die  Soldaten  in  ein  von  einem  Franzosen  bewohntes 
Haus  nicht  mit  Gewalt  eindringen  dürfen'',  und  nur 
wenn  die  Sachlage  ein  derartiges  Vorgehen  erfordern 
sollte,  „müsse  man  den  Gesandten  oder  den  Konsul 
benachrichtigen,  dass  er  an  dem  fraglichen  Ort  komme; 
und  wenn  irgend  jemand  sich  gegen  diese  Bestimmung' 
vergehen  sollte,  soll  er  gezüchtigt  werden''.  ^)  Dies 
trug  wesentlich  zur  Stärkung  der  persönlichen  Sicherheit 
und  Freiheit  der  Franzosen  bei,  da  sie  hiedurch  keiner 
Zwangsgewalt  der  türkischen  Behörden  ausgesetzt  wer- 
den konnten.  1)  In  dieser  Kapitulation  von  1740  begeg'- 
net  uns  ferner  zum  ersten  Ma!  eine  vollständige  und  ge- 
naue Regelung  der  Stellung  der  Franzosen  der  Gerichts- 
barkeit gegenüber.  Gemäss  Art.  52  ist  es  den  Franzosen 
gestattet,  bei  Streitigkeiten  zwischen  den  französischen 
Konsuln  und  Kaufleuten  einerseits,  und  den  Konsuln 
und  Kaufleuten  einer  anderen  christlichen  Nation  an- 
dererseits,   ihr   Anliegen   direkt   vor   ihre   Gesandten    zu 

1)  Seit  dem  Jahre  1866  ist  „das  Protokoll  über  das  Recht  des 
Immobiliareigentums.  bewilligt  den  Fremden  in  der  Türkei",  in 
dieser  Hinsicht' massgebend.  Die  Entstehung  dieses  Rechts  vgl. 
Rausas  S.  90. 

2)  Vgl.  Martens  S.  215.  Im  modernen  türkischen  Recht  ist 
die  Unverletzlichkeit  der  Wohnung  durch  Art.  105  türk.  Str.  G  B. 
anerkannt.  Es  braucht  jedoch  nach  dieser  Bestimmung  weder  der 
Gesandte  noch  der  Konsul  irgendwie  herangezogen  zu  werden, 
vgl.  Lehmann  S.  20. 

4 


—     50     — 

bringen  und  brauchen  sie  sich  ein  Urteil  türkischer  Be- 
hörden   keineswegs    gefallen    /u    lassen. 

Art.  65  bestimmt  hinsichtlich  von  Vergehen,  dass  die 
Aburteilung  eines  französischen  Verbrechers  nur  in  An- 
wesenheit des  Gesandten^  der  Konsuln,  oder  deren  Sub- 
stituten vorsichgehen  könne  („les  juges  de  mon  enipire 
et  les  officiers  ne  purront  y  proceder  qu'en  presence  de 
l'ambassadeur  et  des  consuls  ou  de  leurs  Substituts,  dans 
les  endroits  oü  ils  se  trouveront"). 

Nach  Bianchi  Note  26  bedeutet  dies  keine  Neuerung 
gegenüber  den  früheren  Kapitulationen,  da  die  weitere 
Bestimmung  dieses  Artikels  „et  que  l'on  vouiüt  que  la 
justice  en  prit  connaissance'*  die  Unterwerfung  der  tür- 
kischen Gerichte  nicht  bloss  dem  eigenen  Ermessen  über- 
lassen   erscheinen    lasse.  ^) 

Der  hinsichtlich  der  Gerichtsbarkeit  weiter  in  Be- 
tracht kommende  Art.  71  enthält  kurz  gesägt  den  heute 
anerkannten  Grundsatz  „Ne  bis  in  idem**  (die  Prozesse, 
die  zwischen  einem  Franzosen  und  anderen  Personen  er- 
ledigt sind,  nachdem  sie  bereits  einmal  der  richterlichen 
Besichtigung  und  Beendigung  unterzogen  wurden,  kön- 
nen nicht  nochmals  verhandelt  werden).  Auf  alle  Fälle 
müssen  jedoch  auch  hier  die  französischen  Vertretungs- 
behörden benachrichtigt  w^erdcn.  Findet  eine  Verhand- 
lung dann  statt,  so  ist  die  Pforte  selbst  die  Berufungs- 
instanz, vor  der  sich  jedoch  der  französische  Angeklagte 
vertreten  lassen  kann.  Bezüglich  der  entstehenden  Pro- 
zesskosten bestimmt  Art.  72,  dass  diese  von  der  ge- 
winnenden Partei  („qui  a  le  bon  droit")  zu  tragen  seien, 
welche  Anordnung  aber  nicht  in  der  Hinsicht  ausge- 
nützt werden  sollte,  dass  Prozesse  ohne  jeden  Grund  be- 
gonnen und  ohne  Risiko  fortgeführt  werden  könnten. 
Demnach  muss  der  „Avanist'*,  d.  h.  solche  Personen 
„qui  intentent  injustement  les  proces'*,  die  Kosten  tragen. 

Allenfalls  liessen  sich  die  Franzosen  noch  die  Zu- 
sicherung geben,  dass  sie  nur  2 o/o  der  Summe,  die  sie 
hereinbekamen,  als  Gerichtsgebühr  zu  bezahlen  hatten 
(„que  deux  pour  cent  sur  le  montant  de  la  somme  re- 
couvree  par  sentence,  conformcment  aux  anciennes  ca- 
pitulations"). 

Auch  diese  Kapitulation  enthält  wieder  die  Meist- 
begünstigungsklausel  und  zwar  in  ihrem  Art.  83.  2) 

1)  Vjil.  Notes  de  Bianchi  in  Nor.  Bd.  1.  S.  305  und  Del.  S.  119. 

2)  Der  Text  lautet:  „Comme  l'amitie  de  la  cour  de  France 
avec  ma  Sublime  Porte  est  plus  ancienne  que  celle  des  autres 
cour  nous  ordonnans,  pour  qu'il  soit  traite  avec  eile  de  la  manifere 


~     51     — 

Pellissic  du  Rausas  schliesst  hieraus  nicht  mit  Un- 
recht, dass  Frankreich  sich  demnach  alle  Konzessionen  zu 
Nutzen  machen  könne,  die  die  Pforte  anderen  Staaten 
bereits  gewährte  oder  noch  gewähren  wird.  Er  gibt 
jedoch  selbst  zu,  dass  diese  Klausel  in  den  meisten  spä- 
teren Kapitulationen  der  Pforte  mit  anderen  fremden  Staa- 
ten, ebenso  wie  bereits  vorher  in  den  verschiedi^en 
Abkommen  mit  den  italienischen  Staaten,  Aufnahme  ge- 
funden hat,  sodass  hiedurch  nach  allgemeiner  Ansicht 
eine  Gleichstellung  sämtlicher  Nationen  in  der  Türkei 
erfolgt  ist.  i)  Durch  die  Anführung  der  italienischen 
Staaten  wird  auch  das  Argument  Pellissie  du  Rausas'  hin- 
fällig, dass  Frankreich  die  erste  Nation  sei,  die  eine  Meist- 
begünstigungsklausel erhielt.  (Martens  erwähnt,  dass 
bereits  die  Kapitulation  der  Genuesen  mit  Mahunied  11. 
vom  Jahre  1454  den  ersteren  die  Rechte  und  Vorzügic 
einer  meistbegünstigten  Nation  gab.)  2)  Auf  jeden  Fall 
njeint  aber  Rausas,  werden  die  Franzosen  das  Recht 
haben,  von  allen  Meistbegünstigungsklauseln,  die  frem- 
den Nationen  in  der  Türkei  gewährt  werden,  den  Gewinn 
zu  beanspruchen.  '^)  Aus  dieser  französischen  Anschau- 
ungsweise erklärt  sich  wohl  auch  die  schon  förmlich  zum 
Gew^ohnheitsrecht  gewordene  französische  Vorrangstel- 
lung im  Orient  vor  dem  Kriege,  besonders  in  religiösen 
Angelegenheiten,  während  doch  eigentlich  gerade  durch 
die  anderen  Staaten  später  gewährte  Meistbegünstigungs- 
klauseln diese  die  gleichen  Rechte  erhielten,  wie  sie 
Frankreich  in  seinen  verschiedenen  Kapitulationen  ge- 
währt worden  waren.  Interessant  ist  auch  die  in  die- 
ser Kapitulation  wieder  erwähnte  Bestimmung,  dass  ihre 
Gültigkeit  von  dem  Bestehen  freundschaftlicher  Bezieh- 
ungen abhängig  sein  soll.  ')  (Vgl.  Aufhebungsmöglich- 
keit im  Teil  II.) 

Bezüglich  der  Dauer  dieser  Kapitulationen  haben  wir 
bereits  erwähnt,  dass  sie  nicht  mehr  an  das  Leben  der 
einzelnen  Vertragschliessenden  gebunden,  sondern  viel- 
mehr „Ewigkeitsdauer"  besitzen  sollen. '•) 


la  plus  digne,  que  les  Privileges  et  les  honneurs  pratiques  envers 
les  autres  nations  iranques  aient  aussi  Heu  ä  l'egard  des  sujets 
de  l'Empereur  de  France." 

1)  Vgl    Rausas  Bd.  I.  S.  85. 

2)  Siehe  Martens  S.  181. 

3)  Vgl.  Rausas  Bd.  1    S.  85. 

4)  Vgl.  auch  Kapitulation  von  16Ü4,  1673,  die  mit  England  von 
1675  und  die  mit  Holland  von  1680. 

5)  Vgl.  Rausas  S.  102. 


—     »2     — 

Diese  bei  weitem  umfangreichste  Kapitulation  hat 
auch  wegen  ihres  auf  alle  Materien  eingehenden  In- 
haltes eine  sehr  grosse  Bedeutung  erlangt  und  in  den 
späteren  Kapitulationen  anderer  Staaten  mehr  oder  we- 
niger Nachahmung  gefunden.  Ihrem  äusseren  Charakter 
nach  gleicht  sie  gemäss  der  türkischen  Gewohnheit  mehr 
den  bekannten  „Lettres-patentcs'',  die  auf  Wunsch  des 
französischen  Gesandten  erlassen  wurden.  Dieser  Ver- 
trag gilt  nach  französischer  Auffassung  noch  heute,  nach 
türkischer  ist  er  jedoch  mit  dem  1.  Oktober  1914  zur 
Aufhebung  gelangt.  In  der  Folgezeit  wurde  die  Kapitu- 
lation vom  28.  Mai  1740  noch  des  öfteren  neu  bestätigt 
und  zwai  durch  den  zweiten  Artikel  des  Vertrages  vom 
25.  Juni  1802,  durch  den  1.  Artikel  der  Verträge  vom 
25.  November  1838  und  vom  2Q.  April  1861,  sowie  durch 
die  Protokolle  vom  9.  Juni  18o8,  März  1871  und  12.  Fe- 
bruar 1863.  Im  1.  Artikel  des  Vertrages  von  1838  wird 
sogar  bestimmt,  dass  die  den  Franzosen  verliehenen 
Rechte  „für  alle  Zeiten''  Geltung  behalten  sollen. ')  Eine 
gemeinsame  Bestätigung  sämtlicher  Kapitulationen,  die 
die  einzelnen  Staaten  mit  der  Türkei  abgeschlossen  haben, 
fand  auf  dem   Pariser  Kongress  von    1856  statt, 

Die  Kapitulationen  mit  den  Niederlanden. 

„Die  uneigennützigen  Schutzbestrebungen''  Frank- 
reichs, die  sich  hauptsächlich  in  dem  Verlangen  nach 
möglichst  grossen  Konsulatseinnahmen  und  weitreichen- 
dem politischem  Einfluss  zu  zeigen  schienen,  hatten  nach 
dem  Hatti-Sherif  von  1607  wieder  sehr  unerquickliche 
Formen  angenommen,  als  Frankreich  unbedingt  die  Er- 
stattung von  Steuern  von  den  flämischen  Schiffen  ver- 
langte. Nachdem  dieses  Ansinnen  genug  Aufsehen  er- 
regt hatte,  regelte  ein  kaiserlicher  Firman  aus  dem  Jahre 
1609  die  Angelegenheit  in  dem  Sinne,  dass  die  Steuer, 
die  damals  zwei  vom  Hundert  betrug,  geteilt  und  etwa 
entstehende  Streitigkeiten  vor  ein  gemischtes  Schieds- 
gericht gebracht  werden  sollten.  -)  Holland,  das  diese 
Zustände  auf  die  Dauer  nicht  dulden  konnte,  sah  sich 
daher  bald  genötigt,  zum  Schutze  seiner  Interessen  gleich- 
falls eine  Kapitulation  zu  verlangen,  welche  ihm  auch 
am   6.   Juni   1612  gewährt  wurde.  •'^)     Nach  diesem   ein- 

1    Siehe  Bonfils-Grah  S.  466  ff.  Testa  Receuil  Bd.  1.  S.  5. 

2)  Rey  S.  441  ff.  Noradounghian  Bd.  1.  S.  40. 

3)  Pellissie  du  Rausas  Bd.  1.  S.  39  gibt  für  diese  Kapitulation 
das  Jahr  1613  an.  Den  Text  siehe  Treaties  Turkey  S.  234.  Siehe 
auch  Miltitz  Bd.  II,  2  S.  949. 


—     63     — 

seitigen  Zugeständnisse  sollten  die  Holländer  äiinliche 
Rechte  erhalten,  wie  sie  Frankreich  bereits  in  seinen 
früheren  Kapitulationen  erhalten  hatte.  Neben  der  Frei- 
heit des  Verkehrs  werden  auch  ihnen  verschiedene  Fr- 
leichterungen  bezüglich  der  Ausfuhr  gewährt.  (Art.  3, 
4  und  9.)  Auch  sie  brauchen  von  gemünztem  Qelde  keine 
Abgabe  zu  leisten  (Art.  5),  der  Zoll  beträgt  von  Anfang^ 
an  nicht  mehr  als  3  vom  Hundert  und  es  soll  kein  Zwang^ 
hinsichtlich  der  Verfügungsfrciheit  über  ihre  Güter  aus- 
geübt werden.  (Art.  17,  42,  44,  27.)  Sie  werden  gleich- 
falls von  der  Kopfsteuer  (ühizet  Charadsch)  befreit,  d.  h. 
sie  hatten  wie  die  anderen  privilegierten  Nationen  ausser 
den  niedrigen  Zöllen  keine  wie  immer  geartete  Steuer 
zu  bezahlen  (Art.  24).  Der  folgende  Artikel  enthält  die 
Bestimmung,  die  uns  noch  in  der  französischen  Kapitu- 
lation von  1740  begegnete,  dass  auf  Schiffen  mit  hollän- 
discher Flagge  kein  feindliches  Gut  beschlagnahmt  wer- 
den kann.  Auch  dürfen  die  Unternehmer  dieser  eigent- 
lich mit  Konterbande  beladenen  Schiffe  nicht  in  die  Ge- 
fangenschaft abgeführt  werden  (Art.  7).  Wird  ein  Korsar- 
schiff von  den  Türken  erbeutet,  so  werden  zwar  die  an- 
deren Seeräuber  bestraft  (Art.  21),  die  aber  auf  dem 
gleichen  Schiffe  befindlichen  Niederländer  müssen  unan- 
getastet bleiben  (also  eine  ganz  ähnliche  Bestimmung 
wie   in   der  französischen    Kapitulation   von    1740). 

Ebenso  wie  die  Franzosen  sollen  auch  die  Nieder- 
länder im  Falle  eines  Schiffbruchs  jegliche  Unterstützung 
erhalten  (Art.  28),  und  eine  Durchsuchung  ihrer  Schiffe 
darf  ebenso  wie  bei  den  Franzosen  nur  am  Ausgange 
aus  den  Dardanellen  vorgenommen  werden  (Art.  42). 
Aehnlich  wie  den  Franzosen  in  der  Kapitulation  von 
1673  wurde  den  Holländern  im  16.  Artikel  gestattet, 
sich  selbst  den  Wein  zu  bereiten,  obgleich  die  Türken 
hiebe!  einen  gewinnbringenden  Schleichhandel  in  An- 
betracht des  Koranverbotes  befürchten  mussten.  An- 
dererseits wollten  jedoch  die  Türken  Andersgläubige 
nicht  unter  ihrer  Sitte  leiden  lassen  und  so  war  diese 
Erlaubnis  vom  Gesichtspunkte  des  Entgegenkommens 
aus   von   grosser   Bedeutung. 

Im  übrigen  sehen  wir  in  diesei  Kapitulation  fast  die 
gleichen  Anordnungen  wie  in  den  türkisch-französischen 
Abkommen.  Gegen  die  Verleumdungen,  die  sich  haupt- 
sächlich, wie  schon  früher  erwähnt  wurde,  wegen  reli- 
giöser Dinge  erhoben,  richtete  sicfi  Art.  32,  der  bestimm- 
te,  dass   wegen   solcher   Anschuldigungen   kein   Nieder- 


—     54     — 

länder  verklagt  werden  dürfe.  Ferner  wird  kein  Türke 
mit  einer  Klaije  gegen  einen  Niederländer  vorgelassen,  es 
sei  denn,  dass  er  eine  genau  bestätigte  Beweisurkundc 
von  der  Hand  des  Beklagten  oder  einer  sonstigen  amt- 
lichen Person  besit/e.  (Art.  31.)  Bemerkenswert  ist  auch 
die  Bestimmung,  dass  bei  Pro/essen  gegen  Niederländer 
ohne  Anwesenheit  des  niederländischen  Dragoman  nicht 
verhandelt  werden  dart.  („Si  quelqu'un  avait  un  pro- 
ces  avec  un  Neerlandais  et  se  presentait  au  cadi,  celui-ci 
n'ecoutera  pas  la  plainte,  si  le  dragoman  du  Neerlandais 
n'y  est  pas  present.")  Aber  auch  hier  wird  wie  in  der 
französischen  Kapitulation  die  Bestimmung  hinzugefügt, 
dass  die  Holländer  diese  Anordnung  nicht  böswillig 
durch  das  Ausbleiben  des  Dragomans  ausnützen  dür- 
fen. (Art.  28.)  Prozesse  zwischen  Holländern  selbst  wer- 
den selbstverständlich  nur  von  deren  eigenen  Vertre- 
tungsbehörden  entschieden.    (Art.   11.) 

Um  einen  Uebertritt  von  Niederländern  zum  Mo- 
hammedanismus oder  zur  türkischen  Staatsangehörig- 
keit zu  verhindern,  Hessen  sich  die  Holländer  besonders 
weitgehende  Rechte  einräumen.  So  bestimmt  der  30. 
Artikel,  dass  der  Gesandte  das  Recht  haben  solle,  in  einem 
solchen  Fall  den  Uebergetretenen  alle  Waren  wegzu- 
nehmen, die  das  Eigentum  christlicher  Kaufleute  sind; 
jedenfalls  aber  bedarf  es  zur  Gültigkeit  des  Uebertritts 
der  Anwesenheit  des  niederländischen  Dragomans,  so- 
dass der  Gesandte  von  jedem  derartigen  Vorfall  sogleich 
unterrichtet  wurde.   (Art.   31.) 

Bezüglich  der  Religion  bestimmte  noch  Art.  54,  dass 
auch  Holländer  ungehindert  nach  dem  heiligen  Grabe 
ziehen  dürfen,  obgleich  dies  bisher  nur  katholischen 
Nationen   gestattet   worden    war. 

Hinsichtlich  der  konsularischen  Einrichtungen  sehen 
wir  die  gleichen  Zugeständnisse  wie  in  den  späteren 
französischen  Kapitulationen.  Art.  36  sichert  der  nie- 
derländischen Regierung  ein  freies  Ernennungsrecht  zu, 
und  die  Art.  24  und  34  gewähren  den  Konsuln  das  Recht 
der  Exterritorialität  und  die  Befugnis,  sich  Dragomane 
und  Janitscharen  zu  halten,  die  die  gleichen  Steuerver- 
günstigungen genossen  wie  die  Holländer  selbst. 

Nachdem  am  20.  Februar  1634  eine  Bestätigung  der 
holländischen  Rechte  stattgefunden  hatte,  i)  erreichte 
Holland  wenige  Jahre  nach  England  am   15.  September 

1)  Siehe  Nor.  Bd.  I.  S.  46. 


1680  eine   neue   Kapitulation,   die  im   Wesentlichen   eine 
Wiederholung  der  Kapitulation  vom  6.  Juli  1612  ist.  i) 

Ihrer    äusseren    Gestalt    nach    ist    auch    sie    in    der 
Form    eines    einseitigen    Gnadenbriefes    gehalten. 

Bezüglich  der  Ausnahmestellung  der  Konsuln  be- 
stimmt ihr  Art.  6,  dass  die  Beurteilung  aller  Prozesse,  an 
denen  ein  Konsul  interessiert  ist,  dem  kaiserlichen  üi- 
van  übertragen  sein  soll.  (Vgl.  Kapitel  25  der  Kapitula- 
tion von  1604,  Art.  16  der  Kapitulation  von  1740  und 
Art.  25  der  englischen  Kapitulation  von  1675.)  Ferner 
wird  den  Konsuln  auch  hinsichtlich  ihrer  Person  und 
Wohnung  vollste  Unverletzlichkeit  zugesichert,  eine  Be- 
stimmung, die  wir  in  fast  allen  Kapitulationen  vorfinden 
können  („ces  consuls  ne  seront  pas  emprisonnes  ni 
leurs  maisons  scellees").  -)  Wie  den  anderen  Konsuln 
wird  auch  ihnen  neuerdings  das  Recht  gewährt,  sich 
Janitscharen  und  Dragomane  nach  ihrem  Belieben  zu  hal- 
ten und  in  ihrer  Wohnung  für  sich  und  ihre  Hausgenos- 
sen selbst  den  Wehn  bereiten  zu  dürfen.  (Art.  10  und 
11.)  Ebenso  wie  die  in  französischen  Diensten  stehenden 
Dragomane  sind  auch  die  der  holländischen  Konsuln  vom 
Kharadsch,  von  der  Abgabe  des  Cassabiye  und  von  allen 
übrigen  Taxen  befreit.  (Art.  33.)  Die  für  den  persön- 
lichen Gebrauch  der  holländischen  Diplomaten  bestimm- 
ten Gegenstände  sollen  von  jedem  Zoll  ausgenommen 
sein.  (Art.  54.)  Ferner  steht  den  Holländern  das  Recht 
zu,  das  Personal  der  einzelnen  Konsulate  in  Kairo,  Ale- 
xandrien,  Alep,  Tripolis  (Syrien),  Said,  Tunis  usw.  be- 
liebig zu  verändern  und  niemand  soll  sie  daran  hindern 
können.  (Art.  34.)  Bezüglich  der  religiösen  Verhältnisse 
wurde  den  Holländern  neuerdings  Schutz  beim  Besuche 
der  heiligen  Stätten  zugesagt  (Art.  52),  und  bestimmt, 
dass  man  einem  Holländer  nur  dann  den  Uebertritt  zum 
Islam  vorwerfen  könne,  wenn  dieser  in  Gegenwart  des 
Dragoman  von  dem  Holländer  bestätigt  wird;  „Si  con- 
trairement  ä  la  ioi  Sainte,  quelqu'un  molestait  un  Neer 
landais"  unter  dem  Vorwande,  dass  er  den  Islam  an- 
genommen hätte  und  dies  nur  tut,  um  schliesslich  aus  ihm 
Geld  zu  erpressen,  so  soll  dieser  Anklage  kein  Gehör 
geschenkt  werden.     Es  ist  nämlich  nötig,  dass  der  Hol- 

1)  Der  Text  befindet  sich  bei  Nor.  Bd.  1.  S.  169  ff.  und  Trea- 
ties  Turkey  S.  347. 

2)  Interessant  ist  der  Schlussatz  des  Art.  6,  der  bestimmt,  dass 
„si  Ton  produisait  des  fermans  anterieurs  ou  posterieurs  qui  fus- 
sent  contraires  aux  articles  ci-dessus,  on  n'y  ferra  pas  attention, 
et  l'on  agira  conformement  ä  Ma  capitulation  imperiale. 


—     56     — 

läiidcr  für  einen  derartigen  Fall  in  Gegenwart  seines 
Dragomans  und  nach  vollständig  freiem  Willen  erklärt, 
dass  er  den  Islam  angenoiiimen  habe;  man  soll  daher 
die  Ankunft  des  I3ragomans  abwarten  und  ihn  nicht 
früher  belästigen,  bevor  jener  gekommen  sei."  (Art.  49.) 
Wie  v.ir  aus  dem  Wortlaute  dieses  Artikels  ersehen  kön- 
nen, wurde  diese  Beschuldigung  häufig  zu  Erpressungen 
ausgenützt,  ähnlich  wie  die  Verleumdungen,  die  wegen 
angeblicher  Lästerung  des  Mohammedanismus  vorge- 
bracht wurden,  und  die  auch  die  Franzosen  in  ihren  Kapi- 
tulationen wesenlos  zu  machen  suchten.  Die  Holländer 
erreichten  durch  Aufhebung  der  Kopfsteuer  wieder  die 
Steuerfreiheit  und  liessen  sich  ferner  die  Zusicherung 
geben,  dass  Holländer,  die  sich  als  Sklaven  im  ottoma- 
nischen Staatsgebiete  aufhalten,  sofort  ohne  weiteres 
Lösegeld  freizugeben  seien.    (Art.  23  und   20.) 

Besonders  weitgehende  Zugeständnisse  Hessen  sich 
die  Holländer,  wie  dies  ihrem  Charakter  als  ausgespro- 
chener Handelsstaat  entspracii,  auf  dem  Gebiete  de;3 
Handels  und  Verkehrs  geben.  Bemerkenswert  ist  zu- 
nächst die  in  den  meisten  türkischen  Kapitulationer, 
vorkommende  Bestimmung,  dass  der  Zoll  nur  dort  bezahlt 
werden  soll,  wo  die  Waren  verkauft  werden  sollen' 
(Art.  14:, .Sie  bezahlen  keinen  Zoll  als  für  die  Waren, 
die  zum  Verkauf  an  das  Land  gebracht  werden,  und  man 
soll  keine  Abgabe  verlangen  weder  in  Konstantinop^^l 
noch  in  irgend  einer  Levantestadt,  von  denjenigen  Wa- 
ren, die  sie  nicht  ausgeladen  haben  und  die  sie  an  Bord 
bewachen,  indem  sie  sagen :  Wir  werden  sie  in  eine 
andere  Hafenstadt  bringen.  Niemand  soll  sich  dem  wi- 
dersetzen, dass  sie  diese  Waren  in  eine  andere  Hafen- 
stadt bringen.")  Eine  ähnliche  Bestimmung  sahen  wir 
auch  in  der  französischen   Kapitulation  von  1740  Art.  Q. 

Im  übrigen  werden  die  Bestimmungen  des  früheren 
Uebereinkommens  von  1612  wiederholt  bezüglich  der 
Höhe  des  Zolles,  bei  dessen  Erhebung  keine  Uebertaxie- 
rung  der  Waren  stattfinden  darf  (Art.  12),  des  Ausfuhr- 
verbots bestimmter  Waren,  des  Verbots  jeglichen  Zwan- 
ges auf  die  Absichten  niederländischer  Kaufleute,  und 
der  Erlaubnis,  ihr  eigenes  niederländisches  Geld  be- 
nützen zu  dürfen,  ohne  einen  Wechselzwang  befürchte:! 
zu  müssen.    (Vgl.  Art.  12,  46,  56,  3,  59,  35  und  1.) 

Bezüglich  des  Piratenwesens  und  der  Hilfeleistung 
für  in  Seenot  befindliche  holländische  Schiffe  sind  im 
Wesentlichen  nur  die  alten  Bestimmungen  erneuert  wor- 
den, die  wir  bereits  in  den  verschiedenen  Kapitulationen 


-     57     — 

aligeführt  sahen.  Auch  den  Niederländer  gewährt  die 
Bestimmung  des  56.  Artikels  volle  Freiheit  des  Verkehrs 
mit  Russland,  wie  dies  bereits  Frankreich  zugestanden 
worden  war.    (Vgl.  Art.  59  der  Kapitulation  von   1740.) 

Was  die  Verwaltung  des  Nachlasses  eines  verstorbe- 
nen Holländers  betrifft,  bestimmt  Art.  7,  dass  der  tür- 
kische Staat,  sich  in  keiner  Weise  einzumischen  habe 
und  wenn  der  Niederländer  ohne  Hinterlassung  eines 
Testaments  stirbt,  so  obliegt  seinem  Konsul  die  Sorge  für 
seinen  Nachlass.  (Also  die  gleichen  Bestimmungen  wie 
in  den  meisten  Kapitulationen  mit  den  anderen  Staa- 
ten.) 1) 

Sehr  weitgehend  ist  die  Bestimmung  über  die  Trag- 
weite der  konsularischen  Gerichtsbarkeit.  Besagt  doch 
der  Art.  5,  dass  alle  Prozesse  und  Streitigkeiten,  ja  ,, selbst 
die  Prozesse  über  einen  Mord,  den  niederländische  Un- 
tertanen verübt  hätten,  durch  die  Gesandten  oder  Kon- 
suln gemäss  deren  Gesetzen  und  Gewohnheiten  abge- 
urteilt und  entschieden  werden  sollten,  ohne  dass  irgend 
einer  unserer  Kadi  octer  anderen  Offiziere  sich  einzu- 
mischen hätte'*.  (Vgl.  Art.  15  der  französischen  Kapitu- 
lation von   1740.) 

Ebenso  wie  in  der  Kapitulation  von  1612  Art.  31 
wird  auch  hier  neuerdings  von  einem  türkischen  Kläger 
verlangt,  dass  er  gültige  Beweisurkunden  vorlegen  könne, 
von  Niederländern  aber,  dass  sie  die  erforderliche  An- 
kunft ihres  Dragomans  nicht  unnötig  verzögern.  (Siehe 
Art.  30  und  36.) 

Um  dieser  ganzen  Verordnung  grösseren  Nachdruck 
zu  verleihen,  drohte  der  Sultan  zum  Schlüsse  allen  Ueber- 
tretern  derselben  strengste  Bestrafung  an  und  bestimm- 
te, dass  in  Hinkunft  durch  einen  energischen  Wortlaut 
der  „Firmans**  noch  mehr  zum  Schutze  der  Nieder- 
länder getan  werden  solle.     (Art.  8.) 

Erst  nach  Abschluss  dieser  Kapitulation  fühlte  sich 
Holland  sicherer  und  verzichtete  auf  jede  „weitere  Be- 
schützung**, die  ihm  England  und  Frankreich  in  edlem 
Wettstreit  angedeihen  lassen  wollten.  Ja  die  niederlän- 
dische Regierung  ging  späterhin  sogar  so  weit,  ihren 
Untertanen  jede  Benützung  einer  fremden  Flagge  auf 
das  Strengste  zu  untersagen,  da  sie  sich  nur  unter  den 
Schutz  ihrer  eigenen  Vertretungsbehörden  zu  begeben 
hätten.      (Der    Befehl    stammt   aus    dem    Jahre    1741.)  2) 


1)  Siehe  besonders  Art.  29  dieser  Kapitulation. 

2)  Vgl.  Miltitz  Bd  H,  3  S.  941.  Groot  Placaetbook  T.  VlI,  S.  527. 


—     58     — 

Aelmlichen  Inhalt  wie  die  Kapitulationen  mit  der  Türkei 
hatten  auch  die  Kapitulationen  Hollands  mit  Algier, 
Tunis   und   Tripolis,  i) 

Die  Kapitulationen  mit  Oesterreich. 

Wenn  wir  die  ganze  Entwicklung  des  Kapitulations- 
wesens in  der  Türkei  aufmerksam  verfolgen,  so  sehen 
wir,  dass  nach  jeder  Befriedigung  der  Wünsche  des  einen 
Staates  sogleich  Forderungen  eines  anderen  Staates  her- 
vortreten. Kaum  hatte  Holland  im  Jahre  1612  seitie 
erste  Kapitulation  erwirkt,  so  zögerte  Oesterreich  nicht, 
mit  allen  Mitteln  eine  ähnliche  Vergünstigung  zu  erlangen, 
umsomehr  als  sein  bisher  einziger  Vertreter,  der  öster- 
reichische Gesandte,  wegen  der  feindseligen  Gesinnung 
der  Türken  gegen  Oersterreich  den  grössten  Anfein- 
dungen   und    Verfolgungen    ausgesetzt    war.  ••) 

Von  einer  nur  auf  reine  „Kapitulationsforderungen" 
gerichteten  Unterhandlung  musste  Oesterreich  eben  we- 
gen der  feindseligen  Gesinnung,  die  durch  viele  kriege- 
rische Verwicklungen  entstanden  war,  zunächst  Abstand 
nehmen;  da  jedoch  andererseits  d'e  Wahrung  seiner  In- 
teressen ein  rasches  Handeln  erforderte,  blieb  kein  an- 
derer Weg,  als  einen  etwa  zustandekommenden  Frie- 
densvertrag zugleich  zur  Erreichung  wünschenswerter 
Nebenziele  zu  benutzen.  Die  G'elegenheit  bot  sich  hie- 
zu  bei  Abschluss  des  Friedensvertrages  vom  1.  Juli 
1615  zwischen  Kaiser  Matthias  von  Oesterreich  und  Sul- 
tan Achmed  1,3)  Es  ist  das  erste  Mal,  dass  Friedens- 
verträge in  dieser  Weise  erw'eitert  wurden,  wenn  man 
nicht  auf  die  verschiedenen  Friedensverträge  Venedigs 
und  der  Türkei  zurückkommen  will.  (Vgl.  Inhalt.)  Ob- 
gleich dieser  Vertrag  bereits  am  1,  Juli  1615  abgeschlossen 
wurde,    erfolgte    seine    endgültige    Ratifizierung   erst   a:n 

I,  Mai  1616,  nachdem  noch  einige  kleine  Aenderungen 
vorgenommen   worden   waren.     Vorher  war  bereits   am 

II,  November    1606   der   Vertrag  von   Sitvatorok'^)   mit 

1)  Martens  S.  229  Anm.  2.  Nach  verschiedenen  weiteren  Er- 
neuerungen u.  a.  vom  Jahre  1712  wurde  mit  den  Niederlanden  am 
25.  Febr.  1862  ein  neuer  Vertrag  geschlossen,  der  ihr  im  1.  art. 
auch  die  Meistbegünstigungsklausel  gewährte.  S.  Nor,  Bd.  3  (1902) 
S.  180. 

2)  Zinkeisen  Bd.  3,  S.  848. 

3)  Den  Te.xt  siehe  Nor.  Bd.  1.  113  H. 

4)  Den  Text  siehe  Nor.  Bd.  1.  S.  103  ff.  Eine  erläuternde 
Abmachung  zum  Frieden  von  Sitvatorok  erfolgte  zu  Neuhäusl  am 
28.  März  1608,  und  ferner  am  19.  Juni  1608. 


—     59     — 

Rudolph  11.  abgeschlossen  worden,  von  dem  Hammer 
sagt,  er  „leuchtet  im  Beginne  des  17.  Jahrhunderts  für 
Europa  und  die  Christenheit  als  Signalfakel  gebrochenem 
türkischen  Joches  und  des  anhebenden  Sinkens  osnia- 
nischer  Grösse'*,  i)  Der  Vertrag  von  1606  wurde  auch 
für  die  Dauer  von  20  Jahren  abgeschlossen  (Art.  12) 
und  umfasste  im  Ganzen  17  Artikel.  Besonders  bemer- 
kenswert war  die  Aufhebung  des  bisherigen  Tributs 
gegen  eine  einmalige  Zahlung.  Der  Friede  von  Wien 
aus  dem  Jahre  1615  sollte  nun  eine  Erneuerung  und 
wesentliche    Erweiterung   dieses    Vertrages   bieten. 

In  diesem  Vertrage,  der  in  lateinischer  Sprache  ab- 
geschlossen wurde,  finden  wir  die  ersten,  Bestimmungen 
über  österreichische  Konsulareinrichtungen  und  Handels- 
vorrechte, obwohl  uns  nicht  gesagt  wird,  w^ann  zum 
ersten  Mal  österreichische  Konsuln  für  türkische  Gebiete 
ernannt  wurden.  -)  Im  Art.  2  dieses  Friedensvertrages 
wird  zwar  eine  Kapitulation  vom  9.  Dezember  1606  er- 
wähnt, aber  deren  Text  ist  leider  nicht  mehr  vorhanden. 
In  diesem  Vertrage  von  1615  gelang  es  Oesterreich,  eine 
Regelung  der  religiösen  Freiheit  im  Art.  7,  der  Handels- 
vorrechte im  Art.  9  und  der  persönlichen  Freiheit,  der 
durch  Schutzbriefe  gesicherten  Oesterreicher  zu  errei- 
chen. (Siehe  Art.  10.)  Auch  in  diesen  Abmachungen 
finden  wir  das  Verbot  der  Einmischung  in  die  Hinter- 
lassenschaft eines  verstorbenen  österreichischen  Unter- 
tanen und  der  Ausübung  von  Zollrepressalien. 

Bedeutend  ausführlicher  als  in  diesem  Friedensver- 
trage, in  dessen  Inhalt  all  diese  Fragen  doch  eigentlich 
nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielen  konnten,  wurden 
die  Interessen  der  österreichischen  Untertanen  in  der 
Türkei  durch  einen  Firman  des  Sultans  vom  15.  Juni 
1617  geregelt  3)  Nach  Martens  ist  diese  Urkunde  „ihrer 
Form  nach  nicht  so  sehr  ein  Vertrag  zwischen  Oester-^ 
reich  und  der  Türkei,  als  ein  Gnadenbrief,  eine  Kon- 
zession (ad  name),  durch  welche  der  Padischah  den 
österreichischen  Untertanen  und  Konsuln  bestimmte 
Rechte  verlieh".  *)  Interessant  ist  die  im  1.  Artikel 
dieses  Privilegs  vorkommende  Bestimmung,  dass  Oester- 
reich in  Konstantinopel  einen  Generalkonsul  unterhal- 
ten   könne,    der   dann    allen   übrigen    Konsuln   im   otto-' 

1)  Siehe  Hammer  Bd.  2,  2.  Ausg.  S.  703. 

2)  Vgl.  Martens  S.  230. 

3)  Siehe   Nor.  ßd.  I.    S.  42,    den   Text   bei   Miltitz    Bd.  II,   2 
S.  1413-1421. 

4)  Siehe  Martens  S.  230. 


—     60     — 

manischen  Reiche  übergeordnet  sein  solle.  Dies  ist 
eine  Bestimmung,  die  in  dieser  Art  zum  ersten  Mal 
erlassen  wurde,  und  Testa  sagt  daher  auch,  dass  das 
Vorrecht  umso  bemerkenswerter  sei,  als  andere  Staa- 
ten es  erst  nach  mühevollen  Versuchen  erlangen  konn- 
ten. 1)  Im  Uebrigen  wurden  Oesterreich  die  gleichen 
Rechte  gewährt,  wie  wir  sie  bereits  bei  den  Kapitu- 
lationen anderer  Staaten  erwähnt  haben.  Bemerkenswert 
insbesondere  ist  die  Bestimmung  des  3.  Artikels,  der 
nur  den  unter  der  Flagge  des  römischen  Kaisers  an- 
kommenden Kaufleuten  den  Zutritt  in  die  Stadt  ge- 
stattete.   (Vgl.  Art,  10  des  Friedensvertrages  von  1615.) 

Die  friedlichen  Beziehungen  zwischen  der  Pforte 
und  Oesterreich  sollten  jedoch  nicht  von  langer  Dauer 
sein.  Als  einige  Jahrzehnte  •^^päter  sich  Ungarn  gegen 
das  angestammte  Fürstenhaus  auflehnte,  hatte  die  Türkei 
nichts  Eiligeres  zu  tun,  als  gegen  Deutschland,  Polen 
und  später  auch  Venedig  ins  Feld  zu  ziehen. 

Als  auch  dieser  Krieg  zu  Ungunsten  der  Türke' 
endete,  musste  sie  sich  wohl  oder  übel  zum  Karlowitzer 
Friedensvertrage  vom  26.  Januar  1699  herbeilassen,  an 
welchem  Orte  fast  zu  gleicher  Zeit  auch  mit  der  Republik 
Venedig  und  Polen  Frieden  geschlossen  wurde.  -)  Der 
Friedensvertrag  zwischen  Oesterreich  und  der  Türkei, 
der  dem  türkischen  Ansehen  in  Europa  einen  neuerlichen 
schweren  Stoss  versetzen  musste,  regelt  neben  verschie- 
denen poitislchen  Zugeständnissen  auch  die  bisherigen 
Handels-  und  Verkehrsbestimmungen,  die  in  verschie- 
dener Hinsicht  einer  Erneuerung  und  Ergänzung  unter- 
zogen wurden.  In  seinem  13.  Artikel  regelt  er  zunächst 
die  religiösen  Fragen  und  bestimmt,  dass  die  öster- 
reichischen Untertanen,  als  Katholiken  gemäss  den  frühe« 
ren  Bestimmungen  alle  Privilegien  geniessen  sollten. 
Von  Interesse  für  den  türkischen  Grundsatz,  dass  mit 
Andersgläubigen  kein  dauernder  Friede  sein  solle,  ist 
der  20.  Artikel,  der  bestimmt:  „Duret  armistitium  hocce 
et  extendatur  favente  Deo,  ad  25  annos  continuo  sequen- 
tes  a  die,  qua  eiusdem  subscriptio  facta  fuerit,  quo  an- 
norum  numero  elapso,  vel  etiam  medio  tempore  prius- 
quam  elabatur,  liberum  esto  utrique  partium,  si  ita 
placuerit,  pacem  hanc  ad  plurem  adhuc  annos  proro- 
gare." 

1)  Siehe  Testa  Bd.  IX.  S.  37. 

2)  Den  Text  siehe  Noradounghian  Bd.  1.  S.  182  ff.  mit  Venedig 
wurde  der  Frieden  gleichfalls  am  26.  Januar  mit  Polen  jedoch  bereits 
am  16.  Januar  1699  geschlossen.  (Siehe  Treatis  Turkey  S.  727  und  393. 


—    61    — 

Im  Uebrigen  stützt  sich  dieser  Vertrag  in  seinen 
kapitulationsmässigen  Anordnungen  hauptsächlich  auf 
frühere  Bestimmungen  und  ähnlich,  wie  nach  dem  Frie- 
densvertrage vom  Jahre  1615  folgte  auch  jetzt  ein  kai- 
serlicher Firman  vom  26.  Juli  1700,  i)  der  begleitet  von 
verschiedenen  Konventionen,  vor  allem  die  Handelsbe- 
ziehungen der  beiden  Staaten  regelte,  r^ich  aber  nach 
Hammer  weniger  auf  den  kaiserlichen  Firman  vom  Jahre 
1617,  als  auf  den  Wiener  Frieden  von  1615  stützte. 
Interessant  ist  hier  insbesondeie  das  Zugeständnis  eines 
deutschen  Protektorats  über  die  Geistlichkeit  im  otto- 
manischen  Staatsgebiete.  -) 

Nachdem  Venedig  sich,  wie  bereits  erwähnt,  zu  glei- 
cher Zeit  seine  Rechte  hatte  erneuern  lassen,  kam  es 
mit  Oesterreich  erst  aus  Anlass  des  Passaro  witzer  Frie- 
.dens  vom  21.  Juli  1718  3)  am  27.  Juli  1718  zum  Abschluss 
eines  neuen  Handels-  und  Schiffahrtsvertrages,  der 
gleichfalls   zu    Passarowitz   unterzeichnet   wurde.  '*) 

Pellissie  du  Rausas  bezeichnet  diesen  Vertrag  über- 
haupt erst  als  „den  ersten  Handelsvertrag",  der  zwischen 
der  Pforte  und  Oesterreich  abgeschlossen  wurde.  Wenn 
du  Rausas  dies  von  dem  Standpunkt  aus  behauptet,  dass 
dies  die  erste  Kapitulation  (in  dem  gebräuchlichsten 
Sinne  dieses  Wortes)  zwischen  Oesterreich  und  der 
Türkei  war,  so  hat  er  zweifellos  recht.  Denn  wenn  auch 
der  Friedensvertrag  selbst  schon  einige  Bestimmungen 
in  seinen  Art.  11  (Religion)  und  13  enthält,  so  finden 
wir  doch  eine  genaue  Regelung  aller  in  Betracht  kom- 
menden Fragen  erst  im  Handelsübereinkommen  vom 
27.  JuU  1718. 

Dieser  Handelsvertrag  enthält  wie  der  Friedensver- 
trag 20  Artikel,  in  welchen  wir  die  gleichen  Gedanken- 
gänge verwirklicht  sehen,  wie  in  den  französischen,  hol- 
ländischen und  anderen  Kapitulationen.  Art.  1  sichert 
Oesterreich  vollkommene  Freiheit  des  Handels  und  der 
Schiffahrt  zu,  d.  h.  alle  Häfen  und  Städte  des  osmanischen 
Reiches  sollen  ihnen  offen  stehen  und  bestimmt  nebst 
dem  Art.  3,  dass  kein  höherer  Zoll  als  3  o/o  erhoben  .wer- 


1)  Diese  Konvention,  die  zu  Wien  abgeschlossen  wurde,  hatte 
zum  hauptsächlichsten  Gegenstand  die  Ausdehnung  des  über  die 
Sklavenirage  handelnden  Art.  12  des  Karlowitzer  Vertrages  aui 
alle  Sklaven.    Siehe  übrigens  Nor.  Bd.  1.  S.  57  und  58. 

2)  Siehe  Hammer,  Geschichte  des  osman.  Reiches  u.  vgl.  D61. 
S.  100. 

3)  Siehe  Noradounghian  Bd.  1.  S.  208—220. 

4)  Siehe  Noradounghian  Bd.  1.  S.  220—227. 


—     62     — 

den  darf,  i)  Interessant  ist  die  Bestimmung  des  2.  Ar- 
tikels, der  in  einer  bisher  durchaus  nicht  übhchen  Weise 
die  Bewegungsfreiheit  der  österreichischen  Schiffahrt  im 
Gebiete  des  Schwarzen  Meeres  einschränkt.  Es  wird  den 
kaiserhchen  Schiffen  überhaupt  jegUcher  Eintritt  in  das 
Gebiet  des  Schwarzen  Meeres  untersagt.  („Die  kaiser- 
hchen Schiffe  auf  der  Donau  dürfen  nicht  in  das  Schwarze 
Meer  einfahren.")^)  HinsichtHch  der  Freiheit  der 
Schiffahrt  kommen  noch  in  Betracht  die  Art.  7  bis 
12,  von  welchen  der  7.  Artikel  gleichsam  eine  Wieder- 
holung des  17.  Artikels  der  Kapitulation  von  1604  ist. 
Er  enthält  wieder  ein  Verbot  an  die  Lokalbehörden,  die 
Schiffskapitäne  nicht  zum  Ausladen  ihrer  Waren  zu 
nötigen.  Bezüglich  einer  Erleichterung  des  österreichi- 
schen Handels  bestimmt  Art.  10,  dass  die  unter  öster- 
reichischer Flagge  fahrenden  Schiffe  von  den  Kosaren 
nicht  beunruhigt  oder  gequält  werden  dürfen,  und  dass 
sie  nicht  für  den  Transport  im  Dienste  der  ottomanischen 
Regierung,  der  Truppen  oder  zu  irgend  einer  anderen 
Verwendung  herangezogen  werden  können.  Ferner  sol- 
len sie  in  der  Erlegung  der  Zölle  vollkommen  den  Fran- 
zosen, Engländern  und  Holländern  gleichgestellt  werden. 
(Art.  11,  Q  und  10.)  Art.  9  regelt  wieder  die  Hilfeleistung 
für  in  Seenot  geratene  Schiffe.  Nachdem  Art.  13  noch  die 
Cüurtoisie  en  mer  regelt,  gewährt  Art,  IQ  Oestcrreich 
gewisse  Handelserleichterungen  für  den  Verkehr  mit 
Persien,  ähnlich  wie  sie  andere  Staaten  bezüglich  Russ- 
lands erhielten.  Auch  für  österreichische  Untertanen 
ist  ein  Inlandspass  erforderlich  und  sollen  die  im  Besitze 
eines  solchen  Befindlichen  ungehindert  reisen  dürfen. 
Bezüglich  des  Handelsverkehrs  ist  noch  nachzutragen, 
dass  in  dieser  Kapitulation  zum  ersten  Mal  die  Errichtung 
von  Lagerräumen   (nomme  vulgairement  khan)   erwähnt 


1)  Die  für  uns  in  Betracht  kommende  interessante  Bestimmung 
lautet:  „Die  österreichischen  Kaufleute,  die  einmal  in  Konstanti- 
nopel verzollt  haben  und  zwar  die  Waren,  welche  sie  in  dieser 
Hauptstadt  gekauft  haben  und  die  sie  auf  ihre  Schiffe  geladen 
haben  sollen  sich  zu  befreien  haben  durch  die  Zollbillette  bei 
den  der  Donau  Vorgesetzten.  Die  Ausstellung  dieser  Zollbillette 
dient  bei  den  den  Dardanellenduichgang  vorgesetzten  Beamten 
als  gültiges  Schriftstück  und  diese  haben  nicht  mehr  das  Recht 
eine  Durchsuchung  solcher  Schiffe  zu  fordern." 

2)  Diese  Bestimmung  entsprang  weniger  einer  böswilligen  Be- 
hinderung des  österreichischen  Handels,  als  der  Befürchtung,  es 
könnten  verkappte  Kriegsschiffe  in  das  Schwarze  Meer  eindringen 
(Vgl.  Kausas  I.  S.  143).  Diese  Einschränkung  ist  übrigens  in  der 
späteren  Kapitulation  von  1784  weggefallen. 


—     63     - 

wird,  die  zur  Aufnahme  österreichischer  Waren  dienen 
sollen.    (Siehe   Art.    15.) 

Bei  der  Ausübung  ihres  Glaubens  sollen  die  Oester- 
reicher  ebenso  wie  die  anderen  Nationen  vollste  Freiheit 
geniessen.  Für  den  Fall,  dass  einer  von  ihnen  zum 
Islam  übertritt,  sollte  dieser  -A.kt  nur  dann  gültig  sein, 
wenn  er  in  Gegenwart  des  österreichischen  Dragomans 
vollzogen  worden  war.  (Siehe  Art  16:  „Sobald  ein  Kauf- 
mann, ein  Konsul,  ein  Vizekonsul  oder  irgend  ein  an^ 
derer  Untertan  Seiner  Majestät  nicht  mit  freiem  Willen 
den  Islam  annimmt,  soll  er  in  dieser  Hinsicht  nicht  be- 
lästigt werden  wegen  der  einfachen  Zeugenaussage  ein» 
ger  Uebelwollender,  die  sein  Bekenntnis  des  Glaubens 
bezeugen,  und  er  kann  nicht  um  dieses  Gegenstandes 
willen  verfolgt  werden,  solange  er  nicht  mit  vollstem 
eigenem  Willen  dieses  Bekentitnis  in  Gegenwart  eines 
kaiserlichen  Dragomans  getan  hat.  Jeder  Untertan  Sei- 
ner Majestät  muss  jedoch  trotzdem  seine  Schulden  be- 
zahlen, die  er  vorher  eingegangen  hatte.*')  Wir  sehen 
also  eine  ganz  ähnliche  Bestimmung  vor  uns,  wie  im 
Art.  49  der  holländischen  Kapitulation  aus  dem  Jahre 
1680.  Bezüglich  der  vorher  notwendigen  Schuldenrege- 
lung vgl.  auch  Art.  68  der  Kapitulation  von  1740.  Wei- 
terhin enthält  Art.  13  noch  eine  Bestimmung  über  Schutz 
und  Sicherheit  der  das  heilige  Grab  besuchenden  Pilger 
oder  Handelsleute,  die  für  diesen  Fall  von  dem  Pass- 
erfordernis befreit  sein  sollen  und  nicht  von  den  Ein- 
nehmern der  Kopfsteuer  oder  anderen  Personea  belästigt 
werden  dürfen. 

Was  die  Regelung  der  Konsularfrage  betrifft,  so  ist 
hier  der  5.  Artikel  der  bei  weitem  wichtigste.  Oester" 
reich  wird  hier  die  Befugnis  zugestanden,  überall  da  Kon- 
suln zu  unterhalten,  wo  sich  bereits  Konsulate  ändert  r 
Mächte  befinden.  Jedoch  soll  der  kaiserliche  Gesandte 
in  Konstantinopel  vorher  durch  ein  Gesuch  bei  der  hohen 
Pforte  um  deren  Zulassung  ersuchen,  sodass  ihnen  das 
Berat  erteilt  werden  kann.  Selbstverständlich  soll  Oester- 
reich  auch  berechtigt  sein,  statt  eines  Konsuls  bloss  einen 
Dolmetscher  an  den  einzelnen  Orten  zu  unterhalten;  soll 
jedoch  die  Einsetzung  eines  Konsuls  an  einem  Orte  er- 
folgen, wo  noch  keine  der  Mächte  eine  konsularische  Ein- 
richtung besitzt,  so  bleibt  die  Bestätigung  der  Einsetzung 
der  türkischen  Regierung  vorbehalten.  Ebenso  wie  die 
anderen  Kapitulationen  bestimmt  auch  diese,  dass  die 
Konsuln,  sowie   deren   Uniergebene  von  allen   Abgab i:n 


—     64    — 

betreit  sein  sollen.  Diese  Bestimmung  beruht  auf  üegen- 
seitigkeil  und  soll  gemäss  Art.  6  auch  auf  die  türkisciien 
Chaiibender  in  Oesterrcich  angewendet  werden.  (Hier 
sehen  wir  zum  ersten  Mal  die  Einrichtung  eines  türki- 
schen Konsulates  in  Ocsterreich  erwähnt.)  Wie  wir 
bereits  in  den  früher  behandelten  Kapitulationen  sahen, 
war  es  das  Bestreben  aller  Mächte,  möglichst  vollständig 
von  der  türkischen  Rechtspflege  loszukommen.  Die- 
selben Beweggründe,  die  wir  bereits  behandelt  haben, 
veranlassten  auch  Oesterreich  eine  derartige  Vergün- 
stigung zu  fordern,  die  ihm  denn  auch  im  5.  Artikel  die- 
ser Kapitulation  gewährt  wurde.  Aehnlich  der  hollän- 
dischen Kapitulation  von  1612  Art.  28,  der  englischen 
von  1675  Art.  15,  24,  54  bestimmt  auch  der  5.  Artikel, 
dass  Prozesse  gegen  Oesterreich  er,  die  vor  ein  einheimi- 
sches Gericht  gehören,  nur  „in  Gegenwart  des  Ge- 
sandten und  der  Konsuln  oder  deren  Substituten"  geführt 
werden  dürfen.  Ferner  wurde  bestimmt,  dass  der  tür- 
kische Gläubiger  verpflichtet  ist,  wenn  er  Bezahlung  ver- 
langen will,  sich  mit  seiner  Klage  an  den  Konsul  des 
Schuldners  zu  wenden,  i)  Prozesse,  die  an  Streitwert 
3000  Asper  übersteigen,  sollen  von  der  hohen  Pforte 
selbst  entschieden  werden.  (Art.  5:  „Wenn  sich  irgend 
ein  Prozess  oder  ein  Streit  zwischen  Konsuln,  Vize- 
konsuln, Dolmetschern  (Dragomanen)  oder  kaiserlichen 
Kaufleuten  ereignen  sollte,  der  die  Summe  von  3000 
Asper  übersteigt,  so  kann  er  vor  keinem  Prov'inzial- 
gericht  entschieden  werden,  sondern  er  muss  dem  Urteil 
der  hohen  Pforte  überwiesen  werden.'*)  Wie  bei  den 
anderen  Nationen,  werden  auch  Prozesse  zwischen 
Oesterreichern  von  deren  Vertretungsbehörden  ohne  jede 
weitere  Einmischung  der  Ortsbehörden  entschieden.  Hie- 
be! soll  sich  die  Vollstreckungsgewalt  der  Konsuln  selbst 
auf  Gefängnisstrafen  erstrecken.  („Die  besagten  Kon- 
suln und  Interpreten  können  sie,  d.  h.  die  Schuldigen, 
in  das  Gefängnis  führen  lassen.**)  Auch  in  dieser  Ka- 
.pitulation  finden  wir  die  für  den  türkischen  Gläubiger 
oft  recht  schädliche  Bestimmung,  dass  Schiffe,  gegen  die 
ein  Prozess  anhängig  ist,  Jiicht  zurückgehalten  werden 
dürfen.  Sehr  modern  für  die  damaligen  Verhältnisse 
erscheint  der  80.   Artikel,   der  bestimmt,   dass   bei   Aus- 


1)  Wenn  irgend  jemandem  irgendeine  Sache  von  einem  kaiser- 
lichen Kaufmann  geschuldet  würde,  so  muss  der  Gläubiger  die 
besagte  Schuld  durch  Vermittlung  des  Konsuls,  des  Vizekonsuls 
oder  des  Dragomans  (interpretes)  von  seinem  Schuldner  oder 
einer  anderen  Person  fordern."  (Den  französischen  Text  s.  Art.  5; 


-       65     — 

bruch  eines  Krieges  „alle  Untertanen  der  beiden  Kaiser- 
reiche, die  sich  auf  dem  Meere,  auf  der  Erde,  oder  auf 
den  Flüssen  befinden,  zur  -echten  Zeit  von  den  Feind- 
seiigi<eiten  in  Kenntnis  zu  setzen  sind,  damit  sie  sich 
nach  Regelung  ihrer  Forderungen  und  Schulden  ohne 
Hindernis  und  Schaden  mit  i'.ircm  Eigentum  nach  ihren 
Gebieten  flüchten  können."  (Vgl.  die  ähnlichen  Bestim- 
mungen des  preussisch-amerikanischen  Freundschaftsver- 
trages.) 

Von  keiner  besonderen  Wichtigkeit,  aber  sehr  cha- 
rakteristisch ist  der  14.  Artikel,  der  bestimmt,  dass  sich 
die  österreichischen  Kaufleute  einen  durch  einen  Berat 
(Schutzbrief)  geschützten  jüdischen  Zensal  nur  dann  ge- 
fallen lassen  müssen,  wenn  sie  ihn  selbst  haben  wollen. 

Dieser  Handelsvertrag  von  Passarowitz  Vvurde  spä- 
terhin noch  des  öfteren  erneuert,  so  im  Jahre  1739,  am 
25.  Mai  1747  und  am  24.  Februar  1784.') 

Das  hauptsächliche  Streben  Oesterreichs  war  immer 
darauf  gerichtet,  eine  den  französischen  Kapitulationen 
möglichst  gleichwertige  Stellung  zu  erlangen.  In  dem 
Belgrader  Vertrag  vom  18.  September  1739  ist  vor  allem 
erwähnenswert  die  Bestimmung  des  9.  Artikels  über  die 
Protektoratsprivilegien  Oesterreichs  über  die  PCatholiken 
im  Orient.  Nach  dem  Wortlaute  dieses  Artikels  zu 
schliessen,  müssen  diese  sehr  weitgehend  gewesen  sein. 
Aber,  fügt  Pellissie  du  Rausas  seiner  Erörterung  über 
diesen  Abschnitt  zugleich  bei,  „wir  können  versichern, 
.  .  .  das  der  neunte  Artikel  des  Vertrages  von  Belgrad 
in  der  Tat  nur  ein  toter  Buchstabe  geblieben  ist.  -)  Im 
übrigen  wurden  die  Handelsbeziehungen  nach  dem 
Muster  des  19.  Artikels  des  Passaro  witzer  Vertrages 
durch  den  12.  Artikel  neuerdings  geregelt.  Darnach  wird 
Oesterreich  wieder  das  Handelsrecht  mit  Persfen  zu- 
gestanden und  bestimmt,  dass  auch  den  persischen  Kauf- 
leuten keine  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt  und  keine 
Abgaben  als  der  5  o/o  ige  Zoll  abgefordert  werden  sollen. 

Hervorzuheben  ist  noch  die  erstmalige  Einfügung 
der  Meistbegünstigungsklausel  für  Oesterreich. 

Der  Vertrag  selbst  wurde  gemäss  Art.  23  für  dij 
Dauer  von  27  Jahren,  gerechnet  vom  Tage  der  Unter- 
zeichnung, abgeschlossen  und  bestimmt,  dass  nach  Ab- 

1)  Den  Vertrag  vom  18.  September  1739  siehe  Nor.  Bd.  I.  S-  243. 
Den  Vertrag  vom  25.  Mai  1747  siehe  Miltitz  Bd.  II,  2  S.  1492. 
Den  Vertrag   vom    24.  Februar  1784  s.  Nor.  Bd.  l.  S.  379.  Senett. 

2)  Siehe  Rausas  Bd.  I.  S.  121—122. 

5 


—     66     — 

lauf  dieser  Zeit  es  jedem  der  vertragschliesscndeii  Teile 
freistehen  solle,  ebenso  wie  vor  Ablauf  der  Vertrags- 
zeit,  diesen  Friedensvertrag  auf  eine  beliebig  grosse  An- 
zahl von  Jahren  zu  verlängern  und  es  erfolgt  zum  Schlüsse 
noch  die  übliche  Strafandrohung  gegenüber  all  denen,  die 
sich  eine  Verletzung  des  Vertrages  zuschulden  kommen 
lassen   würden. 

Bezüglich  des  Sened  en  faveur  du  commerce  autri- 
chien  dans  TEnipire  Ottoman  'ist  zu  bemerken,  dass 
diese  Kapitulation,  wie  bereits  erwähnt  (vgl.  Inhalt  S.  62 
Anm.  2)  eine  formelle  Aufhebung  des  2.  Artikels  des 
Passarowitzer  Handelsvertrages  in  ihrem  '6.  Artikel  brach- 
te. („Die  Untertanen  und  Kaufleute  des  Kaisers  kön- 
nen frei  und  ohne,  'dass  die  im  Handelsvertrage  von 
Passarowitz  eingefügte  Ausnahme  ein  Hindernis  bie- 
ten könnte,  in  Handeslangelegenheiten  die  Ufer  des 
Schwarzen  Meeres  hin  und  zurück  befahren,  unter  öster- 
reichischer Flagge  und  bestimmt,  dass  sie  'lur  einmal 
zur    Zollleistung    herangezogen    werden    sollen.**) 

Art.  5  enthält  wieder  die  Meistbegünstigungsklau- 
sel und  Art.  2  bestimmt,  dass  der  Zoll  nunmehr  nur 
3"/o  betragen  solle.  Die  8  Artikel  dieser  Kapitulation 
enthalten  merkwürdigerweise  nichts  über  religiöse  Fra- 
gen und  es  ist  auch  nicht  mehr  die  leiseste  Anspielung 
auf  ein  österreichisches  Protektorat  in  religiösen  An- 
gelegenheiten zu  entdecken,  i)  Die  Beziehungen  der 
Pforte  zu  Oesterreich  werden  'uns  im  Anschluss  an  andere 
Staaten  noch  des  öfteren  'beschäftigen  und  wollen  wir 
zum  Schlüsse  dieser  Darstellung  noch  bemerken,  dass 
der  Vertrag  von  1718  bereits  vollkommen  den  Charakter 
eines  modernen  zweiseitigen  Handelsvertrages  trägt, 
wenn  man  natürlich  von  dem  türkischen  Text  absieht,  der 
nach  dem  alten  Brauche  noch  immer  seine  einseitige 
Befehlsform    behalten    hat.  2) 

Die  Beziehungen  der  Pforte  zu  Russland. 

Zu  Russiand  unterhielt  die  Pforte,  genau  genommen, 
erst  seit  dem  15.  Jahrhundert  Beziehungen,  die  ab;r 
erst  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  greifbare  üe.stalt 

1)  Rausas  Bd.  11.  S.  120. 

2)  Kine  Krneuerung  fand  noch  statt  durch  den  Vertrag  vom 
4.  August  I7yi  vgl.  Rausas  Bd.  II,  S.  6  und  durch  den  Handels- 
vertrag vom  22.  Mai  1862,  der  diese  Verträge  neu  bestätigte. 
(Siehe  auch  Ulimann  lö98,  Völkerrecht  S.  115  Anm.  8). 


—     67     — 

annahmen,  i)  Vorher  hatte  jedoch  Russlaud  bereits  im 
9.  Jahrhundert  ein  sehr  freundschaftUches  Verhältnis  zum 
griechischen  Kaiserreiche  unterhalten,  das  sich  beson- 
ders für  das  10.  Jahrhundert  durch  Quellenmaterial  ge- 
nau verfolgen  lässt.  Nachdem  aber  die  Türken  Konstan- 
tinopel eingenommen  hatten,  hörte  der  freundschaftliche 
Verkehr  aisbald  auf  und  die  russischen  Kaufleute,  die  als 
Ungläubige  durch  keinen  Waffenstillstandsvertrag  ge- 
schützt waren,  wurden  allen  Verfolgungen  preisgegeben. 
Um  diesem  Zustande  abzuhelfen,  schickte  Iwan  III.  im 
Jahre  1499  seinen  Gesandten  zu  Bajazet  nach  Kon- 
stantinopel, um  für  die  dortigen  russischen  Kaufleute 
Sicherheit  der  Person  und  der  Habe  zu  erwirken,  was 
ihm  vom  Sultan   auch  gewährt  wurde.  2) 

In  der  Folge  verschlechterten  sich  die  Beziehungen 
zwischen  Russland  und  der  Türkei  zusehends,  so  dass  es 
im  17.  Jahrhundert  zu  blutigen  Zwistigkeiten  kam,  die 
durch  den  Frieden  von  Bachtschissarai  im  Jahre  1681 
endeten.  3) 

Dies  erregte  den  Hass  der  Türken  immer  mehr,  und 
so  sehen  wir,  dass  selbst  in  dem  Vertrage  vom  13.  Juni 
1700  Russland  nur  einige  formelle  Rechte  erhielt.*)  Russ- 
land erhält  die  Befugnis,  für  Konstantinopel  „einen  Re- 
sidenten seiner  zarischen  Majestät"  zu  ernennen,  der 
gemäss  Art.  13  die  gleichen  Ehren  und  Privilegien  wie 
die  Vertreter  der  anderen  freundlichen  Mächte  erhalten, 
und  dessen  Kuriere  im  Frieden,  gesichert  durch  Reise- 
pässe, gehen  und  kommen  können.  Auch  die  Russen 
dürfen  ohne  jede  weitere  Behelligung  von  Seiten  der 
türkischen  Behörden  zum  heiligen  Grabe  pilgern.  Art.  12.) 
Hinsichtlich  der  Regelung  der  Handelsbeziehungen  be- 
stimmt Art.  10,  dass  diese  erst  später  mit  einem  Ge- 
sandten Russlands,  den  dieses  ,,nach  altem  Gebrauche** 
schicken  werde,  zum  Abschluss  gelangen  sollen.  Ge- 
hindert durch  die  immer  wieder  von  neuem  ausbrechen- 
den Feindseligkeiten,  kam  eine  Erledigung  der  meisten 
schwebenden  Fragen  erst  durch  den  am  Pruth  geschlos- 
senen Vertrag  vom  21.  Juli  1711 'O  zustande.  Erst  hier 
wird  zum  ersten  Mal  eine  gegenseitige  Freiheit  des  Han- 
delsverkehrs   gewährt.     Merkwürdigerweise   verlor   aber 

1)  Martens  S.  233. 

2)  Martens  S.  233 

3)  Dies   ist   der  Vertrag   von    Radschin   vom   8.  Januar  1681. 
(Vgl.  Nor.  Bd.  I.  S.  54.) 

4)  Vgl.  Nor.  Bd.  I.  S.  197. 

5)  Vgl.  Treaties  Turkey  S.  434. 


—    68    — 

Russland  jetzt  das  Recht,  zur  Wahrung  seiner  Interessen 
einen  Gesandten  in  Konstantinopel  zu  unterhalten,  ein 
Recht,  das  ihm  erst  durch  den  Vertrag  zwischen  Ach- 
med III.  und  Peter  dem  Grossen  vom  16.  XI.  1720  (ab- 
geschlossen zu  Konstantinopel)  wieder  zugestanden  wur- 
de, i)  Sein  Art.  12  enthält  die  gleiche  Bestimmung  wie 
der  13.  Artikel  des  Vertrages  vom  13.  Juni  1700.  Ebenso 
wird  im  11.  Artikel  neuerdings  gegenseitige  Handels- 
freiheit zugesichert  und  Russen  das  Recht  gewährt,  die 
heiligen  Stätten  ohne  jede  weiteren  Abgaben  zu  be- 
suchen. 

Nicht  zufrieden  mit  diesem  Erfolg  suchte  Russland, 
als  es  auf  friedlichem  Wege  nichts  mehr  erreichen  konnte, 
mit  Gewalt  eine  Ausdehnung  seiner  Rechte  herbeizufüh- 
ren. Wie  wir  bereits  aus  Anlass  der  Darstellung  der 
französischen  Kapitulation  von  1740  ausführten;  erschien 
damals  Frankreich  in  der  Gestalt  seines  Gesandten  Ville- 
neuve  als  „uneigennütziger''  Retter  der  Türkei  und  be- 
wahrte dieselbe  vor  völligem  Untergange.  Durch  seine 
diplomatische  Gewandtheit  gelang  es  Villeneuve,  noch 
den  Frieden  von  Belgrad  vom  18.  September  1739  für 
die  Türkei  zfu  erwirken,  wobei  Russland,  trotz  seiner  her- 
vorragenden Siege,  nicht  einmal  das  Recht  erhielt,  Kon- 
sulate in  der  Türkei  zu  errichten  und  die  russischen  Kauf- 
leute, wenn  ihnen  auch  Handelsfreiheit  zugestanden  wur- 
de, dennoch  das  Schwarze  Meer  nur  auf  türkischen 
Schiffen   befahren   durften.  2)     (Art.  9.) 

Immerhin  spricht  der  13.  Artikel,  wenigstens  von  der 
Residenz  eines  russischen  Ministers,  dem  die  gleichen 
Rechte  gewährt  werden,  wie  den  Bevollmächtigten  der 
anderen  Staaten.  Sonst  enthält  der  Vertrag  keine  neuen 
Bestimmungen.  Später  setzte  es  sich  vor  allem  die  Kai- 
serin Katharina  II.  zum  Ziel,  den  Traum  von  weitest- 
gehenden russischen  Rechten  ui  der  Türkei  einer  baldigen 
Erfüllung  zuzuführen.  Mit  der  an  ihr  bekannten  Energie 
verwirklichte  sie  auch  ihr  Streben,  durch  den  Friedens- 
vertrag von  Katschuk-Kaynardgi  vom  10,  Juli  1774."') 
Besonders  wichtig  ist  .die  folgende  Stelle  des  11.  Artikels, 
wodurch  Russland  als  meistbegünstigte  Nation  anerkannt 
wurde.  („.  .  .  cela  aux  memes  Privileges  et  avantages 
dont  jouissent  dans  les  etats  les  Nations  les  plus  amies 


1)  Vgl.  Nor.  Bd.  I.  S.  227. 

2)  Text   des  Vertrages   vom    18.  September  1739   siehe  Nor. 
Bd.  I.  S.  258  ff.  Vgl.  Martens  S.  238. 

3)  Den  Text  siehe  Nor.  Bd.  1.  S.  319  f. 


—     69     — 

qui  la  Sublime  Porte  favorise  Ics  plus  dans  le  commerce 
tels  que  les  Frangais,  les  Anglais  .  .  .")  Es  wird  ins- 
besondere bestimmt,  dass  alles,  was  in  den  englischen 
und  französischen  Kapitulationen  enthalten  ist,  auch  voll- 
kommen für  den  Handel  der  russischen  Kaufleute  üeltung 
haben  solle.  „Auf  diese  Weise  vertritt  der  Kainardshcr 
Traktat  in  Bezug  auf  Russland  die  unzähligen  Kapitula- 
tionen, durch  welche  die  übrigen  europäischen  Mächte 
diesem  Staate  voraus  waren.  ,  .  .*'  i)  Gleichzeitig  er- 
hält Russland  ausdrücklich  das  Recht  zugestanden,  überall 
wo  es  will  Konsulate  zu  errichten.  (Art.  11:  „Konsuln 
und  Vize-Konsuln  an  allen  Orten,  wo  das  russische  Reich 
sie  für  nötig  hält,  sollen  ebenso  wie  die  Konsuln  der  an- 
deren befreundeten  Staaten  betrachtet  und  respektiert 
werden.")  Ferner  wird  bestimmt,  dass  der  russische 
Konsul  in  der  Auswahl  seiner  Dragomane  an  keine  be- 
stimmte Anzahl  (Art.  11   Abs.  3)  gebunden  sein  soll, 

Art.  5  regelt  in  der  bisher  üblichen  Weise  die  Ehren- 
rechte des  russischen  Ministers  zweiten  Ranges  in  Kon- 
stantinopel, der  die  gleiche  Beliandlungsweise,  wie  die 
Minister  der  übrigen  Mächte  erfahren  soll.  In  der  Reihen- 
folge soll  er  unmittelbar  hinter  dem  holländischen  Ge- 
sandten und  in  dessen  Abwesenheit  hinter  dem  vene- 
zianischen Gesandten  kommen.  Bezüglich  der  religiösen 
Zugeständnisse  ist  zu  bemerken,  dass  dieselben  sehr  weit- 
gehend waren.  Nachdem  im  8.  Artikel  den  Russen  wie 
bisher  das  Recht  der  freien  Wallfahrt  nach  Jerusalem  ge- 
währt wird,  wobei  sie  keiner  wie  immer  gearteten  Ab- 
gabe unterworfen  werden  sollen,  bestimmt  der  vor  allem 
in  Betracht  kommende  7,  Artikel,  dass  den  Christen  von 
Seiten  der  türkischen  Regierung  in  Hinkunft  jeglicher 
Schutz  gewährt  werden  soll  und  den  Russen  die  Erlaub- 
nis erteilt  wird,  eine  russisch-griechische  Kirche  zu  er- 
richten. Diese  Bestimmung  sollte  für  die  Vertreter  Russ- 
lands aber  erst  durch  den  Zusatz,  dass  sie  das  Pro- 
tektorats- und  Reklamationsrecht  über  diese  Kirche  hät- 
ten, zu  einer  für  die  Türkei  überaus  lästigen  Handhabe 
w^erden.  (Vgl.  Art.  7,  14.)  Russland  wurde  nämlich  da- 
durch instand  gesetzt,  sich  in  alle  Angelegenheiten  der 
christlichen  Untertanen  der  Türkei  zu  mischen  und  auf 
diese  einen  nicht  zu  unterschätzenden  politischen  Ein- 
fluss  zu  erlangen. 

Bezüglich  der  Bestimmung  über  den  Uebertritt  zum 
Islam,  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  eine  Uebertrittserklä- 

1)  Vgl.  Martens  S.  240  ff. 


—     70     — 

rung,  die  in  betrunkenem  Zustande  abgegeben  wird,  nicht 
gültig  sein  soll.  Aelinlicli  den  Bestimmungen  der  anderen 
Kapitulationen  wird  auch  hier  festgesetzt,  dass  ein  Ver- 
brecher sich  nicht  durch  die  Annahme  des  Islams  und 
hierdurch  der  türkischen  Staatsangehörigkeit,  seiner  Be- 
strafung entziehen  könne.  Selbstverständlich  ist  aber  je- 
denfalls die  Anwesenheit  eines  Beamten  der  russischen 
Vertretungsbehörde    erforderlich. 

Martens  sagt  zur  Charakteristik  dieses  Abkommens, 
dass  es  „wie  in  formeller,  so  auch  in  materieller  Be- 
ziehung alle  Kennzeichen  eines  völkerrechtlichen  Ver- 
trages, der  bestimmte  Rechte  und  Pflichten  festsatzt, 
trägt".  1)  Ferner  folgert  er,  dass  die  durch  den  Vertrag 
von  Katschuk-Kaynardge  erworbenen  Rechte  nicht  der 
„Ausfluss  grossherrlicher  Gnade**,  sondern  gegenseiti- 
ger Uebereinkunft  sind,  i)  Daraus  folge  aber  auch,  fährt 
Martens  fort,  dass  sie  nur  mittels  einer  gleichen  gegen- 
seitigen Uebereinkunft  wieder  aufgehoben  werden  kön- 
nen. (Ueber  diese  Streitfrage  vgl.  Teil  II.)  Noch  im 
Jahre  1779  2)  Hess  sich  Katharina  II.  die  Zusicherung' 
geben,  dass  später  ein  vollständig  den  französischen  und 
englischen  Kapitulationen  angepasster  Handelsvertrag  ge- 
schlossen werden  solle.  Bemerkenswert  an  dieser  Kon- 
vention vom  10./21.  März  1779  ist  insbesondere  der 
6.  Artikel,  der  eben  diese  Bestimmung  enthält.  (Art.  6: 
„Es  wird  erklärt,  dass  die  hohe  Pforte  eine  freie  Durch- 
fahrt durch  das  Schwarze  Meer  in  das  Weisse  Meer 
und  vom  Weissen  Meer  in  das  Schwarze  Meer  den  russi- 
schen Schiffen  gewährt  .  .  .  und  gleich  den  französischen 
und  englischen  Abmachungen.  —  —  —  Man  ist  über- 
eingekommen, eine  Konvention  auszuarbeiten  auf  der 
Basis  und  der  gleichen  Grundlage,  wie  die  französi- 
schen und  englischen  Kapitulationen,  indem  man  sie  dem 
russischen  Handel,  soweit  dies  mit  dessen  Natur  ver- 
einbar ist,  anpasst.")  Nach  äussert  langwierigen  Ver- 
handlungen erreichte  Russland  endlich  das  Ziel  seiner 
Wünsche. 

Am  21.  Juni  1783  3)  kam  der  erste  eigentliche 
russisch-türkische  Handelsvertrag  zustande.  Rausas 
sagt  mit  Recht  von  diesem  Vertrage,  dass  seine  81  Ar- 
tikel nichts  als  ein  langer  Kommentar  der  Meistbegün- 
stigungsklausel seien.  ^)      Gleich    die   Einleitung    enthält 

1)  Martens  S.  241. 

2)  Vgl.  Nor.  Bd.  I.  S.  338  ff. 

3)  Vgl.  Nor.  Bd.  1.  S.  351  ff. 

4)  Siehe  Rausas  Bd.  I.  S.  95. 


—       71     — 

vollkommen  klar  ausgedrückt  diese  Klausel.  („Man  wird 
unterhandeln  und  regeln  eine  Handelskonvention,  indem 
man  zur  Grundlage  nimmt  die  mit  Frankreich  und  Eng- 
land eingegangenen  Kapitulationen,  welchen  man  diese 
soweit  anpassen  wird,  als  dies  bei  der  Natur  des  russi- 
schen Handels  möglich  ist.  Gemäss  dem  folgenden 
Art.  11  müssen  die  Kapitulationen  Frankreichs,  Englands 
und  der  anderen  Staaten,  selbst,  wenn  sie  Wort  für  Wort 
in  diesem  Uebereinkommen  eingefügt  sind,  zur  Regel 
dienen,  worauf  sich  der  ganze  Handel  und  die  russischen 
Kaufleute  stützen.")  Nicht  genug  damit,  liess  sich  Russ- 
land das  gleiche  Zugeständnis,  wenn  auch  in  geschraub- 
terer Form  im  17.  Artikel  neuerdings  geben.  (Vgl.  auch 
Art.  77  und  81.)  Der  Artikel  wiederholt  überhaupt  voll- 
kommen wortgetreu  die  Bestimmungen  der  französischen 
und  englischen  Kapitulationen.  Aus  dieser  zähen  Fest- 
haltung an  der  Meistbegünstigung  erhellt  nicht  nur  die 
Aengstlichkeit  und  das  Misstrauen  des  russischen  Ver- 
tiagsteiles,  sondern  auch  die  gewaltige  Grösse  der  eng-^ 
lischen  und  französischen  Einflusssphäre,  die  eben  einen 
solchen  Anreiz  auf  die  anderen  Staaten  ausübte,  wie 
seinerzeit  die  Machtstellung  Venedigs.  Da  dieser  Ver- 
trag ausserordentlich  eingehend  sämtliche  in  Betracht 
kommenden  Fragen  erörtert,  und  eben  durch  die  Meist- 
begünstigungsklausel auch  für  die  anderen  Nationen  spä- 
terhin Geltung  erlangte,  so  wird  man  nicht  umhin  kön- 
nen, auf  seinen  Inhalt  näher  einzugehen.  Verschiedene 
Bestimmungen  beruhen  wieder  auf  Gegenseitigkeit,  aber 
die  Türkei  hat  hieraus  ebensowenig  Nutzen  gezogen,  wie 
aus  den  entsprechenden  Bestimmungen  in  den  französi- 
schen Kapitulationen.  Zunächst  wird  wieder  die  Freiheit 
der  Person  zugestanden  und  den  Russen  das  Recht  ge- 
währt, ungehindert  die  türkischen  Gebiete  zu  bereisen, 
ohne  das  svon  ihnen  die  Kopfsteuer  (Charadsch)  oder 
eine  andere  Abgabe  gefordert  werden  könne.  (Vgl. 
Art.  3,  10,  19,  71.)  Die  in  türkischer  Sklaverei  befind- 
lichen Russen  sind  unverzüglich  wieder  freizulassen.  (Vgl. 
französische  Kapitulation  von  1740  und  Art.  10  dieser 
Kapitulation.) 

Jede  russische  Wohnung  soll  durch  Gewaltmass- 
regeln von  Seiten  türkischer  Behörden  nicht  betreten 
\verden  können,  es  sei  denn  die  Ausnahme  eines  Not- 
falles gegeben,  aber  auch  dann  nur  unter  Zuziehung  der 
russischen    Vertretungsbehörde.      (Vgl.    Art.    67.) 

Hinsichtlich  der  Niederlassungsmöglichkeiten  wird 
den  Russen  weitestgehende  Freiheit  zugestanden,  ja  der 


_     72     — 

Art.  4-1   rc.^elt  sogar  die   Bestimmungen   über  die  Miete 
von   Wohn-   und   Lagerräumen.    (Siehe  auch   Art.   1.) 

Hcziighch  des  Handels  wurden  auch  den  Russen 
liic  gleichen  Zollvergünstigungen  zuteil,  wie  den  An- 
gehörigen der  anderen  Staaten,  d.  h.  der  Zoll  wurde  von 
50/0  auf  3'»..  herabgesetzt.  (Vgl.  Art.  20,  21,  25  und  ig.) 
Art.  28  enthält  die  Bestimmung,  dass  alle  in  diesem  Han- 
delsvertrage nicht  enthaltenen  Steuern  als  aufgehoben 
gelten  sollten  (also  auch  die  Abgabe  des  Massdariye),  und 
ferner  bestimmt  Art.  26  und  27,  dass  auf  gemünztes  Geld 
keine  Abgaben  erhoben  werden  dürfen.  Interessant  ist 
eine  den  französisch-türkischen  Bestimmungen  nicht  un- 
ähnliche Bestimmung,  dass  im  Kriegsfalle  des  einen  der 
beiden  Vertragsteile  mit  einer  dritten  Macht,  der  neutral 
bleibende  Vertragsteil  mit  dieser  dritten  Macht  Handel 
treiben  darf,  natürlich  mit  Ausnahme  der  Lieferung  von 
Munition.  (Siehe  Art.  40.)  Auch  der  Handel  Russlands 
soll  ebenso  wie  der  französische  und  englische  zu  Wasser 
und  zu  Land  keinen  Beschränkungen  unterliegen.  Art.  1, 
2  und  6.)  Bezüglich  des  russischen  Reiseverkehrs  ist 
zu  bemerken,  dass  für  diesen  gleichfalls  ein  Pass  ge- 
nügen soll,  (Jen  nach  den  neueren  Bestimmungen  ent- 
weder die  Vertretungsbehörde  oder  die  türkische  Lokal- 
behörde ausstellen  kann.  Im  übrigen  sehen  wir  hier  die 
gleichen  Bestimmungen,  wie  wir  sie  bereits  bei  Be- 
sprechung der  türkisch-französischen  Kapitulation  von 
1740  eingehend  behandelt  haben.  Interessant  ist  hierbei 
die  Bestimmung  des  Art.  33,  der  der  Türkei  das  Durch- 
suchungsrecht eines  russischen  Schiffes  zugesteht,  „wenn 
die  Pforte  Verdacht  schöpft,  dass  sich  unter  der  Mann- 
schaft dieser  Schiffe  einer  ihrer  Rayas  befindet.  Der 
kaiserlich-russische  Hof  stimmt  überein,  dass  die  Mann- 
schaft eines  solchen  Schiffes  durchsucht  w^erden  könne, 
ohne  dass  man  währenddessen,  wie  bereits  oben  aus- 
geführt, die  Ladung  des  Schiffes  berührt.  Man  soll  in 
einem  solchen  Fall  mit  aller  Vorsicht  handeln,  ohne 
irgendwie  den  Kapitän  oder  den  Eigentümer  des  Schiffes 
zu  belästigen,  und  man  soll  dem  Durchfuhrhandel  keine 
Hindernisse  bereiten,  wie  dies  im  Friedensvertrage  ver- 
einbart wurde,  indem  man  ohne  begründete  Ursache  der- 
artige Durchsuchungen  gestattet,"  Die  gleiche  Regel 
ist  gemäss  Art.  34  den  Schiffen  gegenüber  zu  beobachten, 
die  durch  die  Meere  des  ottomanischen  Reiches  nach  den 
russischen  Häfen  zurückkehren.  Art.  33  bestimmt  fer- 
ner, dass  russische  Schiffe,  natürlich  ausgenommen  den 
oben  erwähnten  Fall,  bei  Vorzeigen  eines  Passierscheines 


—     73     — 

(„firman  de  passage")  ungehindert  unter  russischer 
Flagge  die  Dardanellen  passieren  können. 

Bezüglich  der  Konsulareinrichtungen  ist  zu  erwäh- 
nen, dass  den  Konsuln  die  gleichen  Rechte,  wie  denen 
der  anderen  Staaten  zugestanden  wurden  und  dürfen 
auch  sie  die  Abzeichen  ihres  Staates  führen  und  sich 
vor  Gericht  durch  ihren  Dragoman  vertreten  lassen. 
(Art.  53,  59.)  Ferner  sichert  ihnen  Art.  54  das  Recht 
zu,  sich  eine  beliebige  Anzahl  von  Yassakchis  (Janitscha- 
ren)  „für  die  Bewachung  ihres  Wohnhauses*'  auszuwäh- 
len, die  unter  dem  Schutze  der  ihnen  vorgesetzten  Odo- 
baschis  und  anderer  Offiziere  stehen  sollten. 

Hinsichtlich  der  zivilrechtlichen  Fragen  ist  keine 
nennenswerte  Neuerung  gegenüber  anderen  Kapitula- 
tionen zu  erwähnen.    (Art.  57  und  58.) 

Bezüglich  der  Gerichtsbarkeit  erhalten  die  Russen 
die  gleichen  Vergünstigungen,  wie  die  Untertanen  der 
anderen  Staaten.  Demnach  finden  wir  für  Prozesse  zwi- 
schen Russen  und  anderen  christlichen  Untertanen  im 
Art.  58  die  gleiche  Bestimmung  wie  im  Art.  52  der  fran- 
zösischen Kapitulation  von  1740.  Dieser  Artikel  besagt 
nämlich,  dass  bei  einem  Streite  der  russischen  Konsuln 
oder  Kaufleute  mit  den  Konsuln  oder  Kaufleuten  einer 
anderen  christlichen  Nation,  die  Beteiligten  das  Recht 
haben  sollen,  diesen  Prozess  durch  den  russischen  Ge- 
sandten entscheiden  zu  lasserr. 

Im  übrigen  wären  noch  die  Art.  63  bis  74  zu  er- 
wähnen, die  jedoch  gegenüber  der  tranzösisch-türkischen 
Kapitulation  von   1740  nichts  wesentlich  Neues  bringen. 

Auf  alle  Fälle  ist  es  das  Verdienst  der  Kapitulation 
von  17S3,  alle  Rechte  der  Russen  in  der  Türkei  auf 
breitester  Grundlage  erörtert  zu  haben  und  ihnen,  die 
noch  zu  einer  Zeit,  als  die  anderen  Nationen  in  dieser 
Beziehung  bereits  weit  vorgeschritten  waren,  nur  sehr 
wenige  Befugnisse  hatten,  dieselben  in  reichem  Masse 
gegeben  zu  haben. 

Das  Auftreten  der  russischen  Vertretungsbehörden 
im  türkischen  Staatsgebiete  scheint  sich  jedoch  keiner  be- 
sonderen Sympathien  erfreut  zu  haben,  denn  bereits  im 
gleichen  Jahre  1783  stellte  die  Türkei  an  Russland  das 
energische  Verlangen,  verschiedene  Konsuln  abzurufen 
und  gleichzeitig  die  Einsetzung  türkischer  Vertreter  in 
russischen  Häfen  zu  gestatten,  was  nicht  unwesentlich  da- 
zu beitrug,  dass  die  Pforte  im  Jahre  1787  an  Russland 
den  Krieg  erklärte.  Nach  dem  überaus  unglücklichen 
Verlaufe  desselben  war  die  Pforte  gezwungen,  am  29.  De- 


—     74     — 

zember  1701  (0.  Januar  1792)  den  Frieden  zu  Jassy 
711  schliesscn,  der  den  Friedensvertrag  von  Kutscliuck- 
Kavnardge  und  das  Handelsübcreinivoninien  von  1783 
bestätigte. 

Später  schloss  Russland  noch  im  Jahre  1820')  mit 
der  Pforte  den  Vertrag  zu  Aci<erman,  um  sich  vor  ver- 
schiedenen Verstössen  der  Türkei  zu  schützen,  dem  im 
Jahre  1829  (14,  September)  eine  Bestätigung  zu  Adria- 
nopel folgte,  die  eine  genaue  Befolgung  aller  die  Russen 
schützenden  Vorschriften  anordnete.  -)  Eine  nochmalige 
Erneuerung  mit  einigen  Modifikationen  fand  am  22.  Ja- 
nuar/3. Februar  1862  statt.')  Dieser  Vertrag  enthält 
wieder  die  Meistbegünstigungsklausel  im  Art.  8  Abs.  2 
und  bestimmt  ferner  im  11.  Artikel,  dass  der  Zoll  nur 
mehr  20o  und  bei  Erneuerung  des  Vertrages  endgültig 
lo/o  betragen  soll.  ^)  Ferner  erhielt  Russland  die  Meist- 
begünstigungsklausel durch  Art.  17  des  Vertrages  vom 
10.  Juni   1873.^) 

Die  Beziehungen  des  osmanischen  Reiches 
zu  Preussen  und  Deutschland. 

Bereits  im  Jahre  1718  machte  Preussen  den  Ver- 
such, mit  der  Türkei  in  nähere  Berührung  zu  treten.  Aber 
erst  nach  langandauernden  Unterbrechungen  begannen 
durch  Vermittlung  der  nordischen  Staaten  im  Jahre  1755 
die  ersten  Unterhandlungen,  denen  im  Jahre  1761 
(22.  März  alter  Stil)  der  preussisch-türkische  Freund- 
schafts- und  Handelsvertrag  durch  den  Gesandten  Rexin 
zustande  gekommen,  folgte.  ^)  Dieser  Vertrag  kann  mit 
Recht  als  die  kürzeste  türkische  Kapitulation  angesehen 
werden,  umfasst  er  doch  nur  8  Artikel. '') 


\)  DeniText  dieses  Vertrages  vom  7.  Oktober  1826  s.  Nor, 
Bd.  II.  S.  116.  S.  auch  Drucks.  170  8.  Leg.  per  1.  Sess.  Reichst. 
1890/91. 

2)  Den  Text  dieses  Vertrages  vom  2./14.  Sept.  1829  siehe 
Nor.  Bd.  II    S.  166. 

3)  Siehe  Nor.  Bd.  III.  und  vgl.  Ullmann  Völkerrecht  1908. 

4)  Siehe  den  Text  bei  Nor.  (1902)  Bd.  III  S.  171. 

5)  Vgl.  Antonoupoulos-Meyer  S.  102 'Anm.  4.  Ferand-Girand 
Bd.  I.  S.  49. 

6)  Siehe  Nor.  Bd.  I.  S.  315,  ferner  Deutsche  Konsularverträge 
Berlin  1878  S.  158  und  die  deutsche  Uebersetzung  auch  bei  Leh- 
mann, Kapitulationen  S.  66. 

7)  Die  gewiss  kurze  spanische  Kapitulation  vom  14.  Sept.  1782 
umlasste  z.  B.  21   Art.  Vgl.  übrigens  Rausas  Bd.  I.  S.  96  ff. 


—     75     — 

Die  Kapitulation  war  ursprünglich  in  türkischer  und 
italienischer  Sprache  abgefasst  und  hat  vollkommen  den 
Charakter  einer  zweiseitigen  auf  Gegenseitigkeit  beruhen- 
den Abmachung,  also  eines  völkerrechtlichen  Vertrages.  ') 

In  diesem  Uebereinkommen  sehen  wir  des  öfteren 
die  Meistbegünstigungsklausel  angebracht,  so  dass  es 
keinem  Zweifel  unterliegen  kann,  dass  Preussen  die 
gleichen  Rechte  nunmehr  hatte,  wie  die  anderen  Na- 
tionen. 

Nach  einer  überaus  höflichen  Einleitung,  in  der  des 
Näheren  die  Gründe  erörtert  werden,  die  zum  Abschluss 
dieses  Vertrages  angeregt  hatten,  teilt  Art.  1  zunächst 
mit,  dass  zwischen  den  beiden  Staaten  „dauernder  Friede 
und  gegenseitige  aufrichtige  Freundschaft*'  bestehen  solle. 
Ferner  wird  gegenseitig  vereinbart,  dass  die  Untertanen 
beider  Staaten  ungehindert  Handel  treiben  und  Reisen 
unternehmen  dürfen,  wobei  allerdings  ein  ordnungsmässig 
ausgestellter  Pass  erforderlich  ist.  Ueberhaupt  sollen  die 
preussischen  Kaufleute  die  gleiche  Behandlung  erhalten, 
wie  die  Kaufleute  der  anderen  befreundeten  Mächte.  Kein 
preussisches  Schiff  soll  ausser  der  Freundschaftsabgabe 
von  300  Asper  weiter  belästigt  werden.  Auch  für  ver- 
unglückte preussische  Schiffe  wird  jegliches  Strandrecht 
aufgehoben.  Art.  2  setzt  die  Höhe  des  Zolles  auf  3 o/o 
fest  und  verbietet,  wie  die  Kapitulationen  der  anderen 
Staaten,  eine  Ueberschätzung  der  Waren.  Zollfrei  sind 
die  Güter,  die  für  den  preussischen  Gesandten  selbst  ein- 
treffen, Art.  3  setzt  die  „courtoisie  en  .mer"  fest  und  be- 
stimmt, dass  türkische  Fahrzeuge  gegen  preussische  Han- 
delsschiffe keine  feindlichen  Handlungen  unternehmen 
dürfen. 

Gemäss  Art.  4  soll  der  preussische  Gesandte  bei  der 
hohen  Pforte  „dieselbe  Unabhängigkeit  und  dieselben 
Vorrechte  geniessen,  die  nach  dem  Brauche  den  Ge- 
sandten der  anderen  befreundeten  Mächte  zustehen''. 
Interessant  ist  die  Bestimmung,  die  dem  preussischen  Ge- 
sandten unmittelbar  das  Recht  verleiht,  dort,  wo  sich  be- 
reits Konsuln,  Vizekonsuln  und  Dragomans  anderer 
Mächte  befinden,  gleichfalls  solche  zu  ernennen.  Auch 
dem  preussischen  Gesandten  steht  das  Recht  zu,  sich 
Dragomane  zu  halten,  doch  ist  deren  Zahl  für  ihn  auf 
vier,  für  den  Konsul  auf  einen  beschränkt.  Gemäss  Art.  5 
wird   die   Exterritorialität  des  Gesandten   auch   auf  den 


li  Die  Angabe  Frederico  Terzo  (III)    im    italienischen  Urtext 
ist  wohl  auf  ein  V^ersehen  zurückzuführen. 


_     76     — 

Konsul  ausgedehnt.  Auch  er  darf  nicht  in  Haft  genom- 
men werden  und  sein  Haus  „weder  versiegelt,  noch  be- 
sichtigt, noch  durchsucht  werden".  Falls  sie  selbst  in 
einen?  Rechtsstreit  verwickelt  sind,  kann  dieser  nur  durch 
Vermittlung  des  Gesandten  vor  der  hohen  Pforte  selbst 
entschieden  werden.  Besonders  bemerkenswert  ist  der 
5.  Artikel,  der  Preussen  fast  unter  dem  gleichen  Wort- 
laut bezüglich  des  Gerichtsstandes  dieselben  Rechte  zu- 
gesteht wie  den  Franzosen.  Der  französische  Text  lautet 
in  deutscher  Debersetzung:  „Wenn  irgend  ein  Streit 
unter  den  Preussen  und  deren  Angehörigen  entsteht, 
sollen  die  preussischen  Gesandten  oder  Konsuln  die  An- 
gelegenheit nach  ihren  Gesetzen  entscheiden,  und  sobald 
die  Preussen  nicht  selbst  verlangen,  von  der  türkischen 
Justiz  abgeurteilt  zu  werden,  sollen  die  Gouverneure 
der  hohen  Pforte  sich  nicht  durch  Gewalt  einmischen, 
um  sie  aburteilen  zu  wollen.'*  Die  Türkei  stellt  wenig- 
stens zum  Schlüsse  eine  „Proragatio  fori**  auf,  d.  h.  dass 
rnit  Willen  der  Parteien  eine  Zuständigkeit  der  türkischen 
Gerichte  begründet  werden  kann.  Praktisch  ist  von  üieser 
Möglichkeit  wohl  kaum  jemals  Gebrauch  gemacht  wor- 
den, aber  auch  theoretisch  wurde  sie  durch  das  deutsche 
Reichsgesetz  über  die  Konsulargerichtsbarkeit  vom  Jahre 
1879 1)  (neu  geregelt  vom  7.  April  1900)  gegenstandslos, 
da  der  §  1  dieses  Gesetzes  die  deutsche  Konsulargerichts- 
barkeit als  ausschliesslich  zuständig  erklärt.  Die  Bedeu- 
tung der  tüikischen  Gerichte  blieb  demnach  in  Zukunft 
nur  noch   auf  die  Schiedsgerichtsbarkeit  beschränkt. 

Bei  Prozessen  zwischen  Preussen  und  Türken  muss 
ein  konsularischer  Vertreter  anwesend  sein,  widrigen- 
falls der  Preusse  jegliche  Aussage  verweigern  kann. 
Ueberschreitet  der  Streitwert  des  Prozesses  4000  Aspres, 
so  soll  er  vor  der  kaiserlichen  Residenz  des  ottomanischen 
Reiches  zur  Verhandlung  gelangen.  Auzh  in  einem  Pro- 
zesse gegenüber  preussischen  Untertanen  soll  in  An- 
sehung des  türkischen  Klägers  der  gleiche  Grundsatz 
gelten,  wie  in  den  anderen  Kapitulationen,  d.  h.  er  muss 
vollgültige  Beweisurkunden  mitbringen.  Zum  Schlüsse 
wird  noch  die  rein  individuelle  Haftpflicht  für  Schulden, 
leichtere  Delikte  und  Auffinden  eines  getöteten  Men- 
schen ausgesprochen  und  bestimmt,  dass  ein  preussisches 
Kauffahrteischiff  nicht  grundlos  an  seiner  Abfahrt  ge- 
hindert werden  soll.    Desgleichen  wird  gegenseitig  jedes 


1)  Das  gleiche   ^alt   schon   nach   dem   preussischen  Gesetze 
vom  29.  Juni  1865. 


—     77    — 

Sklavereirecht  für  aufgehoben  erklärt  und  ferner  in  Art.  3 
festgesetzt,  dass  der  Nachlass  eines  gestorbenen  preussi- 
schen  Untertanen  entweder  an  seine  Vertretungsbehördc 
oder  an  einen  beauftragten  Landsmann  desselben  aus- 
gehändigt  werden   soll. 

Bezüglich  der  religiösen  Fragen  wird  noch  be- 
stimmt, dass  den  Preussen  hinsichtlich  ihrer  Religions- 
ausübung vollkommen  gleiche  Behandlung  gewährt  wer- 
den soll  wie  den  Angehörigen  der  anderen  befreundeten 
Nationen.  ^) 

Art.  7  schärft,  wie  wir  dies  bei  anderen  Verträgen 
schon  oft  sahen,  nochmals  die  genaue  Befolgung  aller 
Vorschriften  ein,  und  hebt  auch  besonders  die  Qegen- 
seifigkeit  der  Bestimmungen  heivor. 

Art.  8  sieht  nur  eine  Vervollständigung  der  Bestim- 
mungen vor  und  zum  Schlüsse  wird  gemäss  dem  Vertrags- 
charakter der  Urkunde,  eine  Ratifikation  innerhalb  vier 
Monaten   vorgesehen. 

Dieser  Vertrag  wurde  zunächst  durch  eine  Handels^ 
konvention  vom  22.  Oktober  1840  2),  die  auch  mit  einigen 
anderen  Staaten  eingegangen  wurde,  und  durch  einen  Ver- 
trag vom  20,  März  1862  auf  den  deutschen  Zollverein  über- 
tragen und  durch  Art.  24  des  deutsch-türkischen  Freund- 
schafts-Handels- und  Schiffahrtsvertrages  vom  26.  Au- 
gust 1890  auch  auf  das  Deutsche  Reich  ausgedehnt,  „so- 
weit sich  diese  nicht  im  Widerspruch  mit  der  gegenwär- 
tigen Konvention  befinden".  3)  Dieser  Vertrag  von  1890 
enthält  zahlreiche  und  wichtige  Erweiterungen  und  kam 
durch  den  damaligen  deutschen  Gesandten  von  Radowitz 
zustande. 

Er  enthält  gleich  im  1.  Artikel  die  Meistbegünsti- 
gungsklausel, die  wieder  bemerkenswerterweise  auch  für 
alle  die  Zugeständnisse  Geltung  haben  sollte,  die  später- 
hin irgendeiner  meistbegünstigten  Nation  gewährt  wer- 
den würden.    Der  Zollsatz  für  auszuführende  Waren  be- 

1)  Aus  diesem  Grunde  verbat  sich  Deutschland  auch  des 
öfteren  die  französische  Protektoratsanmassung  über  die  Christen 
im  Orient.  Bemerkenswert  ist  in  dieser  Hinsicht  der  spätere 
kaiserliche  Firman  vom  10.  September  1845  über  die  Erbauung 
eines  protestantischen  Tempels  (Nor.  Bd.  II.  S.  370)  und  der  tür- 
kische Firman  v.  14.  Nov.  1850  der  eine  protestantische  Gemeinde 
anerkennt  (S.  Nor.  Bd.  II.  S.  392  und  vgl.  Bachem  Staatslexikon 
5.  Bd.  S.  551. 

2)  Siehe  Nor.  Bd.  II.  S.  314. 

3)  Siehe  R.G.Bl.  1891  S.  117.  Nor.  (1903)  Bd.  4  S.  485.  Siehe 
ferner  die  Zusatzübereinkunft  vom  25.  April  1907.  (RGBl.  S.  371) 


—     78     — 

trägt  nur  ein  Prozent  und  ist  nur  einmal  zu  entrichten. 
(Vgl.  die  russische  Kapitulation  vom  22.  Januar/ 3.  Fe- 
bruar 1862  Art.  11  und  Art.  4  Abs.  2  des  deutschen  Ver- 
trages von  1890.) 

Die  folgenden  Artikel  enthalten  zumeist  den  Handel 
betreffende  Bestimmungen.  Art.  15  bestimmt,  dass  deut- 
sche Schifte,  die  einen  Firman  besitzen,  ungehindert  die 
Dardanellen  durchfahren  können,  doch  bestimmt  Art.  17, 
dass  die  Ein-  und  Durchfuhr  von  Kriegsmaterial  in  den 
ottomanischen  Gebieten  verboten  sein  soll.  Diese  Bestim- 
mung wird  ihres  Wertes  durch  den  zweiten  Absatz  ziem- 
lich beraubt,  der  bestimmt,  dass  die  Einfuhr  dann  erlaubt 
sein  soll,  wenn  der  Gesandte  selbst  Kriegsmaterial  ver- 
langt. Besonders  strenge  Bestimmungen  gegen  die  Kon- 
terbande enthält  der  20.  Artikel,  der  kurzerhand  die 
Konfiskation  zugunsten  des  Schatzes  zulässt  und  ferner 
der  türkischen  Zollverwaltung  sofortiges  Vorgehen  gegen 
verdächtige  Lagerräume  gestattet,  welche  Bestimmungen 
in  den  folgenden  Artikeln  noch  .des  Näheren  erläutert 
werden. 

Art.  25  enthält,  wie  bereits  erwähnt,  die  Aufrecht- 
erhaltung des  alten  preussischen  Vertrages  von  1761  und 
bestimmt  wie  dieser  Vertrag,  dass  eine  Erweiterung  des 
Uebereinkommens  durch  nützliche  Modifikationen  unter 
gegenseitigem    Einverständnisse   stattfinden   könne. 

Der  Zeitpunkt  des  Inkrafttietens  wird,  falls  keine 
andere  Entscheidung  gefällt  wird,  für  den  13.  März  18Q1 
festgesetzt,  der  Zeitpunkt  der  Beendigung  des  Vertrags- 
verhältnisses für  den  12.  März  1912.  Dem  Vertrage  selbst 
wurde  noch  ein  Anhang  I  und  II  beigegeben,  von  denen 
der  eine  die  Zolltarife  (Abschaffung  des  Wertzollsystems) 
festsetzt,  der  andere  den  Art.  17  näher  erläutert.  Be- 
merkenswert ist  noch  das  Protokoll,  das  es  den  im  os- 
manischen  Reiche  wohnenden  Schweizern  freistellt,  sich 
unter  die  deutsche  Konsulariurisdiktion  *u  stellen,  wo- 
gegen sie  die  Vergünstigungen  des  deutsch-türkischen 
Handelsvertrages  'geniessen  sollten. 

Zum  Schlüsse  Hess  sich  Deutschland  im  Untfirzeich- 
nungsprotokoUe  (Proces-verbal  de  signature)  noch  die 
Zusicherung  geben,  dass  trotz  des  allgemein  gehaltenen 
Art.  25  weder  eine  Taxe  noch  eine  vertragsmässige  Fest- 
setzuag  ohne  Zustimmung  des  deutschen  Gouverneurs 
gegenüber  Deutschland  in  Kraft  gesetzt  werden  könne, 
wenn  sie  nicht  zu  gleicher  Zeit  gegenüber  jeder  anderen 


—     79     — 

Nation  in  Kraft  gesetzt  werde,  i)  Den  Schluss  bildet 
nocii  die  Bestimmung,  dass  die  Zollvergünstig-iingen  für 
das    Deutsche   Reich   als   Gesamtheit  gelten. 

Die  Verträge  der  Türkei  mit  verscliiedenen 
anderen  Staaten. 

Alle  die  bisher  behandelten  Rechte  und  Vergünsti- 
gungen liessen  sich  auch  die  meisten  übrigen ,  europä- 
ischen Staaten  gewähren. 

Schweden  erhielt  am  21.  (nach  Ulimann  10.)  Januar 
1737  eine  Kapitulation,  die  ^wischen  Friedrich  I.  und 
Sultan  Mohamed  zustande  kam  und  endgültig  am  5.  März 
(21.  Februar)  1862)  erneuert  wurde.  Letztere  gilt  zu- 
gleich auch  für  das  Königreich  Norwegen  und  enthält 
in  ihrem  1.  Artikel  die  Meistbegünstigungsklausel  („.  .  . 
alle  die  Rechte,  Privilegien  und  Freiheiten,  welche  die 
hohe  Pforte  gegenwärtig  verleiht  oder  verleihen  wird  oder 
deren  Genuss  sie  in  Zukunft  Personen,  Schiffen,  dem 
Handel  und  der  Schiffahrt  jeder  fremden  Macht  gewäh- 
ren wird,  sind  durchwegs  den  Personen  usw.  und  der 
Schiffahrt  Schwedens  und  Norwegens  gewährt  .  .  .")  -) 
Die  Gültigkeit  dieses  Vertrages  wurde  für  die  Dauer  von 
28    Jahren   festgesetzt.    (Siehe  Art.  20.) 

Die  dänische  Kapitulation  stammt  aus  dem  Jahre 
1756  (14.  Oktober)  ')  und  wurde  neuerdings  durch  das 
Abkommen  vom  13.  März  1862  bestätigt.  Der  1.  Artikel 
verleiht  mit  dem  gleichen  Wortlaut  wie  die  schwedische 
Kapitulation,  Dänemark  das  Recht  der  Meistbegünsti- 
gung. Auch  hier  ist  durch  den  20.  Artikel  die  Vertrags- 
dauer auf  28  Jahre  festgesetzt.  ^) 

Ferner  erhielten  Kapitulationen  das  Königreich  bei- 
der Sizilien-  am  7.  April  1740,  Toskana  am  25.  Mai  1747. 

Spanien  Hess  sich  am  14.  September  1782  seine 
Rechte  bestätigen,  welcher  Vertrag  am  13.  März  1862  er- 
neuert wurde.  5)     Er  gilt  gleichfalls  für  die  Dauer  von 


1)  Die  Bestimmungen  traten  aber  nicht  in  Kraft,  da  Deutsch- 
land sich  nicht  dem  spezifischen  Zolltarif,  den  es  nach  seiner 
Genehmigung  der  Aufhebung  des  Wertzollsystems,  genehmigt  hatte, 
unterwerfen  konnte,  sobald  keine  andere  Macht  denselben  annahm. 

2)  Siehe  Nor.  Bd.  III.  S.  182.  Bei  der  schwedischen  Kapitu- 
lation ist  besonders  zu  erwähnen  die  Zuständigkeit  der  Konsular- 
gerichtsbarkeit bei  Vergehen  von  Schweden  gegen  Türken. 

3)  Siehe  Text  Nor.  Bd.  I.  S.  308. 

4)  Nor.  Bd.  III  0902)  S.  183. 

5)  Nor.  Bd.  I.  S.  344  und  Nor.  Bd.  III.  S.  184. 


—     80     — 

28  Jahren  iiiiü  enthält  seine  Meistbegünstigungsklauscl  im 
1.   Artikel. 

Sardinien  schloss  die  Verträge  vom  25.  Oktober  1823 
und  1839  ab/)  die  Hansastädte  die  vom  18.  Mai  1839 
und  27.  September  1862  ab.  2)  Die  Meistbegünstigungs- 
klausel enthält  der  erstere  Vertrag  in  seinem  6.  Artikel, 
der  letztere  in  seinem  1.  Artikel.  Im  übrigen  gleicht  der 
Vertrag  von  1862  vollkommen  dem  preussisch-türkischen 
Vertrage  vom  20.  März  1862  bis  auf  den  16.  Artikel,  der 
die   Dauer  des   Vertrages   auf   23   Jahre   festsetzt.    •> 

Aehnliche  Verträge  schloss  Belgien  mit  der  Pforte 
in  d€n  Jahren  1838  (3.  August)  3)  und  1840  (30.  April),*) 
die  am  10.  Oktober  1861  s)  erneuert  wurden.  (Siehe 
Art.   1   die  Meistbegünstigungsklausel.) 

Portugal  schloss  im  Jahre  1843  (20.  März)«)  und  am 
23.  Februar  1868  (siehe  Art.  1  Meistbegünstigungsklausel) 
mit  der  Pforte  Verträge  ab. 

Griechenland  am  27.  Mai  1855 ')  (siehe  Art  24 
Meistbegünstigungsklausel),  die  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  durch  die  Verträge  von  1830  und  vom  13. /25. 
Februar  1862  8)  (Art.  1  Meistbegünstigungsklausel).  Die 
Gültigkeit  dieses  Vertrages  wurde  auf  die  Dauer  von 
28  Jahren  festgesetzt. 

Italien  am  2.  September  1839  9)  mit  der  Türkei  einen 
Vertrag  ab,  der  am  ,10.  Juli  1861  erneuert  wurde  (Art.  1 
Meistbegünstigungsklausel).  Dieser  Vertrag,  der  seht 
eingehende  Bestimmungen  enthält,  wurde  für  spätere 
Abmachungen  anderer  Staaten  oft  zum  Muster  genommen 
oder  direkt  abgeschrieben. 

Zum  Schlüsse  ist  noch  Bayern  zu  erwähnen,  das 
einen  Konsularvertrag  zwecks  Ausübung  seiner  verfas- 
sungsmässigen Rechte  am  25.  August  1870  abschloss 
(siehe  Art.   5  Meistbegünstigungsklausel),  i") 

T)  Nor.  Bd.  H.  S- 99  und  Vertrag  v.  2.  Sept.  1839  Nor.  Bd.  II. 
S.  283.  Wie  bereits  erwähnt,  wurden  alle  diese  Verträge  auf  dem 
Pariser  Kongress  von  1856  erneuert.    (Vgl.  Inhalt  S.  52.) 

2i  Nor.  Bd.  ill  (1902)  S.  206. 

3)  Nor.  Bd.  II.  S.  243. 

4)  Nor.  Bd.  II.  S.  302. 

5)  Nor.  Bd.  111  (1902)  S.  16Ö. 

6)  Nor.  Bd.  II.  S.  354  und  Vertrag  von  1868  Nor.  Bd.  111.  S.263. 

7)  Nor.  r23.  Mai)  Bd.  II.  S.  437. 

8)  Nor.  Text  zur  Kapitulation  v.  7.  Mai  1830  Nor.  Bd.  11.  S.  192. 
und  zu  1862  Nor    Bd.  III.  S.  380. 

9)  Kapitulation  von  1861  Nor.  Bd.  111.  S.  151. 
10)  Siehe  Nor.  Bd.  III.  S.  296. 


—     81     — 

Alle  diese  bis  jetzt  behandelten  Verträge  haben  bis 
zum  1.  Oktober  1914  die  Beziehungen  der  christlich- 
europäischen Nationen  zum  türkischen  Reiche  geregelt. 
Gewiss  haben  ihre  Bestimmungen  den  Fremden  grossen 
Nutzen,  der  Türkei  aber  eine  Fülle  von  schweren  Be- 
drückungen gebracht. 

In  unserem  zweiten  Teile  wird  es  nun  unsere  Auf- 
gabe sein,  diese  Gesichtspunkte  gerecht  zu  würdigen  und 
vom  Standpunkte  des  Völkerrechts  aus  die  Frage  der 
Berechtigung  zur  einseitigen  Aufhebung  der  Kapitula- 
tionen zu  prüfen. 


Anhang. 

Die  Einrichtung  der  Konsulargerichtsbarkeit 
einzelner  Staaten  in  der  Türkei. 

Für  die  Konsulargerichtsbarkeit  des  Deutschen 
Reiches  galt  bis  zur  Anerkennung  der  Aufhebung  der 
Kapitulationen  und  der  hiermit  verbundenen  späteren 
Aufhebung  der  früheren  Konsulargerichtsbarkeit,  das  Ge- 
setz vom   7.   April   1900.     i) 

Nach  §  1  dieser  Verordnung  wird  die  Konsularge- 
richtsbarkeit überall  da  ausgeübt,  wo  sie  durch  Verträge 
oder  Herkommen  gestattet  ist.  (Ersteres  gilt  in  An- 
sehung der  Türkei.)  Der  Konsulargerichtsbarkeit  sind  die 
in  den  betreffenden  Konsulärbezirken  wohnhaften  Reichs- 
angehörigen und  Schutzgenossen  unterworfen.  Die  ein- 
zelnen Konsulargerichtsbezirke  werden  vom  Reichskanz- 
ler nach  Anhören  des  Ausschusses  des  Bundesrats  für 
Handel  und  Verkehr  bestimmt.    (§  2.) 

Ausgeübt  wird  die  Konsulargerichtsbarkeit  durch 
den  Konsul  als  Einzelrichter  und  durch  das  Konsular- 
gericht, das  dann  als  Kollegialgericht  fig'uriert.  (Siehe 
auch  das  Gesetz  über  die  Organisation  der  Bundeskon- 
sulate  vom  8.  November  1867,  das  den  Konsuln  ver- 
schiedene Aufgaben  zuweist,  wie  Förderung  der  Inter- 
essen des  Reiches,  namentlich  im  Handel,  Verkehr  und 
Schiffahrt,  Ueberwachung  der  Beobachtung  der  Staats- 
verträge, Gewährung  von  Rat  und  Beihilfe  an  Angehörige 
und  Untertanen  befreundeter  Staaten  usw.-)  Neben  dem 
Konsul  oder  zu  dessen  Stellvertretung  kann  auch  ein  an- 
derer Konsulatsbeamter  ermächtigt  werden.  Die  for- 
melle Grundlage  bleibt  aber  natürlich  die  Ermächtigung 
von  Seiten  des  Reichskanzlers.  (§  5.)  Bei  der  .Aus- 
übung der  Gerichtsbarkeit  finden  die  deutschen  Gesetze 
Anwendung,  sofern  nicht  für  das  Handelsrecht  noch  Ge- 
wohnheitsrecht in   Betracht  kommt.     Der  Konsul  ist  so- 

1)  Siehe  Reichsgesetzblatt  1900  Nr.  15.  Ferner  Gareis  Insti- 
tutionen des  Völkerrechts  1901  ^  47.  Vorher  bestand  bereits  das 
Gesetz  v.  10.  Juli  1879. 

2)  Diese  Verordnung  wurde  durch  spätere  Gesetze  vielfach 
spezialisiert.  So  durch  das  Gesetz  über  Passwesen  vom  12.  Okt. 
1867.  Gesetz  betreffend  hheschliessung  und  Beurkundung  des. 
Personenstandes  von  Bundesangehörigen  im  Ausland  vom  4.1V.  1870 


-     83     — 

gar  befugt,  polizeiliche  Vorschriften  zu  erlassen.  (Vgl. 
§  3  und  4  des  Gesetzes  von  1879.)  In  Angelegenheiten 
der  streitigen  Gerichtsbarkeit  bestimmt  §  12  hinsichtlich 
der  sachlichen  Zuständigkeit,  aass  für  die  durch  das 
GVG.  und  die  Konkursordnung  den  Amtsgerichten  zu- 
gewiesenen Sachen  der  Konsul,  für  die  den  Schöffenge- 
richten, sowie  für  die  den  Landgerichten  in  erster  Instanz 
zugewiesenen  Sachen  das  Konsulargericht  zuständig  sein 
soll.  In  den  zur  nichtstreitigen  Gerichtsbarkeit  gehören- 
den Angelegenheiten,  die  in  den  in  §i  3  Abs.  1  bezeich- 
neten preussischen  Landesteilen  in  erster  Instanz  zur 
Zuständigkeit  der  Amtsgerichte  oder  Landgerichte  ge- 
hören, ist  der   Konsul  zuständig. 

In  Strafrechtssachen  hingegen  ist  die  Kompetenz  des 
Konsuls  ziemlich  eingeschränkt.  In  den  Fällen,  wo  deut- 
sche Reichsangehörige  oder  Schutzgenossen  ein  Verbre- 
chen begangen  haben,  für  das  in  erster  und  letzter  Instanz 
das  Reichsgericht  oder  das  Schwurgericht  zuständig  ist, 
kann  der  Konsul  nur  diejenigen  Handlungen  vornehmen, 
die  zur  Sicherstellung  der  Strafverfolgung  nötig  sind, 
üntersuchungshandlungen  hingegen  darf  er  nur  bei  „Ge- 
fahr im  Verzuge"  vornehmen.  Sofern  Angehörige  an- 
derer fremder  Staaten  beteiligt  sind,  findet  der  alte 
Rechtssatz  .,actor  sequitur  forum  rei"  Anwendung. 

Entscheidungen,  die  der  Konsul  über  Uebertretungeii 
gefällt  hatte,  können  nicht  durch  Rechtsmittel  angefoch- 
ten werden.  In  den  anderen  Fällen  aber  kann  Berufung 
gegen  die  endgültige  Entscheidung  der  Konsulargerichte 
eingelegt  werden.  Die  Beschwerdeinstanz  in  solchen 
Fällen  ist  wieder  das  Konsulaigericht,  wobei  bei  dem 
Mangel  an  verschiedenen  Gerichten  nicht  einmal  eine 
Ausschliessung  des  bei  der  ersten  Entscheidung  mit- 
wirkenden Beamten  stattfindet.  (Siehe  dazu  im  Geg'.Mi- 
satz  St.P.O.  §  23  Abs.  1.)  In  den  Fällen  der  sofortigen 
Beschwerde  ist  der  Konsul  entgegen  der  Bestimmung  der 
St.P.O.  §  353  zur  Abänderung  seiner  getroffenen  Ent- 
scheidung befugt.  Nach  den  §§  33—36  ist  zur  Verhand- 
lung und  Entscheidung  der  Rechtsmittel  der  Beschwerde 
gegen  das  Urteil  des  Konsulargerichts  und  über  das 
Rechtsmittel  der  Berufung  das  Reichsgericht  zuständig. 
Bemerkenswert  ist  das  zähe  Festhalten  der  Türkei  an  der 
Bestimmung,  dass  alle  das  Grundeigentum  betreffenden 
Angelegenheiten  vor  die  ottomanischen  Gerichte  ge- 
hören. Ein  besonderer  Schutz  für  die  Fremden  bestand 
darin,  dass  die  Vollstreckung  von  Zivil-  und  Strafurteilen 
einheimischer  Gerichte  nur  mit  Genehmigung  und  unter 


—     84     — 

Beiwohnung  des  Konsuls  erfolgen  konnte  Dieses  Ge- 
setz ^  wurde  durch  eine  besondere  kaiserliche  Verfügung 
aufgehoben,  nachdem  Deutschland  am  11.  Januar  1Q17 
neue   Verträge    mit   der   Türkei   eingegangen    war. 

Diese  Organisation  der  Konsulargerichtsbarkeit  ist 
vor  allem  den  französischen  Einrichtungen  nachgebildet. 
Besonders  berühmt  in  dieser  Hinsicht  wurde  die  franzo- 
sische Ordonnance  de  la  Marine  vom  August  1681,  deren 
9  Titel  „von  den  Consuhi  der  französischen  Nation  in 
fremden  Ländern''  handelt.  Die  Grundsätze,  die  hierbei 
zur  Anwendung  kamen,  wurden  späterhin  ergänzt  durch 
das  Edikt  vom  Juni  1778,  das  die  richterliche  und  Polizei- 
gewalt dei  französischen  Konsuln  regelte,  ferner  durch 
die  Ordonnanz  vom  3.  März  I /81,.  betreffend  die  Kon- 
sulate, die  Gesandtschaften,  den  Handel  und  die  Schiff- 
fahrt 'in  den  Städten  der  Levante  und  der  Berberei.- 
Hierauf  folgte  noch  die  Ordonnanz  vom  5.  Juli  1842  und 
das  Gesetz  vom  8.  Juli  1851.-)  Bedeutsam  war  beson- 
ders das  den  französischen  Konsuln  zustehende  Auswei- 
sungsrecht,  von  dem  sie  seit  dem  Edikt  von  1778  Ge- 
brauch  machen   durften. 

Hinsichtlich  Englands  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  die 
Jurisdiktionsgewalt  seiner  Konsuln  ihre  Grundlage  in 
dem  Gesetze  aus  dem  Jahre  1843  hat.  Die  hierauf  be- 
züglichen Parlamentsakte  sprechen  diese  Berechtigung 
England  ganz  einfach  so  zu,  als  wenn  die  betreffenden 
Länder,  in  welchen  eine  Richtcrgewalt  der  Konsuln  laut 
Vertrag  besteht,  „von  England  erobert  oder  demselben 
sonstwie  abgetreten  wären".  3)  In  den  Jahren  1843 
und  1844  erfolgten  verschiedene  „Orders  in  Council'*,  die 
sich  besonders  auf  die  Verfolgung  von  Strafrechtsfällen 
beziehen.  Späterhin  wurden  noch  verschiedene  Orders  in 
Council  erlassen,  von  welchen  besonders  die  der  Jahre 
1864  und  1865  zu  erwähnen  sind.  (Ueber  die  noch  fol- 
genden 13  Orders  siehe  Rausas  I,  S.  231.) 

Die  russische  Konsulargcrichtsgesetzgebung  reicht 
bis  in  das  Jahr  1820  zurück  und  wurde  besonders  umfang- 
reich ausgestaltet  in  dem  Gesetze  von   1858.^) 

1)  Gemeint   ist   das  Gesetz   über   die  Konsulargerichtsbarkeit 
vom  7.  April  1900. 

2)  Siehe  Ullmann  Völkerrecht  S-  227  und  Rausas  Bd.  I.  S.229. 
3i  Siehe  Martens  S.  292 

4)  Siehe  Martens  S.  306  ff. 


II.  Teil. 

Die  Aufhebung  der  Kapitulationen  und  die 
neuen  deutsch-türkischen  Rechtsverträge. 

Einleitung. 

Am  9.  September  1914  schrieb  der  türkische  Minister 
des  Aeussern  an  den  holländischen  Gesandten  in  Kon- 
stantinopel einen  Brief,  der,  wie  noch  zu  behandeln  sein 
wird,  eme  ziemlich  ernste  Spannung  zwischen  den  beiden 
Staaten  zur  Folge  hatte,  i)  Besonders  charakteristisch  ist 
hierbei  die  Auffassung  der  Türkei  von  der  Form  und 
Rechtsnatur    der    Kapitulationen. 

Bereits  in  der  Geschichte  der  Kapitulationen  haben 
wir  des  öfteren  Gelegenheit  gehabt,  die  türkische  Auffas- 
sung kennen   zu   lernen,   die  Jahrhunderte   hindurch  bis 
auf  den  heutigen  Tag  nicht  davon  abgewichen  ist,  dass 
die    Kapitulationen    nichts    weiter    als    jederzeit    zurück- 
nehmbare einseitige  Gnadenbriefe  sind.    In  der  oben  an- 
geführten  xNote   vom   9.  September   1914  tritt  dies  ganz 
besonders   deutlich   zutage.     Nachdem   die   Kundgebung 
zunächst   darauf   hinweist,   dass   die   kaiserliche   ottoma- 
nische  Regierung  seinerzeit  „in  ihren  Gefühlen  der  Gast- 
freundschaft und  in  ihrer  Sympathie"  für  die  im  Orient 
Handel  treibenden  Fremden  besondere  Verordnungen  er- 
lassen (determine)  habe,  fährt  sie  fort:  „Hernach  wurden 
diese   Verordnungen,   die   die   Pforte  ausschliesslich   aus 
eigenem  Willen  erlassen  hatte  (de  son  propre  agrement) 
als    Privilegien    ausgelegt   ...    und   haben   sich   bis   auf 
üen  heutigen  Tag  unter  dem  Namen  von  alten  Verträgen 
oder   Kapitulationen    erhalten."     Schon   in    unseren    ein- 
leitenden  Bemerkungen  zum  I.  Teil  erwähnten  wir  hin- 
sichtlich der  Form  der  Kapitulationen,  dass  diese  zu  Be- 
ginn des  Privilegiensystems  wirklich  nichts  weiter  als  auf 
bestimmte  Zeitdauer  beschränkte  widerrufliche  Gnaden- 
akte   des    Sultans    waren.      Pradier-Federe    spricht    von 
ihnen   als   „concessions   gracieuses   accordes  par  le  Sul- 
tan Sans  discussions  prealables  et  de  leur  plein  gre".  i) 
Un   ancien   diplomate  sagt  dementsprechend  auch,  dass 

1)  Siehe  Text  bei  Strupp:  Ausgewählte  Aktenstücke  zur  orien- 
talischen Frage     Gotha  1916  S.  312  ff. 

1)  Pradier-Federe  in  Revue  de  droit  international  Bd.  I.  S.  119. 


—     8G     — 

die  Kapitulationen  von  Seiten  des  Sultans  nichts  waren^ 
als  „des  concessions  emanant  de  leur  bon  plaisir  ou  de 
lcur"K*^''i*^''^'^'t^  ^^  s^"^  '^^^'^  duree  que  celle  de  la  vie. 
du  souverain  qui  les  avait  faites".  i)  Aus  dieser  letz- 
teren Bemerkung  geht  ganz  deutlich  die  Auffassung 
hervor,  dass  die  Kapitulationen  durchaus  Waffenstill- 
standsnatur besassen. 

In  unseren  folgenden  Darstellungen  werden  wir  je- 
doch diese  Behauptung  der  türkischen  Note,  wenn  auch 
nicht  für  sämtliche  Abmachungen,  so  doch  für  die  spä- 
teren  Datums,   endgültig  zu   widerlegen  haben. 

Mit  bedeutend  mehr  Berechtigung  spricht  hingegen 
die  türkische  Regierung  in  ihrer  Note  von  den  fortgesetz- 
ten Bedrückungen,  die  sie  sich  durch  die  nicht  immer  ein- 
wandfreie Anwendung  der  Kapitulationsbestimmungen 
gefallen  lassen  müsse.  „Diese.'  Privilegien,  die  sich  einer- 
seits in  vollkommenem  Widerspruch  zu  den  rechtlichen 
Grundsätzen  unseres  Jahrhunderts  und  der  nationalen 
Souveränität  befinden,  bilden  andererseits  ein  Hindernis 
für  den  Fortschritt  und  die  Entwicklung  des  ottomani- 
schen Reiches,  ebenso  wie  sie  gewisse  Missverständnisse 
in  den  Beziehungen  mit  den  fremden  Mächten  entstehen 
lassen;  und  ebenso  bilden  sie  ein  Hindernis  für  diese  Be- 
ziehungen den  gewollten  Grad  von  Herzlichkeit  und  Auf- 
richtigkeit  zu    erreichen." 

In  diesem  Punkte  muss  jeder  Kenner  der  türkischen 
Verhältnisse  dem  türkischen  Mmister  vollkommen  Recht 
geben.  Wie  wir  bereits  im  I.  Teil  sahen,  versuchen  die 
Fremden,  auf  jede  nur  mögliche  Weise  sich  die  einzelnen 
Bestimmungen  der  von  ihren  Heimatstaaten  mit  der 
Türkei  getroffenen  Abmachungen  weitgehendst  zu  Nutze 
zu  machen,  wobei  ihre  Konsuln  sie  in  diesem  Bestreben 
auf  eine  die  türkischen  Untertanen  nicht  gerade  scho- 
nende Art  unterstützten. 

Insbesondere  bei  den  leicht  erregbaren  südlicheren 
Bewohnern  der  Türkei  musste  dies  notgedrungen  zu 
Exzessen  gegen  die  Fremden  führen,  denen  leider  auch 
oft  Unschuldige  zum  Opfer  fielen.  Die  nun  folgenden 
Auseinandersetzungen  zwischen  den  beiderseitigen  Re- 
gierungen konnten  selbstverständlich  nicht  zu  einer 
freundschaftlicheren  Gestaltung  der  Beziehungen  führen. 
Martens  erwäimt  in  seinem  Werke  „Das  Konsularwesen 
und  die  Konsulariurisdiktion"  eine  Fülle  von  derartigen 
Reibungen,  die  hauptsächlich  das  anmassende  Auftreten 

1)  Un  Ancien  Diplomate  S.  17. 


—     87     — 

der  Fremden  verursacht  hatte,  wenn  auch  die  mitunter 
recht  kurzsichtijre  Verwaltung  der  betreffenden  einheimi- 
schen Behörden  /um  nicht  geringen  Teil  mit  daran  Schuld 
trug.  (In  unserer  Darstelluiio  über  die  Wirkung  der 
Kapitulationen  werden  wir  noch  öfters  auf  diesen  Punkt 
zurückzukommen  haben,  insbesondere  hinsichtlich  der 
Konsuln.)  Unsere  Aufgabe  wird  es  nunmehr  sein  in 
diesem  U.  Teil  unserer  Darstellung  die  hauptsächlichsten 
I  unkte  des  türkisch-holländischen  Notenwechsels  völlig 
unparteiisch  zu  betrachten,  auf  die  jeweilige  Stichhaltig- 
keit der  angeführten  einzelnen  Gründe  näher  einzugehen 
und  damit  zusammenhängend  eine  Würdigung  der  tür- 
kischen Aufhebungs-  und  Verbesserungsbestrebungen  zu 
geben,  worauf  dann  kurz  eine  Erörterung  der  neuen 
deutsch-türkischen    Rechtsverträge    folgen    wird. 

I.  Kapitel. 
Die  Rechtsnatur  der  Kapitulationen. 

Wie  wir  bereits  im  I.  Teil  ausführten,  waren  die 
Fremden,  als  die  siegreichen  Scharen  der  Muselmanen 
überall  vordrangen,  vollkommen  zufrieden,  wenigstens 
ihre  bisherigen  Rechte  bestätigt  zu  sehen,  und  die  tür- 
kischen Herrscher  vermochten  für  ihre  Zugeständnisse 
auch  noch  vollkommen  den  Charakter  einseitiger  Gna- 
denbeweise  zu   wahren. 

Zu  diesem  Verhalten  war  der  osmanische  Staat,  wenn 
man  schon  ganz  vom  Stolze  der  orientalischen  Herrscher 
absieht,  durch  die  Satzungen  des  Korans  gezwungen, 
die  der  Sultan  für  seine  Staatsakte,  wenigstens  zu  Beginri 
türkischer  auswärtiger  Beziehungen  als  oberstes  Gesetz 
in  Betracht  zog.  (Vgl.  Teil  I.)  Dies  änderte  sich  jedoch 
immer  mehr,  als  die  diplomatische  Kunst  eines  Frank- 
reichs- auf  den  Plan  trat,  sich  durch  eine  künstliche  All- 
gewalt für  die  Osmanen  unentbehrlich  zu  machen  ver- 
stand (Villeneuve!),  und  so  die  bisher  einseitiger  Willkür 
anheimgegbenen  Versprechungen  immer  mehr  auf  völker- 
rechtliche Vertragsbahnen  lenkte.  Wenn  auch  Vandal 
noch  davon  sprach,  dass  „der  König  und  der  Sultan 
niemals  Verträge  unterfertigt  haben,  die  einen  an  den 
anderen  banden  und  sie  gegenseitig  verpflichteten'',^) 
so  war  die  Sachlage  in  der  späteren  Zeit  eine  durchaus 
andere.    Erst  die  Verträge,  die  gegenseitig  für  die  beiden 

1)  Vandal,  Une  ambassade  {ran9aise  en  Orient  sous  Louis  XV 
Paris  1889. 


—     88     — 

vertraKSchl'essendcn  Staaten  Rechte  und  Pflichten  fest- 
setzten, tragen  mit  vollem  J^echt  im  völkerrechtlichen 
Sinne  den  Namen   Kapitulationen. 

Nach  Liszt  ist  ein  völkerrechtlicher  Vertrag  „die 
zwischen  zwei  oder  mehreren  Staaten  über  staatliche  Ho- 
heitsrechte zustandegekommene  Willcnseinigung*'  ') 
„Der  Abschluss  der  Staatsverträge  erfolgt  durch  die  Wil- 
lenserklärung der  mit  der  völkerrechtlichen  Vertretungs- 
befugnis   ausgerüsteten    Organe."  2) 

Demnach  müssen  vorher  durch  bevollmächtigte  Ver- 
treter, die  gewöhnlich  das  Auswärtige  Amt  stellt,  Be- 
sprechungen eingeleitet  werden,  die  später  zur  endgül- 
tigen Festsetzung  des  Vertragstextes  führen  sollen.  Die- 
ses bedeutsame  Merkmal  eines  völkerrechtlichen  Vertra- 
ges können  wir  bei  dem  Abschluss  der  späteren  Kapitu- 
lationen zweifellos  feststellen.  Schon  in  der  französisch- 
türkischen Kapitulation  von  1535  sehen  wir  Jean  de  la 
Forct  als  Beauftragten  des  Königs  über  Hoheitsrechte 
unterhandeln  und  bereits  in  diesem  Vertrage  erscheinen 
verschiedene  Artikel,  die  durchaus  zweiseitig  verpflich- 
tende Bestimmungen  enthalten.    (Vgl.  Teil  I.) 

Denken  wir  nur  an  die  überaus  langwierigen  Ver- 
handlungen, die  Marquis  de  Villeneuve  nötig  hatte,  um 
der;  nach  von  Liszt  ersten  zweiseitigen  Vertrag  von  1740 
mit  der  Türkei  abzuschliessen.  An  diesem  Punkte  kann 
m.  E.  auch  die  von  den  Türken  bevorzugte,  meist  ein- 
seitige äussere  Gestalt  der  Kapitulationen  nichts  ändern, 
(^Vgl.  z.  B.  den  Schlusssatz  des  Vorwortes  der  Kapitula- 
tion von  1740:  .  .  .  pour  l'execution  d'icelles  le  present 
commandement  imperial  serait  emane  dans  les  termes 
suivants  .  .  .)  Es  ist  hier  eben  ein  ähnlicher  Streitfall 
gegeben,  wie  bei  der  Beurteilung  der  Konkordate  im 
Kirchenrecht,  die  teils  als  Privilegien,  teils  als  zweiseitige, 
völkerrechtliche  Verträge,  teils  sogar  als  der  Kirche  durch 
den  Staat  erteilte  Privilegien,  angesehen  werden.  •) 

Nachdem  wir  also  das  Erfordernis  der  vorherigen  ge- 
genseitigen Willensübereinstimmung  hinsichtlich  der  Ka- 
pitulationen durch  die  den  späteren  Abmachungen  stets 
vorausgehenden  langwierigen  Besprechungen  erfüllt 
sehen,  können  wii  uns  dem  zweiten  Punkt,  der  für  den 


1)  Von  Liszt  Völkerrecht  9.  Aufl.  1913  S.  163. 

2)  Von  Liszt  Völkerrecht  9.  Aufl.  1913  S.  164.  Siehe  auch 
Ullmann  Völkerrecht  1908  S.  256  ff. 

3)  Schulte,  Katholisches  Kirchenrecht  S.  511  ff.  Siehe  insbe- 
sondere Hübler  in  von  Stengels  Wörterbuch  des  deutschen  Ver- 
waltungsrechts unter  «Concordate". 


—     89     — 

Begriff  „völkerrechtlicher  Vertrag"  in  Betracht  kommt, 
zuwenden,  nämlich  dem  Abschlüsse,  der  Unterzeichnung 
des  Vertrages.  Nach  Oppenheim  können  nur  souveräne 
Staaten  Staatsverträge  abschliessen,  ^)  aber  auch  halb- 
souveränen Staaten  wird  oft  das  Recht  eingeräumt,  Ver- 
träge, die  jedoch  meist  nur  das  Handelsgebiet  betreffen, 
abzuschliessen.  (So  Aegypten  durch  den  Firman  vom 
20.  Januar  1S79,  welche  Vergünstigung  dann  im  deutsch- 
ägyptischen Handelsvertrage  vom  19.  Juli  1893  zUr  Ver- 
wertung kam.)  2) 

Diese  Souveränität,  die  Oppenheim  für  den  Abschluss 
eines  Staatsvertrages  für  nötip^  hält,  besass  der  türkische 
Staat  zweifellos,  wenn  auch  seine  Hoheitsrechte  den 
Fremden  gegenüber  ausserordentlich  geschmälert  waren. 
(Vgl.  die  späteren  Ausführungen.)  Wie  wir  gesehen 
haben,  war  die  Türkei  zur  Zeit  des  Abschlusses  der 
meisten  Kapitulationen  ein  durchaus  absolutistischer  Staat, 
in  dem  der  Wille  des  Sultans  Gesetz  war.  ■^)  Kraft  dieses 
Willens  schloss  er  mit  den  Gesandten  der  fremden 
Mächte  die  behandelten  Uebereinkommen  ab  und  gab 
ihnen  durch  seine  Genehmigung  Gesetzeskraft,  die  je- 
doch mit  seinem  Ableben  hiniällig  werden  mussten  (pacta 
personalia),  da  nach  dem  Koian  zunächst  dauernde  Ver- 
träge mit  Ungläubigen  überhaupt  unmöglich  erschienen. 
Die  Angst  vor  derartigen  Folgen  war  es  auch,  die  Frank- 
reich und  die  meisten  übrigen  europäischen  Staaten  dazu 
bewüg,  die  Kapitulationen  mit  der  Türkei  bei  dem  je- 
weiligen Regierungsantritt  eines  neuen  Sultans  immer 
wieder  erneuern  zu  lassen.  Aber  in  der  Kapitulation  vom 
28.  Mai  1740  vollzog  sich  eine  bedeutsame  Wandlung. 
Der  Sultan  erklärt  für  das  Uebereinkommen  nicht  mehr 
nur  seine  eigene  Person  verpflichtet,  sondern  auch  seine 
Nachfolger.  (Ewigkeitsklausel.;  Natürlich  müssen  wir 
uns  aber  immer  vor  Augen  halten,  dass  in  der  damaligen 
Zeit  der  Sultan  das  Volk  nur  durch  die  Allgewalt  seines 
absolutistischen  Herrscherwillens  an  seine  Entscheidun- 
gen zu  binden  vermochte,  hiermit  keine  rechtliche  Ver- 

1)  Oppenheim:  International  Law.  A  Treatise.  Bd.  I.  §  494: 
The  so  calied  right  of  making  treaties  is  not  a  right  of  a  State  in 
the  technical  meaning  of  the  term,  but  a  mere  competence  atta- 
ching  to  souvereignity.  A  State  possesses,  therefore,  treaty- 
making  power  only  so  far  as  it  is  souvereign." 

2)  Siehe  Reichsgesetzblatt  1893  S.  17. 

3)  In  den  absoluten  Monarchien  gibt  es  formell  keine  andere 
Quelle  als  den  Willen  des  absoluten  Monarchen.  Vgl.  Seligmann 
Beiträge  zur  Lehre  vom  Staatsgesetz  und  Staatsvertrag  1890.  S.  39 
und  UUmann  1908  S.  259. 


—     90     — 

pflichtunjT  des  Volkes  im  modernen  Sinne  entstehen 
konnte,  die  wie  in  den  iieutijTcn  konstitutionell  regierten 
Staaten  den  Tod  eines  jeden  lienschers  überdauert.  (Auf 
diese  Aufiiebungsmöglichkeit  haben  wir  schon  des  öfte- 
ren  hingewiesen.) 

nie  noch  im  18.  Jahrhundert  hinsichtlich  ihrer  Staats- 
verfassung mit  Ausnahme  Englands  fast  in  der  gleichen 
Lage  befindlichen  europcäischen  Staaten  sandten  dann, 
wie  wir  bei  der  Erörterung  der  einzelnen  Kapitulationen 
gesehen  haben,  ihre  bevollmächtigten  Vertreter  nach  Kon- 
stantinopel, die  mit  der  Pforte  unterhandelten  und  die  so 
vereinbarten  Verträge  zum  Abschluss  brachten.  Der  hie- 
für massgebende  Akt  ist  aber  erst  die  Ratifikation,  i) 

Ist  die  Ratifikation  nun  in  gültiger  Weise  vollzogen 
v.orden,  so  ist  der  unterfertigte  Vertrag  für  die  beiden 
Vertragsschliessenden  Staaten  von  diesem  Tage  an  völ- 
kerrechtlich verbindlich,  sofern  über  den  Zeitpunkt  des 
Inkrafttretens  nichts  anderes  bestimmt  ist.-)  (Vgl.  z.  D. 
den    deutsch-türkischen    Vertrag   vom    26.   August   1890.) 

Diese  Ratifikation  trifft  für  die  meisten  späteren 
Kapitulationen  der  Türkei  zu,  ja  wir  treffen  eine  solche 
bereits  in  dem  ersten  bedeutsamen  französisch-türkischen 
llebereinkommen  von  1535.  Die  Ratifikation,  die  be- 
dingungs-  und  vorbehaltlos  sein  muss,  hat  sich  über  den 
ganzen  Vertragsinhalt  zu  erstrecken  und  ist  in  so  vielen 
Duplikaten  auszufertigen,  als  es  Beteiligte  gibt.  3)  (Im 
letzten  Abschnitt  dieses  Vertrages  von  1535  heisst  es  aus- 
drücklich: .,Der  Sultan  und  der  König  von  Frankreich 
werden  gegenseitig  in  6  Monaten  die  Bekräftigung  des 
gegenwärtigen  Vertrages  in  richtiger  und  ihrer  Schuldig- 
keit entsprechenden  Form  unterzeichnen,  nwt  dem  Ver- 
sprechen, ihn  zu  beobachten  und  den  Befehl  an  alle  ihre 
Untergebenen  .  .  .  ihn  ohne  Betrug  Punkt  für  Punkt 
zu  be'achten,  geben  .  .  .*')  Auch  die  erforderliche  Publi- 
kation ist  bereits  in  diesem  Vertrage  erfüllt  („dieser  Ver- 
trag soll  in  Konstantinopel,  in  Alexandrien  .  .  .  publiziert 
v.  erden"),  welche  meist  den  Befehl  enthält,  die  vorstehen- 
den Vertragsbestimmungen  genau  einzuhalten.  (Vgl.  Ge- 
schichte der  Kapitulationen.)  Ein  ausdrücklicher  Hinweis 
hierauf  ist  jedoch  nicht  immer  von  Nöten  und  kann  still- 
schweigend angenommen  werden.  (Gegen  letzteres  Ver- 
fahren   wendet    sich    insbesondere    Laband, ')    da    hier- 

n  Siehe  Ulimann  1908  S.  257  ff. 

2)  Siehe  von  Liszt  1913  S.  165  ff. 

3)  Siehe  Uilmann  S.  267.  fl908). 

4)  Vgl.  Laband. 


—     91     — 

durch  die  Vorstellung  erweckt  werden  könnte,  dass  „Be- 
hörden und  Untertanen  durch  den  Abschhiss  des  Ver- 
trages zur  Befolgung  desselben  verpflichtet  würden  und 
als  wenn  die  Verkündigung  des  Vertrages  keine  andere 
Bedeutung  hätte,  als  ihn  zur  öffentlichen  Kenntnis  zu 
bringen".  Siehe  hierüber  Laband  im  Handbuch  des 
öffentlichen  Rechts,  herausgegeben  von  Marquardsen  und 
v(ni  Seydel,  S.  158.)  Nach  Ullmann  ist  diese  Publikation 
des  Vertrages  überhaupt  „der  staatsrechtlich  entschei- 
dende Akf'.i) 

Auch  der  Austausch-  der  Vertragsurkunden  wurde  mit 
der  fortschreitenden  Entwicklung  der  Türkei  immer  ge- 
nauer durchgeführt  und  bereits  in  der  Kapitulation  von 
1740  sehen  wir  die  Bestimmung,  dass  „consequemmentles 
capitulations  anciennes  et  renouvelees,  ayant  ete  transcrites 
et  rapportees  exactement,  mot  pour  mot,  au  commen- 
cement,  et  suivi^s  des  articles  nouvellement  regles  et 
accordes,  ccs  presentes  capitulations  imperials  auraient 
ete  remises  et  consignees,  dans  l'ordre  susdit,  entre  les 
mains  dudit  ambassadeur". 

Mithin  können  wir  die  Kapitulationen,  wenn  wir  das 
Wort  auf  die  später  abgeschlossenen  türkischen  Verträge 
anwenden,  als  vollkommen  völkerrechtliche  Abkommen 
ansehen,  deren  Anfechtung  nicht  durch  eine  blosse 
„laesio    enormis**    genügend    vorbereitet   ist. 

Auch  Martens  tritt  mit  Entschiedenheit  gegen  die  An- 
sicht auf,  dass  die  Kapitulationen  keine  völkerrechtlichen 
Traktate  seien,  „Allerdings  haben  alle  Verträge,  die  mit 
den  muselmännischen  Staaten  geschlossen  sind,  die  spe- 
zielle Benennung  von  „Kapitulationen''  und  unterscheiden 
sich,  wie  wir  bereits  bemerkt  haben,  von  gewöhnlichen 
internationalen  Traktaten  durch  ihre  äussere  Form.  Des- 
sen ungeachtet  laufen  alle  widerstreitenden  Ansichten 
der  meisten  Schriftsteller  hinsichtlich  der  Rechtskraft  der 
Kapitulationen  darauf  hinaus,  dass  dieselben  wirkliche 
völkerrechtliche  Verträge  sind,  deren  Wirkungskraft  sich 
auf  beide  Parteien  erstreckt.*'    (Siehe  Martens  S.  106  ff.) 

Immerhin  muss  noch  zum  Schlüsse  bemerkt  werden, 
dass  die  Türkei  bis  auf  den  heutigen  Tag  an  der  ein- 
seitigen Auslegung  der  Kapitulationen  festgehalten  hat, 
wenn  sich  auch  in  der  Brust  manches  türkischen  Rechts- 
lehrers Zweifel  erhoben  haben  könnten.  Der  türkische 
Staat  hielt  sich  eben,  da  er  zunächst  keinen  anderen  Aus- 
weg fand,   energisch   an   dieser  Auffassung    fest,  da  die 


1)  Siehe  Ullmann  1908  S.  254  ff. 


—     92     — 

Kapitulationen  den  Fremden  grossen  Nutzen,  der  Türkei 
aber  /uinindest  ebenso  ^^rossen  Schaden  brachten.  Vom 
rein  menscliHcheii  Standpunkt  ist  dieses  türkische  Be- 
freiungsstreben durchaus  verständHch,  ob  die  Abschaf- 
fung durch  einen  einseitigen  Akt  aber  auch  vöikerrecht- 
hch  einwandfrei  ist,  werden  wir  später  noch  zu  erörtern 
haben. 

II.  Kapitel. 
Die  Wirkung  der  Kapitulationen. 

a)  Vorbemerkung. 

Gleichzeitig  mit  einer  Wüidigung  der  von  dem  tür- 
kischen Ministerium  in  seiner  Kundgebung  vom  9.  Sep- 
tember 1914  angeführten  Aufhebungsgründe,  müssen  wir 
uns  insbesondere  die  Wirkungen  der  Bestimmungen  ver- 
gegenwärtigen, denen  wir  in  der  Geschichte  der  Kapitu- 
lationen so  oft  begegnet  sind.  Es  soll  hier  durchaus  nicht 
der  Anschauung  das  Wort  gepredigt  werden,  dass  durch 
eine  Veränderung  der  allgemeinen  Lage  eines  Staates 
dieser  auch  das  Recht  erhalle,  sich  von  seinen  vertrag- 
lichen Verpflichtungen  für  befreit  anzusehen,  aber  man 
könnte  in  Ansehung  der  Türkei  mit  v.  Liszt  sagen,  dass 
eine  Ausnahme  insow^eit  zugegeben  werden  kann,  „als 
der  geschlossene  Vertrag  eine  bestimmte  Sachlage,  sei  es 
ausdrücklich,  sei  es  stillschweigend,  zur  Voraussetzung 
nimmt  und  durch  eine  Aenderung  dieser  Sachlage  die 
übernommene  Verpflichtung  eine  wesentlfch  drückendere 
werden  würde",  i) 

Zweifellos  müssen  auch  die  heute  noch  widerstreben- 
den feindlichen  und  neutralen  Staaten  zugeben,  dass  zu 
jener  Zeit,  da  die  allmächtigen  mohammedanischen  Herr- 
scher den  Fremden  die  weitgehendsten  Rechte  einräum- 
ten, der  beiderseitige  Nutzen,  der  aus  einem  solchen 
Vorgehen  erzielt  wurde,  ein  ziemlich  gleicher  war.  Denn 
durch  diese  verschiedenen  Uebereinkommen  mit  den  ein- 
zelnen Handelsstädten  und  -Staaten  wurde  es  den  tür- 
kischen und  arabischen  Kaufleuten  ermöglicht,  einen  ge- 
winnbringenden   Handel    zu    treiben,    obgleich    sie    nur 

1)  Siehe  Liszt  1913  S.  170. 

Dagegen  könnte  man  aber  wieder  ins  Feld  führe:i,  dass  die 
Vertragssicherheit  dadurch  eine  sehr  geringe  würde,  da  ein  solches 
Argument  von  jeder  Partei  und  zu  jeder  Zeit  angelührt  werden 
könnte.  (Vgl.  Bein,  S.  40).  Man  müsste  eben  einer  unparteiischen 
Macht  ein  neutrales  Urteil  einräumen. 


*    —     Ü3    — 

höchst  selten  nach  den  fremden  Gegenden  kamen.  Aus 
dem  gleichen  Grunde  kamen  sie  den  Fremden  auf  dem 
Gebiete  der  Kauffahrteischiffahrt  entgegen  und  gewährten 
ihnen  die  weitgehendste  Unterstützung. 

Suchten  die  Türken  auf  diese  Weise  einen  ausge- 
dehnten Handel  zu  treiben,  so  wurde  den  Fremden 
andererseits  weitgehender  Schutz  gegen  die  unvollkom- 
mene Rechtspflege  gewährt  und  gegen  den  noch  immer 
ausserordentlichen  starken  religiösen  Fanatismus.  Denn 
damals  konnten  sich  die  Fremden  bei  Stellung  ihrer  Be- 
dingungen noch  mit  Recht  auf  das  Wort  des  Korans  be- 
rufen :  „.  .  •  und  dauernder  Krieg  gegen  die  Verleugner 
Mohammeds  wird  gefordert''  (Sure  9  Vers  2Q). 

Lange  Zeit  empfand  die  Türkei  auch  nicht  die 
Schwere  der  auf  ihr  lastenden  Einschränkungen.  Als  sich 
jedoch  die  fremden  Staaten  in  ungebundener  Freiheit  im- 
mer weiter  fortentwickelten,  erweiterte  sich  auch  der 
Blick  der  Türken  für  ihre  Interessen  und  sie  empfanden 
die  fremde  Einmischung,  die  sich  selbst  auf  wichtige 
Zweige  ihrer  inneren  Verwaltung  ausdehnte,  immer 
drückender.  Besonders  erwähnenswert  in  dieser  Hin- 
sicht sind  die  finanziellen  und  handelspolitischen  Ein- 
schränkungen, die  sich  die  Türkei  Jahrhunderte  hindurch 
gefallen   lassen   musste. 

b)  Die  Zollprivilegien. 

Wie  wir  bei  der  Betrachtung  der  meisten  Kapitula- 
tionen sehen  konnten,  betrug  der  Zollsatz,  der  nur  einmal 
zu  entrichten  war,  nicht  mehr  als  30/o,  ja  verschiedene 
Staaten,  so  vor  allem  Russland  und  späterhin  auch 
Deutschland,  hessen  sich  einen  Zollsatz  von  nur  loo  zu- 
sichern. Diese  Verträge  sahen  einen  Wertzoll  (ad  va- 
lorem)  vor  und  erst  Deutschland  machte  den  Versuch, 
einen  spezifischen  Zollsatz  im  Jahre  1890  auszuarbeiten, 
der  jedoch  nicht  sogleich  zur  Anwendung  gelangen  konn- 
te, da  Deutschland  hierdurch  die  Konkurrenz  Englands 
noch  bedeutend  verschärft  hätte,  i)  Die  Bemühungen  der 
Türkei,  diesen  ausserordentlich  geringen  primitiven  Wert- 

1)  1906/07  betrug  die  Einfuhr  der  Türkei  520,5  Millionen  Mk., 
die  Ausfuhr  326,5  Millionen  Mk.  Da  die  Haupteinfuhrprodukte 
Baumwollstoffe,  Wollstoffe,  Leinwand  usw.  waren,  und  der  haupt- 
sächliche Handelsverkehr  zwischen  Grossbritannien  und  der  Türkei 
sich  vollzog  (ein  Drittel  der  Aus-  und  Einfuhr)  so  erklärt  sich 
leicht  das  dauernde  Widerstreben  Englands  gegen  jede  Spezifi- 
kation der  Zölle  und  deren  Heraufsetzung.  Siehe  Bachems  Staats- 
lexikon Bd.  V,  S.  583. 


—     94     —     ^ 

zoll,')  der  noch  allerlei  Anfechtungen  (z.  B.  wegen  un- 
richtiger Einschätzung)  unterliegen  konnte,  zu  erhöhen, 
reichen  bis  in  das  Jahr  1838  zurück.  Durch  Art.  4  der 
Handelskonvention  vom  20.  November  1838 -)  liess  sich 
die  Türkei  das  Recht  gewähren,  auf  alle  Artikel,  die  aus 
der  Türkei  stammten  und  zum  Export  bestimmt  waren, 
einen  Zoll  von  9"o  zu  erheben.  Beim  Verlassen  des  Ein- 
schiffungsortes (ä  sa  sortie)  bleibt  der  alte  Zoll  von 
3^0  bestehen.  Rausas  beschwert  sich  hierüber  auf  das 
lebhafteste,  da  hierdurch  in  Wirklichkeit  ein  Zoll  von 
12i''o  erhoben  werde  und  „dijser  übermässige  Tarif  (cc 
tarif  exorbitant)  der  Entwicklung  des  fremden  Handels 
unstreitig  schädlich  sei".  3)  • 

Bezüglich  der  Einfuhr  wurde  zu  dem  bisherigen  Zoll 
durch  Art.  5  ein  Zuschlag  von  2i>,o  erhoben  (un  droit 
additionel  de  2oo).  Dadurch  wurde  zunächst  wieder  eine 
gleiche  Zollhöhe  von  5^0  erreicht,  wie  sie  die  Türkei 
zu  Beginn  des  Kapitulationssystems  noch  zu  erhalten 
vermochte. 

Schliesslich  wurde  durch  eine  Handelskonvention  von 
1861  i)  die  Zollhöhe  allgemein  auf  80/0  festgesetzt.  Den 
Durchfuhrzoll  musste  die  Türkei  jedoch  von  2o/o  auf  \^,'o 
herabsetzen  und  sich  gleichzeitig  verpflichten,  ihn  am 
Ende  des  achten  Jahres  auf  l'Jo  zu  erniedrigen.  (Siehe 
Art.    8.)  5) 

Zur  Krönung  der  Ausbeutungsbestrebungen,  deren 
Objekt  jahrhundertelang  die  Türkei  gewesen  ist,  wollen 
wir  noch  den  Art.  7  dieses  Vertrages  erwähnen.  Darnach 
sollen  von  jedem  Zoll  befreit  sein  die  Waren  fremden  Ur- 
sprungs, die  auf  französischen  Schiffen  verladen,  in  die 
Meerengen  des  Bosporus  oder  der  Dardanellen  fahren 
(„keine  wie  immer  geartete  Abgabe  soll  den  französischen 
Schiffen  im  Voraus  auferlegt  werden,  wenn  sie  auf  dem 
Boden  Frankreichs  oder  durch  dessen  Industrie  erzeugte 
Waren  geladen  haben,  selbe  französischen  Untertanen  ge- 
höien  und  sie  oie  Meerengen  der  Dardanellen  des  Bospo- 
rus oder  des  Schwarzen  Meeres  durchfahren").  Für  den 
Fall,  dass  die  Güter  jedoch  abgeladen,  auf  ein  anderes 

1)  Siehe  Martens,  der  durch  die  verschiedenen  Inlandszölle 
die  Zolleinnahmen  der  Türkei  auf  40— SO'/o  schätzt  für  eingeführte 
und  60-100"/o  für  ausgeführte  Waren.     S.  daselbst  S.  260. 

2)  Siehe  Nor.  Bd.  II.  S.  256. 

3)  Siehe  Pellissiö  du  Rausas  Bd.  I.  S.  187. 

4)  Siehe  Nor.  Bd.  II.  S.  130. 

5)  Dieser  Zoll  wurde  übrigens  im  Jahre  1890  durch  den  Ver- 
trag mit  Deutschland  ganz  aufgehoben. 


—     95     — 

Schiff  gebracht  uqd  weiter  fortgeführt  werden,  bestimmt 
ein  weiterer  Zusatz,  dass  ?ie  in  Lagerhäusern  unterge- 
bracht und  in  Ermangelung  solcher,  unter  die  Aufsicht 
der  Zollbehörden   gestellt  werden  sollen. 

Gemäss  der  Meistbegünsiigungsklausel  hatte  dieses 
Zugeständnis  aber  noch  weitere  Folgen  für  die  Türkei,  da 
hierdurch  alle  Nationen,  dit  derartige  Verträge  mit  der 
Pforte  geschlossen  hatten,  in  den  Besitz  dieser  Vergün- 
stigung ganz  automatisch  gelangten.  Pellissie  du  Rausas 
schätzt  dieses  Privileg  sehr  hoch  ein,  sodass  er  zum 
Schlüsse  seiner  Abhandlung  über  die  Handelsfreiheit 
schreibt:  Sie  (d.  h.  die  Bestimmung  des  7.  Artikels  des 
Vertrages  von  1861)  vervollständigt  daher  sehr  glücklich 
die  höchst  einträglichen  Anoidnungen  der  Verträge,  die 
den  Kauffahrteischiffen  aller  Nationen  die' freie  Durchfahrt 
durch  die  Meerengen  und  Verkehrsfreiheit  im  Schwarzen 
Meere  zusicherten,**  i) 

Nachdem  verschiedene  Versuche  der  Türkei,  ihre 
Lage  wenigstens  einigermassen  zu  verbessern,  an  dem 
hartnäckigen  Widerstand  der  Mächte  gescheitert  waren, 
gelang  es  ihr -nach  langen  Mühen  im  Jahre  1907  eine  Er- 
höhung des  Einfuhrzolles  auf  11  o/o  zu  erreichen,  was 
gegenüber  dem  Vertrag  von  1861  einen  Gewinn  von  S^^/o 
bedeutete.  2)  Die  Türkei  konnte  aber  auch  diesmal  ihres 
Erfolges  nicht  froh  werden,  da  England  die  Absicht  der 
Türkei,  die  zu  erzielenden  Mehreinnahmen  zum  Bau  der 
Bagdadbahn  zu  verwenden,  geschickt  zu  durchkreuzen 
verstand.  England  und  Russland  machten  nämlich  ihre 
Zustimmung  von  der  Bedingung  abhängig,  dass  die  Gel- 
der nur  zu  Reformen.in  Mazedonien  verwendet  werden 
dürfen.  3)  Nach  der  erfolgreichen  jungtürkischen  Be- 
wegung versuchte  die  Türkei  neuerdings  eine  Erhöhung 
der  Zölle  um  4o/o  herbeizuführen.  Aber  England,  das 
hinsichtlich  seiner  Orientpolitik  neben  seinen  eigenen 
Interessen  vor  allem  den  imperialistischen  Zielen  Russ- 
lands Freundschaftsdienste  erweisen  musste,  vereitelte 
auch  diesmal  die  türkischen  Bestrebungen  unter  dem 
schönen  Deckmäntel,  dass  die  Türkei  etwaige  Mehrein- 
nahmen zur  Deckung  des  Budgetdefizits  verwenden  solle. 
Erst  kurz  vor  ihrem  Eintritt  in  den  Weltkrieg  gelang  es 
dei  Türkei  am  18.  Oktober  1914,  die  Zustimmung  aller 
Mächte  zur  Einführung  eines  Zolls  von  lo^o  zu  erhalten, 


1)  Pellissie  du  Rausas  Bd.  I.  S.  189. 

2)  Heidborn  Droit  public  Ottomau  Bd.  II.  S    174  {f. 

3)  Vgl.  Lehmann  Kapitulationen  S.  38. 


—     9G     — 

inusste  aber  hierfür  den  Westmächten  \veitgehi.'ndc  Zu- 
ai'ständnisse  machen.  i)  Aber  nicht  nur  hiilsichtlich  der 
Z()llc  nntcrhig  die  Pforte  vielen  Beschränkiinu^en. 

c)  Die  Steuerfreiheit. 

Einen  weitaus  grösseren  fiinfluss  als  der  Enlgang 
dieser  Gelder  hatte  die  Steuerfreiheit  der  Fremden  auf 
das  türkische  Staatsbudget.  ^) 

Diese  hatten  nur  vom  Grundbesitz  gemäss  dem  Ge- 
setz vom  9.  Juni  1868  Abgaben  3)  zu  leisten  und  waren 
sonst  für  jede  direkte  Besteuerung  vollkommen  uner- 
reichbar. 

Unter  solchen  Umständen  war  es  selbstverständlich, 
dass  nur  die  wenigsten  Fremden  daran  dachten,  sich 
durch  Erwerbung  der  türkischen  Staatsangehörigkeit  eines 
solchen  Vorteils  zu  berauben,  wozu  noch  die  Verleihung 
von  Schutzbriefen  kam,  die  den  fremden  Gesandtschaften 
durch  die  späteren  Kapitulationen  zugestanden  worden 
war.  Von  dieser  Vergünstigung  machten  vor  allem  die 
russischen  Behörden  ausgiebigen  Gebrauch  und  ver- 
schafften sich  hierdurch  eine  nicht  zu  unterschätzende 
Einnahmequelle.  Nach  Pellissie  du  Rausas  hätte  Russland 
bereits  im  Jahre  1774  (also  gleich  nach  dem  Frieden  von 
Kutschuck-Kaynardge)  nicht  weniger  als  7  Millionen '^) 
solcher  Schutzgenossen,  meist  Armenier  und  Griechen, 
was  umsomehr  ins  Gewicht  fiel,  als  dies  die  Hauptträger 
des  Levantehandels  waren.  Nach  der  Herstellung  des 
Königreichs  Griechenland  und  nachdem  dieses  am  27.  Mai 
1855  eine  ausführliche  Kapitulation  erhalten  hatte,  be- 
eilten sich  viele  türkische  Untertanen,  sich  als  Griechen 
auszugeben,  so  dass  Griechenland  im  Jahre  1858  allein  in 
Ko^istantinopel  21  000  solcher  „Schutzgenossen"  besass.-^) 

1)  Die  Wertzollüberschüsse  kamen  nach  dem  Muharreindekret 
der  bchuldenverwaltunß  zuj^ute,  die  wie  wir  wissen  ja  hauptsäch- 
lich dem  Einfluss  der  Westmächte  unterlag. 

2)  Wie  bekannt  waren  die  Dragomane,  wenn  auch  später  nur 
in  beschrankter  Anzahl  gleichfalls  von  jeder  Steuer  befreit. 

3)  Siehe  Nor.  Bd.  111,  S   271.  du  Rausas  Bd.  1.  S.  460  ff. 

4)  Siehe  Rausas  Bd.  11  S.  34  ff.  Engelhardt:  La  Turquie  et 
le  Tanzimat  T.  I.  S.  64,  T.  II.  S.  102. 

5)  Siehe  Rausas  Bd.  II.  S.  35.     Vgl.  Lehmann  S.  39. 

^v.J!l  ^'"^"^  Memorandum  vom  14.  XI.  1860  versuchte  Ali  Pascha 
Abhilfe  zu  schaffen.  Nach  Einsetzung  einer  Kommission  zwecks 
Kevision  der  Protektoratsbestimmungen  versandte  die  Türkei  am 
-4.  April  1862  eine  neue  Note,  die  nach  verschiedenen  Unter- 
handlungen zum  Erlass  eines  Reglement  relatif  aux  consulats 
6trangers  vom  23.  August  1863  führte,  das  bis  zur  Aufhebung  der 
Kapitulationen  angewendet  wurde.    (Siehe  Rausas  Bd   II   S   36) 


—     97     — 

Dies  hatte  für  das  osnianische  Reich  neben  der  Ver- 
stopfung einer  bedeutenden  Einnahmequelle  auch  noch 
verschiedene  politische  Nachteile  zur  Folge.  Wie  wir 
bereits  in  der  Geschichte  der  Kapitulationen  ausführten, 
hatten  die  Mächte  hierdurch  ein  willkommenes  Betäti- 
gungsfeld für  die  verschiedenen  Einmischungsversuche  in 
innerstaatliche  Angelegenheitc.i,  indem  sie  sich  auf  ihre 
Protektorsstellung  gegenüber  ihren  Schutzgenossen  be- 
riefen, die  Russland  besonders  nach  der  kirchlichen  Seite 
hiii  auszubauen  trachtete.  Als  Nebenfrucht  fiel  den  Mäch- 
ten hierbei  die  finanzielle  Verarmung  der  Türkei  in  die 
Hände,  die  diese  zwangen,  sich  in  immer  grössere  Ab- 
hängigkeit von  den  kapitalskräftigen  europäischen  Staaten 
zu  begeben.  Denn  unter  den  gegebenen  Umständen 
musste  zweifellos  die  ärmere  Landbevölkerung  die  Haupt- 
steuerlasten tragen,  was  dazu  führte,  dass  in  dem  gegen- 
wärtigen Weltkrieg,  die  Türkei,  die  doch  eigentlich  durch- 
aus Agrarstaat  ist,  nicht  nur  nichts  ausführen  kann,  son- 
dern sogar  auf  die  Einfuhr  angewiesen  ist.  -)  Hiezu 
kommt  noch,  dass  die  fremden  Regierungen  auch  gegen 
jede  Erhöhung  der  indirekten  Steuern  schärfsten  Protest 
erhoben,  oder  sich  die  Erlaubnis  doch  nur  wieder  durch 
andere  Zugeständnisse  abringen  Messen.  So  kam  es, 
dass  die  direkten  Steuern  von  der  türkischen  Bevölkerung 
in  immer  höherem  Masse  eingefordert  werden  mussten, 
während  Zölle  und  indirekte  Abgaben  weit  dahinter  zu- 
rückblieben. Lehmann  beziffert  den  Ertrag  der  türkischen 
direkten  Steuern  für  das  Jahr  1912/13  auf  14  870  381  türk. 
Pfund,  während  die  indirekten  Steuern  nur  692  728  türk, 
Pfund  und  die  Zölle  5  Millionen  Pfund  einbrachten.  -■) 

Wenn  wir  diese  Folgen  zusammenfassend  betrach- 
ten, so  können  wir  leicht  die  andauernde  Verschlechterung 
der  türkischen  Finanzen  verstehen,  die  den  fremden 
Mächten  aber,  wie  bereits  bemerkt,  in  keiner  Weise  un- 
gelegei;  war,  da  sie  hierdurcli  gleichsam  für  ihre  Be- 
aufsichtigung des  türkischen  Staatsschuldenwesens  den 
Schein  eines  Rechts  wahren  konnten.  Besonders  war  es 
die  „Dette  publique",  die  ii;  dieser  Hinsicht  in  Frage 
kommt.  Auf  die  Absichten  der  Mächte  wirft  auch  ein 
bemerkenswertes  Schlaglicht  der  Vorgang  bei  der  Ein- 
führung der  türkischen  Stempelsteuer  vom  Jahre  1894. 
die  der  Türkei  nur  deshalb  zugestanden  wurde,  da  ihr.Er- 

1)  Siehe  Bachems  Staatslexikon  S.  582  V.  Bd. 

2)  Lehmann  S.  40.   Vgl.  auch  Bachems  Staatslexikon  Freiburg 
1912.  Bd.  V.  unter  Türkei. 

7 


—     98     — 

träpiiis,  das  in  die  Dette  publique  flicssen  musste,  von 
den  fremden  Mächten  beaufsichtigt  werden  konnteJ) 
Nebenbei  iiessen  sich  jedoch  die  fremden  Regierungen 
noch  das  Recht  gewähren,  dass  die  Eingaben  der  Frem- 
den an  ihre  Regierungsvertietungen  von  dieser  allgemei- 
nen Stempelsteuer  befreit  sein  sollen.  (Vgl.  hiezu  die 
neuen    deutsch-türkischen    Rechtsverträge.) 

d)  Die  Konsulargerichtsbarkeit. 

Ein  weiteres  ausserordentliches  Hemmnis  für  die 
freie  Fortentwicklung  der  Türkei  bildete  zweifellos  die 
Gerichtsbarkeit  der  fremden  Konsulargerichte.  Trotz  dem 
vielseitigen  Wandel  der  Kapitulationen  im  Laufe  der  Zei- 
ten hat  sich  dieser  Vertragsbestandteil  sowohl  in.  den 
ältesten  als  auch  in  den  neuesten  Abmachungen  mit  der 
Türkei  in  der  ausdrücklichsten  Weise  erhalten,  ja  dieses 
Privileg  wurde  von  Kapitulation  zu  Kapitulation  immer 
mehr  erweitert.  Wie  wir  bereits  in  der  Geschichte  der 
Kapitulationen  hervorhoben,  herrschte  zunächst  bei  den 
meisten  Völkern  das  Personalitätsprinzip,  das  erst  nach 
der  Ausbreitung  der  monarchischen  Machtbefugnisse  und 
dern  Beginne  einer  durch  Gesetze  geregelten  Rechtspre- 
chung allmählich  dem  Territorialitätsprinzip  Platz  machen 
musste,  d.  h.  jeder,  der  sich  in  dem  betreffenden  Lande 
aufhielt,  musste  sich  auch  seinen  Landesgesetzen  unter- 
werfen. 

Ganz  andere  Verhältnisse  als  im  Okzident,  bildeten 
sich  jedoch  im  Orient  heraus.  Zunächst  waren  hier  die 
Konsuln  nur  Handelsrichter  (consul  d'outre  mehr,  ä 
l'etranger),  deren  Machtbefugnisse  sich  jedoch  durch 
eine  immer  weitergehende  Verv»  ertung  des  Personalität->- 
prinzips  auch  dementsprechend  ausdehnten.  (Vgl.  Inhalt 
L  Teil.)  Sie  verstanden  es,  sich  allmählich  auf  Grund 
der  dehnbaren  Kapitulationsbestimmungen  eine  Stellung 
zu  schaffen,  die  zumindest  derjenigen  eines  Gesandten 
nichts  nachgab.  Waren  sie  zu  Beg-inn  ihres  Aufstiegs  nur 
von  einzelnen  Handelsstädten  ernannt  und  geschützt,  so 
übernahmen  doch  bald  die  Fürsten  das  Ernennungsrecht, 
da  sie  den  Nutzen  der  orientalischen  Handelsbeziehungen 
womöglichst  selbst  geniessen  wollten.  Dieser  Streit  zui- 
schen  Stadt  und  Staat  hat,  wie  wir  gesehen  haben,  oft 

1)  Ueber  die  Dette  publique  siehe  Heidborn  Finances  Bd.  II. 
S.  235  fr  Die  Verwaltung  derselben  besteht  seit  dem  Jahre  1878 
'türkischer  Staatsbankrott)  unter  der  Beteilijjung  Englands,  Deutsch- 
lands, Frankreichs,  Italiens  und  Oesterreichs. 


—     99     — 

zu  ziemlich  heftigen  Auseinandersetzungen  Anlass  ge- 
geben. Jedenfalls  konnten  jedoch  die  einzelnen  Monar- 
chen bei  ihren  Unterhandlungen  mit  der  Pforte  eine  weit- 
aus grössere  Macht,  unterstützt  durch  gewiegte  Diplo- 
maten, in  die  Wagschale  werfen  und  so  baute  sich  dieses 
ungeheure  Vorrechtssystem  auf,  wie  wir  es  bereits  im 
I.  Teil  eingehend  entwickelt  haben,  ein  System,  das  un- 
bedingt zum  Zusammenbruch  verurteilt  war,  sobald  der 
so  bedrängte  Staat  für  sein  Unternehmen  nur  die  ge- 
ringste  Aussicht   auf    trfolg   hatte. 

In  der  auf  Seite  85  angeführten  türkischen  Note  vom 
9.  September  1914  besprach  der  türkische  .Minister  des 
Aeussern  insbesondere  die  schädlichen  Folgen  dieser  Ver- 
günstigung. Bei  der  Betrachtung  der  verschiedenen 
Kapitulationen  konnten  wir  immer  wieder  die  Einmi- 
schung dei  Fremden  in  die  türkische  Gerichtsbarkeit  be- 
obachten, die  sich  aber  ins  Unerträgliche  steigern  musste, 
wenn  die  Türken  den  gefährlichsten  Verbrecher  nur  des- 
halb entweichen  zu  lassen  gezwungen  waren,  weil  er  ein 
Fremder  war.  Grosse  Nachteile  für  einen  türkischen 
Kläger  brachte  auch  der  mittelalterliche  Grundsatz  „Actor 
sequitur  forum  rei"  mit  sich,  da  er  hierdurch  gezwungen 
sein  konnte,  wegen  ein  und  desselben  Rechtsfalles  die 
verschiedensten  Konsulargerichte  anzugehen  und  dem- 
entsprechend verschiedene  Entscheidungen  entgegenzu- 
nehmen. (Siehe  die  türkische  Note:  ,,le  fait  enfin  que 
suivant  la  nationalite  des  contractants  un  diffcrend,  ne 
d'un  merne  contract,  comporte  un  for  et  un  mode  de 
proceder  differents.'')  i)  Hierzu  kam  noch  die  Stellung 
der  Dragomane,  die,  wie  bekannt,  jedem  Prozesse  gegen 
einen  Fremden,  der  vor  einem  türkischen  Gerichte  zur 
Verhandlung  kam,  beiwohnenmussten  und  von  welchem 
Rechte  der  ausgiebigste  Missbrauch  in  einer  Weise  ge- 
trieben wurde,  dass  die  Pforte  fast  in  allen  späteren 
Kapitulationen  darauf  dringt,  dass  in  dieser  Hinsicht  Ab- 
hilfe geschaffen  werde.  Besonders  schwer  litt  die  Türkei 
immer  unter  dem  Zwange,  ihre  Gesetzgebung  den  frem- 
den Gesetzen  anpassen  zu  müssen,  wollte  sie  nicht  unend- 
liche Konflikte  und  Reibungen  heraufbeschwören.  Pel- 
lissie  du  Rausas  führt  hierfür  einige  treffende  Beispiele 
an.     Nach    welchem    Gesetze    müsste    man    entscheiden. 


1)  Vgl.  Lehmann  S.  31.  Im  Jahre  1820  versuchten  die  Mächte 
England,  Frankreich  und  Rußland  gemischte  richterliche  Ausschüsse 
einzuführen,  1864  entschied  jedoch  der  Cour  d'Appel  in  Ai.\,  dass 
diese  Entscheidungen  iür  Frankreich  nicht  bindend  seien  und  so- 
mit blieb  es  wieder  bei  dem  Grundsatze  Actor  sequitur  forum  rei. 


—    100   — 

wenn  ein  Franzose  mit  einem  Türken  einen  Vertrag  abge- 
schlossen hatte ?  Käme  da  das  f.an/ösische  oder  das  tür- 
kische Gesetz  in  Betracht?'*  (^der  eiii  Engländer  begeht 
einen  unerlaubten  und  schädlichen  Akt  gegen  einen  Tür- 
ken. Es  entsteht  nun  die  Frage,  ist  diese  Handlung 
überhaupt  strafbar  und  wenn,  nach  welchem  Gesetze?^) 
Da  diese  Frage  in  keiner  der  Kapitulationen  genauer  be- 
sprochen worden  war,  führte  sie  zu  vielen  Auseinander- 
setzungen mit  der  Türkei,  bis  im  Jahre  1857  (28.  No- 
\ember)  der  französische  Kassationsgerichtshof  aus  An- 
lass  eines  französischen  Prozesjres  die  bemerkenswerte 
Entscheidung  fällte,  dass,  wenn  ein  einem  Franzosen 
zur  Last  gelegtes  Vergehen  eine  Uebertretung  der  Gesetze 
der  Polizei  und  der  Sicherheit  des  ottomanischen  Reiches 
darstellt,  dieses  Vergehen  mit  inbegriffen  sein  soll  in 
der  Zuständigkeit  der  türkischen  Gerichte,  welche  ge- 
mäss dem  türkischen   Recht   urteilen   sollten.  -) 

Wir  können  kurz  zusammenfassend  sagen,  dass  alle 
zivilrechtlichen  Streitigkeiten  zwischen  Türken  und  Frem- 
den nach  den  ottomanischen  Gesetzen  behandelt  werden 
sollten,  ^)  welches  Zugeständnis  aber  durch  die  not- 
wendige Zuziehung  von  Dragomanen  ziemlich  entwertet 
wurde.  Hierzu  kam  noch  der  Umstand  der  ausge- 
breiteten Protektoratsherrschaften  der  einzelnen  fremden 
Konsuln,  durch  die  es  ihnen  gelang,  den  Kreis  der  ihrer 
Jurisdiktionsgewalt  Unterworfenen  erheblich  zu  erwei- 
tern. 

Die  Türkei  musste  auf  diese  Weise  jahrhundertelang 
in  ihrem  eigenen  Staate  die  \  erschiedensten  Staaten  ihre 
Residenzen  aufschlagen  sehen,  die  in  vollständigem  Wi- 
derspruch mit  dem  Grundsätze:  „Locus  regit  actum" 
Souveränitätsiechte  des  türkischen  Staates  sich  selbst 
anmassten. 

Wenn  dies  auch  zu  Beginn  des  Kapitulationensystems 
hinsichtlich  der  damals  ausgebildeten  territorialen  Sou- 
veiänität  nicht  so  sehr  ins  Gewicht  fiel,  so  steigerte  es  sich 
doch  für  ein  modernes  Staatswesen  zu  einem  unhaltbaren 
Zustande,  umsomehr  als  auch  der  Machtbereich  der  frem- 
den Konsuln  vielfach  durch  türkische  Nachgiebigkeit  sich 
immer  weiter  ausdehnte.  Genossen  diese  doch  neben 
ihrer  Stellung  als  oberste  Gerichtsbehörde  ihrer  Lands- 

1)  Du  Rausas  Bd.  I.  S.  422. 

2)  Siehe  Rausas  Bd.  i.  S.  426. 

3)  Ueber    die    türkischen    Gesetze   siehe    Abschnitt  über  Re- 
formen der  Türkei. 


! 


—     101     — 

leute  noch  die  weitß^ehendsten  persönlichen  Rechte,  die 
sie  geschickt  zum  Nachteil  eines  türkischen  Klägfers  aus- 
zunutzen verstanden.  Bereits  in  der  Gesichte  der  Kapi- 
tulationen haben  wir  auf  die  grossen  Nachteile  hinge- 
wiesen, die  sich  für  den  türkischen  Kaufmann  dadurch 
ergeben  konnten,  dass  sein  ausländischer  Schuldner  ohne 
weiteres  auf  Bürgschaft  seines  Konsuls  das  Land  ver- 
lassen konnte,  wobei  sich  aber  der  türkische  Gläubiger 
nur  schwer  an  den  letzteren  halten  konnte.  (Vgl.  Teil  I 
S.  46  Kapitulationen   von    1740,   Art.   48.) 

Martens  hat  wiederholt  betont,  dass  die  richter- 
lichen Befugnisse  der  Konsuln  nicht  als  Privilegien  an- 
gesehen werden  dürfen,  die  man  Europäern  erteilt,  da- 
mit sie  ungestraft  Verbrechen  begehen  und  die  Ein- 
geborenen und  Landesregierungen  ausbeuten  (exploi- 
tieren)  könnten.  Dem  Rechte  der  Konsulariurisdiktion 
entspricht  die  Pflicht,  die  Konsulargerichte  unverzüglich 
in  einer  der  Forderungen  der  Rechtsordnung  entspre- 
chenden Weise  zu  organisieren.  ^) 

Gewiss  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  auch 
die  Türkei  sich  mannigfache  Uebcrgriffe  zuschulden  kom- 
men Hess,  die  nicht  nur  in  der  Erpressung  eines  Blut- 
zolls (prix  du  sang),  sondern  auch  sehr  oft  in  Misshand- 
lungen zum  Ausdruck  kamen.  Die  Erhebung  von  Geld- 
summen ausserhalb  jedes  Gesetzes  wurden  in  verschiede- 
nen Fällen  durch  Gefangensetzung  angesehener  Personen 
bewerkstelligt,  und  Pellissie  du  Rausas  erwähnt  eine 
ganze  Reihe  derartiger  Fälle,  wobei  er  sich  auf  eine  an- 
geblich sehr  authentische  Quelle  beruft.  -) 

Auch  Martens  erwähnt,  dass  das' Los  der  fremden 
Konsuln  in  den  türkischen  Staatsgebieten,  insbesondere 
in  Algier,  trotz  der  grossartigen  Zusicherungen  oft  kein 
besonders  beneidenswertes  war  Dieser  ausgezeichnete 
Kenner  der  orientalischen  Verhältnisse  sagt  aber  in  sei- 
nem gleichen  Werke,  und  diesem  Umstände  mag  das 
scharfe  Vorgehen  der  türkischen  Behörden  oft  zu  ver- 
danken gewesen  sein,  dass  „die  französischen  Konsuln 
im  Orient  bei  weitem  nicht  den  hohen  Anforderungen 
entsprachen,  welche  die  betrachteten  völkerrechtlichen 
Urkunden  und  die  damals  zwischen  Frankreich  und  der 
Türkei  bestehenden.  Beziehungen  an  sie  stellten*'.  ^')    Um 

1)  Vgl.  Ulimann  1908  S.  226.  Anm.  2  u.  F.  v.  Martens:  Das 
internationale  Recht  der  zivilisierten  Völker  (deutsche  Ausg.  von 
K.  Bergbohm  2  Bände  1886)  Bd.  II.  S.  92  und  96, 

2)  Näheres  siehe  Rausas  Bd.  I.  S.  132. 

3)  Siehe  Martens  S.  207. 


—     102    — 

diescni  schon  fast  zu  einem  l'nwesen  gewordenen  Trei- 
ben der  fremden  Vertretlinnen  /u  steuern,  beschäftigte 
sich  im  Jiihre  1881  das  Institut  für  internationales  Recht 
«.•ingehend  mit  dieser  Krage  und  nahm  folgende  vom  Pe- 
tersburger Völkerrechtslehrcr  von  Martens  vorgeschla- 
gene Resolution  an : 

1.  „Die  gegenwärtige  im  Verfahren  bei  gemischten 
Pro/essen  befolgte  Praxis  ist  unwürdig  der  zivi- 
lisierten Mächte  und  den  gesetzlichen  Interessen 
ihrer  im  Orient  wohnhaften  Angehörigen  im  höch- 
sten  Grade   schädlich.  ^ 

2.  Die  Exterritorialität  der  aus  christlichen  Staaten 
entstammenden  Bewohner  orientalischer  Gebiete 
ist  nicht  nur  ein  Privileg  und  ein  Recht,  sondern 
sie  begründen  auch  eine  Pflicht."  i) 

Aber  gerade  an  diese  Pflicht,  die  doch  eigentlich  nur 
eine  Folge  der  Gegenseitigkeit  hätte  sein  müssen,  ver- 
gassen  die  Fremden  nur  zu  gern,  was  in  gleichem  Masse 
sowohl  auf  die  Ausübung  der  Gerichtsbarkeit,  als  auch 
auf  die   Ausnutzung   der   Exterritorialität  zutraf. 

e)   Die  Exterritorialität. 

Schon  seit  dem  17.  Jahrhundert  genossen  die  in  der 
Türkei  lebenden  Ausländer  unter  dem  Schutze  der  Kapi- 
tulationen eine  an  Exterritorialität  grenzende  Freiheit  und 
waren  fast  vollständig  der  Rechts-  und  Polizeihoheit  des 
Reiches  entzogen.  -)  Zunächst  einmal  sind  die  Konsuhi 
in  der  Türkei  wie  in  der  Levante  den  Gesandten  gleich- 
gestellt und  besitzen  durch  ihre  weitgehenden  Einmi- 
schungsbefugnisse oft  sogar  noch  grösseren  Einfluss. 

Für  Preussen  bestimmte  z.  B.  das  Gesetz  vom  29. 
Juni  1865,  für  Deutschland  das  Gesetz  vom  10.  Juli  1879, 
dass  die  deutschen  Konsuln  die  Vorrechte  der  diploma- 
tischen Gesandten  geniessen  sollten.  Wenn  wir  hier  von 
Exterritorialität  sprechen,  so  wenden  wir  diesen  Aus- 
druck in  seiner  völkerrechtlichen  Bedeutung  vor  allem 
auf  die  Konsuln  an,  die  ja  gemäss  den  Kapitulationen 
Befreiung  von  der  Gerichtsbarkeit,  Abgabenfreiheit  (wo- 
zu noch  die  Zollfreiheit  für  Gegenstände  ihres  eigenen 
Bedarfs  kam,   siehe    Inhalt   Teil    I),   Lokalimmunität  und 

1)  Annuaire  de  l'lnstitut  de  droit  international  1877  ff.  Bd.  IV. 
S.  233  ff.  Dem  immer  melir  überfiandnehmenden  Handel  mit 
Konsularämtern,  die  wegen  ihrer  reicfien  Erträgnisse  sehr  gesucht 
waren  suchte  die  unter  Mitwirkung  Colberts  erlassene  „Ordonnance 
de  la  Marine"  v.  Aug.  1881  zu  steuern.     (Vgl.  Rausas  Bd.  1). 

2)  Vgl.  auch  Bachems  Staatslexikon  Bd.  V.  S.  551. 


—     103     — 

Quartierfreilieit,  i)  ferner  Befreiung  von  der  Polizeige- 
walt genossen,  welche  Rechte  auch  in  den  neuen  deutsch- 
türkischen Verträgen  vom  11.  Januar  1Q17  /um  Teil  bei- 
behalten   wurden. 

Wenn  wir  die  Konsuln  als  Repräsentanten  der  Re- 
gicrungsgewalt  eines  Absendestaates  ansehen  und  ihnen 
dementsprechend  die  Exterritorialität  zusprechen  könn- 
ten, so  gilt  dies  doch  kaum  von  den  Fremden  schlechthin. 

Wie  wir  bereits  an  anderer  Stelle  hervorhoben, 
war  die  territoriale  Souveränität  der  Türkei  durch  lang- 
jährige Gewohnheit  und  du!ch  die  verschiedenen  Ver- 
träge immer  mehr  zu  Gunsten  der  Fremden  geschmälert 
geworden  und  auf  dieser  Sonderstellung  gegenüber  jeg- 
licher territorialen  türkischen  Gewalt  beruht  wohl  auch 
das  Privilegiensystem  der  Fremden,  für  das  wir  zum 
Unterschiede  von  der  diplomatischen  Exterritorialität 
wohl  am  besten  mit  Bonfils-Grah  ~)  den  Ausdruck"  „Un- 
verletzlichkeit'' anwenden.  Dass  die  türkische  Macht- 
sphäre trotz  aller  gegenteiligen  Versicherungen  der  Ka- 
pitulationen tatsächlich  ausserordentlich  zugunsten  der 
einzelnen  Konsulatsbezirke  beschränkt  war,  erhellt  zu- 
mindest aus  der  Befreiung  aller  Fremden  von  dem  be- 
deutsamen Hoheitsrechte,  der  inländischen  Gerichtsbar- 
keit. 3)  (Siehe  den  in  dieser  Beziehung  besonders  deut- 
lichen §  1  des  deutschen  Konsulargerichtsgesetzes  vom 
7.  April  1900.) 

Eine  genaue  Definition  des  Begriffes  „Exterritoria- 
lität** ist  nur  schwer  zu  geben.  Man  könnte  vielleicht 
den  Begriff,  wie  dies  ähnlich  v,  Frank  tut,  in  den  ein- 
fachen Satz  fassen,  dass  derjenige  exterritorial  sei,  der 
den  Behörden  des  Empfangsstaates  nicht  unterworfen 
ist.  4) 

Für  das  türkische  Staatswesen  selbst  bildeten  all 
diese  Bestimmungen  eine  Fülle  von  Verlusten  und  Schä- 

1)  Diese  letztere  erstreckte  sich  jedoch  nicht  auf  Grundstücke 
gemäss  dem  türkischen  Gesetz  vom  10.  Juni  1867  (68).  In  den 
neuen  deutsch-türkischen  Rechtsverträgen  wurden  die  zu  amtlichen 
Zwecken  oder  zu  Wohnzwecken  von  Konsularbeamten  benutzten 
Gebäulichkeiten  hiervon  allgemein  ausgenommen. 

2)  Bonfils-Grah  Völkerrecht  1904. 

3)  Im  merkwürdigen  Gegensatz  hiezu  steht  von  Grünau:  Die 
Staats-  und  völkerrechtliche  Stellung  Aegyptens. 

4)  Wie  dem  auch  sei,  so  können  wir  nach  den  Erfahrungen 
dieses  Weltkrieges  die  sichernde  Kraft  all  dieser  Zugeständnisse 
nur  als  sehr  schwankend  betrachten  und  wird  es  vor  allem  zu 
deren  Wahrung  auf  die  Gewalt  und  das  Ansehen  des  Absende- 
staates ankommen. 


—      104     — 

den,  da  die  Türkei  hierdurch  für  die  kühnsten  Aben- 
teurer zu  einem  willkommenen  Absteigequartier  gemacht 
wurde. 

Im  übrij^eii  machten  sich  die  Fremden  durchaus  kein 
liewissen  daraus,  die  Bestimmungen  der  Kapitulationen 
ganz  nach  ihrem  Belieben  auszudehnen  und  anzuwenden, 
gerade  wie  es  ihnen  den  grössten  Nutzen  einbrachte. 

Gegen  dieses  unverantwortliche  Treiben  erhob  die 
Pforte  in  ihrem  „Memoire  -adresse  par  la  Sublime  Porte 
aux  reprcsentants  des  puissances  etrangcres  rclatif  aux 
Capitulaticjns"  vom  7,  Juli  1S69  entschiedenen  Ein- 
spruch, 1) 

Nach  einer  kurzen  Einleitung,  worin  betont  wird, 
dass  die  Kapitulationen  ebenso  wie  die  darauf  folgenden 
Verträge  mit  den  fremden  Mächten  genau  eingehalten 
werden  müssten,  fährt  die  Denkschrift  fort:  „Es  ist 
dennoch  bekannt,  dass  man  in  der  l^raxis  ihnen  (d.  h. 
den  Kapitulationen)  eine  Elastizität  gibt,  die  sie  nicht  zoi- 
lassen,  und  dass  neben  den  schon  eine  Ausnahme  bilden- 
den bewilligten  Privilegien,  durch  solche  Handlungen 
offenbare  Missbräuche  (des  abus  manifestes)  bestehen, 
die  zu  endlosen  Schwierigkeiten  führen  (qui  occasiennent 
des  difficultes  incessantes).  Es  wird  genügen,  diese 
Missbräuche  anzudeuten,  damit  alle  Welt  einsieht,  dass 
es  der  kaiserlichen  Regierung  unnjöglich  sein  würde,  sie 
länger  zu  ertragen." 

Die  Kundgebung  fährt  dann  fort,  dass  die  kaiserliche 
Regierung  Anweisung  geben  w  erde,  dass  zwar  die  in  den 
Kapitulationen  enthaltenen  Bestimmungen  genau  einge- 
halten, aber  jede  Ueberschreitung  der  Grenzen  „des  Pri- 
vileges consacres"  und  „jede  Verletzung  der  souveränen 
und  unverjährbaren  Rechte  S.  M.  des  Sultans  zurück- 
gewiesen   werden    sollen**.-) 

Im  übrigen  entwickelt  dieses  Memoir  dann  ver- 
schiedene Grundsätze,  von  denen  insbesondere  hervor- 
zuheben sind  :  Allgemeines  Landesrecht  ist  das  türkische, 
da  die  Fremden,  wenn  sie  den  Schutz  der  türkischen  Ge- 
setze geniessen  wollen,  auch  die  Verpflichtung  haben, 
sich  diesen  Gesetzen  zu  unterwerfen;  die  Jurisdiktions- 
gevvalt  ist  eine  Ausnahme  dieses  gemeinen  Rechts.  Die 
Türkei    schlug    vor,    dass    zur    Vermeidung   von    Schädi- 

1)  Siehe.  Rausas  Bd.  I.  S.  222. 

2)  Bemerkenswert  ist  hier  wieder  die  Betonung  der  „be- 
willigten Privilegien"  woraus  wir  von  Neuem  das  zähe  Festhalten 
der  Türkei  an  der  Privilegiennatur  der  Kapitulationen  erkennen 
können. 


—     105     — 

guiigen  alle  Fremden  einer  doppelten  Jurisdiktion  unter- 
worfen sein  sollen :  Für  Streitigkeiten  unter  Fremden 
ist  die  KoMSulariurisdiktion,  für  Streitigkeiten  /.wischen 
Fremden  und  Türken  die  lokale  Behörde  zuständig.  Je- 
denfalls darf  den  Fremden  Befreiung  von  der  inländischen 
üerichtsbarkeit  nur  dann  zugestanden  werden,  wenn  ein 
förmlicher  Text  (une  texte  formale)  ihnen  dies  zu- 
spricht. 1)  (Vgl.  Kapitel  der  Aufhebungsbestrebungen 
der  Türkei.) 

Ich  führe  dieses  Dokument  nur  deshalb  an,  weil  es 
ein  überaus  bezeichnendes  Schlaglicht  auf  das  Gebaren 
der  fremden  Mächte  in  der  1  ürkei  wirft.  Man  kann  aus 
dem  ziemlich  energischen  Tone  dieser  Denkschrift  er- 
sehen, wie  sehr  die  Mächte  es  verstanden  hatten,  Mass- 
nahmen, die  einst  einem  halbzivilisierten  Staate  gegen- 
über von  grossem  Segen  für  die  Fremden  waren,  zu 
überaus  drückenden  Fesseln  für  ein  aufstrebendes,  mo- 
dernes  Staatswesen    zu   schmieden. 

Auf  die  verschiedenen  Versuche  der  Türkei,  sich  von 
diesen  Lasten,  insbesondere  von  der  Dragomanenassi- 
stenz  zu  befreien,  werden  wir  noch  später  zurückzu- 
kommen haben. 

f)  Die  Postprivilegien. 

Zum  Schlüsse  wäre  noch  das  Recht  der  christlich- 
europäischen Staaten  zu  erwähnen,  in  den  türkischen  Ge- 
bieten ihre  eigenen  Postämter  zu  unterhalten,  welches 
Privileg  den  fremden  Regierungen  zwar  nicht  direkt 
durch  die  Kapitulationen  zugestanden  worden  war,  aber 
sich  doch  als  eine  Folge  der  allmächtigen  Stellung  der 
fremden  Staaten  in  der  Türkei  herausbildete. 

Wenn  wir  bedenken,  dass  die  gesamte  umfangreiche 
Handelspost  und  auch  die  meiste  sonstige  Korrespondenz 
durch  diese  ausländischen  Posteinrichtungen  ging,  so 
können  wir  dementsprechend  den  Verlust  des  türkischen 
Staates   als   ziemlich   hoch   einschätzen.  -) 

III.  Kapitel. 

Die  Abschaffungsbestrebungen  der  Türkei,  deren 
Wirkungen   und   Erfolge. 

Wenn  wir  von  Versuchen  im  allgemeinen  sprechen, 
so   haben   diese   in   der  Türkei   eigentlich   zu   dem  Zeit- 

1)  Vgl.  Rausas  Bd.  I.  S.  223  ff. 

2)  Vgl.  Rausas  Bd.  I.  S.  427  ff  und  die  Aufhebungsbestrebungen 
der  Türkei,  (z.  B.  Oesterreishisch-türkische  Konvention  über  Bos- 
nien vom  26.  II.  1909.) 


—     1(6     — 

punkte  begonnen,  da  das  türkische  Rechtsleben  so  weit 
^rcdiehen  war,  dass  es  all  die  Schranken  und  Fesseln  deut- 
lich erkannte,  die  ein  Verband  von  mächtigen  Staaten  ihm 
auicrlegt  hatte.  Nach  den  Schilderungen,  die  wir  sowohl 
in  der  üescnichte  der  Kapitulationen,  als  in  der  Be- 
schreibung der  Wirkung  derselben,  zu  geben  Gelegenheit 
hatten,  kann  es  uns  heutzutage  durchaus  nicht  Wunder 
nehmen,  dass  einen  wesentlichen  Grundzug  der  Politik 
jedes  wirkliehen  türkischen  Staatsmannes  das  Bestreben 
nach  Abschaffung  oder  wenigstens  Milderung  dieser  ver- 
alteten Bestimmungen  bilden  musste. 

Wenn  auch  erst  die  Bemühungen  des  jetzigen  tür- 
kischen Grossvezirs  Talaat-Pascha  von  endgültigem  Er- 
folge gekrönt  sein  sollten,  ind^m  es  ihm  gelang,  wenig- 
stens den  Block  der  Zentralniächte  für  seine  Anschau- 
ungen zu  gewinnen,  so  können  wir  doch  bereits  im 
19.,  ja  sogar  schon  im  18.  Jahrhundert  ähnliche  türkische 
Aspirationen   beobachien.  i) 

Aber  auch  die  damals  an  der  Türkei  interessierten 
Mächte  begannen  allmählich  zu  erkennen,  dass  ein  auf- 
strebendes Volk  auf  die  Dauer  eine  derart  jede  innere 
Entwicklung  hemmende  Einrichtung,  wie  sie  die  Kapitula- 
tinoen,  insbesondere  in  ihrer  rücksichtslosen  Anwen- 
dungsweise darstellten,  nicht  gutwillig  ertragen  werde 
und  versuchten,  'die  türkische  öffentliche  Meinung  zunächst 
durch  verschiedene  Zusicherungen   zu  besänftigen. 

Im  14.  Protokoll  des  Pariser  Vertrages  vom  25.  März 
1856  erklärten  die  Mächte,  „dass  die  Kapitulationen  einer 
Situation  entsprechen,  welcher  der  Friedensvertrag  not- 
wendigerweise ein  Ende  zu  setzen  bestrebt  sein  muss, 
und  dass  die  Privilegien,  welche  jene  den  Personen  vcr- 
tragsmässig  zugestehen,  die  Autorität  der  Pforte  in  be- 
dauernswerte   Grenzen    einschränke".  -) 

Ali-Pascha  trat  in  dieser  Sitzung  auch  ziemlich  ener- 
gisch auf  und  erklärte  unumwunden,  dass  die  Kapitula- 
tionen den  Fremden  bezüglich  ihrer  eigenen  Sicherheit 
und  der  Entwicklung  ihrer  Geschäfte  schaden,  da  die 
vermittelnde  Macht  der  lokalen  Behörden  durch  sie  ge- 
hemmt werde  und  dass  die  lurisdiktionsgewalt,  mit  der 
die  fremden  Agenten  ihre  Landsleute  beschützen,  „con- 
stitue  une  multiplicite  de  gouvernements  dans  le  Gou- 
vernement, et  par  consequant  un  obstacle  infranchissable 

1)  Vgl.  Anhang:  die  Meerengenfrage. 

2)  Noradounghian  Bd.  III.  S.  38:  M.  le  Baron  de  Bourqueney 
et  les  autres  Plenipotentiaires  avec  lui   reconnaissent 


—     107     — 

k  toutes  les  ameliorations".  Im  Pariser  Frieden  vom 
30.  März  1856  ^)  wurde  'die  Türkei  endgültig  in  den 
Verband  der  europäischen  Mächte  aufgenommen.  Im 
7.  Artikel  dieses  Vertrages  erklärten  die  Vertragsschlies- 
senden PaVteien  -) :  „der  hohen  Pforte  wird  gestattet,  an 
den  Vorteilen  des  Völkerrechts  und  des  europäischen 
Konzerns  teilzunehmen".  Es  wäre  nun  selbstverständ- 
lich gewesen,  dass  dieser  Vertrag  (d.  h.  die  Aufnahme 
der  Türkei  in  die  Gemeinschaft  des  bis  dahin  christlichen 
Völkerrechts)  mit  einem  Festhielten  an  den  Kapitulationen, 
die  doch  oft  gegen  die  wichtigsten  Souveränitätsrechte 
verstiessen,  als  unvereinbar  hätte  angesehen  werden  müs- 
sen. Wider  Erv/arten  blieb  jedoch  zunächst  die  Fieor- 
ganisation  der  türkischen  Verwaltung,  in  deren  Erwartung 
obiger  Schritt  getan  wurde,  aus  und  dementsprechend 
wurden  auch  'die   Kapitulationen   nicht  beseitigt.  ') 

Jedenfalls  hatten  aber  'die'Mächte,  wenn  auch  sicher- 
lich gegen  ihren  Willen,  dazu  beigetragen,  dass  die 
Forderungen  der  Türken  eine  Unterlage  erhielten,  auf 
die  sie  sich  bei  einer  geschickten  Ausnützung  der  Lage 
stützen  konnten.  Den  ersten  erfolgreichen  Schritt  tat 
die  Pforte  im  "Jahre  1860  gegenüber  dem  stark  überhand- 
nehmenden Protektoratsunfug  der  Mächte  im  osmani- 
schen  Reiche.  Wie  wir  im  vorigen  Kapitel  ausführten, 
waren  die  Ausschreitungen,  die  auf  diesem  Gebiete  von 
Seiten  der  fremden  Konsulate  begangen  wurden,  für  das 
türkische  Staatswesen  ausserordentlich  drückend,  und 
dies  umsomehr,  da  die  Türkei  sich  durch  den  Erlass  des 
inj  Art.  'Q  des  Pariser  Vertrages  vom  30.  März  1856'') 
angekündigten  kaiserlichen  Firmans  (Hatti  humaiun,  vgl. 
türkische  Reformen  weiter  unten)  vom  18.  Februar  1856 
in  Europa  einer  bedeutend  höheren  Wertschätzung 
erfreute.  •'')  Diese  der  Türkei  augenblicklich  günstige 
Lage  nützte  Ali  Pascha  sogleich  aus  und  versandte  am 
14.' September  1860  ein  langes  Memorandum  an  die 
fremden  Gesandtschaften,  worin  er  verschiedene  Vor- 
schläge zur  Beseitigung  dieser  Protektoratsbestimmungen 
vorschlug.  ^)     Die  Bestimmungen,  deren  Festsetzung  ge- 

1)  Noradounghian  Bd.  111,  S.  70.  Die  deutsche  Uebersetzung 
siehe  auch  bei  Liszt  Völkerrecht  1915  Anhang. 

2)  Dieselben  waren  Frankreich,  Oesterreich,  Grossbritanien, 
Preussen,  Russland  und  Sarrdinien. 

3)  Vgl.  Liszt  Völkerrecht  S.  130. 

4)  Vergl.  Anhang  Meerengenfrage. 

5)  Nor.  III  S.  83. 

6)  Rausas  II.  S.  36 

Den  Text  siehe  Archives  diplomatiques  T.  I.  S.  157. 


—     108    — 

fordert  wurde,  waren  überaus  streng  und  hätten  für 
(kn  Fall  ihrer  Durchführung  eine  gründliche  Wandlung 
der  Verhältnisse  geschaffen.  So  forderte  die  Pforte  bei- 
spielsweise, „dass  alle  Angelegenheiten,  die  die  neuen 
Protegierten  \or  ihrem  Nationalitätswechsel  verpflichtet 
hatten,  nach  den  türkischen  Gesetzen  beurteilt  werden 
sollten,  dass  sie  kein  Erbrecht  gegenüber  ihren  türki- 
schen Eitern  besitzen  und  dass  sie  verpflichtet  sein 
sollten,  das  türkische  Reich  3  Monate  nach  ihrer  Er- 
klärung, dass  sie  sich  entnaluralisieren,  zu  verlassen. 
Ihre  unbewegliche  Habe  müssen  sie  ohne  Verzug  ver- 
äussern, können  aber,  falls  dies  ihnen  während  der 
3  Monate  unmöglich  sein  sollte,  für  ihre  Angelegenheiten 
einen  Türken  als  Sachwalter  bestellen.  Unter. das  so- 
fortige Auswanderungsgebot  fallen  sowohl  der  zu  einer 
anderen  Nation  Uebergetretene  als  auch  dessen  gesamte 
Familie  mit  Ausnahme  der  bereits  grossjährigen  Kinder, 
denen  die  Wahl  zwischen  der  Heimat  und  dem  Ausland 
offen  stehen  soll.  In  dieser  Hinsicht  duldet  die  Türkei 
keine  wie  immer  geartete  Einmischung  von  Fremden. 
Sollten  die  Protegierten  dennoch  im  Lande  bleiben  wol- 
len, so  wird  sie  die  Türkei  genau  so  wie  ihre  eigenen 
Untertanen  behandeln  und  bleiben  sie  demnach  voll- 
kommen  den   einheimischen   Gesetzen   unterworfen,** 

Wären  diese  Bestimmungen  in  dieser  Weise  von  den 
Mächten  anerkannt  worden,  so  hätte  das  Protektoratsun- 
wesen zweifellos  sein  Ende  gefunden.  Wie  wir  jedoch  aus 
den  bisherigen  'Ausführungen  ersehen  konnten,  lag  nichts 
ferner  dem  Interesse  der  Mächte,  als  sich  eines  ebenso 
verwertbaren  als  einträglichen  Privilegs  zu  berauben,  und 
Pellissie  du  Rausas  nennt  da;»  Vorgehen  der  Türken 
jkurzum  eine  „Drohung",  jedenfalls  gelang  es  der  Pforte, 
die  Zustimmung  der  Mächte  zur  Einsetzung  einer  ge- 
mischten Kommission  zu  erlangen,  deren  Aufgabe  die 
Revision    der    Pj-otejktoratsbestimmungeii    sein    sollte.' 

Durch  dieses  Entgegenkornmen  der  Mächte  fühlte 
sich  die  Türkei  soweit  ermutigt,  dass  sie  am  24.  April 
1862  mit  einem  ziemlich  deutlich  gehaltenen  Zirkular 
neuerdings  an  die  Mächte  herantrat.  Sie  wies  in  dem- 
selben ohne  Umschweife  auf  die  irrige  Ausdehnung  der 
Protektoratsprivilegien  hin,  was  zu  dauernden  unlieb- 
samen Auseinandersetzungen  zwischen  den  Mächten  und 
der  Pforte  führen  müsse.  Da  die  einzelnen  Staaten 
dieser  Note  der  Pforte  eine  gün.-tige  Aufnahme  bereiteten, 
ging  dieselbe  daran,  eine  neue  Regelung  der  schwebenden 
Fragen   auszuarbeiten,   und   erliess   ein  Jahr  später,   am 


—     109     — 

9.  August  1863,  das  RegltMiient  relatif  aux  consulate 
etrangers,  das  bis  zur  Aufhebung  der  Kapitulationen  in 
Geltung  blieb.  Der  wesentliche  Qrundzug  dieses  Regle- 
ments bestand  darin,  dass  niemand  unter  fremde  Pro- 
tektoratshoheit treten  könne,  es  sei  denn,  dass  er  regel- 
recht im  Dienste  eines  tremden  Konsulats  oder  einer 
fremden  religiösen  Einrichtung  angestellt  wäre,  (Vgl. 
Art.  1,  6,  9.)  Ferner  ist  jede  derartige  Ernennung,  wenn 
sie  gültig  sein  soll,  unverzüglich  den  türkischen  Lokal- 
behörden anzuzeigen.  Die  hiermit  verbundene  Unter- 
werfung unter  das  Protektorat  einer  fremden  Macht  ist 
jedoch  gemäss  Art.  5  sowohl  zeitlich  als  auch  räumlich 
beschränkt.  Um  einem  zu  grossen  Nachteil  der  Pforte 
vorzubeugen,  wurde  nämlich  die  Bestimmung  aufgenom- 
men, dass  die  Protektoratshoheit  der  fremden  Macht 
nur  solange  dauern  solle,  als  der  betreffende  türkische 
Untertan  sich  in  deren  Dienst  befindet  und  dass  sich  jene 
keinesfalls  aui  die  Familie  des  Protegierten  erstrecken 
solle.  Dies  war  zweifellos  ein  grosser  Erfolg  für  die 
türkische  Regierung,  und  es  war  ihr  hierdurch  gelungen, 
eine  ins  Unermessliche  gesteigerte  Bedrückung  wenig- 
stens auf  ein  erträgliches  Mass  zurückzuführen. 

Freilich  musste  die  Pforte  andererseits  in  einer  münd- 
lichen Uebereinkunft  den  fremden  Staaten  darin  entgegen- 
kommen, dass  die  Bestimmungen  des  Reglement  relatif 
nur  für  die  Zukunft,  nicht  aber  auch  für  die  Vergangen- 
heit Wirkung  haben  solle,  so  dass  die  vorher  Protegier- 
ten im  Besitze  sämtlicher  Rechte  blieben  und  ihre  Fami- 
lienangehörigen die  gleichen  Vergünstigungen  wie  sie 
selbst  genossen,  i) 

Ermutigt  durch  diesen  Erfolg  beschritt  Ali  Pascha 
auch  weiterhin  den  Weg  des  langsamen  Abbaus  der 
Rechte   der  fremden   Mächte   in   der  Türkei. 

Wie  wir  bereits  des  öfteren  hervorgehoben  hatten, 
begegneten  die  Fremden  bei  Erwerb  von  Grundbesitz  den 
grössten  Schwierigkeiten  in  dem  osmanischen  Reiche,  ja 
er  war  ihnen  nach  türkischem  Recht  eigentlich  völlig 
verwehrt. 

Diesen  Umstand  benützte  Ali  Pascha,  um  bei  sei- 
nem Aufenthait  in  Paris,  die  türkische  Genehmigung  zum 
Erwerbe  von  Grundbesitz  von  der  Aufhebung  der  Kapi- 
tulationen abhängig  zu  machen.  Trotz  der  langwierigsten 
Bemühungen  vermochte  aber  dieser  türkische  Staatsmann 
das    so    sehr    ersehnte    Ziel    nicht   zu    erreichen,    ja    die 

1)  Vgl.  Rausas  Bd.  11.  S.40. 


—     110     — 

Machte  forderten  nunmehr  von  der  Pforte  die  einseitige 
Erfüllung  ihres  Versprechens,  und  beharrten  trotz  der 
wiederholten  Verwahrungen  Ah  Paschas,  dass  ihm  dies 
ohne  Aufhebung  der  Kapitulationen  wegen  mangelnder 
Souveränitätsgewalt  nur  schwer  möglich  sei,  auf  ihrem 
Verlangen.  Wir  müssen  eben  zum  richtigen  Verständriis 
der  damaligen  Lage  der  Türkei  bedenken,  dass  sie  sich 
bei  jedem  selbständigen  Schritte  sofort  einer  wenigstens 
ihr  .gegenüber  äusserlich  fest  verbundenen  Koalition  von 
Mächten  gegenüber  befand,  die  schliesslich  doch  nur 
die  Interessen  ihrer  eigenen  Angehörigen  wahrnahmen. 

Immerhin  gelang  es  der  Türkei,  durch  einen  Firman 
vom  lö.  Juni  1867  (bestätigt  durch  ein  Protokoll  vom 
9.  Juni  1868)^)  wenigstens  das  eine  zu  erreichen,  dass 
alle  Fren^.den  in  den  Fragen,  die  ihren  von  der  Pforte  nun- 
mehr gestatteten  Grundbesitz  betrafen,  vollkommen  der 
konsularischen  Gerichtsbarkeit  entzogen  und  ganz  der 
türkischen   Rechtsprechung   unterstellt  sein   sollten. 

Art.  2  des  Firmans  erklärt  ausdrücklich,  dass  „die 
Fremden,  die  Eigentümer  von  unbeweglichen  Stadt-  oder 
Lai.dgütern  seien,  infolgedessen  den  türkischen  Unter- 
tanen in  allem,  was  ihre  unbeweglichen  Güter  betrifft, 
gleichgestellt   sein   sollen'*.  -) 

Da  die  unbew-eglichen  Besitztümer  der  Fremden 
gemäss  Art.  1  des  Firmans  bis  auf  die  Provinz  Hedjaz 
vollkommen  den  türkischen  Gesetzen  unterworfen  waren, 
so  hatte  dies  auch  zur  Folge,  dass  die  Ausländer  für  diese 
Besitztümer  alle  Lasten  und  Pflichten  genau  so  zu  tragen 
hatten,  wie  die  eingeborenen  türkischen  Untertanen.  Aber 
nicht  nur  in  verwaltungstechnischcr  Hinsicht  erreichte  die 
türkische  Regierung  bedeutende  Vorteile,  sondern  auch 
hinsichtlich   der   Rechtspflege. 

Da  nämlich  die  Ausländer  hinsichtlich  ihres  Grund- 
besitzes den  türkischen  Staatsangehörigen  völlig  gleich- 
standen, so  folgte  daraus,  dass  für  diese  Angelegenheiten, 
Vvie  bereits  erwähnt,  auch  die  türkischen  Gesetze  zur 
Anwendung  kommen  mussten.  Einen  bedeutenden  Ein- 
griff in  die  bisherigen  Rechte  der  fremden  Konsulate 
bedeutete  hierbei  die  Regelur.g  des  Erbrechts  hinsicht- 
lich der  unbeweglichen  Hinterlassenschaft  eines  Frem- 
den nach  türkischem  Recht,  was  natürlich  von  Seiten  der 
betroffenen  Fremden  oft  zu  .icnlich  ernsten  Auseinander- 


1)  Nor.  Bd.  III  S.  271  fi. 

2)  Nor.  Bd.  Ili  S.  274  if. 


—   111    — 

Setzungen  führte. ')  (Vgl.  betreffs  der  Testamentsform 
die  Entscheidung  des  türkischen  Staatsrats  vom  31.  März 
1881,  die  in  einem  „Circulaire  ministerielle"  den  frem- 
den  Gesandtschaften 'zur  Mitteilung  gebracht  wurde.)-) 

Somit  hatte  die  Türkei  wenigstens  eine  teilweise  Auf- 
hebung der  Kapitulationen  erreicht,  und  die  Steuerfreiheit 
der  Fremden  hinsichtlich  ihres  unbeweglichen  Vermö- 
gens beseitigt.  Bis  zur  endgültigen  Aufhebung  der  Ka- 
pitulationen am  1.  Oktober  1914  war  die  konsularische 
Gerichtsbarkeit  ausser  hinsichtlich  des  Grundbesitzes, 
dessen  Streitigkeiten  sowohl  persönlicher  als  sachlicher 
Natur  den  türkischen  Gerichten  unterstanden,  auch  noch 
in  anderen  Punkten  cir^eschränkt  * 

Seit  dem  Jahre  1846  (genau  genommen  seit  dem 
Jahre  1856)  bestehen  in  der  Türkei  gemischte  Gerichte, 
die  sowohl  in  Handels-  als  auch  in  Strafsachen  amtieren, 
und  deren  erste  Instanz  Streitigkeiten  mit  einem  Streit- 
wert von  über  1000  Piaster,  deren  zweite  Instanz  (Han- 
delsgericht zu  Konstantinopel)  solche  mit  einem  Streit- 
wert von  über  5000  Piaster  zu  entscheiden  hat.  In  die- 
sen Gerichten  befinden  sich  gemäss  der  Bestimmung, 
die  ihnen  zukommen  soll,  zwei  Angehörige  der  aus- 
ländischen Prozesspartei,  die  bei  der  Gerichtsverhandlung 
Sitz   und   Stimme   besitzen.     (Vgl.    Inhalt   S.    122.) 

Ferner  sind  seit  neuerer  Zeit  in  allen  grösseren 
Städten  des  ottomanischen  Reiches  sog.  korrektionelle 
Gerichte  eingesetzt,  deren  Besetzung  zu  gleichen  Teilen 
aus  einheimischen  und  aus  den  betreffenden  euro- 
päischen Vertretern  besteht.  •)  Dies  bedeutete  na- 
türlich eine  ausserordentliche  Verkürzung  der  konsula- 
rischen lurisdiktionsrechte  und  bedeutete  „aber  gleich- 
zeitig, dass  die  Kulturmächte  sich  nicht  entschliessen  kön- 
nen, die  Gerichtsbarkeit  über  ihre  Staatsangehörigen  in 
die   Hände   der  Landesgericiite  zu   legen".  ^) 

Auf  jeden  Fall  konnte  die  Türkei  bei  richtigem  Ver- 
ständnis für  die  neugeschaffenen  Umstände  mit  aller 
Aussicht  auf  Erfolg  an  den  Abbau  der  konsularischen 
Gerichtsbarkeit  denken,  umsomehr,  da  die  beteiligten 
Mächte  selbst  durch  die  Zustimmung  zu  der  Errichtung 
der  gemischten  Gerichte  der  Türkei  eine  willkommene 
Handhabe  geliefert  hatten. 

1)  Vgl.  Rausas  Bd.  I.  S.  462  H. 

2)  Vgl.  Rausas  Bd.  1.  S.  466  H. 

3)  Vgl.  Lippmann.     Die   Konsulariurisdiktion   im  Orient  1898 
'  S.  102. 

4)  Liszt  1913  S.  148. 


—    ll'J    - 

fEinen  ähnlichen  Präzendenzfall  lieferten  die  seit 
dem  Jahre  1S83  in  Siam  bestehenden  internationalen  Ge- 
richte, die 'in  der  späteren  Zeit  sich  zu  ganz  gewöhnlichen 
siamesischen    Landesgerichten    entwickelten.) 

Gleichzeitig  0  verstand  es  die  türkische  Regierung, 
eine  andere  überaus  drückende  Massregel  teilweise  zu  be- 
seitigen. Wie  bekannt,  war  es  den  türkischen  Justiz- 
beamten verboten,  zum  Zwecke  einer  Durchsuchung  oder 
Verhaftung  das  Haus  eines  Fremden  ohne  Assistenz  des 
Konsuls  zu  betreten,  der  durch  unnötiges  Zögern  die 
türkische   Polizei   ausserordentlich   schädigen   konnte. 

Ur^  dies  zu  vermeiden,  wurde  zunächst  bestimmt, 
dass  ein  derartiges  Verhalten  von  Seiten  des  Konsuls 
unstatthaft  sein  soll  und  dass  seine  Assisten-z  überhaupt 
entbehrlich  sei,  wenn  sich  das  Haus  des  Ausländers 
vom  Sitze  des  Konsulats  „de  neuf  heures  ou  de  plus  de 
neuf  heures**  entfernt  befindet.  Dann  können  ,,les  agents 
de  la  force  publique  penctrer  dans  la  demeure  d'un  sujet 
etranger  sans  etre  assistes  de  l'Agent  consulaire**.  Die- 
ses Recht  wurde  der  Türkei  nur  für  den  Fall  der  Not 
(en  cas  d'urgence)  gewährt  und  um  das  Verbrechen  eines 
Alordes  festzustellen,  ferner  bei  einem  Mordversuch,  einer 
Brandstiftung,  kurzum  nur  bei  schwereren  Uebeltaten. 
Peliissie  du  Rausas  rst  übrigens  mit  dieser  ,, Verletzung" 
der  Kapitulationen  durchaus  nicht  einverstanden,  da  diese 
„rigoureusemeiit"  ausgelegt  v^crden  müssen,-)  und  fc-rner 
der  Begriff  der  „unverletzlichen  Wohnung"  im  allge- 
nieinen,  durch  das  Protokoll  von  1868  viel  zu  eng  be- 
grenzt ist.  In  dem  letzteren  wird  dieser  Begriff  nämlich 
dahin  umgrenzt,  dass  er  „das  Wohnhaus  und  seine  Ne- 
bengebäude, d.  h.  die  gemeinschaftlichen,  ferner  den  Hof, 
den  Garten  und  den  eingeschlossenen,  angrenzenden 
Raum"  umfasst.  Da  „alle  anderen  Partien  des  Eigen- 
tums" ausgenommen  sein  ?Qllen,  so  kommt  Peliissie  du 
Rausus  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  türkische  Polizei  in 
allen  anderen  Gebieten  des  Eigentums  eines  Ausländers 
freies    Durchsuchungsrecht  'haben    könnte.  ■■) 


1)  Das  heisst  durch  das  Gesetz  von  1867  und  das  Protokoll 
>'on  1868  (9.  Juni). 

2)  Siehe  Rausas  Bd.  1.  S.  456. 

3)  Dies  war  auch  wirklich  der  Fall,  da  das  Protokoll  vom 
9.  Juni  1868  ausdrücklich  bestimmte,  dass  „diese  Verordnungen 
nur  anwendbar  seien  auf  die  Gebiete  des  hiyentums,  die  die 
VVohnun^i  i»  dem  oben  definierten  Masse  darstellen.  Ausserhalb 
der  Wohnung  wird  die  Tätigkeit  der  Polizei  frei  und  ohne  Vorbe- 
halt ausgeübt." 


i 


—     113     — 

Welcher  Auffassung  mau  sich  hierbei  auch  an- 
schUesst.  nruss  man  immer  bedenken,  dass  die  Türkei 
nach  der  Pariser  Konferenz  und  nach  der  Bezeugung  ihres 
guten  Willens  zur  Einführung  von  Reformen  (siehe  weiter 
unten),  die  Aufhebung  der  gesamten  Kapitulationen  hätte 
verlangen  und  bei  genügender  Unterstützung  und  aus- 
reichenden Machtmitteln  auch  durchsetzen  können.  Da 
ihr  dies  nicht  gelang,  so  war  e-  für  die  Pforte  ein  Ge- 
bot der  Staatsklugheit,  die  Macht  der  Fremden  durch, 
langsames  Eindämmen  ihrer  uiibegrenzten  Rechte  zu 
beschränken. 

Bereits  bei  der  Abfassung  dieses  Protokolls  ging  die 
Pforte  gegen  die  niemals  gerne  geduldete  Dragoman- 
assistenz vor,  indem  bestimmt  wurde,  dass  dieselbe  voll- 
kommen aufgehoben  sein  solle  in  den  Fällen,  wo  sich. 
d?r  Wohnsitz  des  Fremden  mehr  als  neun  Stunden  vom 
Sitze  des  Konsulats  entfernt  befindet,  daselbst  das  Ge- 
setz „sur  l'organisation  judiciaire  du  vilayef'  in  Kraft 
ist  und  der  Streitfall  nicht  mehr  als  1000  Piaster  beträgt, 
oder  eine  Gesetzesübertretung  eine  Geldstrafe  von  höch- 
siens  500  Piaster  zur  Folge  haben  könnte.  Im  ersten 
f^alle  hat  der  „conseil  des  anciens  remplissant  les  fonc- 
Hons  de  juge  de  paix'*  zu  entscheiden,  in  dem  Falle  eines 
Vergehens    „le   tribunal    du    caza'*. 

Aber  dieses  Zugeständnis  erreichte  die  Pforte  nur 
mit  der  gleichzeitigen  Zusicherung,  dass  die  Zwangsvoll- 
streckung der  ausgesprochenen  Entscheidungen  ,,sans 
le  concours  du  consul  ou  de  son  delegue"  nicht  statt- 
finden kann. 

Bemerkenswert  an  diesem  Protokolle  ist  ferner,  dass 
ganz  im  Gegensatz  zu  den  Kapitulationen  es  den  Frem- 
den freigestellt  wird,  sich  den  Entscheidungen  eines- 
türkischen Gerichts  unter  Verzicht  auf  den  Beistand  des 
Dragomans  zu  unterwerfen,  ohne  jede  Rücksicht  auf  die 
Entiernung  ihres  Wohnsitzes.  Natürlich  darf  es  sich 
aber  nur  um  Streitfälle  handeln,  „dont  l'objet  n'excede 
pas  la  competence  de  ces  conseils  ou  tribunaux''.  Um 
aber  auch  unnötige  Härten  gegenüber  den  Fremden  zu 
vermeiden,  wurde  ferner  bestimmt,  dass  die  Ausländer 
einen  derartigen  Verzicht  schriftlich  zu  Protokoll  zu 
geben  haben,  welche  Handlung  vor  jedem  Prozessver- 
fahren   zu    geschehen    hat. 

Eine  wirkliche  Erleichterung  für  den  türkischen  Rich- 
ter vermochte  aber  auch  dieses  Abkommen  mit  den  frem- 
den Mächten  schliesslich  nicht  zu  bieten,  da  die  Pforte  für 

^  8 


—      114     - 

das  Appellationsverfahren  wieder  den  Beistand  des  Kon- 
suls zulassen  musste.  Denn  die  Fremden  hatten  so- 
wohl im  Falle  eines  freiwilligen  Verzichts  auf  die  Bei- 
wohnung eines  Dragomans,  als  auch  für  den  Fall,  dass 
ihnen  dieselbe  kraft  dieses  Abkommens  verwehrt  war, 
„le  droit  d'interjeter  appel'*,  was  zunächst  als  natürliche 
Folge  die  Aussetzung  des  Vollstreckungsverfahrens,  dann 
aber  für  das  Berufungsverfahren  selbst,  die  Anwesen- 
heit des  betreffenden  Konsuls  oder  Dragomans  nach  sich 
zog.  0 

Aus  all  diesen  Bestrebungen  können  wir  ersehen, 
wie  sehr  es  der  Türkei  darum  zu  tun  war,  wenigstens 
die  Vorrechte  der  Dragomane  auf  ein  Mindestmass  ein- 
zuschränken. Der  Erfolg  all  dieser  Bemühungen  war 
freilich  nicht  der  gewollte.  Die  Mächte  in  ihrer  Ge- 
samtheit beriefen  sich  wie  gewöhnlich  auf  den  genauen 
Wortlaut  der  Kapitulationen  und  in  langwierigen  Aus- 
einandersetzungen wurde  der  Widerstand  der  Türkei 
immer  mehr  geschwächt.  Schliesslich  wurden  die  Be- 
stimmungen der  Kapitulationen  mit  erneuter  Schärfe  auch 
in  dieser  Hinsicht  wieder  zur  Anerkennung  gebracht.  -) 

Ihre  Versuche,  gegen  einzelne  Privilegien  langsam, 
aber  ziemlich  zielbewusst  vorzugehen,  setzte  die  Türkei, 
keineswegs  entmutigt,  fort. 

Im  Jahre  188r  versuchte  die  Pforte,  die  Kompetenz 
der  türkischen  Gerichte  allmählich  wieder  auf  die  Straf- - 
gerichtsbarkeit  zu  erstrecken,  die  ihr  gleich  der  Zivil- 
gerichtsbarkeit in  verschiedenen  Fällen  (vgl.  Geschichte 
der  Kapitulationen)  von  den  Konsulargerichten  entzogen 
worden  war.  Aber  dieses  Bemühen  scheiterte  an  dem 
energischen  Widerstand  der  verbündeten  Mächte  und  er- 
reichte nur  das  eine,  dass  jeder  Strafgerichtsentscheidung 
vun  nun  ab  eine  besondere  Regelung  der  strittigen  Fra- 
gen vorherging.  ^) 

Mit  entschieden  weniger  Berechtigung  ging  jedoch 
die  Pforte  am  11.  Oktober  1881  durch  eine  Zirkularnote 
gegen   verschiedene    Ehrenrechte   der   Konsuln   vor,   die 

1)  Für  die  Entscheidung  der  Konsuln  selbst  wurde  ein  Appel- 
lationsgertchtshof  in  den  verschiedenen  Staaten  errichtet.  So  für 
Frankreich,  La  Cour  d'.\ix  eingesetzt  durch  art.  37  d.  Edikts  vom 
Juni  1778,  für  Italien  La  Cour  d'Ancöne  (Gesetz  v.  20.  Jan.  1866 
art.  105)  für  Deutschland  d.  Reichsgericht  (s.  Konsularger.  Ges.) 
für  Üesterreich  der  Gerichtshof  von  Konstantinopel  und  zu  Ale- 
-xandrien  <Ges.  v.  29.  1.  1855)  s.  Rausas  I.  S.  312  ff. 

2)  Vgl.  auch  Bein  S.  42. 

3)  Vgl.  Lehmann  S.  31. 


— ,   11,    — 

diesen  durch  jahrhundertelange  Gewohnheit  und  durch 
die  verschiedenen  Kapitulationen  zuerkannt  worden  wa- 
ren, üegen  diesen  Schritt  der  Türkei  erhoben  die  europä- 
ischen Kabinette  durch  zwei  Kollektivnoten  vom  25.  De- 
zember 1881  und  25.  Februar  1882  nachdrücklichen  Pro- 
test, wobei  sie  bewiesen,  dass  der  Sultan  durchaus  keine 
Berechtigung  dazu  habe,  einseitig  unvordenkliehe  Ge- 
bräuche  aufzuheben.!) 

(Bemerkenswert  ist  an  dieser  Note  die  energische 
Betonung  der  Zweiseitigkeit  der  Kapitulationen  von  Sei- 
ten sämtlicher  Mächte.)-) 

Aber  schon  vorher  hatte  die  Türkei  mit  wechselndem 
Erfolge  die  allmächtige  Stellung  der  fremden  Konsuln  zu 
untergraben  versucht. 

In  dem  aus  anderem  Anlasse  bereits  erwähnten 
„Reglement  relatif  aux  consulats  etrangers''  vom  9.  Au- 
gust 1863  gelang  es  der  Türkei  mit  Zustimmung  der 
Mächte,  die  Anzahl  der  Dragomane  und  Janissaren  zu 
beschränken.  Wie  wir  bereits  in  der  Geschichte  der 
Kapitulationen  ausführten,  stand  es  gemäss  der  Kapitu- 
lation von  1740  (Art.  45)  den  ausländischen  Konsuln 
frei,  „sich  so  vieler  Dragomane  zu  bedienen  als  sie 
wollten  und  so  viele  Janissaren  aazustellen  als  es  ihnen 
beliebte''. 

Um  einem  Missbrauch  besonders  hinsichtlich  von 
Protektoratsumgehungen  vorzubeugen,  wurde  der  Türkei 
das  Zugeständnis  gemacht,  die  Anzahl  der  zulässigen  Dra- 
gomane und  Janissaren  auf  höchstens  vier  herabzusetzen 
und  es  wurde  ferner  bestimmt,  dass  die  Namen  dieser 
Personen  bei  den  Lokalbehörden  eingetragen  werden 
müssten.  3)  (Vgl.  die  bereits  in  den  späteren  Kapitula- 
tionen ausgesprochenen  Einschränkungen  der  Steuerfrei- 
heit der  Dragomane  auf  eine,  bestimmte  Anzahl  der- 
selben.) 

Abgesehen  von  diesen  Einschränkungen,  die  die  Vor- 
rechte der  Konsuln  im  allgemeinen  zu  erleiden  hatten, 
ging  die  Türkei  auch  insbesondere  gegen  die  Wahlkon- 
suln vor.    Wie  erinnerlich  war  durch  die  Kapitulationen 

1)  Vgl.  Ullmann  1908  S.  225  Boniils-Grah  S.  407.  Ueber  die 
Note  der  xMächte  siehe  Rivier,  Principe  des  droits  des  gens  Paris 
1896  S.  543  ff. 

2)  Vgl.  auch  den  Versuch  der  Türkei  gemäss  dem  Memoran- 
dum vom  9.  Juli  1869  (siehe  Inhalt)  unter  dem  Hinweis  auf  den 
Missbrauch  der  Kapitulationsbestimmungen  den  Konsuln  die  Juris- 
diktionsimmunität abzusprechen. 

3)  Vgl.  Ra'usas  Bd.  I.  S.  491. 


—     116     — 

für  die  Konsuln  die  Vergünstigung  geschaffen  worden, 
alle  Gegenstände,  die  sie  für  ihren  persönlichen  Ge- 
brauch benötigten,  zollfrei  einführen  zu  können.  Diese 
Bestinimung  konnte  sehr  wohl  gegenüber  den  ßerufskon- 
suln  (consules  missi),  nicht  aber  auch  gegenüber  den 
Wahlkonsuln  (consules  electi)  eingehalten  werden,  da 
diese  ja  meist  Kaufleute  waren  und  demgemäss  bei  ihnen 
viel  eher  ein  Missbrauch  dieses  Privilegs  vermutet  wer: 
den  konnte,  als  bei  den  Berufskonsuln. 

Um  jedes  Missverständnis  bezüglich  der  Nutzungs- 
art der  für  den  Konsul  bestimmten  Waren  zu  beseitigen, 
erliess  die  Pforte  am  27.  Juli  1869  mit  Zustimmung  der 
Mächte  ein  Reglemejit,  das  diese  Schwierigkeiten  beheben 
sollte. 

Gemäss  dem  Wortlaut  des  Art.  2  wurde  die  Zoll- 
freiheit für  die  handeltreibenden  Konsuln  auf  die  Höchst- 
summe von  25  000  und  auf  die  Mindestsumme  von  10  000 
türkische  Pfund  festgesetzt,  i) 

Eine  weitere  Einschränkung  ihrer  Privilegien  er- 
litten die  handeltreibenden  Konsuln  aber  auch  hinsicht- 
lich ihrer  Gerichtsimmunität,  da  sie  in  Handelsangelegen- 
heitcn  besonders  den  gemischten  Handelsgerichten  un- 
terstanden.   (Vgl.   Inhalt  S.    111.) 

In  der  Folge  setzte  die  Türkei  ihre  Bemühungen 
unermüdlich  fort,  indem  sie  jede  sich  darbietende  Ge- 
legenheit wahrnahm,  um  eine  Abschaffung  der  Kapitu- 
lationen zu  versuchen.  Einen  willkommenen  Anlass  bot 
ihr  hierbei  die  siegreiche  Beendigung  des  türkisch-grie- 
chischen Krieges  vom  Jahre  1897, 

Nach  der  allgemeinen  Auffassung  hebt  der  Krieg 
alle  zwischen  den  kriegführenden  Staaten  bestehenden 
rechtsgeschäftlichen  Verträge  auf,  „soweit  sie  nicht  ganz 
oder  in  einzelnen  ihrer  Bestimmungen  gerade  für  den  Fall 
des  Krieges  geschlossen  wurden".  (Näheres  über  diese 
Frage  siehe   nächstes   Kapitel.) 

Wenn  sich  auch  üllmann  teilweise  gegen  diese 
fast  unbeschränkte  Aufhebung  von  Verträgen  im  Kriegs- 

1)  Vgl.  Rausas  S.  494  und  ferner  Art.  10  des  deutsch-türki- 
schen Vertrages  vom  26.  August  1890:  ..Zollfrei  dürfen  in  das 
ottomanische  Reich  nach  zollamtlicher  Prüfung  eingeführt  werden: 
Drittens:  Effekten  und  Gegenstände  die  unter  der  Adresse  des 
Vorstehers  eines  in  der  Türkei  errichteten  deutschen  General- 
konsulates eingeführt  werden  und  zu  dessen  persönlichem  Ge- 
brauch oder  dem  seiner  Familie  bestimmt  sind,  wenn  diese  Vor- 
steher von  ihrer  Regierung  festbesoldete  Berufsbeamte  sind  und 
insoweit  als  die  Einfuhrabgabe  2500  Pi.  jährlich  nicht  übersteigt." 


—     117     — 

falle  ausspricht,  so  konnte  die  Türkei  doch  auf  ver- 
schiedene ähnliche  Fälle  hinweisen,  und  erst  in  neuester 
Zeit  saJien  wir  diesen  Standpunkt  anlässlich  des  russisch- 
japanischen Friedensschlusses  von  1905  vertreten,  i)  Je- 
denfalls vermag  zumindest  der  siegreiche  Ausgang"  des 
Krieges  den  gewinnenden  Teil  dazu  zu  ermächtigen,  ihm 
ungünstige  Verträge  zur  Aufhebung  vorzuschlagen  und 
sein  Ziel  auch  meist  zu  erreichen.  Anders  war  die  Sach- 
lage bei  der  Türkei  trotz  des  siegreich  durchgeführten 
Feldzuges. 

Nachdem  zunächst  von  den  meisten  Teilen  anerkannt 
worden  war,  dass  ein  Aufhebungsrecht  der  Türkei  auch 
hinsichtlich  der  Kapitulationen  bestehe,  änderten  dfe  Be- 
teiligten ihre  Meinung  immer  mehr  und  fällten  schliess- 
lich am  2.  April  1901  einen  Schiedsspruch,  der  die  Rechte 
Griechenlands  aufs  Neue  genau  regelte.  Wahrscheinlich 
spielte  bei  diesem  der  Türkei  ungünstigen  Verhalten  der 
Mächte  auch  die  Befürchtung  mit,  dass  bei  der  Bewilli- 
gung der  Aufhebung  gegenüber  Griechenland,  die  Türkei 
darnach  trachten  würde,  angesichts  der  etwa  erzielten 
Vorteile,  auch  das  Joch  der  anderen  Mächte  abzuschüt- 
teln. 2) 

Auf  dieses  Moment  spielte  auch  die  griechische  Re- 
gierung in  ihrer  Erwiderung  auf  das  Verlangen  der  Pforte 
offensichtlich  an,  indem  sie  betonte,  dass  „die  königliche 
Regierung  sicher  zu  sein  glaube,  dass  die  Mächte  im  In- 
teresse ihrer  eigenen  Nationen  die  Aufhebung  des  grie- 
chischen Rechtes  an  den  Privilegien  der  Kapitulationen 
nicht  dulden  werden,  noch  eine  Abänderung  unter  irgend 
;einer   Form   oder   unter   irgend   einem    Vorwand''   •  •  •  ') 

Die  Absicht  einer  Abänderung  hatte  die  Türkei  auch 
tatsächlich,  da  sie  den  Wunsch  ausdrückte,  dass  „des 
arrangements  speciaux  seront  conclus  en  vue  de  pre- 
venir  Tabus  des  immunites  consulaires,  d'empecher  les 
entraves  au  cours  regulier  de  la  justice,  d'assurer  l'exe- 
cution  des  sentences  rendues  et  de  sauvegarde  les  inte- 
irets  des  sujets  Ottomans  et  etrangers  dans  leurs  diffe- 
rends  avec  les  sujets  Hellenes,  y  compris  le  cas  de 
faillite''.  *) 

1)  Vgl.  Art.  11  Abs.  1  des  Frankfurter  Friedensvertrages  vom 
10.  Mai  1871  bei  Fleischmann  S.  100. 

2)  Den  Text  des-  Schiedsspruches  siehe  Nouveau  Receuil 
general  des  Traites  herausgeg.  von  Triepel  2.  Serie  XXXI.  Bd. 
S.  696. 

3)  Siehe  N.  R.  G-  2.  Serie  Bd.  XXVIII  S.  643. 

4)  Siehe  Nor.  Bd.  IV.  S.  549. 


—      IIS     — 

Art,  9  des  endgültigen  türkisch-griechischen  Frie- 
densvertrages vom  4.  Dezember  1897  bestimmte  hierzu 
ausdrücklich,  dass  bis  zur  Inkraftsetzung  des  vorgesehe- 
nen Uebereinkommens  die  beiderseitigen  Konsuhi  die 
gleichen  „fonctions  administratifs*'  ausüben  sollen,  wie 
vor  dem  Kriege,  i)  (Vgl.  die  den  türkischen  Standpunkt 
noch  mehr  schwächende  schiedsrichterliche  Entscheidung 
der  Mächte  vom  1.  April  1900,  dass  die  Bestimmungen 
der  türkisch-griechischen  Kapitulation  vom  27.  Mai  1855 
soweit  in  Kraft  bleiben  sollen,  als  sie  nicht  durch  die  Ent- 
scheidungen dieses  Schiedsspruches  geändert  würden.)  -) 
Eine  solche  Aenderung  zu  Gunsten  der  Türkei  fand  durch 
den  'll.  Artikel  Abs.  2  dieser  Entscheidung  statt,  wodurch 
den  türkischen  üerichten  das  Recht  zugesprochen  wurde, 
für  den  Fall,  dass  der  griechische  Dragoman  auf  zwei- 
malige schriftliche  Einladung  nicht  erscheint,  „nicht  mehr 
auf  seine  Gegenwart  zu  warten**  und  den  Fall  selbst  zur 
endgültigen  Entscheidung  zu  bringen.  Für  den  Fall, 
dass  die  Konsularbehörde  die  gegenüber  Griechen  er- 
gangenen Urteile  nicht  mit  aller  Schnelligkeit  zur  Aus- 
führung bringt,  soll  es  den  türkischen  Behörden  frei- 
stehen, nach  einer  Frist  von  höchstens  2  Monaten  selbst 
zur  Vollstreckung  zu  schreiten,  nachdem  sie  hiervon  die 
Konsularbehörde    schriftlich    verständigt    haben. 

Wir  können  aber  immerhin  sehen,  dass  die  europä- 
ischen Mächte,  trotz  aller  Herzensergiessungen  auf  dem 
Pariser  Kongress  immer  darnach  trachteten,  „die  Rechte 
ihrer  Konsuln  und  Untertanen  in  der  Türkei  sich  be- 
stätigen zu  lassen  und  die  obligatorische  Kraft  der  Kapi- 
tulationen ausser  allen  Zweifel  zu  setzen".  ^) 

Nachdem  so  die  Diplomatie  Abdul  Hamids  hinsicht- 
lich einer  Aufhebung  der  Kapitulationen  ein  vollkomme- 
nes Fiasko  erlitten  hatte,  brach  für  die  türkischen  Be- 
strebungen einige  Jahre  später  eine  gänzlich  neue  Aera 
an. 

Die  am  23,  Dezember  1876  verkündigte  und  am 
24.  Juli  1908  unter  Grossvezir  Said  Pascha  erneuerte 
Verfassung  machte  den  ehemals  despotischen  Staat  zur 
konstitutionellen  Monarchie  und  die  nun  zur  Macht  ge- 
langten Jungtürken  Hessen  nichts  unversucht,  um  als. 
ein  den  anderen  Mächten  bezüglich  der  Verfassung  voll- 
kommen  ebenbürtiges   Staatswesen   erneut  die   Abschaf- 

1)  Siehe  Nor.  Bd.  IV.  S.  557. 

2)  Siehe  Nor.  Bd.  IV.  S.  571. 
3j  Siehe  Martens  263. 


—      119     — 

funj;  der  ihre  freie  Entwicklung  hemmenden  Kapitula- 
tionen zu  fordern.  Um  dieses  Ziel  sicher  zu  erreichen, 
suchte  sich  die  Türkei  für  ihre  Bestrebungen  die  Unter- 
stützung einilussreicher  Orossmächte  zu  verschaffen.  Be- 
sonders bemerkenswert  geschah  dies  in  dem  8.  Artikel 
des  österreichisch-ungarisch-türkischen  Abkommens  vom 
26.  Februar  1909  betreffend  Bosnien,  Herzegowina  und 
den  Sandschak  Navizabar.  Dieser  Artikel  handelt  aus- 
drücklich von  der  Aufhebung  der  Kapitulationen  in  der 
Türkei,  wobei  Oesterreich-Ungarn  in  Anerkennung  der 
berechtigten  Ansprüche  der  Türkei  erklärt,  ihr  von  jetzt 
ab  zu  diesem  Zwecke  seine  volle  und  aufrichtige  Unter- 
stützung   gewähren    zu    wollen. 

Im  Originaltexte  dieses  Abkommens  heisst  es  aus- 
drücklich, dass  falls  die  Pforte  die  Absicht  haben  sollte, 
auf  'einer  europäischen  Konferenz  oder  anderswo  mit  den 
Mächten  Unterhandlungen  anzuknüpfen  zwecks  Auf- 
hebung der  Kapitulationen  oder  deren  Ersetzung  durch 
das  internationale  Recht,  „l'Autriche-Hongrie,  en  recon- 
naissant  le  bien  fonde  de  ces  pretentions  de  la  Sublime 
Porte  declare  des  maintenant  vouloir  lui  preter  ä  cet  effet 
son  plein  et  sincere  appui**.  i) 

Gleichzeitig  musste  sich  Oesterreich-Ungarn  mit  einer 
Einschränkung  seiner  Postprivilegien  einverstanden  er- 
klären. Auch  in  dem  hier  in  Betracht  kommenden  Art.  7 
liess  sich  die  Türkei  die  Berechtigung  dieses  Hoheits- 
recht auszuüben,  'zusichern,  und  es  wurde  demgemäss 
bestimmt,  dass  „die  kaiserlichen  Postämter  in  der  Türkei 
dort  öffentlich  ihre  Tätigkeit  ausüben,  wo  keine  anderen 
fremden  Postbüros  Vorhanden  sind."  Im  übrigen  wollte 
sich  natürlich  Oesterreich  nicht  schlechter  stellen  als  die 
anderen  Orossmächte  »und  verpflichtete  sich  daher  für  eine 
allgemeine  Aufhebung  nur  insoweit,  als  die  anderen 
Mächte,  welche  Postbüros  in  der  Türkei  besassen,  diese 
aufheben  würden.  • 

Ein  vollkommen  gleichlautendes  Versprechen,  ihre 
Aspirationen  hinsichtlich  der  Abschaffung  der  Kapitula- 
tionen zu  'unterstützen,  erhielt  die  Pforte  bei  Abschluss 
des  türkisch-italienischen  Friedens  vom  15.  Oktober 
1912.2) 

Gleichzeitig  musste  jedoch  die  Türkei  sämtliche 
früheren   Verträge    trotz   des    inzwischen    stattgehabten 

1)  Siehe  Strupp    Bd.  2,  S.  29  und  Strupp  ausgewählte    diplo- 
matische Aktenstücke  zur  Orientalischen  Frage  S.  239. 

2)  Jahrbuch  d.  Völkerrechts  von  Niemayer  u.  Strupp  Jahrgang 
1913,  Bd.  1  S.  110,  ferner  Strupp  ausgew.  Akten  S.  257. 


—    1  :o    — 

Kriegszustandes  als  wiederhergestellt  anerkennen  und 
dementsprechend  bestimmt  ider  5.  Artikel  des  4.  An- 
hangs, dass  „alle  Verträge  Konventionen  und  üeberein- 
komm'en  jeder  Art  und  Natur,  die  abgeschlossen  oder 
zwischen  den  hohen  Vertragsschliessenden  vor  der  Er- 
klärung des  Kriegszustandes  in  Kraft  waren,  sofort  wieder 
in  Kraft  zu  setzen  seien.  .  .  .*' 

Bezüglich  der  von  uns  im  vorigen  Kapitel  bereits 
behandelten  Bemühungen  der  Türkei,  eine  Erhöhung  des 
Zollsatzes  herbeizuführen,  ist  noch  nachzutragen,  dass  es 
der  Pforte  gelang,  durch  Art.  6  des  vorliegenden  Ver- 
trages, die  Zustimmung  Italiens  zur  Erhöhung  „des  droits 
de  douane  ad  valorem"  von  H^'o  auf  15'^o  zu  erlangen, 
freilich  nur  unter  der  Bedingung,  dass  auch  die  anderen 
AAächte  dieses  Abkommen  billigen.  Eine  endgültige  Rege- 
lung dieser  Frage  erfolgte  erst  kurz  vor  Kriegsausbruch. 
(Vgl.   Inhalt  S.   95  ff.) 

In  dem  der  türkischen  Forderung  zustimmend'jn 
Verhalten  konnte  die  Türkei  bei  einigem  politischen 
Verständnis  leicht  erkennen,  dass  für  sie  die  so  heiss 
ersehnte  Befreiungsstunde  gekommen  war.  Durch  den 
sich  immer  mehr  ausbreitenden  Weltkrieg  wurden  die 
ehemals  der  Türkei  gegenüber  äusserlich  fest  verbunde- 
nen Mächte  auseinander  gerissen  und  ohne  die  nötigen 
Machtmittel  zu  besitzen,  mussten  sie  den  türkischen 
Schritt,  wenn  'auch  unter  mannigfachen  Protesten  über 
sich  ergehen  lassen.  Wenn  wir  genau  sein  wollen,  waren 
es  einzig  "und  allein  die  Zentralmächte,  die  einer  Auf- 
hebung der  Kapitulationen  freundlich  gegenüber  standen, 
wozu  Deutschland  nicht  nur  die  augenblickliche  politische 
Lage,  sondern  auch  seine  alte  auf  freundschaftlichen 
Traditionen  beruhende  türkische  Politik  veranlasste.  Hatte 
es  doch  bereits  im  Jahre  1890  anlässlich  des  neuabge- 
schlossenen Handelsvertrages  eine  den  türkischen  Wün- 
schen weitgehend  entgegenkommende  Haltung  einge- 
nommen, die  nur  deshalb  zu  keinem  endgültigen  Erfolge 
für  die  osmanischen  B-estrebungen  führte,  weil  di'e, 
übrigen  Mächte  sich  durchaus  ablehnend  verhielten. 
Nachdem  sich  jedoch  Deutschland  mit  den  meisten  der 
bisherigen  Reformgegner  im  Kriege  befand,  zögerte 
es  nicht,  mit  dem  türkischen  Staate  in  Verhandlungen  zu 
treten  zwecks  Abschluss  neuer,  auf  der  Grundlage  des 

Dies  konnte  Deutschland  umso  leichter  tun,  da  sich 
bereits  seit  Jahrzehnten  für  den  wohlwollenden  Beobach- 
moderncn  Völkerrechts  aufgebauter  Verträge.  (Siehe 
V.  eiter  unten.) 


—     121      — 

"ter  der  türkischen  Bestrebungen  das  deutliche  Bild  er- 
gab, dass  die  Pforte  mit  allen  Kräften  an  einer  Verbesse- 
rung ihrer  innerstaatlichen  Einrichtungen  arbeite,  um 
auf  diese  Weise  den  Kapitulationen  der  fremden  Mächte 
die  reale  Unterlage  zu  entziehen  und  sich  von  dieser 
drückenden  Last  zu  befreien. 

Die  türkischen   Reformen. 

Schon  Salim  III.  unternahm  den  Versuch,  seinen 
Staat  durch  Einführung  europäischer  Verhältnisse  neuer 
Blüte  entgegenzuführen  i)  und  scheiterte  ah  seinem  Vor- 
haben nur  durch  die  allzugrosse  Strenge,  mit  der  er  sei- 
nen Vorsatz  zur  Ausführung  bringen  wollte,  und  wodurch 
er  einen  überaus  blutigen  Aufstand  der  Janitscharen 
herbeiführte,  der  ihm  am  31.  Mai  1807  den  Thron  und  ein 
Jahr  später  das  Leben  kostete.  Nichtsdestoweniger  setzte 
sein  damals  23jähriger  Neffe  Mahmud  II.  die  Reform- 
bewegung fort,  -)  wobei  er  sich  der  Unterstützung  Eng- 
lands erfreute,  das  durch  eine  Verbesserung  der  Lage 
der  Christen  in  den  ottomanischen  Gebieten  auch  ein 
Zurückdrängen  der  russischen  Protektoratsbestrebungen 
•erhoffte,  die  sich  dieses  Reich  auf  Grund  der  Kapitula- 
tionen (siehe  I.  Teil)  anmasste.  Durch  diese  verschie- 
denen Versuche  war  der  Weg  für  die  Durchführung  der 
Reformen  Abdul-Medschids  (1S39 — 1861)  grösstenteils  ge- 
lebnet,  und  bereits  am  3.  November  1839  konnte  unter 
Mitwirkung  des  Grossveziers  Reschid  Pascha  der  bedeu- 
tungsvolle Hatti-Scherif  von  Gülhane  oder  Firman  von 
Tanzimat  mit  grossem  Pompe  vor  dem  Rosenpavillon  ver- 
kündige werden  3)  (daher  der  Name  Gülhane-kyösk). 
Nachdem  die  Pforte  erklärt,  dass  der  Koran  und  die  tür- 
kischen Gesetze  „immer  ein  zu  ehrendes  Gesetz  seien'', 
gibt  sie  ihr  Bestreben  kund,  durch  neue  Einrichtungen 
zu  versuchen,  für  die  Provinzen  zu  sorgen,  die  das  otto- 

1)  Er  versuchte  z.B.  im  Jahre  1805  die  allgemeine  Wehrpflicht 
■einzuführen. 

2)  Am  15.  Juni  1826  hatte  er  die  Kühnheit,  die  heilige  Fahne 
zu  entfalten  und  durch  die  Begeisterung  des  heiligen  Krieges 
siegte  er  über  die  Janitscharen.  Einen  endgültigen  Sieg  über  die 
innnern  Widersacher  vermochte  aber  auch  er  nicht  zu  erzielen. 
H.  V.  Moltke  schrieb  über  ihn:  „Mamuhd  hat  ein  tiefes  Leid  durchs 
Leben  getragen;  die  Wiedergeburt  seines  Volkes  war  die  grosse 
Aufgabe  seines  Daseins  und  das  Misslingen  dieses  Planes  sein 
Tod.'-  Siehe  H-  v.  Moltke.  Briefe  über  Zustände  und  Begeben- 
heiten in  der  Türkei  aus  den  Jahren  1835  bis  1839. 

3)  Siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  288  und  türkische  Note  v.  9.  Septem- 
ber 1914. 


—     122     — 

manische  Reich  bilden  und  zwar  durch  die  Wohltat  einer 
guten   Verwaltung. 

Demzufolge  wollte  die  Türkei  verschiedene  Reformen 
..nitreten  lassen,  wie  die  Sicherstellung  des  Lebens,  der 
Ehre  und  des  Vermögens  aller  Untertanen,  eine  neue  Re- 
gelung des  Steuerdienstes  und  Beseitigung  der  Steuerver- 
pachtiuig,  ferner  eine  Reform  der  Rekrutierung  und 
Herabsetzung  der  Dienstzeit  auf  4—5  Jahre. 

Von  grosser  Bedeutung  war  insbesondere  der  Ver- 
such, das  Gerichtswesen,  das  bisher  durchaus  von  den 
geistlichen  Gerichten  i)  gehandhabt  worden  war,  zu  ver- 
staatlichen, wobei  der  Sultan  allen  seinen  Untertanen, 
„welcher  Religion  oder  Sekte  sie  auch  angehören  mögen**, 
die  gleiche  Behandlung  durch  die  Gesetze  zusicherte. 
Gleichzeitig  wurde  die  Entfernung  der  Kabinettsjustiz, 
Oeffentlichkeit  des  Strafverfahrens  und  gerechte  Ver- 
teilung aller  Steuern  versprochen.  Neue  Gesetze  sollten 
diese    Zusagen    rechtmässig    einführen. 

Mit  diesem  Hatti-Scherif  von  Gülhane  begann  die 
Periode  der  „Verordnungen  für  das  allgemeine  Wohl'' 
(Tanzimat-i-chairije).  2)  Noch  im  gleichen  Jahre  versandte 
die  Regierung  an  alle  bedeutenden  Provinzen  Firmans, 
die  „genaue  Beobachtung  der  Anordnungen  des  Hatti- 
Scherif  anbefahlen,  da  der  Sultan  aller  Welt  kundtun 
wollte,  wie  sehr  ihm  eine  fortwährende  Verbesserung 
des  Loses  seiner  Völker  am  Herzen  lag.  ■^)  Späterhi.i 
wurde  1840  die  Steuererhebung  durch  die  Statthalter  ab- 
geschafft und  durch  eine  Zirkularnote  an  die  fremden 
Gesandtschaften  vom  17.  März  1840^)  die  Einsetzung  ge- 
mischter Handelsgerichte  angeregt.  Im  Jahre  1847  (1856) 
wurden  dann  auch  gemischte  Gerichte  für  Prozesse  mit 
Ausländern   eingerichtet. 

Ferner  erliess  die  Pforte  die  versprochenen  Gesetze, 
indem  am  28.  Juli  1850  das  Handelsgesetzbuch  im  An- 

1)  Als  erste  und  höchste  Quelle  der  mohammedanischen  geist- 
lichen Jurisdiktion  gilt  der  Koran  des  Propheten.  Eine  zweite 
Quelle  ist  die  fgrossenteils  erfundene;  Ueberlieierung  (Sunna)  von 
den  Aussprüchen  und  Handlungen  des  Propheten,  eine  weitere  die 
durch  Gesetzesanalogie  und  durch  die  Rechtsgelehrten  der  3  ersten 
islamitischen  Generationen  gewonnenen  Rechtssätze  nnd  Entschei- 
dungen. Die  Summe  aller  Bestimmungen,  die  durch  Kechtslehre 
aus  diesen  anerkannten  Quellen  gewonnen  werden,  istdie  Scheria, 
das  Scheriatrecht."  Siehe  Bachem  Bd.  5,  S.  570.  Dass  die 
Fremden  sich  einer  solchen  ziemlich  dehnbaren  Justiz  nicht  unter- 
werfen wollten,  ist  wohl  leicht  verständlich. 

2)  Siehe  Bachern  Bd.  5,  S.  554. 

3)  Dieselben  datieren  v.  6.  12.  1839.    Siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  290. 

4)  Siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  299;  vgl.  Inhalt  S.  111. 


-     1J3     — 

schluss  an  die  Einsetzung  der  gemischten  Handelsgerichte 
und  bereits  am  3.  Februar  1851  eine  Sammlung  der  be- 
stehenden Gesetze  verkündigt  wurden.  Zu  erwähnen  ist 
ferner  noch  die  Aufhebung  der  Kopfsteuer,  worum  die 
Pforte  während  des  Krimkrieges  von  ihren  Verbündeten 
angegangen  wurde,  Sie  erfolgte  durch  ein  kaiserliches 
Irade  am  10.  Mai  1855  und  wurde  durch  den  Hatti- 
Humajun  vom    18.   Februar   1856  bestätigt.^) 

Diese  an  alle  Mächte  versandte  Kundgebung  war 
gleichsam  eine  Folge  des  Krimkrieges,  nach  uelchem 
die  Westmächte  eine  gründliche  und  endgültige  Reform 
des  türkischen  Staatswesens  forderten.  Die  Note  selbst 
ist  eine  förmliche  Bekräftigung  der  bereits  im  Hatti- 
Scherif  von  Gülhane  abgegebenen  Versprechungen.  Diese 
Kundgebung  wurde,  wie  bereits  erwähnt,  am  18.  Februar 
publiziert  und  kam  dann  als  Anhang  zum  Pariser  Frieden 
vom  30.  März  1856  neuerdings  zur  Verlautbarung.  In 
ihren  wesentlichen  Grundzügen  verkündigte  diese  Pro- 
klamation die  bürgerliche  Gleichstellung  aller  in  der 
Türkei  lebenden  Untertanen.  Es  heisst  darin  wörtlicli : 
„Die  von  uns  allen  Untertanen  meines  Reiches  durch  den 
Hatti-Humajun  von  Gülhane  versprochenen  Garantien 
gemäss  dem  Tanzimat,  ohne  Unterschied  des  Standes  und 
der  Religion  für  die  Sicherheit  ihrer  Personen  und  ihres 
Eigentums  und  für  die  Bewahrung  ihrer  Ehre,  sind  mit 
dem  heutigen  Tage  bekräftigt  und  neu  befestigt,  und 
damit  man  ihre  volle  und  gänzliche  Wirkung  erkenne, 
sollen  sie  in  wirksamem  Masse  wahrgenommen  werden.*'' 
Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  ferner  der  Zusatz,  dass 
alle  bisher  verliehenen  Privilegien  oder  kirchlichen  Frei- 
heiten „an  alle  christlichen  Gemeinden  und  anderen  nicht 
muselmanischen  Glaubenssekten,  die  in  meinem  Reiche 
unter  meiner  Oberhoheit  errichtet  sind,  neubekräftigt  und 
gehalten  werden  sollen".  Gleichzeitig  wurde  jegliche 
Bevorzugung  einzelner  Religionsgesellschaften  zu  Gun- 
sten anderer  verboten  und  überhaupt  die  Religionsfreiheit 
so  ausserordentlich  ausgedehnt,  dass  eine  Beibehaltung! 
der  hiefür  in  Betracht  kommenden  Kapitulationsbestim- 
mungen ganz  unnötig  hätte  erscheinen  müssen. 

Aber  an  Stelle  der  Aufhebung  des  Charadschs  (Kopf- 
steuer) mussten  die  Fremden  eine  neue  Last,  die  für  die 
Türkei  sicherlich  einträglicher  war,  auf  sich  nehmen, 
nämlich  die  Wehrpflicht,  von  der  man  sich  durch  eine 
Geldsumme  befreien  konnte.     Diese  letztere  Möglichkeit 

1)  Siehe  Nor.  Bd.  3,  S.  83. 


—     l'M     — 

gelangte  erst  während  des  jetzigen  Krieges  zur  Auf- 
hebung. Ferner  wurde  sogar  die  Zulassung  von 
Nichtmusehiiännern  zu  Staatsämtern  nach  ihrer  Eignung 
gestattet,  wogegen  die  Türken  zwar  heftig,  aber  erfolglos 
protestierten.  Auch  wurden  in  den  Provinzen  ge- 
mischte Verwaltungsräte  gebildet  und  eine  Beschleuni- 
gung der  Gesetzeserlassung  angeordnet.  Es  kamen  ferner 
zustande  das  Grundbesitzergesetz  vom  21.  April  185S, 
das  Strafgesetzbuch  vom  10.  August  1858,  ein  Anhang 
zum  Handeslgesetzbuch  vom  30.  April  1860,  ein  See- 
handelsgesetzbuch vom  21.  August  1863  und  eine  Han- 
delsprozessordnung  vom    15.    Oktober    1861.^) 

Von  einem  Teil  dieser  Massnahmen,  die  wir  oben  an- 
führten, konnte  bereits  in  der  Sitzung  des  Pariser  Kon- 
gresses vom  25.  März  1856  Kenntnis  genommen  v.erden 
und  der  hohe  Wert  dieser  Mitteilung  wurde  auch  aus- 
drücklich betont.  Gleichzeitig  wurde  erklärt,  „dass  den 
Mächten  in  keinem  Falle  das  Recht  zustehe,  sich  zu- 
sammen oder  einzeln  in  die  Beziehungen  des  SuUans 
und  seiner  Untertanen  oder  in  die  innere  Verwaltung 
seines  Reiches  einzumischen.''  In  Anbetracht  all  dieser 
ütrkischen  Bestrebungen  sahen  sich  auch  die  Mächte  ver- 
anlasst, die  Türkei  bei  Abschluss  des  Pariser  Friedens  in 
den  europäischen  Völkerkonzern  aufzunehmen  (siehe 
Art.  7),  wobei  sich  jedoch  die  Türkei  verpflichten  musste, 
sich  ihrerseits  gemäss  ihren  Versprechungen  zu  einem 
modernen  und  zivilisierten  Staate  auszubilden.  (Vgl,  auch 
Bachem  und  Inhalt  S.  107.) 

Wenn  wir  rückblickend  die  Errungenschaften  der  tür- 
Ivischen  Reformen  betrachten,  so  ist  der  bedeutungsvolle 
Fortschi-itt,  den  wir  beobachten  können,  die  Trennung  von 
geistlichem  und  weltlichem  Recht. 

Während  dieser  Zeit  wurde  auch  das  1864  ausge- 
arbeitete Wilajetgesetz  immer  mehr  praktisch  durchge- 
führt und  1867  auf  das  ganze  Reich  ausgedehnt.  Ferner 
erschienen  gleichfalls  unter  der  Leitung  des  ausserordent- 
lich fähigen  Midhat-Pascha  ein  Staasangehörigtkeitsgesetz 
vom  21.  Januar  1869,  ergänzt  durch  das  Gesetz  vom 
3.  April  1917  und  eine  Vervollständigung  des  Wilajet- 
gesetzes.  In  den  Jahren  1869  bis  1876  erschien  dann 
unter  Leitung  des  Justizministers  Ahmed  Dschewdet  Pa- 
scha  das   bürgerliche   Gesetzbuch   (erneuert   1911). 

Trotzdem  der  Koran  auch  fernerhin  das  offizielle 
Recht  blieb,  entstand  doch  an  seiner  Seite  ein  weltliches 

1;  Siehe  Welt  des  Islams  S.  9. 


Recht,  „das  nicht  mehr  ein  muselmanisches,  sondern- 
in  Wahrheit  ein  ottomanisches  Recht  ist,  ein  weltliches 
Recht,  das  weniger  einschränkend  und  viel  ausgedehnter 
ist  als  das  religiöse  Recht,  oft  diesem  entgegensteht,  auf 
jeden  Fall  aber  sich  besser  als  jenes  den  modernen  Be- 
strebungen anpasst*'.  1)  In  einigen  Jahrgn  war  bereits 
diese  Verweltiichung  des  Rechts  vollendet.  Eine  bemer- 
kenswerte Reform  fand  am  26.  Februar  1917  statt.  An 
diesem  Tage  nahm  die  türkische  Kammer  einen  Gesetz- 
entwurf an,  durch  den  die  bisher  dem  Scheik-ül-lslamat 
unterstehenden  Scheriatsgerichte  (siehe  Inhalt  S.  122 
Anm.  1)  und  samtliche  hiezugehörige  Einrichtungen  dem 
Justizministerium  unterstellt  wurden.  Dieser  Fortschritt, 
der  besonders  dem  regen  Komitee  für  Einheit  und  Fort- 
schritt zu  danken  ist,  sollte  hauptsächlich  der  Regelung 
der  Zuständigkeit  der  Zivil-  und  Scheriatsgerichte  dienen. 
Justizminister  Halil-Bey  betonte  hiebei,  dass  die  Sche- 
riatsgerichte nichtsdestoweniger  nach  dem  heiligen  Sche- 
riatsgesetze  Recht  sprechen  sollten.  Nach  Art.  2  dieses 
Gesetzes  soll  ein  besonderer  Scheriatssenat  beim  Kassa- 
tionshof gebildet  werden.  -) 

Derartige  Bestrebungen,  durch  Gesetzeserlassungen 
durchgreifende  Reformen  zu  schaffen,  sind  bei  der  Türkei, 
wie  wir  schon  des  öfteren  gesehen  haben,  durchaus  nichts 
Neues.  Leider  war  jedoch  ihr  guter  Wille  durch  die 
mannigfachsten  Gründe  sehr  oft  zum  Scheitern  verur- 
teilt. Pelissie  de  Rausas  charakterisiert  diese  Unmögüch- 
keit  in  dem  kurzen  Satze,  dass  „zwischen  der  Tat  und^  dem 
Gesetz  in  der  Türkei  der  trügerischste  Gegensatz  be- 
steht'^  3)  Denn  trotz  der  Trennung  des  religiösen  vom 
weltlichen  Recht,  blieben  die  Gesinnungen  der  Richter 
zunächst  streng  religiös  und  die  türkische  Regierung  hatte 
mit  dieser  Auffassung  schwere  Kämpfe  zu  bestehen,  die 
jedoch  für  die  erste  Zeit  wegen  der  allgemeinen  Gesin- 
nung des  gesamten  Volkes  erfolglos  bleiben  mussten. 
Die  Erbitterung  gegen  die  Ungläubigen  war  nicht  im 
Schwinden,  sondern  wuchs  leider  gerade  durch  deren  Be- 
günstigung im  vorigen  Jahrhundert  zu  einer  gefährlichon 
Ausdehnung  an.  Diese  zügellose  Leidenschaft  führte  be- 
reits zwei  Jahre  nach  Erlass  des  Hatti-Humajuns  im 
Juni  1858  zur  Ermordung  des  englischen  und  fran- 
zösischen Konsuls  in  Dschidda  in  Arabien,  welcher  ver- 


1)  Vergi.  Rausas  Bd.  1,  S.  120. 

2)  Siehe  Balkanrevue  Heft  1,  1917,  S.  56. 

3)  Vergl.  Rausas  Bd.  1,  S.  121. 


-      126     — 

derbliclicn  Tat  alsbald  das  furchtbare  Oeinet/el  im  Liba- 
noiijicbietf  (18öO)  folgfte,  das  alle  türkischen  Hoffnungen 
auf  eine  Befreiung  von  den  Kapitulationen  mit  einem 
Schlage  zunichte  machen  musste.  i)  Das  Vorgehen  der 
dortigen  Behörden  war  hauptsächlich  auf  die  Machtlosig- 
keit der  in  Konstantinopel  befindlichen  Regierung  zurück- 
zuführen, die  zwar  vom  besten  Willen  beseelt  war,  aber 
ihren  Befehlen  nicht  den  genügenden  Nachdruck  verleihen 
konnte.  ^)  Diese  Tat  hatte  zur  Folge,  dass  ein  fran- 
zösisches Expeditionskorps  die  Ruhe  wieder  herstellen 
rnusste  und  der  gesamte  Libanon  unter  die  Statthalter- 
schaft eines  christlichen  V'eziers  gestellt  wurde.  '■)  Das 
Unglück  der  Türkei  all  die  Jahrhunderte  hindurch  war 
eben  die  ausgesprochene  Fremdenfeindlichkeit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung,  die  ohne  politischen  Sinn  alles 
von  der  Regierung  mühsam  Errungene  wieder  zunichte 
machte.  Erst  von  Saloniki  aus  erhob  sich  allmählich  die 
jungtürkische  Bewegung,  die,  an  europäische  Verhältnisse 
gewöhnt,  deren  Vorteile  sich  zu  eigen  gemacht  hatte,  und 
nunmehr  strebte,  sie  auch  ihrem  Vaterlande  zukommen 
zu  lassen.  Mit  der  fortschreitenden  Aufklärung  der  mo- 
hammedanischen Bevölkerung  ist  auch  der  Hass  gegen 
die  Ungläubigen  sehr  zurückgegangen,  ja  in  Europa 
näher  liegenden  Gebieten  fast  gänzlich  verschwunden. 

Wenn  noch  Quizot  sagte,  dass  „es  für  die  musel- 
manische Welt  nichts  zu  hoffen  gebe,  weder  für  ihre 
eigene  Reform,  noch  für  die  Christen,  die  das  Unglück 
der  Ereignisse  unter  ihre  Gesetze  gestellt  hat",  ^)  so 
hat  sich  dieser  schon  damals  überaus  pessimistische 
Standpunkt  heute  allgemein  zu  Gunsten  der  Türkei  ver- 
ändert. Durch  die  straffe  Organisation  der  Jungtürken 
wurden  alle  Verwaltungszweige  aufs  neue  geregelt  und 
insbesondere  darauf  Rücksicht  genommen,  ohne  Scho- 
nung der  Staatsmittel,  statt  des  bisher  ziemlich  ungebil- 
deten Richterpersonals,  tüchtige  und  geschulte  Leute 
für  diese  wichtigen  Stellen  neranzuziehen,  so  dass 
Deutschland  ohne  weitere  Bedenken  seine  in  der  Türkei 
lebenden  Untertanen  auch  der  türkischen  Justiz  unter- 
stellte. 


1)  Vergl.    Engelhardt   histoire    des    reformes Paris 

188283. 

2)  „1867  schrieb  der  der  Pforte  durchaus  wohlgesinnte  iranz 
Minister  Marquis  de  Moustier,  dass  die  Ausführung  des  Hat  -  depuis 
onze  ans  echoue  devant  l'inertie  du  gouvernementturc  (s.  Holtzen- 
dorff  S    163  im  Handbuch  des  V.  R.,  Bd.  4  Hamburg  1888.)" 

3)  Diese  Autonomie  wurde  durch  die  türkische  Kundgebung 
vom  14.  November  1916  einseitig  aufgehoben. 

4)  Siehe  Rausaus  Bd.  1,  S.  122. 


Anhang 
zu  den   türkischen  Aufhebungsbestrebungen. 

Die  Meerengenfrage. 

Bereits  im  Jahre  1798  (10.  August)  erliess  die  Pforte 
betreffs  der  Dardaneiienfrage  eine  Zirkularnote,  ^)  in 
welcher  sie  eine  bedeutende  Einschränkung  der  Freiheit 
der    Durchfahrt    in    den    Dardanellen    forderte. 

Die  Pforte  befand  sich  hierbei  vollkommen  im  Recht, 
denn  sie  war  der  alleinige  Besitzer  des  Marmarameeres 
und  der  Dardanellen  und  hatte  nur  durch  verschiedene 
Verträge  den  fremden  Staaten  bestimmte  Vorzugsrechte 
hinsichtlich  der  Ein-  und  Ausfahrt  gewährt.  Wie  wir 
aus  der  Geschichte  der  Kapitulationen  ersehen  konnten, 
waren  besonders  bevorzugte  Staaten,  die  näher  umgrenzte 
Rechte  erhielten,  Oesterreich  und  Russland,  die  auch 
gemäss  ihrer  geographischen  Lage  am  meisten  am 
Schwarzen  Meer  und  mithin  an  einer  freien  Durchfahrt 
durch  die  Dardanellen  interessiert  waren.  -)  Da  sich  bei 
einer  vollkom.menen  Durchfahrtsfreiheit  für  die  Pforte 
ausserordentliche  Schwierigkeiten  ergeben  mussten, 
schränkte  sie  dieses  Recht  der  fremden  Staaten  „de  cir- 
culer  librement  sur  terre  et  sur  mer''  bereits  in  der  öster- 
reichischen Kapitulation  von  1718  ziemlich  ein,  indem 
sie  im  2.  Artikel  dieses  Uebereinkommens  bestimmte, 
dass  die  österreichischen  Schiffe  ihre  Waren  bereits  an 
festgesetzten  Plätzen  der  Donau  in  „des  caiques  et 
d'autres  bätiments  propres  ä  la  navigation  de  la  mer 
noire"  umladen  müssen. 3)  'Hierdurch  erreichte  die  Türkei 
eine  bedeutend  erleichterte  Kontrolle  über  die  einlaufen- 
den ausländischen  Schiffe.  (Vgl.  die  ähnliche  Einschrän- 
kungen enthaltenden  russischen  Kapitulationen  in  Teil  I.) 

1)  Text  Nor.  li.  S.  24.  Strupp  Aktenst.  S.  28 

2)  Aber  auch  Frankreich  erhielt  mehr  umgrenzte  Rechte  bei 
Abschluss  des  türkisch-französischen  Friedens  vom  25.  Juni  1802 
(siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  51).  Gemäss  Art.  2  wurde  Frankreich  für 
seine  unter  französischer  Flagge  fahrenden  Handelsschiffe  das  Ein- 
tritts- und  Schiffahrtsrecht  im  Schwarzen  Meere  ohne  irgendwelche 
Streitigkeiten  zugestanden.  Art.  3  erklärt  hiebei  ausdrücklich  die 
alten  Kapitulationen  als  wieder  in  Kraft. 

3)  Siehe  Nor.  Bd.  1,  S.  220  und  Strupp  Akt.  Stück  S.  10. 


—      123     — 

Das  hauptsächliche  Streben  der  Türkei  war  bei  all 
diesen  Abkommen  immer  darauf  gerichtet,  keine  Kriegs- 
schiffe in  das  Gebiet  des  Schwarzen  Meeres  eindringen 
zu  lassen,  welche  Vorsicht  sie  ganz  besonders  gegenüber 
Russland  zu  wahren  suchte,  ba  dieses  Bestroben  der 
Pforte  in  verschiedenen  Fällen  übertreten  wurde,  erliess 
sie  eben  das  obenerwähnte  Rundschreiben,  das  sich  an 
die  vor  allem  in  Betracht  kommenden  Staaten  England, 
Oesterrcich,  Dänemark,  Frankreich,  Preussen,  Schweden 
und  Russland  wandte.  Da  die  Meerengen  Teile  der  offe- 
nen See  mit  einander  verbinden,  stünde  nach  Völkerrecht 
trotz  der  Beherrschung  der  Ufer  durch  die  Türkei  die 
Durchfahrt  den  Kriegs-  und  Handelsschiffen  der  übrigen 
Mächte  offen,  i)  Trotzdem  konnte  es  jedoch  der  Türkei 
durchaus  nicht  verwehrt  sein,  unter  Berufung  auf  die  un- 
sicheren Zeitläufte,  zu  erklären,  dass  die  blosse  Erlaubnis, 
die  die  türkischen  Behörden  den  fremden  Schiffen  zur 
Einfahrt  geben,  keine  genügende  Sicherheit  für  die  Türkei 
mehr  bieten  und  dass  sie  auf  einer  Kenntlichmachung  der 
Nationalität  des  betreffenden- ^hiff es  bestehen  müsse. 

Alle  Schiffe  haben  daher  on  einer  bestimmten  Stelle 
des  Kanals  vor  Anker  zu  gehen,  damit  sowohl  sie,  als  auch 
ihre  Passagiere  einer  genauen  Untersuchung  unterw'or- 
feii  werden  könnten.  Dieselbe  wird  von  den  türkischen 
Behörden  in  Begleitung  des  für  die  jNationalität  des  Schif- 
fes zuständigen  Konsuls  vorgenommen  und  nur  auf  die 
Garantie  dieser  Vertretungsbehörden  dürien  die  aus- 
ländischen Schiffe  weiterfahren.  Für  den  Fall,  dass  die 
fremden  Schiffe  diese  Anordnungen  der  türkischen  Re- 
gierung nicht  genügend  beachten  sollten,  wird  ihnen  mit 
schärfsten  Massregeln  gedroht.  Man  wird  sich  ihrer 
Durchfahrt  ohne  jeden  Zeitverlust  widersetzen  und  nichts 
versäumen,  um  sie  zu  vernichten.  Zum  Schlüsse  drückt 
die  Pforte  noch  ihre  Hoffnung  aus,  dass  die  befreundeten 
Mächte  alles  tun  werden,  um  die  Vertrauenswürdigkeit 
der  in  Betracht  kommenden  Konsuln  zu  heben,  da  sich  die 
Türkei  ja  auf  deren  Wert  verlassen  müsse.  In  der  späte- 
ren Zeit  kam  die  türkische  Regierung  jedoch  den  fremden 
Mächten  immer  mehr  entgegen. 

Bereits  am  7.  Juli  1806  benachrichtigte  die  Pforte 
den  preussischen  Gesandten,  dass  sie  es  in  Anbetracht  der 
innigen  Handelsbeziehungen  zwischen  diesen  beiden  Staa- 
ten für  angebracht  hält,  den  preussischen  Handeisschiffen 
die   Erlaubnis  zu   geben,  „ein-  und   auszufahren  in   den 

1;  Siehe  Liszt  Völkerrecht  1913  S.  199. 


—     129     — 

Häfen  der  Türkei,  die  sich  im  Schwarzen  Meer  befin- 
den". J)  Die  Türkei  konnte  Preussen  dieses  Zugeständ- 
nis umso  leichter  machen,  da  sie  von  einer  solchen  Hari* 
delsverbhidung  nur  grossen  Nutzen,  kaum  aber  kriege- 
rische  Gefahren    zu    befürchten    hatte. 

Aber  auch  gegenüber  Russland  musste  die  Pforte 
späterhin  immer  mehr  nachgeben.  Durch  den  Adrianoplqr 
Friedensvertrag  vom  2./14,  September  1829 -)  wurde  im 
7.  Artikel  2.  Abschnitt  den  russischen  Schiffen,  „soweit  sie 
Handelsschiffe  sind**,  zugestanden,  „dass  sie  keiner  wie 
immer  gearteten  Behinderung  oder  Schikane  unterliegen 
sollen'*.  Im  übrigen  erklärte  die  Türkei  die  Dardanellen 
für  die  Handelsschiffe  aller  mit  ihr  im  Frieden  lebenden 
Mächte  im  selben  Umfange  „libre  et  ouvert"  wie  für  die 
unter  der  russischen   Flagge  fahrenden  Schiffe. 

Zum  Schlüsse  dieses  7.  Artikels  musste  die  Türkei 
sogar  soweit  gehen,  dass  sie  Russland  ein  Repressalien- 
recht zugestand  für  den  Fall,  „dass  irgend  eine  der  in' 
dem  vorliegenden  Vertrag  enthaltenen  Bestimmungen 
verletzt  werden  sollte,  ohne  dass  die  Beschwerden  des 
russischen  Ministers  in  dieser  Beziehung  eine  volikom- 
m.ene  und  rasche  Genugtuung  gefunden  hätten**.  Diese 
Begünstigung  Russlands  hinsichtlich  der  Dardanellen- 
frage ging  sogar  soweit,  dass  die  Türkei  in  einem  ,,Ar- 
ticle  separe**  zum  Allianzvertrag  zwischen  Russland  und 
der  Türkei  vom  26.  Juni/ 8  Juli  1833^^)  von  Unkiar- 
Iskelessi  zu  Gunsten  Russlands  das  Versprechen  abgab, 
„die  Meerenge  der  Dardanellen  zu  verschliessen**,  d.  h 
keinem  fremden  Kriegsschiffe  gestatten  werde  unter  ir- 
gendeinem Vorwand  dahin  einzudringen.  Dieses  alte 
Verbot  der  Einfahrt  für  fremde  Kriegsschiffe  findet  sich 
neuerdings  ausdrücklich  bestätigt  anlässlich  des  Abkom- 
mens^) zwischen  England,  Oesterreich,  Preussen  und 
Russland  „pour  la  pacification  du  Levant**.  infolge  des 
Aufstandes  Mehmed  Alis  übernahmen  die  Mächte  da- 
mals den  Schutz  der  Dardanellen  mit  dem  ausdrücklichen 


1)  Siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  78,  Strupp  Akt.  Stücke  S.  33. 

2)  Nor.  Bd.  II  S.  166.  Deutsche  Uebersetzung  siehe  Strupp 
Aktenstück  S.  47.  Vergl.  Dardanellenvertrag  mit  England  von 
1809.     S.  Inhalt  S.  48  Anm.  2. 

3)  Siehe  den  Text  bei  Nor.  Bd.  2,  S.  229  und  Strupp  Akt. 
Stücke  S.  62. 

4)  Dieses  Abkommen  vom  15.  Juli  1840  siehe  bei  Nor.  Bd.  2, 
S.  303  und  Strupp  Aktenstücke  S.  63. 

9 


—     \:i)    — 

Vorbehalt,  dass  dies  nur  eine  ausserordentliche  Mass- 
nahme sei  „adoptee  ä  la  demande  expresse  du  Sultan". 
Der  4.  Artikel,  der  dieses  Abkommen  enthält,  fährt  dann 
fort,  „dass  diese  Massnahme  durchaus  nicht  die  alte 
Vorschrift  des  türkischen  Reiches  aufhebe,  auf  Grund 
\velchcr  es  den  Kriegsschiffen  der  fremden  Mächte  jeder- 
zeit verboten  war,  in  die  Meerengen  der  Dardanellen  und 
des  Bosporus  einzudnngen."  Wir  können  überhaupt 
immer  sehen,  dass  die  Türkei  gerade  durch  das  gegen- 
seitige Misstrauen  der  sie  „beschützenden"  Mächte  vor 
den  härtesten  Massregeln  bewahrt  blieb,  wozu  zweifellos 
ein  Eindringen  fremder  Kriegsfahrzeuge  gehört  haben 
würde. 

Auf  das  Drängen  verschiedener  Mächte  hin  wurde 
jedoch  auch  dieses  Verbotsrecht  der  Türkei  dadurch 
eingeschränkt,  dass  das  Londoner  Protokoll  vom  15.  Juli 
1840  i)  die  Einfahrt  fremder  leichter  Kriegsschiffe  durch 
die  Meerengen  gestattete,  aber  nur  unter  dem  schliesslich 
leicht  zu  umgehenden  Vorbehalt,  dass  sie  für  den  Korre- 
spondenzdienst der  fremden^  Mächte  verwendet  werden. 

Nachdem  noch  verschiedene  Konventionen  und  Be- 
sprechungen in  der  Frage  der  Meerengen  stattgefunden 
hatten,  erfolgte  am  13.  Juli  1841  ein  neuerliches  Abkom- 
men, dem  diesmal  auch  Prankreich  beitrat.-) 

In  den  einleitenden  Bemerkungen  gestanden  die 
fremden  Mächte  aus  den  bereits  oben  erwähnten  Grün- 
den, der  Pforte  neuerdings  das  Recht  zu,  die  Meerengen 
solange  für  fremde  Kriegsschiffe  zu  schliessen,  als  sie  sich 
im  Frieden  befinde.  Diese  Befugnis  der  Pforte  wird  da:;n 
im  1.  Artikel  nochmals  ausdrücklich  hervorgehoben  und 
die  Signatarmächte  verpflichten  sich  „ä  respector  cetie 
determinalion  du  Sultan*.  Eine  Ausnahme  soll,  wie  sie 
bereits  das  Londoner  Protokoll  von  1840  festsetzte,  den 
leichten  Kriegsschiffen  zugestanden  werden,  die  Kurier- 
dienste zwischen  den  Gesandtschaften  verrichten.  Zun 
Schli!?se  wird  in  einem  4.  Artikel  den  übrigen  befreunde- 
ten Staaten  von  seiten  der  Türkei  der  Beitritt  offen  ge- 
lassen,   welcher    Einladung    späterhin    Toskana    (1.    Mai 


1)  Das  Meerencienabkommen  siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  310  und 
Strupp  Akt.  Stücke  S.  70.  Dieses  Protokoll  wurde  unterzeichnet 
von  Oesterreich,  Grossbritannien,  Preussen,  Russland  und  der 
Türkei  (Frankreich  stand  damals  auf  Seiten  ;les  aufständischen 
Vizekönißs  von  Aegvpten  Mehmed   Ali). 

2    Siehe  Nor.  Bd.  2,    S.  342    und    Strupp    Akt.   Stücke  S.  73. 


-        IM'      — 

1842),  Dänemark  (14.  Mai  1842),  Belgien  (23.' Juni  1842), 
Schweden  und  Norwegen  (5.  Juli  1842)  gefolgt  sind.  ^) 

Eine  neuerliche  Regelung  fand  diese,  die  europä- 
ischen Mächte  immer  mehr  interessierende  Frage  auf  der 
Pariser  Konferenz  von   1856. 

Nachdem  der  den  Krimkrieg  beendende  Pariser 
Friede  vom  30.  März  1856  zunächst  im*^  10.  Artikel  eine  Re- 
vision der  Konvention  vom  13.  Juli  1841  vorgesehen, 
hatte,  wurde  auch  mit  Uebereinstimmung  aller  beteiligten 
Mächte  ein  Meerengenvertrag  -)  als  Anhang  des  Pariser 
Friedens  abgeschlossen,  der  in  seinen  ersten  zwei  Anilvcln 
vollkommen    der    Londoner    Konvention    gleicht. 

Der  Pariser  Friede  -selbst  geht  in  seinen  Bestim- 
mungen hinsichtlich  der  Meerengenfrage  noch  bedeutend 
weiter  als  die  Londoner  Konvention  von  1841,  indini  er 
in  seinem  11.  Artikel  das  Schwarze  Meer  denselben  Re- 
gelungen unterwirft  wie  die  Meerengen,  und  sich  nicht 
zufriedengebend  mit  dem  Verbot  der  Einfahrt  fremder 
Kriegsschiffe  in  die  Dardanellen,  es  einfach  für  neutrales 
Gebiet  erklärt.  Dieser  Neutralität  entsprechend,  verbietet 
der  13.  Artikel  auch  jede  militärische  Anlage  im  Schwar- 
zen Meer  „gemäss  den  Prinzipien  des  internationalen 
Rechts'^  Zwischen  Russland  und  der  Türkei  erfolgte 
ferner  ein  besonderes  Abkommen  über  die.  Zahl  und 
St^^rke  der  im  Schwarzen  Meer  hsfindlichen  beiderseitigen 
leichten  Kriegsschiffe.  Dieses  im  14.  Artikel  vorgesehene 
Uebereinkom.men  v/urde  dann  auch  wirklich  als  Anhang 
zum  Friedensvertrage  von  185Ö  ausgearbeitet.  ')  Hierbei 
wurde  besonders  vereinbart,  dass  eine  Aufhebung  oder 
Aenderung  dieser  vereinbarten  Bestimmungen  nur  unter 
Zustimmung  „des  Puissances  signataires  du  present 
traite"    stattfinden    könne. 

Diese  Bestimmungen  daue-fien  jedoch  nur  solange, 
als  die  europäischen  Mächte  wenigstens  äusserlich  fest 
verbunden  der  Türkei  gegenüber  treten  konnten  und  Zeit 
genug  fanden,  auf  die  genaue  Beobachtung  der  Neutrali- 
tät des  Schwarzen  Meeres  sowohl  Russland  als  auch  der 
Türkei  gegenüber  zu  bestehen.  Diese  Russland  ziemlich 
unangenehme  Lage  änderte  sich  jedoch  sehr  zu  seinen 
Gunsten,  als  der  deutsch-französische  Krieg  die  ganze 
Welt  in  Atem  hielt  und  diese  ihn  besonders  interessie- 


1)  Diese  Beitrittserklärungen  siehe  Nor.  Bd.  2,  S.  346  bis  S.  349. 

2)  Nor.  Bd.  3,  S.  80  und  Strupp  Akt.  Stücke  79. 

3)  Nor.  Bd.  3,  S.  82. 


—     132    — 

rende  Frage  zu  seinen  Gunsten  entscheiden  Hess,  i)  Die 
Londoner  Konferenz  „pour  la  revision  du  Traite  de 
Paris  du  30.  Mars  1S56",  die  vom  17.  Januar  bis  14.  März 
1871  -)  ihre  Sitzungen  abhielt,  brachte  am  14.  März 
1871  ■•)  den  Londoner  Vertrag  „pour  la  revision  de  cer- 
taines  stipulations  du  Traite  du  30.  Mars  1856"  zustande, 
der  Russland  die  Erfüllung  seiner  Wünsche  verschaffte. 
Gemäss  Art.  1  wurden  die  Art.  11,  13,  14  des  Pariser 
Vertrages  von  1856  nebst  ihren  Anhängen  für  aufgehoben 
erklärt  und  durch  einen  neuen  Artikel,  der  in  diesem 
Londoner  Vertrag  als  2.  Artikel  sich  befindet,  ersetzt. 
Darnach  sollen  zwar  die  Bestimmungen  über  die  Schlies- 
sung der  Dardanellen  und  des  Bosporus  gemäss  den  Be- 
stimmungen des  Pariser  Separatabkommens  aufrechterhal- 
ten bleiben,  aber  mit  der  Einschränkung,  dass  der  Sultan 
das  Recht  haben  solle,  „die  besagten  Meerengen  in 
Friedenszeiten  den  Kriegsschiffen  der  befreundeten  und 
verbündeten  Mächte  zu  öffnen,  in  dem  Falle,  VvO  die 
Pforte  es  für  notwendig  erachten  würde,  um  die  Aus- 
führung der  durch  den  Pariser  Vertrag  vom  30.  März 
1856  vereinbarten  Bestimmungen  zu  überwachen''. 
Diese  beiden  Verträge  wurden  neuerdings  durch  den 
63.  Artikel  des  Berliner  Vertrages  vom  13.  Juli  1878"^) 
anerkannt,  der  bestimmte,  dass  sie  in  all  ihren  Bestim- 
mungen aufrechterhalten  bleiben  sollten,  sofern  nicht 
durch  vorhergehende  Festsetzungen  eine  Aufhebung  oi^v 
Aenderung  eingetreten  sei. 

Dies  war  die  Entwicklung  der  Meerengenfrage  bis 
zum  Ausbruch  des  Weltkrieges.  Bei  dessen  Beginn 
schloss  die  Türkei  natürlich  die  Meerengen  für  feindliche 
Kriegsschiffe  und  trug  durch  zähes  Festhalten  an  die- 
sem Standpunkte  nicht  unwesentlich  zur  bisherigen  sieg- 
reichen Fortführung  des  Krieges  bei. 

Für  den  derzeitigen  kulturell  hochstehenden  Geist 
der  türkischen  Staatsmänner  zeigt  es  aber,  dass  das  tür- 
kische Waffenstillstandabkommen  mit  Russland  von  1917 
sogleich  einen  Zusatz  enthielt,  der  der  russischen  Schiff- 
fahrt  das   Schwarze   Meer  freistellt. 


1)  Bereits  am  19./31.  Oktober  1870  hatte  Russland  diese  Neu- 
tralität des  Schwarzen  Meeres  einseitig  für  aufgehoben  erklärt 
(vergl  Strupp  Bd.  1,  S- 283).  was  von  verschiedenen  Seiten  durch- 
aus verschieden  beurteilt  wird.     Näheres   siehe  nächstes  Kapitel. 

2)  Nor.  Bd.  3,   S.  301. 

3)  Nor.  Bd.  3,   S.  333. 

4)  Nor.  Bd.  IV,  S.  175.     Strupp  1.  S.  202. 


—    133    — 

IV.  Kapitel. 

Die   Aufhebung    der    Kapitulationen   im  Liclite  der 
Geschichte  und  des  Völkerrechts. 

Bereits  im  vorigen  Kapitel  sprachen  wir  über  die  Auf- 
hebungsbestrebungen der  Türkei,  die  sich  nicht  nur  mit 
einem  einseitigen  Anfechten  und  Protestieren  begnüg- 
ten, sondern  auch  bemüht  waren,  den  Mächten  durch  die 
A^erschiedenartigsten  Relormen  diesen  schwerwiegenden 
Schritt  zu  erleichtern.  Üass  es  einstweilen  nicht  dazu 
kommen  konnte,  iag,  wie  wir  bereits  ausführten,  durchaus 
nicht  an  einem  Verschulden  der  türkischen  Regierung,  es 
sei  denn,  dass  man  die  Unbotinässigkeit  der  der  Pforte 
untergeoidneten   Stellen   der   ersteren   anrechnen   wollte. 

Vor  allem  beriefen  sich  die  Mächte  auf  die  Unmög- 
lichkeit, ihre  Untertanen  den  Anfeindungen  des  Korans 
auszusetzen,  da  gemäss  demselben  „die  Aussagen  der 
Christen  gegen  Muselmänner  oder  Türken  keine  Kraft 
haben  und  nicht  einmal  zugelassen  werden  dürfen",  i) 
\.  Martens  meint  ferner,  dass  es  für  einen  Christen  völlig 
unmöglich  sei,  „die  Türken  eines  falschen  Zeugnisses 
J.U  überführen,  da  kein  einziger  Moslem  gegen  einen 
anderen  zugunsten  eines  Christen  aussagen  wird'*.-) 

Dieser  gründliche  Kenner  der  orientalischen  Ver- 
hältnisse schrieb  im  Anschlüsse  an  seine  Erörterung  übei* 
•die  mohammedanische  Religion  (siehe  Teil  1),  dass  es 
schon  jetzt  vollkommen  klar  sei,  „dass  die  Rechte  und 
Privilegien  dieser  letzteren  (d.  h.  der  Konsuln)  im  osma- 
nischen  Reiche  sich  ausschliesslich  auf  die  völkerrecht- 
lichen Traktate  und  Kapitulationen  gründen,  so  dass 
die  Aufhebung  dieser  die  permanenten  Fundamentalsätze 
des  Islams  wieder  in  Kraft  setzen  würde,  nach  welchem 
der  Konsul  eben  solch  ein  Harbi  oder  natürlicher  Feind 
der  Moslemin  ist,  wie  alle  übrigen  Christen.  Wenn  man 
überdies  der  Unwissenheit  und  des  religiösen  Fanatis- 
mus der  muselmännischen  Bevölkerung  der  Türkei  ein- 
gedenk ist,  so  T^ann  hinsichtlich  des  Loses  der  Konsuln 
und  Untertanen  der  europäischen  Staaten  im  Falle  der 
Aufhebung  der  bestehenden  Kapitulationen  nicht  der 
mindeste   Zweifel   sein.'*  3) 


1)  Martens  S.  205.     Testa  Bd.  1  I.  Kapitel  S.  7. 

2)  Martens  S.  205. 

3)  Martens  S.  181. 


—     i:34       - 

Diesen  Zwiespalt  zwisciien  Religion  und  Fremden- 
politik  charakterisiert  Feraud-Giraud  sehr  treffend  da- 
hin, dass  „die  nichtchristiichen  Staaten  gezwungen  sind^ 
die  Fremden  von  ihrem  Gebiete  auszuschhessen,  widri- 
genfalls sie  gegen  ihre  theokratischen  Grundsätze  Ver- 
stössen. Oder  sie  müssen  den  Fremden  (oder  den  eige- 
nen Andersgläubigen)  eine  besondere  Rechtsstellung  ein- 
räumen und  ihnen  gestatten,  unter  der  Herrschaft  ihrer 
Gesetze  zu  leben,  die  nur  von  ihren  eigenen  Gerichts- 
behörden angewandt  werden  können.  Die  Einrichtung 
der  exterritorialen  Gerichte  findet  hierin  ihre  volle  Er- 
klärung und  Rechtfertigung;  sie  drängt  sich  als  eine  Not- 
wendigkeit auf,  der  man  sich  unterwerfen  inuss,  wenn 
man  nicht  auf  jedweden  Verkehr  mit  gewissen  Nationen 
verzichten   will."i) 

Feraud-Giraud  fügt  jedoch  hinzu,  dass  diese  Ge- 
richte trotz  alledem  ihr  Dasein  ganz  besonderen  Umstän- 
den und  durchaus  ungewöhnlichen  Bedingungen  ver- 
danken. ,,Sie  stehen  in  vollem  Widerspruch  sowoiil 
mit  der  nationalen  Einheit  und  Homogenität,  als  auch  mit 
dem   Souveränitätsrechte   der  Staaten.'*  i) 

Auch  Heffter-Geffcken  spricht  sich  in  überaus  schar- 
fen Ausdrücken  gegen  eine  Aufhebung  der  Kapitulationen 
und  mithin  eine  Annullierung  der  Gerichtsexemptionen 
der  Fremden  aus.  Nachdem  er  die  immer  anmassendcren 
Rechte  der  fremden  Konsuln  schilderte,  schreibt  er:  „Man 
begreift  daher,  dass  die  Pforte  seit  1856  sich  bestrebte, 
die  Kapitulationen  zu  beseitigen,  aber  diese  Versuche 
sind  nutzlos  geblieben,  weil  sie  nicht  die  Gewghr  einer 
wirklich  unparteiischen  Justiz  für  die  Christen  bieten 
kann.  .  .  .  Die  Kapitulationen  aufheben,  hiesse  eiiifach' 
die  Christen  der  Willkür  der  Paschas  und  Kadis  über- 
liefern   und   die    christlichen    Kolonien    zerstören.*'-) 

Wenn  wir  nun  diese  verschiedenen  Ausführungen 
und  das  bereits  früher  Erörterte  mit  den  Lasten  des 
türkischen  Staates,  wie  sie  sowohl  türkische  Staatsmänner 
(Pariser  Konferenz  1856),  als  auch  christliche  Gelehrte 
darstellten,  vergleichen,  so  müssen  wir  unbedingt  zu  dem 

1)  F6raud-Giraud :  La  juridiction Bd.  1,  S.  29  ff.  und 

ferner:  les  justices  mixtes  dans  les  pays  hors  chretiente  S.  12. 
Aehnlich  von  Martens  S.  181:  „ihre  Aufhebung  (d.h.  die  der  Kapi- 
tulationen) würde  unvermeidlich  die  türkische  Regierung  veran- 
lassen, solche  Gesetze  in  Wirkung  treten  zu  lassen,  die  mit  den 
unveränderlichen  Grundlagen  des  Islams  und  des  moslemischen. 
Staates  in  vollkommenem  Widerspruch  sein  würden." 

2)  Siehe  Heffter-Geffcken  1880  S.  477,  §  242  Anm.  2. 


—     135     — 

Schlüsse  kommen,  dass  kein  Staat  sich  um  einzelner 
Fremder  willen  seiner  grundlegendsten  Hoheitsrechte  be- 
rauben kann,  und  dass  keine  ausländische  Macht  dieses 
Opfer  für  ihre  im  Orient  lebenden  Untertanen  in  so  wei- 
tem. Masse  fordern  darf,  wie  dies  vor  dem  Weltkriege  ge- 
schah. Es  entsteht  nur  die  eine  Frage,  auf  welche  Weise 
die  Türkei  die  Möglichkeit  bcsass,  sich  von  dein  Kapi- 
tulationssystem zu  befreien  und  ob  die  von  ihr  gewählte 
Art  die  richtige  und  völkerrechtlich  zulässige  war. 

Wie  wir  bereits  an  verschiedenen  Stellen  unserer 
Abhandlung  hervorhoben,  ging  die  türkische  Auffassung* 
seit  jeher  dahin,  dass  die  Pforte  berechtigt  sei,  die  Kapi- 
tulationen einseitig  aufzuheben,  da  sie  nur  Verordnungen 
seien,  „que  la  sublime  Porte  avait  edictes  exlusivement 
de  son   propre  agrement  .  .  ."  (Vgl.   Inhalt  Teil  II.) 

Diese  Auffassung  wurde  jedoch  weder  vor  noch  nach 
dem  Kriege  von  irgendeiner  Macht  anerkannt.  ^)  Be- 
sonders erwähnenswert  im  Hinblick  auf  die  hierbei  ent- 
wickelten Gedankengänge  sind  die  türkisch-holländischen 
Auseinandersetzungen  in  dieser  Streitfrage.  Bereits  im 
1.  Kapitel  unseres  II.  Teils  haben  wir  ausgeführt,  dass 
dieser  türkische  Aufhebungsgrund  juristisch  durchaus 
nicht  geteilt  werden  kann  und  dementsprechend  betonte 
der  hollä,ndische  Gesandte  in  seiner  Antwort  auf  die 
türkische  Note  vom  9.  September  1914,-)  dass  er  hin- 
sichtlich dieser  türkischen  Ansicht  seine  vollkommene 
Reserve  aussprechen  müsse  („quant  au  caractere  uni- 
lateral qu'elle  attribue  aux  Capitulations*')  und  dass  er 
die  über  diesen  Punkt  von  Said  Halim  geäusserte  Mei- 
nung nicht  teilen  könne. 

Kurz  darauf  erhielt  die  Pforte  durch  ein  Schreiben 


1)  In  der  Plenarsitzung  des  Reichstags  vom  10.  Mai  1917  er- 
klärte der  damalige  deutsche  Staatssekretär  des  Auswärtigen 
Zimmermann  ausdrücklich,  dass  „die  deutsche  Regierung  die  ein- 
seitige Aufhebung  der  Kapitulationen  vom  Standpunkt  des  Völker- 
rechts nicht  als  wirksam  anerkennen  konnte;  denn  die  Rechte, 
welche  den  Deutschen  auf  Grund  des  bisherigen  Rechts  zustanden, 
waren  durch  Verträge  verbrieft." 

Auch  von  Martens  spricht  sich  gegen  ein  einseitiges  Auf- 
hebungsrecht der  Türkei  aus,  indem  er  anschliessend  an  die  Fest- 
stellung der  völkerrechtlichen  Vertragsnatur  der  Kapitulationen, 
bemerkt,  dass  „die  Türkei  eine  Aufhebung  der  Kapitulationen  oder 
Abänderung  einiger  Besiimmungen  derselben  wünscht,  doch  nicht 
anderSj  als  mit  Zustimmung  der  anderen  Mächte.  Daher  kann 
von  einef  einseitigen  Aufhebung  der  Wirkungskraft  der  Kapitula- 
tionen wohl  nicht  die  Rede."     s.  Martens  S.  108. 

2)  Van  der  Does  De  Willebois  Brief  vom  11.  9.  1917  siehe 
Strupp  Aktenstücke  S.  314. 


—    no    — 

vom  26.  September  1Q14  die  Auffassung  des  holländisdien 
Miiiisteriums  selbst  mitgeteilt,  worin  dieses  auf  der  Zwei- 
seitigkeit der  Kapitulationen  beharrt,  den  Schritt  der 
Pforte  nicht  anerkennt  und  erklärt,  dass  sie  sich  jeder 
Verletzung  „aux  droits  neerlandais  bases  sur  ou  se 
rattachant  au  regime  Capitulaire''  widersetze.^) 

Von  Interesse  ist  aber  nunmehr  die  Antwort,  die 
Prinz  Said  Halim  am  5.  Dezember  1914  auf  diese  Note 
gab.  -)  Naciidem  •er  kurz  darauf  hinweist,  dass  er  über 
die  bisherige  Streitfrage  in  keiiie  Erörterungen  mehr  ein- 
zutreten wünsche  und  dass  die  zu  Gunsten  der  Türkei' 
geschlossenen  Uebereinkommen  auf  dem  Punkte  an- 
gelangt seien,  ihr  hervorragendstes  Interesse  zu  ver- 
lieren, fährt  er  fort:  „Er  begnüge  sich  damit  hervorzu- 
heben, dass  die  Pforte  wie  jeder  andere  Staat  das  Recht 
habe,  „les  Actes  internationeaux",  die  ohne  eine  vcr- 
tragsmässige  Bestimmung  ihrer  Dauer  abgeschlossen  wor- 
den waren,  zu  gelegener  Stunde  zu  kündigen.  Denn  in 
der  Tat  könne  kein  Vertrag  Bestimmungen  über  eine 
ewige  Fortdauer  enthalten,  sobald  diese  Anordnungen 
Gebiete  des  Handels,  der  Organisation,  der  gericht- 
lichen Prozessführung  oder  der  Verwaltungsbehörde  be- 
treffen, die  augenscheinlich  dem  Wandel  der  Zeiten  unter- 
worfen sind.  Die  kaiserliche  Regierung  hat  umsomehr 
das  unleugbare  Recht  von  der  Möglichkeit  einer  Kündi- 
gung, die  ihr  zusteht,  Gebrauch  zu  machen,  als  die 
Einrichtung  der  Kapitulationen,  welche  veraltet  ist  und 
nicht  mehr  den  modernen  Erfordernissen  entspricht,  selbst 
wenn  sie  in  ihre  vertragsmässigen  Grenzen  gebannt  ist, 
die  eigene  Existenz  der  Türkei  bedroht  (menace  sa 
propre  existence)  und  die  Punktion  (fonctionnement)  der 
öffentlichen  ottomanischen  Sache  sehr  schwierig  gestal- 
tet.*' •^)  Ueber  diese  letzteren  Motive  verweist  das  tür- 
kische Ministerium  dann  auf  die  bereits  erwähnte  Note 
vom  9.  September  1914.  (Siehe  auch  Inhalt  Kapitel  über 
die  Wirkung  der  Kapitulationen.) 

An  dieser  türkischen  Note  ist  auffallend,  dass  das 
türkische  Ministerium  zwar  nicht  mehr  die  einseitige 
Privilegiennatur  der  Kapitulationen  als  Aufhebungs- 
grund anführt,  dafür  jedoch  zwei  andere  bemer- 
kenswerte Momente  für  die  Berechtigung  einer  ein- 
seitigen Aufhebung  hervorhebt.  Zunächst  weist  es 
darauf  hin.  dass  die  Türkei  die  Kapitulationen  trotz  der 

1)  Strupp  Aktenstücke  S.  314. 

2)  Strupp  Aktenstücke  S.  314. 


-      137      - 

nach  dem  Jahre  1740  eingeführten  Ewigkeitsdauer  als 
•ohne  vertragsmässige  Festsetzung  einer  Frist  abgeschlos- 
sen ansieht  (sans  stipulation  de  delai)  und  ferner,  dass 
eine  solche  Ewigkeitsdauer  unmöglich  eingehalten  wer- 
den könne,  da  die  Abkommen  gemäss  der  Natur  ihres 
Inhalts  den  verschiedenen  zeitlichen  Veränderungen  un- 
terworfen sind. 

Bezüglich  des  ersten  Punktes  müssen  wir  bemerken, 
dass,  wenn  auch  ein  Vertrag  mit  dem  Ewigkeitsvermerk 
abgeschlossen  wird,  er  dennoch  nicht  ohne  weiteres  unter 
Hinweis  auf  eine  veränderte  Sachlage  gekündigt  werden 
kann,  da  dies  zu  einer  weitausgreifenden  Rechtsunsicher- 
heit führen  könnte  und  jedem  Vertragsbrüchigen  eine 
willkommene  Handhabe  bieten  würde,  um  jeden  seiner 
Schritte  von  vornherein  zu  rechtfertigen.  (Vgl.  Inhalt 
Kapitel  1,  Teil  II.) 

AvUch  v.  Liszt  ist  der  Meinung,  dass  ein  auf  „ewiga 
Zeiten"  geschlossener  Vertrag  „von  besonderer  Verein- 
barung abgesehen"  nicht  ohne  weiteres  einseitig  künd- 
bar sei,  wobei  er  freilich  einschränkend  bemerkt,  dass 
die  veränderte  Sachlage  als  entschuldigendes  Moment 
in   Betracht  gezogen   werden  könne,  i) 

Bezüglich  der  Verletzung  der  Ewigkeitsklausel  steht 
die  Türkei  durchaus  nicht  aliein  und  ohne  historisches 
Beispiel  da. 

Wie  wir  bereits  in  unserer  Schilderung  der  Meer- 
engenfrage ausführten,  zögerte  der  russische  Staat  kcines- 
w^egs,  die  für  ihn  günstige  Lage  am  19./31.  Oktober  1870  da- 
zu zu  benützen,  die  für  ihn  lästigen  Bestimmungen  der  Pa- 
riser Konferenz  einfach  einseitig  aufzuheben.  Infolge  der 
damahgen  politischen  Verhältnisse  mussten  die  iVlächte 
schliesslich  der  Forderung  Russlands  auf  der  Londoner 
Konferenz  zustimmen,  bezeichneten  aber  vorher  dessen 
Vorgehen  als  durchaus  völkerrechtswidrig.  Hierbei  be- 
tonten die  Mächte  auf  das  feierlichste,  dass  Verträge 
jiicht  einseitig  aufgehoben  werden  könnten.  -)  Der  da- 
malige    Vertreter     Grossbritanniens     Graf   v.    Granville 

1)  Liszt  Völkerrecht  1913,  S.  170,  S  21. 

2)  Siehe  das  erste  Protokoll  der  Sitzung  vom  17.  Januar  1871, 
worin  es  wörtlich  heisst:  „Diese  Uebereinstimmung  liefert  einen 
schlagenden  Beweis  dafür,  dass  die  Mächte  anerkennen,  dass  es 
■ein  notwendiges  Prinzip  des  Völkerrechts  ist,  dass  keine  von  ihnen 
sich  von  den  Verpflichtungen  eines  Vertrages  befreien  kann,  noch 
dessen  Bestimmungen  verändern,  was  nach  Uebereinstimmung  der 
hohen  Vertragsschliessenden  durch  eine  freundschaftliche  Ver- 
>einigung  zu  geschehen  hat."  (siehe  Nor.  Bd.  3,  S.  302). 


-      138     — 

äusserte  sich  über  den  eigenmächtigen  Schritt  Russlands 
in  einer  Depesche  an  Buchanan  dahin,  dass  das  Vor- 
gehen Russlands  alle  Verträge  vernichte;  „jeder  Ver- 
trag bezweckt,  die  Vertragsschliessenden  gegeneinander 
/u  binden,  nach  russischer  Auffassung  dagegen  unter- 
wirft sich  jede  Partei  ihrer  eigenen  Autorität  und  hält 
sich  nur  sich  selbst  gegenüber  für  verpflichtet."  i)  Wäh- 
rend Ullmann  das  damalige  Vorgehen  Russlands,  wenn 
auch  für  formell  bedenklich,  so  doch  sachlich  erklärbar 
hält  („aus  den  in  der  Tat  seit  1856  eingetretenen  wirk- 
lichen Veränderungen  der  Umstände  und  der  Lage  der 
Dinge  in  Europa"),  so  sprechen  sich  doch  ziemlich  viele 
Stimmen  gegen  diesen  Schritt  der  russischen  Regierung 
aus,  der  auch  meines  Erachtens  nichts  weiter  als  eine 
geschick"te  Ausnützung  günstiger  Umstände  war.  -) 

Jedenfalls  zeigte  sich  hier  deutlich,  dass  es  nur  der 
Mangel  an  Macht  war,  der  es  der  Türkei  bis  zum  Aus- 
bruch des  Weltkrieges  verwehrte,  sich  von  dem  Kapitu- 
lationssystem zu  befreien,  denn  trotz  aller  Bedenken 
zeigten  sich  im  Jahre  1871  die  Mächte  ziemlich  gefügig 
und  willfahrten  schneller  russischen  Forderungen,  als 
Wünschen  der  Türkei,  trotzdem  deren  Lage  ihr  jederzeit 
das  Recht  gab,  auf  durchaus  veränderte  Umstände  hinzu- 
weisen. 

Wenn  auch  etwas  spät,  so  erinnerte  sich  die  Türkei 
doch  dieser  Klausel  und  nach  dem  Inhalt  des  oben  an- 
geführten türkischen  Schreibens  vom  5.  Dezember  1914 
berief  sich  Said  Halim  ausdrücklich  auf  dieselbe.  Dass 
eine  Veränderung  in  der  Türkei  seit  dem  Abschluss  der 
letzten  Kapitulationen  tatsächlich  »eingetreten  war,  haben 
wir  bereits  durch  'die  Darstellung  der  Entwicklung  der 
innerstaatlichen  Reformen  des  türkischen  Staatswesens 
darzustellen  versucht.  Es  "entsteht  jetzt  nur  die  Frage,  ob 
diese  „clausula  rebus  sie  stantibus"  in  dem  vorliegenden 

1)  Siehe  Ullmann  Völkerrecht  1Ü08  S.  286,  Anm.  2. 

2)  Strupp  in  Aktenstücke  z.  B.  bezeichnet  ihn  als  einen  ,.ein- 
seitijjen  Akt,  der  sich  durch  Berufun«,'  auf  Notstand  nicht  recht- 
k-rtigen  iiess  und  der  daher  rechtswidrig'  war."  Siehe  daselbst  S. 
!11  Anni.  1.  Eine  schärfere  Auffassung  bekundet  Geffcken  im 
Gegensatz  zu  Ulimann,  und  betrachtet  den  Schritt  Russlands  als 
vollkommen  unentschuldbar,  da  „die  frivolen  Vorwände,  unter 
denen  sich  Russland  1870  von  der  Neutralität  des  schwarzen 
Meeres  lossagte,  während  tatsächlich  nur  die  Gunst  der  politischen 
Situation  massgebend  war,  diesen  Akt  zum  schiiinmsten  Rechts- 
bruch machten,  der  durch  das  nachträgliche  Protokoll  der  Kon- 
ferenz vom  17.  1.  1871  nicht  gesühnt  ward."  Siehe  Heffter- 
Geffcken  ?<  98  Anm.  1,  S.  216. 


—      131)      — 

Falle  zur  Anwendung  gelangen  darf  und  wenn,  ob  dies 
durch  einen  einseitigen  'Aufhebungsakt  hätte  geschehen 
können. 

Diese  Veränderung  der  Umstände  w^ird  allgemein 
von  den  meisten  Schriftstellern  als  stichhaltiger  Auf- 
hebungsgrund angenommen.  So  'erklären  z.  B.  sowoiil 
V.  Liszt  als  auch  Ulmann  diese  Ausnahmestellung  für 
berechtigt,  falls  „der  geschlossene  Vertrag  eine  bestimmte 
Sachlage,  sei  es  'ausdrücklich,  sei  es  stillschweigend,  zur 
Voraussetzung  nimmt*',  i)  Das  Schwergewicht  des  hier 
angeführten  Satzes  liegt  für  unsere  Erörterung  auf  den 
Worten  „sei  es  stillschweigend",  denn  all  die  Verträge, 
die  mit  der  Türkei  in  früheren  Jahrhunderten  geschlossen 
wurden,  nahmen  doch  sicherlich  die  damalige  inner- 
staatliche Lage  des  osmanischen  Reiches  als  Voraus- 
setzung für  ihren  Abschluss  an,  oder  hätten  sie  zumindest 
annehmen  müssen,  falls_,sie  nicht  Nebenzwecke  verfolgten. 

Natürlich  mutet  diese  Möglichkeit,  mit  „veränderten 
Umständen''  operieren  zu  können,  vom  privatrechtlichen 
Standpunkt  aus  sehr  befremdend  an  und  ist  ja  auch, 
wie  wir  des  öfteren  gesehen  haben,  in  den  Händen  ge- 
wiegter Diplomaten  nicht  immer  zu  den  lautersten 
Zwecken  verwendet  worden. 

Dennoch  müssen  diese  Möglichkeiten  in  Kauf  ge- 
nommen werden  gegenüber  der  Gewissheit,  dass  einem 
bedrängten  Staate  Gelegenheit  geboten  werden  kann,  sich 
von  drückenden  und  veralteten  Verbindlichkeiten  zu  be- 
freien. 

Wir  müssen  berücksichtigen,  dass  der  Privatvertrag 
nur  einen  beschränkten  Personenkreis  zu  verpflichten 
vermag,  der  noch  obendrein  sein  Schicksal  selbst  be- 
stimmte, und  diese  Willensentscheidung  jetzt  n'cht  etwa 
durch  eine  „clausula  rebus  sie  stantibus"  widerrufen 
kann. ")  Ganz  anders  ist  jedoch  'die  Sachlage  bei  völker- 
rechtlichen Verträgen.  Abgeschlossen  wird  Qer  Vertrag 
zw^ar  in  endgültiger  Weise  in  konstitutionellen  Staaten 
durch  das  Staatshaupt  und  passiert  z.  .B.  in  Deutsch- 
land in  gewissen  Fällen  auch  die  Versammlun,g 
der  Volksvertreter  und  den  Bundesrat  (Artikel  1 1 
der  Reichsverfassung),  aber  zu  tragen  hat  die 
Bestimmungen  in  all  ihrer  Tragweite  das  Volk, 
sobald  sie  für  dieses  durch  Gewohnheitsrecht,  durch 
Gesetzgebung  oder  durch  Publikation  bindend  geworden 
sind.     Diese  Last  musste  für  das  türkische  Volk,  abge- 

1)  Siehe  Liszt  1913  S.  170  und   ähnlich  Ulimann  1908  S.  285. 

2)  Vergl.  aber  z.  B.  die  Schenkung. 


—     140     — 

sehen  von  den  weit  reichenden  Festsetzungen  der  Kapi- 
tulationen, umso  drückender  sein,  da  ihm  zur  Zeit  des 
Abschlusses  der  bedeutendsten  Abkommen  mit  dem  Aus- 
lande in  dem  trotz  der  Zusicherungen  von  1878  bis  zum 
Jahre  1908  ziemlich  selbstherrlichen  türkischen  Staats 
beinahe  jegliches  Mitbestimmungsrecht  fehlte.  (Vgl.  In- 
halt S.  89.) 

Wenn  wir  nun  nach  der  Ansicht  v.  Liszt  u.  a.  m. 
auch  die  mit  der  Ewigkeitsklausel  abgeschlossenen  Ver- 
träge als  nicht  ohne  weiteres  kündbar  ansehen,  so  muss 
man  naturgemäss  hinsichtlich  der  Anwendbarkeit  der 
„clausula  rebus  sie  stantibus"^  ein  grösseres  •Intgeg.en- 
kommen  beobachten.  Wir  müssen  uns  vergegenwärti- 
gen, dass  ein  völkerrechtlicher  Vertrag,  der,  wie  die  Ka- 
pitulation von  1740,  ohne  begrenzte  Zeitdauer  abge- 
schlossen ist,  Generationen  überdauert  und  so  den  ver- 
änderten Umständen  und  Lebensgewohnheiten  des  be- 
troffenen Volkes  immer  wesensfremder  wird,  so  dass  es 
die  vitalsten  Interessen  desselben  verlangen,  sich  von 
ihm  zu  befreien,  i)  Dann  aber,  und  auch  nur  dann,  kann 
es  einem  Staate  gestattet  werden,  sieht  über  die  grund- 
legende völkerrechtliche  Regel  „pacta  sunt  servanda'* 
hinwegzusetzen  und  die  befreiende  Klausel  für  sich  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Ist  nun,  wie  es  in  den  heutigen  völkerrechtlichen  Ver- 
trägen zumeist  geschieht,  diese  clausula  rebus  sie  stan- 
tibus ausdrücklich  aufgenommen,  so  ergibt  sich  ohne  wei- 
teres ein  formell  unbedenkliches  Kündigungsrecht,  so- 
bald sich  nur  „eine  Veränderung  wesentlicher  Umstände, 
unter  denen  der  Vertrag  abgeschlossen  worden  war", 
ergibt.  -)  Nicht  so  war  es  jedoch  bei  den  Kapitula- 
tionen, die  von  einem  derartigen  Aufhebungsgrund  keine 
ausdrückliche  Erwähnung  enthielten.  Wie  wir  bereits 
erwähnten,  entsteht  jetzt  nur  die  Frage,  ob  Prinz  Said 
Halim  trotzdem  auf  diese  Klausel  hätte  verweisen  dür- 
fen. Die  Beantwortung  dieser  Frage,  die  gerade  für  den 
vorliegenden  Fall  von  besonderem  Interesse  ist,  hat  schon 
vor  der  einseitigen  türkischen  Kapitulationenaufhebung 
zu    erregten    Erörterungen    geführt.  •*) 

Wie  wir  oben  ausführten,  ist  zwar  die  grosse  Mehr- 
heit der  Völkerrechtslehrer  für  die  Anwendung  der  Clau- 

1)  Vergl.  das  preussische  Manifest  vom  9.  Oktober  1806:  „Vor 
allen  Traktaten  haben  die  Nationen  ihre  Vorrechte",  (s.  Lehmann 
S.  61). 

2)  siehe  Ulimann  1908  S.  285. 

3i  Gegen  diese  Auffassung  z.  B.  Bluntschi  Völkerrecht  §456  ff. 


—     141     - 

sula  rebus  sie  stantibus  auch  in  jenen  Fällen,  wo  deren 
Anwendung  nicht  gerade  durch  -einen  ausdrücklichen 
Vertragstext  gerechtfertigt  ist,  aber  immerhin  mit  der 
Einschränkung,  dass  nicht  der  natürliche  wechselnde  Lauf 
der  geschichtlichen  Ereignisse,  der  doch  auch  eine  Ver- 
schiebung der  Verhältnisse  nachweisbar  macht,  es  schon 
in  Jas  Belieben  der  vertragschliessenden  Staaten  stellt, 
sich  auf  diese  Klausel  zu  berufen  und  so  die  gesamte  völ- 
kerrechtliche Vertragstreue  in  Frage  zu  stellen,  i)  (Vgl. 
das  oben  erörterte  Vorgehen  Russlands  in  der  Meer- 
engenfrage.) 

Gewiss  wäre  eine  in  diesem  Masse  weitgehende 
Anerkennung  der  clausula  rebus  sie  stantibus  keine  ge- 
ringe Gefahr  in  der  Hand  von  Diplomaten,  die  nach 
dem  Worte  Talleyrands  verfahren,  dass  diplomatische 
Spiegelfechtereien  und  Redekünste  Staatsraison  seien, 
aber  nichtsdestoweniger  muss  man  doch  gegen  die  An- 
sicht Brunno  Schmidts  Stellung  nehmen,  der  sich  gegen 
die  gewohnheitliche  Anerkennung  der  clausula  rebus 
sie  stantibus  im  allgemeinen  wendet.  -)  Schon  Bismarck, 
der  grosse  Meister  der  Staatskunst,  benützte  mit  Vor- 
liebe diese  Klausel,  wenn  sich  ihre  Anwendungsberech- 
tigung ergab,  und  erst  in  neuester  Zeit  kam  sie  anläss- 
lich der  Okkupation  von  Bosnien  und  Herzegowina  durch 
Oesterreich-Ungarn  im  Jahre  1908  in  der  oben  erörter- 
ten Weise  zur  Anwendung,  wobei  Oesterreich  den  Art.  25 
des  Vertrages  von  Berlin  vom  13.  Juli  1878  („Die  [Pro- 
vinzen Bosnien  und  Herzegowina  werden  von  Oester- 
reich-Ungarn besetzt  und  verwaltet  werden'')  einseitig 
aufhob. 

Vollkommen  klar  drückt  sich  auch  die  am  14.  No- 
vember 1916  erfolgte  Aufhebungsorder  der  Türkei  für 
die  Verträge  von  1856  und  1878  aus:  „Man  kann  sich 
aber  n  icht  vorstellen,  dass  «in  Staatsvertrag  gültig  blei- 
ben soll  nur  bezüglich  der  Verpflichtungen,  die  er  einem 
Vertragsschliessenden  Staate  auferlegt,  während  die  die- 
sem günstigen  Bestimmungen  ununterbrochen,  ausser 
Acht  gelassen  werden.  Dies  erfordert,  dass  der  er- 
wähnte Vertrag  für  diesen  Staat  selbst  null  und  nichtig 
sei.     Auch  dies  verdient  erwähnt  zu  werden,  dass  sich 


1)  Siehe  von  Liszt  1913  S.  170. 

2)  Ueber  die  völkerrechtliche  Klausel  „rebus  sie  stantibus" 
sowie  einige  verwandte  Völkerrechtsnormen  1907.  Abhandlungen 
Staats-  und  völkerrechtlicher  Verträge  herausgegeben  von  Jellinek 
und  Mayr.     Bd.  VI,  Heft  12. 


—    1-lJ    - 

tiie  Lage,  die  zur  Zeit  des  Abschlusses  der  beiden  Ver- 
träge   vorhanden    war,    vollständig    geändert    hat.**  i) 

Natürlich  müssen  wir  uns  von  vornherein  bei  dieser 
ganzen  Erörterung  von  dem  besonders  in  diesem  Welt- 
kriege zur  Blüte  gelangten  Anschauungssystem  frei- 
machen, dass  auch  ein  psychologisches  Moment  für  den 
Bruch  der  völkerrechtlichen  Vertragstreue  in  Betracht 
kommen  könnte.  Bonucci  z.  B.  spricht  bei  der  Behand- 
lung dieses  Problems  von  der  „Unmöglichkeit  der  Aus- 
übung eines  Zwanges  auf  die  Person,  der  die  Herbei- 
führung des  verlangten  Aktes  physisch  unmöglich  ist, 
da  er  nicht  von  ihr  abhängt.'*  -)  Von  einer  physischen 
Unmöglichkeit  soll  jedoch  für  unseren  Fall  gar  nicht  Ge- 
brauch gemacht  werden,  denn  für  die  Türkei  handelt  es 
sich  um  eine  Veränderung  der  gesamten  staatlichen 
Lebensbedingungen  und  Schaffung  einer  bedeutend  er- 
höhten Sicherheit  auf  Grund  eigener  Gesetze,  was  alleü 
erst  meist  nach  Abschluss  der  Kapitulationen  eintrat. 
„Infolge  veränderter  Umstände  kann  die  Erfüllung  eines 
Vertrages  mit  den  primären  Interessen  des  Staates,  ja 
mit  seiner  Stlbsterhaltung  in  Kollision  treten  und  eine 
Notlage  entstehen,  welche  die  Erfüllung  unmöglich 
macht."  3) 

Dass  all  diese  Voraussetzungen  gerade  für  den  tür- 
kischen Staat  in  überaus  weitgehendem  Masse  zutref- 
fen, ist  bereits  unseren  früheren  Darlegungen  zur  Genüge 
zu  entnehmen  und  es  handelt  sich  jetzt  nur  um  die  wei- 
tere Tatsache,  dass  die  Türkei  auch  nach  dem  Schreiben 
vom  5.  Dezember  1Q14  auf  der  einseitigen  Aufhebungs- 
art beharrte.  Während  Deligeorges  der  Türkei  über- 
haupt das  Recht  abspricht,  die  Kapitulationen  zu 
kündigen,  hält  Bein  es  für  praktisch  durchaus  be- 
langlos, „ob  dies  durch  gegenseitiges  Einverständnis 
oder  auf  Grund   eines  einseitigen  Aktes  erfolgte'*.*) 

Dies  ist  eine  Streitfrage,  die  wir  sowohl  hinsichtlich 
ihrer  theoretischen  als  auch  praktischen  Bedeutung  er- 
örtern müssen.  Was  die  theoretische  Seite  des  Problems 
anlangt,   so   wäre   eine  vorherige   offizielle   Benachrichti- 

1)  Siehe  österr.  Monatsschrift  für  den  Orient,  Heft  2,  1917, 
Seite  59.     . 

2)  Bonucci,  Zeitschrift  für  Völkerrecht  und  Bundesstaatsrecht, 
Seite  449  und  466  ff.  Wozu  eine  solche  Auslegung  führen  kann, 
zeigte  die  italienische  und  französische  Politik  mit  besonderer 
Deutlichkeit. 

3)  Ulimann,  Völkerrecht  1908,  Seite  285. 

4)  Deligeorges,  Seite  37  und  Bein  Seite  37. 


—     143     — 

gung  der  einzelnen  Signatarmächte  sicherlich  am  Platze 
gewesen.  Denn  wenn  auch  das  Völkerrecht  nicht  die  Ur- 
tricbe  der  Menschheit  nach  Freiheit  und  Gleichberech- 
tigung" venfichten  kann,  so  verlangt  dennoch  ein  recht- 
lich geordneter  Staatenverkehr,  dass  „der  Wille,  das  ge- 
zum  Ausdruck  gebracht  werde.  Eine  einseitige  Aut- 
störte Vertragsverhältnis  aufzuheben,  der  Gegenpartei 
hfcbung  des  Vertrages  durch  den  Kontrahenten  wider- 
spricht dem  Grundsatze  der  Heiligkeit  der  Verträge*^  ^) 

In  seiner  Erwiderung  auf  die  angeführte  türkische 
Note  vom  5.  Dezember  1914  benützte  der  holländische 
Gesandte  auch  diesen  Umstand  und  erklärte,  dass,  da 
„die  Kapitulation  nicht  unter  die  Kategorie  der  Verträge 
gehören,  denen  ein  einseitiger  Akt  ein  Ende  setzen  kann, 
ein  Prinzip,  das  übrigens  noch  neuerdings  von  der  Pforte 
in  ihren  Konventionen  mit  anderen  Mächten  anerkannt 
wurde,  er  seinerseits  durch  die  gegenwärtige  Note  nur 
seine  Note  vom  26.  September  bekräftigen  könne  .  .  ." -) 

Trotzdem  vermochte  die  holländische  Regierung 
nichts  weiter  zu  erreichen  und  in  ihrer  Antwort  vom 
1.  Februar  1915  erklärte  die  Pforte  kurzweg,  „dass  sie 
bedauere,  von  ihrem  Standpunkte  nicht  abgehen  zu  kön- 
nen, welchen  sie  in  den  über  diese  Angelegenheit  vor- 
hergegangenen Mitteilungen  hinlänglich  dargelegt  und 
motiviert  habe*'.  3)  Das  türkische  Ministerium  Hess  dann 
eben  statt  der  weiteren  Unterhandlungen  die  Tatsachen 
sprechen  und  die   Kapitulationen   blieben  aufgehoben. 

Vom  theoretischen  Standpunkt  aus  gesehen,  v.ar 
dieses  Vorgehen  der  Pforte,  unparteiisch  betrachtet,  nicht 
einwändfrei;  aber  ein  vollkommen  anderes  Bild  gewinnt 
die  ganze  Sachlage,  wenn  wir  die  Frage  von  der  prak- 
tischen Seite  aus  ansehen.^  Zunächst  könnte  spezieil  die 
Türkei  darauf  hinv.eisen,  dass  es  die  Mächte  jederzeit 
meisterlich  verstanden  hatten,  alle  Aufhebungswünsche 
der  Pforte  auf  die  entgegenkommendste  Weise  auf  das 
wesenloseste  Mass  herabzudrücken.  Hierzu  kommt  noch 
ein  weiteres,  das  Vorgehen  der  türkischen  Regierung 
sehr  entlastendes  Moment.  Als  die  Pforte  am  9.  Sep- 
tember 1914  die  Kapitulationen  aufhob,  standen  sich  die 
meisten  europäischen  Grossmächte  in  hartem  Kampfe 
gegenüber  und  ein  grosser  Teil  der  übrigen  Staaten  war 
durch  seine  verschiedenartigen  Sympathien  ziemlich  un- 
einig. An  wen  hätte  sich  da  die  Pforte  wenden  sollen, 
•da   doch   kaum   ein  einzelner  Staat  auf  seine  Vorrechte 


1)  Ullmann,  Seite  1908,  Seite  286. 

2)  Strupp,  Aktenstücke,  Seite  315. 

3)  Siehe  Orglnaltext  Strupp,  Seite  316, 


—      141      — 

verzichtet  hätte,  wenn  er  nicht  mit  Sicherheit  auf  die 
Zustiinnuing  der  übrigen  am  Kapitulationssystem  be- 
teiligten Staaten  hätte  rechnen  können.  (Vgl.  den  deut- 
schen Vorbehalt  im  türkisch-deutschen  Vertrag  von  18Q0.) 
Ein  Auttreten  der  einzelnen  Signatarmächte  als  Ein- 
heit, wie  dies  früher  geschah,  war  demnach  völlig  aus- 
geschlossen. Matte  sich  die  Türkei  daher  vollkommen  an 
die  völkerrechtHchen  Regelungen  gehalten,  so  wäre  sie 
einem  höchst  verderblichen  Zustande  anheimgefallen. 
Wie  gewiss  vorauszusehen  war,  würden  wohl  die  meisten 
Staaten  sich  ablehnend  verhalten  haben  und  die  türkische 
Regierung  hätte  von  einem  solchen  Vorgehen  nur  den 
einen  Erfolg  gehabt,  dass  sie  auch  den  Angehörigen  der 
Staaten,  mit  denen  sie  alsbald  in  Krieg  geriet,  vollkom- 
mene Freiheit  für  alle  schädigenden  Handlungen  und  wei- 
testgehenden Einblick  in  wichtige  Gebiete  hätte  gewäh- 
ren müssen.  Das  Vorgehen  der  Türkei  ist  umsomehr  zu 
veistehen,  als  sie  unmöglich  die  leicht  voraussehbaren 
Kriegslaster  allein  auf  die  Schultern  des  eigenen  Volkes 
wälzen  konnte,  um.  die  Fremden  völlig  steuerfrei  aus- 
gehen   zu    lassen. 

Der  einzige  Vorwurf,  der  demnach  der  türkischen 
Regierung  gemacht  werden  kann,  ist  der,  dass  sie  nicht 
gleich  zu  Beginn  diese  clausula  rebus  sie  stantibus  in 
Erwägung  zog  und  zur  Anwendung  brachte,  statt  sich 
auf  den  veralteten  Grundsatz  der  Einseitigkeit  der  Ka- 
pitulationen   zu    berufen. 

Nachdem  wir  also  gesehen  haben,  dass  Said  Halim 
vollkommen  im  Recht  war,  als  er  seinen  Ständpunkt  in 
dem  Briefe  vom  5.  Dezember  1914  i)  dem  holländischen 
Gesandten  gegenüber  in  energischster  Weise  verteidigte, 
entsteht  die  Frage,  ob  für  d^n  türkischen  Staat  nicht 
auch  noch  andere  Aufhebungsmöglichkeiten  bestanden 
hätten.  Neben  einer  eventuellen  Berufung  auf  Irrtum  -) 
über  wesentliche  Tatsachen  bei  Abschluss  des  Vertrages 
oder  auf  Betrug,  '^)  wozu  sich  übrigens  kaum  ein  Staat 
gerne  herbeilässt,  der  das  Ansehen  vor  dem  eigenen 
Volke  wahren  will,  könnte  man  gerade  bei  den  Ka- 
pitulationen an  Aufhebungsmöglichkeit  durch  den  Krieg 
denken.       Abgesehen     von    dem    alle    völkerrechtlichen 

1)  Vgl.  Inhalt  S.  136. 

2)  Ein  Irrtum  über  wesentliche  Tatsachen,  der  entschuldbar 
ist,  führt  auch  tatsächlich  nach  Völkerrecht  zur  Nichtigkeit  des 
Vertrages  nach  vorheriger  Anfechtung,  während 

3j  Betrug  m.  K.  wegen  der  gesamten  diplomatischen  Natur 
<Jer  Verträge  überhaupt  zunächst  nur  eine  Anfechtung  zur  Folge 
haben  könnte.  Vgl.  über  diese  Frage  Liszt  1913,  S.  162  §  20, 
II   6.    Ullmann  1908,  Seite  263  ff. 


—     145     — 

Grundsätze  vernichtenden  Weitkrieg,  konnten  wir  be- 
reits bei  unseren  verschiedenen  Erörterungen  beobach- 
ten, dass  man  meist  der  Ansehung  huldigte,  „rechtsge- 
schäftliche Verträge  gelten  zwischen  kriegführenden  Staa- 
ten als  aufgehoben",  i)  (Vgl.  die  Bemühungen  der  Tür- 
kei gegen  Griechenland  nach  dem  siegreichen  Feldzug 
von  18Q7,  ferner  die  Errungenschaften  Japans  gegen- 
über Russiand   im   Jahre   1905  u.  a.  m.) 

Ulimann  u.  a.  legen  gegen  diese  Standpunkte  Ver- 
wahrung ein  und  betrachten  Auslieferungs-,  Handels- 
und Schiffahrtsvertfäge  ü.  a.  m.  als  durch  den  Kriegs- 
zustand  nur   in   „ihrer  Wirksamkeit   suspendiert**.  -) 

Würde  man  auch  diese  letztere  Ansicht  als  die  rich- 
tige annehmen,  so  hätte  die  Türkei  bei  ihrem  späteren 
Eintritte  in  den  Krieg  die  Verträge  trotzdem  als  annul- 
liert ansehen  müssen,  da  die  Kapitulationen  bedeutend 
grössere  Eingriffe  in  ihre  Hoheitsrechte  darstellten,  als 
irgend  ein  anderer  völkerrechtlicher  Vertrag.  Ihre  Kund- 
gebung vom  9.  September  1914  wäre  dann,  falls  sie 
sich  auf  den  Standpunkt  der  Aufhebung  durch  Kriegsfall 
hätte  stellen  w^ollen,  gleichsam  eine  Kündigung  des  zwi- 
schen ihr  und  den  einzelnen  feindlichen  Staaten  be- 
stehenden Vertragsverhältnisses  gewesen,  das  die  einst- 
weilige Suspendierung  zur  endgültigen  Aufhebung  ge- 
macht hätte.  Für  diesen  Fall  hätte  sich  die  Pforte  direkt 
auf  den  Text  einzelner  Kapitulationen  berufen  können. 
B'esonders  in  den  Kapitulationen  mit  Frankreich  band  die 
Pforte  deren  Bestehen  an  freundschaftliche  Beziehungen. 
(Siehe  gleich  zu  Beginn  der  Kapitulation  von  1604: 
„quie  les  traites  de  paix  et  capitulations  ....  fussent 
renouveles  et  jures  de  notre  hautesse  sous  cette  con- 
sideration  pour  l'inclination  quc  nous  avons  a  conserver 
cette  ancienne  amite  .  .  .  .**)  ■^) 

In  der  bereits  angeführten  Aufhebungskundgebung^ 
vom  14.  November  1916  führte  die  Pforte  auch  dieses 
Kriegsmoment  an:   „Die   kaiserliche  Regierung  befindet 

1)  Liszt  1913,  Seite  171  a.  A.  Ullmann  1908,  S.  475.  Oppen- 
heim Bd.  II.  S.  107. 

2)  S.  Ullmann  1908,  S   475. 

3)  Siehe  Nor.  Bd.  1.  Seite  94.  Kapitulation  von  1604.  Vgf. 
auch  Lemonon  in  Revue  de  droit  international.  2.  Serie  1913,  Teil 
V.  Seite  471  ff,  der  jedoch  gerade  das  Bestehen  dieser  Klausel 
in  seiner  Abhandlung  über  Kriegszustand  und  Kapitulationen  nicht 
beachtet.  Im  übrigen  kam  für  die  Türkei  diese  Möglichkeit  noch 
nicht  in  Betracht,  da  der  Kriegszustand  erst  am  11.  November 
und    der    heilige  Krieg  am    14.  November  1914   verkündet  wurde. 

10 


—     146     — 

sich  mit  vier  Signatarmächten  im  Kriegszustande  und 
was  die  erwähnten  Verträge  anbelangt,  so  wurden  ?ie 
auf  Bemühen  und  Betreiben  dieser  Staaten  zu  ihrem 
Vorteil  abgeschlossen.  Dies  hat  daher  definitiv  die 
Atisserkräffsetzung  def  erwähnten  Verträge  in  den  Be- 
ziehungen zwischen  der  Türke^i  uhd  den  erwähnten  Staa- 
ten  zur   Folge."!)     (Vgl.   Inhalt   S.    111.) 

Nun  b>emcrkt  auch  v.  LiSzt,  der  Anhänger  der  eben 
angeführten  reinen  Vernichtungstheorie  ist,  dass  selbst- 
verständlich solche  Verträge  vor  der  Annullierung  ge- 
schützt sind,  die  gerade  für  den  Kriegsfall  geschaffen 
wurden.  Es  könnte  nun  die  Frage  entstehen,  ob  nicht 
die  Kapitulationen,  die  doch  eigentlich  zum  Schutze  gegen 
die  Angriffe  der  Moslems,  denen  der  Andersgläubige  als 
Feind  gilt,  geschaffen  wurden,  als  für  einen  dauernden 
Kriegszustand  geschlossen  angesehen  werden  müssten 
und  umso  w'eniger  'in  diesem  "Weltkriege  aufhören  durften. 
Bei  der  Beantwortung  dieser  Präge,  die  ja  möglichLM- 
weise  einmal  zur  Erörterung  stehen  könnte,  ist  jedoch 
immer  aufs  neue  zu  betonen,  dass  ein  solch  ewiger  Kriegs- 
zustand schon  viele  Jahre  vor  Ausbruch  dieses  Krieges 
zumindest  in  den  europäischen  Besitzungen  der  Türkei 
aufgehört  hatte,  dass  die  ehemaligen,  für  solche  Feind- 
seligkeiten in  Betracht  kommenden  Kapitulationen  sich 
immer  mehr  zu  teilweise  recht  drückenden  Handels- 
verlrägen  ausgebildet  hatten  und  dass  überdies  im  os- 
manischen  Reiche  eine  Veränderung  der  gesamten  staat- 
lichen Einrichtungen  eintrat,  wozu  noch  kam,  dass  der 
ehemals  theokratische  Staat  sich  immer  mehr  zu  eintni 
weltlich  regierten  Staatswesen  ausbildete,  dessen  neue 
Natur  auch  Gesetze  zuliess,  die  einem  früheren  osma- 
nischen  Herrscher  mit  den  Grundsätzen  des  Korans 
durchaus   unvereinbar  geschienen   hätten. 

Maiil  Bey,  der  türkische  Minister  des  Aeussern, 
charakterisiert  die  Anpassungsfähigkeit  des  Kora.ns  sehr 
treffend  dahin,  dass  „das  Koranwort  nur  bestehende  (je- 
bräuche  und  Sitten  zusammentasst.  Sobald  neue  Vor- 
bedingungen entsehen,  die  iin  Koran  nicht  vorgesehen 
sind,  und  damit  die  Verhältnisse  sich  ändern,  so  ge- 
stattet der  Koran  auch  eine  mue  Rechtsform,  die  diesen 
Ve.'hältnissen  Rechnung  trägt."  Den  eben  angeführten 
Worten  des  türkischen  Ministers  entsprechen  aber  auch 
die  Tatsachen,  dass  die  Fre.iiden,  ja  teilweise  selbst  die 
Angehörigen    der  heute  mit  der  Türkei  im  Kriege  befind- 

I)  Siehe  ösferr.  Monatschrift  für  den  Orient,  Heft  2,  1917.  S.  59. 
i'AufhebunßSorder  für  die  Verträge  von  1856  und  1878). 


_     147     — 

liehen  Staaten  nichts  oder  nur  wenig-  unter  dem  rehgiösen 
Fanatismus  der  Moslems  zu  leiden  haben.  Ferner  erleich- 
terte die  osmanische  Regierung  d^n  zustrmmerrden  Mätrh- 
ten  ihre  Genehmigung  noch  dadurch,  dass  sie  die  seit  dem 
türkischen  Staatsbankerott  von  1875  bestehende  „Dette 
publique",  wenn  auch  selbstverstärrdlrch  untef  Aus- 
schluss der  feindlichen  Auf<?ichtsratsmitglieder,  \Veiter- 
bestehen  Hess.  Ueberhaupt  kontiert  wir  aus*  der  ganzen 
s/eitherigen  Entwicklung  der  türkischen  Frage,  sowie  aus 
d-en  kraftvollen  Leistungeft  der  Türkei  während  dti  gt- 
g'enwärtigen  Ringens  mft  Befriedigung  feststellen,  dass  die 
Beseitigung  der  Kapitulationen,  den  hiervon  betroffenen 
Mächten  keinen  besonders  empfirtdlichen  Nachteil,  der 
Türkei  jedoch  die  Gelegenheit  brachte,  Sich  frei  von  allen 
Hemmung"en  zu  entwickeln,  um  nach  dem  Kriege  sich 
endgültig  den  lang  entbehrten  „Platz  an  der  Sonne^*  zu 
erringen.')  Gegenüber  der  Klefnlichkeit  der  meisten 
Kapilulationskontrahenten  blieb  der  Türkei  angesichts'  'der 
ungeheuren  Vorteile,  die  sie  sich  erwartete,  nichts  übrig, 
als  die  ihrem  Schritt  entgegenstehenden,  vor  die  „voll- 
endete Tatsache'*  zu  stellen,  wenn  sie  auch  die  Gelegen- 
heit gehabt  hatte,  durch  die  Westmächte  von  den  Kapitu- 
lationen befreit  zu  werden,  gegen  das  Versprechen,  die 
Neutralität  aufrecht  zu  erhalten,  wozu  sie  sich  selbst- 
verständlich im  eigenen  Interesse  nicht  verstehen  konnte. 

Die  heutig«  Auffassung  der  leitenden  türkischen 
Kreise  über  die  zukünftige  Mission  des  osmaniSchen 
Reiches  charakterisiert  am  besten  die  Erklärung,  die 
der  türkische  Throrrfolger -)  anlässlich  seines  Berliner 
Aufenthalts  am  1.  Januar  1918  abgab:  „Wir  verlangen 
vom  Friedensschluss  unsere  territoriale  Unversehrtheit, 
sowie  die  religiöse  Unberührtheit  unseres  Kalifats.  Wir 
fordern  volle  Entwicklungsmöglichkeit  für  unser  wirt- 
schaftliches Gedeihen,  wie  die  Wahrung  und  Sicherung 
unserer    nationalen    und    religiösen    Kultur. 

Wir  stehen  im  Begriffe,  unser  Staatswesen  nach 
europäischen  Grundsätzen  auf-  und  auszubauen.  Un- 
sere Absichten  sind  daher  darauf  gerichtet,  uns  allmählich 
dem  Abendland  anzupassen  und  eben  dadurch  die  Schick- 
salsgemeinschaft in  der  europäischen  Staatenfamilie  auf- 
rechtzuerhalten.*' •^) 

1)  Bereits  am  14.  September  1916   beseitigte    die  Pforte  end- 
gültig den  Wertzoll  zu    Gunsten   des   spezifischen   Zolltarifs,   der 

:  nunmehr  30  "'o  beträgt. 

2)  Derselbe  bestieg  nach  dem  Tode  seines  Bruders  am  3.  Juli 
-1918  den  Thron. 

3)  Siehe  die  österr.  Zeit  No.  5486  vom  2.  Januar  1918- 


—     148     - 

V.  Kapitel. 

Die   neuen  deutsch-türkischen   Rechtsverträge  vom 

11.  Januar  1917. 

Bereits  aus  Anlass  der  Würdigung  der  verschiede- 
nen Aufhebiingsgründe  für  die  Kapitulationen  hatten 
wir  hervorgehoben,  dass  Deutschland  ebensowenig  wie 
die  anderen  Mächte  eine  einseitige  Aufhebung  der  Kapi- 
tulationen, die  ja  späterhin  vollkommene  Vertragsnatur 
hatten,  ohne  weiteres  billigen  konnte.  ^)  (Vgl.  Inhalt 
S.   135  Anm,   1.) 

Andererseits  war  jedoch  die  deutsche  Regierung 
sehr  wohl  imstande,  gemäss  den  völkerrechtlichen  Grund- 
sätzen mit  der  türkischen  Regierung  in  diesbezügliche 
Unterhandlungen  zu  treten,  die  nach  eingehenden  Er- 
örterungen auch  zu  einem  beiderseits  durchaus  befrie- 
digenden Ergebnis  gelangten.  Bei  der  Rede  am  28.  April 
1916  konnte  der  türkische  Minister  des  Aeussern  Halil 
Bey  in  einer  Ansprache  an  das  Parlament  u.  a.  aus- 
führen: „Wir  haben  diese  Entwürfe  (d.  h.  die  deutschen 
Vertragsentwürfe)  studiert  und  nicht  einen  Schatten  der 
Kapitulationen  darin  gefunden  ...  ich  kann  Ihnen  sagen, 
dass  die  deutschen  Konsuln  in  der  Türkei  dieselben 
Rechte  und  Befugnisse  geniessen  werden,  wie  die  osma- 
nischen  Konsuln  in  Deutschland.  Die  Untertanen  beider 
Länder  werden  in  beiden  Ländern  gleiche  Rechte  ge- 
messen. Ich  kann  auch  dieses  hinzufügen:  Die  Be- 
dingungen, welche  Staaten,  wie  z.  B.  Frankreich  und 
England,  einander  stellen  würden,  um  ihre  Beziehungen 
zu  regeln,  haben  wir  uns  in  den  Konventionen  gestellt, 
deren    Abschluss    bevorsteht.*'  -) 

Durch  diese,  die  beiderseitige  Lage  voll  berück- 
sichtigenden Verträge,  war  es  möglich,  dass  Halil-Bey  am 
15.  Januar  1917  unter  grossem  Beifall  der  Kammer  er- 
klären konnte,  dass  der  türkische  Staat,  der  vor  dem 
Kriege  ausserhalb  des  europäischen  Völkerrechts  stand, 
„durch  die  erstmalige  Unterzeichnung  eines  Vertrages 
auf  der  Grundlage  der  Gleichheit  und  Gegenseitigkeit 
seinen  Platz  im  Gleichgewicht  der  Wlächte  eingenommen 
und  dadurch  seine  volle  Souveränität  wiedererlangt 
habe*'.  2) 

1)  Vgl.  hierzu  die  Ausführungen  über  die  Anwendbarkeit  der 
clausula  rebus  sie  stantibus  im  Inhalt  S.  138  ff. 

2)  Münchner  Neueste  Nachrichten. 


—     U9     — 

Eitrige  Zeit  darnach,  am  27.  März  1917,  geneh- 
migte denn  auch  die  türkische  Kammer,  bei  Anwesen- 
heit von  175  Abgeordneten,  einstimmig  die  deutsch- 
türkischen  Verträge,  i) 

Eine  grosse,  vielleicht  die  bedeutsamste  Rolle  bei 
der  Abschaffung  der  Kapitulationen  und  dem  Abschlüsse 
der  vorliegenden  deutsch-türkischen  Verträge  spielte  un- 
zweifelhaft der  jetzige  Grossvezier  Talaat-Pascha,  -)  ^der 
sich  als  Mitglied  des  Komitees  „Einheit  und  Fortschritt" 
energisch  für  die  Befreiung  seines  Vaterlandes  von  der 
privilegietten  Ausbeutung  durch  die  Fremden  und  für 
dessen  endgültige  Gleichstellung  gegenüber  den  anderen 
europäischen  Mächten  seit  langem  eingesetzt  hatte. 

In  Deutschland  selbst  gelangten  die  bereits  auf 
Seite  1  aufgezählten  Rechtsverträge  am  22.  April  1917 
im  Reichstage  zur  Vorlegung  und  bereits  am  10.  Mai 
1917  schritt  derselbe  zur  Abstimmung  über  deren  An- 
nahme oder  Ablehnung. 

Bei  der  Beratung  der  Verträge  legte  die  deutsche 
Regierung  gleichzeitig  eine  erläuternde  Denkschrift  vor, 
die  zunächst  die  schon  oft  erwähnte  türkische  Sehnsucht 
nach  Befreiung  von  der  druckenden  Last  der  Kapitula- 
tionen hervorhob  und  ferner  erklärte,  dass  Deutschland 
nach  der  bereits  erfolgten  Aufhebung  der  Kapitulationen, 
in  Anbetracht  des  innigen  Bündnisverhältnisses,  nicht 
zögern  durfte,  die  türkischen  Bestrebungen  tatkräftigst 
zu  unterstützen.  „Es  ist  einleuchtend'',  fährt  die  Kund- 
gebung fort,  „dass  der  Wegfall  dieser  Sonderrechte  ohne 
ausreichenden  Ersatz  für  die  Deutschen  in  der  Türkei 
empfindliche  Nachteile  hervorrufen  müsste.  Er  setzt  da- 
her eine  eingehende  Regelung  der  Rechtsbezichungen 
zwischen  den  beiden  Ländern  auf  neuer  Grundlage 
voraus.  Diese  Regelung  bot  bei  der  Eigenart  des  os- 
manischen   Rechtes   besondere   Schwierigkeiten,   weil   in 


1)  Sie  wurden  Gesetz  am  29.  März  1917.  Siehe  Balkanrevue 
Seite  50. 

Auch  der  österreichische  Staat  begann  alsbald  ähnliche  Unter- 
handlungen mit  der  Türkei,  so  dass  bereits  am  30.  März  1918  die 
türkische  Kammer  bei  Anwesenheit  von  160  Abgeordneten  ein- 
stimmig die  Vorlage  der  Regierung  annahm,  wodurch  dieselbe  er- 
mächtigt wurde,  die  Ratifikationsurkunden  der  5  Abkonimen,  durch 
die  die  Konsular-  und  rechtlichen  Beziehunge\i  zwischen  Oester- 
reich-Ungam  und  der  Türkei  geregelt  werden,  endgültig  zu  unter- 
zeichnen und  auszutauschen.  Nach  einer  einleitenden  Rede  des 
tirrkischeTi  Ministers  des  Aeussern  erteilte  aucli  der  Senat  am 
31.  März  1918  seine  Zustimmung. 

2)  Derselbe  wurde  am  2.  Februar  1917  Grossvezier. 


-      150     — 

der  Türkei,  stärker  als  in  anderen  Ländern,  das  Rechts- 
lebeii  mit  den  Vorschriften  der  Staatsreligion  zu;?an»nien- 
hänyfl.  AntJererseits  hat  die  osaianische  Regierung  seit 
dem  Inkrafttreten  der  türkischen  Verfassung  in  allen 
Zweigen  der  Staatsverwaltung,  insbesondere  auch  auf 
dem  Gebiete  der  Gesetzgebung  und  (^er  Rechtspflege,  mit 
solcher  Entschiedenheit  den  Weg  d^r  Reformen  betreten, 
dass  die  Neuregelung  auf  dem  Boden  des  allgemeinen 
eyropäischen  Völkerrechts  und  der  vollkommenen  Ge- 
genseitigkeit  unternommen    werden    konnte/*  ^) 

Gewiss  ist  die  Lage  der  in  der  Türkei  lebenden 
Auslandsdeutschen  durch  deren  Privilegienentzichung 
nicht  verbessert  worden  und  m.inch  langjährige  Bequem- 
lichkeit wird  zu  entbehren  sein,  aber  die  deutsche  Re- 
gierung konnte  trotz  aller  etwaigen  3edenken  das  Er- 
suchen der  türkischen  Regierung  nicht  ablehnen,  dgi  das 
wachsende  Selbstbewusstsein  der  ti^rkischen  Nation  mit 
dem  bisherigen  Rechtszustand  nicht  mehr  vereinbar  war. 
„pie  Abschaffung  der  Kapitulationen  war  eben  eines  der 
wesentlichen  Kriegsziele  des  osmanischen  Volkes  ge- 
worden.** ~)  .  ' 

Von  dieser  Erwägung  liess  sich  wohl  auch  der 
Reichstag  leiten,  als  er  am  10.  Mai  1917  trotz  aller  vor- 
gebrachten Einwände  die  deutsch-türkischen  Rechtsver- 
verträge in  seiner  Mehrheit  annahm. 

In  unserer  folgenden  Darstellung  werden  ^vir  m  er- 
wägen haben,  Inwieweit  die  abgeschlossejiejj  Verträge 
dem  modernen  Völkerrecht  i.nd  dem  Qrundsatze  der 
Qegenseiligkeit  entsprechen  und  trotzdem  gleichzeitig 
die  noch  immer  bestehenden  Besonderheiten  des  osma- 
Qischen   Rechtswesens   berücksichtigen. 

In  fornieiler  Hinsicht  ist  nur  noch  zu  bemerken,  da§s 
die  Verträge  ungeachtet  der  grossen  Schwierigkeiten  in 
deutscher  und  türkischer  Sprache  gbgefasst  wurden  und 
nur  zum  Zwecke  der  Beseitigung  etwa  entstehender  Miss- 
verständnisse auch  einen  französischen  Text  erhielten. 

})  yg|.  Qenkscbriit  in  Reip^st^g  No.  7§5,  3-  l?!  »■  bezüg). 
(I^r  türtli^cbgn  Keiormen  Viil.  Inhalt  Teil  11.  §.121- 

Seit  der  VA^ii^erhersteilung  der  Verfassung  ara  23-  Juli  1008 
haben  die  eiirigen  türkischen  Staatsreiormatoren  die  Türkei  immer 
mehr  zu  einem  modernen  Rechtsstaate  ausgebildet  Seit  dem  22. 
iMai  1916  sipd  drei  Kommissionen  tätig  um  das  Familienrecht,  das 
bürgerliche  R^cht  und  das  Handelsrecht  den  modernen  Erforder- 
Qt'sseo  gemäss  auszubauen.  Vgl.  Welt  d^s  Islams  V.  Idl7,  Heft 
J/Tl.  Seite  50. 

2)  Siebe  Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung  vom  15.  Jan.  1917. 


—     151     — 


Ein  Konsularvertrag. 

Es  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Erprterupg,  dass 
Verträge,  wie  sie  das  Deutsche  Reich  mit  der  türkischen 
Regierung  einging,  mit  dem  Rechtszustand  der  früheren 
Kapitulationen  vöHig  unvereinbar  waren  und  (laher  not- 
wendigerweise deren  Aufhebung  zur  Folge  haben  muss- 
ten.  In  ganz  besonderem  Masse  trifft  di^s  hinsichtlich  der 
Konsularverhältnisse  zu,  ^die,  entklei.det  ihr^er  jejienialigpn 
Selbstherriichkeit,  nunmehr  auf  völkerrjechtlicher  Grund- 
lage  geregelt   vverden   sollten. }) 

Immerhin  war  die  Stellung  seiner  Konsuln  im  Oriei^t 
für  Deutschland  nach  Aufhebung  der  i^apitulationen  (un.d 
vielleicht  gerade  dadurch)  eine  der  hedeutepdsten  Fra- 
gen. Oem  entsprach  ai^ch  die  eingehende  Behandlung, 
die  dieser  Vertragsmaterie  zuteil  wurde.  Als  Master 
"nahm  man  sich  hierbei  die  unter  ähnlichen  Verhältnissen 
(zwecks  Beseitigung  von  Kapitulationen)  geschlossenen 
KonsularVerträge  zwischen  Deutschland  und  Japan "-) 
einerseits  und  Bulgarien  3)  andererseits. 

Gleich  in  der  Einleitung  zu  diesiem  Konsularvertrage 
wird  ausdrücklich  flas  Bestreben  des  Deutschen  Kaisers 
und  des  Kaisers  der  Osrnanen  heryorgehpb^n,  die  Kon- 
sularverhältnisse zwischen  den  beiden  Staaten  „auf  def 
Grundlage  des  aHgemeinen  yöikerrechts  unfl  der  Ge- 
genseitigkeit zu  regeln*^ 

Djer  nach  Aufzählung  der  Unterhändler  ^)  folgende: 
Art.  1  bestimmt,  dass  gegenseitig  die  Berechtigung  be- 
stehen soll,  an  aljen  bedeutenderen  Piätzen  der  beide« 
Ländjer  Konsulareijjfifhtungen  zu  schaffen,  weiche  Er- 
laubnis nur  dann  ißr  einzelne  Gebiete  aufgehoben  sein 
soll,  wenn  dieses  Verb,ot  auch  jeder  dritten  Macjit  gegjeif- 
über  Anwendung-  findet.     Sollte   der   für   einen   splcheif 

1)  Dem  entsprechend  sjeiit  auch  das  Ausführungsgesetz  zu 
den  vorliegenden  Verträgen  in  seinem  §  1  die  Bestimmung  eines 
Termins  yör,  zur  endgültigen  Aufhebung  der  Konsulargerichtsbar- 
keit, gepjä§s  der  Bestimmung  des  §  1  des  ßeselzes  über  dip 
.Konsurargerichtsbarkeit  vQm  9.  April  1900  .($.  j^.  G.Bl.  1000^.213). 
Auch  i_Q  früheren  F^ilei)  hat  Deutschland  verschiedentlich^  die 
Konsulargerichtsbarkeit  aufgehoben.  ^Vgll  Gesetz  betreifend  die 
Kousularg^richtsbarkeit  in  BQsnijen  und  d^r  Herzegowina  vom  V. 
Juni  1880  (Reichspsetzblatt  S-  146)  ferner  Giesetz  be^r.  die  Kon- 
sulargerichtsbarkeit in  Tunis  vom  26.Julil883(R.G.Bl.  1883,  Sefte263V 

2)  S.  R.  G.  Bl.  1896,  S.  732,  Vertrag  vom  4.  April  1896- 

3)  S   R.  Q.  Bl.  1913,  S.  435,  Vertrag  vom  29.  Sept.  1911. 

4)  Auf  deutscher  Seite  unterhandelten  Dr!  johanije§  Kri.fge- 
und  -Dr.  Walter  Simon  (später  Bruno  Wedding)  auf  ttirkiscileV 
Seite  Ibrahim  Hakki  Pascha  und  Ahmed  Reschid  Bey. 


—     lf>2     — 

Gcbictsbereich  zu  ernennende  Beamte  nicht  die  Staats- 
angehörigkeit des  Ernennungsstaates  besitzen,  so  ist  die 
diplomatische  Genehmigung  des  Empfangsstaates  nach- 
zusuchen. (Vgl.  zu  Art.  1  Abs.  1  den  Art.  1  Abs.  1  des 
Konsularvertrages  mit  Japan,  der  im  wesentlichen  das 
gleiche   besagl.)  ^ 

Ist  nun  die  Ernennung  eines  solchen  Beamten  er- 
folgt, so  darf  die  Genehmigung  von  seiten  des  betreffen- 
den Empfangsstaates  (Exequatur,  Placet,  auch  „Berat'' 
genannt  in  der  Türkei)  nur  daiin  nicht  erteilt  oder  ent- 
zogen werden,  wenn  eine  vorherige  Angabe  der  Gründe 
dem  Absendestaate  gegenüber  erfolgte,  deren  Würdi- 
gung jedoch  dem  Empfangsstaate  vorbehalten  bleibt.  Die 
gemäss  Art.  2  zugelassenen  Konsuln  können  im  Verhin- 
derungsfalle 2)  nach  Verständigung  der  Ortsbehörde 
durch  Attaches,  Dolmetscher,  Kanzler  oder  Sekretäre  ver- 
treten  werden. 

Diesen  mehr  formalen  Vorschriften  folgen  in  einem 
2.  Abschnitt  verschiedene  bemerkenswerte  Bestimmun- 
gen über  die  Vorrechte  und  Befreiungen  der  Konsular- 
beamten. 

Zunächst  werden  denselben  alle  ihnen  auch  nach 
Völkerrecht  zukommenden  Ehrenrechte,  wie  Wappen-, 
Flaggenführung  „und  die  ihrer  amtlichen  Stellung  zu- 
kommenden Ehren**  zugestanden,  was  ja  auch  gegenüber 
den  früheren  Kapitulationen  keine  Neuerung  bedeutet. 
(Siehe  Art.  4,  Abs.  2  des  Vertrages.) 

Bezüglich  der  in  den  Kapitulationen  besonders  weit 
ausgebauten  Exterritorialität  der  Konsuln,  die  ihnen  ge- 
mäss dem  allgemeinen  Völkerrecht  durchaus  nicht  zukam, 
ist  zu  bemerken,  dass  dieselbe  ihnen  durch  den  gegenwär- 
tigen Vertrag  genommen  und  ihre  Vorrechte  und  Befrei- 
ungen auf  den  Grundlagen  des  Völkerrechtes  zum  Aufbau 
gelangten. 

Gemäss  dem  allgemein  geltenden  Rechte  bestimmt 
zunächt  Art.  5,  dass  die  zum  Konsulararchiv  gehörigen 
amtlichen  Papiere  (wobei  die  Dienst-  von  den  Privat- 
papieren strenge  zu  sondern  sind),  „unter  keinem  Vor- 
wand** mit  Beschlag  belegt  werden  dürfen.  Immerhin 
steht  aber  den  Ortsbehörden  das  Recht  zu,  eine  Prüfung 
der  Papiere  auf  ihre  amtliche  Eigenschaft  vorzunehmen. 
In  gleicher  Weise  sind  auch  die  Amts-  und  Wohnräume 


1)  Vgl.  über  die  diplomatische  Emennungsvermlttlung  auch 
die  Österreich-türkische  Kapitulation  vom  jähre  T718,  Art.  5,  In- 
halt Teil  I.  S.  63. 

2)  z.  B.  Tod,  Krankheit,  Abwesenheit  usw. 


—     153     — 

den  Eingriffen  der  Landesbehürden  entzogen.  „Die  Amts- 
und Kanzlenaunie  der  Generalkonsuln,  Konsuln  und  Vize- 
konsuln, die  Berufsbeamte  i)  sind  und  dem  Teile  an- 
gehören, der  sie  ernannt  hat,  sollen  jederzeit  unver- 
letzlich sein;  das  gleiche  gilt  von  dem  Hause  dieser  Kon- 
sularbeamten für  die  Zeit,  wo  es  von  ihnen  tatsächlich 
bewohnt  wird.'*  -) 

Gegenüber  den  Kapitulationen  besteht  jedoch  ein 
grosser  Unterschied  in  der  Hinsicht,  dass  ein  Eindringen 
stattfinden  darf,  sofern  es  sich  „um  die  Verfolgung  wegen 
eines  Verbrechens  oder  -eines  nach  den  Landesgesetzen 
mit  Freiheitsstrafe  von  mindestens  einem  Jahre  bedroh- 
ten Vergehens  handelt'*.     (Siehe  Art.  5.) 

Gemäss  dem  fast  allgemein  geltenden  Grundsatze, 
den  Konsuln  gegenseitig  Befreiung  von  persönlichen  Lei- 
stungen, direkten  Abgaben  und  Steuern  zuzugestehen, 
bestimmt  Art,  6,  dass 'die  Konsuln  (die  Berufsb^amte 
sind)  3)  mit  Einschluss  ihrer  Beamten  zunächst  von  den 
in  der  Türkei  besonders  schwerwiegenden  Militärlasten 
befreit  sein  sollen,  welche  Vergünstigung  sich  jedoch  nicht 
auf  Grundstücke  erstrecken  soll,  die  nicht  zum  Konsular- 
dienst  oder  zu  Wohnzwecken  der  Konsularbeamten  be- 
nützt werden  sollen.  Desgleichen  sollen  diese  Beamten 
von  allen  direkten  Personal-,  Mobiliar-  und  Luxussteuern 
befreit  sein,  mögen  solche  vom  Staate  oder  von  anderen 
Verbänden  des  öffentlichen  Rechts  erhoben  werden.  (Vgl. 
den  deutsch-türkischen  Vertrag  vom  26.  August  1890, 
Art.  10.) 

Ebenso  wie  die  persönliche  Unantastbarkeit  der  Kon- 
suln nur  durch  besonderen  Vertrag  oder  Herkommen  ver- 
einbart werden  kann,  wird  auch  über  die  Befreiung  von 
der  Gerichtsbarkeit  des  Aufenthaltsstaates  durch  geeig- 
nete Abmachungen  bestimmt.*) 

1)  „Unter  Berutsbeamten  im  Sinne  dieses  Artikels  sind  Be- 
amte zu  verstehen,  die  ihre  gesamte  berufliche  Tätigkeit  ihren 
Amtsgeschäften  widmen,  die  also  in  dem  Lande  ihres  Amtssitzes 
weder  Handel  noch  Gewerbe  treiben,  noch  eine  sonstige  Erwerbs- 
tätigkeit ausüben."  (siehe  Reichstagsdenkschrift  S.  174). 

2i  Selbstverständlich  dürfen  aber  diese  Räume  mit  Einschluss 
des  Konsularbootes  nicht  als  Asyl  benützt  werden. 

3)  Sind  jedoch  diese  Konsularpersonen  keine  Berufsbeamte, 
so  werden  sie  zu  militärischen  Lasten  herangezogen,  falls  sie  ein 
Handelsgeschäft  oder  ein  Gewerbe  betreiben  (s.  Art.  6,  Abs.  1  u.2). 

4)  Vgl.  Liszt  1913,  Seite  128.  Siehe  auch  G.  V.  G.  ^5  21,  wo- 
durch jegliches  Gewohnheitsrecht  hinfällig  wird.  Diese  verschie- 
d entlich  ^ugeschräakle  iuid  bedingte  ßeireiung  der  Konsuln  von 
der  Staatsgewalt  des  Empfangsstaates  geschieht  hauptsächlich,  um 
dieselben  nicht  durch  willkürliche  Verhaftung  und  andere  Mass- 
regeln in  ihrer  Amtsführung  zu  behindern. 


—     164     - 

Dementsprechend  be&timnjt  Art.  8,  4as6  ciie  beider- 
seitigen Kojisuln  in  Ansehung  ihrer  amtlichen  Tätigkeit 
der  Landesgerichtsbarkeit  überhaupt  nicht  i^nterworfeij 
sein  sollen  und  Bes.ch werden  gegep  sie  nur  ai^f  diplp- 
motischem  Wege  m  erfolgen  hab^n.  >^ie  in  den  meisten 
Konsuhirverträgen  vvurde  auich  in  den»  vorUegcnden 
deutsch-türkischen  Vertrage  ausdrückUch  eine  Zeugnis- 
pfhcht  der  Konsuln  festgestellt.  Gemäss  Art.  10  sind  die 
Konsuln  auf  amthche  Aufforderung  der  Oerichtsbehördeii 
zur  Zeugnisablegung  verpflichtet,  wovon  sie  nur  dann 
bis  zum  Eintreffen  der  Genehmigung  ihrer  eigenen  Re- 
gierung befreit  sein  sollen,  falls  die  verlangte  Auskunft 
Vorgänge  betreffen  sollte,  die  in  der  amtlichen  Tätig- 
keit de*-  Konsuln  ihrf  Grundlage  hab^n. 

Sollte  der  Konsul  durch  irgendwelche  Umstände  an 
seinem  Erscheinen  zur  Vernehmung  verhindert  sein,  so 
erfolgt  dieselbe,  falls  er  die  Staatsangehörigkeit  seines 
Absendestaates  besitzt,  in  seiner  Wohnung  oder  auf 
schriftlichem  Wege.  Ein«  weitere  Folge  der  den  Kon- 
suln zugesicherten  Unverletzlichkeit  ist  die  Bestimmung 
des  Art.  9,  dass  die  Konsuln  von  der  Personalhaft  in 
Zivil-  und  Handelssachen  befreit  sein  sollen,  welche 
Vergünstigung  sich  auch  auf  die  Untersuchungshaft  in 
Strafsachen  erstreckt,  falls  sie  dem  Ernennungsstaate  an- 
gehören. ')  Den  übrigen  Konsularbeamten  wird  kein 
solches  Vorrecht  eingeräumt,  aber  auf  Antrag  des  Vor- 
standes der  Konsularbehörde  kann  die  Personal-  und 
Untersuchungshaft  bis  zur  Dauer  eines  Monats  ausge- 
setzt werden.  Letztere  aber  auch  nur,  wenn  die  Beamten 
Angehörige  des  Ernennungsstaates  sind,  und  es  sich  nicht 
um  eine  in  Art.  5  Abs.  2  bezeichnete  Straftat  handelt. 
(Siehe   Seite    154   Anm.    1.) 

Für  den  Fall  des  Ablebens  eines  Konsuls  hat  nach 
Art.  II  sogleich  seitens  der  Ortsbehörde  in  Gegenwart 
eines  Konsularbeamten  die  Versiegelung  des  Archixs 
stattzufinden,  wodurch  man  einem  Missbrauch  oder  cinetn 
Abhandenkommen  amthcher  Papiere  vorbeugen  will. 
Deshalb  hat  bei  der  Uebergabe  des  Konsulararchivs  an 
den  Amtsnachfolger  die  Entsiegelung  in  gleicher  Weise 
zu  erfolgen. 

1)  Hinsichtlicli  der  Untersuchungshaft  findet  „jedoch  eine 
solche  Vergünstigung  nicht  statt,  falls  es  sich  um  die  Verfolgung 
wegen  eines  Verbrechens  oder  eines  nach  den  Landesgesetzen 
mit  Freiheitsstrafe  von  mindestens  1  Jahre  bedrohten  Vergeh^ens 
handelt."  (s.  Art.  5.  Abs.  2). 


—      ]5ß     — 

Die  jeweiMgen  Vertreiter  eines  Generalkonsul?,  Kon- 
suls u,  s.  w.  sollen  die  gleichen  Vorrechte  wie  dieser 
geniessen.  Für  Vertreter,  die  nicht  Berufsbeamte  sind, 
gilt  jedoch  wieder  die  allgemeine  Einschränkung,  da*s 
sie  zwar  die  gleichen  Ehren  wie  die  Berufsbeaniten, 
„aber  nur  die  Vorrechte  und  Befreiungen  der  Wr^hlbe- 
amten    geniessen    sollen*'.     (Siehe    Art.    13.) 

Trotzdem  nyn,  wie  yiir  gesehen  haben,  die  Vorrechte 
und  Befreiungen  der  beiderseitigen  Konsuln  genau  um- 
grenzt wurden,  fügte  man  4och,  wie  dies  fast  aljgemein 
gebräuchlich  ist,  i)- im  Art.  12  die  Meistb,egünstigungs- ' 
klausel  hinzu^  die  bestimnit,  dass  die  Konsularbeamten  -) 
^edes  der  vertragschlijessenden  Teile  .  .  .  a,usserdem  alle 
Vorrtchte  und  Befreinngen  geniessen  sollen  wie  die 
Konsularbeamten  gleicher  Art  und  gleichen  Ranges  der 
meistbegünstigten  Nation'*, 

Im  übrigen  ist  noch  zu  bemerken,  dass  alle  hier  be- 
handelten Vorrechte  und  Befreiungen  sich  gemäss  dem 
allgemeinen  Völkerrecht  keineswegs  auf  die  Familien- 
mitglieder des  Konsuls  erstrecken  und  auf  die  Konsular- 
beamten nur  dann,  wenn  sie  in  Vertretung  des  Konsuls 
die  Amtsgeschäfte  führen,  oder  ihre  Rechte  genau  um- 
schrieben   werden.  ^) 

Gegenüber  diesen  Rechten  sind  jedoch  dem  Konsul 
auch  die  verschiedenartigsten  Pflichten  auferlegt,  die  in 
dem  deutsch-türkischen  Konsularvertrage  unter  dem  Titel 
„Konsularische  Amtsbefugnisse**  zusammengefasst  vyer- 
den. 

Dieser  Abschnitt  enthält  zunächst  in  einem  einleiten- 
den Art.  14  die  allgemein  anerkannte  völkerrechtliche 
Bestimmung,  dass  die  Konsuln*)  „die  Rechte  und  Inter- 
essen der  Angehörigen  ihres  Landes  wahrzunehmen,  ins- 
besondere deren  Handel  und  Schiffahri:  zu  schützen  und  zu 
fördern**  haben.  Neben  dieser  Bewachung  der  wirt- 
schaftlichen Interessen  ihrer  Landsleute  wurde  ihnen  aber, 
wie  dies  bereits  in  verschiedener!  anderen  Verträgen  ge- 
schehen ist,  ein  über  die  Gegenwartsbestimmungen  der  bei- 

1)  Vergl.  die  Verträge  zwischen  dem  Reiche  ijnd  Peru  betref- 
fend die  Stellung  der  deutschen  Konsuln  in  Peru  und  der  peruani- 
schen Konsuln  in  Deutschland  vom  28.  Juni  1897  (R.  G.  Bl.  1899 
S.  662.) 

2)  Der  Ausdruck  Konsulatbeamte  ist  „im  weitesten  Sinne  zu, 
verstehen;  er  umfasst  daher  das  gesamte  Konsulatspersonal.* 
(s.  Denkschrift  zu  Art.  12  S.  176). 

3i  Vergl.  Liszt  1913  S.  127. 

4)  D-  h.  die  Generalkonsuln,  Konsuln,  Vizekonsuln  und  Kon 
sularagenten. 


—     156     — 

■dcrseitigeii  Verträge  hinausgehendes  Einspruchsrecht  ge- 
währt. ^)  „Sie  können  in  Ausübung  ihrer  Amtsbcfug- 
nissc  sich  an  die  Behörden  in  ihrem  Amtsbezirk  wenden, 
auch  bei  diesen  wegen  jeder  Verletzung  der  zwischen  den 
beiden  Teilen  bestehenden  Verträge  und  Vereinbarungen 
oder  der  allgemeinen  ürundsätze  des  Völkerrechts  Ein- 
spruch erheben."  (Siehe  Art.  14  Abs.  2.)  Diese  Be- 
stimmung ist  besonders  für  die  orientalischen  Verhält- 
nisse von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  für  die 
dort  lebenden  deutschen  Untertanen. 

Neben  diesem  Einspruchsrecht  ist  dem  Konsul  vor 
allem  die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  in  weitgehendem 
Masse  erhalten  geblieben.  Wir  können  nämlich  im  Kon- 
sularvertrage  selbst  gleichsam  drei  Sonderverträge  be- 
obachten, nämlich  ein  Notariatsabkommen,  ein  Vormund- 
schaftsabkommen und  ein  Nachlassabkommen. 

Art.  15  regelt  eingehend  die  notariellen  Befugnisse 
der  Konsuln,  wie  die  Entgegennahme  von  Erklärungen, 
Beglaubigung  von  Urkunden,  insbesondere  von  letztwil- 
ligen Verfügungen.  -)  Alle  so  aufgenommenen  einseiti- 
gen Rechtsgeschäfte  und  Verträge  sollen  „als  öffentliche 
oder  öffentlich  beglaubigte  Urkunden  angesehen  wer- 
den und  dieselbe  rechtliche  Wirkung  und  Beweiskraft 
haben,  als  wenn  sie  von  einem  öffentlichen  Beamten  des 
Landes  aufgenommen,  bestätigt  oder  beglaubigt  wä- 
ren". 3)  Nicht  aufnehmen,  bestätigen  oder  beglaubigen 
darf  der  Konsul  einseitige  Rechtsgeschäfte  oder  Ver- 
träge, „bei  denen  einer  der  Beteiligten  als  Eigentümer 
eines  im  Lande  des  Amtssitzes  gelegenen  Grundstückes 
handelt,  sowie  solche,  für  die  nach  Landesgesetzen  die 
Mitwirkung  von  Richtern  oder  von  bestimmten  öffent- 
lichen   Beamten  unerlässlich   ist". 


1)  Vergl.  die  Konsularkonvention  zwischen  dem  Reiche  und 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  vom  11.  Dezember  1871 
(R.  G.  Bl.  1872  S.  95j  Art.  8. 

2)  Bei  dem  Notariatsabkommen  entfällt  auch  die  Einschränkung 
hinsichtlich  des  Grundeigentums  insofern,  als  auch  dieses  bei  der 
Testamentserrichtung  in  dem  Bereich  der  konsularischen  freiwilligen 
Gerichtsbarkeit  gehört,  (s.  Kriege  in  Reichstag  vom  10.  Mai  1917 
S.  3200  . 

Vgl.  auch  den  deutsch-schweizerischen  Vertrag  vom  14.  Februar 
1907  R.  G.  Bl.  S.  411. 

3)  Diese  Bestimmung  bezieht  sich  jedoch  nicht  auf  die  Voll- 
strtickburkeit  der  Urku^ulen  für  die  vielmehr  die  Lae^tesgesetze 
massgebend  sind.  (Vergl.  ?5  794  Nr.  5,  §  415  und  §  418  der  deut- 
schen Zivilprozessordnung ) 


—     157     — 

Auf  alle  Fälle  unterliegi.Mi  jedoch  solche  Verhand- 
lungen und  Schriftstücke  den  gesetzlichen  Abgaben,  die 
„sich  auf  ein  in  diesem  Lande  auszuführendes  Geschäft 
beziehe^**.  (Vgl.  hiezu  das  den  Behörden  bedeutend 
grössere  Vergünstigungen  einräumende  türkische  Stem- 
pelgesetz von  1894.) 

In  den  Bereich  der  konsularischen  notariellen  Tä- 
tigkeit fallen  ferner  alle  einseitigen  Rechtsgeschäfte  und 
Verträge,  ohne  Rücksicht  auf  die  Staatsangehörigkeit  der 
Beteiligten,  sofern  ihre  Ausfülirung  im  Gebiete  des  Er- 
nennungsstaates erfolgen  soll.    (Siehe  Denkschrift  S.  177.) 

Die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  der  Konsuln  erstreckt 
sich' ferner  in  Sachen  des  Personenstandes  auf  die  Ehe- 
schliessung zwischen  Verlobten,  die  beide  dem  Absende- 
staat des  betreffenden  Konsuls  angehören  (Art.  1),  fer- 
ner auf  die  Vormundschaft  und  Pflegschaft,  auf  die  Ord- 
nung des  Nachlasses  eines  verstorbenen  Staatsangehö- 
rigen und  auf  die  Sorge  für  die  Hinterbliebenen. 

Bezüglich  des  Vormundschafts-  und  Pflegschaf^fe- 
rechts  ist  dem  Konsul  die  Stellung  eines  Vormundschafts- 
richters verblieben.  Auch  hier  ist  der  türkischen  Rechts- 
anschauung weitgehendst  entgegengekommen  worden, 
indem  überall  da,  wo  das  Vermögen  der  unter  Vormund- 
schaft oder  Pflegschaft  zu  stellenden  Person  Grundeigen- 
tum umfasst,  eine  Mitwirkung  der  Landesbehörden  ver- 
einbart ist. 

Dementsprechend  sind  auch  bei  der  Verwaltung  die- 
ser Liegenschaften  die  betreffenden  Landesgesetze  zu  be- 
obachten, wonach  für  die  Einleitung  und  Aufhebung  einer 
Pflegschaft  eine  öffentliche  Bekanntmachung  erforderlich 
ist,  um  den  Familienmitgliedern  und  den  Gläubigern  Ge- 
legenheit zur   Kenntnisnahme   zu   bieten. 

Art.  18  regelt  ferner  in  seinen  verschiedenen  Para- 
graphen auch  insbesondere  Konipetenzkonflikte  zwischen 
den  deutschen  und  türkischen  Behörden  und  umfasst 
ferner  die  Vormundschaftsbestimmungen  über  entmün- 
digte Volljährige.  Interessant  ist  hiebei  die  Bestimmung 
im  §  3  dieses  Artikels.  NVie  noch  zu  behandeln  sein 
wird,  bestimmt  Art.  2  Absatz  1  des  deutsch-türkischen 
Vertrages  über  Rechtsschutz  und  Rechtshilfe  in  bür- 
gerlichen Angelegenheiten,  dass  die  Entmündigung  eines 
Volljährigen  der  Gerichtsbarkeit  seines  Landes  vorbe- 
halten bleiben  solle,  deren  über  Entmündigungssachen  er- 
g'ehende  Entscheidungen  im  anderen  Staate  anzuer- 
kennen sind.     Beim   Vorliegen  der  im   obigen   §   3  ent- 


—     158     — 

halterrcn  V^oraussetzungeii  ^)  kann  jedoch  die  Landesge- 
richtsbarkert  des  Empfangsstaates  über  die  Entrhündi- 
^Tung  eines  Angehörig"en  des  anderen  Landes  be- 
schliessrerr,  wobei  es  aber  der  Gerichtsbarkeit  *!es  Ab- 
sen^lestaates  vorbehalten  W'eibt,  ern  die  Entmündigung 
seines  Angehörigen  aussprechendes  oder  ablehirendes 
Lirteil   zu   erlassen. ') 

Hinsichflkh  des  Nachlassabicommens  erreichte  es 
die  türkische  Regierung,  dass  ihr  in  Ansehung  des  son- 
stigen Besitzes  ein  jeweils  verstärktes  Mitwirkungs^echt 
(falls  eiil  Türke  z,  B.  Miterbe  oder  Nachlassgläubiger 
ist),  bei  Grundstücken  aber  die  vollkommene  Gerichts- 
barkeit vorbehalten  bleibt  -) 

Zunächst  vvH-d  in  dem  für  den  Nachlass  in  Betracht 
kommenden  Art.  19  §  1  bestimmt,  dass  die  Ortsbehörden 
den  Konsul  vom  Ableben  eines  Staatsangehörigen  seines 
Absendestaates  in  Kenntnis  zu  setzen  haben,  wozu  noch 
kommt,  dass  die  gleiche  Pflicht  die  Konsularbehörde 
trifft.  Der  Konsularbeamte  hat  dann  in  Gegenwart  der 
Ortsbehörde  den  Nachlass  y.u  versiegeln  oder  zu  ent- 
siegeln."') Die  Anwesenheit  dieser  Ortsbehörde  ist  nur 
dann  nicht  erforderlich,  wenn  sie  auf  Einladung  ihr  Er- 
scheinen unterlässt.  Gemäss  den  allgemein  geltenden 
Bestimmungen  des  Völkerrechts  kommt  für  das  anzu- 
wendende Erbrecht,  sowie  für  die  Teilung  des  Nachlasses 
die  Gesetzgebung  des  Landes  des  Verstorbenen  zur  An- 
wendung. (Vgl.  hierzu  im  Gegensatz  die  Bestimmungen 
des  §  15,  der  hinsichtlich  des  Grundbesitzes  wieder  an 
den  alten  türkischen  Rechtsanschauungen  festhält.) 


1)  Versäumung  der  nach  Bekanntgabe  der  Pflegschafts-  oder 
der  Entmündigungsnotwendigkeit  verbleibenden  Einleitungsfrist  von 
4  Monaten.  Diese  gemäss  Art.  18  §  2  vorgesehene  Benachrichti- 
gung des  deutschen  Konsuls  durch  die  osmanischen  Ortsbehörden 
ist  als  Entmündigungsantrag  im  Sinne  des  >?  646  Abs.  2  und  §  680 
Abs.  2  der  d.  Z.  P.  O.  anzusehen  und  durch  den  Konsul  dem  zu- 
ständigen deutschen  Amtsgerichte  mitzuteilen.  (S.  §  3  des  Aus- 
führungsgesetzes S.  208  der  Denkschrift.) 

2)  Vergl.  die  deutsch-russische  Nachlasskonvention  vom  12. 
November;31.  Oktober  1874  (R.  G.  Bi.  1875  S.  136)  Art.  10  und 
Art.  14  des  deutsch-japanischen  Vertrages  von  1906. 

3)  Neben  der  Versiegelung  kommt  auch  nach  dem  deutsch- 
tiirkischen  Vertrage  in  Betracht  die  Aufstellung  eines  Inventars, 
die  Verwahrung,  Verwaltung  und  Hinterlegung  der  Nachlassgegen- 
stände. Ferner  ist  für  die  Aufbietung  der  Nachlassgläubiger  Sorge 
zu  tragen  und  die  Kosten  der  Krankheit  und  des  Begräbnisses  des 
Verstorbenen  u.  a.  m.  zu  bezahlen. 


—         .1^ 


Bezüglich  des  ürufidbesitzes  finden  übrige:is  die 
Bestimmungen  der  §§  2—14  des  Art.  10  keine  Anwen- 
dung.   (Siehe   §    16.) 

Was  die  Sorge  iüt  die  Hinterbliebenen  betrifft,  so 
hat  der  Konsul  die  Erben  zu  verfrefen,  wozu  es  nach 
gemeinem  Völkerrecht  keiner  weiteren  Vollmacht  be- 
darf und  den   Nachlass  an   dieselben  auszufolgen. 

Weiterhin  wurde  den  Konsuln  die  Hafenpoüzei  zu- 
gestanden (siehe  Art.  20  und  22),  wozu  ferner  kommt, 
dass  sie  bei  einer  üntersuchungshandlung  (Durch- 
suchung, Beschlagnahme,  Verhaftung,  vorläufige  Fest- 
nahme, Vernehmung),  einer  Zwangsvollstreckung  od'er 
einer  anderen  Handlung  einzuladen  sind.  ^)  Ihr  Nicht- 
erscheinen oder  Entferntsein  hat  dann  die  oft  erörterten 
übhchen  Folgen  in  der  Hinsicht,  dasS  die  türkischen  Be- 
hörden selbständig  vorgehen.     (Siehe  Art.  21.)-') 

Gemäss  der  dem  Konsul  auch  nach  allgemeinem 
Vertragsgebrauch  zustehenden  Seepolizei  kann  er  zu- 
folge Art.  23  des  Konsularvertrages  desertierte  Schiffs- 
mannschaften festnehmen  lassen.  Für  diesen  Fall  hat 
er  sich  durch  schriftliches  Ersuchen  an  die  Ortsbehörde 
zu  wenden,  die  nach  Ueberprü^mg  der  angegebenen 
Daten  die  Auslieferung  veranlassen  kann.*  Die  Ucber- 
gabe  des  Deserteurs  unterbleibt  jedoch,  falls  nachge- 
wiesen werden  kann,  „dass  die  entwichene  Person  ein 
Landesangehöriger  ist".  (Vgl.  hierzu  r'ie  ganz  allgemein 
geltende  Regel  im  Auslieferungsvertn.ge.)  Hinsichtlich 
des  letzten  Punktes  ist  der  deutsch-japanische  Konsular- 
vertrag vom  4.  April  1906  bedeutend  klarer.  Art.  17 
Abs.  2  dieses  Vertrages  bestimmt,  dass  die  Deserteure 
auf  ein  begründetes  Gesuch  auszuliefern  sind,  „voraus- 
gesetzt, dass  dieselben  weder  zur  Zeit  ihrer  Einschiffung 
noch  zur  Zeit  ihrer  Ankunft  im  Hafen  Angehörige  des 
Landes  sind,  wo  das  Ausiieferungsverlangen  gestellt 
wird''.    Im  übrigen  sind  fast  alle  bisher  behandelten  Be- 

1)  Gemäss  Art.  21  Abs.  I  Satz  3  dar!  die  Benachrichtigung 
des  Konsularbeamten  auch  bei  obiger  Lage  des  Amtssitzes  unter- 
bleiben (s.  S.  159  Anm.  2.)  falls  Gefahr  im  Verzug  ist.  „Gefahr 
im  Verzuge  im  Sinne  dieser  Bestimmung  ist  anzunehmen,  wenn 
die  mit  der  Benachrichtigung  des  Konsuls  verbundene  Verzöge- 
rung den  Lauf  der  Rechtspflege  in  Zivil-  oder  Strafsachen  oder 
die  Rechte  der  Beteiligten  gefährden  würde."  (s.  Denkschrift  S.  181 ). 

2)  „Im  Sinne  dieser  Bestimmung  ist  nach  der  Auffassung 
beider  Vertragsschliessenden  Teile  der  Amtssitz  eines  Konsuls  als 
in  der  Nähe  des  Hafenorts  gelegen  anzusehen,  wenn  die  Hin-  und 
Rückreise  bei  Benutzung  der  gewöhnlichen  Verkehrsmittel  läng- 
stens an  einem  Tage  ausgeführt  werden  kann."  (s.  Denkschrift  S.  181). 


—      IGO     — 

Stimmungen  diesem  deutsch-japanischen  Vertrage  ganz 
ähnlich. 

Auch  im  deutsch-türkischen  Vertrage  finden  wir  im 
Art.  23  die  Anordnung,  dass  der  verhaftete  Deserteur 
nach  Ablauf  von  2  Monaten,  binnen  welcher  Frist  sich 
die  Konsularbehörde  um  eine  Abschubmöglichkeit  umzu- 
sehen hat,  freigelassen  und  nicht  mehr  gefangen  gesetzt 
wird. 

Wie  wir  in  der  Geschichte  der  Kapitulationen  aus- 
führten, hatten  früher  die  Kaulleute  das  Recht,  für  ihre 
durch  Schiffbruch  an  den  Strand  geworfenen  Waren  Zoll- 
freiheit zu  verlangen,  sofern  dieselben  an  einem  anderen 
Bestimmungsort  abgehen  «sollten. 

Diese  Vergünstigung  wird  gemäss  diesem  neuen 
Vertrage  nur,  insoweit  gewährt  „als  sie  (d.  h.  die  Waren) 
nicht  nach  Massgabe  der  geltenden  Zollbestimmungen 
in    den    inneren    Verkehr    übergehen". 

Der  dem  Art.  18  des  deutsch-japanischen  Vertrages 
vollkommen  entsprechende  Art.  25  regelt  die  Berechnung 
der  Havarie,  die  je  nach  der  Nationalität  der  Beteiligten 
vom  Konsularamt  oder  den  Landesbehörden  festgesetzt 
wird. 

iX^ie  in  den  meisten  Verträgen  spielt  auch  in  dem 
vorliegenden  deutsch-türkischen  Konsularvertrage  zufolge 
dessen  ausserordentlichen  Bedeutung  für  die  Auslands- 
deutschen die  Meistbegünstigungsklausel  eine  bedeut- 
same   Rolle.  ^) 

Wie  für  die  konsularischen  Vorrechte  Hess  sich 
Deutschland  auch  für  die  Amtsbefugnisse  der  Konsuln 
das  Recht  der  Meistbegünstigung  gewähren.  Art.  26' 
bestimmt  dementsprechend,  dass  die  Konsularbeamten 
beider  Staaten  die  gleichen  Amtsbefugnisse  ausüben  kön- 
nen, „wie  die  Konsularbeamten  gleicher  Art  und  glei- 
chen Ranges  der  meistbegünstigten  Nation*'. 

Nach  den  üblichen  Ratifikationsbestimmungen  wird 
zum  Schlüsse  des  Vertrages  noch'  bestimmt,  dass  er  sich 
nicht  auf  die  deutschen  Schutzgebiete  zu  erstrecken  habe 
(hierfür  wurde  ein  besonderer  Vertrag  abgeschlossen, 
siehe  weiter  unten)  und  dass  seine  Dauer  zwanzig  Jahre 
betragen  solle.  '^) 

1)  Bezüglich  der  Meistbegünstigungsklausel  ist  zu  bemerken, 
dass  England  nach  den  neuesten  Meldungen  die  Meistbegünstigungs- 
klausel in  den  Handelsverträgen  abzuschaffen  beabsichtigt.  Siehe 
Münchner  Neueste  Nachrichten  vom  26.  VII.  1918  71.  Jahrg.  Nr.  372. 

2)  „Die  Dauer  des  Vertrages  ist  auf  zwanzig  Jaiire  bemessen, 
damit  das  dadurch  begründete  neue  Rechtssvstem  sich  genügend 
einleben  kann."  (s.  Denkschrift  S.  183). 


—     161     — 


II. 
Vertrag  zwischen  dem  Deutschen  Reiche  und  dem 
Osmanischen  Reiche  über  Rechtsschutz  und  gegen- 
seitige Rechtshilfe  in  bürgerlichen  Angelegenheiten.^) 

Eine  der  segensreichsten  Wirkungen  des  Solidari- 
H  p^r"^!*'""'  "^'^  Kulturstaaten  ist  die  Ancrke« 
der  Ptl.cht,  einander  in  der  Erfüllung  der  Aufaab  "n  d^ 

n(5.1n  'ßeT  T'^'  h"  '''''''''  '^   "^^^^^  d^^  ausserordent- 
lichen  Bedeutung  dieser  Frage  beruhte  diese  eioentlirh 
selbstv-erstandliche  Pflicht  zunächst  nur  auf  blosser  Höt- 
chke,i,nd  erst  die  holländische  Regierung  'ingdaV^n 
al  mahhch  eine  feststehende  Rechtsp^icht  a^us^zuarbei  e  " 

s  hen  Re?l,  r'^'"/''"  ^"'  '^^'^^^^"^  ^^^  niederländi-' 
sehen  Rechtslehrers  Asser  wiederholt  Konferenzen  nach 
dem   Haag  zusammenberief.  -)  cicnzen  nacn 

v.hi  ^?i  ^^'-  ^.""^^^^^'^  geJa»S  es  auch,  die  grosse  Mehr- 
zahl  der  zivilisierten   Staaten   zur   Unterzeichnung  eine, 
entsprechenden  Abkommens  zu  bewegen   ohne  dass  man 
lahre    1905  f''   ^.-  türkische   Re^ich   wenigstens"  n 
Jahre    1905    heranzuziehen.     Als    jedoch    das    Deutsche 
Reich  daran  ging,  die  bisher  nur  dem  Namen  nach  be 
stehende    Gleichstellung    des    osmanischen    Reiches    nS 
den   christlichen   europäischen   Staaten   auch   in   die  Ta 
umzusetzen   schritt  man  ebenso  wie  zum  Abschlüsse  des   • 
bereits    behandelten    Konsularvertrages    zur    Uterzeich- 
nung   eines    Rechtsschutzabkommens      •  ^"^^^^^eicti   ^. 
.i.c     A^  '''^  Anerkennung  des  türkischen  Standpunkten 
dass   das   osmanische   Staatswesen    bereits   so    vveit  g^: 

denken  '.7/  l-T  ''  ''"'  ?^^^^«""^  der  Kapitulation!, 
denken  zu  können,  musste  von  selbst  die  einzig  möa- 
hcne  Konsequenz  gezogen  werden,  die  darin  bestand* 
die  bisher  privilegierte  Stellung  der  Fremden  im  os- 
manischen Reicne  endgültig  abzuschaffen  und  dieselben 
in  zivilprozessualer  Beziehung  gleichfalls  den  Landes- 
gerichten  zu  unterstellen  und  so  in  die  gleiche  Lage 
wie   die   türkischen    Untertanen   zu   versetzen.    (Art.    1.) 

uoo^  Ri?  nunmehr  zu  behandelnden  Vertrage  ist  vor  allem  das 
Haager  Abkommen  über  den  Zivilprozess  vom  17.  Juli  1905    R^  ßi 
b.  409)  zugrunde  gelegt  worden.  ^  ^K.u.tJi. 

2)  Siehe  Ullmann  Völkerrecht  1908,  S.  377. 

3)  Die  Bestimmung  dieser  Konferenzen  war  die  AufstPllima 
gernemsamer  Rechtssätze  über  eine  Reihe  von  Fragen  des  fnter? 
nalionalen  Privat-  und  Prozessrechtes."     (vgl.  Liszt^TgiS  S.  24L> 

11 


—     162     — 

Gleich  dem  Haagcr  zivilprozessualen  Abkommen  wird 
auch  hier  die  Personalliaft  in  Zivil-  oder  Handelssachen 
„als  Mittel  der  Zwangsvollstreckung  oder  als  Sicherungs- 
massregcl"  für  statthaft  erklärt  und  gemäss  Art.  3  die 
Ausländerkaution  abgeschafft.  Unbeschadet  dieser  Be- 
stimmung ist  jedoch  in  den  folgenden  Artikeln  die  Exe- 
kution der  Urteile,  soweit  sie  sich  auf  Kostenentschei- 
dungen erstreckt,  zugelassen.  (Vgl.  Art.  17 — IQ  des 
Haager   zivilprozessualen    Abkommens    von    1905.) 

Die  Art.  6  und  7  regeln  Bestimmungen  des  auch 
in  verschiedenen  anderen  völkerrechtlichen  Verträgen 
gewährten  Armenrechts  und  zwar  auf  der  Grundlage  der 
Gegenseitigkei-t.  (Vgl.  Art.  20 — 23  des  Haager  zivil- 
prozessualen  Abkommens.) 

Gemäss  der  hervorragenden  Bedeutung  der  familien- 
rechtlichen Entscheidungen  (Eheschliessung,  Scheidung, 
Nichtigkeit,  Anfechtung  der  Ehe),  ferner  der  Entschei- 
dung über  die  Geschäftsfähigkeit,  kamen  die  Vertrags- 
schliessenden Staaten  überein,  Urteile  vorstehender  Art 
„den  zuständigen  Gerichten  oder  den  sonst  zuständigen 
Behörden  ihres  Heimatsstaates  vorzubehalten'*.  (Vgl. 
hiezu  die  Beratungen  der  4.  Haager  Konferenz  im  Jahre 
1904  und  die  zwei  familienrechtlichen  Konventionen  vom 
17.   Juli   1905.)  1) 

Eine  Entscheidung  der  Landesgerichte  über  einen 
derartigen  Fall  kann  nur  dann  erfolgen,  wenn  er  als 
.Inzidtntpunkt  „im  Laufe  des  vor  ihnen  schwebenden  Pro- 
zesses** in  Betracht  kommt.  Das  Urteil  hat  aber  nur 
für  die  entschiedene  Streitsache  und  nur  für  die  betreffen- 
den Parteien  Rechtskraft. 

I.  Abschritt:     Gegenseitige   Rechtshilfe    in    bürger- 
lichen Angelegenheiten. 

In  dieses  Gebiet  fallen  vor  allem   die  Zustellungen 
gerichtlicher  und   aussergerichtlicher   Urkunden  und  das 
Ersuchen    um    Rechtshilfe, 
einen  Teils  die  Erledigung  von  Zustellanträgen  und  Er- 

Art.   8   und    10  bestimmen,   dass   die   Behörden   des 


1)  Diu  deutsche  Regierunj,'  sah  sich  genötigt,  auf  diesen  Aus- 
nahmen zu  bestellen,  da  die  türkische  Rechtsprechung  in  diesen 
Fällen  noch  immer  durch  geistliche  Behörden  geübt  wird  und  die 
türkische  Regierung  in  ihrem  Gesetz  über  Rechte  und  Pflichten 
der  Ausländer  vom  23.  Februar  1915  (siehe  Strupp  Aktenstücke 
S.  316  ff.)  selbst  teilweise  auf  eine  Zuständigkeit  der  Landes- 
behörden in  solchen  Fällen  verzichtete. 


i 


—      IGi     - 

-suchen   der   Behörden   des   anderen   Teils   vorzunehmen 
Aaben,    sofern    sie    nicht   ihre    örtliche    Unzuständigkeit 

unverzüglich  dem   Konsul  zur  Kenntnis  bringen  können. 

(Vgl.  Art.   12  und   13  des  Haager  zivilpr.  Abk.) 

Im  Art.  12  sehen  wir  ausdrücklich  bestimmt,  dass 
die  Gerichtsbehörde,  an  die  gerichtliche  Ersuchen  ge- 
stellt werden,  bei  der  Erledigung  eines  solchen  Ersuchens 
-dieselben  Zwangsmittel  anzuwenden  hat,  „wie  bei  der 
Erledigung  eines  Ersuchens  der  Behörde  des  ersuchten 
Teils  oder  eines  zum  gleichen  Zwecke  gestellten  An- 
trags   einer   beteiligten    Partei*',  i) 

Bemerkenswert  ist  ferner,  dass  nur  die  konsularische 
Vermittlung-)  zugelassen  ist,  während  die  diplomatische 
Inanspruchnahme  nur  bei  solchen  Schwierigkeiten  er- 
folgt, „die  etwa  aus  Anlass  eines  Zustellungsantrags  des 
Konsuls  oder  eines  durch  ihn  übermittelten  Ersuchens- 
schreibens entstehen*'.  (Vgl.  Art.  13,  Abs.  2  des  Ver- 
trages.) Der  diplomatische  Weg  ist  ferner  nur  in  den 
Fällen  zu  wählen,  wo  an  dem  Orte,  an  dem  ,,die  Zustel- 
lung zu  bewirken,  oder  das  Ersuchen  zu  erledigen  ist, 
ein  Konsul  des  ersuchenden  Teiles  nicht  zuständig  ist". 

Zur  Festsetzung  eines  unmittelbaren  Verkehrs  zwi- 
schen den  beiderseitigen  'Staaten,  wie  ihn  bereits  das 
Haager  zivilprozessuale  Abkommen  Art.  1  und  9  vor- 
sah, und  wie  er  auch  zwischen  verschiedenen  Nachbar- 
staaten bereits  eingeführt  worden  war,  konnte  trotz  der 
guten  Beziehungen  zur  Türkei  nicht  geschritten  werden, 
weil  die  Verschiedenheit  der  Sprache  zu  grosse  Schwie- 
rigkeiten verursacht  hätte.  Um  diese  sprachlichen  Hem- 
mung'en  möglichst  zu  beseitigen,  bestimmt  bereite  Art.  9 
Abs.  2  und  Art.  11  Abs.  2  (vgl.  Art.  5  Abs.  2  Nr.  3 
und  Art.  8,  Abs.  1),  dass  dem  Schriftstücke  regelmässig 
eine  Uebersetzung  in  der  Sprache  des  ersuchten  Teiles 
beigefügt  sein  muss.  ^) 

Nach  der  dem  Reichstage  vorgelegten  Denkschrift 
(siehe  dort  S.  186)  besteht  übrigens  die  Absicht  für  die 
ersten  5  Jahre  des  Vertrages  auch  französische  Ueber- 
setzungen   für    den    Rechtshilfeverkehr   zuzulassen. 

1)  Vgl.  hierzu  den  ganz  gleichen  Wortlaut  des  Art.  11  Satz  1 
des  Haag.  Zivilpr.-Abk.  vom  17.  Juli  1905. 

2)  Bereits  im  Artikel  9  Abs.  2  des  Haag.  Zivilpr.-Abk.  wurde 
.  bestimmt,    dass    Ersuchensschreiben    durch    den    Konsul   erledigt 

werden,    wenn    es   auch    den    betreifenden   Staaten    freisteht,    den 
diplomatischen  Weg  zu  wählen,    (s.  auch  daselbst  Art.  1,  Abs.  1.) 

3)  Vgl.  Haag.  Zivilpr-Abk.  1905  Art.  3  und  10. 


—     lo4     — 

Aehiilich  dem  Haag^er  zivilprozessualen  Abkonnnv.n 
Art.  4  und  1 T  Abs  .3  kann  gemäss  Art.  14  dieses  Ver- 
trages die  Erledigung  van  Zustellungsanträgen  und  Er- 
suchen abgelehnt  werden,  „wenn  der  Teil,  in  desseni 
Gebiete  die  Erledigung  stattfinden  soll,  sie  für  geeignet 
hält,  seine  Hoheitsrechte  und  seine  Sicherheit  zu  ge- 
fährden''. 

Ein  weiterer  Ablehnungsgrund  ist  aber  auch  die 
Ungewissheit  über  die  'Echtheit  der  Urkunde  und  das 
Fehlen  des  notwendigen  Machtbereiches  der  Gerichts- 
gewalt des  ersuchten  Teiles.  (Vgl.  Haager  zivilpr.  Abk. 
Art.   11,  Abs.  3  Nr.   1   und  2.) 

Im  übrigen  bestimmt  noch  Art.  15,  dass  Ersuchen 
und  Zustellungen  „im  Gebiete  des  anderen  Teils,  in  allen 
Fällen,  wo  es  sich  nicht  um  dessen  Angehörige  handelt, 
ohne  Anwendung  von  Zwang"  durch  die  diplomatischen 
oder  konsularischen  Vertreter  unmittelbar  bewirkt  wer- 
den  können. 

Die  nun  folgenden  Bestimmungen  über  Ratifikation 
und  Dauer  des  Vertrages  gleichen  vollständig  den  be- 
reits aus  Anlass  der  Erörterung  des  Konsularveiirages 
angeführten   Artikeln. 

III. 

Auslieferungsvertrag  zwischen  dem  Deutschen 

Reiche  und  dem  Osmanischen  Reiche. 

Die  Auslieferung,  die  eigentlich  der  wichtigste 
'Rechtshilfsakt  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  ist,  wurde 
in  dem  deutsch-türkischen  Vertrage  besonders  eingehend 
geregelt» 

Art.  1  enthält  entsprechend  dem  deutsch-bulgari- 
schen Vertrage  die  gegenseitige  Verpflichtung,  auf  Er- 
suchen „Personen  auszuliefern,  'die  wegen  eines-  der  im 
Art.  2  bezeichneten  Verbrechen  und  Vergehen  als  Täter 
oder  Teilnehmer  zur  Untersuchung  gciogen  und  verurteilt 
sind''.  Die  hierbei  aufgezählten,  zur  Auslieferung  ver- 
pflichtenden Verbrechen  und  Vergehen  wollen  wir  wegen 
ihrer  mannigfachen  Eigenart  tmer  kurzen  Darsteilur.g 
unterziehen. 

Zunächst  müssen  wir  oedenken,  dass  bei  der  Auf- 
zählung dieser  einzelnen  Vergehen  neben  dem  deutschen 
Str.G.B.  auf  die  "türkischen  Gesetze  Rücksicht  zu  nehmen 
war,  da  diese  von  unseren  Bestimmungen  vielfach  ab- 
weichen. 


—     K6    — 

So  wird  z.  B.  „die  vorsätzliche  Beibringung  von 
Gift  oder  anderen  zur  Schädigung  der  Gesundheit  ge- 
eigneten Stoffen''  (Art.  194  des  türkischen  'Str.G.B.)  für 
verfofgbar  erklärt  und  die  „Teilnahme  an  einer  Schlä- 
gerei, wodurch  der  Tod  oder  eine  schwere  Körperver- 
letzung verursacht  vvird^'  zu  einem  auslieferungswürdigen 
Delikt  erhoben.  (Siehe  Art.  2  Nr.  4.)  Diese  letzter-  Be- 
stimmung sehen  wir  in  keinem  der  bisherigen  Ausliefe- 
rungsveriräge  des  Deutschen  Reiches  erwähnt  und  sie  er- 
klärt sich  nur  aus  den  türkischen  Rechtsanschauungicn, 
die  überefnstimmend  mit  §  227  des  deutschen  St.G.B.* 
auch  die  Teilnehmer  an  einer  solchen  Schlägerei  für  straf- 
bar haltenJ)     (Siehe  türkisches  St.G.B.  Art.   180.) 

Art.  2  Nr.  7  erwähnt  ganz  allgemein  die  „Ent- 
führung einer  volljährigen  Person  wider  ihren  Willen". 
Dies  hat  seinen  Grund  darin,  dass  nach  türkischem  Recht 
auch  die  Entführung  männlicher  volljähriger  Personen 
unter  Strafverfolgung  gestellt  wird.  (Siehe  Art.  206  des 
türkischen  St.G.B.  und  Denkschrift  S.  187.,  vgl.  auch 
§^    234—236   d>eutsches   St.G.B.) 

Bezüglich  der  unter  Art,  2  Nr.  8  erwähnten  „Ver- 
brechen und  Vergehen  wider  die  Sittlichkeit"  ist  zu  er- 
wähnen, dass  die  Doppelehe,  die  ja  nach  türkischem 
Recht  keinen  strafbaren  Tatbestand  darzustellen  ver- 
mag, von  den  ottomanischen  Behörden  nur  dann  als 
Auslieferungsdelikt  betrachtet  wird,  „wenn  die  zweite 
Ehe  in  Deutschland  oder  in  einem  dritten  Lande,  wo  die 
Doppelehe  bestraft  wird,  geschlossen  worden  ist".  -) 

Charakteristisch  für  diesen  Vertrag  ist  ferner  der 
neu   eingeführte   Begriff  der  Wegelagerei   (siehe   Art.   2 


1)  Jedoch  mit  der  Einschränkung,  dass  eine  Bestrafung  unter- 
bleibt, falls  der  eigentliche-  Urheber  der  Tötung  oder  Körper- 
verletzung gefunden  wird.  Hinsichtlich  der  Auslieferungspflicht 
ist  noch  nachzutragen,  dass  sich  dieselbe  auch  auf  Fälle  des  Ver- 
suchs und  der  Mitschuld  erstreckt,  wenn  die  Voraussetzungen,  die 
Handlungen  als  Auslieferungsdelikte  anzusehen,  gegeben  sind. 

2)  „Mit  der  materiellen  Grundlage  der  Auslieferungsidee  hängt 
es  zusammen,  dass  in  der  streitigen  Frage,  nach  welchein  Recht 
der  Auslieferungscharakter  der  dem  auszuliefernden  Individuum 
zur  Last  gelegten  JM  m  beurteilen  sei,  ülierwiegende  Qründe  für 
die  Forderung  sprechen,  dsss  die  Tat  nach  den  Gesetzen  l)ei<Jer 
Staaten  strafbar  sei."  (Ullmsnn  1908,  S.  396.)  ,Die  Auslieferung 
findet  nur  statt,  wenn  die  Handlung  nach  dem  Gesetze  beider 
Staaten,  des  Ersuchenden  und  des  Ersuchten  ^tr^fb^r  ist;  ^ie  wird 
nicht  gewährt,  wenn  die  Strafbarkeit  nach  dem  Recht  des  einen 
oder   des   andern   der   beiden  Staaten  ausgeschlossen  oder  aufge- 

-hoben  ist."  (Liszt  1913,  S.  349) 


—     160     — 

Nr.  9)  und  die  Aiisserachtlassung  einer  Bestrafung  für 
die  Wiederinverkehrsetzung  bereits  verwendeter  Wert- 
zeichen. 

Im  übrigen  sind  nur  noch  die  der  fortgeschrittenen 
Technil<  entsprechend  neu  eingeführten  Tatbestände- 
„Verhinderung  oder  Gefährdung  'des  Betriebs  von  Funk-- 
spruchanlagen  oder  einer  Rohrpostanlage*'  (Art.  20)  zu 
erwähnen,  und  ferner  'das  Fehlen  des  Begriffs  „fahr- 
lässiger Falscheid*',  der  laut  der  dem  Reichstage  vor- 
gelegten Denkschrift  (siehe  dort  S.  188)  dem  türkischen 
Rechte  fremd  ist. 

Die  weiteren  Punkte  enthalten  nichts  Vvesentüch 
Neues  im  Vergleiche  zu  den  Auslieferungsverträgen  mit 
der   Schweiz,   den    Niederlanden,    Bulgarien   u.    s.    w. 

Einer  bedeutend  weitgehenderen  Erörterung  als  die 
bisher  behandelten  Artikel  wurde  jedoch  der  3.  Artikel 
in  der  Verhandlung  des  Reichstags  unterzogen,  auf  den 
wir  wegen  der  neuen  Bahn,  die  er  zum  Teil  einschlägt,. 
etwas  mehr  eingehen  wollen.  Nachdem  derselbe  Z4- 
nächst  gemäss  dem  allgemein  geltenden  Ausliefcrungs- 
prinzip  bestimmt,  dass  \vegen  eines  politischen  Verbre- 
chens oder  Vergehens  keine  Auslieferung  stattfindet,  er- 
klärt ein  einschränkender  zweiler  Absatz,  dass  als  poli- 
tische Straftat  weder  deY  Angriff  auf  das  Leben  eines 
Staatsoberhauptes  oder  der  Mitglieder  seines  Hauses, 
noch  anarchistische  Verbrechen  angesehen  werden  kön- 
nen. 

Die  interessante  Streitfrage  über  eine  Begrenzung- 
des  Begriffs  „Politisches  Delikt"  hat  bereits  früher  zu 
mannigfachen  Erklärungen  geführt,  i)  und  zwar  umso- 
mehr,  als  eine  genaue  Definition  dieses  Begriffs  ziemlich 
schwierig  zu  sein  scheint.  -)  Jedenfalls  hat  einen  be- 
deutenden Einfluss  auf  die  Modifizierung  des  jeweiligen 
Auslieferungsvertragstextes  hauptsächlich  die  Verfassung 
der  betreffenden  Staaten,  neben  welcher  natürlich  vor 
allem  die  Grösse  des  Verbrechens  in  Betracht  zu  ziehen 

\)  Vgl.  V.  Bar:  Lehrbuch  des  internationalen  Privat-  und 
Strafrechts  1892  S.  306  H.  Lammasch  u  Das  Recht  der  Auslieferung 
wegen  politischer  Verbreclien  in  Holzendorffs  Handbuch  des 
Völkerrechts  1884  Bd.  3  S.  485  ff.  (4  Bände;. 

2)  Vgl.  Rivier.  principes  du  droit  des  gens  2  Bände  1896 
Bd.  1  S.  374:  „Es  ist  vorauszusehen,  und  das  wird  ein  wirklicher 
Fortschritt  sein,  dass  man  viel  weiter  gehen  wird,  und  dass  -die 
Regel  der  Nichtauslieferung  für  politische  Delikte  ä  ia  foi  unitile 
et  contraire  ä  Ia  conscience  juridique  moderne  verschwinden  wird 
A.  M.  Oppenheim:  Internationale  A  treatice  1.  Bd.  §  338. 


—     1G7     — 

ist.  Man  kann  doch  unmöglich  die  gemeinsten  Mordtaten 
ungesühnt  lassen,  bloss  weil  sie  einem  angeblich  poli- 
tischen Beweggrunde  ihre  Ausführung  verdanken.  Es 
ist  daher  durchaus  begreiflich,  wenn  das  Institut  für 
internationales  Recht  die  bisherigen  Oxforder  Regeln 
hinsichtlich  der  relativen  politischen  Delikte  umänderte.^) 

Bezüglich  der  in  Art.  3  Abs.  2  angeführten  Atten- 
tatsklausel ist  nichts  besonderes  hinzuzufügen,  Sie  kam 
zum  erstenmal  in  Anwendung  anlässlich  des  Attentats 
Jules  Jacquins  auf  Napoleon  III.  (1854)2)  und  wurde  spä- 
terhin fast  in  die  meisten  Auslieferungsverträge  aufge- 
nommen. 3) 

Des  weiteren  wurde  jedoch,  wie  bereits  erwähnt, 
auch  eine  Anarchistenklausel  im  deutsch-türkischen  Aus- 
lieferungsvertrage aufgenommen,  die  infolge  ihrer  un- 
sicheren Definitionsmöglichkeiten  schon  im  Reichstage 
zu   langwierigen   Auseinandersetzungen   führte. 

Die  den  Verträgen  beigegebene  Denkschrift  ei klärt 
einfach,  dass  im  Zweifel  der  ersuchende  Teil  dem  er- 
suchten den  Nachweis  dafür  zu  erbringen  hat,  dass  ,,eia 
Verbrechen  oder  Vergehen  einen  anarchististhen  Cha- 
rakter trägt".  ^)  „Für  die  Beurteilung  der  Frage,  was 
im  einzelnen  f^alle  als  anarchistisches  Verbrechen  oder 
Vergehen  anzusehen  ist,  werden  wohl  in  erster  Linie  die 
Grundsätze  anzuwenden  sein,  die  bei  den  internationalen 
Besprechungen  über  die  Bekämpfung  anarchistischer  Ver- 
brechen aufgestellt  worden  sind." 

Nun  ist  es  vollkommen  sicher,  „dass  die  damaligen 
Auseinandersetzungen  und  Beschlussfassungen  durchaus 
nicht  vollständige  Beruhigung  gewähren  können"  und 
demnach  bleibt  eigentlich  nichts  anderes  übrig,  als  sich 
auf  das  gesunde  Rechtsgefühl  des  entscheidenden  Rich- 
ters  zu   verlassen.  ^)     Der   Begriff  „anarchistisches   Ver- 

1)  Siehe  Ullmann  1908  S.  397  Anm.  4. 

2)  Vgl.  belgisches  Gesetz'  vom  22.  3.  1856  (nicht  beigetreten 
zu  dieser  Attentatsklausel  England,  Italien  und  die  Schweiz.)  Die 
Schweiz  überträgt  die  Entscheidung,  inwieweit  ein  gemeines  Ver- 
brechen vorliegt,  dem  Bundesgerichte  (s.  Art.  10  des  schweize- 
rischen Auslieferungsgesetzes  von  1892)  welche  Auffassung  immer- 
mehr Anhänger  zu  gewinnen  scheint.  Vgl.  Ullmann  1908  S.  399 
Anm.  2  und  Oppenheim  Bd.  1,  S.  337  und  339. 

3)  Vgl.  den  gleichen  Fall  im  Vertrag  mit  Paruguay  vom  26. 
November  1909.  (R.G.Bl.  1915  S.  571)  Art.  3,  Abs.  2. 

4)  Siehe  Denkschrift  S.  188  zu  Artikel  3. 

51  Diese  Ausführungen  sind  der  Rede  des  Reichstagsabgeord- 
neten Professor  v.  Liszt  entnommen.  Siehe  Reichstag  vom  10.  Mai 
1917  S.  3203.   Immerhin  muss  der  Regierung  der  Vorwurf  gemacht 


—     168     — 

brechen"  an  und  für  sich  blieb  jedoch  nach  wie  vor  in 
tiefes  Dunkel  gehüllt  und  es  war  dementsprechend  leicht 
voraus/usehen,  dass  verschiedent:  Abgeordnete  ihre  Be- 
dienken  zur  Sprache  bringen  würden.  Da  jedoch  geinäss 
der  Reichs^verfassung  den  Abgeordneten  kein  Abände- 
rmigsrecht  zustand,  begnügte  man  sich,  darauf  hinzu- 
weisen, dass-  das  türkische  Staatswesen  sich  auf  eine 
immer  höhere  Kulturstufe  stelle  und  gab  demgemäss  den 
Ausführungen  von  Liszt's  Folge. 

Nachdem  wir  nun  die  Erörterung  über  diesen  Punkt 
abgeschlossen  haben,  können  wir  uns  den  folgenden  Ar- 
tikeli:  zuwenderu 

Gemäss  den  allgemein  geltenden  völkerrechtlichen 
Bestimmungen  setzt  der  4.  Artikel  fest,  dass  selbstver- 
ständlich keiner  der  Vertragsschliessenden  Teile  seine 
eigenen   Angehörigen   auszuliefern   verpflichtet  sei. 

Das  Ersuchen  um  AusHeferung  erfolgt  gemäss  Art.  5 
auf  diplomatischem  Wege  und  muss  von  dem  erforder- 
lichen Haftbefehl  nebst  einer  IJebersetzung  in  die  Sprache 
des  ersuchten  Teils  begleitet  -ein.  i) 

Art.  7  enthält  ferner  Bestimmungen  über  die  vor- 
läufige Festnahme,  die  jedoch  nicht  länger  als  2  Monate 
dauern   darf. 

Abgelehnt  kann  ein  Auslieferungsgesuch  werden: 

1.  wenn  die  Tat  nicht  auch  nach  den  Gesetzen  des 
ersuchten  Teils  als  eines  der  im  Art.  2  bezeicli- 
neten  Verbrechen  oder  Vergehen  anzusehen  ist 
(vgl.   S.    165   Anm.   2); 

2.  wenn  der  nach  den  Gesetzen  des  ersuchten  Teils 
zur  Verfolgung  erforderliche  Antrag  des  Berech- 
tigten nicht  gestellt  worden  ist; 

3.  wenrt  die  Handlung  im  Gebiete  eines  dritten 
Staates  begangen  und  nach  den  Gesetzen  des  er- 
suchten Teils  wegen  einer  solchen  im  Ausland 
begangenen  Handhing  die  Verfolgung  nicht  zu- 
lässig ist  (z.  B.  dieselbe  als  Uebertretung  gilt); 


werden,  dass  sie  keine  bestimmte  Konferenz  nannte,  wodurch  im 
Reichstage  Gelegenheit  geboten  wurde,  von  verschiedenen  Seiten 
gleich  auf  die  schlimmsten  Vereinbarungen  hinzuweisen. 

1)  Auch    hier   soll    für   die   ersten    5  Jahre   die   französische 
Sprache  noch  zugelassen  werden 


—     169     — 

4.  wenn  die  strafbare  Handlung  oder  die  erkannte 
Strale  bei  Stellung  des  Auslieferungsantrags  nach 
den  Gesetzen  des  ersuchten  Teils  als  verjährt  an-  . 
zusehen  ist   (vgl.   Art.   S  des   Vertrages);') 

5.  falls  die  Straftat  im  Gebiete  des  ersuchten  Teils 
selbst  verübt  worden  ist,  dort  ein  Strafverfahren 
anhängig  ist,  2)  oder  der  Beschuldigte  bereits 
ausser  Verfolgung  gesetzt,  oder  das  Verfahren 
durch  ein  rechtskräftiges  Urteil  geschlossen  wor- 
den ist  (siehe  Art.  Q  oes  Vertrages). 

Für  den  Fall  einer  Konkurrenz  von  Auslieferungs- 
anträgen bestimmt  Art.  11,  dass  dem  Antrage  der  Vor- 
zug gegeben  werden  soll,  durch  dessen  Gewährung  den 
Interessen  der  Strafrechtspflege  mehr  entsprochen  wird. 
(Diese  Bestimmung  konnte  umso  leichter  aufgenommen 
werden,  als  die  Türkei  noch  durch  keine  anderen  Verträge 
zur  Zeit  ües  Abschlusses  dieses  Vertrages  gebunden  war.) 
Ferner  wurde  vereinbart,  dass  etwaige  Verbindlichkeiten, 
die  der  Auszuliefernde  im  ersuv^hten  Staate  übernommen 
hat,  für  seine  Auslieferung,  die  an  einem  zu  vereinbaren- 
den Grenzorte  zu  vollziehen  ist,  kein  Hindernis  bieten 
dürfen.     (Siehe  Art.   13  des  Vertrages.)  3) 

Ein'e  etwa  notwendige  Durchheferung  erfolgt  auf  dem 
Wege,  der  den  Behörden  des  ersuchten  Teiles  als  der 
geeignetste    erscheint.     (Siehe    Art.    14    des    Vertrages.) 

Gemäss  Art.  16  darf  der  Ausgelieferte  „wegen  einer 
vor  der  Auslieferung  begangenen  strafbaren  Handlung 
nur  insoweit  zur  Untersuchung  gezogen,  oder  bestraft, 
oder  an  einen  dritten  Staat  ausgeliefert  werden,  als  die 
Auslieferung  wegen  dieser  Handlung  bewilligt,  oder  der 
Vert'olgung  oder  Bestrafung  ihretwegen  von  dem  er- 
suchten Teile  zugestimmt  ist".    Der  Auszuliefernde  kann 

1)  Vgl.  den  deutsch-bulgarischen  Vertrag  vom  29.  9.  1911 
(R.Ü.Bl.  1913,  S.  468)  und  die  Denkschrift  hiezu  (s.  Drucksache 
des  Reichstags  13.  Leg.  Per.  1.  Sess.  1912  Nr.  423  S.  66. 

2)  Die  Auslieferung  kann  jedoch  nicht  nur  dann  verweigert 
werden,  „wenn  beim  Eingang  des  Auslieferungsantrags  ein  Straf- 
verfahren anhängig  war,  sondern  auch  dann,  wenn  das  Strafver- 
fahren erst  nach  Stellung  des  Auslieferungsantrags  anhängig  ge- 
worden ist "  (s.  Denkschrift  S.  190). 

3)  Es  ist  hier  bemerkenswert,  dass  nicht  mehr  von  dem  „zu- 
nächst gelegenen  Grenzorte"  die  Rede  ist,  wie  es  in  früheren 
Verträgen  üblich  war.  Die  nunmehrige  Formulieruflg  verdient  den 
Vorzug,  da  hierdurch  dem  ersuchten  Staate  Gelegenheit  geboten 
wird,  durch  vorhergehende  Vereinbarung  das  Aufsuchen  ungünstig 
gelegener  Grenzorte  zu  vermeiden.  (Vgl.  auch  Denkschrift  S.  19C.) 


—      17U     — 

auch  gemäss  Art.  17  auf  die  ihm  zustehenden  Rechts- 
NVühltateii  eines  förmUchen  Ausheferungsvertrages  ver- 
zichten, was  dem  ersuchenden  Staate  durch  den  ersuchten 
Staat   amthch   mitzuteilen    ist. 

2.  Abschnitt:  Weitere  gegenseitige  Rechtshilfe 
in  Strafsachen. 

Wie  in  bürgerhchen  Rechtsstreitigkeiten,  so  wird 
auch  in  Strafsachen  gegenseitig'e  Rechtshilfe  zugesichert. 
Die  hiefür  erforderhchen  Ersuchen  haben  von  Behörde 
zu  Behörde  auf  diplomatischem  Wege  zu  erfolgen  (v<5l. 
Art.  22),  und  können  nur  aus  den  anlässlich  der  Ausliefe- 
lung  und  der  Rechtshilfe  in  bürgerlichen  Rechtsstreitig- 
keiten erörterten  Gründen  abgelehnt  werden.  (Siehe 
Art,  21.)  1)  Die  Kosten  der  Rechtshilfe  werden  gemäss 
Art.  26  von  dem  ersuchten  Teile  getragen  und  zwar  so- 
weit als  sie  in  seinem  eigenen  Gebiete  entstehen.  Die 
Mitteilung  der  vollzogenen  Verurteilung  2)  selbst  erfolgt 
wieder  auf  diplomatischem   Wege.     (Vgl.  Art.  27.) 

Von  Interesse  ist  der  nunmehr  folgende  Artikel,  der 
die  Bestimmung  enthält,  dass  die  im  Art.  2  aufgeführten 
ausliefeningswürdigen  Verbrechen  und  Vergehen  jeder- 
zeit durch  Vereinbarung  der  Regierungen  beider  Teile  mit 
der  Massgabe  ergänzt  werden  können,  dass  auf  die  hin- 
zugefügten Verbrechen  und  Vergehen  dieser  Ausliefe- 
rungsvertrag ebenso  Anwendung  findet,  als  wenn  sie 
im  Art.  2  angeführt  wären.  Gegen  diese  Bestimmung 
wurde  gleichfalls  im  Reichstage  ziemlich  heftiger  Wider- 
spruch laut,  da  es  die  Regierung  dem  Anscheine  nach 
vollkommen  in  der  Hand  habe,  nun  auch  politische  De- 
likte in  beliebigem  Masse  für  auslieferungswürdig  zu 
erklären.  Dieser  Einw^and  erledigt  sich  jedoch,  wie 
V.  Liszt  in  der  damaligen  Reichstagssitzung  treffend  be- 
merkte, durch  den  Wortlaut  der  Denkschrift  zu  Art.  28: 
„Die  Aufnahme  politischer  Verbrechen  und  Vergehen 
in  den  Kreis  der  die  Auslieferung  begründenden,  Straf- 
taten auf  dem  Wege  der  hier  vorgesehenen  Vereinbarung 
ist  durch  die  Bestimmung  im  Art.  3  des  Vertrages  aus- 
geschlossen." Dieser  Standpunkt  wurde  auf  den  Wunsch 
V.    Liszts    in    der   Reichstagsdebatte    vom    10.    Mai    1917 

1)  Wie  wir  aus  Art.  19  des  Auslieferungsvertrages  ersehen 
können,  ist  hierdurch  für  die  Leistung  von  Rechtshilfe  in  fiskali- 
schen Strafsachen,  der  in  anderen  Verträgen  noch  enthaltende 
Ablehnungsgrund  weggefallen. 

2)  Mit  Ausnahtne  der  Verurteilungen  wegen  Uebertretungen. , 


—     171     — 

neuerdings  klargestellt  (und  zwar  durch  den  Direktor 
des  Auswärtigen  Amtes  v.  Kriege),  wodurch  die  Be- 
denken einzelner  Abgeordneter  in  Hinblick  auf  die  be- 
willigende Mehrheit  hinfällig  wurden.  Die  noch  weiter- 
hin in  den  Art.  29 — 31  folgenden  Schlussbestimmungen 
gleichen  wieder  vollkommen  denen  des  Konsularver- 
trages. 

IV. 

Niederlassungsvertrag  zwischen  dem  Deutschen 

Reiche  und  dem  Osmanischen  Reiche. 

Wie  wir  aus  der  Geschichte  der  Kapitulationen  er- 
sehen konnten,  hatten  die  Fremden  in  der  Türkei  ein 
ausserordentlich  weitgehendes  Niederlassungsrecht,  das. 
trotz  der  Auslegungen  verschiedener  Schriftsteller  in 
Wirklichkeit  soweit  ging,  dass  türkische  Behörden  ohne 
Genehmigung  des  betreffenden  Konsuls  keinen  Fremden 
des  Landes  verweisen  durften.  Dass  dies  mit  der  Sou- 
veränität eines  Staates  durchaus  nicht  in  Einklang  ge- 
bracht werden  kann,  steht  wohl  unzweifelhaft  fest.  Die 
deutsche  Regierung  musste  daher  bei  Abschluss  dieses 
•Vertrages  neben  den  Interessen  ihrer  eigenen  Angehö- 
rigen vor  allem  auch  den  türkischen  Bedürfnissen  weit- 
gehend entgegenkommen.  Als  Muster  wurden  bei  der 
Ausarbeitung  dieses  bedeutsamen  Vertrages  vor  allem 
der  deutsch-niederländische  1)  und  der  schweizerische 
Niederlassungsvertrag  2)  genommen,  wobei  naturgemäss 
verschiedene  Aenderungen  vorgenommen  werden  muss- 
ten,  die  sich  teils  aus  der  Nichtangrenzung  der  beiden 
Staaten,  teils  aus  den  innerstaatlichen  türkischen  Ein- 
richtungen ergaben. 

Vollkommen  entsprechend  dem  deutsch-niederländi- 
schen Vertrag  bestimmt  Art.  1,  dass  die  Angehörigen 
jedes  Vertragsschliessenden  Teiles  berechtigt  sein  sol- 
len, '^)  sich  in  dem  Gebiete  des  anderen  Teils  niederzu- 
lassen oder  aufzuhalten,  wenn  und  solange  sie  die  dor- 

1)  Deutsch-niederländischer  Niederlassungsvertrag  vom  17.12. 
1904  (RG.Bl.  1906  S.  879  deutscher  und'  holländischer  Text). 

2)  Deutsch-Schweizerischer  Niederlassungsvertrag  vom  13.  11. 
1909  (R.G-Bl.  1911  S.  887). 

3)  Die  den  Fremden  zustehenden  Rechte  leiten  sich  nach  der 
heutigen  völkerrechtlichen  Auffassung  nicht  aus  dem  einzelnen 
Vertrage,  sondern  aus  dem  Staatsrecht  des  Aufenthaltsstaates  her 
(Vgl.  Overbeck:  „Der  deutsch-niederländische  Niederlassungsver- 
trag im  Archiv  für  öffentliches  Recht  Bd.  23,  S.  124.)  Daher  heisst 
es  auch:  „Sollen  berechtigt  sein." 


-     172     — 

tij^t-n  Gesetze  0  Ti't  Einscliluss  der  Polizeiverordnuiiycu 
befolgen".  Der  gleiche  Abschnitt  regelt  ferner  die  tür 
den  Niederlassungsvertrag  besonders  bedeutsame  Staats- 
aiigehörigkeitsfrage  dahin,  dass  das  „ius  sanguinis"  und 
nicht  einfach  das  „ius  soll"  massgebend  sein  solle.  -) 

Entsprechend  dem  niederländischen  Vertrage,  der 
in  seinem  Art.  1  Abs.  2  für  den  Ausweis  der  Perscui  den 
Besitz  von  gültigen  Pässen  oder  anderen  genügenden 
Ausweispapieren  über  Person  und  Staatsangehörigkeit 
vorsah,  wird  laut  der  Denkschrift  auch  für  den  deutsch- 
türkischen  Niederlassungsvertrag  eine  ähnliche  Fest- 
setzung geschaffen,  (Vgl.  die  früher  üblichen  Teskeres, 
d.   h.    Inlandspässe,   die   seit   1908   aufgehoben   wufden.) 

Art.  2  sichert  den  beiderseitigen  Angehörigen  unter 
denselben  Voraussetzungen  wie  den  Angehörigen  der 
meistbegünstigten  Nation  das  Recht  zu,  „jede  .Art  von 
beweglichem  oder  unbeweglichem  Vermögen  zu  erwer- 
ben und  zu  besitzen  und  darüber  durch  Verkauf,  Tausch, 
Schenkung,  letzten  Willen  oder  auf  andere  Weise  zu 
verfügen,  sowie  Erbschaften  vermöge  letzten  Willens 
oder  kraft  Gesetzes  zu  erwerben".  Deutschland  wollte 
hier  absichtlich  seinen  Angehörigen  nicht  die  gleiche 
Stellung  wie  den  türkischen  Inländern  verschaffen,  da 
dies  insbesondere  hinsichtlich  des  türkischen  Immobiliar- 
sachenrechts,  das  noch  ziemlich  stark  mit  der  Staats- 
religion zusammenhängt,  lebhafte  Bedenken  hervorge- 
rufen hätte.  Deutschland  trachtete  daher  auf  diesem  in 
Art.  2  Abs.  1  umschriebenen  Gebiete  seinen  Angehörigen 
eine,  diese  möglichst  sichernde  Sonderstellung  zu  ver- 
schaffen. 3) 

Art,  3  sichert  den  beiderseitigen  Angehörigen  in 
demselben  Ausmasse  w^ie  den  Angehörigen  der  meist- 
begünstigten Nation  das  Recht  zu,  „jede  Art  von  Gewerbe 
und  Handel  auszuüben,  landwirtschaftliche  Grundstücke 
zu  bewirtschaften,  oder  sich  einer  sonstigen  Tätigkeit 
zu   widmen",^)     Durch   diese   Klausel   der   Meistbegün- 

1)  Der  Ausdruck  „Gesetz"  ist  hier  im  weitesten  Sinne  zu 
verstehen  (siehe  Denkschrift  S.  1941 

2)  Selbstverständlich  können  auch  Angehörige  beider  Teile 
ireiwillij^  die  Staatsangehörigkeit  des  Geburtslandes  erwerben. 
(Siehe  auch  das  deutsche  Reichs-  und  Staatsangehörigkeitsgesetz 
vom  22.  Juli  1913  RGBl.  S.  583). 

3)  Siehe  DenkschriJt  S.  194  ff. 

4)  Selbstverständlich  kann  dl«  Niederlassungsfreih«it  nicht  «twa 
der  vertrigsmässigen  Verpflichtung  des  anderen  Teiles,  solche 
Personen  trotzdem  an  einen  dritten  Staat  auszuliefern  entgegen- 
stehen (siehe  Denkschrift  S    196). 


—     173     — 

stigung  ist  aber  andererseits  den  Staaten  die  Möglichkeit 
gegeben,  den  Wirkungsbereich  der  Fremden  nach  ver- 
schiedenen Seiten  hin  aus  xerkehrs-  und  sicherheits- 
polizeilichen Gründen  einzuschränken,  i)  was  insbeson- 
dere für  die  Türkei  mit  ihren  noch  vielfach  patriarcha- 
lischen Grundsätzen  und  Gebräuchen  von  ziemlicher  Be- 
deutung ist. 

Eine  besonders  weitgehende  Sicherstejlung  d^r  bei- 
derseitigen Angehörigen  erfolgte  auf  dem  Gebiete  des 
Steuerwesens,  von  dem  die  Fremden  vor  Aufhebung  der 
Kapitulationen  fast  gar  nicht  betroffen  worden  waren. 
Um  inun  diesem  ziemlich  starken  Gegensatz  teilv.cise 
zu  überbrücken,  bestimmt  Art.  2  Abs.  1,  dass  die  An- 
gehörigen jedes  der  Vertragsschliessenden  Teile  „in  kei- 
nem dieser  Fälle  (siehe  Abs.  1)  anderen  oder  höheren 
Steuern  und  Abgaben  unterliegen  sollen,  als  die  In- 
länder oder  die  Angehörigen  der  meistbegünstigten  Na- 
tion". 

Ferner  sind  die  Untertanen  beider  Staaten  auch  hin- 
sichtlich von  Auflagen  und  Gebühren  irgendwelcher  Art 
den  Inländern  oder  den  Angehörigen  der  meistbegünstig- 
ten Nation  gleichgestellt. 

Bei  Abschluss  dieses  deutsch-türkischen  Vertrages 
wurden  alle  erörterten  Rechte  nicht  nur  natürlichen,  son- 
dern auch  juristischen  Personen  zugestanden.  -)  (Aktien- 
gesellschaften und  andere  Gesellschaften  kommerzieller, 
industrieller,  oder  finanzieller  Art  mit  Einschluss  der  Ver- 
sicherungsgesellschaften.) All  dies  kann  jedoch  nicht 
hindern,  dass  diese  Gesellschaften  verschiedenen  Be- 
schränkungen   unteAvorfen    werden    können. 

Jeder  Teil  kann  z.  B.  den  Grossbetrieb  der  GeseFl- 
schaften  des  anderen  Teils  in  seinem  Gebiete  untersagen, 
wenn  sich  dort  die  geschäftliche  Hauptniederlassung  be- 
findet;  auch   kann   er  ihre   Rechtsgeschäfte  als   ungültig 


1)  Vgl.  z.  B.  den  deutsch-italienischen  Handels-,  Freundschafts- 
und Schiffahrtsvertrag  vom  6.  12,  1891  (R.G  Bl.  1892  S.  97)  Art.  1 
Abs.  3,  wodurch  Apotheker,  Handelsmakler,  Hausierer  und  andere 
Personen  betroffen  wurden.  Ferner  wird  den  Staatsfremden  sehr 
oft  die  Fischerei  in  den  einheimischen  Flüssen  und  Küstengewässern 
verboten.  Siehe  insbesondere  §  296  a  des  deutschen  St.G.B.  und 
die  Verbote  des  Verkaufs  deutscher  Handelsschiffe   an  Ausländer. 

2)  Vgl.  den  deutsch-niederländischen  Vertrag  über  die  gegen- 
seitige Anerkennung  der  Akt.-Ges  vom  11.  2.  1907  RG-Bl.  1908 
S.  65  und  Art.  5  des  deutsch-schwedischen  Handelsvertrags  vom 
2.5  1911  R  G.Bl.  S.275.  Vgl.  tj  12  der  deutschen  Gewerbe-Ordnung 
vom  21.  Juni  1869  und  Art.  10  EG.  zum  B.G.B. 


-     174     — 

■erklären,  wenn  sie  in  seinem  Gebiete  abgeschlossen  sind 
und  gegen   den  Zweck  der  Landesgesetze  Verstössen. ') 

Der  Schlussatz  des  zweiten  Absatzes  des  Art.  4, 
dass  ,,die  Gesellschaften  in  diesem  Gebiete  jedenfalls 
die  gleichen  Rechte  geniessen  sollen,  die  den  gleich- 
artigen Gesellschaften  eines  dritten  Landes  zustehen", 
könnte  leicht  zu  Missverständnissen  Anlass  geben  über 
die  Reichweite  dieser  Bestimmung.  Daher  bestimmt  die 
Denkschrift,  dass  aus.  diesen  Festsetzungen  nicht  folge, 
„dass  die  Vorteile,  die  etwa  ein  Teil  durch  besondere 
Verträge  der  Gesellschaft,  die  einer  dritten  Macht  an- 
gehört, zuwendet,  auch  den  Gesellschaften  des  anderen 
Teiles  gewährt  werden  müssen".  (Siehe  Denkschrift 
S.   196.) 

Aehiiliches  Missfallen  wie  der  Begriff  „Anarchisti- 
sches Verbrechen"  erregte  der  5.  Artikel  des  Nieder- 
lassungsvertrages im  Reichstag,  der  neuerdings  es  der 
Polizeigewalt  anheimstellt,  lästige  Ausländer  auszuwei- 
sen, „sei  es  infolge  eines  strafgerichtlichen  Urteils,  sei  es 
aus  Gründen  der  inneren  oder  äusseren  Sicherheit,  sei  es 
aus  sonstigen  polizeilichen  Gründen,  insbesondere  aus 
Gründen  der  Gesundheits-,  Sitten-  oder  Armenpolizei".  -) 
Es  wurde  in  dieser  Hinsicht  vom  Reichstage  mit  Nach- 
druck ein  Fremdenrecht  für  Deutschland  gefordert  und 
auch  von  Liszt  wünschte  die  Schaffung  eines  nationalen 
Fremdenrechts  durch  innerstaatliche  Gesetzgebung;  es 
ist  kaum  daran  zu  zweifeln,  dass  die  deutsche  Regierung 
diesem  Verlangen  nach  dem  Kriege  entgegenkommen 
wird.  Im  übrigen  konnte  man  an  dieser  Bestimmung 
des  Art.  5  nicht  den  ganzen  Vertrag  scheitern  lassen, 
da,  wie  v.  Liszt  im  Reichstage  ausführte,  alle  Bedenken 
„hinter  der  hohen  politischen  Bedeutung  dieses  Systems 


I'  Insbesondere  gilt  dies  für  den  Erwerb  von  Grundbesitz 
oder  sonstigem  Vermögen.  Vgl.  die  diesbezügl.  Verträge  Deutsch- 
lands mit  Belgien,  Griechenland,  Grossbritannien,  Oesterreich, 
Russland  usw.  und  die  Niederlande. 

2)  Die  ausgewiesenen  Angehörigen  des  anderen  Staates  sind 
gemäss  den  völkerrechtlichen  Grundsätzen  und  dem  vorliegenden 
\'ertrage  von  ihrem  Heimatsstaate  aufzunehmen.  Dies  wurde  schon 
irüher  öfters  durch  besondere  Repatriierungsverträge  vereinbart, 
was  jedoch  nicht  unbedingt  erforderlich  ist.  Vgl.  die  Verträge 
Deutschlands  mit  Italien  vom  8.  8.  1873  und  mit  Russland  vom 
10. 2./29.  1.  1894.  Siehe  im  vorliegenden  Vertrage  Art.  9/10,  die 
insbesondere  ein  diplomatisches  Uebernahmeverfahren  festsetzen 
(Art.  10). 


—     175     — 

vou  Verträgen"  zurücktreten  müssen.  (Siehe  Reichstai^ 
10.  Mai  1917,  S.  3203.)  i) 

Gemäss  den  heute  fast  iligemein  anerkannten  Prin- 
zipien bleiben  die  beiderseitigen  Angehörigen  im  Qc- 
■biete  des  anderen  Teiles  von  jeglichen  Kriegsleistungen 
oder  Geldabgaben  für  Kriegszwecke  für  den  anderen 
Staat  befreit.  Für  etwaige  Enteignungen  und  militärische 
Anforderungen,  ~)  wie  sie  ja  gerade  im  gegenwärtigen 
Kriege  besonders  häufig  sind,  müssen  die  beiderseitigen 
Angehörigen  keinesfalls  ungünstiger  entschädigt  werden, 
als  die  Landesangehörigen  oder  die  Angehöligen  der 
meistbegünstigten    Nation.    (Siehe   Art.   6   und   7.) 

Ferner  regelt  noch  Art.  8  die  Bestimmungen  der  etwa 
erforderlichen  Krankenfürsorge  und  Verpflegung  für 
hilfsbedürftige  Angehörige  des  anderen  Teils.  Wegen 
der  grossen  Kulturunterschiede  der  einzelnen  türkischen 
Gebiete  haben  es  die  deutschen  Unterhändler  vermieden, 
die  deutschen  Armen  der  gleichen  Pflege  zu  unterstellen, 
wie  die  Inländer  und  setzen  hiefür  den  objektiven  Be- 
griff  der   „erforderlichen    Pflege". 

Ein  Ersatz  für  etwa  entstandene  Kosten  kann  nur 
gegenüber  Privatangehörigen,  nicht  aber  auch  gegen- 
über dem  Heimatsstaate  des  Unterstützungsbedürfligen 
verlangt  werden. 

Von  all  diesen  Bestimmungen  sind  jedoch  wieder 
die  deutschen  Schutzgebiete  ausgenommen  (Art.  13)  und 
ferner  die  türkischen  Provinzen  Hedschas,  Yemen  und 
Nedschd  mit  Einschluss  der  Bezirke  Medina  und  Assir, 
aber  mit  Ausnahme  der  Hafenpiätze  Dschedda  und  Ho- 
deida.  Als  Grund  für  diese  Massregel  gibt  die  Denkschrift 
an,  dass  dies  diejenigen  Teile  Arabiens  sind,  „wo  aus 
religiösen  oder  politischen  Gründen  fremde,  insbeson- 
dere nicht-mohammedanische  Personen  nur  mit  Gefahr 
für  die  öffentliche  Ruhe  und  Sicherheit  zugelassen  wer- 
den könnten". 

Die  üblichen  Ratifikationsbestimmungen  und  die 
Festsetzung  der  Vertragsdauer  gleichen  wieder  vollkom- 
men denen  des  Konsular\ertrags.  (Siehe  daselbst  S.  160.) 


1)  Eine  Regelung  des  Fremdenrechts  Hess  z.  B.  Belgien  durch 
das  Gesetz  vom  12.  2.  1897  eintreten.  England  durch  die  Aliens 
Act  vom  11.  8.  1905,  die  Vereinigten  Staaten  durch  Gesetze  vom 
20.  2.  1907. 

2)  „Unter  militärischen  Anforderungen  im  Sinne  dieses  Artikels 
sind  nur  solche  Anordnungen  zu  verstehen,  die  nach  der  Gesetz- 
gebung jedes  Teils  im  Fall  der  allgemeinen  oder  teilweisen  Mobil- 
machung zulässig  sind."  (Denkschrift  S.  196.) 


—     170     — 

V. 

Vertrag  zwischen   dem  Deutschen  Reiche  und  dem 

Osmanischen  Reiche  über  die  gegenseitige  Zuführung 

von  Wehrflüchtigen  und  Fahnenflüchtigen  der  Land- 

und  Seestreitkräfte. 

Dieser  Vertrag  bedeutet  angesichts  des  Freund- 
schaftsverhältnisses zwischen  Deutschland  und  der  Tür- 
kei durchaus  nichts  Seltsames,  da  derartige  Kartelle 
bereits  -des  öfteren  schon  zwischen  befreundeten  Staaten 
zustandekamen. 

Bemerkenswert  ist  immerhin,  dass  bei  diesem  Ver- 
trage statt  einer  20jährigen,  ;iur  eine  10jährige  Dauer 
vereinbart  wurde. 

Da  die  wesentlichen  Vorausretzungen  für  diesen 
Vertrag  bereits  durch  den  Auslieferungsvertrag  gegeben 
sind,  so  wird  es  genügen,  in  Kürze  auf  die  einzelneit 
Punkte   einzugehen. 

Art.  1  enthält  zunächst  die  allgemeine  Bestimmung, 
dass  sich  beide  Vertragsschliessenden  Staaten  gegenseitig 
die  wegen  Wehrflucht  oder  Fahnenflucht  zur  Unter- 
suchung gezogenen- oder  verurteilten  Staatsangehörigen 
zuzuführen  haben,  i)  wobei  es  wohl  selbstverständlich  ist, 
dass  es  sich  nur  um  Angehörige  des  ersuchenden,  nicht 
aber  auch  eines  dritten  Staates  handeln  kann.  Art.  2  be- 
stimmt, dass  die  Festsetzung  der  Art.  4,  7,  Art.  8  Abs.  1 
Nr,  4  und  die  Art.  10 — 18  des  Auslieferungsvertrages 
entsprechende   Anwendung   linden. 

Art,  3  regelt  ausserdem  die  Behandlung  eines  Flucht- 
falles von  Marineangehörigen,  wobei  auch  einige  Bestim- 
mungen (Art.  23)  des  Konsularvertrages  in  Betracht 
kommen,  -) 

Die  Verköstigungsfrage  für  die  Deserteure  regelt 
Art.  5,  wonach  die  Kosten  von  dem  ersuchenden  Staate 
zu  tragen  sind;  für  den  Fall  jedoch,  dass  auch  ein  ge- 
meines Verbrechen  die  Auslieferung  notwendig  machte, 

1)  Natürlich  sind  auch  die  militärischen  Ausrüstungsgegen- 
stände, deren  sich  der  Flüchtende  gewöhnlich  entledigt  hat,  zurück- 
zuerstatten (s    Art.  4  des  Vertrages. 

2'  Dies'e  Kartelle  wegen  Desertion  von  Matrosen  (auch  solche 
von  Kriegsschiffen  sind  fast  allgemein  zwischen  den  verschiedenen 
Staaten  zum  Abschluss  gelangt,  wogegen  die  gewöhnliche  Wehr- 
fiucht  als  teilweise  aus  politischen  Motiven  begangen  angesehen 
wird  und  demnach  nicht  der  Auslieferung  verfällt,  (vgl.  besonders 
die  Schweiz  und  andere  Staaten,  i 


findet  eine  besondere  Regelung  gemäss  Art.  18  des  Aus- 
lieferungsvertrages statt. 

Die  übrigen  Bestimmungen  gleichen  mit  Ausnahme 
dier  bereits  oben  erwähnten  Vertragsdauer  wieder  den 
Schlussbesrimmungen    des    Konsularvertrages. 

VI. 

Vertrag    zwischen     dem     Deutschen    Reiche     und 

dem    Osmanischen    Reiche    über    die    Anwendung 

des    deutsch-osmanischen    Konsularvertrages    vom 

II.  Januar  1917  auf  die  deutschen  Schutzgebiete. 

Wie  wir  aus  den  Schlussbestimmungen  der  einzelnen 
bisher  behandelten  Verträge  ersehen  konnten,  war  jedes- 
mal die  Qeltungskraft  des  Vertrages  nur  auf  die  europä- 
ischen Grenzen  des  Deutschen  Reiches  beschränkt  und 
wurde  nicht  gleichzeitig  auch  auf  dessen  überseeische 
Besitzungen  ausgedehnt. 

Abgesehen  von  den  besonderen  Umständen,  die  für 
die  deutschen  Schutzgebiete  infolge  ihrer  Lage,  Beschaf- 
fenheit u.  s.  w.  gegeben  sind,  kam  bei  der  Behandlung! 
dieser  Nebenverträge  auch  noch  eine  Verfassungsfrage 
in  Btetracht.  Gemäss  §  1  des  Schutzgebietgesetzes  vom 
25.  Juli  1900  (R.G.Bl.  S.  813)  unterstehen  die  Kolonien 
der  Schutzgewalt  des  Kaisers  und  es  bestand  daher  keine 
Verpflichtung  für  diese  Verträge,  die  die  Beziehungen  der 
deutschen  Schutzgebiete  zu  einer  fremden  Macht  regeln 
sollten,  die  Zustimmung  des  Bundesrats  und  des  Reichs- 
tags einzuholen,  i) 

Anders  ist  jedoch  die  Sachlage  in  dem  vorliegenden 
Nebenvertrage,  der  trotzdem  gemäss  Art.  11  Abs.  3  der 
RIeichsverfassung  der  Genehmigung  von  Bundesrat  und 
Reichstag  bedurfte,  da  er  verschiedene  Bestimmungen  des 
bürgerlichen   Rechts   der  Schutzgebiete   abänderte. 

Betreffs  des  Vertragsinhaltes  ist  zu  bemerken,  dass 
zunächst  der  1.  Artikel  die  Bestimmung  enthält,  dass  die 
Anordnungten  des  Hauptvertrages  in  gleicher  Weise  auf 
die  Beziehungen  zwischen  den  deutschen  Schutzgebieten 
und  dem  osmanischen  Reiche  Anwendung  finden,  als 
wenn  erstere  „zum  Gebiete  des  Deutschen  Reiches  ge- 
hörten''. (Siehe  Art.  1.)  Gemäss  dieser  Festsetzung  er- 
hfelt  die  Türkei  das  Recht,  in  den  deutschen  Kolonien  (be- 
liebig Konsuln   einzusetzen,   sofern   das   Deutsche  Reich 

1)  Vgl.  die  Ausführungen  der  Denkschrift  S.  200. 

12 


—     178     — 

deren  Anstellung  an  bestimmten  Orten  nicht  allen  Staaten 
gegenüber  verbietet. 

Von  Interesse  ist  der  2.  Artikel,  der  bestimmt,  dass 
bei  der  Anwendung  des  Hauptvertrages  auf  die  deutschen 
Schutzgebiete  die  Angehörigen  dieser  Gebiete  als  An- 
giehörige  des  Deutschen  Reiches  angesehen  werden  sol- 
len, obgleich  eine  derartige  staatsrechtliche  Regelung 
bisher  durchaus  nicht  vorhanden  war.  ^)  Hieraus  er- 
gibt sich  aber  die  bemerkenswerte  Folgerung,  dass  selbst 
Angehörige  der  deutschen  Schutzgebiete,  die  nicht  Reichs- 
angehörige sind,  dem  Schutze  der  deutschen  Konsuln  in 
der   Türkei    unterstehen    können. 

Ferner  bestimmt  der  2.  Artikel,  dass  überall  da, 
wo  der  eigentliche  Konsularvertrag  auf  Gesetze  der  Ver- 
tragsschliessenden Teile  hinweist,  auch  die  deutschen 
Schutzgebiete    inbegriffen    sein    sollen. 

Im  übrigen  enthält  dieser  Vertrag  noch  einige  be- 
merkenswerte Ausnahmebestimmungen  über  den  Rechts- 
schutz der  Mohammedaner  und  zwar  sowohl  der  Mo- 
hammedaner der  deutschen  Schutzgebiete,  die  sich  im 
Gebiete  des  osmanischen  Reiches  befinden,  als  auch  der 
mohammedanischen  Angehörigen  des  osmanischen  Rei- 
ches, die  sich  in  einem  deutschen  Schutzgebiete  befinden. 
Wie  wir  schon  des  öfteren  auszuführen  hatten,  gehen  die 
türkischen  Rechtsanschauungen  auf  dem  Gebiete  des 
Familien-  und  Erbrechts  infolge  deren  Basierung  auf  der 
Staatsreligion  noch  immer  soweit  mit  den  deutschen  An- 
schauungen auseinander,  dass  diese  Gebiete  gemäss 
Art.  18  und  19  der  Geschäftsführung  der  Konsuln  über- 
lassen werden. 

Dieser  Grund  fällt  jedoch  durchaus  weg  soweit  s 
sich  um  Mohammfedaner  der  deutschen  Schutzgebiete 
handelt,  die  sich  im  Gebiete  des  osmanischen  Reiches  be- 
finden, oder  mohammedanische  Angehörige  des  osmani- 
schen Reiches,  die  sich  in  einem  solchen  Schutzgebiete 
befinden. 

Die  .Mohammedaner,  die  ohnehin  in  der  Landesge- 
richtsbarkeit ihren  überlieferten  Rechtsbegriffen  Genüge 
g'etan  sehen,  haben  in  ihr  auch  eine  Behörde,  der,  wie 
Dr.  Kriege  in  der  Reichstagssitzung  vom  10.  Mai  1917 
ausführte,    „die    Behandlung   der    sonst    der    heimischen 

1)  Vgl.  §33  Nr.  1  des  Reichs- und  Staatsangehörigkeitsgesetzes 
und  §  4,  §  7  Abs.  3  und  §  10  des  Schutzgebietgesetzes. 


—     179     — 

Gerichtsbarkeit  vorbehaltenen  Materien  unbedenklich 
überlassen   werden    kann'*,  i) 

Die  Landesgerichtsbarkeit  hat  ferner  das  mohamme- 
danische Recht  in  derartigen  Füllen  zur  Anwendung  zu 
bringien  und  kann  nur  auf  Antrag  eines  Beteiligten  in 
Tätigkeit  treten ;  „auch  ist  der  Antrag  eines  Erbbeteilig- 
ten nicht  mehr  zulässig,  wenn  der  Konsularbeamte  des 
Heimatslandes  des  Verstorbenen  bereits  mit  der  Behand- 
lung des  Nachlasses  befasst  war  und  die  im  Art.  19 
§  6  Abs.  1  des  Hauptvertrages  vorgesehene  Anmelde- 
frist verstrichen   ist''.  -) 

Die  durch  den  2.  Absatz  des  Art.  4  vorgesehene 
freiwillige  oder  streitige  Gerichtsbarkeit  ist  keine  aus- 
schliessliche (die  bezeichneten  Gerichte  „können"  ent- 
scheiden) und  wird  durch  sie  die  Zuständigkeit  der 
heimischen   Gerichtsbarkeit   nicht   berührt. 

Gemäss  Art.  6  bestimmt  sich  die  Dauer  dieses 
Nebenvertrages  naturgemäss  nach  der  Dauer  seines 
•Hauptvertrages, 

VII. 
Vertrag  zwischen  dem  Deutschen  Reiche  und 
dem  Osmanischen  Reiche  betreffend  die  Anwendung 
des  deutsch-osmanischen  Vertrages  vom  11.  Januar 
1917  über  Rechtsschutz  und  gegenseitige  Rechts- 
hilfe in  bürgerlichen  Angelegenheiten  auf  die  deut- 
schen Schutzgebiete. 

Ueber  die  Art.  1  und  2  ist  nichts  besonderes  anzu- 
führen, da  sie  mit  den  bereits  erörterten  2  Artikel« 
des    Konsularnebenvertrages    it<haltlich    übereinstimmen. 

Im  Art.  3  sehen  wir  das  gleiche  Problem  behandelt 
wie  in  den  Art.  3  und  4  des  Konsularnebenvertragjes. 
Auch  in  diesem  Vertrage  findet  eine  Abweichung  gegen- 
über dem  Hauptvertrage  und  zwar  gegenüber  dessen 
Art.  2  Abs.  1  statt.  Es  können  nämlich  „die  Mohamme- 
daner der  deutschen  Schutzgebiete,  die  sich  im  Gebiete 
des  osmanischen  Reiches  befinden,  sowie  die  mohamme- 
danischen Angehörigen  des  osmanischen  Reiches,  die 
sich  im  deutschen  Schutzgebiete  befinden,  in  den  An- 
gelegenheiten des  Familienrechts  und  der  Geschäfts- 
fähigkeit die  zuständigen  Gerichte  oder  die  sonst  zu- 
ständigen   Behörden   ihres   Aufenthaltsortes  anrufen,   so- 

1)  S.  Reichstag  105.  Sitzung  vom  10.  Mai  1917  S.  3201. 

2)  Dieselbe  beträgt  3  Monate. 


—     180     — 

weit  diese  Gerichte  oder  sonstigen  Behörden  das  mo-^ 
hainmedanische  Recht  anwenden".  Auch  hier  ging  man 
eben  von  der  Anschauung  aus,  dass  die  Mohammedaner 
hinsichtlich  dieser  Rechtsgebiete  an  ihrem  Aufenthalts- 
orte eine  ihren  Anschauungen  und  Bedürfnissen  ent- 
sprechende  Gerichtsbarkeit   finden. 

Ebenso  wie  bei  dem  Konsularnebenvertrage  ist  auch 
hier  diese  Gerichtsbarkeit  über  Mohammedaner  keine 
ausschliessHche  und  bestimmt  sich  die  Anerkennung  der 
auf  Grund  dieses  Artikels  von  den  Gerichten  oder  son- 
stigen Behörden  des  einen  Teils  erlassenen  Entschei- 
dungen in  dem  Gebiete  des  anderen  Teils  nach  den  dort 
geltenden  Gesetzen. 

Die  Schlussartikeln  '4  und  5  enthalten  inhaltlich  das. 
gleiche    wie    die    des    Konsularnebenvertrages. 

VIII. 

Vertrag:  zwischen  dem  Deutschen  Reiche  und 
dem  Osmanischen  Reiche  über  die  Anwendung  des 
am  11.  Januar  1917  unterzeichneten  deutsch-osmani- 
sehen  Auslieferungsvertrages  auf  die  deutschen 
Schutzgebiete.  ^) 

Die  einleitenden  Art.  1  und  2  stimmen  inhaltlich 
wieder  mit  den  bereits  behandelten  Nebenverträgen  über- 
ein. Bemerkenswert  Sst  nur,  dass  die  osmanische  Re- 
gierung in  Ansehung  der  nach  türkischem  Rechte  nicht 
strafbaren  Doppelehe  die  Auslieferung  eines  Mohamme- 
daners auf  Grund  des  Art.  8  Nr.  1  des  Hauptvertrages 
(Ablehnungsgrund,  weil  die  Tat  nicht  auch  nach  den 
Gesetzen  des  ersuchten  Teils  strafbar  ist),  auch  dann  ab- 
lehnen will,  wenn  die  zweite  Ehe  (d.  h,  die  Doppelehe) 
am  Orte  der  Tat  strafbar  war.-)  Nicht  ablehnen  will  die 
türkische  Regierung  die  Auslieferung,  wenn,  die  in  An- 
sehung des  türkischen  Rechts  nicht  strafbare  Doppel- 
ehe dadurch  entsteht,  dass  die  zweite  Ehe  in  Deutsch- 
land oder  in  einem  dritten  Lande,  wo  die  Doppelehe  be- 
straft wird,  geschlossen  worden  ist.  (Vgl.  aber  Art.  2 
Nr.  8  des   Hauptvertrages.)  ^') 

1)  Die  nun  folgenden  3  Nebenverträge  gingen,  da  sie  nicht 
unter  die  Vorschriit  des  Art.  11  Abs.  3  der  Reichsverfassung  fielen,, 
dem  Bundesrat  nur  zur  Kenntnisnahme  zu  und  wurden  dement- 
sprechend nicht  weiter  verhandelt 

2;  Siehe  Denkschrift  S.  203. 

3>  Siehe  Denkschrift  S.  188. 


—    181    — 

Art.  3  dieses  Nebenvertrages  entspricht  dem  Art.  10 
des  Hauptvertrages,  wonach  der  Gerichtsbarkeit  über 
den  in  ihrem  Bereiche  befindlichen  Verfolgten  oder  Ver- 
urteilten vor  der  ausländischen  Gerichtsbarkeit  der  Vor- 
rang zugesichert  'wird.  Ebenso  entsprechende  Anwen- 
dung findet  der  Art.  10  Abs.  2  des  Hauptvertrages. 

Die  Auslieferungsanträge  sind  auch  für  die  Schutz- 
gebiete auf  "diplomatischem  Wege  zu  stellen;  jedoch  ist 
eine  Ausnahme  für  den  Fall  zugelassen,  dass  in  einem 
deutschen  Schutzgebiete  "ein  osmanischer  Konsul  nicht 
zuständig  ist.  In  diesem  Falle  kann  sich  die  osmanische 
Regierung  unmittelbar  an  den  Gouverneur  des  Schutz- 
gebietes wenden,  »von  welchem  Antrage  jedoch  die  deut- 
sche Regierung  tmverzüglich   zu  verständigen   ist. 

Die  Schlussbestimmungen  stimmen  wieder  mit  den 
übrigen    Nebenverträgen  iiberein. 

IX. 
Vertrag  zwischen  dem  Deutschen  Reiche  und 
dem  Osmanischen  Reiche  über  die  Anwendung  des 
deutsch-osmanischen  Niederlassungsvertrages  vom 
11.  Januar  1917  auf  die  deutschen  Schutzgebiete  und 
die   osmanischen    Provinzen  Hedschas,   Jemen  und 

Nedschd. 

Wie  wir  "bereits  bei  der  Behandlung  des  Haupt- 
vertrages ausführten,  bedang  sich  die  türkische  Regierung 
für  ihre  obigen  Provinzen  eine  Ausnahmestellung  aus, 
die  gemäss  Art.  1  Abs.  2  des  Neben  Vertrages,  darin  be- 
steht, dass  "den  Angehörigen  und  Gesellschaften  des 
Deutschen  Reiches  sowie  der  deutschen  Schutzgebiete 
in  diesen  Oebieten  nur  das  Recht  der  Meistbegünsti- 
gung zusteht.  Wie  wir  gesehen  haben,  werden  zu  die- 
sen türkischen  Gebieten  gemäss  ihrer  geographischen 
Lage  auch  'die  Bezirke  Medina  und  Assir  gerechnet,  ob- 
gleich diese  verwaltungstechnich  selbständig  sind.  Für 
die  Hafenplätze  'Dschedda  und  Hodeida  gilt  das  im 
Hauptvertrage  Ausgeführte.  Hierbei  sind  die  Ange- 
hörigen und  Gesellschaften  der  deutschen  Schutzgebiete 
denen  des  'Deutschen  Reiches  gleichgestellt.  (Siehe  Art.  2 
Abs.    1.) 

Angehörige  der  deutschen  Schutzgebiete  können  bei. 
einer  allenfallsigen  Ausweisung  sowohl  nach  Deutsch- 
land als  auch  nach  den  deutschen  Schutzgebieten  abge- 
schoben werden. 


—     182    — 

Für  die  In  Deutschland  sich  aufhaltenden  Osmanen 
macht  es  hingegen  keinen  Uiiterschied,  ob  sie  aus  den 
oben  angeführten  "Provinzen  oder  aus  anderen  Teilen 
des  türkischen  Reiches  stammen.  Ebenso  macht  es  in 
Ansehung  der  Rechte,  die  sich  aus  dem  Hauptvertrage 
ergeben,  für  die  osmanischen  Gesellschaften  keinen  Un- 
terschied, in  welcher  osmanischen  Provinz  sie  bestehen. 

Die  Schlussbestimmungen  gleichen  wieder  den  bis- 
her  behandelten    Nebenverträgen. 

X. 

Vertrag  zwischen  dem  Deutschen  Reiche  und 
dem  Osmanischen  Reiche  betreffend  die  Anwendung 
des  deutsch-osmanischen  Vertrages  vom  11.  Januar 
1917  über  die  gegenseitige  Zuführung  von  Wehr- 
flüchtigen und  Fahnenflüchtigen  der  Land-  und 
Seestreitkräfte  auf  die  deutschen  Schutzgebiete. 

Die  Art.  1  und  2  entsprechen  wieder  den  Art.  1 
und   2  Ues    Konsularnebenvertrages. 

Hervorzuheben  ist  'jedoch  der  3.  Artikel,  der  be- 
stimmt, dass  sich  die  Anwendung  des  Hauptvertrages  auf 
die  deutschen  Schutzgebiete,  nicht  aber  auch  auf  die 
Mohammedaner  dieser  Gebiete  erstreckt,  die  sich  der 
Wehrflucht  oder  Fahnenflucht  schuldig  machen.  Bei 
dieser  merkwürdigen  'Regelung  spielen  wohl  hauptsäch- 
lich  religiöse   Momente    auf  türkischer   Seite   mit. 

Art.  4  "und  5  entsprechen  inhaltlich  den  Art.  4  und  5 
des    Nebenvertrages    betreffend    Auslieferung. 

Art.  6  und  7  enthalten  wie  die  anderen  Nebenver- 
träge  die  ^üblichen   Schlussbestimmungen. 


r 


JX      Klinke,  Max 

1568       h±e   Kapitulationen  der 

K8      Türkei,  deren  Aufhebung  und 

die  neuen  deutsch-türkischen 

Rechtsverträge 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


O  CM 

^_ 

^  — 

— E  o 

lU^ 

<n 

>  — 

=^o  o 

(/)^ 

^  ■»— 

z 

— ^U- 

^ 

5 

T  CM 

:>i.