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1568
K8
rs r.'
Die
apitulationen derTürkei
deren Aufhebung und die neuen
deutsch-türkischen Rechtsverträge
von
Dr. jur. Max Kunke.
O^^D
1918
fOünchen, Berlin und Leipzig
J. Schweitzer Verlag
(Arthur Sellier).
Die
Kapitulationen derTürkei
deren Aufhebung und die neuen
deutsch-türkischen Rechtsverträge
von
Dr. jur. Max Kunke.
O^^D
1916
[München, Berlin und Leipzig
J. Schweitzer Verlag
(Arthur Sellier).
i:ric
Inhalts- Verzeichnis.
Seite
"Vorbemerkung 1
I. Teil.
Geschichte der Kapitulationen.
Einleitung 3
1. Kapitel: Zur Vorgeschichte der Kapitulationen 5
Die ersten Handelsbeziehungen zwischen Griechen-
land und Aegypten 5
Die Entwicklung im römischen Reiche .... 5
Die Entwicklung in Griechenland 7
Die Entwicklung im Kalifat 7
Die Entwicklung in Aegypten ........ 7
Die Entwicklung im byzanthinischen Reiche 11
2. Kapitel: Entstehungsgründe und Geschichte der Kapitu-
lationen mit der Türkei 13
Die religiösen Anschauungen der Mohammedaner 14
Die Vereinbarungen mit Genua und Venedig . . 15
Die Verträge mit Frankreich 20
Die französische Kapitulation von 1528 .... 21
Die französische Kapitulation von 1535 .... 22
Die französische Kapitulation von 1569 .... 28
-Die englischen Bestrebungen zur Erreichung einer Kapitulation 31
Die französische Kapitulation von 1581 .... 31
Die französische Kapitulation von 1597 .... 33
Die französische Kapitulation von 1604 .... 35
Die französische Kapitulation von 1673 .... 38
Die französische Kapitulation von 1740 .... 41
Die Kapitulationen mit den Niederlanden 52
Der Firman von 1609 und die holländische Kapi-
tulation von 1612 52
Die holländische Kapitulation von 1680 .... 55
-Die Kapitulationen mit Oesterreich 58
Der Wiener Friede von 1615 59
Der Firman vom Jahre 1617 59
Der Karlowitzer Friede von 1699 60
Der Firman von 1700 61
Der Passarowitzer Friede und der Handelsvertrag
von 1718 61
Der Belgrader Vertrag von 1739 65
Der Vertrag Oesterreichs mit der Türkei von 1784
(Sened) 66
— IV —
Seite
Die Beziehungen der Pforte zu Russland 66
Der Vertrau vom 13. Juni 1700 67
Der Vertraji am Pruth vom Jahre 1711 .... 67
Der russisch-türkische Vertrag vom Jahre 1720 . 68
Der Belgrader Vertrag von 1739 ...... 68
Der Vertrag von Kutschuk-Kaynardgi von 1774 . 68
Die Konvention vom Jahre 1779 ....... 70
Der russisch-türkische Handelsvertrag von 1783 . 70
Der Friede von Jassy von 1791 74
Der Vertrag von Ackermann (1826) 74
Der Adrianopeler Vertrag von 1829 74
Die Beziehungen des osmanischen Reiches zu Preussen und
Deutschland 74
Der preussisch-türkische Vertrag von 1761 . . 75
Die Handelskonvention von 1840 77
Der Vertrag von 1862 77
Der türkisch-deutsche Vertrag vom 26. Aug. 1890 77
Die Verträge der Türkei mit verschiedenen anderen Staaten . 79
Anhang.
Die Einrichtung der Konsulargerichtsbarkeit einzelner Staaten
in der Türkei
Die Konsulargerichtsbarkeit Deutschlands
Die Konsulargerichtsbarkeit Frankreichs .
Die Konsulargerichtsbarkeit Englands . .
Die Konsulargerichtsbarkeit Russlands
82
82
84
84
84
11. Teil.
Die Aufhebung der Kapitulationen und die neuen
deutsch-türkischen Rechtsverträge.
Einleitung 85
1. Kapitel: Die Rechtsnatur der Kapitulationen 87
2. Kapitel: Die Wirkung der Kapitulationen 92
a) Vorbemerkung 92
b) Die Zollprivilegien 93
c) Die Steuerfreiheit 96
d) Die Konsulargerichtsbarkeit 98
e; Die Exterritorialität 102
f} Die Postprivilegien 105
3. Kapitel: Die Abschaffungsbestrebungen der Türkei, deren
Wirkungen und Erfolge 105
Die Pariser Konferenz von 1856 106
Das türkische Memorandum vom 14. Sept. 1860 . 107
Die türkische Zirkularnote vom 24. April 1862 . 108
Das Reglement relatlf aux consilats etrangers von
1863 109
Der türkische Firman vom 16. Juni 1867 (Protokoll
V. 9. Juni 1868) HO
— V —
Seite
Die Einrichtung der gemischten Gerichte . . .111
Die Zirkularnote der Türkei vom 11. Okt. 1881 . 114
Der Erlass der Pforte betreff die Zollfreiheit der
Konsuln (vom 27. Juli 1869) ....... 116
Die Aufhebungsbestrebungen im Jahre 1897 . .116
Das österreichisch-türkische Abkommen vom 26.
Februar 1909 119
Der türkisch-italienische Friede von 1912 . . .119
Die^ türkischen Reformen 121
Der Hatti Scherif von Gülhane (1839) .... 121
Der Hatti Humaiun vom 18. Februar 1856 ... 123
Die Reformierung der Scheriatgerichte .... 125
Anhang zu den türkischen Aufhebungsbestrebungen.
Die Meerengenfrage 127
Türkische Zirkularnote von 1798 127
Die Note der Pforte an Preussen im Jahre 1806 . 128
Der Adrianopeler Frieden von 1829 129
Der russisch-türkische Vertrag von Unkiar-Iske-
lessi (1833) 129
Abkommen vom 15. Juli 1840 130
Abkommen vom 13. Juli 1841 130
Pariser Konferenz von 1856 131
Londoner Konferenz von 1871 132
Berliner Vertrag von 1878 -.132
4. Kapitel: Die Aufhebung der Kapitulationen im Lichte der
Geschichte und des Völkerrechts 133
Die einer Aufhebung widersprechenden Meinungen 134
Die türkische Auffassung von der Einseitigkeit der
Kapitulation 135
Die clausula rebus sie stantibus 138
Die Möglichkeit einer Aufhebung für den Kriegsfall 145
-5. Kapitel : Die neuen deutsch-türkischen Rechtsverträge vom
11. Januar 1917 148
Einleitung 148
1. Ein Konsularvertrag 149
2. Vertrag über Rechtsschutz und gegenseitige Rechts-
hilfe in bürgerlichen Angelegenheiten . . 161, 162
3. Auslieferungsvertrag 164
Ablehnungsgründe 168
Weitere gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen . 17U
4. Niederlassungsvertrag 171
5. Vertrag über gegenseitige Zuführung von Wehr-
• flüchtigen und Fahnenflüchtigen der Land- und
Seestreitkräfte 176
6. Vertrag über die Anwendung des Konsularver-
trages auf die deutschen Schutzgebiete . . . 177
— VI —
Seite
7. Vertrag über die Anwendung des Vertrages über
Rechtsschutz und Rechtshilfe auf die deutschen
Schutzgebiete 179
8. Vertrag über die Anwendung des Auslieferungs-
vertrages auf die deutschen Schutzgebiete . . 180
9. Vertrag über die Anwendung des Niederlassungs-
vertrages auf die deutschen Schutzgebiete . . 181
10. Vertrag über die Anwendung des Vertrages über
die gegenseitige Zuführung von Wehrflüchtigen
und Fahnenflüchtigen der Land- und Seestreit-
kräfte auf die deutschen Schutzgebiete ■ . . 182
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als nouveau recueil general des traites von 1840—1874.
(20 Bände. Göttingen 1843 1875). Fortgesetzt deuxieme
Serie von 1876 an. Seit 1887 herausgegeben von Stoerck.
(v. 1876 an 35 Bände). Von 1908 an troisieme serie heraus-
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stantibus", sowie einige verwandte Völkerrechtsnormen 1907
(Siehe Abhandlungen Staats- und völkerrechtlicher Verträge
herausgegeben von Jellinek und Mayer Bd. VI. Heft 12.
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Stoerck. In von Holtzendorffs Rechtsenzyklopädie 5. Aufl. 1890.
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10 Bände.
Travers Twiss. The Law of Nations etc 2 Bände, 1861—1863,
1875—1884. Eine selbständige französische Uebersetzung
dieses Werkes erschien 1887 und 1889 in 2 Bänden: Le droit
des gens ou des nations considerees comme communautes
politiques independantes
Treaties between Turkey and foreign powers, compiled by
the librarial and keeper of the papers foreign Office. London
1855.
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Walker, Thomas Alfred. A manuel of Public international Law
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Wheaton, Henry. Elements of international law. S.Auflage 1889
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Zorn. In Stengels Wörterbuch des deutschen Staats- und Ver-
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— XI —
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Archiv für öffentliches Recht (seit 1886 herausgegeben von La-
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Bachem's Staatsle.vikon 3. und 4. Auflage. Freiburg 1912.
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Oesterreichische Monatsschrift für den Orient. Wien 1917
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The American Journal of international law. 1907 ff.
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Zeitschrift für internationales Privat- und öffentliches Recht
seit 1891 jetzt herausgegeben von Niemeyer.
Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht 1906 ff. jetzt
herausgegeben von Kohler («iehe daselbst Abhandlung von
Bunuccii Bd. IV. S. 449 u. 466 ff.).
Vorbemerkung.
„Am 11. Januar 1917 sind im Auswärtigen Amt von
den Bevollmächtigten des Deutschen Reiches und des
osmanischen Reiches eine Reihe von Verträgen unter-
zeichnet worden, die dazu bestimmt sind, die Rechtsbe-
ziehungen zwischen den beiden Reichen in erschöpfender
Wieise zu regeln. Es sind dies ein Konsular-Vertrag, ein
Vertrag über Rechtsschutz und gegenseitiger Rechtshilfe
in bürgerlichen Angelegenheiten, ein Ausheferungsvertrag,.
ein Niederlassungsvertrag, sowie ein Vertrag über« ge-
genseitige Zuführung von Wehrpflichtigen und Fahnen-
flüchtigen der Land- und Seestreitkräfte, Dazu kommen
noch fünf weitere Verträge, wonach die Bestimmungen
der bezeichneten Rechtsverträge auf die deutschen Schutz-
gebiete den besonderen Verhältnissen dieser Gebiete ent-
sprechend ausgedehnt werden. Die Verträge sollen das in
der Türkei bisher in Geltung gewesene System der so-
genannten Kapitulationen durch neue, dem modernen
Völkerrecht entsprechende Bestimmungen ersetzen." i)
Soweit die amtliche Verlautbarung vom 15. Januar
1917. ,
Durch diese umfassende Regelung der Rechtsver-
hältnisse wurde ein Zustand beseitigt, der schon seit dem
Eintritt der Türkei in die Völkerrechtsgemeinschaft (Pa-
riser Konferenz 1856) eigentlich unhaltbar hätte sein
müssen.
Wie wir später sehen werden, hatte die Türkei schon
des öfteren Schritte zur Beseitigung der drückenden
Fremdenvorrechte unternommen, wenn auch jedesmal
ohne nennenswerten Erfolg. Erst der Ausbruch des
Weltkrieges bot der Türkei bei der Uneinigkeit der
meisten Vertragskontrahenten eine willkommene Gelegen-
heit, durch eine Kundmachung vom 8. September 1914
die Kapitulationen mit den verschiedenen Mächten mit
1) Münchener Neuesten Nachrichten Nr. 25 vom 26. 1. 1917.
1
Wirkung vom 1. Oktober 1914 einseitig aufzuheben. Diese
Verlautbarung des osmanischeii Reiches rief, wie nicht
anders zu erwarten war, auf reindlicher und neutraler
Seite mehr oder mind€r scharfe Protestkundgebungen her-
vor. Deutschland tat, wie es bei seinem langjährigen
Freundschaftsverhältnis mit der Türkei auch kaum anders
denkbar war, den ersten Schritt zur Anerkennung der
türkischen Forderung, indem es am 11. Januar 1917 neue,
auf völkerrechtlicher Grundlage beruhende Verträge mit
der Pforte abschloss. Ob dies den deutschen Kaufleuten
im Orient zum Segen gereichen wird, muss der Zu-
kunft vorbehalten bleiben. Deutschland musste sich eben
sagen, dass eine tatkräftige Politik nicht nur Gaben
spendet, sondern auch Opfer fordert.
Unsere Aufgabe wird es vielmehr sein, zum Ver-
ständnis des Ganzen zunächst in einem I. Teil die Ent-
wicklung und den Inhalt der Kapitulationen mit der
Türkei darzustellen, um dann in einem Teil 11 die Auf-
hebungsbestrebungen der Pforte und die dafür und da-
gegen sprechenden Gründe erörtern zu können, woran
sich eine kurze Behandlung der neuen deutsch-türkischen
Verträge schliessen wird.
I. Teil.
Geschichte der Kapitulationen.
Einleitung.
Ehe wir an eine Darstellung- der Geschichte der Ka-
pitulationen schreiten, wird es sicherlich von allgemeinem
Interesse sein, zunächst eine Zusammenstellung- verschie-
dener Ansichten über die Bedeutung und die Herkunft
des Wortes Kapitulationen selbst zu geben.
Das Nächstliegende wäre natürlich die Ableitung von
der Einteilung- in Kapitel, welche Ansicht zumindest
ebensoviel Anhänger als Gegner hat. B. W. von König
und der Pariser Gelehrte Pelissie du Rausas sind zum
Beispiel für diese Anschauung, während ihr in Bachems
Staatslexikon in ziemlich scharfen Ausdrücken entgegen-
getreten wird. 1) Eine ähnliche, wenn auch nicht gleiche
Auffassung über diese Frage hat der Petersburger Völ-
kerrechtslehrer F. von Martens, der sich bezüglich der
Erklärung dieses Wortes Mas Latrie anschliesst, welcher
aus der Sitte der, Christen und Muselmänner im Mittelalter
bei ihren Verhandlungen eine Sorte von Artikeln (ca-
pitula) als Entwurf des Vertrages mitzubringen, die Be-
zeichnung des ratifizierten Vertrages selbst als Kapitula-
tion herleitet. 2) (Vgl. auch Feraud-Giraud Bd. I S. SO.)
Eine andere originelle Auffassung ist die von Bon-
fils-Grah, der dieses Wort aus dem Italienischen ab-
leitet, in welcher Sprache „Capitulazione'' Uebereinkom-
men, Vertrag bedeutet. Zur Bekräftigung s'einer An-
schauung: fügt 'er hinzu, dass die ersten Verträge, die
Sarazenen und Christen schlössen, in italienischer Sprache
abgefasst waren, da diese damals die diplomatische Spra-
che der Levante war. 3) Viel vertreten finden wir auch
die Auffassung, dass das Wort Kapitulation die französi-
sche Uebersetzung des arabischen Wortes Sulh, d. i.
Friede, sei.*)
1) B. W. von König Handbuch des deutschen Konsularwesens
S. 144. P. du Rausas Bd. 1. S. 1.
2) Martens S. 107 Konsularwesen.
3) Siehe Bonfils-Grah Völkerrecht 1904.
4) Vgl. Antonopoulos und Meyer in dem Jahrbuch der inter-
nationalen Vereinigung. Siehe auch Miltitz Bd. I. S. 524 Anm. 5
u. a. m.
— 4 —
Das Wort Kapitulation selbst wird in verschiedener
Bedeutung gebraucht und zwar sowohl als Kriegs- als
auch als Friedenskapitulationen.
Im ersteren Sinne wird das Wort b€i Uebergabe von
Festungen, Truppenteilen usw. angewendet, z. B. Kapi-
tulation von Sedan, Metz. In all diesen Fällen erstreckt
sich jedoch eine solche Abmachung nur auf die mili-
tärische Zuständigkeit des abschliessenden Kommandan-
ten.
Die Friedenskapitulation hat einen ganz anderen
Zweck. Sie soll ohne Rücksicht auf etwaige Sitten und
Gebräuche fremder Völker den dort befindlichen christ-
lichen Ausländern einen starken vertragsmässigen Schutz
vor Verfolgungen gewähren und z. B. in den mohamme-
danischen Gebieten es den Moslems ermöglichen, mit den
Fremden trotz der Gebote des Korans in Beziehungen
zu treten. Wir sehen also, dass diese vor allem berufen
ist, internationale Beziehungen zu regeln und deshalb
halte ich die Auffassung Beins für vollkommen richtig,
dass die Kapitulationen, die unter den Karolingern dem
deutschen Reichsrecht einverleibt wurden, mit den Kapi-
tulationen, die wir hier behandeln werden, fast nichts zu
tun haben, „da es sich bei den ersteren lediglich um
Akte handelt, die in das Innere der Staatsmaschine ein-
greifen. Sie ordnen Interna, ohne Bezug zu nehmen auf
irgendwelche internationale Beziehungen." i) Die für
uns in Betracht kommenden Kapitulationen mit osmani-
schen Gebieten waren zunächst zeitlich begrenzt und gli-
chen eher Waffenstillstandsabkommen, denn völkerrecht-
lichen Verträgen. Im Laufe der Jahrhunderte gewann je-
doch das Wort Kapitulation immer mehr die Bedeutung
solcher beide Teile bindenden 'I raktate und wir v.'crden»
noch des öfteren Gelegenheit haben, auf diese wichtige
Streitfrage zurückzukommen, ob demnach eine einseitige
Aufhebung zulässig war. Meiner Ansicht nach beruht
auf dieser immer erneut betonten türkischen Auffassung,
dass die Kapitulationen schlechthin nur Waffenstillstands-
natur besassen, auch d;ie von mancher Seite vertretene An-
Ansicht, dass man für die türkischen Abmachung(en,
Kriegs- und Friedenskapitulation gleichsam zusammen-
schweissen könne, da diese zwar friedliche Beziehungen
regeln, aber dennoch für ein kriegerisches Verhältnis ge-
schaffen wurden. 2) Wie dem auch sei, haben dennoch die
1) Siehe Bein S. 2 ff.
2) Siehe Bein S. 3.
— 5 —
Beziehungen der Türkei mit den auswärtigen Städten und
Mäciiten lange Zeit zu den verschiedensten Erörterungen
Anlass gegeben. In unserer folgenden Darstellung wer-
den wir nunmehr diese Verhältnisse gemäss ihrem Ur-
sprung- und ihrer Geschichte zu behandeln haben, um so-
wohl füi die türkische, als auch für die ausländische Mei-
nung das richtige Verständnis zu finden.
I. Kapitel.
Zur Vorgeschichte der Kapitulationen.
Sir Twiss erwähnt in seinem Werke Le Droit des
Gens, dass die erste Art einer Kapitulation wohl den
Kaufleuten von Tarsos rund 1200 vor Christi verliehen
worden sei. Das Bemerkenswerteste an diesem Prixileg
Avar der Umstand, dass es Leuten verliehen wurde, die
nicht dieselbe Religion hatten wie die Bewohner des
Landes, dessen Gastfreiheit sie genossen. Dies war be-
reits ein grosser Fortschritt auf dem Wege zur Duldsam-
keit gegenüber anderen Konfessionen und ein erster
Schritt auf dem Wege zum internationalen Verkehr der
Völker.
Später waren es vor allem die Griechen, die in
Aegyplen festen Fuss fassten. Durch ihren weit aus-
gebreiteten Handel, der sich bis über die Gebiete des
Schwarzen Meeres hinaus erstreckte, sahen sie sich ge-
nötigt, auch mit König Amasis von Aegypten verschiedene
Handeisverträge abzuschliesscn. Der Erfolg dieser Be-
mühungen bestand in der Erlaubnis zur Gründung ver-
schiedener Faktoreien, wo die Griechen nach ihrem Recht
und Gesetz leben durften. Von der Begünstigung, die
König Amasis (570 — 526) der milesischen Kolonie Nau-
kratis angedeihen liess, wird berichtet, dass sich der
König nicht scheute, in dem dort erbauten griechischen
Tempel selbst Weihgeschenke darzubringen, i)
Mit dem Emporkommen anderer grosser Handels-
plätze zur Zeit Alexanders des Grossen sank jedoch die
Bedeutung der griechischen Kolonie immer mehr. -)
Die Entwicklung im römischen Reiche,
Wenn wir auf die römische Weltpolitik übergeiien,
so lässt sich dort noch bis etwa 250 vor Christi eine
1) Trotz dieser völkerfreundlichen Politik musste sich sein
Nachfolger Psammetich III. den Persern unterwerfen.
2) Vgl. auch Miltltz Manuel des Consuls Bd. I. S. 9.
— 6 —
den fremden Kaufleuten freundliche Gesinnung beobach-
ten, die sich darin zeigt, dass den Angehörigen der
Staaten, mit denen Rom Handeisverträge abgeschlossen
hatte, auch Zutritt zum Recht der römischen Bürger,
d, h. dem 'us civile gewährt wurde. VölJig änderte sich
jedoch diese den Fremden günstige Politik seit dem
dritten Jahrhundert. Uebermütig geworden durch seine
grossen Erfolge und Eroberungen wollte Rom den Frem-
den nicht mehr die Vergünstigung des ius civile zuteil
werden lassen und schloss sie kurzerhand vom Genüsse
desselben aus. Dies hatte zur Folge, dass die Fremden
nur nach ihrem eigenen Handelsrecht leben konnten, ihre
Geschäfte mit römischen Bürgein keine formelle Gültig-
keit besassen und hierdurch der gesamte Rechtsverkehr
sehr ungünstig beeinflusst wurde. Daher konnte dieser
Zustand nicht von langer Dauer sein und bereits im
Jahre 242 vor Christus wurde für die Fremden ein praeter
peregrinus bestellt, der ihrer Rechtslosigkeit einiger-
massen abhelfen sollte. „Aus den verschiedenen, in
den Peregrinenprozessen zur Anwendung gebrachten
Fremdenrechten entwickelte sich ein allgemeines römi-
sches Fremdenrecht (ius gentium), dessen Inhalt die
Grundsätze bildeten, die sich im Verkehre, zumal im
Handelsverkehr mit den Ausländern, insbesondere mit den
Griechen, auf dem Wege der Rechtsübung allmählich aus-
gebildet hatten und auch in dem Gebiet des praeter pere-
grinus Aufnahme fanden." i) Späterhin fand das ius
gentium wegen seiner vielen nützlichen Stellen im römi-
schen Privatrecht selbst Aufnahme. Kipp betont dement-
sprechend, dass sich das römische Recht aus Sonder- und
Stadtrecht allmählich zu einem allgemeinen Weltrecht
ausbildete. -) Wie wir bereits oben anführten, begann
das ius gentium immer mehr in das römische Privat-
recht selbst einzudringen. Es ist daher leicht begreiflich,
dass bereits im Jahre 212 Caracalla, gestützt auf die stets
wachsende Grösse seines Vaterlandes und die bedeuten-
den Vorzüge des ius gentium, durch die Lex Antoniniana,
das ius civile und das ius gentium zu verschmelzen suchte.
Es sollte aber erst der gewaltigen gesetzgeberischen Tä-
tigkeit eines Kaisers Justinian vorbehalten sein, die beiden
Rechte fast vollkommen zu vereinigen, sodass sich im
römischen Reiche Fremde und römische Bürger beinahe
völlig gleichstanden.
1) Siehe Salkowsky § 8 B.
2) Siehe Kipp Geschichte der Quellen des römischen Rechts.
— 7 —
In Griechenland.
Dieselbe Rolle wie die römischen praetöres peri-
grini bilden im alten Griechenland die sogenannten Pro-
xenen, die nach Laurent immer Bürger des Staates
waren, in dessen Gebiete sie die Rechte und Interessen
der Untertanen fremder Staaten zu wahren und auch vor
Gericht zu vertreten hatten, i) Sfhon aus diesem Grunde!
ihrer Staatsangehörigkeit wird man schwerlich in ihnen
oder in den praetöres perigrini Konsuln erblicken, die
die Vorläufer unserer heutigen völkerrechtlichen Kon-
sularinstitution nach jeder Hinsicht sein könnten.
In Kalifat.
Erst seit dem 8. Jahrhundert lassen sich Bezieh-
ungen zwischen christlichen und arabischen Fürsten nach-
weisen. Besonders bemerkensv/ert sind hiefür die Be-
mühungen und Erfolge Karls des Grossen. Während sei-
ner Herrschaft empfing der Kalif Harun-a!-Raschid (der
Gerechte) mit all dem von ihm so sehr geliebten Pompe
eine fränkische Gesandtschaft im Jahre 797 und machte
hiedurch seinen Namen im ganzen Abendlande bekannt. ^')
In der Folgezeit gelang es Karl dem Grossen, diesen
freundschaftlichen Verkehr auf das Tatkräftigste zu för-
dern und zum Wohle seiner dort lebenden Untcrtaner^
auszubauen. Vor allem gebührt ihm der Ruhm, den Grund-
stein zur Konsulargerichtsbarkeit in der Levante gelegt
zu haben, wenn ihm das auch nach Sir Twiss nur für
Syrien und Palästina, nicht aber auch für Aegypten ge-
lang, 3) Allmählich festigte sich die Stellung der Aus-
länder im Kalifenreiche immer mehr, sodass wir bereits
gegen Ende des ersten Jahrtausend hier Beamte sehen,
die von ihrem Heimatstaat gesandt wurden, um die
dort lebenden Franken zu schützen, deren Streitigkeiten
zu schlichten und je nach Gebühr auch zu bestrafen.
Was Aegypten anbetrifft, so befand sich dieses,
von Natur aus überaus reiche Land nach Eroberung durch
die Araber in den Händen einer für das Seewesen ziem-
lich ungeeigneten Nation. Trotzdem hatten jedoch die
Beherrscher Aegyptens ein grosses Interesse daran, die
1) Laurent, Histoire du droit des gens et des relations inter-
nationales . . . Brüssel 1862. Teil II. S. 119 ff. Müller Jochmus
Geschichte des Völkerrechts Im Altertum Leipzig 1848 S. 108.
2) Palmer The Caliph Haroun Alraschid London 1880.
3) Sir Twiss S. 460.
— 8 —
Schatze des Landes nach Möglichkeit zu verwerten. Bei
die'^eni Bestreben konnte ihnen nichts erwünschter sein
als eine Annäherung an grosse seefahrende Völker, wie
es damals vor allem die italienischen Staaten waren.
Nachdem der erste grosse Bekehrungseifer der Moslems
sich g'e'egt hatte, war daher nichts natürlicher, als dass
die Araber in regem Verkehr mit den italienischen Staa-
ten traten und denselben weitest gehende Vergünstigun-
gen zuteil werden Hessen. Der Beginn dieser Bezieh-
ungen wird von den Gelehrten verschieden angenommen.
Miltitz behauptet in seinem Manuel des Consuls, dass
von einem Vertrag zwischen Arabern und Christen vor
dem 13. Jahrhundert keine Rede sein könne, i) An einer
anderen Stelle seines Werkes spricht er jedoch davon,
dass Angehörige der Stadt Pisa sich bereits im 12. Jahr-
hundert in Alexandrien und Kairo niedergelassen hätten.-)
Martens erklärt hiezu in seinem Werke „Das Konsular-
wesen'', dass neuere Forschungen ergeben hätten, dass
schon seit dem 7. Jahrhundert Beziehungen zwischen Ita-
lienern und Bewohnern Aegyptens stattgefunden hätten
und dass der erste Vertrag von Pisa im Jahre 1154 mit
dem ägyptischen Herrscher eingegangen wurde. Bein
berichtet hiegegen aus Clunet „Journal de droit internatio-
nal prive*', dass Amalfi als die erste Stadt angegeben
werden könne, deren Kaufleute am Ausgang des 19.
Jahrhunderts die ersten derartigen Zugeständnisse ge-
währt wurden, sodass sie unter der Oberhoheit eines
Beamten ihres Staates mit Alexandrien Handel treiben
konnten. 3)
Da trat plötzlich ein Ereignis ein, das für die christ-
hchen Bestrebungen bei den muselmanischen Völkern
leicht verhängnisvoll werden konnte. Wie das heilige
Feuer des Bekehrungseifers die Moslems dazu entflammt
hatte, gegen eine Welt ihren Glauben durchsetzen zu
wollen, so erfasste die Botschaft des Papstes die da-
malige christliche Welt und überall wurde zum Zuge gegen
die Mohammedaner und zur Befreiung der heiligen Stät-
ten geworben. Nichtsdestoweniger blieben die Bezieh-
ungen mit Aegypten hiervon fast völlig unberührt, ja die
dortigen Herrscher forderten die europäischen Kaufleute
sogar auf, das ägyptische Reich auch fernerhin aufzu-
suchen und sicherten ihnen Freiheit der Person und des
1) Miltitz Manuel des Consuls T. II. T. I. S. 155 und 398.
2) Miltitz T. II. T. I. S. 134.
3) Bein S. 7, Clunet Paris 1905 S. 127.
— 9 —
Eigentums zu. i) Besonders Genua und Pisa sind mit
unter den ersten der bevorzugten Staaten zu nennen, die
bereits im 12. Jahrhundert so weitgehende Rechte be-
sassen, dass ihnen ein rasches Aufblühen ihrer Nieder-
lassungen ermöglicht wurde. -) Die oben erwähnte Kapi-
tulation von 1154 verlieh den Angehörigen des genuesi-
schen Staates das Recht der eigenen juristiktion, Freiheit
der Person und des Vermögens und bestimmte ferner,
dass kein Genosse für die Schuld eines Landsmanns
zu haften hätte. Diese letztere Bestimmung war be-
sonders wertv'oU wegen der Unsicherheil im Lande und
dem leicht in Gewalttätigkeiten ausartenden Rachedurst
der Bevölkerung. Auch hier sehen wir bereits die später
immer wiederkehrende Bestimmung, dass Schiffe der
Pisaner nicht ohne Weiteres zurückgehalten werden dür-
fen, ein Zugeständnis, das für seefahrende Kaufleute von
grosser Wichtigkeit sein musste.
In der Folgezeit wurden die Verträge noch des öfte-
ren bestätigt und nach verschiedenen Richtungen hin er-
weitert. Der im Jahre 1215 zwischen Pisa und Aegyp-
ten abgeschlossene Vertrag war in dieser Hinsicht wohl
am vollkommensten und enthielt bereits die Anordnung,
dass in Streitigkeiten zwischen Aegyptern und Pisaner
letztere das Recht hätten, sich im Notfalle bis an den
Sultan zu wenden. Ein ganz ähnliches Recht also, wie es
den Franzosen und späterhin auch den anderen Natio-
nen in der Türkei gewährt wurde. Im Laufe der Zeit
schwächten sich jedoch die freundschaftlichen Bezieh-
ungen zwischen Pisa und Aegypten immer mehr ab, wo-
bei die päpstlichen Verbote eine ziemlich grosse Rolle
spielten. Verboten doch damals die Dekrete des römi-
schen Bischofs unter Androhung der schwersten Strafen
den gesamten Handel mit Aegypten. Für eine Weile
übte dies auch auf die Politik der Völker einen bestimmen-
den Einfluss aus, aber bald genug setzte sich Venedig
bereits im 13. Jahrhundert über all diese Bedenken hin-
weg und trat in regen Verkehr mit dem ägyptischen
Staate. Der erste bedeutsame Vertrag fällt nach Tafel und
Thomas in das Jahr 1238.^) Nach einer Reihe von Be-
stätigungen erhielt Venedig späterhin eine mit grossen
1) Martens S. 110.
2) Die Republik Venedig gelang dies jedoch nach Depping
erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts.
3) Taiel und Thomas Urkunden 11. S. 336. und Martens S.115.
vgl. auch Miltitz T. (Tome) T. I. S. 62.
— 10 —
V^orrechten ausgestattete Kapitulation (1302). Es wird die
Konsularjurisdiktion anerkannt undden Venezianern eben-
so wie frülier den Angehörigen von Pisa das Recht ge-
währt, selbst an den Sultan heranzutreten. Von den
früheren Abmachungen wurden ferner die Zusicherung
über die Freiheit der Fremden und über die Unverletz-
lichkeit ihres Vermögens übernommen, wozu noch die
Bestimmung kam, dass der jeweilige Konsul auch die
freiwillige Gerichtsbarkeit hinsichtlich der Verwaltung
des Vermögens eines verstorbenen Venezianers über-
tragen erhielt. Wie gross die den Venezianern gewähr-
ten Vergünstigungen waren, können wir auch daraus er-
sehen, dass für deren Schiffbrüchige jegliches Strandrecht
für aufgehoben erklärt wurde (vgl. die entsprechenden Be-
stimmungen der französischen Kapitulationen mit der
Türkei weiter unten). Nach verschiedenen Bestätigungen
und Erweiterungen ihrer Rechte schlössen die Venezianer
mit dem ägyptischen Sultan noch die Kapitulation vom
Jahre 1388 ab. Von da an sinkt die Bedeutung des
ägyptisch-venezianischen Handelsverkehrs immer mehr
und erst im Jahre 1517 erhielten die Kapitulationen wie-
der Bedeutung, als Aegypten durch die Türkei unter-
worfen wurde und die Venezianer aus diesem .anlasse
eine neuerliche Bestätigung ihrer Rechte für das gesamte
otomanische Staatsgebiet erhielten, i) (Vgl. weiter unten
die Kapitalationen mit der Türkei.)
In der Folgezeit trat noch besonders Florenz hervor^
das durch die Bemühungen Lorenzo's von Medici weit-
gehende Vorrechte erhielt. Maitens erwähnt besonders
die Kapitulation aus dem Jahre 1484 und bemerkt, dass
deren 24. Artikel die ausserordentlich weitgehende Be-
stimmung enthielt, dass Angehörige des llorentinischen
Staates von den ägyptischen Gerichten selbst gegen An-
griffe anderer europäischer Staatsangehöriger zu schützen
seien. Dies ist eine Bestimmung, die sich in dieser Be-
deutung in keiner der späteren Kapitulationen vorfindet,
denn „es ist offenbar, dass die angeführte Bestimmungi der
Florentiner Kapitulation vom Jahre 1484 zu unvermeid-
lichen Kolissionen mit anderen Völkern hat führen müs-
sen, wenn sie überhaupt jemals in Anwendung gebracht
worden ist". Bis zur Eroberung Aegyptens wurde dann
noch eine Reihe neuer Verträge zwischen den beiden
1) Vgl. Hevd T. II. S. 277. Hammer Bd. II. S. 505 u. Martens.
S. 118 fl.
— 11 —
Staaten abgeschlossen, von denen die Kapitulation vom
Jähre 1509 die letzte war. i)
Zur gleichen Zeit wie die Städterepubliken und Für-
stentümer bewarben sich auch Arragonien und Frankreich
um Rechte und Zusicherungen. Da uns für unsere Dar-
stellung Frankreich besonders interessiert, so wollen wir
dessen Beziehungen zu Aegypten etwas näher betrach-
ten. Die französischen Könige hatten sich seit jeher da-
für eingesetzt, ihren Untertanen alle möglichen Handels-
erleichterungen im Orient zu verschaffen und bereits um
die Mitte des 13. Jahrhunderts wurden in Alcxandrien
und Tripolis Konsuln angestellt, wenn auch die Be-
hauptung Pouquevilles, wie iVlartens bemerkt, dass auch
die Besitzungen anderer Völker unter dem Schutz Frank-
reichs zu stehen kamen, nicht ganz glaublich erscheint.-)
Ferner soll bereits Karl der Kühne im Jahre 1270 einen
Handelsvertrag im Interesse seiner Untertanen abgeschlos-
sen haben. Miltitz erwähnt in seinem Werke „Manuel des
Consuls*', dass der Sultan von Aegypten in einem Hand-
schreiben an den französischen König dessen Untertanen
für die meist begünstigte Nation erklärte und die Er-
richtung eines französischen Konsulats in Aegypten ge-
stattete. Im, übrigen ist aus den französisch-ägyptischen
Verträgen bei weitem kein so klares Bild zu erhalten über
die damaligen Verhältnisse, wie aus den Kapitulationen
der italienischen Staaten. Von ausschlaggebender Bedeu-
tung vyurden die französischen Abmachungen erst seit der
Eroberung Aegyptens für die Türkei. Was Syrien und
Palästina betrifft, so schlössen die eben behandelten Staa-
ten mit den dort siegreichen Sarazenen gleichfalls Ver-
träge ab, die den Schutz der Untertanen und die Konsular-
einrichtungen betrafen. (Näheres über die sehr inter-
essanten venezianischen Konsularinstitutionen siehe Mar-
tens „Das Konsularwesen", S. 12Q ff.) Späterhin wurden
ferner rtiit den Staaten der Berberei, insbesondere mit
Tunis, verschiedene Verträge abgeschlossen, über die
von Martens gleichfalls sehr ausführlich berichtet. (Siehe
daselbst S. 133 ff.)
Im byzantinischen Reiche.
Die Stadt Amalfi mit ihrem regen Handelsgeist war
auch hier die erste der italienischen Republiken, die mit
1) Martens S. 121 !f.
2) Martens S. 126 Pouquevilles, Memoire de ["Institut. Aca-
demie des Inscriptions et Belleslettres. Paris 1838. T. X. S. 542.
— 12 —
Byzanz Beziehungen anknüpfte. Doch nach dem Jahre
1135 sank ihre Bedeutung immer mehr und sie musste
ihre Stellung zunächst an Pisa und bald darauf an das
aufblühende Venedig abtreten.
Letzterem Staate wurde bereits im Jahre 1060 vom
Kaiser Konstantin X. Dukas (1059—1067) das Recht ge-
währt, Richter zu bestellen, die in bürgerlichen Rechts-
streitigkeiten und Strafsachen ihrer Landsleute zu ur-
teilen hatten. Auf die Klagen des venezianischen Ge-
sandten wegen der fortwährenden Verletzung der Ab-
machungen verlieh die goldene Bulle Kaiser Alexis IIL
im Jahre 119Q den Venezianern eine Vergünstigung, die
in keiner der späteren Kapitulationen so weitgehend m.ehr
zu finden ist. Er bestimmte nämlich, dass die Venezianer
selbst Streitsachen mit den Untertanen des griechischen
Kaisers durch ihren Richter entscheiden lassen könnten,
sofern nur der geschädigte Grieche kein besonders hoher
Staatsbeamter wäre, i) Nach der Eroberung von Kon-
stantinopel durch die Kreuzfahrer im Jahre 1204 (12. April)
wurde der byzantinische Kaiser Marzuphlos abgesetzt, die
Stadt grösstenteils geplündert, wobei Venedig die reich-
sten Kunstschätze sich aneignete und Graf Balduin von
Flandern am 16. Mai zum Kaiser von Konstantinopel ge-
wählt. Unter diesem lateinischen Kaisertum war die
Macht des venezianischen Staates eine schier unbe-
schränkte zu nennen. Martens schreibt mit Recht, dass
„in den Zeiten des lateinischen Kaiserstaates der vene-
zianische Podestä oder Konsul nicht nur der Wahrer der
Interessen seiner Mitbürger, sondern sogar die zv/eite
Person nach dem lateinischen Kaiser, sozusagen der
Vizekaiser von Byzanz war*'. -) Genua erhielt im Jahre
1204 die Ermächtigung eine Vorstadt von Konstantinopel
unter der ausschliesslichen Herrschaft seiner eigenen Be-
amten zu bewohnen. 3) Diese Vorzugsstellung verstand
Genua immer weiter auszubauen, sodass es bereits im
Jahre 1261, als das Geschlecht der Paläologen wieder den
griechischen Kaiserthron in Besitz nahm, die gleiche
Stellung einnahm wie Venedig unter dem lateinischen
Kaiserstaate. Von der venezianischen Macht selbst blieb
nur der Titel Podestä, den sich nunmehr der genuesische
Konsul beilegrte.
1) Heyd Bd. I. S. 83-85 u. a. m.
2) Martens S. 91 {f.
3) Bonfils-Ürah S. 389.
— 13 —
Marseille Hess sich das Recht, Konsuln zu bestellen,,
durch Montferrat, dem Herrscher von Tyrus, und durch
Johann d'Ibelin, dem Herrscher von Beirut, im Jahre 1223
einräumen. Desgleichen Narbonne durch Androny-
kus III., dem Kaiser von Konstantinopel (1340), sowie
von den St. Johannis-Rittern von Jerusalem auf Rhodus
(1351 und 1356) und von Alexandrien 1377. Montpeiller
hatte in Konstantmopel, Antiochien, Tripolis (1243), im
Königreich Cypern (1247), in Alexandrien 1267 und auf
Rhodus 1356 einen Konsul und eine Strasse, die für seine
Kaufleute bestimmt war.
In all diesen Abkommen sehen wir die immer wie-
derkehrende Bestimmung, dass die Fremden durch ihren
eigenen Konsul abgeurteilt werden sollen. Dies hat
seinen ürund einesteils in der damals noch vielfach herr-
schenden Recht'sunsicherheit, andererseits aber auch in
dem Prinzip der „Persönlichkeit des Rechts*', d. h. jeder
Fremde musste nach den Gesetzen seiner Heimat behan-
delt werden, wobei es gleichgültig war, ob er auf byzan-
tinischem oder levantinischem Boden seinen Wohnsitz
hatte. Hieraus ergab sich aber die Notwendigkeit, die
Rechtspflege einem mit dem jeweils in Frage kommenden
Recht vertrauten Beamten zu übertragen. Ein solcher
Beamte war der Consul d'outre mer oder ä Fetranger, der
neben seiner autoritativen Stellung als Oberhaupt der
kleinen genuesischen, venezianischen oder marseilleaini-
schen Genossenschaft auch gleichzeitig der Richter über
deren Händel war. i)
II. Kapitel.
Entstehungsgründe und Geschichte der Kapitulationen
mit der Türkei.
Wie wir aus der vorhergegangenen Darstellung er-
sehen konnten, schlössen die handeltreibenden Staaten
sowohl in christlichen wie mohammedanischen Gebieten
mit den dortigen Herrschern zum Schutze ihrer Ange-
hörigen Kapitulationen ab, die sich jedoch je nach dem.
Bekenntnisse der beiden vertragschliessenden Teile we-
sentlich unterschieden, da ein verschiedener Glaube meist
auch die Zusicherung der Religionsfreiheit erforderte.
Die Kapitulationen der späteren osmanischen Reiche hat-
ten bereits ihre Vorläufer in den oben behandelten byzan-
1) Siehe Bonfils-Grah S. 398.
— u —
tinischen Abmachungen. Von Martens bemerkt, „das die
Reichte und die Tätigkeit der Konsuln anfangs unter dem
Schutze der territorialen Gewalt eines christlichen Staates
sich entfalten und klar werden, während späterhin die
Konsulate mit der Staatsgewalt der Muselmänner zu rech-
nen hatten**, i) Dieses zuletzt angeführte Argument ist
wohl auch der hauptsächlichste Unterschied unter den Ka-
pitulationen mit christlichen oder mohammedanischen
Aufenthaltsstaaten. Denn nachdem sich die Herrschaft
der Osmanen endgültig in den bisher christlichen Gebieten
festgesetzt hatte, mussten die dort ansässigen europä-
ischen Kaufleute vor allem darauf bedacht sein, die gros-
sen Interessen der ausgedehnten christlichen Faktoreien
mit Nachdruck zu wahren. Zunächst bestand wohl eine
gewisse Sicherheit in dem Bedürfnis der orientalischen
Gewalthaber mit den Völkern des Abendlandes, Verkehrs-
und Handelsbeziehungen zu unterhalten. Dies konnte
den christlichen Kaufleuten jedoch auf die Dauer nicht
genügen, da durch die Religionsvorschriften der sieg-
reichen Mohammedaner eine neue schwere Bedrohung;
für die Fremden entstand. Nach dem Koran sind die
Menschen, die nicht Bekenner des Islams sind, Bewohner
der Welt des Krieges (Dar-ul-Harb), im Gegensatz für
den Rechtgläubigen, den Bewohnern der Welt des Is-
lams (Dar-ul-Islam). Den Gläubigen gegenüber haben
die ersteren immer als Feinde zu gelten, ausgenommen
die Zeit eines Waffenstillstandes oder einer Bürgschafts-
leistung, d. h. wenn die Fremden unter dem Schutze des
Sultans standen (Aman). -) D'Ohsson sagt daher auch,
dass der Krieg gegen die Ungläubigen eine der gottge-
fälligsten Taten gewesen sei. ^)
Zufolge ihrer Religionsvorschriften unterscheiden die
Moslems vier Kategorien von Menschen:
„1. Die Müslemin oder Anhänger Mohammeds. Die-
se besitzen alle bürgerlichen und politischen Rechte.
2. Die Ziinmi. Darunter versteht man die Christen,
Hebräer und Götzenanbeter, die unter muselmanischer
Botmässigkeit stehen. Heutzutage nennt man diese Volks-
kiassen der Türkei die Rajah.
1) Siehe von Martens S. 53.
2) Siehe Boniils und Martens S. 177. Aman bedeutet soviel
wie Sicherheit der Ungläubigen und kommt aus dem Arabischen
Siehe Mas Latrie I. Kapitel Einleitung S. 85.
3) D'Osshon Tableau general de l'Empire Ottoman Paris 1824
Bd. 5 S. 64, 50 und Martens S. 178 ff.
— 15 —
3. Die Mustamins oder Ausländer, die sich unter
dem Schutze der völkerrechtUchen Verträge der Türkei
zeitweiUg in der Türkei aufhalten oder aber angesiedelt
haben." (Weiter oben wurde das Aman des Sultans
erwähnt und ist hiezu zu bemerken, dass eben die mit
dieser Gnade bedachten Fremden als Mustamin betrach-
tet wurden.)
„4. Endlich die Harbi oder Feinde der Moslemin,
d. h. alle die Völker, die sich nicht zum Islam bekennen
und mit denmohammedanischen Staaten keine völker-
rechtlichen Freundschaftsbündnisse geschlossen haben.''
Martens bemerkt noch zu dieser seiner Darstellung,
dass das Wort Harbi darauf hindeutet, dass mit diesen
Völkern Kriege geführt werden soll. (Vgl. Dar-ul-
Harb.) i)
Diese Scheidewand hatte aber auch das Gute zur
Folge, dass sich die Mohammedaner auf Grund des
geistlichen Schereatrechtes nicht in die religiösen und
zivilrechtlichen Fragen der Fremden einmischten, so dass
diese in den meisten Beziehungen eine ziemlich freie
Selbstverwaltung hatten. Nichtsdestoweniger war für die
Fremden die Einteilung in die Klasse der Harbi eine
ständige Bedrohung und dies umsomehr, da „der tür-
kische Kaiser'', wie der Venezianer Marco Antonio im
Jahre 1573 schrieb, „keine anderen Gesetze kennt, die die
Rechtspflege, die Staatsverwaltung und die religiösen
Bteziehungen bestimmen könnten, ausser dem Koran". 2)
Martens pflichtet diesen Ausführungen bei, indem er be-
merkt, dass „wirklich eine unteilbare Vermengung der
Religion und des Rechtes, der Moral und des Gesetzes,
der Kirche und des Staates die charakteristische Eigen-
schaft des türkischen Reiches bilde". ^)
!♦ Die Vereinbarungen mit Genua und Venedig.
Als Muhamed II. Konstantinopel dem byzantinischen
Kaiser Konstantin XI. Degrades entrissen hatte, waren
es als erste die Genueser, die sich noch im gleichen,
Jahre 1453 dem türkischen Eroberer unterwarfen. Sie
wurden deshalb von ihm mit einiger Schonung behandelt,
d. h. ihre Häuser wurden nur erbrochen, aber nicht ge-
plündert, sie selbst wurden zu einer Kopf- und Grund-
1) Martens S. 179 if.
2) Martens S. 178 ff.
3) Martens S. 178 ff.
— 16 —
Steuer 0 herangezogen (Ghizet und Charadsch). Kurz
darauf wurde den Genuesen bereits ein Freibrief gewährt,
der ihnen Freiheit des Handels und der Person zu-
sicherte (29. Mai 1453). 2) Ferner wurde ihnen Be-
freiung von besonderen Abgaben gewährt und sie durf-
ten sich für ihre Rechtsstreitigkeiten einen eigenen Be-
amten wählen, dessen Person für unverletzlich erklärt
wurde. Gleichzeitig können .wir hierbei eine interessante
Feststellung machen, dass Genua die Rechte und Frei-
heiten einer meistbegünstigten Nation gewährt wurden.
Diese Gunst zeigt uns deutlich die international-rechtliche
Bedeutung der Kapitulationen in der Türkei. Denn in der
Folge wurde diese Klausel der Gleichstellung der Unter-
tanen und Rechte der vertragschliessenden Staaten fast
in alle Kapitulationen der Türkei aufgenommen und es
ist deshalb nicht einzusehen, weshalb Frankreich Jahr-
hunderte hindurch eine Vorzugsstellung gegenüber den
anderen Nationen beanspruchte. In dem preussisch-tür-
kischen Freundschaftsvertrage sehen wir im Artikel 4
die Meistbegünstigung in der Hinsicht umgrenzt, dass
den preussischen Konsuln und Untertanen dieselbe
Vorzugsstellung eingeräumt werden soll, wie den Unter-
tanen der übrigen befreundeten Staaten. In den späteren
Ausführungen werden wir übrigens noch des öfteren auf
diese Erscheinung zurückzukommen haben. •'^)
Ein ungleich härteres Los als Genua traf Venedig,
das wegen der Unterstützung, die es dem byzantinischen
Reich hatte angedeihen lassen, fast seine sämtlichen, in
Konstantinopel ansässigen Untertanen durch Tod oder
Gefangennahme verlor, wobei auch sein dortiger Bai-
lo ^) getötet wurde. ^) (Dieser Vorgang zeigt die Be-
deutung der Zusicherung an die Genueser, durch die
deren Bailo für unverletzlich erklärt worden war.) Erst
am 15. April 1454 wurde zwischen Venedig und der
1) Von Hammer Bd. I. S. 426 und 428.
2) Der Originaltext dieses Abkommens findet sich nicht ab-
gedruckt wohl aber eine Wiederholung in der Confirmation des
lettres-patentes de 1453 von Adrianopel aus d. J. 1612. s. Nora-
dounghian Bd. 1 S. 111 \\.
3) Ueber die Meistbegünstigungsklausel in den verschiedenen,
anderen Kapitulationen siehe Antonopoulos S 102. Anm. 4.
4) Bailo bezeichnet nach Miltitz Bd. 2, 1, S. 25 mit Anm. 2
den venezianischen Gesandten in Konstantinopel, dann aber auch
die übrigen dortigen Gesandten und wurde schliesslich gleichbe-
deutend mit Konsul gebraucht.
5) Miltitz Bd. 2 S. 3.
— 17 —
Türkei der Friede von Adrianope! geschlossen, detn bald
darauf, am 18. April des gleichen Jahres, ein Ueberein-
"kommen /wischen den beiden Staaten folgte. ^)
Die Grundprinzipien dieser Kapitulationen teilt Mar-
tens in zwei Kategorien, von denen die erste die Rechte
und Interessen der Christen, die zweite deren Pflichten
gegenüber dem Aufenthaltsstaate enthält. Die erste
Gruppe umfasst denn auch „die Sicherheit der Personen
und des Verkehrs ; die richterliche und administrative
Gewalt der Konsuln; den Besitz von Faktoreien* Kir-
chen und dergleichen ; die individuelle Verantwortlich-
keit; die Abschaffung des Strandrechts und die Bewah-
rung des Vermögens Schiffbrüchiger; Aufhebung des
Heimfallrechts (droit d'aubaine) ; gegenseitiges Verbot
des Piratenwesens; verschiedene Massregeln zur Förde-
rung der Handelsbeziehungen'*.
Diesen Rechten standen folgende Pflichten gegen-
über: „Beschränkung des Verkehrs auf bestimmte Hä-
fen; Vorschriften hinsichtlich der inneren Einrichtung
der Faktoreien ; Regeln bezüglich des Schleichhandels und
des Verkaufs und der Beschlagnahme ; ferner Reziprozi-^
tat des Beistandes und der Schutzgewährung."-)
In der Behandlung der einzelnen Kapitulationen wer-
den wir uns bemühen, möglichst eingehend diese einzel-
nen Grundzüge in den verschiedenen Verträgen aufzu-
suchen, miteinander zu vergleichen, um dann hieraus zu
ersehen, wieviel von ihnen in den jeweiligen Abmachun-
gen Aufnahme fand.
Der oben erwähnte Vertrag zwischen Venedig und
der Türkei umfasst im Ganzen 19 Artikel und enthält
Bestimmungen, die den Venezianern Freiheit des Han-
dels, aber unter einer zweiprozentigen Verzollung ge-
statten, ihnen ferner die Aufstellung eines Konsuls ge-
währten, der neben der Verwaltung der venezianischen
Angelegenheiten auch die Jurisdiktion auszuüben hatte
und im übrigen alle Rechte bestätigte, die der Konsul
bereits vorher schon innegehabt hatte. ^) Ferner wurde
aus den früheren Verträgen auch die Bestimmung über-
nommen, dass die Hinterlassenschaft eines verstorbenen
Venezianers von Seiten der türkischen Behörden unan-
1) Den Text siehe bei Gavillot, Essai sur les droits des euro-
peens en Turquie . . . S. 14 }. Martens S. 181. Ulimann S. 198.
2) Martens S. 148 und 149.
3) Depping Histoire des commerce T. II. S. 217, Miltitz T. II.
1. S. 74 if. Martens S. 182,
2
- 18 —
tastbar sein solle und dem Konsul zur Verfügung zu
halten sei. Aus dieser Bezugnahme auf alte Abmacliun-
gen (siehe weiter oben), die mit einem christlichen Staate
geschlossen wurden, können wir ersehen, dass es nicht
allein der Religionsunterschied zwischen Christentum und
Islam war, der zu den Kapitulationen führte, wenn auch
die mohammedanische Religion aus den bereits ange-
führten Gründen zur Beibehaltung und Ausdehnung des
Privilegiensystems wesentlich beitrug.
Bei dieser venezianisch-türkischen Abmachung ent-
steht ferner die Streitfrage, üb sie als ein- oder zwei-
seitig aufzufassen sei. Nach der türkischen Auffassung
gibt es überhaupt keine zweiseitigen Kapitulationen. Für
den Anfang der türkischen Fremdenpolitik mochte diese
Ansicht auch stimmen, da der Aufenthalt des Fremden
auf ottomanischem Gebiete wesentlich von der Laune
des Sultans abhing und der Stolz die morgenländisclien
Fürsten für ihre Zusicherungen auch gerne das Gewand
der Gnade wählen Hess. Erst später entschloss sich das
osmanische Reich dazu, mit den europäischen Mächten
in Wirklichkeit förmliche zweiseitige Verträge zu schlics-
sen. Der erste derartige Vertrag wird jedoch verschie-
den angenommen. Von Liszt erbhckt den ersten auch
nach türkischer Auffassung zweiseitigen Vertrag erst
in der letzten türkisch-französischen Kapitulation
von 1740,1) während Bonfils „einen wirklich zwei-
seitigen Vertrag** schon in dem venezianisch-türkischen
Abkommen von 1454 erblickt. 2) Für die letztere Auffas-
sung scheint neben der Bezeichnung des Aktes selbst
als Vertrag auch der Umstand zu sprechen, dass mehrere
gegenseitige Versprechen gegeben werden, •^) z. B. die
Zusicherung, dass auch die Türken in venezianischen Ge-
bieten volle Handlungsfreiheit geniessen können. In
der äusseren Form erscheint jedoch diese Abmachung
als durchaus einseitig. Bemerkenswert ist ferner der
16. Artikel dieses Uebereinkommens, der Venedig er-
mächtigt, enisprechend dem bisherigen Brauche einen
Beamten, der den Namen Baüli führt, zu entsenden, und
der Sultan sich verpflichtet, diesem den Beistand des
Paschas von Rumelien zu gewähren, i) So hatte es Vene-
dig, das schon zur Zeit der byzantinischen Herrschaft eine
Vorzugsstellung genoss, durch die Tüchtigkeit seines Ge-
sandten Marcello durchgesetzt, dass seine im osmanischen
1) V. Liszt S. 144.
2) Bonfils-Grah S. 465.
3) Gavillot S. 18.
4) Bonfils-Grah S. 466 5. Abs.
— 19 —
Reiche befindlichen Untertanen die weitgehendsten Pri-
vilegien genossen und hieraus erklärt es sich auch, dass
die anderen Nationen in ihren Kapitulationen mit der
Pforte die Gleichstellung mit den Venezianern als einen
grossen Erfolg bewerteten. (Vgl. die Ausführung von
Martens über die russischen Kapitulationen von 1783 im
Konsularwesen, S. 244.) Diese freundschaftlichen Be-
ziehungen zwischen der grossen Stadt und der Türkei
wurden jedoch des öfteren durch Zwistigkeiten und offene
Kämpfe unterbrochen. Nach einem für Venedig unglück-
lichen Kriege wurde erst im Jahre 147Q ein neuer Vertrag
abgeschlossen, der im wesentlichen die Bestimmungen
des Vertrags von 1454 enthielt, gleichzeitig aber Venedig
zu einer drückenden Tributzahlung heranzog, i) Am
14. Juli 1480 erfolgte die endgültige neuerliche Anerken-
nung der Kapitulation vom 18. April 1454.2) Eine wei-
tere Erneuerung des Vertrages fand im Jahre 1502 ■)
statt, aber unter der Bedingung, dass der venezianische
Konsul immer nach drei Jahren gewechselt werde. Nach
Heyd erhielt Venedig eine neuerliche Bestätigung seiner
sämtlichen Rechte im Jahre 1517.^) (Dieselben wurden,
wie wir bereits erwähnt haben, zur Zeit der Eroberung
von Aegypten für das gesamte ottomanische Staatsge-
biet hinsichtlich der Abkommen mit Aegypten ausge-
dehnt.)
Der letzte Vertrag wurde im Jahre 1540 (20. Okto-
ber) abgeschlossen, nachdem Venedig einen überaus un-
glücklichen Krieg geführt hatte, der ihm zusammen mit
den Friedensschlüssen von 14/9 und vom 14. Dezember
1502 fast seinen ganzen Besitz im Osten mit Ausnahme
von Kreta, Cypern, den Jonischen Inseln und einigen;
Plätzen in Albanien kostete. Als eine freilich kaum
nennenswerte Entschädigung wurden hiefür die Vene-
zianer von der Kopf- und Grundsteuer befreit, aber auch
nur diejenigen, die sich nicht aut ottomanischem Staats-
gebiet angesiedelt hatten. ■')
In diesem Friedensvertrag von 1540 sehen wir be-
reits das Gerippe des ersten türkisch-französischen Ver-
1) Von Hammer Bd. 1 S. 543.
2) Der Vertrag wurde in griechischer Sprache abgeschlossen.
Vgl. Noradounghian Bd I. S. 20. D'Ohsson VII S. 442.
3) Hammer 111. S. 330.
4) Heyd II. S. 330.
5) Dieser Friedensvertrag besitzt italienischen Text und legte
Venedig eine Tributzahlung von 30000 Dukaten aui. Vgl. Miltitz
11. 1, S. 76 fi. Martens S. 183.
— 21 —
träges vor uns. Neben der Zusicherung aller früheren
Handcjsvorrechte wird Venedig für berechtigt erklärt,
alle drei Jahre einen neuen Konsul für den Bereich von
Konstantinopel zu ernennen. Auch hier sehen wir be-
reits den Grundsatz verwirklicht, dass gegen keinen Vene-
zianer ein Prozess geführt werden darf ohne Anwesen-
heit seines Konsuls. Ferner darf kein Venezianer für
die Schulden seiner Landsleute haftbar gemacht werden
und war es den türkischen Behörden verboten, sich in
Streitigkeiten zwischen Venezianern einzumischen. Auch
eine gegenseitige Auslieferungspflicht wurde vereinbart
und das gewohnheitsmässige Strandrecht (d. h. Strand-
raub) für unstatthaft erklärt. Wie wir jedoch bereits an
anderer Stelle ausführten, sank währenddessen die poli-
tische Bedeutung Venedigs immer mehr und das allge-
meine Interesse wandte sich zwei neuen Angelpunkten der
Weltpolitik zu, nämlich Frankreich und dem Habsburger
Weltreiche.
Die Verträge mit Frankreich,
Die gleichen Gründe, die die italienischen Staaten
veranlassten trotz der päpstlichen Bannstrahlen mit den
Moslems Handel zu treiben, waren es auch, die die
anderen europäischen Nationen ihr Augenmerk auf den
Orient richten liess. Ausbau des Handels und Schutz
der Iiiteressei! seiner Untertanen veranlassten den fran-
zösischen Staat, mit seiner ganzen Maclitfülle, seinen Un-
tertanen an die Seite zu treten. Neben diesen wirtschaft-
lichen Erwägungen war jedoch ein Hauptbevveggrund
für diesen französischen Schritt die damalige politische
Lage. Um diese zu verstehen, müssen wir einen Blick
auf die Geschichte des 16. Jahrhunderts werfen.
Suleiman IL war einige Monate nach der Thron-
besteigung Karls V., des erbitterten Feindes Franz L,
zur Herrschaft gelangt. Unter seiner Leitung erreichte
das türkische Reich den Höhepunkt seiner Macht und
die Türken waren damals durch den Besitz Ungarns und
ihren Einfall in Oesterreich die furchtbarsten Gegner
Karls V., der sich gezwungen sah, zur Rettung der öster-
reichischen Hauptstadt ins Feld zu ziehen. Zu gleicher
Zeit bedrohte der Korser Barbarossa mit seinen Flotten
die Handelsschiffahrt des Mittelmeeres. Nach dessen
Vernichtung zog Karl V. gegan Algier und Tunis und
liess gleichzeitig Franz I. durch einen Sondergesandteii
auffordern, seinen Besitz nicht anzutasten, da er für die
— 21 —
gesamte christliche Welt die Waffen ergriffen habe. Un-
ter diesen Verhältnissen suchte nun Franz 1. eine Annähe-
rung an den türkischen Sultan, um so den riesigen Plänen
Karls V. eine Grenze zu setzen. (Vgl. von Hammer, Ge-
schichte des osmanischen Reiches.)
Bereits im Jahre 1528 war Franz I. wegen der fran-
zösischen Handelsinteressen in Aegypten mit Sulei-
man II. in Beziehungen getreten, wobei ein Vertrag zu-
stande kam, der den französischen und katalonischen
Vertretern die gleichen Rechte bestätigte, die sie dort
bereits vor der Eroberung durch die Türken besassen.
Charrierei) und Testa 2) gehen näher auf den Vertrag
ein und betonen vor allem die Konsularjurisdiktion und
einige persönliche Vorzugsrechte der Konsuln, die u. a.
die wichtige Bestimmung umfassten, dass der Konsul
Gegenstände für seinen eigenen Bedarf zollfrei einführen
dürfe, für keine Schulden haftbar gemacht werden könne
und, falls er nicht selbst welche besass, jederzeit un-
gehindert das Land verlassen könne. Auch wurde ihm
die Exterritorialität zuerkannt. Zum Schlüsse dieser Ka-
pitulation wird erklärt, dass überliaupt alles par la voye
ancienne (nach altem Herkommen) fortdauern solle. Bei
der grossen Bedeutung des gewohnheitsmässig einge-
bürgerten Rechtes war diese Bestimmung von nicht zu
unterschätzender Bedeutung. Ihrer Form nach bewegt
sich diese Kapitulation ganz m den Bahnen der im Mit-
telalter den italienischen Staaten gewährten Qunstbe-
zeugungen, war also demnach nichts weiter als ein Gna-
denbrief.
Wie wir bereits oben ausführten, hatte Franz I.
mit der Zeit ein immer grösseres Interesse daran, einer
Kapitulation in der Türkei neben kulturellen, vor allem'
politische Vorteile abzugewinnen, um so sein ^erheblich
gesunkenes Ansehen in Europa wieder herzustellen. Hier-
bei ging Franz I. mit grosser politischer Klugheit vor
und es ist kaum zu bezweifeln, dass seine ehrgeizige
Alutter dabei eine grosse Rolle spielte.
Zunächst wurde während seiner Gefangenschaft ein
Ausländer namens Jean Frangipani nach Konstantinopel
gesan-dt, der dem Sultan einen Brief in bewegten Worten
einen Feldzug in Ungarn anraten sollte. Diese Mis-
sion gelang über Erwarten gut und bereits einige Zeit
1) Charriere Bd. 1 S. 121.
2) Testa Recueii .... Paris 1864 Bd. 1 S. 23. Vgl. Revue
d'histoire diplomatique Paris 1890 S. 551.
später führte der Sultan seinen siegreichen Feldzug gegen
das ungarische Reich durch. ') Zu dieser von Erfolg ge-
krönten Sendung wählte man zunächst einen Nichtfranzo-
sen, da hierdurch dem französischen Könige die Gelegen-
heit geboten ward, sich für den Fall des Nichtgelingens mit
einer Verleugnung seines Abgesandten auf leichte Weise
aus der ganzen Angelegenheit zu ziehen. Er niusste
diese Vorsicht beobachten, da seui ungewöhnlicher Schritt
grosses Aufsehen bei der gesamten Christenheit hervor-
zurufen geeignet war und er für ein misslungenes Werk
sich nicht auch noch die Feindschaft des Papstes aufbür-
den wollte.
Kühn geworden durch das Gelingen der Sendu)ig"
Frangipanis, zögerte der König von Frankreich nun nicht
mehr, seinen Gesandten Jean de la Foret in einer offi-
ziellen Weise nach Konstantinopel zu entsenden und
diesem gelang es auch im Jahre 1535, die erste grosse
Kapitulation zwischen Frankreich und der Türkei zustande
zu bringen. -)
Gemäss diesem Zeitpunkte ist es nur schwer ver-
ständlich, v\ie französische Schriftsteller sagen können,
dass Frankreich auch in dieser Beziehung „an der Spitze
der Zivilisation stehe und dass sein Verkehr mit der
Türkei durch den grossmütigen Wunsch hervorgerufen
sei, diesem Staate das Reis der europäischen Kultur
aufzupropfen". •^) Es ist wohl aber auch übertriebene
französische Eitelkeit, wenn Pelissie du Rausas meint,
dass ,,la premiere Capitulation est une Capitulation fran-
gaise'', abef es kommt hierbei auch auf den Standpunkt an,
den der Autor einnimmt. Betrachtet er seine Behaup-
tung von dem Standpunkte aus, dass der Vertrag von 1533
überhaupt das erste derartige uebereinkommen gewesen
sei, so ist dies zweifellos übertrieben, denn wir haben
1) Pel. du Rausas S. 4 H. Charriere Neg. de la France dans
le Levant Teil I. S. 117 ff. u. Anm.
2) Martens S 186 ff von Miltitz Bd. 11, 1 S. 214 ff. Den
Text siehe Strupp Bd. LS. 11 Noradoungfiian Bd. l. S. 83 ff.
3) Martens S. 185. Am besten erfiellen die wahren Beweg-
gründe Frankreichs aus einem Schreiben, das der Gesandte
iNoailles im März 1572 an den König Karl XI. von Frankreich
richtete. Die für uns in Betracht kommende Stelle lautet: der
dritte Grund um dessentwilien ihre Vorgänger das Einverständnis
zwischen Frankreich und der Pforte bewahrten und aus welchem
es seit 46 Jahren die hochseligen Fürsten Franz der Grosse und
Heinrich noch enger gestalteten, lag darin, dass sie der hervor-
ragenden Grösse des österreichischen Hauses ein Gegengewicht
bieten wollten . . ." fsiehe Antonopoulos S. 106 ff.).
— 2J —
gesehen, dass die Initiative auf diesem Gebiete vor
allem den italienischen Staaten gebührt. ^) Geht man
aber von dem Gesichtspunkte aus, dass diese Kapitulation
der erste zweiseitige völkerrechtliche Traktat zwischen
der Türkei und einem europäischen Staate gewesen sei,
deren Rechten und Pflichten gegenseitig festsetzte, und
nicht mehr in seinem Inhalte den selbstherrlichen Gna-
denbriefen gleichkam, so ist die Behauptung des fran-
zösischen Gelehrten in ernsthafte Erwägung zu ziehen. -)
Auch nach Holtzendorff ist dieses Uebereinkommen von
1535 der erste eigentliche Vertrag, der die Rechtsver-
hältnisse insbesondere die Kompetenz der Konsuln regelt.
Für diese Auffassung spricht auch der Satz am Schlüsse
des ersten Absatzes des Vertrages: au nom et honneur
desdites seigneuries, sürete des etats et benefice de leurs
Sujets, ont traite et conclu les chapitres et accords qui
s'ensuivent. Gleich der erste Artikel beginnt auch :
„Premierement ont traire, fait et conclu . . ."
Für die Zvveiseitigkeit des Vertrag'es spricht auch
der ktzte Abschnitt, der eine Ratifikation innerhalb. 6 Mo-
naten vorsieht, und wobei nicht zu übersehen ist, dass
der Vertrag nur für eine bestimmte Zeitdauer „durant la
vie chacun d'eux** abgeschlossen wurde. Der türkische
Originaltext des Vertrages uar nach Antonopoulcs dem
Gelehrten d'Ohssen bekannt, der einzelne Abschnitte
desselben auch anführt. •^) Bei der grossen Wichtig-
keit dieses Vertrages für die späteren Kapitulationen wird
es von Vorteil sein, die wesentlichsten Punkte desselben
zu erwähnen.
Nach den üblichen Freundschaftsversicherungen, die
sogar auf alle später etwa noch zu erwerbenden Gebiete
ausgedehnt werden, teilt uns der 1. Abschnitt mit, dass
den Vertrag einerseits Sultan Suleiman II. abschloss, der in
den Fragen ,-,des calamites et inconvenients, qui ad-
viennent de la guerre", von seinem Kriegsminister Ibra-
him unterstützt wurde, und andererseits König Franz I.,
der durch le Sieur Jean de la Foret, conseille-secretaire
et ambassadeur du tres-excellent et tres puissant princc
1) Von Martens-Berbohm Völkerrecht Berlin 1886 Bd. II. S. 68.
2) Von Martens S. 186. Lippmann Konsularjuristiktion im Orient
Leipzig 1898 S. 57 ff. Von Miltitz Bd. I. S. 524 von Hammer
Bd. II. S. 122. Bonfils-Grah S. 466, Pei. du R. S. 3 ff. Von dem
Vertrage selbst gibt es nur italienische und französische Ueber-
setzungen. (Travers-Twiss S. 454).
3) Moutljurea d'Ohsson, Tableau general de I'Empire ottoman
Paris 1791. Antonopoulos S. 94 ff.
— -'4 —
Frangois", vertreten wurde. Der wesentliche Inhalt des
für die Folge sehr bedeutsamen Vertrages vom Februar
1535 bestund in der Zusicherung von weitestgehenden
Rechten an die Franzosen, wobei wir sehen, dass die
Artikel 1, 2, 10, 11, 13, 15 zweiseitigen Charakter tra-
gen, während die übrigen Artikel mehr Gegenstände
der inneren Verwaltung regeln.
Zunächst wird im ersten Artikel gegenseitig freie
Schiffahrt zugesichert und völlige Sicherheit für Person
und Habe der Untertanen der beiden vTrtragschliessen-
den Staaten an allen Orten Frankreichs" und der Türkei
„de maniere que tous ies sujets et tributaires desdits
seigneurs, qui voudrent, puissent librement et sürement
. . naviguer, . . . demeurer, conserver et retourner aux
ports, cites et quelconques pays, Ies uns des autres, pour
ieur negoce, memement pour iait et compte de marchan-
dises." Der Handel selbst sollte durch keinen will-
kürlichen Zwang behindert werden (Angarie).
Im 2. Artikel wird den beiderseitigen Untertanen
volle Handelsfreiheit zugesichert, so dass „lesdits sujets
et tributaires desdits seigneurs pourroiit . . . acheter,
vendre, changer, conduire et transporter par mer et par
terre, d'uii pays ä l'autre toute sorte de marchandises
non prohibees''.
Es wird auch bestimmt, iass kein Türke in Frank-
reich und kein Franzose in der Türkei besondere Ab-
gaben zu leisten habe, ausser den „coutumes daces et
gabelles ordinaires'*. Im 3. Aitikel wird festgestellt, dass
der König von Frankreich das Recht haben soll, ebenso
wie nach Alexandrien, auch nach Konstantinopel und
Pera sowie an andere Orte des osmanischen Reiches
einen „Baille*', Konsul, zu entsenden, i) Selben wird
das Reciit eingeräumt, alle Zivil- und Strafsachen, die un-
ter den Kaufleulen und anderen Untertanen des franzosi-
schen Königs entstehen sollten, aburteilen zu dürfen und
zwar nach eigenem Recht („selon Ieur foi et loi sans
qu'aucun juge, cadi, sousbachi, ou autre en empeche*').
Sollte zufällig ein türkischer Richter ein Urteil gefällt
haben, das über eine solche Angelegenheit bestimmte, so
sollte dieses nichtig sein (de-nul effet). -) Im 4. Artikel
1) Lehmann S. 19. Unter Bezugnahme auf Alexandrien können
wir auch eine Anlehnung an die Kapitulation von 1528 erblicken.
2) Dies hatte nur eine Ausnahme falls die Parteien selbst
<lieses Gericht gewählt hatten. Wie die meisten anderen Staaten
verbot jedoch Frankreich bereits durch ein Edikt von 1778 art. 2
den Franzosen sich gegenseitig vor türkischen Gerichten zu verklagen.
— 25 —
Avird bezüglich etwaiger Streitigkeiten zwischen Türken
und Franzosen festgestellt, dass die Kaufleute und Un-
tertanen des Königs von Frankreich durch zivilreclitliche
Klagen eines Türken nicht belästigt werden dürfen, es
sei denn, dass letzterer ein Schriftstück aus des Hand
•des Gegners, des „heudjer" des Kadi; oder des Konsuls
vorzeigen kann. Auf jeden Fall ist aber die Anwesenheit
eines französischen Dragomans unbedingt erforderlich.
Der 5. Artikel behandelt die Strafsachen und bestimmt,
dass französische Untertanen, die an türkischen Staatsan-
•gehörigen ein Verbrechen verübt haben, nur von der
hohen Pforte selbst verurteilt werden können, zu deren
Vertretung aber auch der erste ,, Leutnant des Sultans^'
befugt ist. Die bei allen späteren Kapitulationen stets
wiederkehrende Zusicherung der Religionsfreiheit ist auch
bereits in dieser Kapitulation enthalten, deren 6. Artikel
bestimmt, dass französische Untertanen wegen ihres Glau-
bens keinen Belästigungen und Verleumdungen ausge-
setzt sein sollen, ein Zugeständnis, das bei dem religiösen
Fanatismus der Muselmänner von grosser Bedeutung
•war.
Gemäss den Besdmmungen des 7. Artikels sollten
.auch die Franzosen keine Haftung für Schulden von
Landsleuten tragen. Es wird nur verlangt, dass der fran-
zösische König gerecht urteilen solle, falls der Schuldner
•einst in sein Land zurückkehren sollte (Prinzip der indi-
viduellen Verantwortlichkeit). Im 8. Artikel wurde die
Unverletzlichkeit franzosischen Eigentums zugesichert und
bestimmt, dass keine Wegnahme desselben ex iure anga-
riae stattfinden dürfe. Ein grelles Schlaglicht auf die
damaligen Zustände wirft auch die Bestimmung dieses
Artikels, dass weder französische Kaufleute, noch deren
Angestellte oder Schiffe zu Zwangsdiensten herangezogen
werden dürfen. Von wesentlicher Bedeutung war auch
•das Recht der Testierfreiheit, das den Franzosen gemäss
Art. 9 die Unverletzlichkeit ihres Nachlasses zusicherte.
Falls kein letzter Wille vorhanden sein sollte, übt der
Konsul die freiwillige Gerichtsbarkeit für die Nachlass-
verwaltung aus, und nur falls kein solcher vorhanden ist,
der Kadi. (Eine ganz ähnliche Bestimmung treffen v.ir
bereits in der venezianisch-türkischen Kapitulation von
1454.)
Bedeutungsvoll ist ferner der 10. Art., der wieder auf
•Gegenseitigkeit beruht. Er betrifft die Freilassung der
^beiderseitigen verknechteten .Angehörigen, welcher auch
— 2G —
ein etwa erfolgter Olaubenswechsel nicht hinderlich sein
soll. Neue Versklavung ist Friedensbruch und dem ge-
schädigten Staate wird vollstes Bestrafungsrecht zuer-
kannt („si aucun corsaire ou autre homme des pays
de Tun desdits seigneurs attentait de faire prise ou
violence sur la robe ou les personnes de l'obeissance de
l'autre scigneure . . . le punir comme infracteur de la
paix*')- Von der Courtoisie en mer handelt der 11. Ar-
tikel, >der bestimmt, dass französische und türkische Schiffe
sich gegenseitig durch Hissen der Flagge zu begrüsscn
haben und dass jede Durchsuchung oder Belästigung
ausser an den festgesetzten Orten zu vermeiden sei.
in den folgenden Artikeln wird noch bestimmt, dass
die einlaufenden französichen Schiffe gegen angemessejie
Bezahlung jegliche Unterstützung zu erhalten haben. Eine
Durchsuchung dürfe nur am Ausgang aus den Darda-
nellen stattfinden. Für den Fall eines Schiffbruchs be-
stimmt Art. 13, dass eine Anwendung des Strandrechts
auf Franzosen unzulässig sei und dass deren Eigentum
im Falle eines etwaigen Todes dem Konsul zu übergeben
sei, der von den betreffenden Ortsbehörden auf Ver-
langen jede Unterstützung zu erhalten hätte.
Die Unantastbarkeit französischen Besitzes zeigt be-
sonders der 14. Artikel, der davon spricht, dass ein
entlaufener Sklave in keinem französischen Hause gesucht
werden dürfte, sondern dass dies vielmehr den betreffen-
den Franzosen selbst anheimgestellt werden müsste. Für
den Fall der Auffindung des Sklaven soll derselbe seinem
rechtmässigen Eigentümer wiedergegeben, der „Rece-
leur*' vom Konsul bestraft werden. Ferner wurde fest-
gesetzt, dass sowohl Türken wie Franzosen erst nach
zehnjähriger Anwesenheit in dem einen oder anderen
Lande Steuern und Zwangsdienste auf sich zu nehmen
hätten. Diese Bestimmung, von der die Franzosen in-
folge der Unlust der Türken ins Ausland zu gehen den
Hauptvorteil zogen, suchten sie schliesslich noch gänz-
lich hinfällig zu machen, indem eine französische Ordo-
nance vom 21. März 1731 Art. 2 den Franzosen einen
längeren Aufenthalt als von 10 Jahren in der l.evante
verbot. ^)
Von Interesse ist ferner der 18. Artikel, der dem
Papst, England und Schottland den Beitritt offen hält,,
allerdings nur für die Dauer von 8 Monaten. Trotzdem
1) Vgl. D€\. S. 53 Anm. 1.
— 27 —
lehnte es England ab, der „uneigennützigen Zivilisations-
wut" Frankreichs eine drückende Schützlingsstellung zu
verdanken!) und schloss, wie noch zu behandeln sein
wird, im Jahre 1580 mit Murad III. selbst eine Kapitu-
lation ab.
Im übrigen ist die Kapitulation von 1533 im Wesent-
lichen, wie wir sehen konnten, teils dem ägyptisch-fran-
zösischen Abkommen von 1528, teils den venezianisch-
türkischen Abmachungen unter Hinzufügung von einigen
neuen Bestimmungen nachgebildtl
Spielten bei der AbschliessuHg dieses ersten Ver-
trages im Wesentlichen auch politische Gesichtspunkte
mit, so sah sich Frankreich späterhin genötigt, aus rein
kurlturellem Interesse zum Schutze seiner Untertanen die
crv/orbenen Rechte bestätigen und, falls nötig, auch
erweitern zu lassen. Wie erinnerlich, wurde die Kapitu-
lation von 1535 für die Lebensdauer der beiden Herr-
scher abgeschlossen, sodass das Ableben Franz !. den
zweiseitigen Vertrag gleichsam ohne Gegenkontrahenten
Hess. Trotzdam verkannte Heinrich II. teilwei.^e die
grosse Bedeutung des von Franz I. begonnenen Unterneh-
mens, und schloss trotz des Bundesvertrages gegen Spa-
nien vom Jahre 1555 den Frieden von Chateau Cham-
bresi ab, ohne den türkische-i Sultan Suleiman in Be-
tracht zu ziehen. -) Die gleiche, den Erfordernissen der
Zeit gegenüber ziemlich wesensfremde Politik trieb zu-
nächst auch Karl IX., bis ihn ein Zufall zum Abschluss
einer neuen Kapitulation brachte.
Charriere teilt mit, dass ein portugiesischer Händ-
ler (der spätere Herzog von Naxos), der in der Gunst
des Sultans sehr hoch stand, bei demselben den franzö-
sischen König als seinen Schuldner verklagte, und VvCgen
des ohnehin gespannten Verhältnisses zwischen Karl IX.
und SoHman auf die französischen Schiffe Beschlag legen
1) Dass auch die übrigen Staaten das Protektorat Frankreichs
nicht gerne sahen, erhellt auch aus dem bereits erwähnten Schreiben
des Gesandten Noailles von 1572 worin dieser darüber klagt, dass
es in Italien und Spanien keine einzige kleine Provinz gäbe, welche
die Gelegenheit vorübergehen liesse (in der Türkei) ihren eigenen
Konsul zu ernennen, um sich auf diese Weise von dem Schutze
Frankreichs zu befreien, der ihnen doch immer so nützlich ge-
wesen wäre- (Siehe Charr. Neg. Bd. 3 S. 223.j
2) Nichtsdestoweniger gelang es Heinrich II. andererseits die
Stellung der französischen Konsuln in Palästina zu einer allmäch-
tigen zu machen, sodass sie auch consuls des pelerins genannt
wurden, da sie allen nach Palästina wallfahrenden Pilgern vor-
standen. Siehe von Martens S. 190.
— 28 —
licss. Demgegenüber konnte Frankreich nicht mehr taten-
los bleiben, wie es dies bisher bei der alexandrinischen
Konsulatswahl den Marseillern und Türken gegenüber
getan hatte, und beauftragte einen besonderen Gesandten,
bei der Pforte Protest einzulegen. Einen richtigen Er-
folg zeitigien jedoch diese Beschwerden erst nach dem
Ableben Solimans und erst am 18. Oktober 1569 wurde
eine neue Kapitulation zwischen Karl IX. und Selim 11.
abgeschlossen, i) Diese Kapitulation war jedoch nicht
mehr ein zweiseitiger Vertrag, sondern der äusseren
Form nach vielmehr ein Gnadenbrief. -) Vielfach wird
sie auch als „Lettres-patentes" bezeichnet. Auf den
einseitigen Charakter deuten schon die selbstherrlichen
Worte gleich zu Beginn dieser Kapitulation hin: „nous
avon accepte et accorde et, en outre, concedc cette pre-
sente notre capitulation**. ^) Zunächst werden in die-
ser Kapitulation die einzelnen Abmachungen derjenigen
von 1535 wiederholt, die jedoch durch einige neuere Be-
stimmungen eine wichtige Ergärfzung erfahren. In den
ersten Bestimmungen finden wir eine Erneuerung der
Bestimmungen über die Freiheit der Schiffahrt und die
Unterdrückung des Piratenwesens,*) ferner wird neuer-
dings jeder Strandraub strengstens untersagt, jedoch .unter
der Voraussetzung, dass sich die Franzosen in den tür-
kischen Gebieten nur mit ihren eigenen Angelegenheit-jn
beschäftigen und sich friedlich innerhalb ihrer Grenzen
verhalten.
In dem Vertrag von 1535 konnten wir sehen, dass
die individuelle Haftpflicht sich auf die Schulden er-
streckte, während Art. 4 der Kapitulation von 1569 sie
auch auf Delikte ausdehnt. (Au cas qu'aucun des Fran-
qais se trouve debiteur, ou en quelque autre sorte füt
toupable et s'enfuit . . . .")
Da wegen des stark verbreiteten Fremdenhasses die
Ausländer für ihre Behauptungen oft nur wenig Glauben
fanden, bestimmte der 6. Artikel, dass Geschäfte von her-
vorragender Wichtigkeit stets schriftlich abzuschliessen
und in öffentliche Bücher einzutragen seien. Dies war
gegenüber dem unsicheren Zeugenbeweise für die Frem-
den von grossen Vorteil. Aus dem gleichen oben an-
1) Charrifere Bd. 3 S. 60 Bd. H. S. 70 ff. Martens S. 191.
2) Martens S. 192 Lippmann S. 61 Miltitz Bd. 2, 2 S. 102 ff.
■der Text befindet sich bei Noradounghian S 88 ff.
3) Vgl. Noradoungfiian.
4) Vgl. auch art. 17 über die Bestrafung der Schuldigen.
— 29 —
geführten Grunde sah man sich veranlasst, eine Be-
stimmung gegen Verleumdung französischer Untertanen
zu erlassen, da nicht selten derartige falsche Anschuldi-
gungen zu Erpressungen benutzt wurden. (Vor allem
wurden ihnen oft ReligionsJästerungen vorgeworfen.)
Bezüglich des Sklavereivvcsens bestimmte der 8. Ar-
tikel, dass, falls ein Sklave von einem französischen Kon-
sul als Franzose bezeichnet würde, derselbe sofort an
die Regierung in Konstantinopel zu schicken sei. ^)
Während die Kapitulation von 1535 eine Besteue-
rung von Franzosen nach zehnjährigem Aufenthalte im
Lande zuliess, bestimmt der Art. 9, dass „de France et
des lieux ä eile soumis les 'hommes qui habitcnt nos-
dits pays et cites, maries, ou non maries, faisant trafic
marchandise, ou autre exercice, de ceuxlä ne sera dc-
manjde tribuf*.
Von Interesse ist auch ferner der 10. Artikel, der eine
Versetzung der in Alexandrien, Tripolis, Syrien, Algier
und sonstigen Plätzen befindlichen Konsulate sowie eine
stete Erneuerung des Konsulatpersonals durch geeig-
nete Personen gestattete.
Wenn wir bis jetzt durch die Bestimmungen der ein-
zelnen Artikel immer auf türkische Ausstände auf-
merksam gemacht wurden, so zeigt uns der 11. Artikel
auch solche auf französischer Seite, Er spricht ganz
offen- davon, dass die Franzosen das Erfordernis der An-
wesenheit ihres Dragomans nicht zu einer Verschlep-
pung des Prozesses selbst ausnützen dürfen. -)
Eine Durchsuchung französischer Schiffe soll nach
Art, 14 nur bei der Durchfahrt durch die Dardanellen
zulässig sein. Da sich die gleiche Bestimmung bereits
in der Kapitulation von 1535 vorfmdet, so kann sich ihre
verschärfte Wiederholung wohl aus einer Verletzung die-
ser Zusicherung erklärlich machen. Eine solche Hessen
sich die türkischen Behörden im Laufe der Zeit auch tat-
sächlich zuschulden kommen, indem sie das Durch-
suchungsrecht willkürlich auch auf Gallipoli ausdehnten.
1) Der Text des Art. selbst lautet: Advenant qu'il se trouve
esclaves franpais ou qui soient soumis ä la France, et que ieurs
consuls certiJient etre Frangais, voulons que semblabies esclaves
et Ieurs maitres, ou du moins ieurs procureus soient incontinent
mandes et envoyes ä'notre tres-haute cour, et fait ä ce qu'en
icelle Ieurs causes soient vues et entendues.
2) Aussi ne iaut-ii qu'ils fassent cavillation, disant ledit inter-
prete n'est ä present et ne i'entretiendrant, mais le prepareront.
(siehe Nor. Bd. 1. S. 92). Martens S. 193. Lippmann S. 61.
— 30 —
Dem sollte durch die neue Abmachung von 15öQ aus-
drückhch vorgebeugt werden.
Nachdem noch im 15. Artikel die gegenseitige Bc-
grüssung der Schiffe wieder festgesetzt wurde, folgt im
Art. 16 die interessante Bestimmung, dass im übrigen
die Franzosen alle den Venezianern gewährten Rechte
gleich beibehalten sollten. Da jedoch Frankreich sicher-
lich keine geringeren Privilegien als Venedig besass, so
kani! es sich hier nur um die gewöhnliche Meistbegün-
stigungsklausel handeln, wie wir eine solche bereits bei
Genua (1453) sahen. Zum Schlüsse der Kapitulation
wird nochmals allen in Betracht kommenden Stellen (nos
lieutenants-generaux de nos provinces et gouverneurs,
capitaines, nos esclaves, les juges ordinaires des Lieux,
les donaniers, maitres et capitaines de nos vaisseaux et
d'autres vaisseaux volontaires**) die genaue BefoJgung
der vorstehenden Bestimmung zur Pflicht gemacht
(Art. 18).
Hervorzuheben ist an dieser Kapitulation ferner der
Umstand, dass der mittelalterliche Grundsatz „actor se-
quitur forum rei'* durch den 11. Artikel endgültig be-
seitigt wurde, nachdem bereits die Vereinbarung von
1535 dies im Prinzip ausgesprochen hatte. Es zeigt von
dem erwachenden Selbstgefühl des türkischen Sultans,
dass dei selbe es seiner nicht mehr würdig erachtet, dass
türkische Staatsangehörige ihre Klage vor dem Konsu-
largerichte des französischen Untertanen erheben sollen.
Ferner sehen wir bereits im Eingang der Kapitulation
eine Art Protektoratstellung Frankreichs gegenüber den
anderen Nationen ausgesprochen, die sich noch nicht im
Besitze einer Kapitulation befanden. Das Wort Pro-
tektorat selbst wurde freilich noch nicht angewendet, ^)
wie dies erst später in dem Traktate von 1740 geschah.
Diese Protektoratstellung hatte ihre Ursache in dem leb-
haften Wunsche aller Nationen, im Orient eine möglichst
geschützte Stellung einzunehmen. Wie wir bereits aus-
führten, war dies bei dem Charakter des türkischen Rechts
nur auf Grund von Verträgen möglich, zu deren Abschlies-
sung oft langwierige Verhandlungen nötig waren, zu
deren Leitung sich nicht jeder kleine Staat einen eige-
nen Gesandten leisten konnte. Wollten sie sich daher die
gossenr Handelsvorteile nicht entgehen lassen, so blieb
ihnen nichts anderes übrig, als sich unter den Schutz
1) Bosset, de la jur. cons. Lausanne 1908.
— kl-
einer grossen, mit weitgehenden Vergünstigungen ausge-
statteten Macht zu stellen. (Vcrgl. die consuls des pele-
rins Frankreichs in Palästina.) Vor allem war es das
französische Reich, das diesen Faktor zum Ausbau einer
drückenden Vorherrschaft im Orient zu benutzen ver-
stand. Neben der politischen Bedeutung infolge der Aus-
dehnung seines Einflusses, verschafften diese „Beschüt-
zungen" dem betreffenden Staate auch eine schöne Sum-
me an Konsulatseinnahmen (vergl. Charriere und Rey).^)
Die englischen Bestrebungen zur Erreichung einer
Kapitulation.
Bei der oben geschilderten Sachlage hatte Frankreich
naturgemäss ein grosses Interesse daran, sich auf dem
Gebiete der Protektoratsherrschaft keine Konkurrenz
grosszuziehen. Aber trotz seiner heissen Bemühungen
sollte ihm dies nicht einmal bei Genua, geschweige dann
bei England gelingen. Wie wir bereits hervorhoben,
folgte England der im vorletzten Abschnitt der französi-
schen Kapitulation enthaltenen Einladung zum Beitritt
nicht, sonciern versuchte selbst eine Kapitulation zu er-
wirken. Von Hammer berichtet uns über deren Vor-
geschichte, dass dl ei englische Kaufleute Harebonie,
Eibron und Stapny den Sultan um ein Schreiben an ihre
Königin Elisabeth baten. Nachdem si^ dies durch reiche
Oeschenke erreicht hatten, kam es zu einem regen Brief-
wechsel beider Staatsoberhäupter. Frankreich hatte nun
niclits Eiligeres zu tun, als an einer Widerrufung aller
den Engländern bisher gewährten Rechte zu arbeiten..-)
Eine Zeitlang sollte ihm dies auch gelingen und die Kapi-
tulation aus dem Jahre 1581 bot Frankreich zunächst
volle Entschädigung.
Die französisch-türkische Kapitulation von 1581.^)
Der eigentliche Inhalt ist zunächst nur eine VJ/'ieder-
holung der bereits früher bebandelten Bestimmungen.
Aber ein deutliches Schlaglicht auf das Ziel der fran-
zösischen Politik wirft ein Artikel, der bestimmt, dass
„Venezianer, Genuesen, Engländer, Portugiesen, Katalo-
nier, Bürger von Ancona und Ragusa**, nur mehr unter
1' Rey. S. 1, 37 if. Charriere Bd. 2 S. 490 Bd. 2 S. 746 Anm.
Hammer Geschichte Bd. 3 S- 464.
2) Vgl. Charriere Bd. 3 S. 884, 924.
3) Vgl. den Text siehe Miltitz Bd. li. 2 S. 106—111. Treaties
Turley S. 179 i\. Un ancien diplomate S. 85 ff.
— 32 —
dem Schutze Frankreichs Handel treiben und sich in der
Türkei ansiedeln dürfen, i) Wir sehen hier bereits die
Klausel der „Unwiderruflichkeit'* angeführt, trotz des
äusseren Charakters eines Gnudenbriefes.
Dieser Erfolg Frankreichs sollte jedoch nicht von
nachhaltiger Wirkung sein. Wenn es auch den üesandten
Frankreichs in den Jahren 1554 und 1578 gelang, die Be-
mühungen Genuas, Toscanas und Ragusas hinsichtlich
eigener Konsulate zunichte zu machen, so sollten sie doch
bei den Engländern auf gleichwertige Diplomaten stosscH.
Nachdem es zunächst dem französischen Gesandten M. de
Gcrminy gelungen war, den Engländern die ersten Früch-
te ihrer Beinühungen formeil wieder zu entreissen, so
musste er es doch zugeben, dass Herborne (Harebronne)
der Titel Gesandter verliehen und der ausdrückliche Auf-
trag gegeben wurde, schnellstens zu handeln. -)
Dass England hierbei nicht immer mit den lautersten
Mitteln zu Werke ging, zeigt uns eine Stelle bei Pellissie
du Rausas, der davon spricht, dass England, um sich bei
der Pforte einzuschmeicheln, nicht davor zurückschreckte,
sich als ausserhalb der christlichen Staaten stehend zu
bezeichnen. Der religiöse Glaube der Engländer hätte
sich nämlich nach dem Bildersturm dem der Türken
erheblich genähert. •^) Umso auffallender ist daher der
Titel, den sich die Königin Elisabeth in einem Schreiben»
an den Sultan beilegt. Sie bekennt sich hier als „wahre,
unüberwindliche und grossmütigste Vorkärnpferin des
wahren Glaubens wider die den Namen Christi falsch
bekennenden Götzendiener".^)
Durch diese verschiedenen -Machenschaften gelang
es' England schliesslich im Mai des Jahres 1583 .eine
Kapitulation zu erhalten, die von Harborne im Namen der
Königin von England, und vom Grossvezier im Namen des
Sultans Murad III. unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag
ist in seinen ersten 12 Artikeln, wie Rausas anführt,,
„l'exacte reproduction de la Capitulation frangaise de
1) Der Text dieser Stelle lautet: „Que les Venetiens en hors
les Genois et Anglais et Portugals et Espagnols, et marchands
Catalans et Siciliens et Ancönitains, et Ragusais et entierement
tous ceux qui ont chemine sous le nom et banniere de France
d'anciennete jusqu'ä jourd'hui et en la condition qu'ils ont chemine,
que d'ici en avant, iis ayent äycheminer de la meme maniere."
2i Vgl. Charriere T. II. S. 793. T. III. S. 255. Hammer Ge-
schix;hte II S. 512 ff.
3) Pellissie du Rausas S. 34 (Bd. I.)
4) Hammer Geschichte S. 313.
— 33 —
!^i ' i^ f" % 1^^^' ^'^""^^ genügte England nicht, und
im Laufe der Zeit wurden die Beziehungen zwischen der
Pforte und dem enghschen Reiche immer inniger.. 2)
Mit der den Englandern eigenen Geschickhchkeit ver-
standen es deren Konsuln, ihre Stellung auf das Wirk-
samste auszubauen und ihren Protesten nachdrückliche
Wirkung zu verschaffen. (Vgl. auch Martens S. 223)
Spaterhm wurde diese Kapitulation noch des öfteren be-
ll^i^3^""p ^^"^uert. So im Jahre 1593 und im Jahre
1603. 3) Ferner wurde eine neue Kapitulation abge-
schlössen im Jahre 16061) (nach Hammer 1604) unter
krt? Tl ' n- -^'^l' ^^^f> ""^''' ^''^ ^- ""d 1675 unter
Karl II. Diese Kapitulation vom September 1675 ent-
hielt im Art 18 die MeistbegünstigungsklauseF) und
gewahrt England in reiner Privilegienform nebst der Er-
laubnis zur Errichtung verschiedener Konsulate vollste
Handelsfreiheit (Art. 25) einen dem französischen und
venezianischen Zolltarif gleichen Prozentsatz und im übri-
gen die gleichen Rechte, wie wir sie in den früheren
Kapitulationen kennen gelernt haben 7)
Bestätigt wurde diese Kapitulation durch die Abkom-
men vom 5. Januar 1809, 16. August 1838 und 29. April
Die französische Kapitulation vom Jahre 1597 »)
Qi y^^'r.^^ ^}^^^7 Frankreich, das als der mächtigste
Staat im Orient jeden Rivalen zu erdrücken versuchte imd
möglichst viel Schützlinge um sich sammeln wollte so
trat jetzt England an seine Stelle. Pellissie du Rausas
betont mit vollem Recht, dass England nach seiner Ge-
wohnheit die Welt vor eine vollendete Tatsache, ein fait
accomph, stellte, indem es eine florentinische Kolonie in
1) Rausas Bd. I. S. 35.
2) Von Miltitz Bd. II. S. 781.
3) Siehe Noradounghian Bd. I. S. 37 Bd. I S 38
4) Siehe Miltitz Bd. II 2 S. 785, Nor. Bd. I. S 39
5) Noradounghian 1624. Siehe daselbst Bd. I S. 45
i.nJ^. r'' '^1''^ siehe Nor. Bd. I. S. 146. Der Text dieses art 18
Fr.n^=;iJ''"' les Privileges, articies et capitulations accordes aux
Francais, aux Venitiens et ä d'autres Princes, qui entretiennent
des rapports d'amitie avec la Subline Porte, äyant egalem entl?e
accordes par faveur aux Angiais . . " g-iemeni ete
vom^THh„wk-'.c?K-"''^ ^'"' "^'^ Befreiung vom Charadsch und
Jo^ u ^•'^.^ssabie; ausgesprochen (siehe art. 13 u. 32)
8) Siehe Nor. S. 37. Bd. 1. Den Text siehe bei un anc. dipl
_ 34 —
Alexandrien von dem französischen Protektorate ab-
spenstig machte und unter seinen eigenen Schutz stenite.
Dies führte alsbald französischerseits zu diplomatischen
Schritten, denen England die Lage Frankreichs entgegi^n-
hielt die diesem die Besorgung seiner eigenen Angele-
genheiten auf das Höchste erschwere, um wieviel mehr
diejenigen fremder Staaten. Aber erst nach langwierigen
Verhandlungen sollte es Frankreich gelingen, gegen diese
Intriguen soweit anzukämpfen, däss seinen berechtigten
Handelsinteressen in einer Kapitulation vom 25. Februar
1597 Rechnung getragen wurde. Eine Vernichtung der
Stellung Englands, wie es die französische Regierung
beabsichtigte, sollte jedoch nicht mehr gelingen.
Zwar bestätigt diese Kapitulation fast noch aus-
drücklicher als die früheren die alleinigen Rechte Frank-
reichs bezüglich der Protektion der fremden Nationen,
aber nunmehr sind hievon nicht nur die Venezianer, son-
dern auch die Engländer ausgenommen. („De nouveau
nous commandons que, les Venetiens et Anglais en lä,
toutes les autres nations ennemies de notre Grande
Porte, les quelles n'ont d'ambassadeur ä icelle, . . .
elles aient d'y marcher sous la banniere de France . . /') i)
Von den gegenseitigen Ränken der beiden Staaten zeigt
auch ein Satz des 1. Artikels, der darauf hinweist, dass
der englische Gesandte den Anordnungen Frankreichs
keine Hindernisse in den Weg legen sollte. Im übrigen
werden Konterbandeb'estimmungen für verschiedene Wa-
ren, wie Leder, Wolle usw., aufgehoben und den türki-
schen Behörden untersagt, auf die Franzosen beim Wech-
seln ihres Geldes einen Zwang auszuüben. -) Neuerdings
verschärft werden die Anordnungen zur Steuerung des
Piratenunwesens. Von jetzt ab soll die französische
Regierung bei echtigt sein, für die ihren Untertanen durch
Seeräuberei zugefügten Verluste vollen Schadenersatz zu
verlangen. Auch hier findet sich schon der später in
der Kapitulation von 1740 genauer ausgeführte Satz, dass
französische Staatsangehörige, die auf feindlichen Schif-
fen gefangen genommen werden, sofort wieder freizu-
geben sind. Diese Bestimmung sollte jedoch nicht gelten,
falls Franzosen auf Kaperschiffen angetroffen würden.^)
Ferner sehen wir die Konsularexterritorialität ausgespro-
1) Vgl. auch Rausas Bd. 1. S. 37.
2) Vgl. das Memorandum des Gesandten Heinrich iV. Savary
de Breves bei Testa Bd 1. S. 454.
3) V,'l IUI Oh. S. 7Ü.
— So-
eben und eine Besteuerungsfreiheit der bei der fran-
zösischen Gesandtschaft angestellten Dragomane. Inter-
essant ist auch die Verordnung, zufolge der alle Gebühren
für das Ein- und Ausladen von Waren auf französischen
Schiffen an die französischen Behörden zu entrichten sind.
Miltitz charakterisiert diese Kapitulation in Kürze
mit ungefähr folgenden Worten: Es sei am 25. Februar
1597 ein Vertrag und Kapitulation zwischen Heinrich IV.
und Muhamed III. zu Gunsten der Gesandten von Frank-
reich usw. sowie für die französischen Kaufleute in der
Levante abgeschlossen worden, sowie für jede andere Na-
tion, die im Begriffe sei, mit der Türkei Handel zu trei-
ben und zwar unter der Bedingung, dass sie unter der
Flagge und dem Protektorate des Königs von Frankreich
fahre, i)
Die Kapitulation mit Frankreich vom Jahre 1604.
Mit den Erfolgen des Jahres 15Q7 gab sich Frank-
reich nur kurze Zeit zufrieden. Bereits 7 Jahre spater
bei der Thronbesteigung Achmeds 1. Hess sich die fran-
zösische Regierung die Kapitulation von 1597 ausdrück-
lich bestätigen. Bezüglich der Protektoratstellung hat der
6. Artikel der neuen Kapitulation fast den gleichen Wort-
laut wie der 1. Artikel derjenigen von 1597, nur mit dem
bemerkenswerten Unterschiede, dass die fremden Na-
tionen nicht mehr „les autres Nations ennemies'', son-
dern „les autres Nations alienees'* genannt werden.
Auch wird ausdrücklich daraui hingewiesen, dass der
englische Gesandte niemals die verschiedenen Nationen
hindern dürfe, sich unter den Schutz Frankreichs zu
begeben.-) Von Martens-Bergbohm zeigt an der Hand
des 4. Artikels, wie gross das die anderen Staaten nie-
derdrückende Bestreben Frankreichs war, möglichst viele
unter seine Obhut zu bringen und nur wenn sie unter
französischer Flagge segelten, sollten sie den gleichen
Schutz wie die Franzosen selbst geniessen. ••) (Also eine
ganz ähnliche Bestimmung wie in der Kapitulation von
1) Siehe von Miltitz Bd. II. 2 S. 111 (1839).
2) Der Text der Kapitulation vom 20. Mai 1604 befindet sich
bei Nor. Bd. I. S. 93 H. Siehe art. 4: „. . . et generalement toutes
autres nations, quelles qu'elles ,soient, puissent librement venir
trafiquer par nos pays, sous l'aveu et sürete de la bannifere de
France, laquelle ils porteront comme leur sauvegarde . . ." Vgl.
art. 6.
3) Von Martens-Bergbohm Bd. 2. S. 88 Völkerrecht. Wortlaut
des art. 4 siehe unter Anm. 2.
_ 36 —
1597.) Bemerkenswert ist auch, dass in diesen ersten
Artikeln festgesetzt wurde, dass Venezianer und Eng-
länder französischen Konsuln Gehorsam schuldig seien,
wenn sie bei Streitigkeit untereinander oder mit türki-
schen Staatsangehörigen deren Schutz geniessen wollten.
Dies zeigt deutlich die grosse Rivalität zwischen Frank-
reicli und England, da ja letzterer Staat bereits seit 1580
seinen Gesandten bei der türkischen Regierung hatte, i)
Im Art. 3 ist neuerdings das Zeremoniell für den
französischen Gesandten, Konsul usw. festgesetzt und be-
stimmt, dass weder sie noch die französischen Kaufleute
beunruhigt oder belästigt werden dürfen. Art. 41 be-
stätig-t ferner das Recht der französischen Regierung in
Alcxandrien, Tripolis (Syrien), Algier und in den anderen
Städten des ottomanischen Staatsgebietes Konsulate zu
errichten oder zu versetzen, ohne dass die türkischen'
Behörden sie daran hindern dürfen. (Vgl. Art. 10 der
Kapitulation von 1569.) Den Konsuln selbst wird wieder
Exterritorialität zugestanden und festgesetzt, dass Klagen
gegen sie nur vor die hohe Pforte gebracht werden dür-
fen, die darüber Recht sprechen werde. Art. 22 bestätigt
die' Steuerfreiheit der Dragomane und der Dolmetscher,
die sich in den Diensten des Gesandten befinden. Des-
gleichen sollen alle Gegenstände, die für den persön-
lichen Gebrauch des französischen Gesandten bestimmt
sind, vollkommen steuerfrei sein (ne soient sujette ä
aucunes taxes ou impots). Hinsichtlich des Zeremo-
niells soll der französische Gesandte als Doyen gelten
und demnach den Vorantritt vor allen anderen Botschaf-
tern besitzen, welches Recht auch den französischen Kon-
suln durch Art. 29 Abs. 2 zuerkannt wird.
Art. 26 hebt alle früheren türkischen Kapitulationen
auf und gleicht in seinem Wortlaute fast vollständig dem
7. Artikel.
Hinsichtlich des Handels wird bestimmt, dass der-
selbe keinen Abgaben unterliegen solle, die nicht genau
festgesetzt seien. (Ueber die einzelnen Arten dersel-
ben vgl. Art. 18, 16 und 32: „Voulons toutefois qu'ils
soient tenus de payer les droits ordinaires de nos ports
et havres.") Fernerhin wird angeordnet, dass die Geld-
cinfuhr gemäss Art. 9 vor Erpressungen und Abgjiben
gesichert sein solle und dass das auf französischen Schif-
fen befindliche feindliche Gut vor jeder Wegnahme ge-
schützt sein soll (Art. 12). Neu ist die Bestimmung
1) Siehe auch Testa Bd. I. S. 151.
— 37 —
hinsichtlich der Korallenfischerei, wo den Franzosen das
Recht eingeräumt wird, im Qolfe von Stora-Courcouri den
abhängigen Staaten von Algier und an allen anderen
Orten der Barbarie, Algier und Tunis ohne jedes Hinder-;^
nis die Korallenfischerei zu betreiben (Art. 21). Die
Piraten werden wie in den früheren Kapitulationen mit
den strengsten Strafen bedroht und dem Urteile der
französischen Behörden unterstellt (Art. 19 und 20). Fran-
zösische Staatsangehörige, die auf Kaperschiffen getrof-
fen werden, sollen als Kriegsgefangene (nous declarons
aussi qui ceux qui seront trouves sur des vaisseaux de
corsaires seront esclaves de bonne guerre") behandelt
werden (vgl. Art. 10 und 11). In gleichem Masse, wie
dem Piratenwesen gesteuert wird, werden auch die
Rechte und Freiheiten der Schiffahrt neuerdings durch
die Art, 20 — 32 genau geregelt und ein besonderer
Art. 44 enthält wieder die Bestimmung, dass die fran-
zösischen Schiffe nicht verpflichtet seien, sich untersuchen
zu lassen, es sei denn am Ausgange aus den Dardanel-
len. 1)
Art. 17 schützt die Kaufleute vor den immer mehr
in Schwung gekommenen Erpressungen der Zollpächter,
die durch hohe Zölle die französischen und andere Kauf-
leute am Weiterführen ihrer Waren verhinderten und sie
so zu einer billigen Abgabe derselben veranlassten.
Auch die religiösen Rechte der Franzosen wurden
wieder anerkannt, indem der Sultan bestimmte, dass den
französischen Untertanen und den mit Frankreich be-
freundeten Staaten der Besuch des heiligen Grabes zu
Jerusalem ohne Hindernis gestattet sein soll. (Vgl. Art. 5.)
Auch die Bestimmungen gegen ungerechte Verleumdun-
gen („en les accusants d'avoir ou parle ou blaspheme
contre notre sainte religion . . .") werden wiederholt.
(Siehe Art. 38.)
Hinsichtlich der Gerichtsbarkeit wird die Zusiche-
rung gegeben, dass dieselbe mit Ausnahme der Tot-
schläge (meurtres) in den Händen der französischen Be-
hörden liegen solle, letztere aber vor ein Sondergericht
zu kommen hätten.
Art. 39 spricht wieder die Befreiung der Franzosen
von der Haftung für Schulden ihrer abwesenden Lands-
leute aus mit Ausnahme einer etwaigen Verbürgung durch
1) Siehe aber art. 44 Abs. 2: „Nous defendons qu'ils le soient
ä Gallipoli, comme ils ont ete contraints par le passe".
— 88 —
contrat authentique et passe par devant personne pu-
blique.
Für gemischte Prozesse gilt das gleiche wie in der
Kapitulation von 1597.
Zum Schlüsse dieser sehr umfangreichen, 50 Kapitel
umfassenden Kapitulation wird jede Verletzung ihrer
Bestimmungen mit schwerer Strafe bedroht und es er-
folgt eine eidliche Versicherung, die solange wirken soll,
als der „Kaiser" i) von Frankreich in der Bevv ahrung
der türkischen Freundschaft standhaft und fest sein
wird. 2) Ihrem Aeussern nach trägt diese Kapitulation
einen mehr einseitigen Charakter.
Die französisch-türkische Kapitulation von 1673.
In der nach der Kapitulation von 1604 anbrechen-
den Periode sehen wir die Stellung Frankreichs neuer-
dings durch heftige Kämpfe in Europa schwer erschüttert.
War es schon vorher bemüht gewesen, die Rivalität Eng-
lands hinsichtlich der Protektoratsbestrebungen durch
das Hatti-Sherif vom 20. April 1607 (Ergänzung der
Kapitulation von 1604)3) wenigstens scheinbar zu bre-
chen, so konnte es nach den grossen Wirren der Jahre
1618 bis 1672 nicht mehr umhin eine neuerliche Bestäti-
gung seiner Rechte zu verlangen. Denn auch der Hatti-
Sherif von 1607 erfüllte nicht die Sehnsucht Frankreichs,
England und Venedig wieder unter das französische Pro-
tektorat zurückversetzt zu sehen. Aber das war nicht
der alleinige Grund. Wenn Belin von der Kapitulation
des Jahres 1604 zunächst berichten kann, sie „hatte einen
starken Einfluss auf die Türken" und wer dies kennte
„dem wird die grosse Wichtigkeit dieses internationalen
Traktates verständlich sein",*) so galt dies denn doch
nur für die nächsten Jahre.
In einem Lande, in dem wie in der damaligen Tür-
kei der religiöse Fanatismus und der Fremdenhass eine
Hauptrolle spielten, war jede Vereinbarung und, wenn
sie auch in die schönsten Worte gekleidet war, völlig
nutzlos, wenn sie nicht „in dem von der Regierung ver-
1) Diese Bezeichnung als Empereur de France ist sehr auf-
fallend und begegnet uns auch wiederholt in den späteren Kapitu-
lationen.
2) Der Text lautet in Art. 50: De ne contrevenir ä ce qui est
porte par ce traite de paix et capitulation, tant que l'empereur
de France sera constant et ferme ä la conservation de notre amitie".
3) Text s. Nor. Bd. I. S. 108.
4) Belin Capitulations S. 8a
fo]j{ten Ziele den. nötigen Boden und die nötige Unter-
stützung fand". 1) Wohl zum grössten Teil durch die
Hetzarbeit der englischen Diplomaten aufgestachelt, ver-
gessen sich die türkischen Behörden den französischen
Untertanen gegenüber immer mehr und schreckten im
Jahre 1617 nicht davor zurück, selbst den französischen
Gesandten auf die Liste der Kopfsteuerpflichtigen zu
setzen. -) Hammer erwähnt jedoch, dass die Pforte
diese völlig ungerechtfertigte Verfügung bereits im
darauffolgenden Jahre auf den energischen Protest des
französischen Gesandten hin aufliob und die französischen
Verträge neuerdings bestätigte. ')
Ais nun, wie bereits oben erwähnt, die schwersten
Wirren das gesamte Gleichgewicht Europas zu zerstören
drohten, schien es die Türkei an der Zeit zu halten, die
letzten Fesseln abzustreifen und ihrem eigenen Belieben
zu folgen.^) Ein besonders scharfes Urteil für die di-
maligen Zustände gab ein französischer Staatsmann ab,
der dieselben für vollkonjmen unhaltbar erklärte. ^) Aber
erst nach dem Siege Ludwigs XIV. in den Niederlanden
war die Stellung Frankreichs wieder soweit befestigt,
dass es mit der Forderung nach einer neuen Kapitu-
lation hervortreten konnte.
Dieselbe kam dann auch im Jahre 1673'') zustande
und wiederholt zum grössten Teil die Bestimmungen der
Kapitulation von 1604, enthält aber auch einige neuo
Zugeständnisse an Frankreich. So wurden die Fran-
zosen zu anerkannten Beschützern der heiligen Stätten
und der dorthin pilgernden Wallfahrer erklärt. (Siehe
Art, 43. „II fut accorde ä l'Empereur de France, par
les Capitulations . . . ., que toutes les Nations qui n'ont
point leur Ambassadeur ordinaire ä notre Porte .' . .,
puissent trafiquer sous la Banniere de France et visiter
les Saints Lieux . . .") Die bei der französischen Bot-
schaft angestellten Dragomane, die ja meist selbst Tür-
ken waren, wurden den Franzosen gleichgestellt. '') Fer-
ner wurde den französischen Untertanen die Abhaltung
1) Martens S. 203.
2) Martens S. 204.
3) Martens S. 204. Belin S. 89 und 90. Koradounghian Bd. I.
S. 43, Miltitz Bd. II. 2 S. 102.
4) Vgl. Zinkeisen Bd. IV. S. 202. Martens S. 205.
5) Siehe Testa Bd. I. S. 10.
6) Den Text siehe Nor. Bd. I. S. 136 bis 145.
7) Sie wurden z. B. durch Art. 14 von der Personaisteuer und
allen übrigen Abgaben für befreit erklärt.
— 40 —
eines Gottesdienstes im Hospital von Oalata '^) gestattet
und den dort befindlichen Geistlichen Schutz zugesagt.
Sehr wertvoll für die Sicherheit der im Orient angesiedel-
ten Europäer musste auch die Zusicherung sein, dass
die Pforte den in den Hafenplätzen befindlichen Kirchen
(Smyrna, Saida, Alexandrien usw.) ihren Schutz ange-
deihcn lassen will. Natürlich hatte auch diese Bestim-
mung die Voraussetzung, dass das Ansehen der fran-
zösischen Regierung an diesen Orten gross genug war,
diesen Zusicherungen den nötigen Nachdruck zu ver-
leihen. Neu ist in dieser Kapitulation die Bestimmung,
dass, wenn im Prozesse eines Türken gegen einen Fran-
zosen der Streitwert 4000 Asper übersteigt, der kaiser-
liche Divan selbst die Angelegenheit zu entscheiden
hätte.-) Art. 13 dieser „articles nouveaux" befreite die
Franzosen von der zu vielen Missbräuchen benützten
Einrichtung des sogenannten Blutgeldes (Prix du sang).
Wurde nämlich in dem von Franzosen bewohnten Stadt-
teile ein Toter gefunden, so forderten die Behörden ohne
Rücksicht auf Schuld das Wehr- oder Blutgeld. ">) Für
die Zukunft sollte es daher bei einem derartigen Funde
verboten sein, dass die Franzosen „soient molestes en
leur demandant le Prix du Sang, si ce n'est qu'on prouve
en justice que ce sont eux qui ont fait le mal". Dieses
Uebereinkommen ermässigte ferner den Zoll (tarif dou-
nier) von 5 o/o auf 3 o/o, ein Zugeständnis, das übrigens
den Engländern bereits gewährt worden war. (Siehe
Art 5 der „articles nouv.*'.)'*)
Die Forderungen aber, die Ludwig XIV. durch seinen
Beauftragten Herrn De Noitel befriedigt sehen wollte,
wurden durch diese Kapitulationen nur zum Teil erfüllt.
Er verlangte z. B., dass die von den Griechen besetzten
heiligen Stätten wieder den Katholiken zurückgegeben
werden sollen. Dem wurde jedoch nicht entsprochen
und die Türkei begnügte sich vielmehr mit der oben er-
wähnten Zusicherung des Schutzes der Kapuziner und
Jesuiten und der Wiederherstellung ihrer Kirchen. •') Aber
auch dem Wunsche Ludwigs XIV., sich als Hort der
Christenheit im Orient, ähnlich der Stellung des Sultans
gegenübei den Muselmännern, begrüsst zu sehen, ging
1) Siehe art. 3 und besonders art. 4 der „articles nouveaux'
2) Siehe art. 12 der „art. nouv.".
3) Vgl. Miltitz Teil II. 2. S. 119.
4) Vgl. Martens S. 207.
5) Siehe Rausas S. 70 und 71.
— 41 —
nicht in Erfüllung. Im 1. Artikel, der 14 Forderungen,
die s^n Gesandter dem Sultan überbrachte, verlangte er
nämlich für sich eine derartige Stellung, dass „der
Kaiser von Frankreich der Protektor der Chiistenheit
neben seiner Hoheit sei, dass die christliche Religion^
immer in den Gegenden des ottomanischen Reiches, wo
sie bis jetzt da war, ausgeübt werden solle". Zur ge-
nauen Erläuterung aller seiner Wünsche in dieser Hin-
sicht verwandte er eben nicht weniger als 14 Artikel, i)
Wenn diese Kapitulation auch nicht den Ehrgeiz eines
Ludwig XIV. erfüllen konnte, so kommt ihr doch unleug-
bar das Verdienst zu, neben verschiedenen Vergünsti-
gungen, die sie den Fremden gewährte, auch das Ein-
spruchsrecht derselben in religiösen Dingen nicht herab-
gesetzt zu haben.
Die Kapitulation Frankreichs voni Jahre 1740.
Die gleiche Politik, die zur Kapitulation vom
5. Juni 1673 geführt hatte, setzte auch Ludwig XV. fort.
Um das Jahr 1736 erlitt die Türkei schwere Verlustie
durch die wohldurchdachten Einfälle der Russen, die sich
in den Besitz der ganzen Krim setzten, ihr freies Schiff-
fahrtsrecht im Schwarzen Meer proklamierten, und so-
gar das ganze Ufer dieses Meeres vom Kaukasus bis zur
Mündung der Donau für sich in Anspruch nahmen.
Zu gleicher Zeit drangen die österreichischen Trup-
pen in die Gebiete der Moldau und der Walachei. Die
Türkei sah wohl ein, was es bedeuten würde, unter die-
sen Bedingungen Frieden zu scliliessen und wandte sich
daher an Frankreich um Hilfe, -) dessen damaliger Ver-
treter der Marquis de Villeneuve war. Dieser Staat
hatte damals selbstverständlich das grösste Interesse
daran, die Integrität der Türkei zu erhalten und sie nicht
zwischen Russland und Oesterreich aufteilen zu lassen.
Pellissie du Rausas führt mit Recht an, dass „das Ver-
schwinden der Türkei die Vernichtung der Arbeit Col-
berts und Ludwigs XIV. und der handelspolitische Ruin
Frankreichs gewesen wäre . . ." ^) Auch bei der Vor-
geschichte dieser Kapitulation sehen wir fast die glei-
chen Zustände wie bei dem Abschlüsse des Traktates
von 1535: Die politischen Interessen überwiegen weit-
aus die religiöser und völkerfreundlicher Natur. All
1) Siehe Rausas S. 61 ff.
2) Vgl. Rausas I. S. 73 ff.
3) Vgl. Rausas S. 74.
— 42 —
die Vorteile eines guten Friedens mit den Wünschen
Frankreichs zu verbinden und mit möglichstem Geschick
einem Erfolge zuzuführen, soUte die Aufgabe des oben
erwähnten Diplomaten bilden. Zunächst trat er noch
nicht mit Forderungen heraus, sondern wartete, bis auf
Seiten der türkischen Feinde Rückschläge eintreten wür-
den. Nachdem Oesterreich infolge schlechter Verpfle-
gung verschiedene Gebiete wieder räumen musste und
zum Frieden geneigt war, liess Karl VI. durch Villeneuve
in seinem Namen mit der Pforte unterhandeln, die je-
doch diesmal so masslose Forderungen stellte, dass der
Feldzug von neuem begann. Erst der Friede von Belgrad
sollte endgültige Beruhigung für Europa bringen. Der
Preis für diese geschickte Unterhändlerarbeit Villeneuves
war die Kapitulation vom 28. Mai 1740.1)
Sie ist bei weitem die längste und bedeutsamste aller
Kapitulationen, die im Laufe der Zeit mit Frankreich
abgeschlossen wurden und bildet auch gleichsam den
Schlussstein der türkisch-französischen Verträge dieser
Artikel. 2) Sie enthält nicht weniger als 85 Artikel, von
denen freilich über die Hälfte eine blosse Wiederholung
früherer Kapitulationen sind.
Zunächst ist bei dieser Kapitulation auffallend die
Beilegung der verschiedensten Titel. Für die Charakteri-
sierung der damaligen Gebräuche ist sie nicht uninter-
essant. So nennt sich der Sultan nicht weniger als „le
Sultan des glorieux Sultans, l'Empereur des Puissants
Empereurs le distributeur de coronnes aux Cosroes qui
sont assis sur les trönes, l'ombre de Dieu sur la terre*^
etc.
Auch der König von Frankreich liess sich mit den
höchsten Titeln bezeichnen, wie „la gloire des grands
princes de la croyanne de Jesus . . . l'empereur de France
et d'autres vastes royaumes qui en dependent etc.*'.
Pellissie du Rausas bemerkt gegenüber diesen Aus-
zeichnungen, dass, w^nn dies auch im Orient nicht über-
raschend wirke, es doch ein bezeichnendes Schlagücht
auf die jeweiligen Machtverhältnisse Frankreichs werfe,
da bei den früheren Kapitulationen bei weitem nicht so
1) Den Text siehe Noradounghian Bd. I. S. 277. Strupp Bd. I.
S. 48. Eine deutsche Uebersetzung der Kapitulation siehe im
österreichischen wirtschaftspolitischen Archiv S. 355.
2) Die früheren Kapitulationen wurden wie erinnerlich meist
nur für die Lebensdauer des Sultans abgeschlossen, während diese
Ewigkeitsdauer besitzen sollte.
— 43 —
hohe Titel gegenseitig zur Anwendung kamen. \) Er-
wähnenswert ist bei dieser Kapitulation insbesondere die
Bestimmung, dass sie für immer Geltung behalten solle
und nicht durch das Ableben des jeweiligen Sultans in
Frage gestellt werden könne. Durch die Beseitigung der
früheren Waffenstillstandsart wurde eine Erneuerung für
späterhin überflüssig. (Bisher waren die Kapitulationen
nicht weniger als 11 Mal bekräftigt worden.) Wegen der
grossen Bedeutung, die diese Kapitulation für die Folge-
zeit hatte und nach der Auffassung verschiedener Staaten
ja noch heute haben soll, wollen wir auf dieselbe näher
eingehen.
Was die politische Seite des Vertrages anlangt, so
haben wir die Festsetzung der Vertragsdauer bereits
erwähnt. Inwieweit dies auf die politischen Verhältnisse
von wirklichem Einflüsse hätte sein können, soll einer
späteren Erörterung vorbehalten bleiben. (Siehe Inhalt
Teil II.)
Nach der formellen Bedeutung dieses Abkommens
zu urteilen, enthält es gegenüber den früheren Kapitu-
lationen nichts wesentlich Neues. Art. 17 bestätigt nach
einer überschwänglichen Würdigung der alten Freund-
schaftsbeziehungen zwischen Frankreich und der Pforte,
dass „les ambassadeurs de France residant ä notre
Porte de felicite, viendront ä notre supreme divan, et
... ils aient, suivant l'ancient coutume, le pas et la
preseance sur les ambassadeurs d'Espagne et des autres
rois".
Pellissie du Rausas erwähnt ferner im Anschluss an
Charriere, dass dieses Recht des französischen Ge-
sandten zum ersten Male im Jahre 1580 nach einem er-
regten diplomatischen Kampfe wegen der Rechte Vene-
digs gewährt wurde. 140 Jahre später, im Anschluss an
den Frieden von Passarowitz, wurde dieses Recht Frank-
reichs neuerdings Testgestellt. 2) Nochmals erwähnt wird
dieses Recht im Anschluss an die Konsuln im Art. 44
des vorliegenden Abkommens. Seit dem Wiener Kon-
gress vom Jahre 1815, der all die einzelnen Vorrechte
der Gesandten von Neuem regelte, hatte diese Bestim-
mung nur mehr historischen Wert. 3)
Betreffs der Schutzgewalt Frankreichs in religiösen
Angelegenheiten ist zunächst gleich der 1. Artikel zu
1) Vgl. Rausas S- 79 ff.
2) Rausas S. 82, und Charriere S. 3, S. 889 und 916.
3) Vergl. Rausas Bd. I. S. 83.
— 41 —
erwähnen. Dieser bestimmt, dass die französischen Pil-
ger, die nach dem heiHgen Grabe ziehen, ebensowenig,
wie diejenigen, die sich in der aortigen Kirche befinden,
behelligt werden sollen. Die Art. 32, 33, 34, 35, o6 wie-
derholen eigentlich nur Rechte, die Frankreich bereits
in der Kapitulation von 1673 gewährt worden waren. Also
Fortdauer der Privilegien hinsichtlich der freien Reli-
gionsübung, Schutz der Kirchen, in den bekannten türki-
schen Hafenstädten usw. Im Art. 82 wird dann noch
die ungestörte Ausbesserung der Kirchen gestattet, ohne
dass hiebei Erpressungen stattfinden dürfen, und die
oftmalige Durchsuchung der kirchlichen Gebäude auf ein
einziges Mal im Jahre herabgesetzt. („Es soll nur eine
einzige Durchsuchung im Jahre stattfinden für die Kirche
des Ortes, den sie nennen, das Grab Jesus.'*) In diesen
religiösen Angelegenheiten führte Ludwig XV. durch
seinen Gesandten Marquis de Villeneuve die Politik
seines Vorgängers getreulich weiter. Rausas sagt daher
mit Recht, dass Frankreich, wenn es auch keine formelle
Anerkennung seines Protektorates über alle Christen in
der Türkei erreichen konnte, sich doch so betrug, als
wenn es sie erhalten hätte, ^) und nicht zögerte, sich in
verschiedene allgemeine Streitigkeiten der Christen ein-
zumischen und dieselben zu entscheiden.
Aber nicht nur auf religiösem, sondern auch auf
handelspolitischem Gebiete hatte der französische Ge-
sandte es vortrefflich verstanden, für sein Land die grösst-
möglichsten Vorteile herauszuschlagen. Im Vergleiche
mit früheren Kapitulationen, ja selbst mit der gewiss weit-
gehenden von 1673, gewährte der Traktat von 1740 noch
weit günstigere Zugeständnisse Bestimmte er doch in
seinem Art. 56, dass nicht nur bestimmte aufgezählte Wa-
ren, sondern überhaupt alle nicht verbotenen Artikel von
jetzt ab ausgeführt werden dürfen („ils puissent, en
payant la douane' suivant les capitulations iniperials,
charger sans oppisitions toutes celles qu'ils ont coutume
de charger pour leur pays, . . ä Texception toutefois
de Celles qui sont prohibees".) -) Art. 57 bestimmte in
1) Rausas S. 83 Bd. I.
2) Interessant sind hierbei die Bestimmungen der Art. 37 u.
55 über die Abgabe des „masdarye" oder des „mezeterie".
Während der Art. 37 die französischen Kaufleute dieser Steuer
unterwirft, werden sie im Art. 55 hiervon befreit. Der für uns in
Betracht kommende Text des 37. Art. lautet: „Les Frampais paieront
le droit de masdarye sur le pied que le paient les marchands
anglais, et les receveurs de ce droit, pui seront ä Constantinople
— 45 —
der Frage der Zolltarife, die von den Türken sehr häufig'
nicht auf der vereinbarten Höhe von 3 o/o gehalten wur-
den, dass dieselben bezüglich des sehr ausgebreiteten
Handels in Tüchern neu ausgearbeitet werden sollen..
(Draps.) Erwähnenswert sind noch die Art. 58, 62 und
64, die die Zollabgabe für die in Frankreich hergestellten
„Fes" (Art. 58) auf eine einmalige herabsetzen, in er-
giebigen Jahren die freie Ausfuhr von getrockneten Früch-
ten in geringerer Menge gestatten (Art. 62) und neuer-
dings wiederholen, dass von eingeführtem, geprägtem
Gelde keine. Abgaben gefordert werden sollen und auch
kein Wechselzwang ausgeübt werden dürfe (Art. 64). i)
(Siehe auch Art. 3 der Kapitulation: „les marchands et
autres Fran^ais n'ont point paye de droits sur les piastres
qu'ils ont apportees de leur pays dans nos Etats".) Be-
züglich des Art. 60, der bestimmt, dass auf Mäkler, die die
französischen Kaufleute halten, kein „Qhedik" erhoben
werden soll, sagt Gavillot sehr richtig, dass dies „eine
dieser arbitären Taxen" sei, „die unter einer anderen
Form wieder zu erstehen scheinen, sobald sie durch eine
Kapitulation beseitigt sind", i)
Ferner wurde bestimmt, dass ein osmanischer Gläu-
biger, der bei Vorlegung eines Wechsels von einem fran-
zösischen Schuldner keine Bezahlung erhält, sich nicht
zu Gewaltmassregeln hinreissen lassen dürfe, sondern
nur eine Bestätigung der Zahlungsverweigerung ver-
langen könne; im übrigen haben die französischen Behör-
den für die Befriedigung des türkischen Gläubigers Sorge
zu tragen. 1)
Das schon des öfteren erwähnte Prinzip der indivi-
duellen Verantwortlichkeit sehen wir auch in der Kapi-
tulation von 1740 angewendet. (Vgl. Art. 53, 54, ferner
auch Art. 22 und 23.) Art. 53 setzt fest, dass bei eineml
„banqueroute averee et manifeste" eines französischen
Kaufmanns sich die Gläubiger nur an die Konkursmasse
et ä Galata, ne pourront les molester pour en exiger davantage".
Demgegenüber bestimmt der Wortlaut des Art. 55 das gerade
Gegenteil: „ . • lorsque les Fran9ais negocient ces
sortes de marchandises aves quelqu'un, Tonne puisse exiger d'eux,
sous quelque pretexte que ce seit, le droit de masdarye, dont
l'exemptionleur est pleinement accorde par l'article de la masdarye."
1) Die Bestimmung des Art. 64 findet sich zum erstenmal in
der Kap. von 1604. Ueber die Gründe vergl. Rausas Bd. I. S 176..
2) Vgl. Gavillot S. 76.
3) Del. bemerkt hiezu, dass in Italien die Erklärung des Pro-
testaten noch heutzutage den Protest ersetzen kann. Siehe daselbst
S. 17 Anm. 4.
— 40 —
und nur an die ocmeinsamen Schuldner halten können. Fer-
ner dürfe weder der Gesandte, der Konsul, der Dragoman
oder irgend ein anderer Franzose hiefür verantwortlich
gemacht werden. Art. 54 betreit die französischen Be-
hörden und Kaufleute von der Haftung für unter fran-
zösischer Flagge verübte Seeräubereien, eine FBestim-
mung, die wohl viel Gutes an sich hatte, andererseits aber
auch zu verschiedenen unlauteren Machenschaften der
Franzosen führen konnte, i) Gleichzeitig wurde bestimmt,
dass der Konsul die Befugnis haben solle, die betreffen-
den Schiffspapiere genau zu prüfen und insbesondere
die Berechtigung zum Führen der französischen Flagge
festzustellen (que les consuls fran^ais examineront avec
soin et feront savoir si les bätiments qui viendront dans
nos ports, avec le pavillon de France, sont veritablement
fran(jais). -) Art. 6Q enthält die zum Missbrauch direkt
herausfordernde Bestimmung, dass kein Gläubiger einen
französischen Schuldner zurückhalten dürfe, v.enn sijjh
der Gesandte oder die Konsuln für ihn verbürgt hätten.
Wie wir aus Art., 48 ersehen können, war jedoch die
Stellung des Konsuls, der „veretablementfrangais'' ■') war,
derart priviligiert, dass er auf die Anklage eines Türken
niemals gezwungen werden konnte, vor einem türki-
schen Gerichte sich ?u verantworten. ^) Er konnte viel-
so war die Stellung eines türkischen Gläubigers wahr-
haftig „beneidenswert".^)
Für den Mandel Frankreichs ist ferner die Verord-
nung des 59. Artikels von grosser Bedeutung, wodurch
den Franzosen das Recht gegeben wurde, in Friedens-
zeiten vollkommen ungehindert im Bereiche des türki-
mehr zu seiner Vertretung seinen Dragoman schicken;
wenn dieses Vorrecht dann auch noch missbraucht wurde,
1) Der Art. 23 bestimmt wieder gleich der Kapitulation von
1673, dass niemand für Schulden seines Landmannes haftbar ge-
macht werden könne und ferner, dass das Vermögen eines ver-
storbenen Franzosen entweder den durch das Testament Berech-
tigten oder andernfalls dem Konsul zur weiteren Verwendung aus-
zuliefern sei.
2) Vgl. die Anm. Bianchis in Nor. i. S. 301 über die Entwick-
lung dieser Bestimmung.
3) Dennoch waren französische Konsuln manchmal nicht „veri-
tablement francpais" (vgl. Notes de Bianchi in Nor. S. 304 XXI.
4) s. Art. 48: Ceux qui sont sous la domination de ma Sub-
lime Porte, muselmans ou raya, tels qu'ils soient, ne pourront
forcer les consuls de France, veritablement fran^ais. ä comparaitre
personellement en justice, lorsqu'ils auront des drogmans ....".
5) Wie wir bereits des öfteren ausführten, wurde auch dessen
Erscheinen oft missbraucht.
— 47 —
sehen Staates par terre ou par mer, ja selbst auf der
Donau UTid Tanais Handel /u treiben und ihnen ferner die
Ein- und Ausluhr nach Russland gestattet wurde. Art.
73 und 74 bestimmen noch, dass für französische Schiffe
bestimmte Nahryngsmittel und zur Ausbesserung not-
wendige Gegenstände keinem Zoll unterliegen sollen.
Eine dem französischen Handel günstige Bestimmung
enthält auch Art 77, der festsetzt, dass in Seenot ge-
ratene französische Schifte mit ihren Ware«n keinem Zoll
oder irgend welchen Abgaben unterliegen sollen, fjiUs
das Schiff wieder hergestellt, oder die Waren umgeladen
und nach ihrem Bestimmungsort gebracht würden. Selbst-
verständlich wird auch durch diesen Artikel gleich den
übrigen Kapitulationen solchen Schiffen weitgehende Hilfe
zugesagt. Dem Schutze der französischen Schiffahrt dien-
ten ferner die Anordnungen der Art. 78 und 79, die eine
Belästigung der Schiffe durch erpresserische Zurückhal-
lungsversuche türkischer Beamter unter nichtigen Vor-
wänden, sowie einen Angriff auf französische Fahrzeuge
durch Kriegsschiffe verboten. Die Vorschriften der frühe^
ren Kapitulationen gegen die Kaperei werden durch
Art. 11 und 81, teilweise durch die neue Bestimmung des
Art. 54, erneuert und ergänzt. Ferner wird eine Re-
quirierung französischer Schiffe ohne Zustimmung des
Konsuls oder des Besitzers strengstens untersagt (Art. 80).
Zu all diesen Vergünstigungen kam ab'Cr noch eine
Neufestsetzung und Ausdehnung der persönlichen Schutz-
rechte sowohl der französischen Behörden als der Fran-
zosen selbst. Neben der beieits erwähnten Vorrang-
stellung des französischen Gesandten, wird demselben
und den Konsuln auch gestattet, sich nach ihrem Belieben
Dragomane und Janitscharen ,,de tels . . . qu'ils vou-
dront'* zu halten. (Siehe Art. 45 und 50.) Waren diese
Angestellte Franzosen, so sollte der Konsul auch voll-
kommene Gewalt über sie haben. (Das gleiche Recht
stand dem Gesandten zu.) Aber auch, wenn diese
Voraussetzung der französischen Staatsangehörigkeit nicht
zutraf, so standen sie doch unter der ausschliesslichen
Gerichtsgewalt der Konsuln oder der Gesandten. (Siehe
Art. 46.) 1) Die Steuerfreiheit der bei der Gesandtschaft
angestellten Personen wird hier zum ersten Mal nur für
eine beschränkte Anzahl und zwar für 15 anerkannt.
1) Vgl. Martens S. 214.
— 4S —
(Art. -47.) ') Von geringerer Bedeutung ist ferner die
Bestimmung des Art. 49, der den türkischen Beliörden
befiehlt, die Konsuln an der Hissung der französischen
Flagge gleich den Gesandten nicht zu inndern.
Die Bestimmung der Kapitulation von 1673, die den
Franzosen ungestörten Weinbezug zusicherte, wurde
durch Art, 51 neuerdings zugestanden. Desgleichen die
Vergünstigung, dass keine Kopfsteuer (Charadsch) er-
hoben werden darf. (Art. 63 und 67.)
Art. 63 bestimmt ferner, dass die Franzosen bich der
ortsüblichen Tracht bedienen können, sofern sie dies
für ihre Bequemlichkeit und Sicherheit als notwendig
erachten. Ebenso können sie sich mit einem von ihrer
Behörde bestätigten Pass überallhin begeben. '^)
In der Bestimmung des 4. Artikels sehen wir bereits
ein r->rinzip verwirklicht, das uns in dem europäischen
Völkerrechte erst im 19. Jahrhundert begegnet. Enthält
doch dieser Artikel bereits neben der Bestimmung, dass
Franzosen, die auf feindlichen Schiffen betroffen werden,
nicht zu Sklaven gemacht werden dürfen, auch die Fest-
setzung, dass das auf denselben befindliche französische
Gut nicht eingezogen werden darf, es sei denn, dass die
Franzosen gleichfalls feindliche Handlungen unternom-
men, oder nach der Auffassung Bianchis in „l'intention
que l'acte reel l'hostilite'' sind. Dieser Artikel enthält
kurz gesagt die Bestimmung „unfrei Schiff, frei Gut'*,
ein Grundsatz, den erst die Pariser Seerechtdeklaration
von 1856 sich zu eigen machte, indem sie unter feind-
licher Flagge fahrendes neutrales Gut für unantastbar
erklärte.
Eine grosse Erniedrigung für die Türkei musste der
5. Artikel bilden, der den Franzosen für den Handel
mit dem Feinde gleichsam einen Freibrief ausstellte,
1) Diese Bestimmung, die hier zum ersten Mal auftritt, war
durch den schnöden Nutzen, den man aus der Steuerfreiheit der
Angestellten der Gesandtschaft herausholte, notwendig geworden.
Auch in Art. 9 und 10 des Dardanellenvertrages mit England
vom 5. Januar 1809 verwahrte sich die Türkei dagegen: „La pa-
tente de protection anglaise ne sera accordee ä personne d'entre
les dependants et negociants sujets de la Sublime Porte . . . ."
s. Rec. int. des trait. du XIX. Siecle. Paris 1914. s. Nor. II. S. 81.
Vgl auch Art. 18, der den Konsuln la preseance sur les consuls
d'Espagne et des autres rois zugesteht und ferner die Zoll- und
Abgabenfreiheit der französischen Diplomaten, mit der starker
Missbrauch getrieben wurde, auf die Kleidung und die Nahrungs-
mittel, die für den persönlichen Gebrauch der Gesandten bestimmt
waren, beschränkte.
2) Diese Inlandspässe (Teskeres) sind seit 1908 aufgehoben.
— 49 —
indem er bestimmte, dass französische Schiffe, die Nah-
rungsmittel nach feindhchem Gebiete führen, von tür-
kischen Schiffen unter einem solchen Vorvvand nicht an-
gehalten, noch deren Besatzung zu Sklaven gemacht wer-
den dürfen.
Bezüglich der Abgaben bestimmte der 8. Artikel, dass
die Franzosen keine Erhöhung derselben zu gewärtigen
hätten („seront estimees au nicme prix qu'elles Tont ete
anciennement pour l'exaction de douane qui se perce-
vera de la meme fagon, sans qu'il soit fait aucune aug-
mentation sur l'estime desdites marchandises**.) Art.
9 — 14 enthält noch genauere Bestimmungen über die
unzulässigen Abgaben.
Von grosser Wichtigkeit für die persönliche Sicher-
heit der Franzosen wurde der 70. Artikely^ der die IJn-
betretbarkeit einer französischen Wohnung ohne Beisein
des Gesandten oder Konsuls gewährleistet. Besagt doch
der Wortlaut dieser Bestimmung, dass „die Beamten
der Justiz und die Offiziere der hohen Pforte ebenso
Vv'ie die Soldaten in ein von einem Franzosen bewohntes
Haus nicht mit Gewalt eindringen dürfen'', und nur
wenn die Sachlage ein derartiges Vorgehen erfordern
sollte, „müsse man den Gesandten oder den Konsul
benachrichtigen, dass er an dem fraglichen Ort komme;
und wenn irgend jemand sich gegen diese Bestimmung'
vergehen sollte, soll er gezüchtigt werden''. ^) Dies
trug wesentlich zur Stärkung der persönlichen Sicherheit
und Freiheit der Franzosen bei, da sie hiedurch keiner
Zwangsgewalt der türkischen Behörden ausgesetzt wer-
den konnten. 1) In dieser Kapitulation von 1740 begeg'-
net uns ferner zum ersten Ma! eine vollständige und ge-
naue Regelung der Stellung der Franzosen der Gerichts-
barkeit gegenüber. Gemäss Art. 52 ist es den Franzosen
gestattet, bei Streitigkeiten zwischen den französischen
Konsuln und Kaufleuten einerseits, und den Konsuln
und Kaufleuten einer anderen christlichen Nation an-
dererseits, ihr Anliegen direkt vor ihre Gesandten zu
1) Seit dem Jahre 1866 ist „das Protokoll über das Recht des
Immobiliareigentums. bewilligt den Fremden in der Türkei", in
dieser Hinsicht' massgebend. Die Entstehung dieses Rechts vgl.
Rausas S. 90.
2) Vgl. Martens S. 215. Im modernen türkischen Recht ist
die Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 105 türk. Str. G B.
anerkannt. Es braucht jedoch nach dieser Bestimmung weder der
Gesandte noch der Konsul irgendwie herangezogen zu werden,
vgl. Lehmann S. 20.
4
— 50 —
bringen und brauchen sie sich ein Urteil türkischer Be-
hörden keineswegs gefallen /u lassen.
Art. 65 bestimmt hinsichtlich von Vergehen, dass die
Aburteilung eines französischen Verbrechers nur in An-
wesenheit des Gesandten^ der Konsuln, oder deren Sub-
stituten vorsichgehen könne („les juges de mon enipire
et les officiers ne purront y proceder qu'en presence de
l'ambassadeur et des consuls ou de leurs Substituts, dans
les endroits oü ils se trouveront").
Nach Bianchi Note 26 bedeutet dies keine Neuerung
gegenüber den früheren Kapitulationen, da die weitere
Bestimmung dieses Artikels „et que l'on vouiüt que la
justice en prit connaissance'* die Unterwerfung der tür-
kischen Gerichte nicht bloss dem eigenen Ermessen über-
lassen erscheinen lasse. ^)
Der hinsichtlich der Gerichtsbarkeit weiter in Be-
tracht kommende Art. 71 enthält kurz gesägt den heute
anerkannten Grundsatz „Ne bis in idem** (die Prozesse,
die zwischen einem Franzosen und anderen Personen er-
ledigt sind, nachdem sie bereits einmal der richterlichen
Besichtigung und Beendigung unterzogen wurden, kön-
nen nicht nochmals verhandelt werden). Auf alle Fälle
müssen jedoch auch hier die französischen Vertretungs-
behörden benachrichtigt w^erdcn. Findet eine Verhand-
lung dann statt, so ist die Pforte selbst die Berufungs-
instanz, vor der sich jedoch der französische Angeklagte
vertreten lassen kann. Bezüglich der entstehenden Pro-
zesskosten bestimmt Art. 72, dass diese von der ge-
winnenden Partei („qui a le bon droit") zu tragen seien,
welche Anordnung aber nicht in der Hinsicht ausge-
nützt werden sollte, dass Prozesse ohne jeden Grund be-
gonnen und ohne Risiko fortgeführt werden könnten.
Demnach muss der „Avanist'*, d. h. solche Personen
„qui intentent injustement les proces'*, die Kosten tragen.
Allenfalls liessen sich die Franzosen noch die Zu-
sicherung geben, dass sie nur 2 o/o der Summe, die sie
hereinbekamen, als Gerichtsgebühr zu bezahlen hatten
(„que deux pour cent sur le montant de la somme re-
couvree par sentence, conformcment aux anciennes ca-
pitulations").
Auch diese Kapitulation enthält wieder die Meist-
begünstigungsklausel und zwar in ihrem Art. 83. 2)
1) Vjil. Notes de Bianchi in Nor. Bd. 1. S. 305 und Del. S. 119.
2) Der Text lautet: „Comme l'amitie de la cour de France
avec ma Sublime Porte est plus ancienne que celle des autres
cour nous ordonnans, pour qu'il soit traite avec eile de la manifere
~ 51 —
Pellissic du Rausas schliesst hieraus nicht mit Un-
recht, dass Frankreich sich demnach alle Konzessionen zu
Nutzen machen könne, die die Pforte anderen Staaten
bereits gewährte oder noch gewähren wird. Er gibt
jedoch selbst zu, dass diese Klausel in den meisten spä-
teren Kapitulationen der Pforte mit anderen fremden Staa-
ten, ebenso wie bereits vorher in den verschiedi^en
Abkommen mit den italienischen Staaten, Aufnahme ge-
funden hat, sodass hiedurch nach allgemeiner Ansicht
eine Gleichstellung sämtlicher Nationen in der Türkei
erfolgt ist. i) Durch die Anführung der italienischen
Staaten wird auch das Argument Pellissie du Rausas' hin-
fällig, dass Frankreich die erste Nation sei, die eine Meist-
begünstigungsklausel erhielt. (Martens erwähnt, dass
bereits die Kapitulation der Genuesen mit Mahunied 11.
vom Jahre 1454 den ersteren die Rechte und Vorzügic
einer meistbegünstigten Nation gab.) 2) Auf jeden Fall
njeint aber Rausas, werden die Franzosen das Recht
haben, von allen Meistbegünstigungsklauseln, die frem-
den Nationen in der Türkei gewährt werden, den Gewinn
zu beanspruchen. '^) Aus dieser französischen Anschau-
ungsweise erklärt sich wohl auch die schon förmlich zum
Gew^ohnheitsrecht gewordene französische Vorrangstel-
lung im Orient vor dem Kriege, besonders in religiösen
Angelegenheiten, während doch eigentlich gerade durch
die anderen Staaten später gewährte Meistbegünstigungs-
klauseln diese die gleichen Rechte erhielten, wie sie
Frankreich in seinen verschiedenen Kapitulationen ge-
währt worden waren. Interessant ist auch die in die-
ser Kapitulation wieder erwähnte Bestimmung, dass ihre
Gültigkeit von dem Bestehen freundschaftlicher Bezieh-
ungen abhängig sein soll. ') (Vgl. Aufhebungsmöglich-
keit im Teil II.)
Bezüglich der Dauer dieser Kapitulationen haben wir
bereits erwähnt, dass sie nicht mehr an das Leben der
einzelnen Vertragschliessenden gebunden, sondern viel-
mehr „Ewigkeitsdauer" besitzen sollen. '•)
la plus digne, que les Privileges et les honneurs pratiques envers
les autres nations iranques aient aussi Heu ä l'egard des sujets
de l'Empereur de France."
1) Vgl Rausas Bd. I. S. 85.
2) Siehe Martens S. 181.
3) Vgl. Rausas Bd. 1 S. 85.
4) Vgl. auch Kapitulation von 16Ü4, 1673, die mit England von
1675 und die mit Holland von 1680.
5) Vgl. Rausas S. 102.
— »2 —
Diese bei weitem umfangreichste Kapitulation hat
auch wegen ihres auf alle Materien eingehenden In-
haltes eine sehr grosse Bedeutung erlangt und in den
späteren Kapitulationen anderer Staaten mehr oder we-
niger Nachahmung gefunden. Ihrem äusseren Charakter
nach gleicht sie gemäss der türkischen Gewohnheit mehr
den bekannten „Lettres-patentcs'', die auf Wunsch des
französischen Gesandten erlassen wurden. Dieser Ver-
trag gilt nach französischer Auffassung noch heute, nach
türkischer ist er jedoch mit dem 1. Oktober 1914 zur
Aufhebung gelangt. In der Folgezeit wurde die Kapitu-
lation vom 28. Mai 1740 noch des öfteren neu bestätigt
und zwai durch den zweiten Artikel des Vertrages vom
25. Juni 1802, durch den 1. Artikel der Verträge vom
25. November 1838 und vom 2Q. April 1861, sowie durch
die Protokolle vom 9. Juni 18o8, März 1871 und 12. Fe-
bruar 1863. Im 1. Artikel des Vertrages von 1838 wird
sogar bestimmt, dass die den Franzosen verliehenen
Rechte „für alle Zeiten'' Geltung behalten sollen. ') Eine
gemeinsame Bestätigung sämtlicher Kapitulationen, die
die einzelnen Staaten mit der Türkei abgeschlossen haben,
fand auf dem Pariser Kongress von 1856 statt,
Die Kapitulationen mit den Niederlanden.
„Die uneigennützigen Schutzbestrebungen'' Frank-
reichs, die sich hauptsächlich in dem Verlangen nach
möglichst grossen Konsulatseinnahmen und weitreichen-
dem politischem Einfluss zu zeigen schienen, hatten nach
dem Hatti-Sherif von 1607 wieder sehr unerquickliche
Formen angenommen, als Frankreich unbedingt die Er-
stattung von Steuern von den flämischen Schiffen ver-
langte. Nachdem dieses Ansinnen genug Aufsehen er-
regt hatte, regelte ein kaiserlicher Firman aus dem Jahre
1609 die Angelegenheit in dem Sinne, dass die Steuer,
die damals zwei vom Hundert betrug, geteilt und etwa
entstehende Streitigkeiten vor ein gemischtes Schieds-
gericht gebracht werden sollten. -) Holland, das diese
Zustände auf die Dauer nicht dulden konnte, sah sich
daher bald genötigt, zum Schutze seiner Interessen gleich-
falls eine Kapitulation zu verlangen, welche ihm auch
am 6. Juni 1612 gewährt wurde. •'^) Nach diesem ein-
1 Siehe Bonfils-Grah S. 466 ff. Testa Receuil Bd. 1. S. 5.
2) Rey S. 441 ff. Noradounghian Bd. 1. S. 40.
3) Pellissie du Rausas Bd. 1. S. 39 gibt für diese Kapitulation
das Jahr 1613 an. Den Text siehe Treaties Turkey S. 234. Siehe
auch Miltitz Bd. II, 2 S. 949.
— 63 —
seitigen Zugeständnisse sollten die Holländer äiinliche
Rechte erhalten, wie sie Frankreich bereits in seinen
früheren Kapitulationen erhalten hatte. Neben der Frei-
heit des Verkehrs werden auch ihnen verschiedene Fr-
leichterungen bezüglich der Ausfuhr gewährt. (Art. 3,
4 und 9.) Auch sie brauchen von gemünztem Qelde keine
Abgabe zu leisten (Art. 5), der Zoll beträgt von Anfang^
an nicht mehr als 3 vom Hundert und es soll kein Zwang^
hinsichtlich der Verfügungsfrciheit über ihre Güter aus-
geübt werden. (Art. 17, 42, 44, 27.) Sie werden gleich-
falls von der Kopfsteuer (ühizet Charadsch) befreit, d. h.
sie hatten wie die anderen privilegierten Nationen ausser
den niedrigen Zöllen keine wie immer geartete Steuer
zu bezahlen (Art. 24). Der folgende Artikel enthält die
Bestimmung, die uns noch in der französischen Kapitu-
lation von 1740 begegnete, dass auf Schiffen mit hollän-
discher Flagge kein feindliches Gut beschlagnahmt wer-
den kann. Auch dürfen die Unternehmer dieser eigent-
lich mit Konterbande beladenen Schiffe nicht in die Ge-
fangenschaft abgeführt werden (Art. 7). Wird ein Korsar-
schiff von den Türken erbeutet, so werden zwar die an-
deren Seeräuber bestraft (Art. 21), die aber auf dem
gleichen Schiffe befindlichen Niederländer müssen unan-
getastet bleiben (also eine ganz ähnliche Bestimmung
wie in der französischen Kapitulation von 1740).
Ebenso wie die Franzosen sollen auch die Nieder-
länder im Falle eines Schiffbruchs jegliche Unterstützung
erhalten (Art. 28), und eine Durchsuchung ihrer Schiffe
darf ebenso wie bei den Franzosen nur am Ausgange
aus den Dardanellen vorgenommen werden (Art. 42).
Aehnlich wie den Franzosen in der Kapitulation von
1673 wurde den Holländern im 16. Artikel gestattet,
sich selbst den Wein zu bereiten, obgleich die Türken
hiebe! einen gewinnbringenden Schleichhandel in An-
betracht des Koranverbotes befürchten mussten. An-
dererseits wollten jedoch die Türken Andersgläubige
nicht unter ihrer Sitte leiden lassen und so war diese
Erlaubnis vom Gesichtspunkte des Entgegenkommens
aus von grosser Bedeutung.
Im übrigen sehen wir in diesei Kapitulation fast die
gleichen Anordnungen wie in den türkisch-französischen
Abkommen. Gegen die Verleumdungen, die sich haupt-
sächlich, wie schon früher erwähnt wurde, wegen reli-
giöser Dinge erhoben, richtete sicfi Art. 32, der bestimm-
te, dass wegen solcher Anschuldigungen kein Nieder-
— 54 —
länder verklagt werden dürfe. Ferner wird kein Türke
mit einer Klaije gegen einen Niederländer vorgelassen, es
sei denn, dass er eine genau bestätigte Beweisurkundc
von der Hand des Beklagten oder einer sonstigen amt-
lichen Person besit/e. (Art. 31.) Bemerkenswert ist auch
die Bestimmung, dass bei Pro/essen gegen Niederländer
ohne Anwesenheit des niederländischen Dragoman nicht
verhandelt werden dart. („Si quelqu'un avait un pro-
ces avec un Neerlandais et se presentait au cadi, celui-ci
n'ecoutera pas la plainte, si le dragoman du Neerlandais
n'y est pas present.") Aber auch hier wird wie in der
französischen Kapitulation die Bestimmung hinzugefügt,
dass die Holländer diese Anordnung nicht böswillig
durch das Ausbleiben des Dragomans ausnützen dür-
fen. (Art. 28.) Prozesse zwischen Holländern selbst wer-
den selbstverständlich nur von deren eigenen Vertre-
tungsbehörden entschieden. (Art. 11.)
Um einen Uebertritt von Niederländern zum Mo-
hammedanismus oder zur türkischen Staatsangehörig-
keit zu verhindern, Hessen sich die Holländer besonders
weitgehende Rechte einräumen. So bestimmt der 30.
Artikel, dass der Gesandte das Recht haben solle, in einem
solchen Fall den Uebergetretenen alle Waren wegzu-
nehmen, die das Eigentum christlicher Kaufleute sind;
jedenfalls aber bedarf es zur Gültigkeit des Uebertritts
der Anwesenheit des niederländischen Dragomans, so-
dass der Gesandte von jedem derartigen Vorfall sogleich
unterrichtet wurde. (Art. 31.)
Bezüglich der Religion bestimmte noch Art. 54, dass
auch Holländer ungehindert nach dem heiligen Grabe
ziehen dürfen, obgleich dies bisher nur katholischen
Nationen gestattet worden war.
Hinsichtlich der konsularischen Einrichtungen sehen
wir die gleichen Zugeständnisse wie in den späteren
französischen Kapitulationen. Art. 36 sichert der nie-
derländischen Regierung ein freies Ernennungsrecht zu,
und die Art. 24 und 34 gewähren den Konsuln das Recht
der Exterritorialität und die Befugnis, sich Dragomane
und Janitscharen zu halten, die die gleichen Steuerver-
günstigungen genossen wie die Holländer selbst.
Nachdem am 20. Februar 1634 eine Bestätigung der
holländischen Rechte stattgefunden hatte, i) erreichte
Holland wenige Jahre nach England am 15. September
1) Siehe Nor. Bd. I. S. 46.
1680 eine neue Kapitulation, die im Wesentlichen eine
Wiederholung der Kapitulation vom 6. Juli 1612 ist. i)
Ihrer äusseren Gestalt nach ist auch sie in der
Form eines einseitigen Gnadenbriefes gehalten.
Bezüglich der Ausnahmestellung der Konsuln be-
stimmt ihr Art. 6, dass die Beurteilung aller Prozesse, an
denen ein Konsul interessiert ist, dem kaiserlichen üi-
van übertragen sein soll. (Vgl. Kapitel 25 der Kapitula-
tion von 1604, Art. 16 der Kapitulation von 1740 und
Art. 25 der englischen Kapitulation von 1675.) Ferner
wird den Konsuln auch hinsichtlich ihrer Person und
Wohnung vollste Unverletzlichkeit zugesichert, eine Be-
stimmung, die wir in fast allen Kapitulationen vorfinden
können („ces consuls ne seront pas emprisonnes ni
leurs maisons scellees"). -) Wie den anderen Konsuln
wird auch ihnen neuerdings das Recht gewährt, sich
Janitscharen und Dragomane nach ihrem Belieben zu hal-
ten und in ihrer Wohnung für sich und ihre Hausgenos-
sen selbst den Wehn bereiten zu dürfen. (Art. 10 und
11.) Ebenso wie die in französischen Diensten stehenden
Dragomane sind auch die der holländischen Konsuln vom
Kharadsch, von der Abgabe des Cassabiye und von allen
übrigen Taxen befreit. (Art. 33.) Die für den persön-
lichen Gebrauch der holländischen Diplomaten bestimm-
ten Gegenstände sollen von jedem Zoll ausgenommen
sein. (Art. 54.) Ferner steht den Holländern das Recht
zu, das Personal der einzelnen Konsulate in Kairo, Ale-
xandrien, Alep, Tripolis (Syrien), Said, Tunis usw. be-
liebig zu verändern und niemand soll sie daran hindern
können. (Art. 34.) Bezüglich der religiösen Verhältnisse
wurde den Holländern neuerdings Schutz beim Besuche
der heiligen Stätten zugesagt (Art. 52), und bestimmt,
dass man einem Holländer nur dann den Uebertritt zum
Islam vorwerfen könne, wenn dieser in Gegenwart des
Dragoman von dem Holländer bestätigt wird; „Si con-
trairement ä la ioi Sainte, quelqu'un molestait un Neer
landais" unter dem Vorwande, dass er den Islam an-
genommen hätte und dies nur tut, um schliesslich aus ihm
Geld zu erpressen, so soll dieser Anklage kein Gehör
geschenkt werden. Es ist nämlich nötig, dass der Hol-
1) Der Text befindet sich bei Nor. Bd. 1. S. 169 ff. und Trea-
ties Turkey S. 347.
2) Interessant ist der Schlussatz des Art. 6, der bestimmt, dass
„si Ton produisait des fermans anterieurs ou posterieurs qui fus-
sent contraires aux articles ci-dessus, on n'y ferra pas attention,
et l'on agira conformement ä Ma capitulation imperiale.
— 56 —
läiidcr für einen derartigen Fall in Gegenwart seines
Dragomans und nach vollständig freiem Willen erklärt,
dass er den Islam angenoiiimen habe; man soll daher
die Ankunft des I3ragomans abwarten und ihn nicht
früher belästigen, bevor jener gekommen sei." (Art. 49.)
Wie v.ir aus dem Wortlaute dieses Artikels ersehen kön-
nen, wurde diese Beschuldigung häufig zu Erpressungen
ausgenützt, ähnlich wie die Verleumdungen, die wegen
angeblicher Lästerung des Mohammedanismus vorge-
bracht wurden, und die auch die Franzosen in ihren Kapi-
tulationen wesenlos zu machen suchten. Die Holländer
erreichten durch Aufhebung der Kopfsteuer wieder die
Steuerfreiheit und liessen sich ferner die Zusicherung
geben, dass Holländer, die sich als Sklaven im ottoma-
nischen Staatsgebiete aufhalten, sofort ohne weiteres
Lösegeld freizugeben seien. (Art. 23 und 20.)
Besonders weitgehende Zugeständnisse Hessen sich
die Holländer, wie dies ihrem Charakter als ausgespro-
chener Handelsstaat entspracii, auf dem Gebiete de;3
Handels und Verkehrs geben. Bemerkenswert ist zu-
nächst die in den meisten türkischen Kapitulationer,
vorkommende Bestimmung, dass der Zoll nur dort bezahlt
werden soll, wo die Waren verkauft werden sollen'
(Art. 14:, .Sie bezahlen keinen Zoll als für die Waren,
die zum Verkauf an das Land gebracht werden, und man
soll keine Abgabe verlangen weder in Konstantinop^^l
noch in irgend einer Levantestadt, von denjenigen Wa-
ren, die sie nicht ausgeladen haben und die sie an Bord
bewachen, indem sie sagen : Wir werden sie in eine
andere Hafenstadt bringen. Niemand soll sich dem wi-
dersetzen, dass sie diese Waren in eine andere Hafen-
stadt bringen.") Eine ähnliche Bestimmung sahen wir
auch in der französischen Kapitulation von 1740 Art. Q.
Im übrigen werden die Bestimmungen des früheren
Uebereinkommens von 1612 wiederholt bezüglich der
Höhe des Zolles, bei dessen Erhebung keine Uebertaxie-
rung der Waren stattfinden darf (Art. 12), des Ausfuhr-
verbots bestimmter Waren, des Verbots jeglichen Zwan-
ges auf die Absichten niederländischer Kaufleute, und
der Erlaubnis, ihr eigenes niederländisches Geld be-
nützen zu dürfen, ohne einen Wechselzwang befürchte:!
zu müssen. (Vgl. Art. 12, 46, 56, 3, 59, 35 und 1.)
Bezüglich des Piratenwesens und der Hilfeleistung
für in Seenot befindliche holländische Schiffe sind im
Wesentlichen nur die alten Bestimmungen erneuert wor-
den, die wir bereits in den verschiedenen Kapitulationen
- 57 —
aligeführt sahen. Auch den Niederländer gewährt die
Bestimmung des 56. Artikels volle Freiheit des Verkehrs
mit Russland, wie dies bereits Frankreich zugestanden
worden war. (Vgl. Art. 59 der Kapitulation von 1740.)
Was die Verwaltung des Nachlasses eines verstorbe-
nen Holländers betrifft, bestimmt Art. 7, dass der tür-
kische Staat, sich in keiner Weise einzumischen habe
und wenn der Niederländer ohne Hinterlassung eines
Testaments stirbt, so obliegt seinem Konsul die Sorge für
seinen Nachlass. (Also die gleichen Bestimmungen wie
in den meisten Kapitulationen mit den anderen Staa-
ten.) 1)
Sehr weitgehend ist die Bestimmung über die Trag-
weite der konsularischen Gerichtsbarkeit. Besagt doch
der Art. 5, dass alle Prozesse und Streitigkeiten, ja ,, selbst
die Prozesse über einen Mord, den niederländische Un-
tertanen verübt hätten, durch die Gesandten oder Kon-
suln gemäss deren Gesetzen und Gewohnheiten abge-
urteilt und entschieden werden sollten, ohne dass irgend
einer unserer Kadi octer anderen Offiziere sich einzu-
mischen hätte'*. (Vgl. Art. 15 der französischen Kapitu-
lation von 1740.)
Ebenso wie in der Kapitulation von 1612 Art. 31
wird auch hier neuerdings von einem türkischen Kläger
verlangt, dass er gültige Beweisurkunden vorlegen könne,
von Niederländern aber, dass sie die erforderliche An-
kunft ihres Dragomans nicht unnötig verzögern. (Siehe
Art. 30 und 36.)
Um dieser ganzen Verordnung grösseren Nachdruck
zu verleihen, drohte der Sultan zum Schlüsse allen Ueber-
tretern derselben strengste Bestrafung an und bestimm-
te, dass in Hinkunft durch einen energischen Wortlaut
der „Firmans** noch mehr zum Schutze der Nieder-
länder getan werden solle. (Art. 8.)
Erst nach Abschluss dieser Kapitulation fühlte sich
Holland sicherer und verzichtete auf jede „weitere Be-
schützung**, die ihm England und Frankreich in edlem
Wettstreit angedeihen lassen wollten. Ja die niederlän-
dische Regierung ging späterhin sogar so weit, ihren
Untertanen jede Benützung einer fremden Flagge auf
das Strengste zu untersagen, da sie sich nur unter den
Schutz ihrer eigenen Vertretungsbehörden zu begeben
hätten. (Der Befehl stammt aus dem Jahre 1741.) 2)
1) Siehe besonders Art. 29 dieser Kapitulation.
2) Vgl. Miltitz Bd H, 3 S. 941. Groot Placaetbook T. VlI, S. 527.
— 58 —
Aelmlichen Inhalt wie die Kapitulationen mit der Türkei
hatten auch die Kapitulationen Hollands mit Algier,
Tunis und Tripolis, i)
Die Kapitulationen mit Oesterreich.
Wenn wir die ganze Entwicklung des Kapitulations-
wesens in der Türkei aufmerksam verfolgen, so sehen
wir, dass nach jeder Befriedigung der Wünsche des einen
Staates sogleich Forderungen eines anderen Staates her-
vortreten. Kaum hatte Holland im Jahre 1612 seitie
erste Kapitulation erwirkt, so zögerte Oesterreich nicht,
mit allen Mitteln eine ähnliche Vergünstigung zu erlangen,
umsomehr als sein bisher einziger Vertreter, der öster-
reichische Gesandte, wegen der feindseligen Gesinnung
der Türken gegen Oersterreich den grössten Anfein-
dungen und Verfolgungen ausgesetzt war. ••)
Von einer nur auf reine „Kapitulationsforderungen"
gerichteten Unterhandlung musste Oesterreich eben we-
gen der feindseligen Gesinnung, die durch viele kriege-
rische Verwicklungen entstanden war, zunächst Abstand
nehmen; da jedoch andererseits d'e Wahrung seiner In-
teressen ein rasches Handeln erforderte, blieb kein an-
derer Weg, als einen etwa zustandekommenden Frie-
densvertrag zugleich zur Erreichung wünschenswerter
Nebenziele zu benutzen. Die G'elegenheit bot sich hie-
zu bei Abschluss des Friedensvertrages vom 1. Juli
1615 zwischen Kaiser Matthias von Oesterreich und Sul-
tan Achmed 1,3) Es ist das erste Mal, dass Friedens-
verträge in dieser Weise erw'eitert wurden, wenn man
nicht auf die verschiedenen Friedensverträge Venedigs
und der Türkei zurückkommen will. (Vgl. Inhalt.) Ob-
gleich dieser Vertrag bereits am 1, Juli 1615 abgeschlossen
wurde, erfolgte seine endgültige Ratifizierung erst a:n
I, Mai 1616, nachdem noch einige kleine Aenderungen
vorgenommen worden waren. Vorher war bereits am
II, November 1606 der Vertrag von Sitvatorok'^) mit
1) Martens S. 229 Anm. 2. Nach verschiedenen weiteren Er-
neuerungen u. a. vom Jahre 1712 wurde mit den Niederlanden am
25. Febr. 1862 ein neuer Vertrag geschlossen, der ihr im 1. art.
auch die Meistbegünstigungsklausel gewährte. S. Nor, Bd. 3 (1902)
S. 180.
2) Zinkeisen Bd. 3, S. 848.
3) Den Te.xt siehe Nor. Bd. 1. 113 H.
4) Den Text siehe Nor. Bd. 1. S. 103 ff. Eine erläuternde
Abmachung zum Frieden von Sitvatorok erfolgte zu Neuhäusl am
28. März 1608, und ferner am 19. Juni 1608.
— 59 —
Rudolph 11. abgeschlossen worden, von dem Hammer
sagt, er „leuchtet im Beginne des 17. Jahrhunderts für
Europa und die Christenheit als Signalfakel gebrochenem
türkischen Joches und des anhebenden Sinkens osnia-
nischer Grösse'*, i) Der Vertrag von 1606 wurde auch
für die Dauer von 20 Jahren abgeschlossen (Art. 12)
und umfasste im Ganzen 17 Artikel. Besonders bemer-
kenswert war die Aufhebung des bisherigen Tributs
gegen eine einmalige Zahlung. Der Friede von Wien
aus dem Jahre 1615 sollte nun eine Erneuerung und
wesentliche Erweiterung dieses Vertrages bieten.
In diesem Vertrage, der in lateinischer Sprache ab-
geschlossen wurde, finden wir die ersten, Bestimmungen
über österreichische Konsulareinrichtungen und Handels-
vorrechte, obwohl uns nicht gesagt wird, w^ann zum
ersten Mal österreichische Konsuln für türkische Gebiete
ernannt wurden. -) Im Art. 2 dieses Friedensvertrages
wird zwar eine Kapitulation vom 9. Dezember 1606 er-
wähnt, aber deren Text ist leider nicht mehr vorhanden.
In diesem Vertrage von 1615 gelang es Oesterreich, eine
Regelung der religiösen Freiheit im Art. 7, der Handels-
vorrechte im Art. 9 und der persönlichen Freiheit, der
durch Schutzbriefe gesicherten Oesterreicher zu errei-
chen. (Siehe Art. 10.) Auch in diesen Abmachungen
finden wir das Verbot der Einmischung in die Hinter-
lassenschaft eines verstorbenen österreichischen Unter-
tanen und der Ausübung von Zollrepressalien.
Bedeutend ausführlicher als in diesem Friedensver-
trage, in dessen Inhalt all diese Fragen doch eigentlich
nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten, wurden
die Interessen der österreichischen Untertanen in der
Türkei durch einen Firman des Sultans vom 15. Juni
1617 geregelt 3) Nach Martens ist diese Urkunde „ihrer
Form nach nicht so sehr ein Vertrag zwischen Oester-^
reich und der Türkei, als ein Gnadenbrief, eine Kon-
zession (ad name), durch welche der Padischah den
österreichischen Untertanen und Konsuln bestimmte
Rechte verlieh". *) Interessant ist die im 1. Artikel
dieses Privilegs vorkommende Bestimmung, dass Oester-
reich in Konstantinopel einen Generalkonsul unterhal-
ten könne, der dann allen übrigen Konsuln im otto-'
1) Siehe Hammer Bd. 2, 2. Ausg. S. 703.
2) Vgl. Martens S. 230.
3) Siehe Nor. ßd. I. S. 42, den Text bei Miltitz Bd. II, 2
S. 1413-1421.
4) Siehe Martens S. 230.
— 60 —
manischen Reiche übergeordnet sein solle. Dies ist
eine Bestimmung, die in dieser Art zum ersten Mal
erlassen wurde, und Testa sagt daher auch, dass das
Vorrecht umso bemerkenswerter sei, als andere Staa-
ten es erst nach mühevollen Versuchen erlangen konn-
ten. 1) Im Uebrigen wurden Oesterreich die gleichen
Rechte gewährt, wie wir sie bereits bei den Kapitu-
lationen anderer Staaten erwähnt haben. Bemerkenswert
insbesondere ist die Bestimmung des 3. Artikels, der
nur den unter der Flagge des römischen Kaisers an-
kommenden Kaufleuten den Zutritt in die Stadt ge-
stattete. (Vgl. Art, 10 des Friedensvertrages von 1615.)
Die friedlichen Beziehungen zwischen der Pforte
und Oesterreich sollten jedoch nicht von langer Dauer
sein. Als einige Jahrzehnte •^^päter sich Ungarn gegen
das angestammte Fürstenhaus auflehnte, hatte die Türkei
nichts Eiligeres zu tun, als gegen Deutschland, Polen
und später auch Venedig ins Feld zu ziehen.
Als auch dieser Krieg zu Ungunsten der Türke'
endete, musste sie sich wohl oder übel zum Karlowitzer
Friedensvertrage vom 26. Januar 1699 herbeilassen, an
welchem Orte fast zu gleicher Zeit auch mit der Republik
Venedig und Polen Frieden geschlossen wurde. -) Der
Friedensvertrag zwischen Oesterreich und der Türkei,
der dem türkischen Ansehen in Europa einen neuerlichen
schweren Stoss versetzen musste, regelt neben verschie-
denen poitislchen Zugeständnissen auch die bisherigen
Handels- und Verkehrsbestimmungen, die in verschie-
dener Hinsicht einer Erneuerung und Ergänzung unter-
zogen wurden. In seinem 13. Artikel regelt er zunächst
die religiösen Fragen und bestimmt, dass die öster-
reichischen Untertanen, als Katholiken gemäss den frühe«
ren Bestimmungen alle Privilegien geniessen sollten.
Von Interesse für den türkischen Grundsatz, dass mit
Andersgläubigen kein dauernder Friede sein solle, ist
der 20. Artikel, der bestimmt: „Duret armistitium hocce
et extendatur favente Deo, ad 25 annos continuo sequen-
tes a die, qua eiusdem subscriptio facta fuerit, quo an-
norum numero elapso, vel etiam medio tempore prius-
quam elabatur, liberum esto utrique partium, si ita
placuerit, pacem hanc ad plurem adhuc annos proro-
gare."
1) Siehe Testa Bd. IX. S. 37.
2) Den Text siehe Noradounghian Bd. 1. S. 182 ff. mit Venedig
wurde der Frieden gleichfalls am 26. Januar mit Polen jedoch bereits
am 16. Januar 1699 geschlossen. (Siehe Treatis Turkey S. 727 und 393.
— 61 —
Im Uebrigen stützt sich dieser Vertrag in seinen
kapitulationsmässigen Anordnungen hauptsächlich auf
frühere Bestimmungen und ähnlich, wie nach dem Frie-
densvertrage vom Jahre 1615 folgte auch jetzt ein kai-
serlicher Firman vom 26. Juli 1700, i) der begleitet von
verschiedenen Konventionen, vor allem die Handelsbe-
ziehungen der beiden Staaten regelte, r^ich aber nach
Hammer weniger auf den kaiserlichen Firman vom Jahre
1617, als auf den Wiener Frieden von 1615 stützte.
Interessant ist hier insbesondeie das Zugeständnis eines
deutschen Protektorats über die Geistlichkeit im otto-
manischen Staatsgebiete. -)
Nachdem Venedig sich, wie bereits erwähnt, zu glei-
cher Zeit seine Rechte hatte erneuern lassen, kam es
mit Oesterreich erst aus Anlass des Passaro witzer Frie-
.dens vom 21. Juli 1718 3) am 27. Juli 1718 zum Abschluss
eines neuen Handels- und Schiffahrtsvertrages, der
gleichfalls zu Passarowitz unterzeichnet wurde. '*)
Pellissie du Rausas bezeichnet diesen Vertrag über-
haupt erst als „den ersten Handelsvertrag", der zwischen
der Pforte und Oesterreich abgeschlossen wurde. Wenn
du Rausas dies von dem Standpunkt aus behauptet, dass
dies die erste Kapitulation (in dem gebräuchlichsten
Sinne dieses Wortes) zwischen Oesterreich und der
Türkei war, so hat er zweifellos recht. Denn wenn auch
der Friedensvertrag selbst schon einige Bestimmungen
in seinen Art. 11 (Religion) und 13 enthält, so finden
wir doch eine genaue Regelung aller in Betracht kom-
menden Fragen erst im Handelsübereinkommen vom
27. JuU 1718.
Dieser Handelsvertrag enthält wie der Friedensver-
trag 20 Artikel, in welchen wir die gleichen Gedanken-
gänge verwirklicht sehen, wie in den französischen, hol-
ländischen und anderen Kapitulationen. Art. 1 sichert
Oesterreich vollkommene Freiheit des Handels und der
Schiffahrt zu, d. h. alle Häfen und Städte des osmanischen
Reiches sollen ihnen offen stehen und bestimmt nebst
dem Art. 3, dass kein höherer Zoll als 3 o/o erhoben .wer-
1) Diese Konvention, die zu Wien abgeschlossen wurde, hatte
zum hauptsächlichsten Gegenstand die Ausdehnung des über die
Sklavenirage handelnden Art. 12 des Karlowitzer Vertrages aui
alle Sklaven. Siehe übrigens Nor. Bd. 1. S. 57 und 58.
2) Siehe Hammer, Geschichte des osman. Reiches u. vgl. D61.
S. 100.
3) Siehe Noradounghian Bd. 1. S. 208—220.
4) Siehe Noradounghian Bd. 1. S. 220—227.
— 62 —
den darf, i) Interessant ist die Bestimmung des 2. Ar-
tikels, der in einer bisher durchaus nicht übhchen Weise
die Bewegungsfreiheit der österreichischen Schiffahrt im
Gebiete des Schwarzen Meeres einschränkt. Es wird den
kaiserhchen Schiffen überhaupt jegUcher Eintritt in das
Gebiet des Schwarzen Meeres untersagt. („Die kaiser-
hchen Schiffe auf der Donau dürfen nicht in das Schwarze
Meer einfahren.")^) HinsichtHch der Freiheit der
Schiffahrt kommen noch in Betracht die Art. 7 bis
12, von welchen der 7. Artikel gleichsam eine Wieder-
holung des 17. Artikels der Kapitulation von 1604 ist.
Er enthält wieder ein Verbot an die Lokalbehörden, die
Schiffskapitäne nicht zum Ausladen ihrer Waren zu
nötigen. Bezüglich einer Erleichterung des österreichi-
schen Handels bestimmt Art. 10, dass die unter öster-
reichischer Flagge fahrenden Schiffe von den Kosaren
nicht beunruhigt oder gequält werden dürfen, und dass
sie nicht für den Transport im Dienste der ottomanischen
Regierung, der Truppen oder zu irgend einer anderen
Verwendung herangezogen werden können. Ferner sol-
len sie in der Erlegung der Zölle vollkommen den Fran-
zosen, Engländern und Holländern gleichgestellt werden.
(Art. 11, Q und 10.) Art. 9 regelt wieder die Hilfeleistung
für in Seenot geratene Schiffe. Nachdem Art. 13 noch die
Cüurtoisie en mer regelt, gewährt Art, IQ Oestcrreich
gewisse Handelserleichterungen für den Verkehr mit
Persien, ähnlich wie sie andere Staaten bezüglich Russ-
lands erhielten. Auch für österreichische Untertanen
ist ein Inlandspass erforderlich und sollen die im Besitze
eines solchen Befindlichen ungehindert reisen dürfen.
Bezüglich des Handelsverkehrs ist noch nachzutragen,
dass in dieser Kapitulation zum ersten Mal die Errichtung
von Lagerräumen (nomme vulgairement khan) erwähnt
1) Die für uns in Betracht kommende interessante Bestimmung
lautet: „Die österreichischen Kaufleute, die einmal in Konstanti-
nopel verzollt haben und zwar die Waren, welche sie in dieser
Hauptstadt gekauft haben und die sie auf ihre Schiffe geladen
haben sollen sich zu befreien haben durch die Zollbillette bei
den der Donau Vorgesetzten. Die Ausstellung dieser Zollbillette
dient bei den den Dardanellenduichgang vorgesetzten Beamten
als gültiges Schriftstück und diese haben nicht mehr das Recht
eine Durchsuchung solcher Schiffe zu fordern."
2) Diese Bestimmung entsprang weniger einer böswilligen Be-
hinderung des österreichischen Handels, als der Befürchtung, es
könnten verkappte Kriegsschiffe in das Schwarze Meer eindringen
(Vgl. Kausas I. S. 143). Diese Einschränkung ist übrigens in der
späteren Kapitulation von 1784 weggefallen.
— 63 -
wird, die zur Aufnahme österreichischer Waren dienen
sollen. (Siehe Art. 15.)
Bei der Ausübung ihres Glaubens sollen die Oester-
reicher ebenso wie die anderen Nationen vollste Freiheit
geniessen. Für den Fall, dass einer von ihnen zum
Islam übertritt, sollte dieser -A.kt nur dann gültig sein,
wenn er in Gegenwart des österreichischen Dragomans
vollzogen worden war. (Siehe Art 16: „Sobald ein Kauf-
mann, ein Konsul, ein Vizekonsul oder irgend ein an^
derer Untertan Seiner Majestät nicht mit freiem Willen
den Islam annimmt, soll er in dieser Hinsicht nicht be-
lästigt werden wegen der einfachen Zeugenaussage ein»
ger Uebelwollender, die sein Bekenntnis des Glaubens
bezeugen, und er kann nicht um dieses Gegenstandes
willen verfolgt werden, solange er nicht mit vollstem
eigenem Willen dieses Bekentitnis in Gegenwart eines
kaiserlichen Dragomans getan hat. Jeder Untertan Sei-
ner Majestät muss jedoch trotzdem seine Schulden be-
zahlen, die er vorher eingegangen hatte.*') Wir sehen
also eine ganz ähnliche Bestimmung vor uns, wie im
Art. 49 der holländischen Kapitulation aus dem Jahre
1680. Bezüglich der vorher notwendigen Schuldenrege-
lung vgl. auch Art. 68 der Kapitulation von 1740. Wei-
terhin enthält Art. 13 noch eine Bestimmung über Schutz
und Sicherheit der das heilige Grab besuchenden Pilger
oder Handelsleute, die für diesen Fall von dem Pass-
erfordernis befreit sein sollen und nicht von den Ein-
nehmern der Kopfsteuer oder anderen Personea belästigt
werden dürfen.
Was die Regelung der Konsularfrage betrifft, so ist
hier der 5. Artikel der bei weitem wichtigste. Oester"
reich wird hier die Befugnis zugestanden, überall da Kon-
suln zu unterhalten, wo sich bereits Konsulate ändert r
Mächte befinden. Jedoch soll der kaiserliche Gesandte
in Konstantinopel vorher durch ein Gesuch bei der hohen
Pforte um deren Zulassung ersuchen, sodass ihnen das
Berat erteilt werden kann. Selbstverständlich soll Oester-
reich auch berechtigt sein, statt eines Konsuls bloss einen
Dolmetscher an den einzelnen Orten zu unterhalten; soll
jedoch die Einsetzung eines Konsuls an einem Orte er-
folgen, wo noch keine der Mächte eine konsularische Ein-
richtung besitzt, so bleibt die Bestätigung der Einsetzung
der türkischen Regierung vorbehalten. Ebenso wie die
anderen Kapitulationen bestimmt auch diese, dass die
Konsuln, sowie deren Uniergebene von allen Abgab i:n
— 64 —
betreit sein sollen. Diese Bestimmung beruht auf üegen-
seitigkeil und soll gemäss Art. 6 auch auf die türkisciien
Chaiibender in Oesterrcich angewendet werden. (Hier
sehen wir zum ersten Mal die Einrichtung eines türki-
schen Konsulates in Ocsterreich erwähnt.) Wie wir
bereits in den früher behandelten Kapitulationen sahen,
war es das Bestreben aller Mächte, möglichst vollständig
von der türkischen Rechtspflege loszukommen. Die-
selben Beweggründe, die wir bereits behandelt haben,
veranlassten auch Oesterreich eine derartige Vergün-
stigung zu fordern, die ihm denn auch im 5. Artikel die-
ser Kapitulation gewährt wurde. Aehnlich der hollän-
dischen Kapitulation von 1612 Art. 28, der englischen
von 1675 Art. 15, 24, 54 bestimmt auch der 5. Artikel,
dass Prozesse gegen Oesterreich er, die vor ein einheimi-
sches Gericht gehören, nur „in Gegenwart des Ge-
sandten und der Konsuln oder deren Substituten" geführt
werden dürfen. Ferner wurde bestimmt, dass der tür-
kische Gläubiger verpflichtet ist, wenn er Bezahlung ver-
langen will, sich mit seiner Klage an den Konsul des
Schuldners zu wenden, i) Prozesse, die an Streitwert
3000 Asper übersteigen, sollen von der hohen Pforte
selbst entschieden werden. (Art. 5: „Wenn sich irgend
ein Prozess oder ein Streit zwischen Konsuln, Vize-
konsuln, Dolmetschern (Dragomanen) oder kaiserlichen
Kaufleuten ereignen sollte, der die Summe von 3000
Asper übersteigt, so kann er vor keinem Prov'inzial-
gericht entschieden werden, sondern er muss dem Urteil
der hohen Pforte überwiesen werden.'*) Wie bei den
anderen Nationen, werden auch Prozesse zwischen
Oesterreichern von deren Vertretungsbehörden ohne jede
weitere Einmischung der Ortsbehörden entschieden. Hie-
be! soll sich die Vollstreckungsgewalt der Konsuln selbst
auf Gefängnisstrafen erstrecken. („Die besagten Kon-
suln und Interpreten können sie, d. h. die Schuldigen,
in das Gefängnis führen lassen.**) Auch in dieser Ka-
.pitulation finden wir die für den türkischen Gläubiger
oft recht schädliche Bestimmung, dass Schiffe, gegen die
ein Prozess anhängig ist, Jiicht zurückgehalten werden
dürfen. Sehr modern für die damaligen Verhältnisse
erscheint der 80. Artikel, der bestimmt, dass bei Aus-
1) Wenn irgend jemandem irgendeine Sache von einem kaiser-
lichen Kaufmann geschuldet würde, so muss der Gläubiger die
besagte Schuld durch Vermittlung des Konsuls, des Vizekonsuls
oder des Dragomans (interpretes) von seinem Schuldner oder
einer anderen Person fordern." (Den französischen Text s. Art. 5;
- 65 —
bruch eines Krieges „alle Untertanen der beiden Kaiser-
reiche, die sich auf dem Meere, auf der Erde, oder auf
den Flüssen befinden, zur -echten Zeit von den Feind-
seiigi<eiten in Kenntnis zu setzen sind, damit sie sich
nach Regelung ihrer Forderungen und Schulden ohne
Hindernis und Schaden mit i'.ircm Eigentum nach ihren
Gebieten flüchten können." (Vgl. die ähnlichen Bestim-
mungen des preussisch-amerikanischen Freundschaftsver-
trages.)
Von keiner besonderen Wichtigkeit, aber sehr cha-
rakteristisch ist der 14. Artikel, der bestimmt, dass sich
die österreichischen Kaufleute einen durch einen Berat
(Schutzbrief) geschützten jüdischen Zensal nur dann ge-
fallen lassen müssen, wenn sie ihn selbst haben wollen.
Dieser Handelsvertrag von Passarowitz Vvurde spä-
terhin noch des öfteren erneuert, so im Jahre 1739, am
25. Mai 1747 und am 24. Februar 1784.')
Das hauptsächliche Streben Oesterreichs war immer
darauf gerichtet, eine den französischen Kapitulationen
möglichst gleichwertige Stellung zu erlangen. In dem
Belgrader Vertrag vom 18. September 1739 ist vor allem
erwähnenswert die Bestimmung des 9. Artikels über die
Protektoratsprivilegien Oesterreichs über die PCatholiken
im Orient. Nach dem Wortlaute dieses Artikels zu
schliessen, müssen diese sehr weitgehend gewesen sein.
Aber, fügt Pellissie du Rausas seiner Erörterung über
diesen Abschnitt zugleich bei, „wir können versichern,
. . . das der neunte Artikel des Vertrages von Belgrad
in der Tat nur ein toter Buchstabe geblieben ist. -) Im
übrigen wurden die Handelsbeziehungen nach dem
Muster des 19. Artikels des Passaro witzer Vertrages
durch den 12. Artikel neuerdings geregelt. Darnach wird
Oesterreich wieder das Handelsrecht mit Persfen zu-
gestanden und bestimmt, dass auch den persischen Kauf-
leuten keine Hindernisse in den Weg gelegt und keine
Abgaben als der 5 o/o ige Zoll abgefordert werden sollen.
Hervorzuheben ist noch die erstmalige Einfügung
der Meistbegünstigungsklausel für Oesterreich.
Der Vertrag selbst wurde gemäss Art. 23 für dij
Dauer von 27 Jahren, gerechnet vom Tage der Unter-
zeichnung, abgeschlossen und bestimmt, dass nach Ab-
1) Den Vertrag vom 18. September 1739 siehe Nor. Bd. I. S- 243.
Den Vertrag vom 25. Mai 1747 siehe Miltitz Bd. II, 2 S. 1492.
Den Vertrag vom 24. Februar 1784 s. Nor. Bd. l. S. 379. Senett.
2) Siehe Rausas Bd. I. S. 121—122.
5
— 66 —
lauf dieser Zeit es jedem der vertragschliesscndeii Teile
freistehen solle, ebenso wie vor Ablauf der Vertrags-
zeit, diesen Friedensvertrag auf eine beliebig grosse An-
zahl von Jahren zu verlängern und es erfolgt zum Schlüsse
noch die übliche Strafandrohung gegenüber all denen, die
sich eine Verletzung des Vertrages zuschulden kommen
lassen würden.
Bezüglich des Sened en faveur du commerce autri-
chien dans TEnipire Ottoman 'ist zu bemerken, dass
diese Kapitulation, wie bereits erwähnt (vgl. Inhalt S. 62
Anm. 2) eine formelle Aufhebung des 2. Artikels des
Passarowitzer Handelsvertrages in ihrem '6. Artikel brach-
te. („Die Untertanen und Kaufleute des Kaisers kön-
nen frei und ohne, 'dass die im Handelsvertrage von
Passarowitz eingefügte Ausnahme ein Hindernis bie-
ten könnte, in Handeslangelegenheiten die Ufer des
Schwarzen Meeres hin und zurück befahren, unter öster-
reichischer Flagge und bestimmt, dass sie 'lur einmal
zur Zollleistung herangezogen werden sollen.**)
Art. 5 enthält wieder die Meistbegünstigungsklau-
sel und Art. 2 bestimmt, dass der Zoll nunmehr nur
3"/o betragen solle. Die 8 Artikel dieser Kapitulation
enthalten merkwürdigerweise nichts über religiöse Fra-
gen und es ist auch nicht mehr die leiseste Anspielung
auf ein österreichisches Protektorat in religiösen An-
gelegenheiten zu entdecken, i) Die Beziehungen der
Pforte zu Oesterreich werden 'uns im Anschluss an andere
Staaten noch des öfteren 'beschäftigen und wollen wir
zum Schlüsse dieser Darstellung noch bemerken, dass
der Vertrag von 1718 bereits vollkommen den Charakter
eines modernen zweiseitigen Handelsvertrages trägt,
wenn man natürlich von dem türkischen Text absieht, der
nach dem alten Brauche noch immer seine einseitige
Befehlsform behalten hat. 2)
Die Beziehungen der Pforte zu Russland.
Zu Russiand unterhielt die Pforte, genau genommen,
erst seit dem 15. Jahrhundert Beziehungen, die ab;r
erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts greifbare üe.stalt
1) Rausas Bd. 11. S. 120.
2) Kine Krneuerung fand noch statt durch den Vertrag vom
4. August I7yi vgl. Rausas Bd. II, S. 6 und durch den Handels-
vertrag vom 22. Mai 1862, der diese Verträge neu bestätigte.
(Siehe auch Ulimann lö98, Völkerrecht S. 115 Anm. 8).
— 67 —
annahmen, i) Vorher hatte jedoch Russlaud bereits im
9. Jahrhundert ein sehr freundschaftUches Verhältnis zum
griechischen Kaiserreiche unterhalten, das sich beson-
ders für das 10. Jahrhundert durch Quellenmaterial ge-
nau verfolgen lässt. Nachdem aber die Türken Konstan-
tinopel eingenommen hatten, hörte der freundschaftliche
Verkehr aisbald auf und die russischen Kaufleute, die als
Ungläubige durch keinen Waffenstillstandsvertrag ge-
schützt waren, wurden allen Verfolgungen preisgegeben.
Um diesem Zustande abzuhelfen, schickte Iwan III. im
Jahre 1499 seinen Gesandten zu Bajazet nach Kon-
stantinopel, um für die dortigen russischen Kaufleute
Sicherheit der Person und der Habe zu erwirken, was
ihm vom Sultan auch gewährt wurde. 2)
In der Folge verschlechterten sich die Beziehungen
zwischen Russland und der Türkei zusehends, so dass es
im 17. Jahrhundert zu blutigen Zwistigkeiten kam, die
durch den Frieden von Bachtschissarai im Jahre 1681
endeten. 3)
Dies erregte den Hass der Türken immer mehr, und
so sehen wir, dass selbst in dem Vertrage vom 13. Juni
1700 Russland nur einige formelle Rechte erhielt.*) Russ-
land erhält die Befugnis, für Konstantinopel „einen Re-
sidenten seiner zarischen Majestät" zu ernennen, der
gemäss Art. 13 die gleichen Ehren und Privilegien wie
die Vertreter der anderen freundlichen Mächte erhalten,
und dessen Kuriere im Frieden, gesichert durch Reise-
pässe, gehen und kommen können. Auch die Russen
dürfen ohne jede weitere Behelligung von Seiten der
türkischen Behörden zum heiligen Grabe pilgern. Art. 12.)
Hinsichtlich der Regelung der Handelsbeziehungen be-
stimmt Art. 10, dass diese erst später mit einem Ge-
sandten Russlands, den dieses ,,nach altem Gebrauche**
schicken werde, zum Abschluss gelangen sollen. Ge-
hindert durch die immer wieder von neuem ausbrechen-
den Feindseligkeiten, kam eine Erledigung der meisten
schwebenden Fragen erst durch den am Pruth geschlos-
senen Vertrag vom 21. Juli 1711 'O zustande. Erst hier
wird zum ersten Mal eine gegenseitige Freiheit des Han-
delsverkehrs gewährt. Merkwürdigerweise verlor aber
1) Martens S. 233.
2) Martens S. 233
3) Dies ist der Vertrag von Radschin vom 8. Januar 1681.
(Vgl. Nor. Bd. I. S. 54.)
4) Vgl. Nor. Bd. I. S. 197.
5) Vgl. Treaties Turkey S. 434.
— 68 —
Russland jetzt das Recht, zur Wahrung seiner Interessen
einen Gesandten in Konstantinopel zu unterhalten, ein
Recht, das ihm erst durch den Vertrag zwischen Ach-
med III. und Peter dem Grossen vom 16. XI. 1720 (ab-
geschlossen zu Konstantinopel) wieder zugestanden wur-
de, i) Sein Art. 12 enthält die gleiche Bestimmung wie
der 13. Artikel des Vertrages vom 13. Juni 1700. Ebenso
wird im 11. Artikel neuerdings gegenseitige Handels-
freiheit zugesichert und Russen das Recht gewährt, die
heiligen Stätten ohne jede weiteren Abgaben zu be-
suchen.
Nicht zufrieden mit diesem Erfolg suchte Russland,
als es auf friedlichem Wege nichts mehr erreichen konnte,
mit Gewalt eine Ausdehnung seiner Rechte herbeizufüh-
ren. Wie wir bereits aus Anlass der Darstellung der
französischen Kapitulation von 1740 ausführten; erschien
damals Frankreich in der Gestalt seines Gesandten Ville-
neuve als „uneigennütziger'' Retter der Türkei und be-
wahrte dieselbe vor völligem Untergange. Durch seine
diplomatische Gewandtheit gelang es Villeneuve, noch
den Frieden von Belgrad vom 18. September 1739 für
die Türkei zfu erwirken, wobei Russland, trotz seiner her-
vorragenden Siege, nicht einmal das Recht erhielt, Kon-
sulate in der Türkei zu errichten und die russischen Kauf-
leute, wenn ihnen auch Handelsfreiheit zugestanden wur-
de, dennoch das Schwarze Meer nur auf türkischen
Schiffen befahren durften. 2) (Art. 9.)
Immerhin spricht der 13. Artikel, wenigstens von der
Residenz eines russischen Ministers, dem die gleichen
Rechte gewährt werden, wie den Bevollmächtigten der
anderen Staaten. Sonst enthält der Vertrag keine neuen
Bestimmungen. Später setzte es sich vor allem die Kai-
serin Katharina II. zum Ziel, den Traum von weitest-
gehenden russischen Rechten ui der Türkei einer baldigen
Erfüllung zuzuführen. Mit der an ihr bekannten Energie
verwirklichte sie auch ihr Streben, durch den Friedens-
vertrag von Katschuk-Kaynardgi vom 10, Juli 1774."')
Besonders wichtig ist .die folgende Stelle des 11. Artikels,
wodurch Russland als meistbegünstigte Nation anerkannt
wurde. („. . . cela aux memes Privileges et avantages
dont jouissent dans les etats les Nations les plus amies
1) Vgl. Nor. Bd. I. S. 227.
2) Text des Vertrages vom 18. September 1739 siehe Nor.
Bd. I. S. 258 ff. Vgl. Martens S. 238.
3) Den Text siehe Nor. Bd. 1. S. 319 f.
— 69 —
qui la Sublime Porte favorise Ics plus dans le commerce
tels que les Frangais, les Anglais . . .") Es wird ins-
besondere bestimmt, dass alles, was in den englischen
und französischen Kapitulationen enthalten ist, auch voll-
kommen für den Handel der russischen Kaufleute üeltung
haben solle. „Auf diese Weise vertritt der Kainardshcr
Traktat in Bezug auf Russland die unzähligen Kapitula-
tionen, durch welche die übrigen europäischen Mächte
diesem Staate voraus waren. , . .*' i) Gleichzeitig er-
hält Russland ausdrücklich das Recht zugestanden, überall
wo es will Konsulate zu errichten. (Art. 11: „Konsuln
und Vize-Konsuln an allen Orten, wo das russische Reich
sie für nötig hält, sollen ebenso wie die Konsuln der an-
deren befreundeten Staaten betrachtet und respektiert
werden.") Ferner wird bestimmt, dass der russische
Konsul in der Auswahl seiner Dragomane an keine be-
stimmte Anzahl (Art. 11 Abs. 3) gebunden sein soll,
Art. 5 regelt in der bisher üblichen Weise die Ehren-
rechte des russischen Ministers zweiten Ranges in Kon-
stantinopel, der die gleiche Beliandlungsweise, wie die
Minister der übrigen Mächte erfahren soll. In der Reihen-
folge soll er unmittelbar hinter dem holländischen Ge-
sandten und in dessen Abwesenheit hinter dem vene-
zianischen Gesandten kommen. Bezüglich der religiösen
Zugeständnisse ist zu bemerken, dass dieselben sehr weit-
gehend waren. Nachdem im 8. Artikel den Russen wie
bisher das Recht der freien Wallfahrt nach Jerusalem ge-
währt wird, wobei sie keiner wie immer gearteten Ab-
gabe unterworfen werden sollen, bestimmt der vor allem
in Betracht kommende 7, Artikel, dass den Christen von
Seiten der türkischen Regierung in Hinkunft jeglicher
Schutz gewährt werden soll und den Russen die Erlaub-
nis erteilt wird, eine russisch-griechische Kirche zu er-
richten. Diese Bestimmung sollte für die Vertreter Russ-
lands aber erst durch den Zusatz, dass sie das Pro-
tektorats- und Reklamationsrecht über diese Kirche hät-
ten, zu einer für die Türkei überaus lästigen Handhabe
w^erden. (Vgl. Art. 7, 14.) Russland wurde nämlich da-
durch instand gesetzt, sich in alle Angelegenheiten der
christlichen Untertanen der Türkei zu mischen und auf
diese einen nicht zu unterschätzenden politischen Ein-
fluss zu erlangen.
Bezüglich der Bestimmung über den Uebertritt zum
Islam, ist noch zu erwähnen, dass eine Uebertrittserklä-
1) Vgl. Martens S. 240 ff.
— 70 —
rung, die in betrunkenem Zustande abgegeben wird, nicht
gültig sein soll. Aelinlicli den Bestimmungen der anderen
Kapitulationen wird auch hier festgesetzt, dass ein Ver-
brecher sich nicht durch die Annahme des Islams und
hierdurch der türkischen Staatsangehörigkeit, seiner Be-
strafung entziehen könne. Selbstverständlich ist aber je-
denfalls die Anwesenheit eines Beamten der russischen
Vertretungsbehörde erforderlich.
Martens sagt zur Charakteristik dieses Abkommens,
dass es „wie in formeller, so auch in materieller Be-
ziehung alle Kennzeichen eines völkerrechtlichen Ver-
trages, der bestimmte Rechte und Pflichten festsatzt,
trägt". 1) Ferner folgert er, dass die durch den Vertrag
von Katschuk-Kaynardge erworbenen Rechte nicht der
„Ausfluss grossherrlicher Gnade**, sondern gegenseiti-
ger Uebereinkunft sind, i) Daraus folge aber auch, fährt
Martens fort, dass sie nur mittels einer gleichen gegen-
seitigen Uebereinkunft wieder aufgehoben werden kön-
nen. (Ueber diese Streitfrage vgl. Teil II.) Noch im
Jahre 1779 2) Hess sich Katharina II. die Zusicherung'
geben, dass später ein vollständig den französischen und
englischen Kapitulationen angepasster Handelsvertrag ge-
schlossen werden solle. Bemerkenswert an dieser Kon-
vention vom 10./21. März 1779 ist insbesondere der
6. Artikel, der eben diese Bestimmung enthält. (Art. 6:
„Es wird erklärt, dass die hohe Pforte eine freie Durch-
fahrt durch das Schwarze Meer in das Weisse Meer
und vom Weissen Meer in das Schwarze Meer den russi-
schen Schiffen gewährt . . . und gleich den französischen
und englischen Abmachungen. — — — Man ist über-
eingekommen, eine Konvention auszuarbeiten auf der
Basis und der gleichen Grundlage, wie die französi-
schen und englischen Kapitulationen, indem man sie dem
russischen Handel, soweit dies mit dessen Natur ver-
einbar ist, anpasst.") Nach äussert langwierigen Ver-
handlungen erreichte Russland endlich das Ziel seiner
Wünsche.
Am 21. Juni 1783 3) kam der erste eigentliche
russisch-türkische Handelsvertrag zustande. Rausas
sagt mit Recht von diesem Vertrage, dass seine 81 Ar-
tikel nichts als ein langer Kommentar der Meistbegün-
stigungsklausel seien. ^) Gleich die Einleitung enthält
1) Martens S. 241.
2) Vgl. Nor. Bd. I. S. 338 ff.
3) Vgl. Nor. Bd. 1. S. 351 ff.
4) Siehe Rausas Bd. I. S. 95.
— 71 —
vollkommen klar ausgedrückt diese Klausel. („Man wird
unterhandeln und regeln eine Handelskonvention, indem
man zur Grundlage nimmt die mit Frankreich und Eng-
land eingegangenen Kapitulationen, welchen man diese
soweit anpassen wird, als dies bei der Natur des russi-
schen Handels möglich ist. Gemäss dem folgenden
Art. 11 müssen die Kapitulationen Frankreichs, Englands
und der anderen Staaten, selbst, wenn sie Wort für Wort
in diesem Uebereinkommen eingefügt sind, zur Regel
dienen, worauf sich der ganze Handel und die russischen
Kaufleute stützen.") Nicht genug damit, liess sich Russ-
land das gleiche Zugeständnis, wenn auch in geschraub-
terer Form im 17. Artikel neuerdings geben. (Vgl. auch
Art. 77 und 81.) Der Artikel wiederholt überhaupt voll-
kommen wortgetreu die Bestimmungen der französischen
und englischen Kapitulationen. Aus dieser zähen Fest-
haltung an der Meistbegünstigung erhellt nicht nur die
Aengstlichkeit und das Misstrauen des russischen Ver-
tiagsteiles, sondern auch die gewaltige Grösse der eng-^
lischen und französischen Einflusssphäre, die eben einen
solchen Anreiz auf die anderen Staaten ausübte, wie
seinerzeit die Machtstellung Venedigs. Da dieser Ver-
trag ausserordentlich eingehend sämtliche in Betracht
kommenden Fragen erörtert, und eben durch die Meist-
begünstigungsklausel auch für die anderen Nationen spä-
terhin Geltung erlangte, so wird man nicht umhin kön-
nen, auf seinen Inhalt näher einzugehen. Verschiedene
Bestimmungen beruhen wieder auf Gegenseitigkeit, aber
die Türkei hat hieraus ebensowenig Nutzen gezogen, wie
aus den entsprechenden Bestimmungen in den französi-
schen Kapitulationen. Zunächst wird wieder die Freiheit
der Person zugestanden und den Russen das Recht ge-
währt, ungehindert die türkischen Gebiete zu bereisen,
ohne das svon ihnen die Kopfsteuer (Charadsch) oder
eine andere Abgabe gefordert werden könne. (Vgl.
Art. 3, 10, 19, 71.) Die in türkischer Sklaverei befind-
lichen Russen sind unverzüglich wieder freizulassen. (Vgl.
französische Kapitulation von 1740 und Art. 10 dieser
Kapitulation.)
Jede russische Wohnung soll durch Gewaltmass-
regeln von Seiten türkischer Behörden nicht betreten
\verden können, es sei denn die Ausnahme eines Not-
falles gegeben, aber auch dann nur unter Zuziehung der
russischen Vertretungsbehörde. (Vgl. Art. 67.)
Hinsichtlich der Niederlassungsmöglichkeiten wird
den Russen weitestgehende Freiheit zugestanden, ja der
_ 72 —
Art. 4-1 rc.^elt sogar die Bestimmungen über die Miete
von Wohn- und Lagerräumen. (Siehe auch Art. 1.)
Hcziighch des Handels wurden auch den Russen
liic gleichen Zollvergünstigungen zuteil, wie den An-
gehörigen der anderen Staaten, d. h. der Zoll wurde von
50/0 auf 3'».. herabgesetzt. (Vgl. Art. 20, 21, 25 und ig.)
Art. 28 enthält die Bestimmung, dass alle in diesem Han-
delsvertrage nicht enthaltenen Steuern als aufgehoben
gelten sollten (also auch die Abgabe des Massdariye), und
ferner bestimmt Art. 26 und 27, dass auf gemünztes Geld
keine Abgaben erhoben werden dürfen. Interessant ist
eine den französisch-türkischen Bestimmungen nicht un-
ähnliche Bestimmung, dass im Kriegsfalle des einen der
beiden Vertragsteile mit einer dritten Macht, der neutral
bleibende Vertragsteil mit dieser dritten Macht Handel
treiben darf, natürlich mit Ausnahme der Lieferung von
Munition. (Siehe Art. 40.) Auch der Handel Russlands
soll ebenso wie der französische und englische zu Wasser
und zu Land keinen Beschränkungen unterliegen. Art. 1,
2 und 6.) Bezüglich des russischen Reiseverkehrs ist
zu bemerken, dass für diesen gleichfalls ein Pass ge-
nügen soll, (Jen nach den neueren Bestimmungen ent-
weder die Vertretungsbehörde oder die türkische Lokal-
behörde ausstellen kann. Im übrigen sehen wir hier die
gleichen Bestimmungen, wie wir sie bereits bei Be-
sprechung der türkisch-französischen Kapitulation von
1740 eingehend behandelt haben. Interessant ist hierbei
die Bestimmung des Art. 33, der der Türkei das Durch-
suchungsrecht eines russischen Schiffes zugesteht, „wenn
die Pforte Verdacht schöpft, dass sich unter der Mann-
schaft dieser Schiffe einer ihrer Rayas befindet. Der
kaiserlich-russische Hof stimmt überein, dass die Mann-
schaft eines solchen Schiffes durchsucht w^erden könne,
ohne dass man währenddessen, wie bereits oben aus-
geführt, die Ladung des Schiffes berührt. Man soll in
einem solchen Fall mit aller Vorsicht handeln, ohne
irgendwie den Kapitän oder den Eigentümer des Schiffes
zu belästigen, und man soll dem Durchfuhrhandel keine
Hindernisse bereiten, wie dies im Friedensvertrage ver-
einbart wurde, indem man ohne begründete Ursache der-
artige Durchsuchungen gestattet," Die gleiche Regel
ist gemäss Art. 34 den Schiffen gegenüber zu beobachten,
die durch die Meere des ottomanischen Reiches nach den
russischen Häfen zurückkehren. Art. 33 bestimmt fer-
ner, dass russische Schiffe, natürlich ausgenommen den
oben erwähnten Fall, bei Vorzeigen eines Passierscheines
— 73 —
(„firman de passage") ungehindert unter russischer
Flagge die Dardanellen passieren können.
Bezüglich der Konsulareinrichtungen ist zu erwäh-
nen, dass den Konsuln die gleichen Rechte, wie denen
der anderen Staaten zugestanden wurden und dürfen
auch sie die Abzeichen ihres Staates führen und sich
vor Gericht durch ihren Dragoman vertreten lassen.
(Art. 53, 59.) Ferner sichert ihnen Art. 54 das Recht
zu, sich eine beliebige Anzahl von Yassakchis (Janitscha-
ren) „für die Bewachung ihres Wohnhauses*' auszuwäh-
len, die unter dem Schutze der ihnen vorgesetzten Odo-
baschis und anderer Offiziere stehen sollten.
Hinsichtlich der zivilrechtlichen Fragen ist keine
nennenswerte Neuerung gegenüber anderen Kapitula-
tionen zu erwähnen. (Art. 57 und 58.)
Bezüglich der Gerichtsbarkeit erhalten die Russen
die gleichen Vergünstigungen, wie die Untertanen der
anderen Staaten. Demnach finden wir für Prozesse zwi-
schen Russen und anderen christlichen Untertanen im
Art. 58 die gleiche Bestimmung wie im Art. 52 der fran-
zösischen Kapitulation von 1740. Dieser Artikel besagt
nämlich, dass bei einem Streite der russischen Konsuln
oder Kaufleute mit den Konsuln oder Kaufleuten einer
anderen christlichen Nation, die Beteiligten das Recht
haben sollen, diesen Prozess durch den russischen Ge-
sandten entscheiden zu lasserr.
Im übrigen wären noch die Art. 63 bis 74 zu er-
wähnen, die jedoch gegenüber der tranzösisch-türkischen
Kapitulation von 1740 nichts wesentlich Neues bringen.
Auf alle Fälle ist es das Verdienst der Kapitulation
von 17S3, alle Rechte der Russen in der Türkei auf
breitester Grundlage erörtert zu haben und ihnen, die
noch zu einer Zeit, als die anderen Nationen in dieser
Beziehung bereits weit vorgeschritten waren, nur sehr
wenige Befugnisse hatten, dieselben in reichem Masse
gegeben zu haben.
Das Auftreten der russischen Vertretungsbehörden
im türkischen Staatsgebiete scheint sich jedoch keiner be-
sonderen Sympathien erfreut zu haben, denn bereits im
gleichen Jahre 1783 stellte die Türkei an Russland das
energische Verlangen, verschiedene Konsuln abzurufen
und gleichzeitig die Einsetzung türkischer Vertreter in
russischen Häfen zu gestatten, was nicht unwesentlich da-
zu beitrug, dass die Pforte im Jahre 1787 an Russland
den Krieg erklärte. Nach dem überaus unglücklichen
Verlaufe desselben war die Pforte gezwungen, am 29. De-
— 74 —
zember 1701 (0. Januar 1792) den Frieden zu Jassy
711 schliesscn, der den Friedensvertrag von Kutscliuck-
Kavnardge und das Handelsübcreinivoninien von 1783
bestätigte.
Später schloss Russland noch im Jahre 1820') mit
der Pforte den Vertrag zu Aci<erman, um sich vor ver-
schiedenen Verstössen der Türkei zu schützen, dem im
Jahre 1829 (14, September) eine Bestätigung zu Adria-
nopel folgte, die eine genaue Befolgung aller die Russen
schützenden Vorschriften anordnete. -) Eine nochmalige
Erneuerung mit einigen Modifikationen fand am 22. Ja-
nuar/3. Februar 1862 statt.') Dieser Vertrag enthält
wieder die Meistbegünstigungsklausel im Art. 8 Abs. 2
und bestimmt ferner im 11. Artikel, dass der Zoll nur
mehr 20o und bei Erneuerung des Vertrages endgültig
lo/o betragen soll. ^) Ferner erhielt Russland die Meist-
begünstigungsklausel durch Art. 17 des Vertrages vom
10. Juni 1873.^)
Die Beziehungen des osmanischen Reiches
zu Preussen und Deutschland.
Bereits im Jahre 1718 machte Preussen den Ver-
such, mit der Türkei in nähere Berührung zu treten. Aber
erst nach langandauernden Unterbrechungen begannen
durch Vermittlung der nordischen Staaten im Jahre 1755
die ersten Unterhandlungen, denen im Jahre 1761
(22. März alter Stil) der preussisch-türkische Freund-
schafts- und Handelsvertrag durch den Gesandten Rexin
zustande gekommen, folgte. ^) Dieser Vertrag kann mit
Recht als die kürzeste türkische Kapitulation angesehen
werden, umfasst er doch nur 8 Artikel. '')
\) DeniText dieses Vertrages vom 7. Oktober 1826 s. Nor,
Bd. II. S. 116. S. auch Drucks. 170 8. Leg. per 1. Sess. Reichst.
1890/91.
2) Den Text dieses Vertrages vom 2./14. Sept. 1829 siehe
Nor. Bd. II S. 166.
3) Siehe Nor. Bd. III. und vgl. Ullmann Völkerrecht 1908.
4) Siehe den Text bei Nor. (1902) Bd. III S. 171.
5) Vgl. Antonoupoulos-Meyer S. 102 'Anm. 4. Ferand-Girand
Bd. I. S. 49.
6) Siehe Nor. Bd. I. S. 315, ferner Deutsche Konsularverträge
Berlin 1878 S. 158 und die deutsche Uebersetzung auch bei Leh-
mann, Kapitulationen S. 66.
7) Die gewiss kurze spanische Kapitulation vom 14. Sept. 1782
umlasste z. B. 21 Art. Vgl. übrigens Rausas Bd. I. S. 96 ff.
— 75 —
Die Kapitulation war ursprünglich in türkischer und
italienischer Sprache abgefasst und hat vollkommen den
Charakter einer zweiseitigen auf Gegenseitigkeit beruhen-
den Abmachung, also eines völkerrechtlichen Vertrages. ')
In diesem Uebereinkommen sehen wir des öfteren
die Meistbegünstigungsklausel angebracht, so dass es
keinem Zweifel unterliegen kann, dass Preussen die
gleichen Rechte nunmehr hatte, wie die anderen Na-
tionen.
Nach einer überaus höflichen Einleitung, in der des
Näheren die Gründe erörtert werden, die zum Abschluss
dieses Vertrages angeregt hatten, teilt Art. 1 zunächst
mit, dass zwischen den beiden Staaten „dauernder Friede
und gegenseitige aufrichtige Freundschaft*' bestehen solle.
Ferner wird gegenseitig vereinbart, dass die Untertanen
beider Staaten ungehindert Handel treiben und Reisen
unternehmen dürfen, wobei allerdings ein ordnungsmässig
ausgestellter Pass erforderlich ist. Ueberhaupt sollen die
preussischen Kaufleute die gleiche Behandlung erhalten,
wie die Kaufleute der anderen befreundeten Mächte. Kein
preussisches Schiff soll ausser der Freundschaftsabgabe
von 300 Asper weiter belästigt werden. Auch für ver-
unglückte preussische Schiffe wird jegliches Strandrecht
aufgehoben. Art. 2 setzt die Höhe des Zolles auf 3 o/o
fest und verbietet, wie die Kapitulationen der anderen
Staaten, eine Ueberschätzung der Waren. Zollfrei sind
die Güter, die für den preussischen Gesandten selbst ein-
treffen, Art. 3 setzt die „courtoisie en .mer" fest und be-
stimmt, dass türkische Fahrzeuge gegen preussische Han-
delsschiffe keine feindlichen Handlungen unternehmen
dürfen.
Gemäss Art. 4 soll der preussische Gesandte bei der
hohen Pforte „dieselbe Unabhängigkeit und dieselben
Vorrechte geniessen, die nach dem Brauche den Ge-
sandten der anderen befreundeten Mächte zustehen''.
Interessant ist die Bestimmung, die dem preussischen Ge-
sandten unmittelbar das Recht verleiht, dort, wo sich be-
reits Konsuln, Vizekonsuln und Dragomans anderer
Mächte befinden, gleichfalls solche zu ernennen. Auch
dem preussischen Gesandten steht das Recht zu, sich
Dragomane zu halten, doch ist deren Zahl für ihn auf
vier, für den Konsul auf einen beschränkt. Gemäss Art. 5
wird die Exterritorialität des Gesandten auch auf den
li Die Angabe Frederico Terzo (III) im italienischen Urtext
ist wohl auf ein V^ersehen zurückzuführen.
_ 76 —
Konsul ausgedehnt. Auch er darf nicht in Haft genom-
men werden und sein Haus „weder versiegelt, noch be-
sichtigt, noch durchsucht werden". Falls sie selbst in
einen? Rechtsstreit verwickelt sind, kann dieser nur durch
Vermittlung des Gesandten vor der hohen Pforte selbst
entschieden werden. Besonders bemerkenswert ist der
5. Artikel, der Preussen fast unter dem gleichen Wort-
laut bezüglich des Gerichtsstandes dieselben Rechte zu-
gesteht wie den Franzosen. Der französische Text lautet
in deutscher Debersetzung: „Wenn irgend ein Streit
unter den Preussen und deren Angehörigen entsteht,
sollen die preussischen Gesandten oder Konsuln die An-
gelegenheit nach ihren Gesetzen entscheiden, und sobald
die Preussen nicht selbst verlangen, von der türkischen
Justiz abgeurteilt zu werden, sollen die Gouverneure
der hohen Pforte sich nicht durch Gewalt einmischen,
um sie aburteilen zu wollen.'* Die Türkei stellt wenig-
stens zum Schlüsse eine „Proragatio fori** auf, d. h. dass
rnit Willen der Parteien eine Zuständigkeit der türkischen
Gerichte begründet werden kann. Praktisch ist von üieser
Möglichkeit wohl kaum jemals Gebrauch gemacht wor-
den, aber auch theoretisch wurde sie durch das deutsche
Reichsgesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom Jahre
1879 1) (neu geregelt vom 7. April 1900) gegenstandslos,
da der § 1 dieses Gesetzes die deutsche Konsulargerichts-
barkeit als ausschliesslich zuständig erklärt. Die Bedeu-
tung der tüikischen Gerichte blieb demnach in Zukunft
nur noch auf die Schiedsgerichtsbarkeit beschränkt.
Bei Prozessen zwischen Preussen und Türken muss
ein konsularischer Vertreter anwesend sein, widrigen-
falls der Preusse jegliche Aussage verweigern kann.
Ueberschreitet der Streitwert des Prozesses 4000 Aspres,
so soll er vor der kaiserlichen Residenz des ottomanischen
Reiches zur Verhandlung gelangen. Auzh in einem Pro-
zesse gegenüber preussischen Untertanen soll in An-
sehung des türkischen Klägers der gleiche Grundsatz
gelten, wie in den anderen Kapitulationen, d. h. er muss
vollgültige Beweisurkunden mitbringen. Zum Schlüsse
wird noch die rein individuelle Haftpflicht für Schulden,
leichtere Delikte und Auffinden eines getöteten Men-
schen ausgesprochen und bestimmt, dass ein preussisches
Kauffahrteischiff nicht grundlos an seiner Abfahrt ge-
hindert werden soll. Desgleichen wird gegenseitig jedes
1) Das gleiche ^alt schon nach dem preussischen Gesetze
vom 29. Juni 1865.
— 77 —
Sklavereirecht für aufgehoben erklärt und ferner in Art. 3
festgesetzt, dass der Nachlass eines gestorbenen preussi-
schen Untertanen entweder an seine Vertretungsbehördc
oder an einen beauftragten Landsmann desselben aus-
gehändigt werden soll.
Bezüglich der religiösen Fragen wird noch be-
stimmt, dass den Preussen hinsichtlich ihrer Religions-
ausübung vollkommen gleiche Behandlung gewährt wer-
den soll wie den Angehörigen der anderen befreundeten
Nationen. ^)
Art. 7 schärft, wie wir dies bei anderen Verträgen
schon oft sahen, nochmals die genaue Befolgung aller
Vorschriften ein, und hebt auch besonders die Qegen-
seifigkeit der Bestimmungen heivor.
Art. 8 sieht nur eine Vervollständigung der Bestim-
mungen vor und zum Schlüsse wird gemäss dem Vertrags-
charakter der Urkunde, eine Ratifikation innerhalb vier
Monaten vorgesehen.
Dieser Vertrag wurde zunächst durch eine Handels^
konvention vom 22. Oktober 1840 2), die auch mit einigen
anderen Staaten eingegangen wurde, und durch einen Ver-
trag vom 20, März 1862 auf den deutschen Zollverein über-
tragen und durch Art. 24 des deutsch-türkischen Freund-
schafts-Handels- und Schiffahrtsvertrages vom 26. Au-
gust 1890 auch auf das Deutsche Reich ausgedehnt, „so-
weit sich diese nicht im Widerspruch mit der gegenwär-
tigen Konvention befinden". 3) Dieser Vertrag von 1890
enthält zahlreiche und wichtige Erweiterungen und kam
durch den damaligen deutschen Gesandten von Radowitz
zustande.
Er enthält gleich im 1. Artikel die Meistbegünsti-
gungsklausel, die wieder bemerkenswerterweise auch für
alle die Zugeständnisse Geltung haben sollte, die später-
hin irgendeiner meistbegünstigten Nation gewährt wer-
den würden. Der Zollsatz für auszuführende Waren be-
1) Aus diesem Grunde verbat sich Deutschland auch des
öfteren die französische Protektoratsanmassung über die Christen
im Orient. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht der spätere
kaiserliche Firman vom 10. September 1845 über die Erbauung
eines protestantischen Tempels (Nor. Bd. II. S. 370) und der tür-
kische Firman v. 14. Nov. 1850 der eine protestantische Gemeinde
anerkennt (S. Nor. Bd. II. S. 392 und vgl. Bachem Staatslexikon
5. Bd. S. 551.
2) Siehe Nor. Bd. II. S. 314.
3) Siehe R.G.Bl. 1891 S. 117. Nor. (1903) Bd. 4 S. 485. Siehe
ferner die Zusatzübereinkunft vom 25. April 1907. (RGBl. S. 371)
— 78 —
trägt nur ein Prozent und ist nur einmal zu entrichten.
(Vgl. die russische Kapitulation vom 22. Januar/ 3. Fe-
bruar 1862 Art. 11 und Art. 4 Abs. 2 des deutschen Ver-
trages von 1890.)
Die folgenden Artikel enthalten zumeist den Handel
betreffende Bestimmungen. Art. 15 bestimmt, dass deut-
sche Schifte, die einen Firman besitzen, ungehindert die
Dardanellen durchfahren können, doch bestimmt Art. 17,
dass die Ein- und Durchfuhr von Kriegsmaterial in den
ottomanischen Gebieten verboten sein soll. Diese Bestim-
mung wird ihres Wertes durch den zweiten Absatz ziem-
lich beraubt, der bestimmt, dass die Einfuhr dann erlaubt
sein soll, wenn der Gesandte selbst Kriegsmaterial ver-
langt. Besonders strenge Bestimmungen gegen die Kon-
terbande enthält der 20. Artikel, der kurzerhand die
Konfiskation zugunsten des Schatzes zulässt und ferner
der türkischen Zollverwaltung sofortiges Vorgehen gegen
verdächtige Lagerräume gestattet, welche Bestimmungen
in den folgenden Artikeln noch .des Näheren erläutert
werden.
Art. 25 enthält, wie bereits erwähnt, die Aufrecht-
erhaltung des alten preussischen Vertrages von 1761 und
bestimmt wie dieser Vertrag, dass eine Erweiterung des
Uebereinkommens durch nützliche Modifikationen unter
gegenseitigem Einverständnisse stattfinden könne.
Der Zeitpunkt des Inkrafttietens wird, falls keine
andere Entscheidung gefällt wird, für den 13. März 18Q1
festgesetzt, der Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags-
verhältnisses für den 12. März 1912. Dem Vertrage selbst
wurde noch ein Anhang I und II beigegeben, von denen
der eine die Zolltarife (Abschaffung des Wertzollsystems)
festsetzt, der andere den Art. 17 näher erläutert. Be-
merkenswert ist noch das Protokoll, das es den im os-
manischen Reiche wohnenden Schweizern freistellt, sich
unter die deutsche Konsulariurisdiktion *u stellen, wo-
gegen sie die Vergünstigungen des deutsch-türkischen
Handelsvertrages 'geniessen sollten.
Zum Schlüsse Hess sich Deutschland im Untfirzeich-
nungsprotokoUe (Proces-verbal de signature) noch die
Zusicherung geben, dass trotz des allgemein gehaltenen
Art. 25 weder eine Taxe noch eine vertragsmässige Fest-
setzuag ohne Zustimmung des deutschen Gouverneurs
gegenüber Deutschland in Kraft gesetzt werden könne,
wenn sie nicht zu gleicher Zeit gegenüber jeder anderen
— 79 —
Nation in Kraft gesetzt werde, i) Den Schluss bildet
nocii die Bestimmung, dass die Zollvergünstig-iingen für
das Deutsche Reich als Gesamtheit gelten.
Die Verträge der Türkei mit verscliiedenen
anderen Staaten.
Alle die bisher behandelten Rechte und Vergünsti-
gungen liessen sich auch die meisten übrigen , europä-
ischen Staaten gewähren.
Schweden erhielt am 21. (nach Ulimann 10.) Januar
1737 eine Kapitulation, die ^wischen Friedrich I. und
Sultan Mohamed zustande kam und endgültig am 5. März
(21. Februar) 1862) erneuert wurde. Letztere gilt zu-
gleich auch für das Königreich Norwegen und enthält
in ihrem 1. Artikel die Meistbegünstigungsklausel („. . .
alle die Rechte, Privilegien und Freiheiten, welche die
hohe Pforte gegenwärtig verleiht oder verleihen wird oder
deren Genuss sie in Zukunft Personen, Schiffen, dem
Handel und der Schiffahrt jeder fremden Macht gewäh-
ren wird, sind durchwegs den Personen usw. und der
Schiffahrt Schwedens und Norwegens gewährt . . .") -)
Die Gültigkeit dieses Vertrages wurde für die Dauer von
28 Jahren festgesetzt. (Siehe Art. 20.)
Die dänische Kapitulation stammt aus dem Jahre
1756 (14. Oktober) ') und wurde neuerdings durch das
Abkommen vom 13. März 1862 bestätigt. Der 1. Artikel
verleiht mit dem gleichen Wortlaut wie die schwedische
Kapitulation, Dänemark das Recht der Meistbegünsti-
gung. Auch hier ist durch den 20. Artikel die Vertrags-
dauer auf 28 Jahre festgesetzt. ^)
Ferner erhielten Kapitulationen das Königreich bei-
der Sizilien- am 7. April 1740, Toskana am 25. Mai 1747.
Spanien Hess sich am 14. September 1782 seine
Rechte bestätigen, welcher Vertrag am 13. März 1862 er-
neuert wurde. 5) Er gilt gleichfalls für die Dauer von
1) Die Bestimmungen traten aber nicht in Kraft, da Deutsch-
land sich nicht dem spezifischen Zolltarif, den es nach seiner
Genehmigung der Aufhebung des Wertzollsystems, genehmigt hatte,
unterwerfen konnte, sobald keine andere Macht denselben annahm.
2) Siehe Nor. Bd. III. S. 182. Bei der schwedischen Kapitu-
lation ist besonders zu erwähnen die Zuständigkeit der Konsular-
gerichtsbarkeit bei Vergehen von Schweden gegen Türken.
3) Siehe Text Nor. Bd. I. S. 308.
4) Nor. Bd. III 0902) S. 183.
5) Nor. Bd. I. S. 344 und Nor. Bd. III. S. 184.
— 80 —
28 Jahren iiiiü enthält seine Meistbegünstigungsklauscl im
1. Artikel.
Sardinien schloss die Verträge vom 25. Oktober 1823
und 1839 ab/) die Hansastädte die vom 18. Mai 1839
und 27. September 1862 ab. 2) Die Meistbegünstigungs-
klausel enthält der erstere Vertrag in seinem 6. Artikel,
der letztere in seinem 1. Artikel. Im übrigen gleicht der
Vertrag von 1862 vollkommen dem preussisch-türkischen
Vertrage vom 20. März 1862 bis auf den 16. Artikel, der
die Dauer des Vertrages auf 23 Jahre festsetzt. •>
Aehnliche Verträge schloss Belgien mit der Pforte
in d€n Jahren 1838 (3. August) 3) und 1840 (30. April),*)
die am 10. Oktober 1861 s) erneuert wurden. (Siehe
Art. 1 die Meistbegünstigungsklausel.)
Portugal schloss im Jahre 1843 (20. März)«) und am
23. Februar 1868 (siehe Art. 1 Meistbegünstigungsklausel)
mit der Pforte Verträge ab.
Griechenland am 27. Mai 1855 ') (siehe Art 24
Meistbegünstigungsklausel), die Vereinigten Staaten von
Amerika durch die Verträge von 1830 und vom 13. /25.
Februar 1862 8) (Art. 1 Meistbegünstigungsklausel). Die
Gültigkeit dieses Vertrages wurde auf die Dauer von
28 Jahren festgesetzt.
Italien am 2. September 1839 9) mit der Türkei einen
Vertrag ab, der am ,10. Juli 1861 erneuert wurde (Art. 1
Meistbegünstigungsklausel). Dieser Vertrag, der seht
eingehende Bestimmungen enthält, wurde für spätere
Abmachungen anderer Staaten oft zum Muster genommen
oder direkt abgeschrieben.
Zum Schlüsse ist noch Bayern zu erwähnen, das
einen Konsularvertrag zwecks Ausübung seiner verfas-
sungsmässigen Rechte am 25. August 1870 abschloss
(siehe Art. 5 Meistbegünstigungsklausel), i")
T) Nor. Bd. H. S- 99 und Vertrag v. 2. Sept. 1839 Nor. Bd. II.
S. 283. Wie bereits erwähnt, wurden alle diese Verträge auf dem
Pariser Kongress von 1856 erneuert. (Vgl. Inhalt S. 52.)
2i Nor. Bd. ill (1902) S. 206.
3) Nor. Bd. II. S. 243.
4) Nor. Bd. II. S. 302.
5) Nor. Bd. 111 (1902) S. 16Ö.
6) Nor. Bd. II. S. 354 und Vertrag von 1868 Nor. Bd. 111. S.263.
7) Nor. r23. Mai) Bd. II. S. 437.
8) Nor. Text zur Kapitulation v. 7. Mai 1830 Nor. Bd. 11. S. 192.
und zu 1862 Nor Bd. III. S. 380.
9) Kapitulation von 1861 Nor. Bd. 111. S. 151.
10) Siehe Nor. Bd. III. S. 296.
— 81 —
Alle diese bis jetzt behandelten Verträge haben bis
zum 1. Oktober 1914 die Beziehungen der christlich-
europäischen Nationen zum türkischen Reiche geregelt.
Gewiss haben ihre Bestimmungen den Fremden grossen
Nutzen, der Türkei aber eine Fülle von schweren Be-
drückungen gebracht.
In unserem zweiten Teile wird es nun unsere Auf-
gabe sein, diese Gesichtspunkte gerecht zu würdigen und
vom Standpunkte des Völkerrechts aus die Frage der
Berechtigung zur einseitigen Aufhebung der Kapitula-
tionen zu prüfen.
Anhang.
Die Einrichtung der Konsulargerichtsbarkeit
einzelner Staaten in der Türkei.
Für die Konsulargerichtsbarkeit des Deutschen
Reiches galt bis zur Anerkennung der Aufhebung der
Kapitulationen und der hiermit verbundenen späteren
Aufhebung der früheren Konsulargerichtsbarkeit, das Ge-
setz vom 7. April 1900. i)
Nach § 1 dieser Verordnung wird die Konsularge-
richtsbarkeit überall da ausgeübt, wo sie durch Verträge
oder Herkommen gestattet ist. (Ersteres gilt in An-
sehung der Türkei.) Der Konsulargerichtsbarkeit sind die
in den betreffenden Konsulärbezirken wohnhaften Reichs-
angehörigen und Schutzgenossen unterworfen. Die ein-
zelnen Konsulargerichtsbezirke werden vom Reichskanz-
ler nach Anhören des Ausschusses des Bundesrats für
Handel und Verkehr bestimmt. (§ 2.)
Ausgeübt wird die Konsulargerichtsbarkeit durch
den Konsul als Einzelrichter und durch das Konsular-
gericht, das dann als Kollegialgericht fig'uriert. (Siehe
auch das Gesetz über die Organisation der Bundeskon-
sulate vom 8. November 1867, das den Konsuln ver-
schiedene Aufgaben zuweist, wie Förderung der Inter-
essen des Reiches, namentlich im Handel, Verkehr und
Schiffahrt, Ueberwachung der Beobachtung der Staats-
verträge, Gewährung von Rat und Beihilfe an Angehörige
und Untertanen befreundeter Staaten usw.-) Neben dem
Konsul oder zu dessen Stellvertretung kann auch ein an-
derer Konsulatsbeamter ermächtigt werden. Die for-
melle Grundlage bleibt aber natürlich die Ermächtigung
von Seiten des Reichskanzlers. (§ 5.) Bei der .Aus-
übung der Gerichtsbarkeit finden die deutschen Gesetze
Anwendung, sofern nicht für das Handelsrecht noch Ge-
wohnheitsrecht in Betracht kommt. Der Konsul ist so-
1) Siehe Reichsgesetzblatt 1900 Nr. 15. Ferner Gareis Insti-
tutionen des Völkerrechts 1901 ^ 47. Vorher bestand bereits das
Gesetz v. 10. Juli 1879.
2) Diese Verordnung wurde durch spätere Gesetze vielfach
spezialisiert. So durch das Gesetz über Passwesen vom 12. Okt.
1867. Gesetz betreffend hheschliessung und Beurkundung des.
Personenstandes von Bundesangehörigen im Ausland vom 4.1V. 1870
- 83 —
gar befugt, polizeiliche Vorschriften zu erlassen. (Vgl.
§ 3 und 4 des Gesetzes von 1879.) In Angelegenheiten
der streitigen Gerichtsbarkeit bestimmt § 12 hinsichtlich
der sachlichen Zuständigkeit, aass für die durch das
GVG. und die Konkursordnung den Amtsgerichten zu-
gewiesenen Sachen der Konsul, für die den Schöffenge-
richten, sowie für die den Landgerichten in erster Instanz
zugewiesenen Sachen das Konsulargericht zuständig sein
soll. In den zur nichtstreitigen Gerichtsbarkeit gehören-
den Angelegenheiten, die in den in §i 3 Abs. 1 bezeich-
neten preussischen Landesteilen in erster Instanz zur
Zuständigkeit der Amtsgerichte oder Landgerichte ge-
hören, ist der Konsul zuständig.
In Strafrechtssachen hingegen ist die Kompetenz des
Konsuls ziemlich eingeschränkt. In den Fällen, wo deut-
sche Reichsangehörige oder Schutzgenossen ein Verbre-
chen begangen haben, für das in erster und letzter Instanz
das Reichsgericht oder das Schwurgericht zuständig ist,
kann der Konsul nur diejenigen Handlungen vornehmen,
die zur Sicherstellung der Strafverfolgung nötig sind,
üntersuchungshandlungen hingegen darf er nur bei „Ge-
fahr im Verzuge" vornehmen. Sofern Angehörige an-
derer fremder Staaten beteiligt sind, findet der alte
Rechtssatz .,actor sequitur forum rei" Anwendung.
Entscheidungen, die der Konsul über Uebertretungeii
gefällt hatte, können nicht durch Rechtsmittel angefoch-
ten werden. In den anderen Fällen aber kann Berufung
gegen die endgültige Entscheidung der Konsulargerichte
eingelegt werden. Die Beschwerdeinstanz in solchen
Fällen ist wieder das Konsulaigericht, wobei bei dem
Mangel an verschiedenen Gerichten nicht einmal eine
Ausschliessung des bei der ersten Entscheidung mit-
wirkenden Beamten stattfindet. (Siehe dazu im Geg'.Mi-
satz St.P.O. § 23 Abs. 1.) In den Fällen der sofortigen
Beschwerde ist der Konsul entgegen der Bestimmung der
St.P.O. § 353 zur Abänderung seiner getroffenen Ent-
scheidung befugt. Nach den §§ 33—36 ist zur Verhand-
lung und Entscheidung der Rechtsmittel der Beschwerde
gegen das Urteil des Konsulargerichts und über das
Rechtsmittel der Berufung das Reichsgericht zuständig.
Bemerkenswert ist das zähe Festhalten der Türkei an der
Bestimmung, dass alle das Grundeigentum betreffenden
Angelegenheiten vor die ottomanischen Gerichte ge-
hören. Ein besonderer Schutz für die Fremden bestand
darin, dass die Vollstreckung von Zivil- und Strafurteilen
einheimischer Gerichte nur mit Genehmigung und unter
— 84 —
Beiwohnung des Konsuls erfolgen konnte Dieses Ge-
setz ^ wurde durch eine besondere kaiserliche Verfügung
aufgehoben, nachdem Deutschland am 11. Januar 1Q17
neue Verträge mit der Türkei eingegangen war.
Diese Organisation der Konsulargerichtsbarkeit ist
vor allem den französischen Einrichtungen nachgebildet.
Besonders berühmt in dieser Hinsicht wurde die franzo-
sische Ordonnance de la Marine vom August 1681, deren
9 Titel „von den Consuhi der französischen Nation in
fremden Ländern'' handelt. Die Grundsätze, die hierbei
zur Anwendung kamen, wurden späterhin ergänzt durch
das Edikt vom Juni 1778, das die richterliche und Polizei-
gewalt dei französischen Konsuln regelte, ferner durch
die Ordonnanz vom 3. März I /81,. betreffend die Kon-
sulate, die Gesandtschaften, den Handel und die Schiff-
fahrt 'in den Städten der Levante und der Berberei.-
Hierauf folgte noch die Ordonnanz vom 5. Juli 1842 und
das Gesetz vom 8. Juli 1851.-) Bedeutsam war beson-
ders das den französischen Konsuln zustehende Auswei-
sungsrecht, von dem sie seit dem Edikt von 1778 Ge-
brauch machen durften.
Hinsichtlich Englands ist noch zu erwähnen, dass die
Jurisdiktionsgewalt seiner Konsuln ihre Grundlage in
dem Gesetze aus dem Jahre 1843 hat. Die hierauf be-
züglichen Parlamentsakte sprechen diese Berechtigung
England ganz einfach so zu, als wenn die betreffenden
Länder, in welchen eine Richtcrgewalt der Konsuln laut
Vertrag besteht, „von England erobert oder demselben
sonstwie abgetreten wären". 3) In den Jahren 1843
und 1844 erfolgten verschiedene „Orders in Council'*, die
sich besonders auf die Verfolgung von Strafrechtsfällen
beziehen. Späterhin wurden noch verschiedene Orders in
Council erlassen, von welchen besonders die der Jahre
1864 und 1865 zu erwähnen sind. (Ueber die noch fol-
genden 13 Orders siehe Rausas I, S. 231.)
Die russische Konsulargcrichtsgesetzgebung reicht
bis in das Jahr 1820 zurück und wurde besonders umfang-
reich ausgestaltet in dem Gesetze von 1858.^)
1) Gemeint ist das Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit
vom 7. April 1900.
2) Siehe Ullmann Völkerrecht S- 227 und Rausas Bd. I. S.229.
3i Siehe Martens S. 292
4) Siehe Martens S. 306 ff.
II. Teil.
Die Aufhebung der Kapitulationen und die
neuen deutsch-türkischen Rechtsverträge.
Einleitung.
Am 9. September 1914 schrieb der türkische Minister
des Aeussern an den holländischen Gesandten in Kon-
stantinopel einen Brief, der, wie noch zu behandeln sein
wird, eme ziemlich ernste Spannung zwischen den beiden
Staaten zur Folge hatte, i) Besonders charakteristisch ist
hierbei die Auffassung der Türkei von der Form und
Rechtsnatur der Kapitulationen.
Bereits in der Geschichte der Kapitulationen haben
wir des öfteren Gelegenheit gehabt, die türkische Auffas-
sung kennen zu lernen, die Jahrhunderte hindurch bis
auf den heutigen Tag nicht davon abgewichen ist, dass
die Kapitulationen nichts weiter als jederzeit zurück-
nehmbare einseitige Gnadenbriefe sind. In der oben an-
geführten xNote vom 9. September 1914 tritt dies ganz
besonders deutlich zutage. Nachdem die Kundgebung
zunächst darauf hinweist, dass die kaiserliche ottoma-
nische Regierung seinerzeit „in ihren Gefühlen der Gast-
freundschaft und in ihrer Sympathie" für die im Orient
Handel treibenden Fremden besondere Verordnungen er-
lassen (determine) habe, fährt sie fort: „Hernach wurden
diese Verordnungen, die die Pforte ausschliesslich aus
eigenem Willen erlassen hatte (de son propre agrement)
als Privilegien ausgelegt ... und haben sich bis auf
üen heutigen Tag unter dem Namen von alten Verträgen
oder Kapitulationen erhalten." Schon in unseren ein-
leitenden Bemerkungen zum I. Teil erwähnten wir hin-
sichtlich der Form der Kapitulationen, dass diese zu Be-
ginn des Privilegiensystems wirklich nichts weiter als auf
bestimmte Zeitdauer beschränkte widerrufliche Gnaden-
akte des Sultans waren. Pradier-Federe spricht von
ihnen als „concessions gracieuses accordes par le Sul-
tan Sans discussions prealables et de leur plein gre". i)
Un ancien diplomate sagt dementsprechend auch, dass
1) Siehe Text bei Strupp: Ausgewählte Aktenstücke zur orien-
talischen Frage Gotha 1916 S. 312 ff.
1) Pradier-Federe in Revue de droit international Bd. I. S. 119.
— 8G —
die Kapitulationen von Seiten des Sultans nichts waren^
als „des concessions emanant de leur bon plaisir ou de
lcur"K*^''i*^''^'^'t^ ^^ s^"^ '^^^'^ duree que celle de la vie.
du souverain qui les avait faites". i) Aus dieser letz-
teren Bemerkung geht ganz deutlich die Auffassung
hervor, dass die Kapitulationen durchaus Waffenstill-
standsnatur besassen.
In unseren folgenden Darstellungen werden wir je-
doch diese Behauptung der türkischen Note, wenn auch
nicht für sämtliche Abmachungen, so doch für die spä-
teren Datums, endgültig zu widerlegen haben.
Mit bedeutend mehr Berechtigung spricht hingegen
die türkische Regierung in ihrer Note von den fortgesetz-
ten Bedrückungen, die sie sich durch die nicht immer ein-
wandfreie Anwendung der Kapitulationsbestimmungen
gefallen lassen müsse. „Diese.' Privilegien, die sich einer-
seits in vollkommenem Widerspruch zu den rechtlichen
Grundsätzen unseres Jahrhunderts und der nationalen
Souveränität befinden, bilden andererseits ein Hindernis
für den Fortschritt und die Entwicklung des ottomani-
schen Reiches, ebenso wie sie gewisse Missverständnisse
in den Beziehungen mit den fremden Mächten entstehen
lassen; und ebenso bilden sie ein Hindernis für diese Be-
ziehungen den gewollten Grad von Herzlichkeit und Auf-
richtigkeit zu erreichen."
In diesem Punkte muss jeder Kenner der türkischen
Verhältnisse dem türkischen Mmister vollkommen Recht
geben. Wie wir bereits im I. Teil sahen, versuchen die
Fremden, auf jede nur mögliche Weise sich die einzelnen
Bestimmungen der von ihren Heimatstaaten mit der
Türkei getroffenen Abmachungen weitgehendst zu Nutze
zu machen, wobei ihre Konsuln sie in diesem Bestreben
auf eine die türkischen Untertanen nicht gerade scho-
nende Art unterstützten.
Insbesondere bei den leicht erregbaren südlicheren
Bewohnern der Türkei musste dies notgedrungen zu
Exzessen gegen die Fremden führen, denen leider auch
oft Unschuldige zum Opfer fielen. Die nun folgenden
Auseinandersetzungen zwischen den beiderseitigen Re-
gierungen konnten selbstverständlich nicht zu einer
freundschaftlicheren Gestaltung der Beziehungen führen.
Martens erwäimt in seinem Werke „Das Konsularwesen
und die Konsulariurisdiktion" eine Fülle von derartigen
Reibungen, die hauptsächlich das anmassende Auftreten
1) Un Ancien Diplomate S. 17.
— 87 —
der Fremden verursacht hatte, wenn auch die mitunter
recht kurzsichtijre Verwaltung der betreffenden einheimi-
schen Behörden /um nicht geringen Teil mit daran Schuld
trug. (In unserer Darstelluiio über die Wirkung der
Kapitulationen werden wir noch öfters auf diesen Punkt
zurückzukommen haben, insbesondere hinsichtlich der
Konsuln.) Unsere Aufgabe wird es nunmehr sein in
diesem U. Teil unserer Darstellung die hauptsächlichsten
I unkte des türkisch-holländischen Notenwechsels völlig
unparteiisch zu betrachten, auf die jeweilige Stichhaltig-
keit der angeführten einzelnen Gründe näher einzugehen
und damit zusammenhängend eine Würdigung der tür-
kischen Aufhebungs- und Verbesserungsbestrebungen zu
geben, worauf dann kurz eine Erörterung der neuen
deutsch-türkischen Rechtsverträge folgen wird.
I. Kapitel.
Die Rechtsnatur der Kapitulationen.
Wie wir bereits im I. Teil ausführten, waren die
Fremden, als die siegreichen Scharen der Muselmanen
überall vordrangen, vollkommen zufrieden, wenigstens
ihre bisherigen Rechte bestätigt zu sehen, und die tür-
kischen Herrscher vermochten für ihre Zugeständnisse
auch noch vollkommen den Charakter einseitiger Gna-
denbeweise zu wahren.
Zu diesem Verhalten war der osmanische Staat, wenn
man schon ganz vom Stolze der orientalischen Herrscher
absieht, durch die Satzungen des Korans gezwungen,
die der Sultan für seine Staatsakte, wenigstens zu Beginri
türkischer auswärtiger Beziehungen als oberstes Gesetz
in Betracht zog. (Vgl. Teil I.) Dies änderte sich jedoch
immer mehr, als die diplomatische Kunst eines Frank-
reichs- auf den Plan trat, sich durch eine künstliche All-
gewalt für die Osmanen unentbehrlich zu machen ver-
stand (Villeneuve!), und so die bisher einseitiger Willkür
anheimgegbenen Versprechungen immer mehr auf völker-
rechtliche Vertragsbahnen lenkte. Wenn auch Vandal
noch davon sprach, dass „der König und der Sultan
niemals Verträge unterfertigt haben, die einen an den
anderen banden und sie gegenseitig verpflichteten'',^)
so war die Sachlage in der späteren Zeit eine durchaus
andere. Erst die Verträge, die gegenseitig für die beiden
1) Vandal, Une ambassade {ran9aise en Orient sous Louis XV
Paris 1889.
— 88 —
vertraKSchl'essendcn Staaten Rechte und Pflichten fest-
setzten, tragen mit vollem J^echt im völkerrechtlichen
Sinne den Namen Kapitulationen.
Nach Liszt ist ein völkerrechtlicher Vertrag „die
zwischen zwei oder mehreren Staaten über staatliche Ho-
heitsrechte zustandegekommene Willcnseinigung*' ')
„Der Abschluss der Staatsverträge erfolgt durch die Wil-
lenserklärung der mit der völkerrechtlichen Vertretungs-
befugnis ausgerüsteten Organe." 2)
Demnach müssen vorher durch bevollmächtigte Ver-
treter, die gewöhnlich das Auswärtige Amt stellt, Be-
sprechungen eingeleitet werden, die später zur endgül-
tigen Festsetzung des Vertragstextes führen sollen. Die-
ses bedeutsame Merkmal eines völkerrechtlichen Vertra-
ges können wir bei dem Abschluss der späteren Kapitu-
lationen zweifellos feststellen. Schon in der französisch-
türkischen Kapitulation von 1535 sehen wir Jean de la
Forct als Beauftragten des Königs über Hoheitsrechte
unterhandeln und bereits in diesem Vertrage erscheinen
verschiedene Artikel, die durchaus zweiseitig verpflich-
tende Bestimmungen enthalten. (Vgl. Teil I.)
Denken wir nur an die überaus langwierigen Ver-
handlungen, die Marquis de Villeneuve nötig hatte, um
der; nach von Liszt ersten zweiseitigen Vertrag von 1740
mit der Türkei abzuschliessen. An diesem Punkte kann
m. E. auch die von den Türken bevorzugte, meist ein-
seitige äussere Gestalt der Kapitulationen nichts ändern,
(^Vgl. z. B. den Schlusssatz des Vorwortes der Kapitula-
tion von 1740: . . . pour l'execution d'icelles le present
commandement imperial serait emane dans les termes
suivants . . .) Es ist hier eben ein ähnlicher Streitfall
gegeben, wie bei der Beurteilung der Konkordate im
Kirchenrecht, die teils als Privilegien, teils als zweiseitige,
völkerrechtliche Verträge, teils sogar als der Kirche durch
den Staat erteilte Privilegien, angesehen werden. •)
Nachdem wir also das Erfordernis der vorherigen ge-
genseitigen Willensübereinstimmung hinsichtlich der Ka-
pitulationen durch die den späteren Abmachungen stets
vorausgehenden langwierigen Besprechungen erfüllt
sehen, können wii uns dem zweiten Punkt, der für den
1) Von Liszt Völkerrecht 9. Aufl. 1913 S. 163.
2) Von Liszt Völkerrecht 9. Aufl. 1913 S. 164. Siehe auch
Ullmann Völkerrecht 1908 S. 256 ff.
3) Schulte, Katholisches Kirchenrecht S. 511 ff. Siehe insbe-
sondere Hübler in von Stengels Wörterbuch des deutschen Ver-
waltungsrechts unter «Concordate".
— 89 —
Begriff „völkerrechtlicher Vertrag" in Betracht kommt,
zuwenden, nämlich dem Abschlüsse, der Unterzeichnung
des Vertrages. Nach Oppenheim können nur souveräne
Staaten Staatsverträge abschliessen, ^) aber auch halb-
souveränen Staaten wird oft das Recht eingeräumt, Ver-
träge, die jedoch meist nur das Handelsgebiet betreffen,
abzuschliessen. (So Aegypten durch den Firman vom
20. Januar 1S79, welche Vergünstigung dann im deutsch-
ägyptischen Handelsvertrage vom 19. Juli 1893 zUr Ver-
wertung kam.) 2)
Diese Souveränität, die Oppenheim für den Abschluss
eines Staatsvertrages für nötip^ hält, besass der türkische
Staat zweifellos, wenn auch seine Hoheitsrechte den
Fremden gegenüber ausserordentlich geschmälert waren.
(Vgl. die späteren Ausführungen.) Wie wir gesehen
haben, war die Türkei zur Zeit des Abschlusses der
meisten Kapitulationen ein durchaus absolutistischer Staat,
in dem der Wille des Sultans Gesetz war. ■^) Kraft dieses
Willens schloss er mit den Gesandten der fremden
Mächte die behandelten Uebereinkommen ab und gab
ihnen durch seine Genehmigung Gesetzeskraft, die je-
doch mit seinem Ableben hiniällig werden mussten (pacta
personalia), da nach dem Koian zunächst dauernde Ver-
träge mit Ungläubigen überhaupt unmöglich erschienen.
Die Angst vor derartigen Folgen war es auch, die Frank-
reich und die meisten übrigen europäischen Staaten dazu
bewüg, die Kapitulationen mit der Türkei bei dem je-
weiligen Regierungsantritt eines neuen Sultans immer
wieder erneuern zu lassen. Aber in der Kapitulation vom
28. Mai 1740 vollzog sich eine bedeutsame Wandlung.
Der Sultan erklärt für das Uebereinkommen nicht mehr
nur seine eigene Person verpflichtet, sondern auch seine
Nachfolger. (Ewigkeitsklausel.; Natürlich müssen wir
uns aber immer vor Augen halten, dass in der damaligen
Zeit der Sultan das Volk nur durch die Allgewalt seines
absolutistischen Herrscherwillens an seine Entscheidun-
gen zu binden vermochte, hiermit keine rechtliche Ver-
1) Oppenheim: International Law. A Treatise. Bd. I. § 494:
The so calied right of making treaties is not a right of a State in
the technical meaning of the term, but a mere competence atta-
ching to souvereignity. A State possesses, therefore, treaty-
making power only so far as it is souvereign."
2) Siehe Reichsgesetzblatt 1893 S. 17.
3) In den absoluten Monarchien gibt es formell keine andere
Quelle als den Willen des absoluten Monarchen. Vgl. Seligmann
Beiträge zur Lehre vom Staatsgesetz und Staatsvertrag 1890. S. 39
und UUmann 1908 S. 259.
— 90 —
pflichtunjT des Volkes im modernen Sinne entstehen
konnte, die wie in den iieutijTcn konstitutionell regierten
Staaten den Tod eines jeden lienschers überdauert. (Auf
diese Aufiiebungsmöglichkeit haben wir schon des öfte-
ren hingewiesen.)
nie noch im 18. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Staats-
verfassung mit Ausnahme Englands fast in der gleichen
Lage befindlichen europcäischen Staaten sandten dann,
wie wir bei der Erörterung der einzelnen Kapitulationen
gesehen haben, ihre bevollmächtigten Vertreter nach Kon-
stantinopel, die mit der Pforte unterhandelten und die so
vereinbarten Verträge zum Abschluss brachten. Der hie-
für massgebende Akt ist aber erst die Ratifikation, i)
Ist die Ratifikation nun in gültiger Weise vollzogen
v.orden, so ist der unterfertigte Vertrag für die beiden
Vertragsschliessenden Staaten von diesem Tage an völ-
kerrechtlich verbindlich, sofern über den Zeitpunkt des
Inkrafttretens nichts anderes bestimmt ist.-) (Vgl. z. D.
den deutsch-türkischen Vertrag vom 26. August 1890.)
Diese Ratifikation trifft für die meisten späteren
Kapitulationen der Türkei zu, ja wir treffen eine solche
bereits in dem ersten bedeutsamen französisch-türkischen
llebereinkommen von 1535. Die Ratifikation, die be-
dingungs- und vorbehaltlos sein muss, hat sich über den
ganzen Vertragsinhalt zu erstrecken und ist in so vielen
Duplikaten auszufertigen, als es Beteiligte gibt. 3) (Im
letzten Abschnitt dieses Vertrages von 1535 heisst es aus-
drücklich: .,Der Sultan und der König von Frankreich
werden gegenseitig in 6 Monaten die Bekräftigung des
gegenwärtigen Vertrages in richtiger und ihrer Schuldig-
keit entsprechenden Form unterzeichnen, nwt dem Ver-
sprechen, ihn zu beobachten und den Befehl an alle ihre
Untergebenen . . . ihn ohne Betrug Punkt für Punkt
zu be'achten, geben . . .*') Auch die erforderliche Publi-
kation ist bereits in diesem Vertrage erfüllt („dieser Ver-
trag soll in Konstantinopel, in Alexandrien . . . publiziert
v. erden"), welche meist den Befehl enthält, die vorstehen-
den Vertragsbestimmungen genau einzuhalten. (Vgl. Ge-
schichte der Kapitulationen.) Ein ausdrücklicher Hinweis
hierauf ist jedoch nicht immer von Nöten und kann still-
schweigend angenommen werden. (Gegen letzteres Ver-
fahren wendet sich insbesondere Laband, ') da hier-
n Siehe Ulimann 1908 S. 257 ff.
2) Siehe von Liszt 1913 S. 165 ff.
3) Siehe Uilmann S. 267. fl908).
4) Vgl. Laband.
— 91 —
durch die Vorstellung erweckt werden könnte, dass „Be-
hörden und Untertanen durch den Abschhiss des Ver-
trages zur Befolgung desselben verpflichtet würden und
als wenn die Verkündigung des Vertrages keine andere
Bedeutung hätte, als ihn zur öffentlichen Kenntnis zu
bringen". Siehe hierüber Laband im Handbuch des
öffentlichen Rechts, herausgegeben von Marquardsen und
v(ni Seydel, S. 158.) Nach Ullmann ist diese Publikation
des Vertrages überhaupt „der staatsrechtlich entschei-
dende Akf'.i)
Auch der Austausch- der Vertragsurkunden wurde mit
der fortschreitenden Entwicklung der Türkei immer ge-
nauer durchgeführt und bereits in der Kapitulation von
1740 sehen wir die Bestimmung, dass „consequemmentles
capitulations anciennes et renouvelees, ayant ete transcrites
et rapportees exactement, mot pour mot, au commen-
cement, et suivi^s des articles nouvellement regles et
accordes, ccs presentes capitulations imperials auraient
ete remises et consignees, dans l'ordre susdit, entre les
mains dudit ambassadeur".
Mithin können wir die Kapitulationen, wenn wir das
Wort auf die später abgeschlossenen türkischen Verträge
anwenden, als vollkommen völkerrechtliche Abkommen
ansehen, deren Anfechtung nicht durch eine blosse
„laesio enormis** genügend vorbereitet ist.
Auch Martens tritt mit Entschiedenheit gegen die An-
sicht auf, dass die Kapitulationen keine völkerrechtlichen
Traktate seien, „Allerdings haben alle Verträge, die mit
den muselmännischen Staaten geschlossen sind, die spe-
zielle Benennung von „Kapitulationen'' und unterscheiden
sich, wie wir bereits bemerkt haben, von gewöhnlichen
internationalen Traktaten durch ihre äussere Form. Des-
sen ungeachtet laufen alle widerstreitenden Ansichten
der meisten Schriftsteller hinsichtlich der Rechtskraft der
Kapitulationen darauf hinaus, dass dieselben wirkliche
völkerrechtliche Verträge sind, deren Wirkungskraft sich
auf beide Parteien erstreckt.*' (Siehe Martens S. 106 ff.)
Immerhin muss noch zum Schlüsse bemerkt werden,
dass die Türkei bis auf den heutigen Tag an der ein-
seitigen Auslegung der Kapitulationen festgehalten hat,
wenn sich auch in der Brust manches türkischen Rechts-
lehrers Zweifel erhoben haben könnten. Der türkische
Staat hielt sich eben, da er zunächst keinen anderen Aus-
weg fand, energisch an dieser Auffassung fest, da die
1) Siehe Ullmann 1908 S. 254 ff.
— 92 —
Kapitulationen den Fremden grossen Nutzen, der Türkei
aber /uinindest ebenso ^^rossen Schaden brachten. Vom
rein menscliHcheii Standpunkt ist dieses türkische Be-
freiungsstreben durchaus verständHch, ob die Abschaf-
fung durch einen einseitigen Akt aber auch vöikerrecht-
hch einwandfrei ist, werden wir später noch zu erörtern
haben.
II. Kapitel.
Die Wirkung der Kapitulationen.
a) Vorbemerkung.
Gleichzeitig mit einer Wüidigung der von dem tür-
kischen Ministerium in seiner Kundgebung vom 9. Sep-
tember 1914 angeführten Aufhebungsgründe, müssen wir
uns insbesondere die Wirkungen der Bestimmungen ver-
gegenwärtigen, denen wir in der Geschichte der Kapitu-
lationen so oft begegnet sind. Es soll hier durchaus nicht
der Anschauung das Wort gepredigt werden, dass durch
eine Veränderung der allgemeinen Lage eines Staates
dieser auch das Recht erhalle, sich von seinen vertrag-
lichen Verpflichtungen für befreit anzusehen, aber man
könnte in Ansehung der Türkei mit v. Liszt sagen, dass
eine Ausnahme insow^eit zugegeben werden kann, „als
der geschlossene Vertrag eine bestimmte Sachlage, sei es
ausdrücklich, sei es stillschweigend, zur Voraussetzung
nimmt und durch eine Aenderung dieser Sachlage die
übernommene Verpflichtung eine wesentlfch drückendere
werden würde", i)
Zweifellos müssen auch die heute noch widerstreben-
den feindlichen und neutralen Staaten zugeben, dass zu
jener Zeit, da die allmächtigen mohammedanischen Herr-
scher den Fremden die weitgehendsten Rechte einräum-
ten, der beiderseitige Nutzen, der aus einem solchen
Vorgehen erzielt wurde, ein ziemlich gleicher war. Denn
durch diese verschiedenen Uebereinkommen mit den ein-
zelnen Handelsstädten und -Staaten wurde es den tür-
kischen und arabischen Kaufleuten ermöglicht, einen ge-
winnbringenden Handel zu treiben, obgleich sie nur
1) Siehe Liszt 1913 S. 170.
Dagegen könnte man aber wieder ins Feld führe:i, dass die
Vertragssicherheit dadurch eine sehr geringe würde, da ein solches
Argument von jeder Partei und zu jeder Zeit angelührt werden
könnte. (Vgl. Bein, S. 40). Man müsste eben einer unparteiischen
Macht ein neutrales Urteil einräumen.
* — Ü3 —
höchst selten nach den fremden Gegenden kamen. Aus
dem gleichen Grunde kamen sie den Fremden auf dem
Gebiete der Kauffahrteischiffahrt entgegen und gewährten
ihnen die weitgehendste Unterstützung.
Suchten die Türken auf diese Weise einen ausge-
dehnten Handel zu treiben, so wurde den Fremden
andererseits weitgehender Schutz gegen die unvollkom-
mene Rechtspflege gewährt und gegen den noch immer
ausserordentlichen starken religiösen Fanatismus. Denn
damals konnten sich die Fremden bei Stellung ihrer Be-
dingungen noch mit Recht auf das Wort des Korans be-
rufen : „. . • und dauernder Krieg gegen die Verleugner
Mohammeds wird gefordert'' (Sure 9 Vers 2Q).
Lange Zeit empfand die Türkei auch nicht die
Schwere der auf ihr lastenden Einschränkungen. Als sich
jedoch die fremden Staaten in ungebundener Freiheit im-
mer weiter fortentwickelten, erweiterte sich auch der
Blick der Türken für ihre Interessen und sie empfanden
die fremde Einmischung, die sich selbst auf wichtige
Zweige ihrer inneren Verwaltung ausdehnte, immer
drückender. Besonders erwähnenswert in dieser Hin-
sicht sind die finanziellen und handelspolitischen Ein-
schränkungen, die sich die Türkei Jahrhunderte hindurch
gefallen lassen musste.
b) Die Zollprivilegien.
Wie wir bei der Betrachtung der meisten Kapitula-
tionen sehen konnten, betrug der Zollsatz, der nur einmal
zu entrichten war, nicht mehr als 30/o, ja verschiedene
Staaten, so vor allem Russland und späterhin auch
Deutschland, hessen sich einen Zollsatz von nur loo zu-
sichern. Diese Verträge sahen einen Wertzoll (ad va-
lorem) vor und erst Deutschland machte den Versuch,
einen spezifischen Zollsatz im Jahre 1890 auszuarbeiten,
der jedoch nicht sogleich zur Anwendung gelangen konn-
te, da Deutschland hierdurch die Konkurrenz Englands
noch bedeutend verschärft hätte, i) Die Bemühungen der
Türkei, diesen ausserordentlich geringen primitiven Wert-
1) 1906/07 betrug die Einfuhr der Türkei 520,5 Millionen Mk.,
die Ausfuhr 326,5 Millionen Mk. Da die Haupteinfuhrprodukte
Baumwollstoffe, Wollstoffe, Leinwand usw. waren, und der haupt-
sächliche Handelsverkehr zwischen Grossbritannien und der Türkei
sich vollzog (ein Drittel der Aus- und Einfuhr) so erklärt sich
leicht das dauernde Widerstreben Englands gegen jede Spezifi-
kation der Zölle und deren Heraufsetzung. Siehe Bachems Staats-
lexikon Bd. V, S. 583.
— 94 — ^
zoll,') der noch allerlei Anfechtungen (z. B. wegen un-
richtiger Einschätzung) unterliegen konnte, zu erhöhen,
reichen bis in das Jahr 1838 zurück. Durch Art. 4 der
Handelskonvention vom 20. November 1838 -) liess sich
die Türkei das Recht gewähren, auf alle Artikel, die aus
der Türkei stammten und zum Export bestimmt waren,
einen Zoll von 9"o zu erheben. Beim Verlassen des Ein-
schiffungsortes (ä sa sortie) bleibt der alte Zoll von
3^0 bestehen. Rausas beschwert sich hierüber auf das
lebhafteste, da hierdurch in Wirklichkeit ein Zoll von
12i''o erhoben werde und „dijser übermässige Tarif (cc
tarif exorbitant) der Entwicklung des fremden Handels
unstreitig schädlich sei". 3) •
Bezüglich der Einfuhr wurde zu dem bisherigen Zoll
durch Art. 5 ein Zuschlag von 2i>,o erhoben (un droit
additionel de 2oo). Dadurch wurde zunächst wieder eine
gleiche Zollhöhe von 5^0 erreicht, wie sie die Türkei
zu Beginn des Kapitulationssystems noch zu erhalten
vermochte.
Schliesslich wurde durch eine Handelskonvention von
1861 i) die Zollhöhe allgemein auf 80/0 festgesetzt. Den
Durchfuhrzoll musste die Türkei jedoch von 2o/o auf \^,'o
herabsetzen und sich gleichzeitig verpflichten, ihn am
Ende des achten Jahres auf l'Jo zu erniedrigen. (Siehe
Art. 8.) 5)
Zur Krönung der Ausbeutungsbestrebungen, deren
Objekt jahrhundertelang die Türkei gewesen ist, wollen
wir noch den Art. 7 dieses Vertrages erwähnen. Darnach
sollen von jedem Zoll befreit sein die Waren fremden Ur-
sprungs, die auf französischen Schiffen verladen, in die
Meerengen des Bosporus oder der Dardanellen fahren
(„keine wie immer geartete Abgabe soll den französischen
Schiffen im Voraus auferlegt werden, wenn sie auf dem
Boden Frankreichs oder durch dessen Industrie erzeugte
Waren geladen haben, selbe französischen Untertanen ge-
höien und sie oie Meerengen der Dardanellen des Bospo-
rus oder des Schwarzen Meeres durchfahren"). Für den
Fall, dass die Güter jedoch abgeladen, auf ein anderes
1) Siehe Martens, der durch die verschiedenen Inlandszölle
die Zolleinnahmen der Türkei auf 40— SO'/o schätzt für eingeführte
und 60-100"/o für ausgeführte Waren. S. daselbst S. 260.
2) Siehe Nor. Bd. II. S. 256.
3) Siehe Pellissiö du Rausas Bd. I. S. 187.
4) Siehe Nor. Bd. II. S. 130.
5) Dieser Zoll wurde übrigens im Jahre 1890 durch den Ver-
trag mit Deutschland ganz aufgehoben.
— 95 —
Schiff gebracht uqd weiter fortgeführt werden, bestimmt
ein weiterer Zusatz, dass ?ie in Lagerhäusern unterge-
bracht und in Ermangelung solcher, unter die Aufsicht
der Zollbehörden gestellt werden sollen.
Gemäss der Meistbegünsiigungsklausel hatte dieses
Zugeständnis aber noch weitere Folgen für die Türkei, da
hierdurch alle Nationen, dit derartige Verträge mit der
Pforte geschlossen hatten, in den Besitz dieser Vergün-
stigung ganz automatisch gelangten. Pellissie du Rausas
schätzt dieses Privileg sehr hoch ein, sodass er zum
Schlüsse seiner Abhandlung über die Handelsfreiheit
schreibt: Sie (d. h. die Bestimmung des 7. Artikels des
Vertrages von 1861) vervollständigt daher sehr glücklich
die höchst einträglichen Anoidnungen der Verträge, die
den Kauffahrteischiffen aller Nationen die' freie Durchfahrt
durch die Meerengen und Verkehrsfreiheit im Schwarzen
Meere zusicherten,** i)
Nachdem verschiedene Versuche der Türkei, ihre
Lage wenigstens einigermassen zu verbessern, an dem
hartnäckigen Widerstand der Mächte gescheitert waren,
gelang es ihr -nach langen Mühen im Jahre 1907 eine Er-
höhung des Einfuhrzolles auf 11 o/o zu erreichen, was
gegenüber dem Vertrag von 1861 einen Gewinn von S^^/o
bedeutete. 2) Die Türkei konnte aber auch diesmal ihres
Erfolges nicht froh werden, da England die Absicht der
Türkei, die zu erzielenden Mehreinnahmen zum Bau der
Bagdadbahn zu verwenden, geschickt zu durchkreuzen
verstand. England und Russland machten nämlich ihre
Zustimmung von der Bedingung abhängig, dass die Gel-
der nur zu Reformen.in Mazedonien verwendet werden
dürfen. 3) Nach der erfolgreichen jungtürkischen Be-
wegung versuchte die Türkei neuerdings eine Erhöhung
der Zölle um 4o/o herbeizuführen. Aber England, das
hinsichtlich seiner Orientpolitik neben seinen eigenen
Interessen vor allem den imperialistischen Zielen Russ-
lands Freundschaftsdienste erweisen musste, vereitelte
auch diesmal die türkischen Bestrebungen unter dem
schönen Deckmäntel, dass die Türkei etwaige Mehrein-
nahmen zur Deckung des Budgetdefizits verwenden solle.
Erst kurz vor ihrem Eintritt in den Weltkrieg gelang es
dei Türkei am 18. Oktober 1914, die Zustimmung aller
Mächte zur Einführung eines Zolls von lo^o zu erhalten,
1) Pellissie du Rausas Bd. I. S. 189.
2) Heidborn Droit public Ottomau Bd. II. S 174 {f.
3) Vgl. Lehmann Kapitulationen S. 38.
— 9G —
inusste aber hierfür den Westmächten \veitgehi.'ndc Zu-
ai'ständnisse machen. i) Aber nicht nur hiilsichtlich der
Z()llc nntcrhig die Pforte vielen Beschränkiinu^en.
c) Die Steuerfreiheit.
Einen weitaus grösseren fiinfluss als der Enlgang
dieser Gelder hatte die Steuerfreiheit der Fremden auf
das türkische Staatsbudget. ^)
Diese hatten nur vom Grundbesitz gemäss dem Ge-
setz vom 9. Juni 1868 Abgaben 3) zu leisten und waren
sonst für jede direkte Besteuerung vollkommen uner-
reichbar.
Unter solchen Umständen war es selbstverständlich,
dass nur die wenigsten Fremden daran dachten, sich
durch Erwerbung der türkischen Staatsangehörigkeit eines
solchen Vorteils zu berauben, wozu noch die Verleihung
von Schutzbriefen kam, die den fremden Gesandtschaften
durch die späteren Kapitulationen zugestanden worden
war. Von dieser Vergünstigung machten vor allem die
russischen Behörden ausgiebigen Gebrauch und ver-
schafften sich hierdurch eine nicht zu unterschätzende
Einnahmequelle. Nach Pellissie du Rausas hätte Russland
bereits im Jahre 1774 (also gleich nach dem Frieden von
Kutschuck-Kaynardge) nicht weniger als 7 Millionen '^)
solcher Schutzgenossen, meist Armenier und Griechen,
was umsomehr ins Gewicht fiel, als dies die Hauptträger
des Levantehandels waren. Nach der Herstellung des
Königreichs Griechenland und nachdem dieses am 27. Mai
1855 eine ausführliche Kapitulation erhalten hatte, be-
eilten sich viele türkische Untertanen, sich als Griechen
auszugeben, so dass Griechenland im Jahre 1858 allein in
Ko^istantinopel 21 000 solcher „Schutzgenossen" besass.-^)
1) Die Wertzollüberschüsse kamen nach dem Muharreindekret
der bchuldenverwaltunß zuj^ute, die wie wir wissen ja hauptsäch-
lich dem Einfluss der Westmächte unterlag.
2) Wie bekannt waren die Dragomane, wenn auch später nur
in beschrankter Anzahl gleichfalls von jeder Steuer befreit.
3) Siehe Nor. Bd. 111, S 271. du Rausas Bd. 1. S. 460 ff.
4) Siehe Rausas Bd. 11 S. 34 ff. Engelhardt: La Turquie et
le Tanzimat T. I. S. 64, T. II. S. 102.
5) Siehe Rausas Bd. II. S. 35. Vgl. Lehmann S. 39.
^v.J!l ^'"^"^ Memorandum vom 14. XI. 1860 versuchte Ali Pascha
Abhilfe zu schaffen. Nach Einsetzung einer Kommission zwecks
Kevision der Protektoratsbestimmungen versandte die Türkei am
-4. April 1862 eine neue Note, die nach verschiedenen Unter-
handlungen zum Erlass eines Reglement relatif aux consulats
6trangers vom 23. August 1863 führte, das bis zur Aufhebung der
Kapitulationen angewendet wurde. (Siehe Rausas Bd II S 36)
— 97 —
Dies hatte für das osnianische Reich neben der Ver-
stopfung einer bedeutenden Einnahmequelle auch noch
verschiedene politische Nachteile zur Folge. Wie wir
bereits in der Geschichte der Kapitulationen ausführten,
hatten die Mächte hierdurch ein willkommenes Betäti-
gungsfeld für die verschiedenen Einmischungsversuche in
innerstaatliche Angelegenheitc.i, indem sie sich auf ihre
Protektorsstellung gegenüber ihren Schutzgenossen be-
riefen, die Russland besonders nach der kirchlichen Seite
hiii auszubauen trachtete. Als Nebenfrucht fiel den Mäch-
ten hierbei die finanzielle Verarmung der Türkei in die
Hände, die diese zwangen, sich in immer grössere Ab-
hängigkeit von den kapitalskräftigen europäischen Staaten
zu begeben. Denn unter den gegebenen Umständen
musste zweifellos die ärmere Landbevölkerung die Haupt-
steuerlasten tragen, was dazu führte, dass in dem gegen-
wärtigen Weltkrieg, die Türkei, die doch eigentlich durch-
aus Agrarstaat ist, nicht nur nichts ausführen kann, son-
dern sogar auf die Einfuhr angewiesen ist. -) Hiezu
kommt noch, dass die fremden Regierungen auch gegen
jede Erhöhung der indirekten Steuern schärfsten Protest
erhoben, oder sich die Erlaubnis doch nur wieder durch
andere Zugeständnisse abringen Messen. So kam es,
dass die direkten Steuern von der türkischen Bevölkerung
in immer höherem Masse eingefordert werden mussten,
während Zölle und indirekte Abgaben weit dahinter zu-
rückblieben. Lehmann beziffert den Ertrag der türkischen
direkten Steuern für das Jahr 1912/13 auf 14 870 381 türk.
Pfund, während die indirekten Steuern nur 692 728 türk,
Pfund und die Zölle 5 Millionen Pfund einbrachten. -■)
Wenn wir diese Folgen zusammenfassend betrach-
ten, so können wir leicht die andauernde Verschlechterung
der türkischen Finanzen verstehen, die den fremden
Mächten aber, wie bereits bemerkt, in keiner Weise un-
gelegei; war, da sie hierdurcli gleichsam für ihre Be-
aufsichtigung des türkischen Staatsschuldenwesens den
Schein eines Rechts wahren konnten. Besonders war es
die „Dette publique", die ii; dieser Hinsicht in Frage
kommt. Auf die Absichten der Mächte wirft auch ein
bemerkenswertes Schlaglicht der Vorgang bei der Ein-
führung der türkischen Stempelsteuer vom Jahre 1894.
die der Türkei nur deshalb zugestanden wurde, da ihr.Er-
1) Siehe Bachems Staatslexikon S. 582 V. Bd.
2) Lehmann S. 40. Vgl. auch Bachems Staatslexikon Freiburg
1912. Bd. V. unter Türkei.
7
— 98 —
träpiiis, das in die Dette publique flicssen musste, von
den fremden Mächten beaufsichtigt werden konnteJ)
Nebenbei iiessen sich jedoch die fremden Regierungen
noch das Recht gewähren, dass die Eingaben der Frem-
den an ihre Regierungsvertietungen von dieser allgemei-
nen Stempelsteuer befreit sein sollen. (Vgl. hiezu die
neuen deutsch-türkischen Rechtsverträge.)
d) Die Konsulargerichtsbarkeit.
Ein weiteres ausserordentliches Hemmnis für die
freie Fortentwicklung der Türkei bildete zweifellos die
Gerichtsbarkeit der fremden Konsulargerichte. Trotz dem
vielseitigen Wandel der Kapitulationen im Laufe der Zei-
ten hat sich dieser Vertragsbestandteil sowohl in. den
ältesten als auch in den neuesten Abmachungen mit der
Türkei in der ausdrücklichsten Weise erhalten, ja dieses
Privileg wurde von Kapitulation zu Kapitulation immer
mehr erweitert. Wie wir bereits in der Geschichte der
Kapitulationen hervorhoben, herrschte zunächst bei den
meisten Völkern das Personalitätsprinzip, das erst nach
der Ausbreitung der monarchischen Machtbefugnisse und
dern Beginne einer durch Gesetze geregelten Rechtspre-
chung allmählich dem Territorialitätsprinzip Platz machen
musste, d. h. jeder, der sich in dem betreffenden Lande
aufhielt, musste sich auch seinen Landesgesetzen unter-
werfen.
Ganz andere Verhältnisse als im Okzident, bildeten
sich jedoch im Orient heraus. Zunächst waren hier die
Konsuln nur Handelsrichter (consul d'outre mehr, ä
l'etranger), deren Machtbefugnisse sich jedoch durch
eine immer weitergehende Verv» ertung des Personalität->-
prinzips auch dementsprechend ausdehnten. (Vgl. Inhalt
L Teil.) Sie verstanden es, sich allmählich auf Grund
der dehnbaren Kapitulationsbestimmungen eine Stellung
zu schaffen, die zumindest derjenigen eines Gesandten
nichts nachgab. Waren sie zu Beg-inn ihres Aufstiegs nur
von einzelnen Handelsstädten ernannt und geschützt, so
übernahmen doch bald die Fürsten das Ernennungsrecht,
da sie den Nutzen der orientalischen Handelsbeziehungen
womöglichst selbst geniessen wollten. Dieser Streit zui-
schen Stadt und Staat hat, wie wir gesehen haben, oft
1) Ueber die Dette publique siehe Heidborn Finances Bd. II.
S. 235 fr Die Verwaltung derselben besteht seit dem Jahre 1878
'türkischer Staatsbankrott) unter der Beteilijjung Englands, Deutsch-
lands, Frankreichs, Italiens und Oesterreichs.
— 99 —
zu ziemlich heftigen Auseinandersetzungen Anlass ge-
geben. Jedenfalls konnten jedoch die einzelnen Monar-
chen bei ihren Unterhandlungen mit der Pforte eine weit-
aus grössere Macht, unterstützt durch gewiegte Diplo-
maten, in die Wagschale werfen und so baute sich dieses
ungeheure Vorrechtssystem auf, wie wir es bereits im
I. Teil eingehend entwickelt haben, ein System, das un-
bedingt zum Zusammenbruch verurteilt war, sobald der
so bedrängte Staat für sein Unternehmen nur die ge-
ringste Aussicht auf trfolg hatte.
In der auf Seite 85 angeführten türkischen Note vom
9. September 1914 besprach der türkische .Minister des
Aeussern insbesondere die schädlichen Folgen dieser Ver-
günstigung. Bei der Betrachtung der verschiedenen
Kapitulationen konnten wir immer wieder die Einmi-
schung dei Fremden in die türkische Gerichtsbarkeit be-
obachten, die sich aber ins Unerträgliche steigern musste,
wenn die Türken den gefährlichsten Verbrecher nur des-
halb entweichen zu lassen gezwungen waren, weil er ein
Fremder war. Grosse Nachteile für einen türkischen
Kläger brachte auch der mittelalterliche Grundsatz „Actor
sequitur forum rei" mit sich, da er hierdurch gezwungen
sein konnte, wegen ein und desselben Rechtsfalles die
verschiedensten Konsulargerichte anzugehen und dem-
entsprechend verschiedene Entscheidungen entgegenzu-
nehmen. (Siehe die türkische Note: ,,le fait enfin que
suivant la nationalite des contractants un diffcrend, ne
d'un merne contract, comporte un for et un mode de
proceder differents.'') i) Hierzu kam noch die Stellung
der Dragomane, die, wie bekannt, jedem Prozesse gegen
einen Fremden, der vor einem türkischen Gerichte zur
Verhandlung kam, beiwohnenmussten und von welchem
Rechte der ausgiebigste Missbrauch in einer Weise ge-
trieben wurde, dass die Pforte fast in allen späteren
Kapitulationen darauf dringt, dass in dieser Hinsicht Ab-
hilfe geschaffen werde. Besonders schwer litt die Türkei
immer unter dem Zwange, ihre Gesetzgebung den frem-
den Gesetzen anpassen zu müssen, wollte sie nicht unend-
liche Konflikte und Reibungen heraufbeschwören. Pel-
lissie du Rausas führt hierfür einige treffende Beispiele
an. Nach welchem Gesetze müsste man entscheiden.
1) Vgl. Lehmann S. 31. Im Jahre 1820 versuchten die Mächte
England, Frankreich und Rußland gemischte richterliche Ausschüsse
einzuführen, 1864 entschied jedoch der Cour d'Appel in Ai.\, dass
diese Entscheidungen iür Frankreich nicht bindend seien und so-
mit blieb es wieder bei dem Grundsatze Actor sequitur forum rei.
— 100 —
wenn ein Franzose mit einem Türken einen Vertrag abge-
schlossen hatte ? Käme da das f.an/ösische oder das tür-
kische Gesetz in Betracht?'* (^der eiii Engländer begeht
einen unerlaubten und schädlichen Akt gegen einen Tür-
ken. Es entsteht nun die Frage, ist diese Handlung
überhaupt strafbar und wenn, nach welchem Gesetze?^)
Da diese Frage in keiner der Kapitulationen genauer be-
sprochen worden war, führte sie zu vielen Auseinander-
setzungen mit der Türkei, bis im Jahre 1857 (28. No-
\ember) der französische Kassationsgerichtshof aus An-
lass eines französischen Prozesjres die bemerkenswerte
Entscheidung fällte, dass, wenn ein einem Franzosen
zur Last gelegtes Vergehen eine Uebertretung der Gesetze
der Polizei und der Sicherheit des ottomanischen Reiches
darstellt, dieses Vergehen mit inbegriffen sein soll in
der Zuständigkeit der türkischen Gerichte, welche ge-
mäss dem türkischen Recht urteilen sollten. -)
Wir können kurz zusammenfassend sagen, dass alle
zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Türken und Frem-
den nach den ottomanischen Gesetzen behandelt werden
sollten, ^) welches Zugeständnis aber durch die not-
wendige Zuziehung von Dragomanen ziemlich entwertet
wurde. Hierzu kam noch der Umstand der ausge-
breiteten Protektoratsherrschaften der einzelnen fremden
Konsuln, durch die es ihnen gelang, den Kreis der ihrer
Jurisdiktionsgewalt Unterworfenen erheblich zu erwei-
tern.
Die Türkei musste auf diese Weise jahrhundertelang
in ihrem eigenen Staate die \ erschiedensten Staaten ihre
Residenzen aufschlagen sehen, die in vollständigem Wi-
derspruch mit dem Grundsätze: „Locus regit actum"
Souveränitätsiechte des türkischen Staates sich selbst
anmassten.
Wenn dies auch zu Beginn des Kapitulationensystems
hinsichtlich der damals ausgebildeten territorialen Sou-
veiänität nicht so sehr ins Gewicht fiel, so steigerte es sich
doch für ein modernes Staatswesen zu einem unhaltbaren
Zustande, umsomehr als auch der Machtbereich der frem-
den Konsuln vielfach durch türkische Nachgiebigkeit sich
immer weiter ausdehnte. Genossen diese doch neben
ihrer Stellung als oberste Gerichtsbehörde ihrer Lands-
1) Du Rausas Bd. I. S. 422.
2) Siehe Rausas Bd. i. S. 426.
3) Ueber die türkischen Gesetze siehe Abschnitt über Re-
formen der Türkei.
!
— 101 —
leute noch die weitß^ehendsten persönlichen Rechte, die
sie geschickt zum Nachteil eines türkischen Klägfers aus-
zunutzen verstanden. Bereits in der Gesichte der Kapi-
tulationen haben wir auf die grossen Nachteile hinge-
wiesen, die sich für den türkischen Kaufmann dadurch
ergeben konnten, dass sein ausländischer Schuldner ohne
weiteres auf Bürgschaft seines Konsuls das Land ver-
lassen konnte, wobei sich aber der türkische Gläubiger
nur schwer an den letzteren halten konnte. (Vgl. Teil I
S. 46 Kapitulationen von 1740, Art. 48.)
Martens hat wiederholt betont, dass die richter-
lichen Befugnisse der Konsuln nicht als Privilegien an-
gesehen werden dürfen, die man Europäern erteilt, da-
mit sie ungestraft Verbrechen begehen und die Ein-
geborenen und Landesregierungen ausbeuten (exploi-
tieren) könnten. Dem Rechte der Konsulariurisdiktion
entspricht die Pflicht, die Konsulargerichte unverzüglich
in einer der Forderungen der Rechtsordnung entspre-
chenden Weise zu organisieren. ^)
Gewiss darf nicht verschwiegen werden, dass auch
die Türkei sich mannigfache Uebcrgriffe zuschulden kom-
men Hess, die nicht nur in der Erpressung eines Blut-
zolls (prix du sang), sondern auch sehr oft in Misshand-
lungen zum Ausdruck kamen. Die Erhebung von Geld-
summen ausserhalb jedes Gesetzes wurden in verschiede-
nen Fällen durch Gefangensetzung angesehener Personen
bewerkstelligt, und Pellissie du Rausas erwähnt eine
ganze Reihe derartiger Fälle, wobei er sich auf eine an-
geblich sehr authentische Quelle beruft. -)
Auch Martens erwähnt, dass das' Los der fremden
Konsuln in den türkischen Staatsgebieten, insbesondere
in Algier, trotz der grossartigen Zusicherungen oft kein
besonders beneidenswertes war Dieser ausgezeichnete
Kenner der orientalischen Verhältnisse sagt aber in sei-
nem gleichen Werke, und diesem Umstände mag das
scharfe Vorgehen der türkischen Behörden oft zu ver-
danken gewesen sein, dass „die französischen Konsuln
im Orient bei weitem nicht den hohen Anforderungen
entsprachen, welche die betrachteten völkerrechtlichen
Urkunden und die damals zwischen Frankreich und der
Türkei bestehenden. Beziehungen an sie stellten*'. ^') Um
1) Vgl. Ulimann 1908 S. 226. Anm. 2 u. F. v. Martens: Das
internationale Recht der zivilisierten Völker (deutsche Ausg. von
K. Bergbohm 2 Bände 1886) Bd. II. S. 92 und 96,
2) Näheres siehe Rausas Bd. I. S. 132.
3) Siehe Martens S. 207.
— 102 —
diescni schon fast zu einem l'nwesen gewordenen Trei-
ben der fremden Vertretlinnen /u steuern, beschäftigte
sich im Jiihre 1881 das Institut für internationales Recht
«.•ingehend mit dieser Krage und nahm folgende vom Pe-
tersburger Völkerrechtslehrcr von Martens vorgeschla-
gene Resolution an :
1. „Die gegenwärtige im Verfahren bei gemischten
Pro/essen befolgte Praxis ist unwürdig der zivi-
lisierten Mächte und den gesetzlichen Interessen
ihrer im Orient wohnhaften Angehörigen im höch-
sten Grade schädlich. ^
2. Die Exterritorialität der aus christlichen Staaten
entstammenden Bewohner orientalischer Gebiete
ist nicht nur ein Privileg und ein Recht, sondern
sie begründen auch eine Pflicht." i)
Aber gerade an diese Pflicht, die doch eigentlich nur
eine Folge der Gegenseitigkeit hätte sein müssen, ver-
gassen die Fremden nur zu gern, was in gleichem Masse
sowohl auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit, als auch
auf die Ausnutzung der Exterritorialität zutraf.
e) Die Exterritorialität.
Schon seit dem 17. Jahrhundert genossen die in der
Türkei lebenden Ausländer unter dem Schutze der Kapi-
tulationen eine an Exterritorialität grenzende Freiheit und
waren fast vollständig der Rechts- und Polizeihoheit des
Reiches entzogen. -) Zunächst einmal sind die Konsuhi
in der Türkei wie in der Levante den Gesandten gleich-
gestellt und besitzen durch ihre weitgehenden Einmi-
schungsbefugnisse oft sogar noch grösseren Einfluss.
Für Preussen bestimmte z. B. das Gesetz vom 29.
Juni 1865, für Deutschland das Gesetz vom 10. Juli 1879,
dass die deutschen Konsuln die Vorrechte der diploma-
tischen Gesandten geniessen sollten. Wenn wir hier von
Exterritorialität sprechen, so wenden wir diesen Aus-
druck in seiner völkerrechtlichen Bedeutung vor allem
auf die Konsuln an, die ja gemäss den Kapitulationen
Befreiung von der Gerichtsbarkeit, Abgabenfreiheit (wo-
zu noch die Zollfreiheit für Gegenstände ihres eigenen
Bedarfs kam, siehe Inhalt Teil I), Lokalimmunität und
1) Annuaire de l'lnstitut de droit international 1877 ff. Bd. IV.
S. 233 ff. Dem immer melir überfiandnehmenden Handel mit
Konsularämtern, die wegen ihrer reicfien Erträgnisse sehr gesucht
waren suchte die unter Mitwirkung Colberts erlassene „Ordonnance
de la Marine" v. Aug. 1881 zu steuern. (Vgl. Rausas Bd. 1).
2) Vgl. auch Bachems Staatslexikon Bd. V. S. 551.
— 103 —
Quartierfreilieit, i) ferner Befreiung von der Polizeige-
walt genossen, welche Rechte auch in den neuen deutsch-
türkischen Verträgen vom 11. Januar 1Q17 /um Teil bei-
behalten wurden.
Wenn wir die Konsuln als Repräsentanten der Re-
gicrungsgewalt eines Absendestaates ansehen und ihnen
dementsprechend die Exterritorialität zusprechen könn-
ten, so gilt dies doch kaum von den Fremden schlechthin.
Wie wir bereits an anderer Stelle hervorhoben,
war die territoriale Souveränität der Türkei durch lang-
jährige Gewohnheit und du!ch die verschiedenen Ver-
träge immer mehr zu Gunsten der Fremden geschmälert
geworden und auf dieser Sonderstellung gegenüber jeg-
licher territorialen türkischen Gewalt beruht wohl auch
das Privilegiensystem der Fremden, für das wir zum
Unterschiede von der diplomatischen Exterritorialität
wohl am besten mit Bonfils-Grah ~) den Ausdruck" „Un-
verletzlichkeit'' anwenden. Dass die türkische Macht-
sphäre trotz aller gegenteiligen Versicherungen der Ka-
pitulationen tatsächlich ausserordentlich zugunsten der
einzelnen Konsulatsbezirke beschränkt war, erhellt zu-
mindest aus der Befreiung aller Fremden von dem be-
deutsamen Hoheitsrechte, der inländischen Gerichtsbar-
keit. 3) (Siehe den in dieser Beziehung besonders deut-
lichen § 1 des deutschen Konsulargerichtsgesetzes vom
7. April 1900.)
Eine genaue Definition des Begriffes „Exterritoria-
lität** ist nur schwer zu geben. Man könnte vielleicht
den Begriff, wie dies ähnlich v, Frank tut, in den ein-
fachen Satz fassen, dass derjenige exterritorial sei, der
den Behörden des Empfangsstaates nicht unterworfen
ist. 4)
Für das türkische Staatswesen selbst bildeten all
diese Bestimmungen eine Fülle von Verlusten und Schä-
1) Diese letztere erstreckte sich jedoch nicht auf Grundstücke
gemäss dem türkischen Gesetz vom 10. Juni 1867 (68). In den
neuen deutsch-türkischen Rechtsverträgen wurden die zu amtlichen
Zwecken oder zu Wohnzwecken von Konsularbeamten benutzten
Gebäulichkeiten hiervon allgemein ausgenommen.
2) Bonfils-Grah Völkerrecht 1904.
3) Im merkwürdigen Gegensatz hiezu steht von Grünau: Die
Staats- und völkerrechtliche Stellung Aegyptens.
4) Wie dem auch sei, so können wir nach den Erfahrungen
dieses Weltkrieges die sichernde Kraft all dieser Zugeständnisse
nur als sehr schwankend betrachten und wird es vor allem zu
deren Wahrung auf die Gewalt und das Ansehen des Absende-
staates ankommen.
— 104 —
den, da die Türkei hierdurch für die kühnsten Aben-
teurer zu einem willkommenen Absteigequartier gemacht
wurde.
Im übrij^eii machten sich die Fremden durchaus kein
liewissen daraus, die Bestimmungen der Kapitulationen
ganz nach ihrem Belieben auszudehnen und anzuwenden,
gerade wie es ihnen den grössten Nutzen einbrachte.
Gegen dieses unverantwortliche Treiben erhob die
Pforte in ihrem „Memoire -adresse par la Sublime Porte
aux reprcsentants des puissances etrangcres rclatif aux
Capitulaticjns" vom 7, Juli 1S69 entschiedenen Ein-
spruch, 1)
Nach einer kurzen Einleitung, worin betont wird,
dass die Kapitulationen ebenso wie die darauf folgenden
Verträge mit den fremden Mächten genau eingehalten
werden müssten, fährt die Denkschrift fort: „Es ist
dennoch bekannt, dass man in der l^raxis ihnen (d. h.
den Kapitulationen) eine Elastizität gibt, die sie nicht zoi-
lassen, und dass neben den schon eine Ausnahme bilden-
den bewilligten Privilegien, durch solche Handlungen
offenbare Missbräuche (des abus manifestes) bestehen,
die zu endlosen Schwierigkeiten führen (qui occasiennent
des difficultes incessantes). Es wird genügen, diese
Missbräuche anzudeuten, damit alle Welt einsieht, dass
es der kaiserlichen Regierung unnjöglich sein würde, sie
länger zu ertragen."
Die Kundgebung fährt dann fort, dass die kaiserliche
Regierung Anweisung geben w erde, dass zwar die in den
Kapitulationen enthaltenen Bestimmungen genau einge-
halten, aber jede Ueberschreitung der Grenzen „des Pri-
vileges consacres" und „jede Verletzung der souveränen
und unverjährbaren Rechte S. M. des Sultans zurück-
gewiesen werden sollen**.-)
Im übrigen entwickelt dieses Memoir dann ver-
schiedene Grundsätze, von denen insbesondere hervor-
zuheben sind : Allgemeines Landesrecht ist das türkische,
da die Fremden, wenn sie den Schutz der türkischen Ge-
setze geniessen wollen, auch die Verpflichtung haben,
sich diesen Gesetzen zu unterwerfen; die Jurisdiktions-
gevvalt ist eine Ausnahme dieses gemeinen Rechts. Die
Türkei schlug vor, dass zur Vermeidung von Schädi-
1) Siehe. Rausas Bd. I. S. 222.
2) Bemerkenswert ist hier wieder die Betonung der „be-
willigten Privilegien" woraus wir von Neuem das zähe Festhalten
der Türkei an der Privilegiennatur der Kapitulationen erkennen
können.
— 105 —
guiigen alle Fremden einer doppelten Jurisdiktion unter-
worfen sein sollen : Für Streitigkeiten unter Fremden
ist die KoMSulariurisdiktion, für Streitigkeiten /.wischen
Fremden und Türken die lokale Behörde zuständig. Je-
denfalls darf den Fremden Befreiung von der inländischen
üerichtsbarkeit nur dann zugestanden werden, wenn ein
förmlicher Text (une texte formale) ihnen dies zu-
spricht. 1) (Vgl. Kapitel der Aufhebungsbestrebungen
der Türkei.)
Ich führe dieses Dokument nur deshalb an, weil es
ein überaus bezeichnendes Schlaglicht auf das Gebaren
der fremden Mächte in der 1 ürkei wirft. Man kann aus
dem ziemlich energischen Tone dieser Denkschrift er-
sehen, wie sehr die Mächte es verstanden hatten, Mass-
nahmen, die einst einem halbzivilisierten Staate gegen-
über von grossem Segen für die Fremden waren, zu
überaus drückenden Fesseln für ein aufstrebendes, mo-
dernes Staatswesen zu schmieden.
Auf die verschiedenen Versuche der Türkei, sich von
diesen Lasten, insbesondere von der Dragomanenassi-
stenz zu befreien, werden wir noch später zurückzu-
kommen haben.
f) Die Postprivilegien.
Zum Schlüsse wäre noch das Recht der christlich-
europäischen Staaten zu erwähnen, in den türkischen Ge-
bieten ihre eigenen Postämter zu unterhalten, welches
Privileg den fremden Regierungen zwar nicht direkt
durch die Kapitulationen zugestanden worden war, aber
sich doch als eine Folge der allmächtigen Stellung der
fremden Staaten in der Türkei herausbildete.
Wenn wir bedenken, dass die gesamte umfangreiche
Handelspost und auch die meiste sonstige Korrespondenz
durch diese ausländischen Posteinrichtungen ging, so
können wir dementsprechend den Verlust des türkischen
Staates als ziemlich hoch einschätzen. -)
III. Kapitel.
Die Abschaffungsbestrebungen der Türkei, deren
Wirkungen und Erfolge.
Wenn wir von Versuchen im allgemeinen sprechen,
so haben diese in der Türkei eigentlich zu dem Zeit-
1) Vgl. Rausas Bd. I. S. 223 ff.
2) Vgl. Rausas Bd. I. S. 427 ff und die Aufhebungsbestrebungen
der Türkei, (z. B. Oesterreishisch-türkische Konvention über Bos-
nien vom 26. II. 1909.)
— 1(6 —
punkte begonnen, da das türkische Rechtsleben so weit
^rcdiehen war, dass es all die Schranken und Fesseln deut-
lich erkannte, die ein Verband von mächtigen Staaten ihm
auicrlegt hatte. Nach den Schilderungen, die wir sowohl
in der üescnichte der Kapitulationen, als in der Be-
schreibung der Wirkung derselben, zu geben Gelegenheit
hatten, kann es uns heutzutage durchaus nicht Wunder
nehmen, dass einen wesentlichen Grundzug der Politik
jedes wirkliehen türkischen Staatsmannes das Bestreben
nach Abschaffung oder wenigstens Milderung dieser ver-
alteten Bestimmungen bilden musste.
Wenn auch erst die Bemühungen des jetzigen tür-
kischen Grossvezirs Talaat-Pascha von endgültigem Er-
folge gekrönt sein sollten, ind^m es ihm gelang, wenig-
stens den Block der Zentralniächte für seine Anschau-
ungen zu gewinnen, so können wir doch bereits im
19., ja sogar schon im 18. Jahrhundert ähnliche türkische
Aspirationen beobachien. i)
Aber auch die damals an der Türkei interessierten
Mächte begannen allmählich zu erkennen, dass ein auf-
strebendes Volk auf die Dauer eine derart jede innere
Entwicklung hemmende Einrichtung, wie sie die Kapitula-
tinoen, insbesondere in ihrer rücksichtslosen Anwen-
dungsweise darstellten, nicht gutwillig ertragen werde
und versuchten, 'die türkische öffentliche Meinung zunächst
durch verschiedene Zusicherungen zu besänftigen.
Im 14. Protokoll des Pariser Vertrages vom 25. März
1856 erklärten die Mächte, „dass die Kapitulationen einer
Situation entsprechen, welcher der Friedensvertrag not-
wendigerweise ein Ende zu setzen bestrebt sein muss,
und dass die Privilegien, welche jene den Personen vcr-
tragsmässig zugestehen, die Autorität der Pforte in be-
dauernswerte Grenzen einschränke". -)
Ali-Pascha trat in dieser Sitzung auch ziemlich ener-
gisch auf und erklärte unumwunden, dass die Kapitula-
tionen den Fremden bezüglich ihrer eigenen Sicherheit
und der Entwicklung ihrer Geschäfte schaden, da die
vermittelnde Macht der lokalen Behörden durch sie ge-
hemmt werde und dass die lurisdiktionsgewalt, mit der
die fremden Agenten ihre Landsleute beschützen, „con-
stitue une multiplicite de gouvernements dans le Gou-
vernement, et par consequant un obstacle infranchissable
1) Vgl. Anhang: die Meerengenfrage.
2) Noradounghian Bd. III. S. 38: M. le Baron de Bourqueney
et les autres Plenipotentiaires avec lui reconnaissent
— 107 —
k toutes les ameliorations". Im Pariser Frieden vom
30. März 1856 ^) wurde 'die Türkei endgültig in den
Verband der europäischen Mächte aufgenommen. Im
7. Artikel dieses Vertrages erklärten die Vertragsschlies-
senden PaVteien -) : „der hohen Pforte wird gestattet, an
den Vorteilen des Völkerrechts und des europäischen
Konzerns teilzunehmen". Es wäre nun selbstverständ-
lich gewesen, dass dieser Vertrag (d. h. die Aufnahme
der Türkei in die Gemeinschaft des bis dahin christlichen
Völkerrechts) mit einem Festhielten an den Kapitulationen,
die doch oft gegen die wichtigsten Souveränitätsrechte
verstiessen, als unvereinbar hätte angesehen werden müs-
sen. Wider Erv/arten blieb jedoch zunächst die Fieor-
ganisation der türkischen Verwaltung, in deren Erwartung
obiger Schritt getan wurde, aus und dementsprechend
wurden auch 'die Kapitulationen nicht beseitigt. ')
Jedenfalls hatten aber 'die'Mächte, wenn auch sicher-
lich gegen ihren Willen, dazu beigetragen, dass die
Forderungen der Türken eine Unterlage erhielten, auf
die sie sich bei einer geschickten Ausnützung der Lage
stützen konnten. Den ersten erfolgreichen Schritt tat
die Pforte im "Jahre 1860 gegenüber dem stark überhand-
nehmenden Protektoratsunfug der Mächte im osmani-
schen Reiche. Wie wir im vorigen Kapitel ausführten,
waren die Ausschreitungen, die auf diesem Gebiete von
Seiten der fremden Konsulate begangen wurden, für das
türkische Staatswesen ausserordentlich drückend, und
dies umsomehr, da die Türkei sich durch den Erlass des
inj Art. 'Q des Pariser Vertrages vom 30. März 1856'')
angekündigten kaiserlichen Firmans (Hatti humaiun, vgl.
türkische Reformen weiter unten) vom 18. Februar 1856
in Europa einer bedeutend höheren Wertschätzung
erfreute. •'') Diese der Türkei augenblicklich günstige
Lage nützte Ali Pascha sogleich aus und versandte am
14.' September 1860 ein langes Memorandum an die
fremden Gesandtschaften, worin er verschiedene Vor-
schläge zur Beseitigung dieser Protektoratsbestimmungen
vorschlug. ^) Die Bestimmungen, deren Festsetzung ge-
1) Noradounghian Bd. 111, S. 70. Die deutsche Uebersetzung
siehe auch bei Liszt Völkerrecht 1915 Anhang.
2) Dieselben waren Frankreich, Oesterreich, Grossbritanien,
Preussen, Russland und Sarrdinien.
3) Vgl. Liszt Völkerrecht S. 130.
4) Vergl. Anhang Meerengenfrage.
5) Nor. III S. 83.
6) Rausas II. S. 36
Den Text siehe Archives diplomatiques T. I. S. 157.
— 108 —
fordert wurde, waren überaus streng und hätten für
(kn Fall ihrer Durchführung eine gründliche Wandlung
der Verhältnisse geschaffen. So forderte die Pforte bei-
spielsweise, „dass alle Angelegenheiten, die die neuen
Protegierten \or ihrem Nationalitätswechsel verpflichtet
hatten, nach den türkischen Gesetzen beurteilt werden
sollten, dass sie kein Erbrecht gegenüber ihren türki-
schen Eitern besitzen und dass sie verpflichtet sein
sollten, das türkische Reich 3 Monate nach ihrer Er-
klärung, dass sie sich entnaluralisieren, zu verlassen.
Ihre unbewegliche Habe müssen sie ohne Verzug ver-
äussern, können aber, falls dies ihnen während der
3 Monate unmöglich sein sollte, für ihre Angelegenheiten
einen Türken als Sachwalter bestellen. Unter. das so-
fortige Auswanderungsgebot fallen sowohl der zu einer
anderen Nation Uebergetretene als auch dessen gesamte
Familie mit Ausnahme der bereits grossjährigen Kinder,
denen die Wahl zwischen der Heimat und dem Ausland
offen stehen soll. In dieser Hinsicht duldet die Türkei
keine wie immer geartete Einmischung von Fremden.
Sollten die Protegierten dennoch im Lande bleiben wol-
len, so wird sie die Türkei genau so wie ihre eigenen
Untertanen behandeln und bleiben sie demnach voll-
kommen den einheimischen Gesetzen unterworfen,**
Wären diese Bestimmungen in dieser Weise von den
Mächten anerkannt worden, so hätte das Protektoratsun-
wesen zweifellos sein Ende gefunden. Wie wir jedoch aus
den bisherigen 'Ausführungen ersehen konnten, lag nichts
ferner dem Interesse der Mächte, als sich eines ebenso
verwertbaren als einträglichen Privilegs zu berauben, und
Pellissie du Rausas nennt da;» Vorgehen der Türken
jkurzum eine „Drohung", jedenfalls gelang es der Pforte,
die Zustimmung der Mächte zur Einsetzung einer ge-
mischten Kommission zu erlangen, deren Aufgabe die
Revision der Pj-otejktoratsbestimmungeii sein sollte.'
Durch dieses Entgegenkornmen der Mächte fühlte
sich die Türkei soweit ermutigt, dass sie am 24. April
1862 mit einem ziemlich deutlich gehaltenen Zirkular
neuerdings an die Mächte herantrat. Sie wies in dem-
selben ohne Umschweife auf die irrige Ausdehnung der
Protektoratsprivilegien hin, was zu dauernden unlieb-
samen Auseinandersetzungen zwischen den Mächten und
der Pforte führen müsse. Da die einzelnen Staaten
dieser Note der Pforte eine gün.-tige Aufnahme bereiteten,
ging dieselbe daran, eine neue Regelung der schwebenden
Fragen auszuarbeiten, und erliess ein Jahr später, am
— 109 —
9. August 1863, das RegltMiient relatif aux consulate
etrangers, das bis zur Aufhebung der Kapitulationen in
Geltung blieb. Der wesentliche Qrundzug dieses Regle-
ments bestand darin, dass niemand unter fremde Pro-
tektoratshoheit treten könne, es sei denn, dass er regel-
recht im Dienste eines tremden Konsulats oder einer
fremden religiösen Einrichtung angestellt wäre, (Vgl.
Art. 1, 6, 9.) Ferner ist jede derartige Ernennung, wenn
sie gültig sein soll, unverzüglich den türkischen Lokal-
behörden anzuzeigen. Die hiermit verbundene Unter-
werfung unter das Protektorat einer fremden Macht ist
jedoch gemäss Art. 5 sowohl zeitlich als auch räumlich
beschränkt. Um einem zu grossen Nachteil der Pforte
vorzubeugen, wurde nämlich die Bestimmung aufgenom-
men, dass die Protektoratshoheit der fremden Macht
nur solange dauern solle, als der betreffende türkische
Untertan sich in deren Dienst befindet und dass sich jene
keinesfalls aui die Familie des Protegierten erstrecken
solle. Dies war zweifellos ein grosser Erfolg für die
türkische Regierung, und es war ihr hierdurch gelungen,
eine ins Unermessliche gesteigerte Bedrückung wenig-
stens auf ein erträgliches Mass zurückzuführen.
Freilich musste die Pforte andererseits in einer münd-
lichen Uebereinkunft den fremden Staaten darin entgegen-
kommen, dass die Bestimmungen des Reglement relatif
nur für die Zukunft, nicht aber auch für die Vergangen-
heit Wirkung haben solle, so dass die vorher Protegier-
ten im Besitze sämtlicher Rechte blieben und ihre Fami-
lienangehörigen die gleichen Vergünstigungen wie sie
selbst genossen, i)
Ermutigt durch diesen Erfolg beschritt Ali Pascha
auch weiterhin den Weg des langsamen Abbaus der
Rechte der fremden Mächte in der Türkei.
Wie wir bereits des öfteren hervorgehoben hatten,
begegneten die Fremden bei Erwerb von Grundbesitz den
grössten Schwierigkeiten in dem osmanischen Reiche, ja
er war ihnen nach türkischem Recht eigentlich völlig
verwehrt.
Diesen Umstand benützte Ali Pascha, um bei sei-
nem Aufenthait in Paris, die türkische Genehmigung zum
Erwerbe von Grundbesitz von der Aufhebung der Kapi-
tulationen abhängig zu machen. Trotz der langwierigsten
Bemühungen vermochte aber dieser türkische Staatsmann
das so sehr ersehnte Ziel nicht zu erreichen, ja die
1) Vgl. Rausas Bd. 11. S.40.
— 110 —
Machte forderten nunmehr von der Pforte die einseitige
Erfüllung ihres Versprechens, und beharrten trotz der
wiederholten Verwahrungen Ah Paschas, dass ihm dies
ohne Aufhebung der Kapitulationen wegen mangelnder
Souveränitätsgewalt nur schwer möglich sei, auf ihrem
Verlangen. Wir müssen eben zum richtigen Verständriis
der damaligen Lage der Türkei bedenken, dass sie sich
bei jedem selbständigen Schritte sofort einer wenigstens
ihr .gegenüber äusserlich fest verbundenen Koalition von
Mächten gegenüber befand, die schliesslich doch nur
die Interessen ihrer eigenen Angehörigen wahrnahmen.
Immerhin gelang es der Türkei, durch einen Firman
vom lö. Juni 1867 (bestätigt durch ein Protokoll vom
9. Juni 1868)^) wenigstens das eine zu erreichen, dass
alle Fren^.den in den Fragen, die ihren von der Pforte nun-
mehr gestatteten Grundbesitz betrafen, vollkommen der
konsularischen Gerichtsbarkeit entzogen und ganz der
türkischen Rechtsprechung unterstellt sein sollten.
Art. 2 des Firmans erklärt ausdrücklich, dass „die
Fremden, die Eigentümer von unbeweglichen Stadt- oder
Lai.dgütern seien, infolgedessen den türkischen Unter-
tanen in allem, was ihre unbeweglichen Güter betrifft,
gleichgestellt sein sollen'*. -)
Da die unbew-eglichen Besitztümer der Fremden
gemäss Art. 1 des Firmans bis auf die Provinz Hedjaz
vollkommen den türkischen Gesetzen unterworfen waren,
so hatte dies auch zur Folge, dass die Ausländer für diese
Besitztümer alle Lasten und Pflichten genau so zu tragen
hatten, wie die eingeborenen türkischen Untertanen. Aber
nicht nur in verwaltungstechnischcr Hinsicht erreichte die
türkische Regierung bedeutende Vorteile, sondern auch
hinsichtlich der Rechtspflege.
Da nämlich die Ausländer hinsichtlich ihres Grund-
besitzes den türkischen Staatsangehörigen völlig gleich-
standen, so folgte daraus, dass für diese Angelegenheiten,
Vvie bereits erwähnt, auch die türkischen Gesetze zur
Anwendung kommen mussten. Einen bedeutenden Ein-
griff in die bisherigen Rechte der fremden Konsulate
bedeutete hierbei die Regelur.g des Erbrechts hinsicht-
lich der unbeweglichen Hinterlassenschaft eines Frem-
den nach türkischem Recht, was natürlich von Seiten der
betroffenen Fremden oft zu .icnlich ernsten Auseinander-
1) Nor. Bd. III S. 271 fi.
2) Nor. Bd. Ili S. 274 if.
— 111 —
Setzungen führte. ') (Vgl. betreffs der Testamentsform
die Entscheidung des türkischen Staatsrats vom 31. März
1881, die in einem „Circulaire ministerielle" den frem-
den Gesandtschaften 'zur Mitteilung gebracht wurde.)-)
Somit hatte die Türkei wenigstens eine teilweise Auf-
hebung der Kapitulationen erreicht, und die Steuerfreiheit
der Fremden hinsichtlich ihres unbeweglichen Vermö-
gens beseitigt. Bis zur endgültigen Aufhebung der Ka-
pitulationen am 1. Oktober 1914 war die konsularische
Gerichtsbarkeit ausser hinsichtlich des Grundbesitzes,
dessen Streitigkeiten sowohl persönlicher als sachlicher
Natur den türkischen Gerichten unterstanden, auch noch
in anderen Punkten cir^eschränkt *
Seit dem Jahre 1846 (genau genommen seit dem
Jahre 1856) bestehen in der Türkei gemischte Gerichte,
die sowohl in Handels- als auch in Strafsachen amtieren,
und deren erste Instanz Streitigkeiten mit einem Streit-
wert von über 1000 Piaster, deren zweite Instanz (Han-
delsgericht zu Konstantinopel) solche mit einem Streit-
wert von über 5000 Piaster zu entscheiden hat. In die-
sen Gerichten befinden sich gemäss der Bestimmung,
die ihnen zukommen soll, zwei Angehörige der aus-
ländischen Prozesspartei, die bei der Gerichtsverhandlung
Sitz und Stimme besitzen. (Vgl. Inhalt S. 122.)
Ferner sind seit neuerer Zeit in allen grösseren
Städten des ottomanischen Reiches sog. korrektionelle
Gerichte eingesetzt, deren Besetzung zu gleichen Teilen
aus einheimischen und aus den betreffenden euro-
päischen Vertretern besteht. •) Dies bedeutete na-
türlich eine ausserordentliche Verkürzung der konsula-
rischen lurisdiktionsrechte und bedeutete „aber gleich-
zeitig, dass die Kulturmächte sich nicht entschliessen kön-
nen, die Gerichtsbarkeit über ihre Staatsangehörigen in
die Hände der Landesgericiite zu legen". ^)
Auf jeden Fall konnte die Türkei bei richtigem Ver-
ständnis für die neugeschaffenen Umstände mit aller
Aussicht auf Erfolg an den Abbau der konsularischen
Gerichtsbarkeit denken, umsomehr, da die beteiligten
Mächte selbst durch die Zustimmung zu der Errichtung
der gemischten Gerichte der Türkei eine willkommene
Handhabe geliefert hatten.
1) Vgl. Rausas Bd. I. S. 462 H.
2) Vgl. Rausas Bd. 1. S. 466 H.
3) Vgl. Lippmann. Die Konsulariurisdiktion im Orient 1898
' S. 102.
4) Liszt 1913 S. 148.
— ll'J -
fEinen ähnlichen Präzendenzfall lieferten die seit
dem Jahre 1S83 in Siam bestehenden internationalen Ge-
richte, die 'in der späteren Zeit sich zu ganz gewöhnlichen
siamesischen Landesgerichten entwickelten.)
Gleichzeitig 0 verstand es die türkische Regierung,
eine andere überaus drückende Massregel teilweise zu be-
seitigen. Wie bekannt, war es den türkischen Justiz-
beamten verboten, zum Zwecke einer Durchsuchung oder
Verhaftung das Haus eines Fremden ohne Assistenz des
Konsuls zu betreten, der durch unnötiges Zögern die
türkische Polizei ausserordentlich schädigen konnte.
Ur^ dies zu vermeiden, wurde zunächst bestimmt,
dass ein derartiges Verhalten von Seiten des Konsuls
unstatthaft sein soll und dass seine Assisten-z überhaupt
entbehrlich sei, wenn sich das Haus des Ausländers
vom Sitze des Konsulats „de neuf heures ou de plus de
neuf heures** entfernt befindet. Dann können ,,les agents
de la force publique penctrer dans la demeure d'un sujet
etranger sans etre assistes de l'Agent consulaire**. Die-
ses Recht wurde der Türkei nur für den Fall der Not
(en cas d'urgence) gewährt und um das Verbrechen eines
Alordes festzustellen, ferner bei einem Mordversuch, einer
Brandstiftung, kurzum nur bei schwereren Uebeltaten.
Peliissie du Rausas rst übrigens mit dieser ,, Verletzung"
der Kapitulationen durchaus nicht einverstanden, da diese
„rigoureusemeiit" ausgelegt v^crden müssen,-) und fc-rner
der Begriff der „unverletzlichen Wohnung" im allge-
nieinen, durch das Protokoll von 1868 viel zu eng be-
grenzt ist. In dem letzteren wird dieser Begriff nämlich
dahin umgrenzt, dass er „das Wohnhaus und seine Ne-
bengebäude, d. h. die gemeinschaftlichen, ferner den Hof,
den Garten und den eingeschlossenen, angrenzenden
Raum" umfasst. Da „alle anderen Partien des Eigen-
tums" ausgenommen sein ?Qllen, so kommt Peliissie du
Rausus zu dem Schlüsse, dass die türkische Polizei in
allen anderen Gebieten des Eigentums eines Ausländers
freies Durchsuchungsrecht 'haben könnte. ■■)
1) Das heisst durch das Gesetz von 1867 und das Protokoll
>'on 1868 (9. Juni).
2) Siehe Rausas Bd. 1. S. 456.
3) Dies war auch wirklich der Fall, da das Protokoll vom
9. Juni 1868 ausdrücklich bestimmte, dass „diese Verordnungen
nur anwendbar seien auf die Gebiete des hiyentums, die die
VVohnun^i i» dem oben definierten Masse darstellen. Ausserhalb
der Wohnung wird die Tätigkeit der Polizei frei und ohne Vorbe-
halt ausgeübt."
i
— 113 —
Welcher Auffassung mau sich hierbei auch an-
schUesst. nruss man immer bedenken, dass die Türkei
nach der Pariser Konferenz und nach der Bezeugung ihres
guten Willens zur Einführung von Reformen (siehe weiter
unten), die Aufhebung der gesamten Kapitulationen hätte
verlangen und bei genügender Unterstützung und aus-
reichenden Machtmitteln auch durchsetzen können. Da
ihr dies nicht gelang, so war e- für die Pforte ein Ge-
bot der Staatsklugheit, die Macht der Fremden durch,
langsames Eindämmen ihrer uiibegrenzten Rechte zu
beschränken.
Bereits bei der Abfassung dieses Protokolls ging die
Pforte gegen die niemals gerne geduldete Dragoman-
assistenz vor, indem bestimmt wurde, dass dieselbe voll-
kommen aufgehoben sein solle in den Fällen, wo sich.
d?r Wohnsitz des Fremden mehr als neun Stunden vom
Sitze des Konsulats entfernt befindet, daselbst das Ge-
setz „sur l'organisation judiciaire du vilayef' in Kraft
ist und der Streitfall nicht mehr als 1000 Piaster beträgt,
oder eine Gesetzesübertretung eine Geldstrafe von höch-
siens 500 Piaster zur Folge haben könnte. Im ersten
f^alle hat der „conseil des anciens remplissant les fonc-
Hons de juge de paix'* zu entscheiden, in dem Falle eines
Vergehens „le tribunal du caza'*.
Aber dieses Zugeständnis erreichte die Pforte nur
mit der gleichzeitigen Zusicherung, dass die Zwangsvoll-
streckung der ausgesprochenen Entscheidungen ,,sans
le concours du consul ou de son delegue" nicht statt-
finden kann.
Bemerkenswert an diesem Protokolle ist ferner, dass
ganz im Gegensatz zu den Kapitulationen es den Frem-
den freigestellt wird, sich den Entscheidungen eines-
türkischen Gerichts unter Verzicht auf den Beistand des
Dragomans zu unterwerfen, ohne jede Rücksicht auf die
Entiernung ihres Wohnsitzes. Natürlich darf es sich
aber nur um Streitfälle handeln, „dont l'objet n'excede
pas la competence de ces conseils ou tribunaux''. Um
aber auch unnötige Härten gegenüber den Fremden zu
vermeiden, wurde ferner bestimmt, dass die Ausländer
einen derartigen Verzicht schriftlich zu Protokoll zu
geben haben, welche Handlung vor jedem Prozessver-
fahren zu geschehen hat.
Eine wirkliche Erleichterung für den türkischen Rich-
ter vermochte aber auch dieses Abkommen mit den frem-
den Mächten schliesslich nicht zu bieten, da die Pforte für
^ 8
— 114 -
das Appellationsverfahren wieder den Beistand des Kon-
suls zulassen musste. Denn die Fremden hatten so-
wohl im Falle eines freiwilligen Verzichts auf die Bei-
wohnung eines Dragomans, als auch für den Fall, dass
ihnen dieselbe kraft dieses Abkommens verwehrt war,
„le droit d'interjeter appel'*, was zunächst als natürliche
Folge die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens, dann
aber für das Berufungsverfahren selbst, die Anwesen-
heit des betreffenden Konsuls oder Dragomans nach sich
zog. 0
Aus all diesen Bestrebungen können wir ersehen,
wie sehr es der Türkei darum zu tun war, wenigstens
die Vorrechte der Dragomane auf ein Mindestmass ein-
zuschränken. Der Erfolg all dieser Bemühungen war
freilich nicht der gewollte. Die Mächte in ihrer Ge-
samtheit beriefen sich wie gewöhnlich auf den genauen
Wortlaut der Kapitulationen und in langwierigen Aus-
einandersetzungen wurde der Widerstand der Türkei
immer mehr geschwächt. Schliesslich wurden die Be-
stimmungen der Kapitulationen mit erneuter Schärfe auch
in dieser Hinsicht wieder zur Anerkennung gebracht. -)
Ihre Versuche, gegen einzelne Privilegien langsam,
aber ziemlich zielbewusst vorzugehen, setzte die Türkei,
keineswegs entmutigt, fort.
Im Jahre 188r versuchte die Pforte, die Kompetenz
der türkischen Gerichte allmählich wieder auf die Straf- -
gerichtsbarkeit zu erstrecken, die ihr gleich der Zivil-
gerichtsbarkeit in verschiedenen Fällen (vgl. Geschichte
der Kapitulationen) von den Konsulargerichten entzogen
worden war. Aber dieses Bemühen scheiterte an dem
energischen Widerstand der verbündeten Mächte und er-
reichte nur das eine, dass jeder Strafgerichtsentscheidung
vun nun ab eine besondere Regelung der strittigen Fra-
gen vorherging. ^)
Mit entschieden weniger Berechtigung ging jedoch
die Pforte am 11. Oktober 1881 durch eine Zirkularnote
gegen verschiedene Ehrenrechte der Konsuln vor, die
1) Für die Entscheidung der Konsuln selbst wurde ein Appel-
lationsgertchtshof in den verschiedenen Staaten errichtet. So für
Frankreich, La Cour d'.\ix eingesetzt durch art. 37 d. Edikts vom
Juni 1778, für Italien La Cour d'Ancöne (Gesetz v. 20. Jan. 1866
art. 105) für Deutschland d. Reichsgericht (s. Konsularger. Ges.)
für Üesterreich der Gerichtshof von Konstantinopel und zu Ale-
-xandrien <Ges. v. 29. 1. 1855) s. Rausas I. S. 312 ff.
2) Vgl. auch Bein S. 42.
3) Vgl. Lehmann S. 31.
— , 11, —
diesen durch jahrhundertelange Gewohnheit und durch
die verschiedenen Kapitulationen zuerkannt worden wa-
ren, üegen diesen Schritt der Türkei erhoben die europä-
ischen Kabinette durch zwei Kollektivnoten vom 25. De-
zember 1881 und 25. Februar 1882 nachdrücklichen Pro-
test, wobei sie bewiesen, dass der Sultan durchaus keine
Berechtigung dazu habe, einseitig unvordenkliehe Ge-
bräuche aufzuheben.!)
(Bemerkenswert ist an dieser Note die energische
Betonung der Zweiseitigkeit der Kapitulationen von Sei-
ten sämtlicher Mächte.)-)
Aber schon vorher hatte die Türkei mit wechselndem
Erfolge die allmächtige Stellung der fremden Konsuln zu
untergraben versucht.
In dem aus anderem Anlasse bereits erwähnten
„Reglement relatif aux consulats etrangers'' vom 9. Au-
gust 1863 gelang es der Türkei mit Zustimmung der
Mächte, die Anzahl der Dragomane und Janissaren zu
beschränken. Wie wir bereits in der Geschichte der
Kapitulationen ausführten, stand es gemäss der Kapitu-
lation von 1740 (Art. 45) den ausländischen Konsuln
frei, „sich so vieler Dragomane zu bedienen als sie
wollten und so viele Janissaren aazustellen als es ihnen
beliebte''.
Um einem Missbrauch besonders hinsichtlich von
Protektoratsumgehungen vorzubeugen, wurde der Türkei
das Zugeständnis gemacht, die Anzahl der zulässigen Dra-
gomane und Janissaren auf höchstens vier herabzusetzen
und es wurde ferner bestimmt, dass die Namen dieser
Personen bei den Lokalbehörden eingetragen werden
müssten. 3) (Vgl. die bereits in den späteren Kapitula-
tionen ausgesprochenen Einschränkungen der Steuerfrei-
heit der Dragomane auf eine, bestimmte Anzahl der-
selben.)
Abgesehen von diesen Einschränkungen, die die Vor-
rechte der Konsuln im allgemeinen zu erleiden hatten,
ging die Türkei auch insbesondere gegen die Wahlkon-
suln vor. Wie erinnerlich war durch die Kapitulationen
1) Vgl. Ullmann 1908 S. 225 Boniils-Grah S. 407. Ueber die
Note der xMächte siehe Rivier, Principe des droits des gens Paris
1896 S. 543 ff.
2) Vgl. auch den Versuch der Türkei gemäss dem Memoran-
dum vom 9. Juli 1869 (siehe Inhalt) unter dem Hinweis auf den
Missbrauch der Kapitulationsbestimmungen den Konsuln die Juris-
diktionsimmunität abzusprechen.
3) Vgl. Ra'usas Bd. I. S. 491.
— 116 —
für die Konsuln die Vergünstigung geschaffen worden,
alle Gegenstände, die sie für ihren persönlichen Ge-
brauch benötigten, zollfrei einführen zu können. Diese
Bestinimung konnte sehr wohl gegenüber den ßerufskon-
suln (consules missi), nicht aber auch gegenüber den
Wahlkonsuln (consules electi) eingehalten werden, da
diese ja meist Kaufleute waren und demgemäss bei ihnen
viel eher ein Missbrauch dieses Privilegs vermutet wer:
den konnte, als bei den Berufskonsuln.
Um jedes Missverständnis bezüglich der Nutzungs-
art der für den Konsul bestimmten Waren zu beseitigen,
erliess die Pforte am 27. Juli 1869 mit Zustimmung der
Mächte ein Reglemejit, das diese Schwierigkeiten beheben
sollte.
Gemäss dem Wortlaut des Art. 2 wurde die Zoll-
freiheit für die handeltreibenden Konsuln auf die Höchst-
summe von 25 000 und auf die Mindestsumme von 10 000
türkische Pfund festgesetzt, i)
Eine weitere Einschränkung ihrer Privilegien er-
litten die handeltreibenden Konsuln aber auch hinsicht-
lich ihrer Gerichtsimmunität, da sie in Handelsangelegen-
heitcn besonders den gemischten Handelsgerichten un-
terstanden. (Vgl. Inhalt S. 111.)
In der Folge setzte die Türkei ihre Bemühungen
unermüdlich fort, indem sie jede sich darbietende Ge-
legenheit wahrnahm, um eine Abschaffung der Kapitu-
lationen zu versuchen. Einen willkommenen Anlass bot
ihr hierbei die siegreiche Beendigung des türkisch-grie-
chischen Krieges vom Jahre 1897,
Nach der allgemeinen Auffassung hebt der Krieg
alle zwischen den kriegführenden Staaten bestehenden
rechtsgeschäftlichen Verträge auf, „soweit sie nicht ganz
oder in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall
des Krieges geschlossen wurden". (Näheres über diese
Frage siehe nächstes Kapitel.)
Wenn sich auch üllmann teilweise gegen diese
fast unbeschränkte Aufhebung von Verträgen im Kriegs-
1) Vgl. Rausas S. 494 und ferner Art. 10 des deutsch-türki-
schen Vertrages vom 26. August 1890: ..Zollfrei dürfen in das
ottomanische Reich nach zollamtlicher Prüfung eingeführt werden:
Drittens: Effekten und Gegenstände die unter der Adresse des
Vorstehers eines in der Türkei errichteten deutschen General-
konsulates eingeführt werden und zu dessen persönlichem Ge-
brauch oder dem seiner Familie bestimmt sind, wenn diese Vor-
steher von ihrer Regierung festbesoldete Berufsbeamte sind und
insoweit als die Einfuhrabgabe 2500 Pi. jährlich nicht übersteigt."
— 117 —
falle ausspricht, so konnte die Türkei doch auf ver-
schiedene ähnliche Fälle hinweisen, und erst in neuester
Zeit saJien wir diesen Standpunkt anlässlich des russisch-
japanischen Friedensschlusses von 1905 vertreten, i) Je-
denfalls vermag zumindest der siegreiche Ausgang" des
Krieges den gewinnenden Teil dazu zu ermächtigen, ihm
ungünstige Verträge zur Aufhebung vorzuschlagen und
sein Ziel auch meist zu erreichen. Anders war die Sach-
lage bei der Türkei trotz des siegreich durchgeführten
Feldzuges.
Nachdem zunächst von den meisten Teilen anerkannt
worden war, dass ein Aufhebungsrecht der Türkei auch
hinsichtlich der Kapitulationen bestehe, änderten dfe Be-
teiligten ihre Meinung immer mehr und fällten schliess-
lich am 2. April 1901 einen Schiedsspruch, der die Rechte
Griechenlands aufs Neue genau regelte. Wahrscheinlich
spielte bei diesem der Türkei ungünstigen Verhalten der
Mächte auch die Befürchtung mit, dass bei der Bewilli-
gung der Aufhebung gegenüber Griechenland, die Türkei
darnach trachten würde, angesichts der etwa erzielten
Vorteile, auch das Joch der anderen Mächte abzuschüt-
teln. 2)
Auf dieses Moment spielte auch die griechische Re-
gierung in ihrer Erwiderung auf das Verlangen der Pforte
offensichtlich an, indem sie betonte, dass „die königliche
Regierung sicher zu sein glaube, dass die Mächte im In-
teresse ihrer eigenen Nationen die Aufhebung des grie-
chischen Rechtes an den Privilegien der Kapitulationen
nicht dulden werden, noch eine Abänderung unter irgend
;einer Form oder unter irgend einem Vorwand'' • • • ')
Die Absicht einer Abänderung hatte die Türkei auch
tatsächlich, da sie den Wunsch ausdrückte, dass „des
arrangements speciaux seront conclus en vue de pre-
venir Tabus des immunites consulaires, d'empecher les
entraves au cours regulier de la justice, d'assurer l'exe-
cution des sentences rendues et de sauvegarde les inte-
irets des sujets Ottomans et etrangers dans leurs diffe-
rends avec les sujets Hellenes, y compris le cas de
faillite''. *)
1) Vgl. Art. 11 Abs. 1 des Frankfurter Friedensvertrages vom
10. Mai 1871 bei Fleischmann S. 100.
2) Den Text des- Schiedsspruches siehe Nouveau Receuil
general des Traites herausgeg. von Triepel 2. Serie XXXI. Bd.
S. 696.
3) Siehe N. R. G- 2. Serie Bd. XXVIII S. 643.
4) Siehe Nor. Bd. IV. S. 549.
— IIS —
Art, 9 des endgültigen türkisch-griechischen Frie-
densvertrages vom 4. Dezember 1897 bestimmte hierzu
ausdrücklich, dass bis zur Inkraftsetzung des vorgesehe-
nen Uebereinkommens die beiderseitigen Konsuhi die
gleichen „fonctions administratifs*' ausüben sollen, wie
vor dem Kriege, i) (Vgl. die den türkischen Standpunkt
noch mehr schwächende schiedsrichterliche Entscheidung
der Mächte vom 1. April 1900, dass die Bestimmungen
der türkisch-griechischen Kapitulation vom 27. Mai 1855
soweit in Kraft bleiben sollen, als sie nicht durch die Ent-
scheidungen dieses Schiedsspruches geändert würden.) -)
Eine solche Aenderung zu Gunsten der Türkei fand durch
den 'll. Artikel Abs. 2 dieser Entscheidung statt, wodurch
den türkischen üerichten das Recht zugesprochen wurde,
für den Fall, dass der griechische Dragoman auf zwei-
malige schriftliche Einladung nicht erscheint, „nicht mehr
auf seine Gegenwart zu warten** und den Fall selbst zur
endgültigen Entscheidung zu bringen. Für den Fall,
dass die Konsularbehörde die gegenüber Griechen er-
gangenen Urteile nicht mit aller Schnelligkeit zur Aus-
führung bringt, soll es den türkischen Behörden frei-
stehen, nach einer Frist von höchstens 2 Monaten selbst
zur Vollstreckung zu schreiten, nachdem sie hiervon die
Konsularbehörde schriftlich verständigt haben.
Wir können aber immerhin sehen, dass die europä-
ischen Mächte, trotz aller Herzensergiessungen auf dem
Pariser Kongress immer darnach trachteten, „die Rechte
ihrer Konsuln und Untertanen in der Türkei sich be-
stätigen zu lassen und die obligatorische Kraft der Kapi-
tulationen ausser allen Zweifel zu setzen". ^)
Nachdem so die Diplomatie Abdul Hamids hinsicht-
lich einer Aufhebung der Kapitulationen ein vollkomme-
nes Fiasko erlitten hatte, brach für die türkischen Be-
strebungen einige Jahre später eine gänzlich neue Aera
an.
Die am 23, Dezember 1876 verkündigte und am
24. Juli 1908 unter Grossvezir Said Pascha erneuerte
Verfassung machte den ehemals despotischen Staat zur
konstitutionellen Monarchie und die nun zur Macht ge-
langten Jungtürken Hessen nichts unversucht, um als.
ein den anderen Mächten bezüglich der Verfassung voll-
kommen ebenbürtiges Staatswesen erneut die Abschaf-
1) Siehe Nor. Bd. IV. S. 557.
2) Siehe Nor. Bd. IV. S. 571.
3j Siehe Martens 263.
— 119 —
funj; der ihre freie Entwicklung hemmenden Kapitula-
tionen zu fordern. Um dieses Ziel sicher zu erreichen,
suchte sich die Türkei für ihre Bestrebungen die Unter-
stützung einilussreicher Orossmächte zu verschaffen. Be-
sonders bemerkenswert geschah dies in dem 8. Artikel
des österreichisch-ungarisch-türkischen Abkommens vom
26. Februar 1909 betreffend Bosnien, Herzegowina und
den Sandschak Navizabar. Dieser Artikel handelt aus-
drücklich von der Aufhebung der Kapitulationen in der
Türkei, wobei Oesterreich-Ungarn in Anerkennung der
berechtigten Ansprüche der Türkei erklärt, ihr von jetzt
ab zu diesem Zwecke seine volle und aufrichtige Unter-
stützung gewähren zu wollen.
Im Originaltexte dieses Abkommens heisst es aus-
drücklich, dass falls die Pforte die Absicht haben sollte,
auf 'einer europäischen Konferenz oder anderswo mit den
Mächten Unterhandlungen anzuknüpfen zwecks Auf-
hebung der Kapitulationen oder deren Ersetzung durch
das internationale Recht, „l'Autriche-Hongrie, en recon-
naissant le bien fonde de ces pretentions de la Sublime
Porte declare des maintenant vouloir lui preter ä cet effet
son plein et sincere appui**. i)
Gleichzeitig musste sich Oesterreich-Ungarn mit einer
Einschränkung seiner Postprivilegien einverstanden er-
klären. Auch in dem hier in Betracht kommenden Art. 7
liess sich die Türkei die Berechtigung dieses Hoheits-
recht auszuüben, 'zusichern, und es wurde demgemäss
bestimmt, dass „die kaiserlichen Postämter in der Türkei
dort öffentlich ihre Tätigkeit ausüben, wo keine anderen
fremden Postbüros Vorhanden sind." Im übrigen wollte
sich natürlich Oesterreich nicht schlechter stellen als die
anderen Orossmächte »und verpflichtete sich daher für eine
allgemeine Aufhebung nur insoweit, als die anderen
Mächte, welche Postbüros in der Türkei besassen, diese
aufheben würden. •
Ein vollkommen gleichlautendes Versprechen, ihre
Aspirationen hinsichtlich der Abschaffung der Kapitula-
tionen zu 'unterstützen, erhielt die Pforte bei Abschluss
des türkisch-italienischen Friedens vom 15. Oktober
1912.2)
Gleichzeitig musste jedoch die Türkei sämtliche
früheren Verträge trotz des inzwischen stattgehabten
1) Siehe Strupp Bd. 2, S. 29 und Strupp ausgewählte diplo-
matische Aktenstücke zur Orientalischen Frage S. 239.
2) Jahrbuch d. Völkerrechts von Niemayer u. Strupp Jahrgang
1913, Bd. 1 S. 110, ferner Strupp ausgew. Akten S. 257.
— 1 :o —
Kriegszustandes als wiederhergestellt anerkennen und
dementsprechend bestimmt ider 5. Artikel des 4. An-
hangs, dass „alle Verträge Konventionen und üeberein-
komm'en jeder Art und Natur, die abgeschlossen oder
zwischen den hohen Vertragsschliessenden vor der Er-
klärung des Kriegszustandes in Kraft waren, sofort wieder
in Kraft zu setzen seien. . . .*'
Bezüglich der von uns im vorigen Kapitel bereits
behandelten Bemühungen der Türkei, eine Erhöhung des
Zollsatzes herbeizuführen, ist noch nachzutragen, dass es
der Pforte gelang, durch Art. 6 des vorliegenden Ver-
trages, die Zustimmung Italiens zur Erhöhung „des droits
de douane ad valorem" von H^'o auf 15'^o zu erlangen,
freilich nur unter der Bedingung, dass auch die anderen
AAächte dieses Abkommen billigen. Eine endgültige Rege-
lung dieser Frage erfolgte erst kurz vor Kriegsausbruch.
(Vgl. Inhalt S. 95 ff.)
In dem der türkischen Forderung zustimmend'jn
Verhalten konnte die Türkei bei einigem politischen
Verständnis leicht erkennen, dass für sie die so heiss
ersehnte Befreiungsstunde gekommen war. Durch den
sich immer mehr ausbreitenden Weltkrieg wurden die
ehemals der Türkei gegenüber äusserlich fest verbunde-
nen Mächte auseinander gerissen und ohne die nötigen
Machtmittel zu besitzen, mussten sie den türkischen
Schritt, wenn 'auch unter mannigfachen Protesten über
sich ergehen lassen. Wenn wir genau sein wollen, waren
es einzig "und allein die Zentralmächte, die einer Auf-
hebung der Kapitulationen freundlich gegenüber standen,
wozu Deutschland nicht nur die augenblickliche politische
Lage, sondern auch seine alte auf freundschaftlichen
Traditionen beruhende türkische Politik veranlasste. Hatte
es doch bereits im Jahre 1890 anlässlich des neuabge-
schlossenen Handelsvertrages eine den türkischen Wün-
schen weitgehend entgegenkommende Haltung einge-
nommen, die nur deshalb zu keinem endgültigen Erfolge
für die osmanischen B-estrebungen führte, weil di'e,
übrigen Mächte sich durchaus ablehnend verhielten.
Nachdem sich jedoch Deutschland mit den meisten der
bisherigen Reformgegner im Kriege befand, zögerte
es nicht, mit dem türkischen Staate in Verhandlungen zu
treten zwecks Abschluss neuer, auf der Grundlage des
Dies konnte Deutschland umso leichter tun, da sich
bereits seit Jahrzehnten für den wohlwollenden Beobach-
moderncn Völkerrechts aufgebauter Verträge. (Siehe
V. eiter unten.)
— 121 —
"ter der türkischen Bestrebungen das deutliche Bild er-
gab, dass die Pforte mit allen Kräften an einer Verbesse-
rung ihrer innerstaatlichen Einrichtungen arbeite, um
auf diese Weise den Kapitulationen der fremden Mächte
die reale Unterlage zu entziehen und sich von dieser
drückenden Last zu befreien.
Die türkischen Reformen.
Schon Salim III. unternahm den Versuch, seinen
Staat durch Einführung europäischer Verhältnisse neuer
Blüte entgegenzuführen i) und scheiterte ah seinem Vor-
haben nur durch die allzugrosse Strenge, mit der er sei-
nen Vorsatz zur Ausführung bringen wollte, und wodurch
er einen überaus blutigen Aufstand der Janitscharen
herbeiführte, der ihm am 31. Mai 1807 den Thron und ein
Jahr später das Leben kostete. Nichtsdestoweniger setzte
sein damals 23jähriger Neffe Mahmud II. die Reform-
bewegung fort, -) wobei er sich der Unterstützung Eng-
lands erfreute, das durch eine Verbesserung der Lage
der Christen in den ottomanischen Gebieten auch ein
Zurückdrängen der russischen Protektoratsbestrebungen
•erhoffte, die sich dieses Reich auf Grund der Kapitula-
tionen (siehe I. Teil) anmasste. Durch diese verschie-
denen Versuche war der Weg für die Durchführung der
Reformen Abdul-Medschids (1S39 — 1861) grösstenteils ge-
lebnet, und bereits am 3. November 1839 konnte unter
Mitwirkung des Grossveziers Reschid Pascha der bedeu-
tungsvolle Hatti-Scherif von Gülhane oder Firman von
Tanzimat mit grossem Pompe vor dem Rosenpavillon ver-
kündige werden 3) (daher der Name Gülhane-kyösk).
Nachdem die Pforte erklärt, dass der Koran und die tür-
kischen Gesetze „immer ein zu ehrendes Gesetz seien'',
gibt sie ihr Bestreben kund, durch neue Einrichtungen
zu versuchen, für die Provinzen zu sorgen, die das otto-
1) Er versuchte z.B. im Jahre 1805 die allgemeine Wehrpflicht
■einzuführen.
2) Am 15. Juni 1826 hatte er die Kühnheit, die heilige Fahne
zu entfalten und durch die Begeisterung des heiligen Krieges
siegte er über die Janitscharen. Einen endgültigen Sieg über die
innnern Widersacher vermochte aber auch er nicht zu erzielen.
H. V. Moltke schrieb über ihn: „Mamuhd hat ein tiefes Leid durchs
Leben getragen; die Wiedergeburt seines Volkes war die grosse
Aufgabe seines Daseins und das Misslingen dieses Planes sein
Tod.'- Siehe H- v. Moltke. Briefe über Zustände und Begeben-
heiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839.
3) Siehe Nor. Bd. 2, S. 288 und türkische Note v. 9. Septem-
ber 1914.
— 122 —
manische Reich bilden und zwar durch die Wohltat einer
guten Verwaltung.
Demzufolge wollte die Türkei verschiedene Reformen
..nitreten lassen, wie die Sicherstellung des Lebens, der
Ehre und des Vermögens aller Untertanen, eine neue Re-
gelung des Steuerdienstes und Beseitigung der Steuerver-
pachtiuig, ferner eine Reform der Rekrutierung und
Herabsetzung der Dienstzeit auf 4—5 Jahre.
Von grosser Bedeutung war insbesondere der Ver-
such, das Gerichtswesen, das bisher durchaus von den
geistlichen Gerichten i) gehandhabt worden war, zu ver-
staatlichen, wobei der Sultan allen seinen Untertanen,
„welcher Religion oder Sekte sie auch angehören mögen**,
die gleiche Behandlung durch die Gesetze zusicherte.
Gleichzeitig wurde die Entfernung der Kabinettsjustiz,
Oeffentlichkeit des Strafverfahrens und gerechte Ver-
teilung aller Steuern versprochen. Neue Gesetze sollten
diese Zusagen rechtmässig einführen.
Mit diesem Hatti-Scherif von Gülhane begann die
Periode der „Verordnungen für das allgemeine Wohl''
(Tanzimat-i-chairije). 2) Noch im gleichen Jahre versandte
die Regierung an alle bedeutenden Provinzen Firmans,
die „genaue Beobachtung der Anordnungen des Hatti-
Scherif anbefahlen, da der Sultan aller Welt kundtun
wollte, wie sehr ihm eine fortwährende Verbesserung
des Loses seiner Völker am Herzen lag. ■^) Späterhi.i
wurde 1840 die Steuererhebung durch die Statthalter ab-
geschafft und durch eine Zirkularnote an die fremden
Gesandtschaften vom 17. März 1840^) die Einsetzung ge-
mischter Handelsgerichte angeregt. Im Jahre 1847 (1856)
wurden dann auch gemischte Gerichte für Prozesse mit
Ausländern eingerichtet.
Ferner erliess die Pforte die versprochenen Gesetze,
indem am 28. Juli 1850 das Handelsgesetzbuch im An-
1) Als erste und höchste Quelle der mohammedanischen geist-
lichen Jurisdiktion gilt der Koran des Propheten. Eine zweite
Quelle ist die fgrossenteils erfundene; Ueberlieierung (Sunna) von
den Aussprüchen und Handlungen des Propheten, eine weitere die
durch Gesetzesanalogie und durch die Rechtsgelehrten der 3 ersten
islamitischen Generationen gewonnenen Rechtssätze nnd Entschei-
dungen. Die Summe aller Bestimmungen, die durch Kechtslehre
aus diesen anerkannten Quellen gewonnen werden, istdie Scheria,
das Scheriatrecht." Siehe Bachem Bd. 5, S. 570. Dass die
Fremden sich einer solchen ziemlich dehnbaren Justiz nicht unter-
werfen wollten, ist wohl leicht verständlich.
2) Siehe Bachern Bd. 5, S. 554.
3) Dieselben datieren v. 6. 12. 1839. Siehe Nor. Bd. 2, S. 290.
4) Siehe Nor. Bd. 2, S. 299; vgl. Inhalt S. 111.
- 1J3 —
schluss an die Einsetzung der gemischten Handelsgerichte
und bereits am 3. Februar 1851 eine Sammlung der be-
stehenden Gesetze verkündigt wurden. Zu erwähnen ist
ferner noch die Aufhebung der Kopfsteuer, worum die
Pforte während des Krimkrieges von ihren Verbündeten
angegangen wurde, Sie erfolgte durch ein kaiserliches
Irade am 10. Mai 1855 und wurde durch den Hatti-
Humajun vom 18. Februar 1856 bestätigt.^)
Diese an alle Mächte versandte Kundgebung war
gleichsam eine Folge des Krimkrieges, nach uelchem
die Westmächte eine gründliche und endgültige Reform
des türkischen Staatswesens forderten. Die Note selbst
ist eine förmliche Bekräftigung der bereits im Hatti-
Scherif von Gülhane abgegebenen Versprechungen. Diese
Kundgebung wurde, wie bereits erwähnt, am 18. Februar
publiziert und kam dann als Anhang zum Pariser Frieden
vom 30. März 1856 neuerdings zur Verlautbarung. In
ihren wesentlichen Grundzügen verkündigte diese Pro-
klamation die bürgerliche Gleichstellung aller in der
Türkei lebenden Untertanen. Es heisst darin wörtlicli :
„Die von uns allen Untertanen meines Reiches durch den
Hatti-Humajun von Gülhane versprochenen Garantien
gemäss dem Tanzimat, ohne Unterschied des Standes und
der Religion für die Sicherheit ihrer Personen und ihres
Eigentums und für die Bewahrung ihrer Ehre, sind mit
dem heutigen Tage bekräftigt und neu befestigt, und
damit man ihre volle und gänzliche Wirkung erkenne,
sollen sie in wirksamem Masse wahrgenommen werden.*''
Von besonderer Wichtigkeit ist ferner der Zusatz, dass
alle bisher verliehenen Privilegien oder kirchlichen Frei-
heiten „an alle christlichen Gemeinden und anderen nicht
muselmanischen Glaubenssekten, die in meinem Reiche
unter meiner Oberhoheit errichtet sind, neubekräftigt und
gehalten werden sollen". Gleichzeitig wurde jegliche
Bevorzugung einzelner Religionsgesellschaften zu Gun-
sten anderer verboten und überhaupt die Religionsfreiheit
so ausserordentlich ausgedehnt, dass eine Beibehaltung!
der hiefür in Betracht kommenden Kapitulationsbestim-
mungen ganz unnötig hätte erscheinen müssen.
Aber an Stelle der Aufhebung des Charadschs (Kopf-
steuer) mussten die Fremden eine neue Last, die für die
Türkei sicherlich einträglicher war, auf sich nehmen,
nämlich die Wehrpflicht, von der man sich durch eine
Geldsumme befreien konnte. Diese letztere Möglichkeit
1) Siehe Nor. Bd. 3, S. 83.
— l'M —
gelangte erst während des jetzigen Krieges zur Auf-
hebung. Ferner wurde sogar die Zulassung von
Nichtmusehiiännern zu Staatsämtern nach ihrer Eignung
gestattet, wogegen die Türken zwar heftig, aber erfolglos
protestierten. Auch wurden in den Provinzen ge-
mischte Verwaltungsräte gebildet und eine Beschleuni-
gung der Gesetzeserlassung angeordnet. Es kamen ferner
zustande das Grundbesitzergesetz vom 21. April 185S,
das Strafgesetzbuch vom 10. August 1858, ein Anhang
zum Handeslgesetzbuch vom 30. April 1860, ein See-
handelsgesetzbuch vom 21. August 1863 und eine Han-
delsprozessordnung vom 15. Oktober 1861.^)
Von einem Teil dieser Massnahmen, die wir oben an-
führten, konnte bereits in der Sitzung des Pariser Kon-
gresses vom 25. März 1856 Kenntnis genommen v.erden
und der hohe Wert dieser Mitteilung wurde auch aus-
drücklich betont. Gleichzeitig wurde erklärt, „dass den
Mächten in keinem Falle das Recht zustehe, sich zu-
sammen oder einzeln in die Beziehungen des SuUans
und seiner Untertanen oder in die innere Verwaltung
seines Reiches einzumischen.'' In Anbetracht all dieser
ütrkischen Bestrebungen sahen sich auch die Mächte ver-
anlasst, die Türkei bei Abschluss des Pariser Friedens in
den europäischen Völkerkonzern aufzunehmen (siehe
Art. 7), wobei sich jedoch die Türkei verpflichten musste,
sich ihrerseits gemäss ihren Versprechungen zu einem
modernen und zivilisierten Staate auszubilden. (Vgl, auch
Bachem und Inhalt S. 107.)
Wenn wir rückblickend die Errungenschaften der tür-
Ivischen Reformen betrachten, so ist der bedeutungsvolle
Fortschi-itt, den wir beobachten können, die Trennung von
geistlichem und weltlichem Recht.
Während dieser Zeit wurde auch das 1864 ausge-
arbeitete Wilajetgesetz immer mehr praktisch durchge-
führt und 1867 auf das ganze Reich ausgedehnt. Ferner
erschienen gleichfalls unter der Leitung des ausserordent-
lich fähigen Midhat-Pascha ein Staasangehörigtkeitsgesetz
vom 21. Januar 1869, ergänzt durch das Gesetz vom
3. April 1917 und eine Vervollständigung des Wilajet-
gesetzes. In den Jahren 1869 bis 1876 erschien dann
unter Leitung des Justizministers Ahmed Dschewdet Pa-
scha das bürgerliche Gesetzbuch (erneuert 1911).
Trotzdem der Koran auch fernerhin das offizielle
Recht blieb, entstand doch an seiner Seite ein weltliches
1; Siehe Welt des Islams S. 9.
Recht, „das nicht mehr ein muselmanisches, sondern-
in Wahrheit ein ottomanisches Recht ist, ein weltliches
Recht, das weniger einschränkend und viel ausgedehnter
ist als das religiöse Recht, oft diesem entgegensteht, auf
jeden Fall aber sich besser als jenes den modernen Be-
strebungen anpasst*'. 1) In einigen Jahrgn war bereits
diese Verweltiichung des Rechts vollendet. Eine bemer-
kenswerte Reform fand am 26. Februar 1917 statt. An
diesem Tage nahm die türkische Kammer einen Gesetz-
entwurf an, durch den die bisher dem Scheik-ül-lslamat
unterstehenden Scheriatsgerichte (siehe Inhalt S. 122
Anm. 1) und samtliche hiezugehörige Einrichtungen dem
Justizministerium unterstellt wurden. Dieser Fortschritt,
der besonders dem regen Komitee für Einheit und Fort-
schritt zu danken ist, sollte hauptsächlich der Regelung
der Zuständigkeit der Zivil- und Scheriatsgerichte dienen.
Justizminister Halil-Bey betonte hiebei, dass die Sche-
riatsgerichte nichtsdestoweniger nach dem heiligen Sche-
riatsgesetze Recht sprechen sollten. Nach Art. 2 dieses
Gesetzes soll ein besonderer Scheriatssenat beim Kassa-
tionshof gebildet werden. -)
Derartige Bestrebungen, durch Gesetzeserlassungen
durchgreifende Reformen zu schaffen, sind bei der Türkei,
wie wir schon des öfteren gesehen haben, durchaus nichts
Neues. Leider war jedoch ihr guter Wille durch die
mannigfachsten Gründe sehr oft zum Scheitern verur-
teilt. Pelissie de Rausas charakterisiert diese Unmögüch-
keit in dem kurzen Satze, dass „zwischen der Tat und^ dem
Gesetz in der Türkei der trügerischste Gegensatz be-
steht'^ 3) Denn trotz der Trennung des religiösen vom
weltlichen Recht, blieben die Gesinnungen der Richter
zunächst streng religiös und die türkische Regierung hatte
mit dieser Auffassung schwere Kämpfe zu bestehen, die
jedoch für die erste Zeit wegen der allgemeinen Gesin-
nung des gesamten Volkes erfolglos bleiben mussten.
Die Erbitterung gegen die Ungläubigen war nicht im
Schwinden, sondern wuchs leider gerade durch deren Be-
günstigung im vorigen Jahrhundert zu einer gefährlichon
Ausdehnung an. Diese zügellose Leidenschaft führte be-
reits zwei Jahre nach Erlass des Hatti-Humajuns im
Juni 1858 zur Ermordung des englischen und fran-
zösischen Konsuls in Dschidda in Arabien, welcher ver-
1) Vergi. Rausas Bd. 1, S. 120.
2) Siehe Balkanrevue Heft 1, 1917, S. 56.
3) Vergl. Rausas Bd. 1, S. 121.
- 126 —
derbliclicn Tat alsbald das furchtbare Oeinet/el im Liba-
noiijicbietf (18öO) folgfte, das alle türkischen Hoffnungen
auf eine Befreiung von den Kapitulationen mit einem
Schlage zunichte machen musste. i) Das Vorgehen der
dortigen Behörden war hauptsächlich auf die Machtlosig-
keit der in Konstantinopel befindlichen Regierung zurück-
zuführen, die zwar vom besten Willen beseelt war, aber
ihren Befehlen nicht den genügenden Nachdruck verleihen
konnte. ^) Diese Tat hatte zur Folge, dass ein fran-
zösisches Expeditionskorps die Ruhe wieder herstellen
rnusste und der gesamte Libanon unter die Statthalter-
schaft eines christlichen V'eziers gestellt wurde. '■) Das
Unglück der Türkei all die Jahrhunderte hindurch war
eben die ausgesprochene Fremdenfeindlichkeit der ein-
heimischen Bevölkerung, die ohne politischen Sinn alles
von der Regierung mühsam Errungene wieder zunichte
machte. Erst von Saloniki aus erhob sich allmählich die
jungtürkische Bewegung, die, an europäische Verhältnisse
gewöhnt, deren Vorteile sich zu eigen gemacht hatte, und
nunmehr strebte, sie auch ihrem Vaterlande zukommen
zu lassen. Mit der fortschreitenden Aufklärung der mo-
hammedanischen Bevölkerung ist auch der Hass gegen
die Ungläubigen sehr zurückgegangen, ja in Europa
näher liegenden Gebieten fast gänzlich verschwunden.
Wenn noch Quizot sagte, dass „es für die musel-
manische Welt nichts zu hoffen gebe, weder für ihre
eigene Reform, noch für die Christen, die das Unglück
der Ereignisse unter ihre Gesetze gestellt hat", ^) so
hat sich dieser schon damals überaus pessimistische
Standpunkt heute allgemein zu Gunsten der Türkei ver-
ändert. Durch die straffe Organisation der Jungtürken
wurden alle Verwaltungszweige aufs neue geregelt und
insbesondere darauf Rücksicht genommen, ohne Scho-
nung der Staatsmittel, statt des bisher ziemlich ungebil-
deten Richterpersonals, tüchtige und geschulte Leute
für diese wichtigen Stellen neranzuziehen, so dass
Deutschland ohne weitere Bedenken seine in der Türkei
lebenden Untertanen auch der türkischen Justiz unter-
stellte.
1) Vergl. Engelhardt histoire des reformes Paris
188283.
2) „1867 schrieb der der Pforte durchaus wohlgesinnte iranz
Minister Marquis de Moustier, dass die Ausführung des Hat - depuis
onze ans echoue devant l'inertie du gouvernementturc (s. Holtzen-
dorff S 163 im Handbuch des V. R., Bd. 4 Hamburg 1888.)"
3) Diese Autonomie wurde durch die türkische Kundgebung
vom 14. November 1916 einseitig aufgehoben.
4) Siehe Rausaus Bd. 1, S. 122.
Anhang
zu den türkischen Aufhebungsbestrebungen.
Die Meerengenfrage.
Bereits im Jahre 1798 (10. August) erliess die Pforte
betreffs der Dardaneiienfrage eine Zirkularnote, ^) in
welcher sie eine bedeutende Einschränkung der Freiheit
der Durchfahrt in den Dardanellen forderte.
Die Pforte befand sich hierbei vollkommen im Recht,
denn sie war der alleinige Besitzer des Marmarameeres
und der Dardanellen und hatte nur durch verschiedene
Verträge den fremden Staaten bestimmte Vorzugsrechte
hinsichtlich der Ein- und Ausfahrt gewährt. Wie wir
aus der Geschichte der Kapitulationen ersehen konnten,
waren besonders bevorzugte Staaten, die näher umgrenzte
Rechte erhielten, Oesterreich und Russland, die auch
gemäss ihrer geographischen Lage am meisten am
Schwarzen Meer und mithin an einer freien Durchfahrt
durch die Dardanellen interessiert waren. -) Da sich bei
einer vollkom.menen Durchfahrtsfreiheit für die Pforte
ausserordentliche Schwierigkeiten ergeben mussten,
schränkte sie dieses Recht der fremden Staaten „de cir-
culer librement sur terre et sur mer'' bereits in der öster-
reichischen Kapitulation von 1718 ziemlich ein, indem
sie im 2. Artikel dieses Uebereinkommens bestimmte,
dass die österreichischen Schiffe ihre Waren bereits an
festgesetzten Plätzen der Donau in „des caiques et
d'autres bätiments propres ä la navigation de la mer
noire" umladen müssen. 3) 'Hierdurch erreichte die Türkei
eine bedeutend erleichterte Kontrolle über die einlaufen-
den ausländischen Schiffe. (Vgl. die ähnliche Einschrän-
kungen enthaltenden russischen Kapitulationen in Teil I.)
1) Text Nor. li. S. 24. Strupp Aktenst. S. 28
2) Aber auch Frankreich erhielt mehr umgrenzte Rechte bei
Abschluss des türkisch-französischen Friedens vom 25. Juni 1802
(siehe Nor. Bd. 2, S. 51). Gemäss Art. 2 wurde Frankreich für
seine unter französischer Flagge fahrenden Handelsschiffe das Ein-
tritts- und Schiffahrtsrecht im Schwarzen Meere ohne irgendwelche
Streitigkeiten zugestanden. Art. 3 erklärt hiebei ausdrücklich die
alten Kapitulationen als wieder in Kraft.
3) Siehe Nor. Bd. 1, S. 220 und Strupp Akt. Stück S. 10.
— 123 —
Das hauptsächliche Streben der Türkei war bei all
diesen Abkommen immer darauf gerichtet, keine Kriegs-
schiffe in das Gebiet des Schwarzen Meeres eindringen
zu lassen, welche Vorsicht sie ganz besonders gegenüber
Russland zu wahren suchte, ba dieses Bestroben der
Pforte in verschiedenen Fällen übertreten wurde, erliess
sie eben das obenerwähnte Rundschreiben, das sich an
die vor allem in Betracht kommenden Staaten England,
Oesterrcich, Dänemark, Frankreich, Preussen, Schweden
und Russland wandte. Da die Meerengen Teile der offe-
nen See mit einander verbinden, stünde nach Völkerrecht
trotz der Beherrschung der Ufer durch die Türkei die
Durchfahrt den Kriegs- und Handelsschiffen der übrigen
Mächte offen, i) Trotzdem konnte es jedoch der Türkei
durchaus nicht verwehrt sein, unter Berufung auf die un-
sicheren Zeitläufte, zu erklären, dass die blosse Erlaubnis,
die die türkischen Behörden den fremden Schiffen zur
Einfahrt geben, keine genügende Sicherheit für die Türkei
mehr bieten und dass sie auf einer Kenntlichmachung der
Nationalität des betreffenden- ^hiff es bestehen müsse.
Alle Schiffe haben daher on einer bestimmten Stelle
des Kanals vor Anker zu gehen, damit sowohl sie, als auch
ihre Passagiere einer genauen Untersuchung unterw'or-
feii werden könnten. Dieselbe wird von den türkischen
Behörden in Begleitung des für die jNationalität des Schif-
fes zuständigen Konsuls vorgenommen und nur auf die
Garantie dieser Vertretungsbehörden dürien die aus-
ländischen Schiffe weiterfahren. Für den Fall, dass die
fremden Schiffe diese Anordnungen der türkischen Re-
gierung nicht genügend beachten sollten, wird ihnen mit
schärfsten Massregeln gedroht. Man wird sich ihrer
Durchfahrt ohne jeden Zeitverlust widersetzen und nichts
versäumen, um sie zu vernichten. Zum Schlüsse drückt
die Pforte noch ihre Hoffnung aus, dass die befreundeten
Mächte alles tun werden, um die Vertrauenswürdigkeit
der in Betracht kommenden Konsuln zu heben, da sich die
Türkei ja auf deren Wert verlassen müsse. In der späte-
ren Zeit kam die türkische Regierung jedoch den fremden
Mächten immer mehr entgegen.
Bereits am 7. Juli 1806 benachrichtigte die Pforte
den preussischen Gesandten, dass sie es in Anbetracht der
innigen Handelsbeziehungen zwischen diesen beiden Staa-
ten für angebracht hält, den preussischen Handeisschiffen
die Erlaubnis zu geben, „ein- und auszufahren in den
1; Siehe Liszt Völkerrecht 1913 S. 199.
— 129 —
Häfen der Türkei, die sich im Schwarzen Meer befin-
den". J) Die Türkei konnte Preussen dieses Zugeständ-
nis umso leichter machen, da sie von einer solchen Hari*
delsverbhidung nur grossen Nutzen, kaum aber kriege-
rische Gefahren zu befürchten hatte.
Aber auch gegenüber Russland musste die Pforte
späterhin immer mehr nachgeben. Durch den Adrianoplqr
Friedensvertrag vom 2./14, September 1829 -) wurde im
7. Artikel 2. Abschnitt den russischen Schiffen, „soweit sie
Handelsschiffe sind**, zugestanden, „dass sie keiner wie
immer gearteten Behinderung oder Schikane unterliegen
sollen'*. Im übrigen erklärte die Türkei die Dardanellen
für die Handelsschiffe aller mit ihr im Frieden lebenden
Mächte im selben Umfange „libre et ouvert" wie für die
unter der russischen Flagge fahrenden Schiffe.
Zum Schlüsse dieses 7. Artikels musste die Türkei
sogar soweit gehen, dass sie Russland ein Repressalien-
recht zugestand für den Fall, „dass irgend eine der in'
dem vorliegenden Vertrag enthaltenen Bestimmungen
verletzt werden sollte, ohne dass die Beschwerden des
russischen Ministers in dieser Beziehung eine volikom-
m.ene und rasche Genugtuung gefunden hätten**. Diese
Begünstigung Russlands hinsichtlich der Dardanellen-
frage ging sogar soweit, dass die Türkei in einem ,,Ar-
ticle separe** zum Allianzvertrag zwischen Russland und
der Türkei vom 26. Juni/ 8 Juli 1833^^) von Unkiar-
Iskelessi zu Gunsten Russlands das Versprechen abgab,
„die Meerenge der Dardanellen zu verschliessen**, d. h
keinem fremden Kriegsschiffe gestatten werde unter ir-
gendeinem Vorwand dahin einzudringen. Dieses alte
Verbot der Einfahrt für fremde Kriegsschiffe findet sich
neuerdings ausdrücklich bestätigt anlässlich des Abkom-
mens^) zwischen England, Oesterreich, Preussen und
Russland „pour la pacification du Levant**. infolge des
Aufstandes Mehmed Alis übernahmen die Mächte da-
mals den Schutz der Dardanellen mit dem ausdrücklichen
1) Siehe Nor. Bd. 2, S. 78, Strupp Akt. Stücke S. 33.
2) Nor. Bd. II S. 166. Deutsche Uebersetzung siehe Strupp
Aktenstück S. 47. Vergl. Dardanellenvertrag mit England von
1809. S. Inhalt S. 48 Anm. 2.
3) Siehe den Text bei Nor. Bd. 2, S. 229 und Strupp Akt.
Stücke S. 62.
4) Dieses Abkommen vom 15. Juli 1840 siehe bei Nor. Bd. 2,
S. 303 und Strupp Aktenstücke S. 63.
9
— \:i) —
Vorbehalt, dass dies nur eine ausserordentliche Mass-
nahme sei „adoptee ä la demande expresse du Sultan".
Der 4. Artikel, der dieses Abkommen enthält, fährt dann
fort, „dass diese Massnahme durchaus nicht die alte
Vorschrift des türkischen Reiches aufhebe, auf Grund
\velchcr es den Kriegsschiffen der fremden Mächte jeder-
zeit verboten war, in die Meerengen der Dardanellen und
des Bosporus einzudnngen." Wir können überhaupt
immer sehen, dass die Türkei gerade durch das gegen-
seitige Misstrauen der sie „beschützenden" Mächte vor
den härtesten Massregeln bewahrt blieb, wozu zweifellos
ein Eindringen fremder Kriegsfahrzeuge gehört haben
würde.
Auf das Drängen verschiedener Mächte hin wurde
jedoch auch dieses Verbotsrecht der Türkei dadurch
eingeschränkt, dass das Londoner Protokoll vom 15. Juli
1840 i) die Einfahrt fremder leichter Kriegsschiffe durch
die Meerengen gestattete, aber nur unter dem schliesslich
leicht zu umgehenden Vorbehalt, dass sie für den Korre-
spondenzdienst der fremden^ Mächte verwendet werden.
Nachdem noch verschiedene Konventionen und Be-
sprechungen in der Frage der Meerengen stattgefunden
hatten, erfolgte am 13. Juli 1841 ein neuerliches Abkom-
men, dem diesmal auch Prankreich beitrat.-)
In den einleitenden Bemerkungen gestanden die
fremden Mächte aus den bereits oben erwähnten Grün-
den, der Pforte neuerdings das Recht zu, die Meerengen
solange für fremde Kriegsschiffe zu schliessen, als sie sich
im Frieden befinde. Diese Befugnis der Pforte wird da:;n
im 1. Artikel nochmals ausdrücklich hervorgehoben und
die Signatarmächte verpflichten sich „ä respector cetie
determinalion du Sultan*. Eine Ausnahme soll, wie sie
bereits das Londoner Protokoll von 1840 festsetzte, den
leichten Kriegsschiffen zugestanden werden, die Kurier-
dienste zwischen den Gesandtschaften verrichten. Zun
Schli!?se wird in einem 4. Artikel den übrigen befreunde-
ten Staaten von seiten der Türkei der Beitritt offen ge-
lassen, welcher Einladung späterhin Toskana (1. Mai
1) Das Meerencienabkommen siehe Nor. Bd. 2, S. 310 und
Strupp Akt. Stücke S. 70. Dieses Protokoll wurde unterzeichnet
von Oesterreich, Grossbritannien, Preussen, Russland und der
Türkei (Frankreich stand damals auf Seiten ;les aufständischen
Vizekönißs von Aegvpten Mehmed Ali).
2 Siehe Nor. Bd. 2, S. 342 und Strupp Akt. Stücke S. 73.
- IM' —
1842), Dänemark (14. Mai 1842), Belgien (23.' Juni 1842),
Schweden und Norwegen (5. Juli 1842) gefolgt sind. ^)
Eine neuerliche Regelung fand diese, die europä-
ischen Mächte immer mehr interessierende Frage auf der
Pariser Konferenz von 1856.
Nachdem der den Krimkrieg beendende Pariser
Friede vom 30. März 1856 zunächst im*^ 10. Artikel eine Re-
vision der Konvention vom 13. Juli 1841 vorgesehen,
hatte, wurde auch mit Uebereinstimmung aller beteiligten
Mächte ein Meerengenvertrag -) als Anhang des Pariser
Friedens abgeschlossen, der in seinen ersten zwei Anilvcln
vollkommen der Londoner Konvention gleicht.
Der Pariser Friede -selbst geht in seinen Bestim-
mungen hinsichtlich der Meerengenfrage noch bedeutend
weiter als die Londoner Konvention von 1841, indini er
in seinem 11. Artikel das Schwarze Meer denselben Re-
gelungen unterwirft wie die Meerengen, und sich nicht
zufriedengebend mit dem Verbot der Einfahrt fremder
Kriegsschiffe in die Dardanellen, es einfach für neutrales
Gebiet erklärt. Dieser Neutralität entsprechend, verbietet
der 13. Artikel auch jede militärische Anlage im Schwar-
zen Meer „gemäss den Prinzipien des internationalen
Rechts'^ Zwischen Russland und der Türkei erfolgte
ferner ein besonderes Abkommen über die. Zahl und
St^^rke der im Schwarzen Meer hsfindlichen beiderseitigen
leichten Kriegsschiffe. Dieses im 14. Artikel vorgesehene
Uebereinkom.men v/urde dann auch wirklich als Anhang
zum Friedensvertrage von 185Ö ausgearbeitet. ') Hierbei
wurde besonders vereinbart, dass eine Aufhebung oder
Aenderung dieser vereinbarten Bestimmungen nur unter
Zustimmung „des Puissances signataires du present
traite" stattfinden könne.
Diese Bestimmungen daue-fien jedoch nur solange,
als die europäischen Mächte wenigstens äusserlich fest
verbunden der Türkei gegenüber treten konnten und Zeit
genug fanden, auf die genaue Beobachtung der Neutrali-
tät des Schwarzen Meeres sowohl Russland als auch der
Türkei gegenüber zu bestehen. Diese Russland ziemlich
unangenehme Lage änderte sich jedoch sehr zu seinen
Gunsten, als der deutsch-französische Krieg die ganze
Welt in Atem hielt und diese ihn besonders interessie-
1) Diese Beitrittserklärungen siehe Nor. Bd. 2, S. 346 bis S. 349.
2) Nor. Bd. 3, S. 80 und Strupp Akt. Stücke 79.
3) Nor. Bd. 3, S. 82.
— 132 —
rende Frage zu seinen Gunsten entscheiden Hess, i) Die
Londoner Konferenz „pour la revision du Traite de
Paris du 30. Mars 1S56", die vom 17. Januar bis 14. März
1871 -) ihre Sitzungen abhielt, brachte am 14. März
1871 ■•) den Londoner Vertrag „pour la revision de cer-
taines stipulations du Traite du 30. Mars 1856" zustande,
der Russland die Erfüllung seiner Wünsche verschaffte.
Gemäss Art. 1 wurden die Art. 11, 13, 14 des Pariser
Vertrages von 1856 nebst ihren Anhängen für aufgehoben
erklärt und durch einen neuen Artikel, der in diesem
Londoner Vertrag als 2. Artikel sich befindet, ersetzt.
Darnach sollen zwar die Bestimmungen über die Schlies-
sung der Dardanellen und des Bosporus gemäss den Be-
stimmungen des Pariser Separatabkommens aufrechterhal-
ten bleiben, aber mit der Einschränkung, dass der Sultan
das Recht haben solle, „die besagten Meerengen in
Friedenszeiten den Kriegsschiffen der befreundeten und
verbündeten Mächte zu öffnen, in dem Falle, VvO die
Pforte es für notwendig erachten würde, um die Aus-
führung der durch den Pariser Vertrag vom 30. März
1856 vereinbarten Bestimmungen zu überwachen''.
Diese beiden Verträge wurden neuerdings durch den
63. Artikel des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878"^)
anerkannt, der bestimmte, dass sie in all ihren Bestim-
mungen aufrechterhalten bleiben sollten, sofern nicht
durch vorhergehende Festsetzungen eine Aufhebung oi^v
Aenderung eingetreten sei.
Dies war die Entwicklung der Meerengenfrage bis
zum Ausbruch des Weltkrieges. Bei dessen Beginn
schloss die Türkei natürlich die Meerengen für feindliche
Kriegsschiffe und trug durch zähes Festhalten an die-
sem Standpunkte nicht unwesentlich zur bisherigen sieg-
reichen Fortführung des Krieges bei.
Für den derzeitigen kulturell hochstehenden Geist
der türkischen Staatsmänner zeigt es aber, dass das tür-
kische Waffenstillstandabkommen mit Russland von 1917
sogleich einen Zusatz enthielt, der der russischen Schiff-
fahrt das Schwarze Meer freistellt.
1) Bereits am 19./31. Oktober 1870 hatte Russland diese Neu-
tralität des Schwarzen Meeres einseitig für aufgehoben erklärt
(vergl Strupp Bd. 1, S- 283). was von verschiedenen Seiten durch-
aus verschieden beurteilt wird. Näheres siehe nächstes Kapitel.
2) Nor. Bd. 3, S. 301.
3) Nor. Bd. 3, S. 333.
4) Nor. Bd. IV, S. 175. Strupp 1. S. 202.
— 133 —
IV. Kapitel.
Die Aufhebung der Kapitulationen im Liclite der
Geschichte und des Völkerrechts.
Bereits im vorigen Kapitel sprachen wir über die Auf-
hebungsbestrebungen der Türkei, die sich nicht nur mit
einem einseitigen Anfechten und Protestieren begnüg-
ten, sondern auch bemüht waren, den Mächten durch die
A^erschiedenartigsten Relormen diesen schwerwiegenden
Schritt zu erleichtern. Üass es einstweilen nicht dazu
kommen konnte, iag, wie wir bereits ausführten, durchaus
nicht an einem Verschulden der türkischen Regierung, es
sei denn, dass man die Unbotinässigkeit der der Pforte
untergeoidneten Stellen der ersteren anrechnen wollte.
Vor allem beriefen sich die Mächte auf die Unmög-
lichkeit, ihre Untertanen den Anfeindungen des Korans
auszusetzen, da gemäss demselben „die Aussagen der
Christen gegen Muselmänner oder Türken keine Kraft
haben und nicht einmal zugelassen werden dürfen", i)
\. Martens meint ferner, dass es für einen Christen völlig
unmöglich sei, „die Türken eines falschen Zeugnisses
J.U überführen, da kein einziger Moslem gegen einen
anderen zugunsten eines Christen aussagen wird'*.-)
Dieser gründliche Kenner der orientalischen Ver-
hältnisse schrieb im Anschlüsse an seine Erörterung übei*
•die mohammedanische Religion (siehe Teil 1), dass es
schon jetzt vollkommen klar sei, „dass die Rechte und
Privilegien dieser letzteren (d. h. der Konsuln) im osma-
nischen Reiche sich ausschliesslich auf die völkerrecht-
lichen Traktate und Kapitulationen gründen, so dass
die Aufhebung dieser die permanenten Fundamentalsätze
des Islams wieder in Kraft setzen würde, nach welchem
der Konsul eben solch ein Harbi oder natürlicher Feind
der Moslemin ist, wie alle übrigen Christen. Wenn man
überdies der Unwissenheit und des religiösen Fanatis-
mus der muselmännischen Bevölkerung der Türkei ein-
gedenk ist, so T^ann hinsichtlich des Loses der Konsuln
und Untertanen der europäischen Staaten im Falle der
Aufhebung der bestehenden Kapitulationen nicht der
mindeste Zweifel sein.'* 3)
1) Martens S. 205. Testa Bd. 1 I. Kapitel S. 7.
2) Martens S. 205.
3) Martens S. 181.
— i:34 -
Diesen Zwiespalt zwisciien Religion und Fremden-
politik charakterisiert Feraud-Giraud sehr treffend da-
hin, dass „die nichtchristiichen Staaten gezwungen sind^
die Fremden von ihrem Gebiete auszuschhessen, widri-
genfalls sie gegen ihre theokratischen Grundsätze Ver-
stössen. Oder sie müssen den Fremden (oder den eige-
nen Andersgläubigen) eine besondere Rechtsstellung ein-
räumen und ihnen gestatten, unter der Herrschaft ihrer
Gesetze zu leben, die nur von ihren eigenen Gerichts-
behörden angewandt werden können. Die Einrichtung
der exterritorialen Gerichte findet hierin ihre volle Er-
klärung und Rechtfertigung; sie drängt sich als eine Not-
wendigkeit auf, der man sich unterwerfen inuss, wenn
man nicht auf jedweden Verkehr mit gewissen Nationen
verzichten will."i)
Feraud-Giraud fügt jedoch hinzu, dass diese Ge-
richte trotz alledem ihr Dasein ganz besonderen Umstän-
den und durchaus ungewöhnlichen Bedingungen ver-
danken. ,,Sie stehen in vollem Widerspruch sowoiil
mit der nationalen Einheit und Homogenität, als auch mit
dem Souveränitätsrechte der Staaten.'* i)
Auch Heffter-Geffcken spricht sich in überaus schar-
fen Ausdrücken gegen eine Aufhebung der Kapitulationen
und mithin eine Annullierung der Gerichtsexemptionen
der Fremden aus. Nachdem er die immer anmassendcren
Rechte der fremden Konsuln schilderte, schreibt er: „Man
begreift daher, dass die Pforte seit 1856 sich bestrebte,
die Kapitulationen zu beseitigen, aber diese Versuche
sind nutzlos geblieben, weil sie nicht die Gewghr einer
wirklich unparteiischen Justiz für die Christen bieten
kann. . . . Die Kapitulationen aufheben, hiesse eiiifach'
die Christen der Willkür der Paschas und Kadis über-
liefern und die christlichen Kolonien zerstören.*'-)
Wenn wir nun diese verschiedenen Ausführungen
und das bereits früher Erörterte mit den Lasten des
türkischen Staates, wie sie sowohl türkische Staatsmänner
(Pariser Konferenz 1856), als auch christliche Gelehrte
darstellten, vergleichen, so müssen wir unbedingt zu dem
1) F6raud-Giraud : La juridiction Bd. 1, S. 29 ff. und
ferner: les justices mixtes dans les pays hors chretiente S. 12.
Aehnlich von Martens S. 181: „ihre Aufhebung (d.h. die der Kapi-
tulationen) würde unvermeidlich die türkische Regierung veran-
lassen, solche Gesetze in Wirkung treten zu lassen, die mit den
unveränderlichen Grundlagen des Islams und des moslemischen.
Staates in vollkommenem Widerspruch sein würden."
2) Siehe Heffter-Geffcken 1880 S. 477, § 242 Anm. 2.
— 135 —
Schlüsse kommen, dass kein Staat sich um einzelner
Fremder willen seiner grundlegendsten Hoheitsrechte be-
rauben kann, und dass keine ausländische Macht dieses
Opfer für ihre im Orient lebenden Untertanen in so wei-
tem. Masse fordern darf, wie dies vor dem Weltkriege ge-
schah. Es entsteht nur die eine Frage, auf welche Weise
die Türkei die Möglichkeit bcsass, sich von dein Kapi-
tulationssystem zu befreien und ob die von ihr gewählte
Art die richtige und völkerrechtlich zulässige war.
Wie wir bereits an verschiedenen Stellen unserer
Abhandlung hervorhoben, ging die türkische Auffassung*
seit jeher dahin, dass die Pforte berechtigt sei, die Kapi-
tulationen einseitig aufzuheben, da sie nur Verordnungen
seien, „que la sublime Porte avait edictes exlusivement
de son propre agrement . . ." (Vgl. Inhalt Teil II.)
Diese Auffassung wurde jedoch weder vor noch nach
dem Kriege von irgendeiner Macht anerkannt. ^) Be-
sonders erwähnenswert im Hinblick auf die hierbei ent-
wickelten Gedankengänge sind die türkisch-holländischen
Auseinandersetzungen in dieser Streitfrage. Bereits im
1. Kapitel unseres II. Teils haben wir ausgeführt, dass
dieser türkische Aufhebungsgrund juristisch durchaus
nicht geteilt werden kann und dementsprechend betonte
der hollä,ndische Gesandte in seiner Antwort auf die
türkische Note vom 9. September 1914,-) dass er hin-
sichtlich dieser türkischen Ansicht seine vollkommene
Reserve aussprechen müsse („quant au caractere uni-
lateral qu'elle attribue aux Capitulations*') und dass er
die über diesen Punkt von Said Halim geäusserte Mei-
nung nicht teilen könne.
Kurz darauf erhielt die Pforte durch ein Schreiben
1) In der Plenarsitzung des Reichstags vom 10. Mai 1917 er-
klärte der damalige deutsche Staatssekretär des Auswärtigen
Zimmermann ausdrücklich, dass „die deutsche Regierung die ein-
seitige Aufhebung der Kapitulationen vom Standpunkt des Völker-
rechts nicht als wirksam anerkennen konnte; denn die Rechte,
welche den Deutschen auf Grund des bisherigen Rechts zustanden,
waren durch Verträge verbrieft."
Auch von Martens spricht sich gegen ein einseitiges Auf-
hebungsrecht der Türkei aus, indem er anschliessend an die Fest-
stellung der völkerrechtlichen Vertragsnatur der Kapitulationen,
bemerkt, dass „die Türkei eine Aufhebung der Kapitulationen oder
Abänderung einiger Besiimmungen derselben wünscht, doch nicht
anderSj als mit Zustimmung der anderen Mächte. Daher kann
von einef einseitigen Aufhebung der Wirkungskraft der Kapitula-
tionen wohl nicht die Rede." s. Martens S. 108.
2) Van der Does De Willebois Brief vom 11. 9. 1917 siehe
Strupp Aktenstücke S. 314.
— no —
vom 26. September 1Q14 die Auffassung des holländisdien
Miiiisteriums selbst mitgeteilt, worin dieses auf der Zwei-
seitigkeit der Kapitulationen beharrt, den Schritt der
Pforte nicht anerkennt und erklärt, dass sie sich jeder
Verletzung „aux droits neerlandais bases sur ou se
rattachant au regime Capitulaire'' widersetze.^)
Von Interesse ist aber nunmehr die Antwort, die
Prinz Said Halim am 5. Dezember 1914 auf diese Note
gab. -) Naciidem •er kurz darauf hinweist, dass er über
die bisherige Streitfrage in keiiie Erörterungen mehr ein-
zutreten wünsche und dass die zu Gunsten der Türkei'
geschlossenen Uebereinkommen auf dem Punkte an-
gelangt seien, ihr hervorragendstes Interesse zu ver-
lieren, fährt er fort: „Er begnüge sich damit hervorzu-
heben, dass die Pforte wie jeder andere Staat das Recht
habe, „les Actes internationeaux", die ohne eine vcr-
tragsmässige Bestimmung ihrer Dauer abgeschlossen wor-
den waren, zu gelegener Stunde zu kündigen. Denn in
der Tat könne kein Vertrag Bestimmungen über eine
ewige Fortdauer enthalten, sobald diese Anordnungen
Gebiete des Handels, der Organisation, der gericht-
lichen Prozessführung oder der Verwaltungsbehörde be-
treffen, die augenscheinlich dem Wandel der Zeiten unter-
worfen sind. Die kaiserliche Regierung hat umsomehr
das unleugbare Recht von der Möglichkeit einer Kündi-
gung, die ihr zusteht, Gebrauch zu machen, als die
Einrichtung der Kapitulationen, welche veraltet ist und
nicht mehr den modernen Erfordernissen entspricht, selbst
wenn sie in ihre vertragsmässigen Grenzen gebannt ist,
die eigene Existenz der Türkei bedroht (menace sa
propre existence) und die Punktion (fonctionnement) der
öffentlichen ottomanischen Sache sehr schwierig gestal-
tet.*' •^) Ueber diese letzteren Motive verweist das tür-
kische Ministerium dann auf die bereits erwähnte Note
vom 9. September 1914. (Siehe auch Inhalt Kapitel über
die Wirkung der Kapitulationen.)
An dieser türkischen Note ist auffallend, dass das
türkische Ministerium zwar nicht mehr die einseitige
Privilegiennatur der Kapitulationen als Aufhebungs-
grund anführt, dafür jedoch zwei andere bemer-
kenswerte Momente für die Berechtigung einer ein-
seitigen Aufhebung hervorhebt. Zunächst weist es
darauf hin. dass die Türkei die Kapitulationen trotz der
1) Strupp Aktenstücke S. 314.
2) Strupp Aktenstücke S. 314.
- 137 -
nach dem Jahre 1740 eingeführten Ewigkeitsdauer als
•ohne vertragsmässige Festsetzung einer Frist abgeschlos-
sen ansieht (sans stipulation de delai) und ferner, dass
eine solche Ewigkeitsdauer unmöglich eingehalten wer-
den könne, da die Abkommen gemäss der Natur ihres
Inhalts den verschiedenen zeitlichen Veränderungen un-
terworfen sind.
Bezüglich des ersten Punktes müssen wir bemerken,
dass, wenn auch ein Vertrag mit dem Ewigkeitsvermerk
abgeschlossen wird, er dennoch nicht ohne weiteres unter
Hinweis auf eine veränderte Sachlage gekündigt werden
kann, da dies zu einer weitausgreifenden Rechtsunsicher-
heit führen könnte und jedem Vertragsbrüchigen eine
willkommene Handhabe bieten würde, um jeden seiner
Schritte von vornherein zu rechtfertigen. (Vgl. Inhalt
Kapitel 1, Teil II.)
AvUch v. Liszt ist der Meinung, dass ein auf „ewiga
Zeiten" geschlossener Vertrag „von besonderer Verein-
barung abgesehen" nicht ohne weiteres einseitig künd-
bar sei, wobei er freilich einschränkend bemerkt, dass
die veränderte Sachlage als entschuldigendes Moment
in Betracht gezogen werden könne, i)
Bezüglich der Verletzung der Ewigkeitsklausel steht
die Türkei durchaus nicht aliein und ohne historisches
Beispiel da.
Wie wir bereits in unserer Schilderung der Meer-
engenfrage ausführten, zögerte der russische Staat kcines-
w^egs, die für ihn günstige Lage am 19./31. Oktober 1870 da-
zu zu benützen, die für ihn lästigen Bestimmungen der Pa-
riser Konferenz einfach einseitig aufzuheben. Infolge der
damahgen politischen Verhältnisse mussten die iVlächte
schliesslich der Forderung Russlands auf der Londoner
Konferenz zustimmen, bezeichneten aber vorher dessen
Vorgehen als durchaus völkerrechtswidrig. Hierbei be-
tonten die Mächte auf das feierlichste, dass Verträge
jiicht einseitig aufgehoben werden könnten. -) Der da-
malige Vertreter Grossbritanniens Graf v. Granville
1) Liszt Völkerrecht 1913, S. 170, S 21.
2) Siehe das erste Protokoll der Sitzung vom 17. Januar 1871,
worin es wörtlich heisst: „Diese Uebereinstimmung liefert einen
schlagenden Beweis dafür, dass die Mächte anerkennen, dass es
■ein notwendiges Prinzip des Völkerrechts ist, dass keine von ihnen
sich von den Verpflichtungen eines Vertrages befreien kann, noch
dessen Bestimmungen verändern, was nach Uebereinstimmung der
hohen Vertragsschliessenden durch eine freundschaftliche Ver-
>einigung zu geschehen hat." (siehe Nor. Bd. 3, S. 302).
- 138 —
äusserte sich über den eigenmächtigen Schritt Russlands
in einer Depesche an Buchanan dahin, dass das Vor-
gehen Russlands alle Verträge vernichte; „jeder Ver-
trag bezweckt, die Vertragsschliessenden gegeneinander
/u binden, nach russischer Auffassung dagegen unter-
wirft sich jede Partei ihrer eigenen Autorität und hält
sich nur sich selbst gegenüber für verpflichtet." i) Wäh-
rend Ullmann das damalige Vorgehen Russlands, wenn
auch für formell bedenklich, so doch sachlich erklärbar
hält („aus den in der Tat seit 1856 eingetretenen wirk-
lichen Veränderungen der Umstände und der Lage der
Dinge in Europa"), so sprechen sich doch ziemlich viele
Stimmen gegen diesen Schritt der russischen Regierung
aus, der auch meines Erachtens nichts weiter als eine
geschick"te Ausnützung günstiger Umstände war. -)
Jedenfalls zeigte sich hier deutlich, dass es nur der
Mangel an Macht war, der es der Türkei bis zum Aus-
bruch des Weltkrieges verwehrte, sich von dem Kapitu-
lationssystem zu befreien, denn trotz aller Bedenken
zeigten sich im Jahre 1871 die Mächte ziemlich gefügig
und willfahrten schneller russischen Forderungen, als
Wünschen der Türkei, trotzdem deren Lage ihr jederzeit
das Recht gab, auf durchaus veränderte Umstände hinzu-
weisen.
Wenn auch etwas spät, so erinnerte sich die Türkei
doch dieser Klausel und nach dem Inhalt des oben an-
geführten türkischen Schreibens vom 5. Dezember 1914
berief sich Said Halim ausdrücklich auf dieselbe. Dass
eine Veränderung in der Türkei seit dem Abschluss der
letzten Kapitulationen tatsächlich »eingetreten war, haben
wir bereits durch 'die Darstellung der Entwicklung der
innerstaatlichen Reformen des türkischen Staatswesens
darzustellen versucht. Es "entsteht jetzt nur die Frage, ob
diese „clausula rebus sie stantibus" in dem vorliegenden
1) Siehe Ullmann Völkerrecht 1Ü08 S. 286, Anm. 2.
2) Strupp in Aktenstücke z. B. bezeichnet ihn als einen ,.ein-
seitijjen Akt, der sich durch Berufun«,' auf Notstand nicht recht-
k-rtigen iiess und der daher rechtswidrig' war." Siehe daselbst S.
!11 Anni. 1. Eine schärfere Auffassung bekundet Geffcken im
Gegensatz zu Ulimann, und betrachtet den Schritt Russlands als
vollkommen unentschuldbar, da „die frivolen Vorwände, unter
denen sich Russland 1870 von der Neutralität des schwarzen
Meeres lossagte, während tatsächlich nur die Gunst der politischen
Situation massgebend war, diesen Akt zum schiiinmsten Rechts-
bruch machten, der durch das nachträgliche Protokoll der Kon-
ferenz vom 17. 1. 1871 nicht gesühnt ward." Siehe Heffter-
Geffcken ?< 98 Anm. 1, S. 216.
— 131) —
Falle zur Anwendung gelangen darf und wenn, ob dies
durch einen einseitigen 'Aufhebungsakt hätte geschehen
können.
Diese Veränderung der Umstände w^ird allgemein
von den meisten Schriftstellern als stichhaltiger Auf-
hebungsgrund angenommen. So 'erklären z. B. sowoiil
V. Liszt als auch Ulmann diese Ausnahmestellung für
berechtigt, falls „der geschlossene Vertrag eine bestimmte
Sachlage, sei es 'ausdrücklich, sei es stillschweigend, zur
Voraussetzung nimmt*', i) Das Schwergewicht des hier
angeführten Satzes liegt für unsere Erörterung auf den
Worten „sei es stillschweigend", denn all die Verträge,
die mit der Türkei in früheren Jahrhunderten geschlossen
wurden, nahmen doch sicherlich die damalige inner-
staatliche Lage des osmanischen Reiches als Voraus-
setzung für ihren Abschluss an, oder hätten sie zumindest
annehmen müssen, falls_,sie nicht Nebenzwecke verfolgten.
Natürlich mutet diese Möglichkeit, mit „veränderten
Umständen'' operieren zu können, vom privatrechtlichen
Standpunkt aus sehr befremdend an und ist ja auch,
wie wir des öfteren gesehen haben, in den Händen ge-
wiegter Diplomaten nicht immer zu den lautersten
Zwecken verwendet worden.
Dennoch müssen diese Möglichkeiten in Kauf ge-
nommen werden gegenüber der Gewissheit, dass einem
bedrängten Staate Gelegenheit geboten werden kann, sich
von drückenden und veralteten Verbindlichkeiten zu be-
freien.
Wir müssen berücksichtigen, dass der Privatvertrag
nur einen beschränkten Personenkreis zu verpflichten
vermag, der noch obendrein sein Schicksal selbst be-
stimmte, und diese Willensentscheidung jetzt n'cht etwa
durch eine „clausula rebus sie stantibus" widerrufen
kann. ") Ganz anders ist jedoch 'die Sachlage bei völker-
rechtlichen Verträgen. Abgeschlossen wird Qer Vertrag
zw^ar in endgültiger Weise in konstitutionellen Staaten
durch das Staatshaupt und passiert z. .B. in Deutsch-
land in gewissen Fällen auch die Versammlun,g
der Volksvertreter und den Bundesrat (Artikel 1 1
der Reichsverfassung), aber zu tragen hat die
Bestimmungen in all ihrer Tragweite das Volk,
sobald sie für dieses durch Gewohnheitsrecht, durch
Gesetzgebung oder durch Publikation bindend geworden
sind. Diese Last musste für das türkische Volk, abge-
1) Siehe Liszt 1913 S. 170 und ähnlich Ulimann 1908 S. 285.
2) Vergl. aber z. B. die Schenkung.
— 140 —
sehen von den weit reichenden Festsetzungen der Kapi-
tulationen, umso drückender sein, da ihm zur Zeit des
Abschlusses der bedeutendsten Abkommen mit dem Aus-
lande in dem trotz der Zusicherungen von 1878 bis zum
Jahre 1908 ziemlich selbstherrlichen türkischen Staats
beinahe jegliches Mitbestimmungsrecht fehlte. (Vgl. In-
halt S. 89.)
Wenn wir nun nach der Ansicht v. Liszt u. a. m.
auch die mit der Ewigkeitsklausel abgeschlossenen Ver-
träge als nicht ohne weiteres kündbar ansehen, so muss
man naturgemäss hinsichtlich der Anwendbarkeit der
„clausula rebus sie stantibus"^ ein grösseres •Intgeg.en-
kommen beobachten. Wir müssen uns vergegenwärti-
gen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag, der, wie die Ka-
pitulation von 1740, ohne begrenzte Zeitdauer abge-
schlossen ist, Generationen überdauert und so den ver-
änderten Umständen und Lebensgewohnheiten des be-
troffenen Volkes immer wesensfremder wird, so dass es
die vitalsten Interessen desselben verlangen, sich von
ihm zu befreien, i) Dann aber, und auch nur dann, kann
es einem Staate gestattet werden, sieht über die grund-
legende völkerrechtliche Regel „pacta sunt servanda'*
hinwegzusetzen und die befreiende Klausel für sich in
Anspruch zu nehmen.
Ist nun, wie es in den heutigen völkerrechtlichen Ver-
trägen zumeist geschieht, diese clausula rebus sie stan-
tibus ausdrücklich aufgenommen, so ergibt sich ohne wei-
teres ein formell unbedenkliches Kündigungsrecht, so-
bald sich nur „eine Veränderung wesentlicher Umstände,
unter denen der Vertrag abgeschlossen worden war",
ergibt. -) Nicht so war es jedoch bei den Kapitula-
tionen, die von einem derartigen Aufhebungsgrund keine
ausdrückliche Erwähnung enthielten. Wie wir bereits
erwähnten, entsteht jetzt nur die Frage, ob Prinz Said
Halim trotzdem auf diese Klausel hätte verweisen dür-
fen. Die Beantwortung dieser Frage, die gerade für den
vorliegenden Fall von besonderem Interesse ist, hat schon
vor der einseitigen türkischen Kapitulationenaufhebung
zu erregten Erörterungen geführt. •*)
Wie wir oben ausführten, ist zwar die grosse Mehr-
heit der Völkerrechtslehrer für die Anwendung der Clau-
1) Vergl. das preussische Manifest vom 9. Oktober 1806: „Vor
allen Traktaten haben die Nationen ihre Vorrechte", (s. Lehmann
S. 61).
2) siehe Ulimann 1908 S. 285.
3i Gegen diese Auffassung z. B. Bluntschi Völkerrecht §456 ff.
— 141 -
sula rebus sie stantibus auch in jenen Fällen, wo deren
Anwendung nicht gerade durch -einen ausdrücklichen
Vertragstext gerechtfertigt ist, aber immerhin mit der
Einschränkung, dass nicht der natürliche wechselnde Lauf
der geschichtlichen Ereignisse, der doch auch eine Ver-
schiebung der Verhältnisse nachweisbar macht, es schon
in Jas Belieben der vertragschliessenden Staaten stellt,
sich auf diese Klausel zu berufen und so die gesamte völ-
kerrechtliche Vertragstreue in Frage zu stellen, i) (Vgl.
das oben erörterte Vorgehen Russlands in der Meer-
engenfrage.)
Gewiss wäre eine in diesem Masse weitgehende
Anerkennung der clausula rebus sie stantibus keine ge-
ringe Gefahr in der Hand von Diplomaten, die nach
dem Worte Talleyrands verfahren, dass diplomatische
Spiegelfechtereien und Redekünste Staatsraison seien,
aber nichtsdestoweniger muss man doch gegen die An-
sicht Brunno Schmidts Stellung nehmen, der sich gegen
die gewohnheitliche Anerkennung der clausula rebus
sie stantibus im allgemeinen wendet. -) Schon Bismarck,
der grosse Meister der Staatskunst, benützte mit Vor-
liebe diese Klausel, wenn sich ihre Anwendungsberech-
tigung ergab, und erst in neuester Zeit kam sie anläss-
lich der Okkupation von Bosnien und Herzegowina durch
Oesterreich-Ungarn im Jahre 1908 in der oben erörter-
ten Weise zur Anwendung, wobei Oesterreich den Art. 25
des Vertrages von Berlin vom 13. Juli 1878 („Die [Pro-
vinzen Bosnien und Herzegowina werden von Oester-
reich-Ungarn besetzt und verwaltet werden'') einseitig
aufhob.
Vollkommen klar drückt sich auch die am 14. No-
vember 1916 erfolgte Aufhebungsorder der Türkei für
die Verträge von 1856 und 1878 aus: „Man kann sich
aber n icht vorstellen, dass «in Staatsvertrag gültig blei-
ben soll nur bezüglich der Verpflichtungen, die er einem
Vertragsschliessenden Staate auferlegt, während die die-
sem günstigen Bestimmungen ununterbrochen, ausser
Acht gelassen werden. Dies erfordert, dass der er-
wähnte Vertrag für diesen Staat selbst null und nichtig
sei. Auch dies verdient erwähnt zu werden, dass sich
1) Siehe von Liszt 1913 S. 170.
2) Ueber die völkerrechtliche Klausel „rebus sie stantibus"
sowie einige verwandte Völkerrechtsnormen 1907. Abhandlungen
Staats- und völkerrechtlicher Verträge herausgegeben von Jellinek
und Mayr. Bd. VI, Heft 12.
— 1-lJ -
tiie Lage, die zur Zeit des Abschlusses der beiden Ver-
träge vorhanden war, vollständig geändert hat.** i)
Natürlich müssen wir uns von vornherein bei dieser
ganzen Erörterung von dem besonders in diesem Welt-
kriege zur Blüte gelangten Anschauungssystem frei-
machen, dass auch ein psychologisches Moment für den
Bruch der völkerrechtlichen Vertragstreue in Betracht
kommen könnte. Bonucci z. B. spricht bei der Behand-
lung dieses Problems von der „Unmöglichkeit der Aus-
übung eines Zwanges auf die Person, der die Herbei-
führung des verlangten Aktes physisch unmöglich ist,
da er nicht von ihr abhängt.'* -) Von einer physischen
Unmöglichkeit soll jedoch für unseren Fall gar nicht Ge-
brauch gemacht werden, denn für die Türkei handelt es
sich um eine Veränderung der gesamten staatlichen
Lebensbedingungen und Schaffung einer bedeutend er-
höhten Sicherheit auf Grund eigener Gesetze, was alleü
erst meist nach Abschluss der Kapitulationen eintrat.
„Infolge veränderter Umstände kann die Erfüllung eines
Vertrages mit den primären Interessen des Staates, ja
mit seiner Stlbsterhaltung in Kollision treten und eine
Notlage entstehen, welche die Erfüllung unmöglich
macht." 3)
Dass all diese Voraussetzungen gerade für den tür-
kischen Staat in überaus weitgehendem Masse zutref-
fen, ist bereits unseren früheren Darlegungen zur Genüge
zu entnehmen und es handelt sich jetzt nur um die wei-
tere Tatsache, dass die Türkei auch nach dem Schreiben
vom 5. Dezember 1Q14 auf der einseitigen Aufhebungs-
art beharrte. Während Deligeorges der Türkei über-
haupt das Recht abspricht, die Kapitulationen zu
kündigen, hält Bein es für praktisch durchaus be-
langlos, „ob dies durch gegenseitiges Einverständnis
oder auf Grund eines einseitigen Aktes erfolgte'*.*)
Dies ist eine Streitfrage, die wir sowohl hinsichtlich
ihrer theoretischen als auch praktischen Bedeutung er-
örtern müssen. Was die theoretische Seite des Problems
anlangt, so wäre eine vorherige offizielle Benachrichti-
1) Siehe österr. Monatsschrift für den Orient, Heft 2, 1917,
Seite 59. .
2) Bonucci, Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht,
Seite 449 und 466 ff. Wozu eine solche Auslegung führen kann,
zeigte die italienische und französische Politik mit besonderer
Deutlichkeit.
3) Ulimann, Völkerrecht 1908, Seite 285.
4) Deligeorges, Seite 37 und Bein Seite 37.
— 143 —
gung der einzelnen Signatarmächte sicherlich am Platze
gewesen. Denn wenn auch das Völkerrecht nicht die Ur-
tricbe der Menschheit nach Freiheit und Gleichberech-
tigung" venfichten kann, so verlangt dennoch ein recht-
lich geordneter Staatenverkehr, dass „der Wille, das ge-
zum Ausdruck gebracht werde. Eine einseitige Aut-
störte Vertragsverhältnis aufzuheben, der Gegenpartei
hfcbung des Vertrages durch den Kontrahenten wider-
spricht dem Grundsatze der Heiligkeit der Verträge*^ ^)
In seiner Erwiderung auf die angeführte türkische
Note vom 5. Dezember 1914 benützte der holländische
Gesandte auch diesen Umstand und erklärte, dass, da
„die Kapitulation nicht unter die Kategorie der Verträge
gehören, denen ein einseitiger Akt ein Ende setzen kann,
ein Prinzip, das übrigens noch neuerdings von der Pforte
in ihren Konventionen mit anderen Mächten anerkannt
wurde, er seinerseits durch die gegenwärtige Note nur
seine Note vom 26. September bekräftigen könne . . ." -)
Trotzdem vermochte die holländische Regierung
nichts weiter zu erreichen und in ihrer Antwort vom
1. Februar 1915 erklärte die Pforte kurzweg, „dass sie
bedauere, von ihrem Standpunkte nicht abgehen zu kön-
nen, welchen sie in den über diese Angelegenheit vor-
hergegangenen Mitteilungen hinlänglich dargelegt und
motiviert habe*'. 3) Das türkische Ministerium Hess dann
eben statt der weiteren Unterhandlungen die Tatsachen
sprechen und die Kapitulationen blieben aufgehoben.
Vom theoretischen Standpunkt aus gesehen, v.ar
dieses Vorgehen der Pforte, unparteiisch betrachtet, nicht
einwändfrei; aber ein vollkommen anderes Bild gewinnt
die ganze Sachlage, wenn wir die Frage von der prak-
tischen Seite aus ansehen.^ Zunächst könnte spezieil die
Türkei darauf hinv.eisen, dass es die Mächte jederzeit
meisterlich verstanden hatten, alle Aufhebungswünsche
der Pforte auf die entgegenkommendste Weise auf das
wesenloseste Mass herabzudrücken. Hierzu kommt noch
ein weiteres, das Vorgehen der türkischen Regierung
sehr entlastendes Moment. Als die Pforte am 9. Sep-
tember 1914 die Kapitulationen aufhob, standen sich die
meisten europäischen Grossmächte in hartem Kampfe
gegenüber und ein grosser Teil der übrigen Staaten war
durch seine verschiedenartigen Sympathien ziemlich un-
einig. An wen hätte sich da die Pforte wenden sollen,
•da doch kaum ein einzelner Staat auf seine Vorrechte
1) Ullmann, Seite 1908, Seite 286.
2) Strupp, Aktenstücke, Seite 315.
3) Siehe Orglnaltext Strupp, Seite 316,
— 141 —
verzichtet hätte, wenn er nicht mit Sicherheit auf die
Zustiinnuing der übrigen am Kapitulationssystem be-
teiligten Staaten hätte rechnen können. (Vgl. den deut-
schen Vorbehalt im türkisch-deutschen Vertrag von 18Q0.)
Ein Auttreten der einzelnen Signatarmächte als Ein-
heit, wie dies früher geschah, war demnach völlig aus-
geschlossen. Matte sich die Türkei daher vollkommen an
die völkerrechtHchen Regelungen gehalten, so wäre sie
einem höchst verderblichen Zustande anheimgefallen.
Wie gewiss vorauszusehen war, würden wohl die meisten
Staaten sich ablehnend verhalten haben und die türkische
Regierung hätte von einem solchen Vorgehen nur den
einen Erfolg gehabt, dass sie auch den Angehörigen der
Staaten, mit denen sie alsbald in Krieg geriet, vollkom-
mene Freiheit für alle schädigenden Handlungen und wei-
testgehenden Einblick in wichtige Gebiete hätte gewäh-
ren müssen. Das Vorgehen der Türkei ist umsomehr zu
veistehen, als sie unmöglich die leicht voraussehbaren
Kriegslaster allein auf die Schultern des eigenen Volkes
wälzen konnte, um. die Fremden völlig steuerfrei aus-
gehen zu lassen.
Der einzige Vorwurf, der demnach der türkischen
Regierung gemacht werden kann, ist der, dass sie nicht
gleich zu Beginn diese clausula rebus sie stantibus in
Erwägung zog und zur Anwendung brachte, statt sich
auf den veralteten Grundsatz der Einseitigkeit der Ka-
pitulationen zu berufen.
Nachdem wir also gesehen haben, dass Said Halim
vollkommen im Recht war, als er seinen Ständpunkt in
dem Briefe vom 5. Dezember 1914 i) dem holländischen
Gesandten gegenüber in energischster Weise verteidigte,
entsteht die Frage, ob für d^n türkischen Staat nicht
auch noch andere Aufhebungsmöglichkeiten bestanden
hätten. Neben einer eventuellen Berufung auf Irrtum -)
über wesentliche Tatsachen bei Abschluss des Vertrages
oder auf Betrug, '^) wozu sich übrigens kaum ein Staat
gerne herbeilässt, der das Ansehen vor dem eigenen
Volke wahren will, könnte man gerade bei den Ka-
pitulationen an Aufhebungsmöglichkeit durch den Krieg
denken. Abgesehen von dem alle völkerrechtlichen
1) Vgl. Inhalt S. 136.
2) Ein Irrtum über wesentliche Tatsachen, der entschuldbar
ist, führt auch tatsächlich nach Völkerrecht zur Nichtigkeit des
Vertrages nach vorheriger Anfechtung, während
3j Betrug m. K. wegen der gesamten diplomatischen Natur
<Jer Verträge überhaupt zunächst nur eine Anfechtung zur Folge
haben könnte. Vgl. über diese Frage Liszt 1913, S. 162 § 20,
II 6. Ullmann 1908, Seite 263 ff.
— 145 —
Grundsätze vernichtenden Weitkrieg, konnten wir be-
reits bei unseren verschiedenen Erörterungen beobach-
ten, dass man meist der Ansehung huldigte, „rechtsge-
schäftliche Verträge gelten zwischen kriegführenden Staa-
ten als aufgehoben", i) (Vgl. die Bemühungen der Tür-
kei gegen Griechenland nach dem siegreichen Feldzug
von 18Q7, ferner die Errungenschaften Japans gegen-
über Russiand im Jahre 1905 u. a. m.)
Ulimann u. a. legen gegen diese Standpunkte Ver-
wahrung ein und betrachten Auslieferungs-, Handels-
und Schiffahrtsvertfäge ü. a. m. als durch den Kriegs-
zustand nur in „ihrer Wirksamkeit suspendiert**. -)
Würde man auch diese letztere Ansicht als die rich-
tige annehmen, so hätte die Türkei bei ihrem späteren
Eintritte in den Krieg die Verträge trotzdem als annul-
liert ansehen müssen, da die Kapitulationen bedeutend
grössere Eingriffe in ihre Hoheitsrechte darstellten, als
irgend ein anderer völkerrechtlicher Vertrag. Ihre Kund-
gebung vom 9. September 1914 wäre dann, falls sie
sich auf den Standpunkt der Aufhebung durch Kriegsfall
hätte stellen w^ollen, gleichsam eine Kündigung des zwi-
schen ihr und den einzelnen feindlichen Staaten be-
stehenden Vertragsverhältnisses gewesen, das die einst-
weilige Suspendierung zur endgültigen Aufhebung ge-
macht hätte. Für diesen Fall hätte sich die Pforte direkt
auf den Text einzelner Kapitulationen berufen können.
B'esonders in den Kapitulationen mit Frankreich band die
Pforte deren Bestehen an freundschaftliche Beziehungen.
(Siehe gleich zu Beginn der Kapitulation von 1604:
„quie les traites de paix et capitulations .... fussent
renouveles et jures de notre hautesse sous cette con-
sideration pour l'inclination quc nous avons a conserver
cette ancienne amite . . . .**) ■^)
In der bereits angeführten Aufhebungskundgebung^
vom 14. November 1916 führte die Pforte auch dieses
Kriegsmoment an: „Die kaiserliche Regierung befindet
1) Liszt 1913, Seite 171 a. A. Ullmann 1908, S. 475. Oppen-
heim Bd. II. S. 107.
2) S. Ullmann 1908, S 475.
3) Siehe Nor. Bd. 1. Seite 94. Kapitulation von 1604. Vgf.
auch Lemonon in Revue de droit international. 2. Serie 1913, Teil
V. Seite 471 ff, der jedoch gerade das Bestehen dieser Klausel
in seiner Abhandlung über Kriegszustand und Kapitulationen nicht
beachtet. Im übrigen kam für die Türkei diese Möglichkeit noch
nicht in Betracht, da der Kriegszustand erst am 11. November
und der heilige Krieg am 14. November 1914 verkündet wurde.
10
— 146 —
sich mit vier Signatarmächten im Kriegszustande und
was die erwähnten Verträge anbelangt, so wurden ?ie
auf Bemühen und Betreiben dieser Staaten zu ihrem
Vorteil abgeschlossen. Dies hat daher definitiv die
Atisserkräffsetzung def erwähnten Verträge in den Be-
ziehungen zwischen der Türke^i uhd den erwähnten Staa-
ten zur Folge."!) (Vgl. Inhalt S. 111.)
Nun b>emcrkt auch v. LiSzt, der Anhänger der eben
angeführten reinen Vernichtungstheorie ist, dass selbst-
verständlich solche Verträge vor der Annullierung ge-
schützt sind, die gerade für den Kriegsfall geschaffen
wurden. Es könnte nun die Frage entstehen, ob nicht
die Kapitulationen, die doch eigentlich zum Schutze gegen
die Angriffe der Moslems, denen der Andersgläubige als
Feind gilt, geschaffen wurden, als für einen dauernden
Kriegszustand geschlossen angesehen werden müssten
und umso w'eniger 'in diesem "Weltkriege aufhören durften.
Bei der Beantwortung dieser Präge, die ja möglichLM-
weise einmal zur Erörterung stehen könnte, ist jedoch
immer aufs neue zu betonen, dass ein solch ewiger Kriegs-
zustand schon viele Jahre vor Ausbruch dieses Krieges
zumindest in den europäischen Besitzungen der Türkei
aufgehört hatte, dass die ehemaligen, für solche Feind-
seligkeiten in Betracht kommenden Kapitulationen sich
immer mehr zu teilweise recht drückenden Handels-
verlrägen ausgebildet hatten und dass überdies im os-
manischen Reiche eine Veränderung der gesamten staat-
lichen Einrichtungen eintrat, wozu noch kam, dass der
ehemals theokratische Staat sich immer mehr zu eintni
weltlich regierten Staatswesen ausbildete, dessen neue
Natur auch Gesetze zuliess, die einem früheren osma-
nischen Herrscher mit den Grundsätzen des Korans
durchaus unvereinbar geschienen hätten.
Maiil Bey, der türkische Minister des Aeussern,
charakterisiert die Anpassungsfähigkeit des Kora.ns sehr
treffend dahin, dass „das Koranwort nur bestehende (je-
bräuche und Sitten zusammentasst. Sobald neue Vor-
bedingungen entsehen, die iin Koran nicht vorgesehen
sind, und damit die Verhältnisse sich ändern, so ge-
stattet der Koran auch eine mue Rechtsform, die diesen
Ve.'hältnissen Rechnung trägt." Den eben angeführten
Worten des türkischen Ministers entsprechen aber auch
die Tatsachen, dass die Fre.iiden, ja teilweise selbst die
Angehörigen der heute mit der Türkei im Kriege befind-
I) Siehe ösferr. Monatschrift für den Orient, Heft 2, 1917. S. 59.
i'AufhebunßSorder für die Verträge von 1856 und 1878).
_ 147 —
liehen Staaten nichts oder nur wenig- unter dem rehgiösen
Fanatismus der Moslems zu leiden haben. Ferner erleich-
terte die osmanische Regierung d^n zustrmmerrden Mätrh-
ten ihre Genehmigung noch dadurch, dass sie die seit dem
türkischen Staatsbankerott von 1875 bestehende „Dette
publique", wenn auch selbstverstärrdlrch untef Aus-
schluss der feindlichen Auf<?ichtsratsmitglieder, \Veiter-
bestehen Hess. Ueberhaupt kontiert wir aus* der ganzen
s/eitherigen Entwicklung der türkischen Frage, sowie aus
d-en kraftvollen Leistungeft der Türkei während dti gt-
g'enwärtigen Ringens mft Befriedigung feststellen, dass die
Beseitigung der Kapitulationen, den hiervon betroffenen
Mächten keinen besonders empfirtdlichen Nachteil, der
Türkei jedoch die Gelegenheit brachte, Sich frei von allen
Hemmung"en zu entwickeln, um nach dem Kriege sich
endgültig den lang entbehrten „Platz an der Sonne^* zu
erringen.') Gegenüber der Klefnlichkeit der meisten
Kapilulationskontrahenten blieb der Türkei angesichts' 'der
ungeheuren Vorteile, die sie sich erwartete, nichts übrig,
als die ihrem Schritt entgegenstehenden, vor die „voll-
endete Tatsache'* zu stellen, wenn sie auch die Gelegen-
heit gehabt hatte, durch die Westmächte von den Kapitu-
lationen befreit zu werden, gegen das Versprechen, die
Neutralität aufrecht zu erhalten, wozu sie sich selbst-
verständlich im eigenen Interesse nicht verstehen konnte.
Die heutig« Auffassung der leitenden türkischen
Kreise über die zukünftige Mission des osmaniSchen
Reiches charakterisiert am besten die Erklärung, die
der türkische Throrrfolger -) anlässlich seines Berliner
Aufenthalts am 1. Januar 1918 abgab: „Wir verlangen
vom Friedensschluss unsere territoriale Unversehrtheit,
sowie die religiöse Unberührtheit unseres Kalifats. Wir
fordern volle Entwicklungsmöglichkeit für unser wirt-
schaftliches Gedeihen, wie die Wahrung und Sicherung
unserer nationalen und religiösen Kultur.
Wir stehen im Begriffe, unser Staatswesen nach
europäischen Grundsätzen auf- und auszubauen. Un-
sere Absichten sind daher darauf gerichtet, uns allmählich
dem Abendland anzupassen und eben dadurch die Schick-
salsgemeinschaft in der europäischen Staatenfamilie auf-
rechtzuerhalten.*' •^)
1) Bereits am 14. September 1916 beseitigte die Pforte end-
gültig den Wertzoll zu Gunsten des spezifischen Zolltarifs, der
: nunmehr 30 "'o beträgt.
2) Derselbe bestieg nach dem Tode seines Bruders am 3. Juli
-1918 den Thron.
3) Siehe die österr. Zeit No. 5486 vom 2. Januar 1918-
— 148 -
V. Kapitel.
Die neuen deutsch-türkischen Rechtsverträge vom
11. Januar 1917.
Bereits aus Anlass der Würdigung der verschiede-
nen Aufhebiingsgründe für die Kapitulationen hatten
wir hervorgehoben, dass Deutschland ebensowenig wie
die anderen Mächte eine einseitige Aufhebung der Kapi-
tulationen, die ja späterhin vollkommene Vertragsnatur
hatten, ohne weiteres billigen konnte. ^) (Vgl. Inhalt
S. 135 Anm, 1.)
Andererseits war jedoch die deutsche Regierung
sehr wohl imstande, gemäss den völkerrechtlichen Grund-
sätzen mit der türkischen Regierung in diesbezügliche
Unterhandlungen zu treten, die nach eingehenden Er-
örterungen auch zu einem beiderseits durchaus befrie-
digenden Ergebnis gelangten. Bei der Rede am 28. April
1916 konnte der türkische Minister des Aeussern Halil
Bey in einer Ansprache an das Parlament u. a. aus-
führen: „Wir haben diese Entwürfe (d. h. die deutschen
Vertragsentwürfe) studiert und nicht einen Schatten der
Kapitulationen darin gefunden ... ich kann Ihnen sagen,
dass die deutschen Konsuln in der Türkei dieselben
Rechte und Befugnisse geniessen werden, wie die osma-
nischen Konsuln in Deutschland. Die Untertanen beider
Länder werden in beiden Ländern gleiche Rechte ge-
messen. Ich kann auch dieses hinzufügen: Die Be-
dingungen, welche Staaten, wie z. B. Frankreich und
England, einander stellen würden, um ihre Beziehungen
zu regeln, haben wir uns in den Konventionen gestellt,
deren Abschluss bevorsteht.*' -)
Durch diese, die beiderseitige Lage voll berück-
sichtigenden Verträge, war es möglich, dass Halil-Bey am
15. Januar 1917 unter grossem Beifall der Kammer er-
klären konnte, dass der türkische Staat, der vor dem
Kriege ausserhalb des europäischen Völkerrechts stand,
„durch die erstmalige Unterzeichnung eines Vertrages
auf der Grundlage der Gleichheit und Gegenseitigkeit
seinen Platz im Gleichgewicht der Wlächte eingenommen
und dadurch seine volle Souveränität wiedererlangt
habe*'. 2)
1) Vgl. hierzu die Ausführungen über die Anwendbarkeit der
clausula rebus sie stantibus im Inhalt S. 138 ff.
2) Münchner Neueste Nachrichten.
— U9 —
Eitrige Zeit darnach, am 27. März 1917, geneh-
migte denn auch die türkische Kammer, bei Anwesen-
heit von 175 Abgeordneten, einstimmig die deutsch-
türkischen Verträge, i)
Eine grosse, vielleicht die bedeutsamste Rolle bei
der Abschaffung der Kapitulationen und dem Abschlüsse
der vorliegenden deutsch-türkischen Verträge spielte un-
zweifelhaft der jetzige Grossvezier Talaat-Pascha, -) ^der
sich als Mitglied des Komitees „Einheit und Fortschritt"
energisch für die Befreiung seines Vaterlandes von der
privilegietten Ausbeutung durch die Fremden und für
dessen endgültige Gleichstellung gegenüber den anderen
europäischen Mächten seit langem eingesetzt hatte.
In Deutschland selbst gelangten die bereits auf
Seite 1 aufgezählten Rechtsverträge am 22. April 1917
im Reichstage zur Vorlegung und bereits am 10. Mai
1917 schritt derselbe zur Abstimmung über deren An-
nahme oder Ablehnung.
Bei der Beratung der Verträge legte die deutsche
Regierung gleichzeitig eine erläuternde Denkschrift vor,
die zunächst die schon oft erwähnte türkische Sehnsucht
nach Befreiung von der druckenden Last der Kapitula-
tionen hervorhob und ferner erklärte, dass Deutschland
nach der bereits erfolgten Aufhebung der Kapitulationen,
in Anbetracht des innigen Bündnisverhältnisses, nicht
zögern durfte, die türkischen Bestrebungen tatkräftigst
zu unterstützen. „Es ist einleuchtend'', fährt die Kund-
gebung fort, „dass der Wegfall dieser Sonderrechte ohne
ausreichenden Ersatz für die Deutschen in der Türkei
empfindliche Nachteile hervorrufen müsste. Er setzt da-
her eine eingehende Regelung der Rechtsbezichungen
zwischen den beiden Ländern auf neuer Grundlage
voraus. Diese Regelung bot bei der Eigenart des os-
manischen Rechtes besondere Schwierigkeiten, weil in
1) Sie wurden Gesetz am 29. März 1917. Siehe Balkanrevue
Seite 50.
Auch der österreichische Staat begann alsbald ähnliche Unter-
handlungen mit der Türkei, so dass bereits am 30. März 1918 die
türkische Kammer bei Anwesenheit von 160 Abgeordneten ein-
stimmig die Vorlage der Regierung annahm, wodurch dieselbe er-
mächtigt wurde, die Ratifikationsurkunden der 5 Abkonimen, durch
die die Konsular- und rechtlichen Beziehunge\i zwischen Oester-
reich-Ungam und der Türkei geregelt werden, endgültig zu unter-
zeichnen und auszutauschen. Nach einer einleitenden Rede des
tirrkischeTi Ministers des Aeussern erteilte aucli der Senat am
31. März 1918 seine Zustimmung.
2) Derselbe wurde am 2. Februar 1917 Grossvezier.
- 150 —
der Türkei, stärker als in anderen Ländern, das Rechts-
lebeii mit den Vorschriften der Staatsreligion zu;?an»nien-
hänyfl. AntJererseits hat die osaianische Regierung seit
dem Inkrafttreten der türkischen Verfassung in allen
Zweigen der Staatsverwaltung, insbesondere auch auf
dem Gebiete der Gesetzgebung und (^er Rechtspflege, mit
solcher Entschiedenheit den Weg d^r Reformen betreten,
dass die Neuregelung auf dem Boden des allgemeinen
eyropäischen Völkerrechts und der vollkommenen Ge-
genseitigkeit unternommen werden konnte/* ^)
Gewiss ist die Lage der in der Türkei lebenden
Auslandsdeutschen durch deren Privilegienentzichung
nicht verbessert worden und m.inch langjährige Bequem-
lichkeit wird zu entbehren sein, aber die deutsche Re-
gierung konnte trotz aller etwaigen 3edenken das Er-
suchen der türkischen Regierung nicht ablehnen, dgi das
wachsende Selbstbewusstsein der ti^rkischen Nation mit
dem bisherigen Rechtszustand nicht mehr vereinbar war.
„pie Abschaffung der Kapitulationen war eben eines der
wesentlichen Kriegsziele des osmanischen Volkes ge-
worden.** ~) . '
Von dieser Erwägung liess sich wohl auch der
Reichstag leiten, als er am 10. Mai 1917 trotz aller vor-
gebrachten Einwände die deutsch-türkischen Rechtsver-
verträge in seiner Mehrheit annahm.
In unserer folgenden Darstellung werden ^vir m er-
wägen haben, Inwieweit die abgeschlossejiejj Verträge
dem modernen Völkerrecht i.nd dem Qrundsatze der
Qegenseiligkeit entsprechen und trotzdem gleichzeitig
die noch immer bestehenden Besonderheiten des osma-
Qischen Rechtswesens berücksichtigen.
In fornieiler Hinsicht ist nur noch zu bemerken, da§s
die Verträge ungeachtet der grossen Schwierigkeiten in
deutscher und türkischer Sprache gbgefasst wurden und
nur zum Zwecke der Beseitigung etwa entstehender Miss-
verständnisse auch einen französischen Text erhielten.
}) yg|. Qenkscbriit in Reip^st^g No. 7§5, 3- l?! »■ bezüg).
(I^r türtli^cbgn Keiormen Viil. Inhalt Teil 11. §.121-
Seit der VA^ii^erhersteilung der Verfassung ara 23- Juli 1008
haben die eiirigen türkischen Staatsreiormatoren die Türkei immer
mehr zu einem modernen Rechtsstaate ausgebildet Seit dem 22.
iMai 1916 sipd drei Kommissionen tätig um das Familienrecht, das
bürgerliche R^cht und das Handelsrecht den modernen Erforder-
Qt'sseo gemäss auszubauen. Vgl. Welt d^s Islams V. Idl7, Heft
J/Tl. Seite 50.
2) Siebe Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 15. Jan. 1917.
— 151 —
Ein Konsularvertrag.
Es bedarf wohl keiner weiteren Erprterupg, dass
Verträge, wie sie das Deutsche Reich mit der türkischen
Regierung einging, mit dem Rechtszustand der früheren
Kapitulationen vöHig unvereinbar waren und (laher not-
wendigerweise deren Aufhebung zur Folge haben muss-
ten. In ganz besonderem Masse trifft di^s hinsichtlich der
Konsularverhältnisse zu, ^die, entklei.det ihr^er jejienialigpn
Selbstherriichkeit, nunmehr auf völkerrjechtlicher Grund-
lage geregelt vverden sollten. })
Immerhin war die Stellung seiner Konsuln im Oriei^t
für Deutschland nach Aufhebung der i^apitulationen (un.d
vielleicht gerade dadurch) eine der hedeutepdsten Fra-
gen. Oem entsprach ai^ch die eingehende Behandlung,
die dieser Vertragsmaterie zuteil wurde. Als Master
"nahm man sich hierbei die unter ähnlichen Verhältnissen
(zwecks Beseitigung von Kapitulationen) geschlossenen
KonsularVerträge zwischen Deutschland und Japan "-)
einerseits und Bulgarien 3) andererseits.
Gleich in der Einleitung zu diesiem Konsularvertrage
wird ausdrücklich flas Bestreben des Deutschen Kaisers
und des Kaisers der Osrnanen heryorgehpb^n, die Kon-
sularverhältnisse zwischen den beiden Staaten „auf def
Grundlage des aHgemeinen yöikerrechts unfl der Ge-
genseitigkeit zu regeln*^
Djer nach Aufzählung der Unterhändler ^) folgende:
Art. 1 bestimmt, dass gegenseitig die Berechtigung be-
stehen soll, an aljen bedeutenderen Piätzen der beide«
Ländjer Konsulareijjfifhtungen zu schaffen, weiche Er-
laubnis nur dann ißr einzelne Gebiete aufgehoben sein
soll, wenn dieses Verb,ot auch jeder dritten Macjit gegjeif-
über Anwendung- findet. Sollte der für einen splcheif
1) Dem entsprechend sjeiit auch das Ausführungsgesetz zu
den vorliegenden Verträgen in seinem § 1 die Bestimmung eines
Termins yör, zur endgültigen Aufhebung der Konsulargerichtsbar-
keit, gepjä§s der Bestimmung des § 1 des ßeselzes über dip
.Konsurargerichtsbarkeit vQm 9. April 1900 .($. j^. G.Bl. 1000^.213).
Auch i_Q früheren F^ilei) hat Deutschland verschiedentlich^ die
Konsulargerichtsbarkeit aufgehoben. ^Vgll Gesetz betreifend die
Kousularg^richtsbarkeit in BQsnijen und d^r Herzegowina vom V.
Juni 1880 (Reichspsetzblatt S- 146) ferner Giesetz be^r. die Kon-
sulargerichtsbarkeit in Tunis vom 26.Julil883(R.G.Bl. 1883, Sefte263V
2) S. R. G. Bl. 1896, S. 732, Vertrag vom 4. April 1896-
3) S R. Q. Bl. 1913, S. 435, Vertrag vom 29. Sept. 1911.
4) Auf deutscher Seite unterhandelten Dr! johanije§ Kri.fge-
und -Dr. Walter Simon (später Bruno Wedding) auf ttirkiscileV
Seite Ibrahim Hakki Pascha und Ahmed Reschid Bey.
— lf>2 —
Gcbictsbereich zu ernennende Beamte nicht die Staats-
angehörigkeit des Ernennungsstaates besitzen, so ist die
diplomatische Genehmigung des Empfangsstaates nach-
zusuchen. (Vgl. zu Art. 1 Abs. 1 den Art. 1 Abs. 1 des
Konsularvertrages mit Japan, der im wesentlichen das
gleiche besagl.) ^
Ist nun die Ernennung eines solchen Beamten er-
folgt, so darf die Genehmigung von seiten des betreffen-
den Empfangsstaates (Exequatur, Placet, auch „Berat''
genannt in der Türkei) nur daiin nicht erteilt oder ent-
zogen werden, wenn eine vorherige Angabe der Gründe
dem Absendestaate gegenüber erfolgte, deren Würdi-
gung jedoch dem Empfangsstaate vorbehalten bleibt. Die
gemäss Art. 2 zugelassenen Konsuln können im Verhin-
derungsfalle 2) nach Verständigung der Ortsbehörde
durch Attaches, Dolmetscher, Kanzler oder Sekretäre ver-
treten werden.
Diesen mehr formalen Vorschriften folgen in einem
2. Abschnitt verschiedene bemerkenswerte Bestimmun-
gen über die Vorrechte und Befreiungen der Konsular-
beamten.
Zunächst werden denselben alle ihnen auch nach
Völkerrecht zukommenden Ehrenrechte, wie Wappen-,
Flaggenführung „und die ihrer amtlichen Stellung zu-
kommenden Ehren** zugestanden, was ja auch gegenüber
den früheren Kapitulationen keine Neuerung bedeutet.
(Siehe Art. 4, Abs. 2 des Vertrages.)
Bezüglich der in den Kapitulationen besonders weit
ausgebauten Exterritorialität der Konsuln, die ihnen ge-
mäss dem allgemeinen Völkerrecht durchaus nicht zukam,
ist zu bemerken, dass dieselbe ihnen durch den gegenwär-
tigen Vertrag genommen und ihre Vorrechte und Befrei-
ungen auf den Grundlagen des Völkerrechtes zum Aufbau
gelangten.
Gemäss dem allgemein geltenden Rechte bestimmt
zunächt Art. 5, dass die zum Konsulararchiv gehörigen
amtlichen Papiere (wobei die Dienst- von den Privat-
papieren strenge zu sondern sind), „unter keinem Vor-
wand** mit Beschlag belegt werden dürfen. Immerhin
steht aber den Ortsbehörden das Recht zu, eine Prüfung
der Papiere auf ihre amtliche Eigenschaft vorzunehmen.
In gleicher Weise sind auch die Amts- und Wohnräume
1) Vgl. über die diplomatische Emennungsvermlttlung auch
die Österreich-türkische Kapitulation vom jähre T718, Art. 5, In-
halt Teil I. S. 63.
2) z. B. Tod, Krankheit, Abwesenheit usw.
— 153 —
den Eingriffen der Landesbehürden entzogen. „Die Amts-
und Kanzlenaunie der Generalkonsuln, Konsuln und Vize-
konsuln, die Berufsbeamte i) sind und dem Teile an-
gehören, der sie ernannt hat, sollen jederzeit unver-
letzlich sein; das gleiche gilt von dem Hause dieser Kon-
sularbeamten für die Zeit, wo es von ihnen tatsächlich
bewohnt wird.'* -)
Gegenüber den Kapitulationen besteht jedoch ein
grosser Unterschied in der Hinsicht, dass ein Eindringen
stattfinden darf, sofern es sich „um die Verfolgung wegen
eines Verbrechens oder -eines nach den Landesgesetzen
mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahre bedroh-
ten Vergehens handelt'*. (Siehe Art. 5.)
Gemäss dem fast allgemein geltenden Grundsatze,
den Konsuln gegenseitig Befreiung von persönlichen Lei-
stungen, direkten Abgaben und Steuern zuzugestehen,
bestimmt Art, 6, dass 'die Konsuln (die Berufsb^amte
sind) 3) mit Einschluss ihrer Beamten zunächst von den
in der Türkei besonders schwerwiegenden Militärlasten
befreit sein sollen, welche Vergünstigung sich jedoch nicht
auf Grundstücke erstrecken soll, die nicht zum Konsular-
dienst oder zu Wohnzwecken der Konsularbeamten be-
nützt werden sollen. Desgleichen sollen diese Beamten
von allen direkten Personal-, Mobiliar- und Luxussteuern
befreit sein, mögen solche vom Staate oder von anderen
Verbänden des öffentlichen Rechts erhoben werden. (Vgl.
den deutsch-türkischen Vertrag vom 26. August 1890,
Art. 10.)
Ebenso wie die persönliche Unantastbarkeit der Kon-
suln nur durch besonderen Vertrag oder Herkommen ver-
einbart werden kann, wird auch über die Befreiung von
der Gerichtsbarkeit des Aufenthaltsstaates durch geeig-
nete Abmachungen bestimmt.*)
1) „Unter Berutsbeamten im Sinne dieses Artikels sind Be-
amte zu verstehen, die ihre gesamte berufliche Tätigkeit ihren
Amtsgeschäften widmen, die also in dem Lande ihres Amtssitzes
weder Handel noch Gewerbe treiben, noch eine sonstige Erwerbs-
tätigkeit ausüben." (siehe Reichstagsdenkschrift S. 174).
2i Selbstverständlich dürfen aber diese Räume mit Einschluss
des Konsularbootes nicht als Asyl benützt werden.
3) Sind jedoch diese Konsularpersonen keine Berufsbeamte,
so werden sie zu militärischen Lasten herangezogen, falls sie ein
Handelsgeschäft oder ein Gewerbe betreiben (s. Art. 6, Abs. 1 u.2).
4) Vgl. Liszt 1913, Seite 128. Siehe auch G. V. G. ^5 21, wo-
durch jegliches Gewohnheitsrecht hinfällig wird. Diese verschie-
d entlich ^ugeschräakle iuid bedingte ßeireiung der Konsuln von
der Staatsgewalt des Empfangsstaates geschieht hauptsächlich, um
dieselben nicht durch willkürliche Verhaftung und andere Mass-
regeln in ihrer Amtsführung zu behindern.
— 164 -
Dementsprechend be&timnjt Art. 8, 4as6 ciie beider-
seitigen Kojisuln in Ansehung ihrer amtlichen Tätigkeit
der Landesgerichtsbarkeit überhaupt nicht i^nterworfeij
sein sollen und Bes.ch werden gegep sie nur ai^f diplp-
motischem Wege m erfolgen hab^n. >^ie in den meisten
Konsuhirverträgen vvurde auich in den» vorUegcnden
deutsch-türkischen Vertrage ausdrückUch eine Zeugnis-
pfhcht der Konsuln festgestellt. Gemäss Art. 10 sind die
Konsuln auf amthche Aufforderung der Oerichtsbehördeii
zur Zeugnisablegung verpflichtet, wovon sie nur dann
bis zum Eintreffen der Genehmigung ihrer eigenen Re-
gierung befreit sein sollen, falls die verlangte Auskunft
Vorgänge betreffen sollte, die in der amtlichen Tätig-
keit de*- Konsuln ihrf Grundlage hab^n.
Sollte der Konsul durch irgendwelche Umstände an
seinem Erscheinen zur Vernehmung verhindert sein, so
erfolgt dieselbe, falls er die Staatsangehörigkeit seines
Absendestaates besitzt, in seiner Wohnung oder auf
schriftlichem Wege. Ein« weitere Folge der den Kon-
suln zugesicherten Unverletzlichkeit ist die Bestimmung
des Art. 9, dass die Konsuln von der Personalhaft in
Zivil- und Handelssachen befreit sein sollen, welche
Vergünstigung sich auch auf die Untersuchungshaft in
Strafsachen erstreckt, falls sie dem Ernennungsstaate an-
gehören. ') Den übrigen Konsularbeamten wird kein
solches Vorrecht eingeräumt, aber auf Antrag des Vor-
standes der Konsularbehörde kann die Personal- und
Untersuchungshaft bis zur Dauer eines Monats ausge-
setzt werden. Letztere aber auch nur, wenn die Beamten
Angehörige des Ernennungsstaates sind, und es sich nicht
um eine in Art. 5 Abs. 2 bezeichnete Straftat handelt.
(Siehe Seite 154 Anm. 1.)
Für den Fall des Ablebens eines Konsuls hat nach
Art. II sogleich seitens der Ortsbehörde in Gegenwart
eines Konsularbeamten die Versiegelung des Archixs
stattzufinden, wodurch man einem Missbrauch oder cinetn
Abhandenkommen amthcher Papiere vorbeugen will.
Deshalb hat bei der Uebergabe des Konsulararchivs an
den Amtsnachfolger die Entsiegelung in gleicher Weise
zu erfolgen.
1) Hinsichtlicli der Untersuchungshaft findet „jedoch eine
solche Vergünstigung nicht statt, falls es sich um die Verfolgung
wegen eines Verbrechens oder eines nach den Landesgesetzen
mit Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahre bedrohten Vergeh^ens
handelt." (s. Art. 5. Abs. 2).
— ]5ß —
Die jeweiMgen Vertreiter eines Generalkonsul?, Kon-
suls u, s. w. sollen die gleichen Vorrechte wie dieser
geniessen. Für Vertreter, die nicht Berufsbeamte sind,
gilt jedoch wieder die allgemeine Einschränkung, da*s
sie zwar die gleichen Ehren wie die Berufsbeaniten,
„aber nur die Vorrechte und Befreiungen der Wr^hlbe-
amten geniessen sollen*'. (Siehe Art. 13.)
Trotzdem nyn, wie yiir gesehen haben, die Vorrechte
und Befreiungen der beiderseitigen Konsuln genau um-
grenzt wurden, fügte man 4och, wie dies fast aljgemein
gebräuchlich ist, i)- im Art. 12 die Meistb,egünstigungs- '
klausel hinzu^ die bestimnit, dass die Konsularbeamten -)
^edes der vertragschlijessenden Teile . . . a,usserdem alle
Vorrtchte und Befreinngen geniessen sollen wie die
Konsularbeamten gleicher Art und gleichen Ranges der
meistbegünstigten Nation'*,
Im übrigen ist noch zu bemerken, dass alle hier be-
handelten Vorrechte und Befreiungen sich gemäss dem
allgemeinen Völkerrecht keineswegs auf die Familien-
mitglieder des Konsuls erstrecken und auf die Konsular-
beamten nur dann, wenn sie in Vertretung des Konsuls
die Amtsgeschäfte führen, oder ihre Rechte genau um-
schrieben werden. ^)
Gegenüber diesen Rechten sind jedoch dem Konsul
auch die verschiedenartigsten Pflichten auferlegt, die in
dem deutsch-türkischen Konsularvertrage unter dem Titel
„Konsularische Amtsbefugnisse** zusammengefasst vyer-
den.
Dieser Abschnitt enthält zunächst in einem einleiten-
den Art. 14 die allgemein anerkannte völkerrechtliche
Bestimmung, dass die Konsuln*) „die Rechte und Inter-
essen der Angehörigen ihres Landes wahrzunehmen, ins-
besondere deren Handel und Schiffahri: zu schützen und zu
fördern** haben. Neben dieser Bewachung der wirt-
schaftlichen Interessen ihrer Landsleute wurde ihnen aber,
wie dies bereits in verschiedener! anderen Verträgen ge-
schehen ist, ein über die Gegenwartsbestimmungen der bei-
1) Vergl. die Verträge zwischen dem Reiche ijnd Peru betref-
fend die Stellung der deutschen Konsuln in Peru und der peruani-
schen Konsuln in Deutschland vom 28. Juni 1897 (R. G. Bl. 1899
S. 662.)
2) Der Ausdruck Konsulatbeamte ist „im weitesten Sinne zu,
verstehen; er umfasst daher das gesamte Konsulatspersonal.*
(s. Denkschrift zu Art. 12 S. 176).
3i Vergl. Liszt 1913 S. 127.
4) D- h. die Generalkonsuln, Konsuln, Vizekonsuln und Kon
sularagenten.
— 156 —
■dcrseitigeii Verträge hinausgehendes Einspruchsrecht ge-
währt. ^) „Sie können in Ausübung ihrer Amtsbcfug-
nissc sich an die Behörden in ihrem Amtsbezirk wenden,
auch bei diesen wegen jeder Verletzung der zwischen den
beiden Teilen bestehenden Verträge und Vereinbarungen
oder der allgemeinen ürundsätze des Völkerrechts Ein-
spruch erheben." (Siehe Art. 14 Abs. 2.) Diese Be-
stimmung ist besonders für die orientalischen Verhält-
nisse von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die
dort lebenden deutschen Untertanen.
Neben diesem Einspruchsrecht ist dem Konsul vor
allem die freiwillige Gerichtsbarkeit in weitgehendem
Masse erhalten geblieben. Wir können nämlich im Kon-
sularvertrage selbst gleichsam drei Sonderverträge be-
obachten, nämlich ein Notariatsabkommen, ein Vormund-
schaftsabkommen und ein Nachlassabkommen.
Art. 15 regelt eingehend die notariellen Befugnisse
der Konsuln, wie die Entgegennahme von Erklärungen,
Beglaubigung von Urkunden, insbesondere von letztwil-
ligen Verfügungen. -) Alle so aufgenommenen einseiti-
gen Rechtsgeschäfte und Verträge sollen „als öffentliche
oder öffentlich beglaubigte Urkunden angesehen wer-
den und dieselbe rechtliche Wirkung und Beweiskraft
haben, als wenn sie von einem öffentlichen Beamten des
Landes aufgenommen, bestätigt oder beglaubigt wä-
ren". 3) Nicht aufnehmen, bestätigen oder beglaubigen
darf der Konsul einseitige Rechtsgeschäfte oder Ver-
träge, „bei denen einer der Beteiligten als Eigentümer
eines im Lande des Amtssitzes gelegenen Grundstückes
handelt, sowie solche, für die nach Landesgesetzen die
Mitwirkung von Richtern oder von bestimmten öffent-
lichen Beamten unerlässlich ist".
1) Vergl. die Konsularkonvention zwischen dem Reiche und
den Vereinigten Staaten von Amerika vom 11. Dezember 1871
(R. G. Bl. 1872 S. 95j Art. 8.
2) Bei dem Notariatsabkommen entfällt auch die Einschränkung
hinsichtlich des Grundeigentums insofern, als auch dieses bei der
Testamentserrichtung in dem Bereich der konsularischen freiwilligen
Gerichtsbarkeit gehört, (s. Kriege in Reichstag vom 10. Mai 1917
S. 3200 .
Vgl. auch den deutsch-schweizerischen Vertrag vom 14. Februar
1907 R. G. Bl. S. 411.
3) Diese Bestimmung bezieht sich jedoch nicht auf die Voll-
strtickburkeit der Urku^ulen für die vielmehr die Lae^tesgesetze
massgebend sind. (Vergl. ?5 794 Nr. 5, § 415 und § 418 der deut-
schen Zivilprozessordnung )
— 157 —
Auf alle Fälle unterliegi.Mi jedoch solche Verhand-
lungen und Schriftstücke den gesetzlichen Abgaben, die
„sich auf ein in diesem Lande auszuführendes Geschäft
beziehe^**. (Vgl. hiezu das den Behörden bedeutend
grössere Vergünstigungen einräumende türkische Stem-
pelgesetz von 1894.)
In den Bereich der konsularischen notariellen Tä-
tigkeit fallen ferner alle einseitigen Rechtsgeschäfte und
Verträge, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der
Beteiligten, sofern ihre Ausfülirung im Gebiete des Er-
nennungsstaates erfolgen soll. (Siehe Denkschrift S. 177.)
Die freiwillige Gerichtsbarkeit der Konsuln erstreckt
sich' ferner in Sachen des Personenstandes auf die Ehe-
schliessung zwischen Verlobten, die beide dem Absende-
staat des betreffenden Konsuls angehören (Art. 1), fer-
ner auf die Vormundschaft und Pflegschaft, auf die Ord-
nung des Nachlasses eines verstorbenen Staatsangehö-
rigen und auf die Sorge für die Hinterbliebenen.
Bezüglich des Vormundschafts- und Pflegschaf^fe-
rechts ist dem Konsul die Stellung eines Vormundschafts-
richters verblieben. Auch hier ist der türkischen Rechts-
anschauung weitgehendst entgegengekommen worden,
indem überall da, wo das Vermögen der unter Vormund-
schaft oder Pflegschaft zu stellenden Person Grundeigen-
tum umfasst, eine Mitwirkung der Landesbehörden ver-
einbart ist.
Dementsprechend sind auch bei der Verwaltung die-
ser Liegenschaften die betreffenden Landesgesetze zu be-
obachten, wonach für die Einleitung und Aufhebung einer
Pflegschaft eine öffentliche Bekanntmachung erforderlich
ist, um den Familienmitgliedern und den Gläubigern Ge-
legenheit zur Kenntnisnahme zu bieten.
Art. 18 regelt ferner in seinen verschiedenen Para-
graphen auch insbesondere Konipetenzkonflikte zwischen
den deutschen und türkischen Behörden und umfasst
ferner die Vormundschaftsbestimmungen über entmün-
digte Volljährige. Interessant ist hiebei die Bestimmung
im § 3 dieses Artikels. NVie noch zu behandeln sein
wird, bestimmt Art. 2 Absatz 1 des deutsch-türkischen
Vertrages über Rechtsschutz und Rechtshilfe in bür-
gerlichen Angelegenheiten, dass die Entmündigung eines
Volljährigen der Gerichtsbarkeit seines Landes vorbe-
halten bleiben solle, deren über Entmündigungssachen er-
g'ehende Entscheidungen im anderen Staate anzuer-
kennen sind. Beim Vorliegen der im obigen § 3 ent-
— 158 —
halterrcn V^oraussetzungeii ^) kann jedoch die Landesge-
richtsbarkert des Empfangsstaates über die Entrhündi-
^Tung eines Angehörig"en des anderen Landes be-
schliessrerr, wobei es aber der Gerichtsbarkeit *!es Ab-
sen^lestaates vorbehalten W'eibt, ern die Entmündigung
seines Angehörigen aussprechendes oder ablehirendes
Lirteil zu erlassen. ')
Hinsichflkh des Nachlassabicommens erreichte es
die türkische Regierung, dass ihr in Ansehung des son-
stigen Besitzes ein jeweils verstärktes Mitwirkungs^echt
(falls eiil Türke z, B. Miterbe oder Nachlassgläubiger
ist), bei Grundstücken aber die vollkommene Gerichts-
barkeit vorbehalten bleibt -)
Zunächst vvH-d in dem für den Nachlass in Betracht
kommenden Art. 19 § 1 bestimmt, dass die Ortsbehörden
den Konsul vom Ableben eines Staatsangehörigen seines
Absendestaates in Kenntnis zu setzen haben, wozu noch
kommt, dass die gleiche Pflicht die Konsularbehörde
trifft. Der Konsularbeamte hat dann in Gegenwart der
Ortsbehörde den Nachlass y.u versiegeln oder zu ent-
siegeln."') Die Anwesenheit dieser Ortsbehörde ist nur
dann nicht erforderlich, wenn sie auf Einladung ihr Er-
scheinen unterlässt. Gemäss den allgemein geltenden
Bestimmungen des Völkerrechts kommt für das anzu-
wendende Erbrecht, sowie für die Teilung des Nachlasses
die Gesetzgebung des Landes des Verstorbenen zur An-
wendung. (Vgl. hierzu im Gegensatz die Bestimmungen
des § 15, der hinsichtlich des Grundbesitzes wieder an
den alten türkischen Rechtsanschauungen festhält.)
1) Versäumung der nach Bekanntgabe der Pflegschafts- oder
der Entmündigungsnotwendigkeit verbleibenden Einleitungsfrist von
4 Monaten. Diese gemäss Art. 18 § 2 vorgesehene Benachrichti-
gung des deutschen Konsuls durch die osmanischen Ortsbehörden
ist als Entmündigungsantrag im Sinne des >? 646 Abs. 2 und § 680
Abs. 2 der d. Z. P. O. anzusehen und durch den Konsul dem zu-
ständigen deutschen Amtsgerichte mitzuteilen. (S. § 3 des Aus-
führungsgesetzes S. 208 der Denkschrift.)
2) Vergl. die deutsch-russische Nachlasskonvention vom 12.
November;31. Oktober 1874 (R. G. Bi. 1875 S. 136) Art. 10 und
Art. 14 des deutsch-japanischen Vertrages von 1906.
3) Neben der Versiegelung kommt auch nach dem deutsch-
tiirkischen Vertrage in Betracht die Aufstellung eines Inventars,
die Verwahrung, Verwaltung und Hinterlegung der Nachlassgegen-
stände. Ferner ist für die Aufbietung der Nachlassgläubiger Sorge
zu tragen und die Kosten der Krankheit und des Begräbnisses des
Verstorbenen u. a. m. zu bezahlen.
— .1^
Bezüglich des ürufidbesitzes finden übrige:is die
Bestimmungen der §§ 2—14 des Art. 10 keine Anwen-
dung. (Siehe § 16.)
Was die Sorge iüt die Hinterbliebenen betrifft, so
hat der Konsul die Erben zu verfrefen, wozu es nach
gemeinem Völkerrecht keiner weiteren Vollmacht be-
darf und den Nachlass an dieselben auszufolgen.
Weiterhin wurde den Konsuln die Hafenpoüzei zu-
gestanden (siehe Art. 20 und 22), wozu ferner kommt,
dass sie bei einer üntersuchungshandlung (Durch-
suchung, Beschlagnahme, Verhaftung, vorläufige Fest-
nahme, Vernehmung), einer Zwangsvollstreckung od'er
einer anderen Handlung einzuladen sind. ^) Ihr Nicht-
erscheinen oder Entferntsein hat dann die oft erörterten
übhchen Folgen in der Hinsicht, dasS die türkischen Be-
hörden selbständig vorgehen. (Siehe Art. 21.)-')
Gemäss der dem Konsul auch nach allgemeinem
Vertragsgebrauch zustehenden Seepolizei kann er zu-
folge Art. 23 des Konsularvertrages desertierte Schiffs-
mannschaften festnehmen lassen. Für diesen Fall hat
er sich durch schriftliches Ersuchen an die Ortsbehörde
zu wenden, die nach Ueberprü^mg der angegebenen
Daten die Auslieferung veranlassen kann.* Die Ucber-
gabe des Deserteurs unterbleibt jedoch, falls nachge-
wiesen werden kann, „dass die entwichene Person ein
Landesangehöriger ist". (Vgl. hierzu r'ie ganz allgemein
geltende Regel im Auslieferungsvertn.ge.) Hinsichtlich
des letzten Punktes ist der deutsch-japanische Konsular-
vertrag vom 4. April 1906 bedeutend klarer. Art. 17
Abs. 2 dieses Vertrages bestimmt, dass die Deserteure
auf ein begründetes Gesuch auszuliefern sind, „voraus-
gesetzt, dass dieselben weder zur Zeit ihrer Einschiffung
noch zur Zeit ihrer Ankunft im Hafen Angehörige des
Landes sind, wo das Ausiieferungsverlangen gestellt
wird''. Im übrigen sind fast alle bisher behandelten Be-
1) Gemäss Art. 21 Abs. I Satz 3 dar! die Benachrichtigung
des Konsularbeamten auch bei obiger Lage des Amtssitzes unter-
bleiben (s. S. 159 Anm. 2.) falls Gefahr im Verzug ist. „Gefahr
im Verzuge im Sinne dieser Bestimmung ist anzunehmen, wenn
die mit der Benachrichtigung des Konsuls verbundene Verzöge-
rung den Lauf der Rechtspflege in Zivil- oder Strafsachen oder
die Rechte der Beteiligten gefährden würde." (s. Denkschrift S. 181 ).
2) „Im Sinne dieser Bestimmung ist nach der Auffassung
beider Vertragsschliessenden Teile der Amtssitz eines Konsuls als
in der Nähe des Hafenorts gelegen anzusehen, wenn die Hin- und
Rückreise bei Benutzung der gewöhnlichen Verkehrsmittel läng-
stens an einem Tage ausgeführt werden kann." (s. Denkschrift S. 181).
— IGO —
Stimmungen diesem deutsch-japanischen Vertrage ganz
ähnlich.
Auch im deutsch-türkischen Vertrage finden wir im
Art. 23 die Anordnung, dass der verhaftete Deserteur
nach Ablauf von 2 Monaten, binnen welcher Frist sich
die Konsularbehörde um eine Abschubmöglichkeit umzu-
sehen hat, freigelassen und nicht mehr gefangen gesetzt
wird.
Wie wir in der Geschichte der Kapitulationen aus-
führten, hatten früher die Kaulleute das Recht, für ihre
durch Schiffbruch an den Strand geworfenen Waren Zoll-
freiheit zu verlangen, sofern dieselben an einem anderen
Bestimmungsort abgehen «sollten.
Diese Vergünstigung wird gemäss diesem neuen
Vertrage nur, insoweit gewährt „als sie (d. h. die Waren)
nicht nach Massgabe der geltenden Zollbestimmungen
in den inneren Verkehr übergehen".
Der dem Art. 18 des deutsch-japanischen Vertrages
vollkommen entsprechende Art. 25 regelt die Berechnung
der Havarie, die je nach der Nationalität der Beteiligten
vom Konsularamt oder den Landesbehörden festgesetzt
wird.
iX^ie in den meisten Verträgen spielt auch in dem
vorliegenden deutsch-türkischen Konsularvertrage zufolge
dessen ausserordentlichen Bedeutung für die Auslands-
deutschen die Meistbegünstigungsklausel eine bedeut-
same Rolle. ^)
Wie für die konsularischen Vorrechte Hess sich
Deutschland auch für die Amtsbefugnisse der Konsuln
das Recht der Meistbegünstigung gewähren. Art. 26'
bestimmt dementsprechend, dass die Konsularbeamten
beider Staaten die gleichen Amtsbefugnisse ausüben kön-
nen, „wie die Konsularbeamten gleicher Art und glei-
chen Ranges der meistbegünstigten Nation*'.
Nach den üblichen Ratifikationsbestimmungen wird
zum Schlüsse des Vertrages noch' bestimmt, dass er sich
nicht auf die deutschen Schutzgebiete zu erstrecken habe
(hierfür wurde ein besonderer Vertrag abgeschlossen,
siehe weiter unten) und dass seine Dauer zwanzig Jahre
betragen solle. '^)
1) Bezüglich der Meistbegünstigungsklausel ist zu bemerken,
dass England nach den neuesten Meldungen die Meistbegünstigungs-
klausel in den Handelsverträgen abzuschaffen beabsichtigt. Siehe
Münchner Neueste Nachrichten vom 26. VII. 1918 71. Jahrg. Nr. 372.
2) „Die Dauer des Vertrages ist auf zwanzig Jaiire bemessen,
damit das dadurch begründete neue Rechtssvstem sich genügend
einleben kann." (s. Denkschrift S. 183).
— 161 —
II.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und dem
Osmanischen Reiche über Rechtsschutz und gegen-
seitige Rechtshilfe in bürgerlichen Angelegenheiten.^)
Eine der segensreichsten Wirkungen des Solidari-
H p^r"^!*'""' "^'^ Kulturstaaten ist die Ancrke«
der Ptl.cht, einander in der Erfüllung der Aufaab "n d^
n(5.1n 'ßeT T'^' h" ''''''''' '^ "^^^^^ d^^ ausserordent-
lichen Bedeutung dieser Frage beruhte diese eioentlirh
selbstv-erstandliche Pflicht zunächst nur auf blosser Höt-
chke,i,nd erst die holländische Regierung 'ingdaV^n
al mahhch eine feststehende Rechtsp^icht a^us^zuarbei e "
s hen Re?l, r'^'"/''" ^"' '^^'^^^^"^ ^^^ niederländi-'
sehen Rechtslehrers Asser wiederholt Konferenzen nach
dem Haag zusammenberief. -) cicnzen nacn
v.hi ^?i ^^'- ^.""^^^^^'^ geJa»S es auch, die grosse Mehr-
zahl der zivilisierten Staaten zur Unterzeichnung eine,
entsprechenden Abkommens zu bewegen ohne dass man
lahre 1905 f'' ^.- türkische Re^ich wenigstens" n
Jahre 1905 heranzuziehen. Als jedoch das Deutsche
Reich daran ging, die bisher nur dem Namen nach be
stehende Gleichstellung des osmanischen Reiches nS
den christlichen europäischen Staaten auch in die Ta
umzusetzen schritt man ebenso wie zum Abschlüsse des •
bereits behandelten Konsularvertrages zur Uterzeich-
nung eines Rechtsschutzabkommens • ^"^^^^^eicti ^.
.i.c A^ '''^ Anerkennung des türkischen Standpunkten
dass das osmanische Staatswesen bereits so vveit g^:
denken '.7/ l-T '' ''"' ?^^^^«""^ der Kapitulation!,
denken zu können, musste von selbst die einzig möa-
hcne Konsequenz gezogen werden, die darin bestand*
die bisher privilegierte Stellung der Fremden im os-
manischen Reicne endgültig abzuschaffen und dieselben
in zivilprozessualer Beziehung gleichfalls den Landes-
gerichten zu unterstellen und so in die gleiche Lage
wie die türkischen Untertanen zu versetzen. (Art. 1.)
uoo^ Ri? nunmehr zu behandelnden Vertrage ist vor allem das
Haager Abkommen über den Zivilprozess vom 17. Juli 1905 R^ ßi
b. 409) zugrunde gelegt worden. ^ ^K.u.tJi.
2) Siehe Ullmann Völkerrecht 1908, S. 377.
3) Die Bestimmung dieser Konferenzen war die AufstPllima
gernemsamer Rechtssätze über eine Reihe von Fragen des fnter?
nalionalen Privat- und Prozessrechtes." (vgl. Liszt^TgiS S. 24L>
11
— 162 —
Gleich dem Haagcr zivilprozessualen Abkommen wird
auch hier die Personalliaft in Zivil- oder Handelssachen
„als Mittel der Zwangsvollstreckung oder als Sicherungs-
massregcl" für statthaft erklärt und gemäss Art. 3 die
Ausländerkaution abgeschafft. Unbeschadet dieser Be-
stimmung ist jedoch in den folgenden Artikeln die Exe-
kution der Urteile, soweit sie sich auf Kostenentschei-
dungen erstreckt, zugelassen. (Vgl. Art. 17 — IQ des
Haager zivilprozessualen Abkommens von 1905.)
Die Art. 6 und 7 regeln Bestimmungen des auch
in verschiedenen anderen völkerrechtlichen Verträgen
gewährten Armenrechts und zwar auf der Grundlage der
Gegenseitigkei-t. (Vgl. Art. 20 — 23 des Haager zivil-
prozessualen Abkommens.)
Gemäss der hervorragenden Bedeutung der familien-
rechtlichen Entscheidungen (Eheschliessung, Scheidung,
Nichtigkeit, Anfechtung der Ehe), ferner der Entschei-
dung über die Geschäftsfähigkeit, kamen die Vertrags-
schliessenden Staaten überein, Urteile vorstehender Art
„den zuständigen Gerichten oder den sonst zuständigen
Behörden ihres Heimatsstaates vorzubehalten'*. (Vgl.
hiezu die Beratungen der 4. Haager Konferenz im Jahre
1904 und die zwei familienrechtlichen Konventionen vom
17. Juli 1905.) 1)
Eine Entscheidung der Landesgerichte über einen
derartigen Fall kann nur dann erfolgen, wenn er als
.Inzidtntpunkt „im Laufe des vor ihnen schwebenden Pro-
zesses** in Betracht kommt. Das Urteil hat aber nur
für die entschiedene Streitsache und nur für die betreffen-
den Parteien Rechtskraft.
I. Abschritt: Gegenseitige Rechtshilfe in bürger-
lichen Angelegenheiten.
In dieses Gebiet fallen vor allem die Zustellungen
gerichtlicher und aussergerichtlicher Urkunden und das
Ersuchen um Rechtshilfe,
einen Teils die Erledigung von Zustellanträgen und Er-
Art. 8 und 10 bestimmen, dass die Behörden des
1) Diu deutsche Regierunj,' sah sich genötigt, auf diesen Aus-
nahmen zu bestellen, da die türkische Rechtsprechung in diesen
Fällen noch immer durch geistliche Behörden geübt wird und die
türkische Regierung in ihrem Gesetz über Rechte und Pflichten
der Ausländer vom 23. Februar 1915 (siehe Strupp Aktenstücke
S. 316 ff.) selbst teilweise auf eine Zuständigkeit der Landes-
behörden in solchen Fällen verzichtete.
i
— IGi -
-suchen der Behörden des anderen Teils vorzunehmen
Aaben, sofern sie nicht ihre örtliche Unzuständigkeit
unverzüglich dem Konsul zur Kenntnis bringen können.
(Vgl. Art. 12 und 13 des Haager zivilpr. Abk.)
Im Art. 12 sehen wir ausdrücklich bestimmt, dass
die Gerichtsbehörde, an die gerichtliche Ersuchen ge-
stellt werden, bei der Erledigung eines solchen Ersuchens
-dieselben Zwangsmittel anzuwenden hat, „wie bei der
Erledigung eines Ersuchens der Behörde des ersuchten
Teils oder eines zum gleichen Zwecke gestellten An-
trags einer beteiligten Partei*', i)
Bemerkenswert ist ferner, dass nur die konsularische
Vermittlung-) zugelassen ist, während die diplomatische
Inanspruchnahme nur bei solchen Schwierigkeiten er-
folgt, „die etwa aus Anlass eines Zustellungsantrags des
Konsuls oder eines durch ihn übermittelten Ersuchens-
schreibens entstehen*'. (Vgl. Art. 13, Abs. 2 des Ver-
trages.) Der diplomatische Weg ist ferner nur in den
Fällen zu wählen, wo an dem Orte, an dem ,,die Zustel-
lung zu bewirken, oder das Ersuchen zu erledigen ist,
ein Konsul des ersuchenden Teiles nicht zuständig ist".
Zur Festsetzung eines unmittelbaren Verkehrs zwi-
schen den beiderseitigen 'Staaten, wie ihn bereits das
Haager zivilprozessuale Abkommen Art. 1 und 9 vor-
sah, und wie er auch zwischen verschiedenen Nachbar-
staaten bereits eingeführt worden war, konnte trotz der
guten Beziehungen zur Türkei nicht geschritten werden,
weil die Verschiedenheit der Sprache zu grosse Schwie-
rigkeiten verursacht hätte. Um diese sprachlichen Hem-
mung'en möglichst zu beseitigen, bestimmt bereite Art. 9
Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 (vgl. Art. 5 Abs. 2 Nr. 3
und Art. 8, Abs. 1), dass dem Schriftstücke regelmässig
eine Uebersetzung in der Sprache des ersuchten Teiles
beigefügt sein muss. ^)
Nach der dem Reichstage vorgelegten Denkschrift
(siehe dort S. 186) besteht übrigens die Absicht für die
ersten 5 Jahre des Vertrages auch französische Ueber-
setzungen für den Rechtshilfeverkehr zuzulassen.
1) Vgl. hierzu den ganz gleichen Wortlaut des Art. 11 Satz 1
des Haag. Zivilpr.-Abk. vom 17. Juli 1905.
2) Bereits im Artikel 9 Abs. 2 des Haag. Zivilpr.-Abk. wurde
. bestimmt, dass Ersuchensschreiben durch den Konsul erledigt
werden, wenn es auch den betreifenden Staaten freisteht, den
diplomatischen Weg zu wählen, (s. auch daselbst Art. 1, Abs. 1.)
3) Vgl. Haag. Zivilpr-Abk. 1905 Art. 3 und 10.
— lo4 —
Aehiilich dem Haag^er zivilprozessualen Abkonnnv.n
Art. 4 und 1 T Abs .3 kann gemäss Art. 14 dieses Ver-
trages die Erledigung van Zustellungsanträgen und Er-
suchen abgelehnt werden, „wenn der Teil, in desseni
Gebiete die Erledigung stattfinden soll, sie für geeignet
hält, seine Hoheitsrechte und seine Sicherheit zu ge-
fährden''.
Ein weiterer Ablehnungsgrund ist aber auch die
Ungewissheit über die 'Echtheit der Urkunde und das
Fehlen des notwendigen Machtbereiches der Gerichts-
gewalt des ersuchten Teiles. (Vgl. Haager zivilpr. Abk.
Art. 11, Abs. 3 Nr. 1 und 2.)
Im übrigen bestimmt noch Art. 15, dass Ersuchen
und Zustellungen „im Gebiete des anderen Teils, in allen
Fällen, wo es sich nicht um dessen Angehörige handelt,
ohne Anwendung von Zwang" durch die diplomatischen
oder konsularischen Vertreter unmittelbar bewirkt wer-
den können.
Die nun folgenden Bestimmungen über Ratifikation
und Dauer des Vertrages gleichen vollständig den be-
reits aus Anlass der Erörterung des Konsularveiirages
angeführten Artikeln.
III.
Auslieferungsvertrag zwischen dem Deutschen
Reiche und dem Osmanischen Reiche.
Die Auslieferung, die eigentlich der wichtigste
'Rechtshilfsakt auf dem Gebiete des Strafrechts ist, wurde
in dem deutsch-türkischen Vertrage besonders eingehend
geregelt»
Art. 1 enthält entsprechend dem deutsch-bulgari-
schen Vertrage die gegenseitige Verpflichtung, auf Er-
suchen „Personen auszuliefern, 'die wegen eines- der im
Art. 2 bezeichneten Verbrechen und Vergehen als Täter
oder Teilnehmer zur Untersuchung gciogen und verurteilt
sind''. Die hierbei aufgezählten, zur Auslieferung ver-
pflichtenden Verbrechen und Vergehen wollen wir wegen
ihrer mannigfachen Eigenart tmer kurzen Darsteilur.g
unterziehen.
Zunächst müssen wir oedenken, dass bei der Auf-
zählung dieser einzelnen Vergehen neben dem deutschen
Str.G.B. auf die "türkischen Gesetze Rücksicht zu nehmen
war, da diese von unseren Bestimmungen vielfach ab-
weichen.
— K6 —
So wird z. B. „die vorsätzliche Beibringung von
Gift oder anderen zur Schädigung der Gesundheit ge-
eigneten Stoffen'' (Art. 194 des türkischen 'Str.G.B.) für
verfofgbar erklärt und die „Teilnahme an einer Schlä-
gerei, wodurch der Tod oder eine schwere Körperver-
letzung verursacht vvird^' zu einem auslieferungswürdigen
Delikt erhoben. (Siehe Art. 2 Nr. 4.) Diese letzter- Be-
stimmung sehen wir in keinem der bisherigen Ausliefe-
rungsveriräge des Deutschen Reiches erwähnt und sie er-
klärt sich nur aus den türkischen Rechtsanschauungicn,
die überefnstimmend mit § 227 des deutschen St.G.B.*
auch die Teilnehmer an einer solchen Schlägerei für straf-
bar haltenJ) (Siehe türkisches St.G.B. Art. 180.)
Art. 2 Nr. 7 erwähnt ganz allgemein die „Ent-
führung einer volljährigen Person wider ihren Willen".
Dies hat seinen Grund darin, dass nach türkischem Recht
auch die Entführung männlicher volljähriger Personen
unter Strafverfolgung gestellt wird. (Siehe Art. 206 des
türkischen St.G.B. und Denkschrift S. 187., vgl. auch
§^ 234—236 d>eutsches St.G.B.)
Bezüglich der unter Art, 2 Nr. 8 erwähnten „Ver-
brechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" ist zu er-
wähnen, dass die Doppelehe, die ja nach türkischem
Recht keinen strafbaren Tatbestand darzustellen ver-
mag, von den ottomanischen Behörden nur dann als
Auslieferungsdelikt betrachtet wird, „wenn die zweite
Ehe in Deutschland oder in einem dritten Lande, wo die
Doppelehe bestraft wird, geschlossen worden ist". -)
Charakteristisch für diesen Vertrag ist ferner der
neu eingeführte Begriff der Wegelagerei (siehe Art. 2
1) Jedoch mit der Einschränkung, dass eine Bestrafung unter-
bleibt, falls der eigentliche- Urheber der Tötung oder Körper-
verletzung gefunden wird. Hinsichtlich der Auslieferungspflicht
ist noch nachzutragen, dass sich dieselbe auch auf Fälle des Ver-
suchs und der Mitschuld erstreckt, wenn die Voraussetzungen, die
Handlungen als Auslieferungsdelikte anzusehen, gegeben sind.
2) „Mit der materiellen Grundlage der Auslieferungsidee hängt
es zusammen, dass in der streitigen Frage, nach welchein Recht
der Auslieferungscharakter der dem auszuliefernden Individuum
zur Last gelegten JM m beurteilen sei, ülierwiegende Qründe für
die Forderung sprechen, dsss die Tat nach den Gesetzen l)ei<Jer
Staaten strafbar sei." (Ullmsnn 1908, S. 396.) ,Die Auslieferung
findet nur statt, wenn die Handlung nach dem Gesetze beider
Staaten, des Ersuchenden und des Ersuchten ^tr^fb^r ist; ^ie wird
nicht gewährt, wenn die Strafbarkeit nach dem Recht des einen
oder des andern der beiden Staaten ausgeschlossen oder aufge-
-hoben ist." (Liszt 1913, S. 349)
— 160 —
Nr. 9) und die Aiisserachtlassung einer Bestrafung für
die Wiederinverkehrsetzung bereits verwendeter Wert-
zeichen.
Im übrigen sind nur noch die der fortgeschrittenen
Technil< entsprechend neu eingeführten Tatbestände-
„Verhinderung oder Gefährdung 'des Betriebs von Funk--
spruchanlagen oder einer Rohrpostanlage*' (Art. 20) zu
erwähnen, und ferner 'das Fehlen des Begriffs „fahr-
lässiger Falscheid*', der laut der dem Reichstage vor-
gelegten Denkschrift (siehe dort S. 188) dem türkischen
Rechte fremd ist.
Die weiteren Punkte enthalten nichts Vvesentüch
Neues im Vergleiche zu den Auslieferungsverträgen mit
der Schweiz, den Niederlanden, Bulgarien u. s. w.
Einer bedeutend weitgehenderen Erörterung als die
bisher behandelten Artikel wurde jedoch der 3. Artikel
in der Verhandlung des Reichstags unterzogen, auf den
wir wegen der neuen Bahn, die er zum Teil einschlägt,.
etwas mehr eingehen wollen. Nachdem derselbe Z4-
nächst gemäss dem allgemein geltenden Ausliefcrungs-
prinzip bestimmt, dass \vegen eines politischen Verbre-
chens oder Vergehens keine Auslieferung stattfindet, er-
klärt ein einschränkender zweiler Absatz, dass als poli-
tische Straftat weder deY Angriff auf das Leben eines
Staatsoberhauptes oder der Mitglieder seines Hauses,
noch anarchistische Verbrechen angesehen werden kön-
nen.
Die interessante Streitfrage über eine Begrenzung-
des Begriffs „Politisches Delikt" hat bereits früher zu
mannigfachen Erklärungen geführt, i) und zwar umso-
mehr, als eine genaue Definition dieses Begriffs ziemlich
schwierig zu sein scheint. -) Jedenfalls hat einen be-
deutenden Einfluss auf die Modifizierung des jeweiligen
Auslieferungsvertragstextes hauptsächlich die Verfassung
der betreffenden Staaten, neben welcher natürlich vor
allem die Grösse des Verbrechens in Betracht zu ziehen
\) Vgl. V. Bar: Lehrbuch des internationalen Privat- und
Strafrechts 1892 S. 306 H. Lammasch u Das Recht der Auslieferung
wegen politischer Verbreclien in Holzendorffs Handbuch des
Völkerrechts 1884 Bd. 3 S. 485 ff. (4 Bände;.
2) Vgl. Rivier. principes du droit des gens 2 Bände 1896
Bd. 1 S. 374: „Es ist vorauszusehen, und das wird ein wirklicher
Fortschritt sein, dass man viel weiter gehen wird, und dass -die
Regel der Nichtauslieferung für politische Delikte ä ia foi unitile
et contraire ä Ia conscience juridique moderne verschwinden wird
A. M. Oppenheim: Internationale A treatice 1. Bd. § 338.
— 1G7 —
ist. Man kann doch unmöglich die gemeinsten Mordtaten
ungesühnt lassen, bloss weil sie einem angeblich poli-
tischen Beweggrunde ihre Ausführung verdanken. Es
ist daher durchaus begreiflich, wenn das Institut für
internationales Recht die bisherigen Oxforder Regeln
hinsichtlich der relativen politischen Delikte umänderte.^)
Bezüglich der in Art. 3 Abs. 2 angeführten Atten-
tatsklausel ist nichts besonderes hinzuzufügen, Sie kam
zum erstenmal in Anwendung anlässlich des Attentats
Jules Jacquins auf Napoleon III. (1854)2) und wurde spä-
terhin fast in die meisten Auslieferungsverträge aufge-
nommen. 3)
Des weiteren wurde jedoch, wie bereits erwähnt,
auch eine Anarchistenklausel im deutsch-türkischen Aus-
lieferungsvertrage aufgenommen, die infolge ihrer un-
sicheren Definitionsmöglichkeiten schon im Reichstage
zu langwierigen Auseinandersetzungen führte.
Die den Verträgen beigegebene Denkschrift ei klärt
einfach, dass im Zweifel der ersuchende Teil dem er-
suchten den Nachweis dafür zu erbringen hat, dass ,,eia
Verbrechen oder Vergehen einen anarchististhen Cha-
rakter trägt". ^) „Für die Beurteilung der Frage, was
im einzelnen f^alle als anarchistisches Verbrechen oder
Vergehen anzusehen ist, werden wohl in erster Linie die
Grundsätze anzuwenden sein, die bei den internationalen
Besprechungen über die Bekämpfung anarchistischer Ver-
brechen aufgestellt worden sind."
Nun ist es vollkommen sicher, „dass die damaligen
Auseinandersetzungen und Beschlussfassungen durchaus
nicht vollständige Beruhigung gewähren können" und
demnach bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als sich
auf das gesunde Rechtsgefühl des entscheidenden Rich-
ters zu verlassen. ^) Der Begriff „anarchistisches Ver-
1) Siehe Ullmann 1908 S. 397 Anm. 4.
2) Vgl. belgisches Gesetz' vom 22. 3. 1856 (nicht beigetreten
zu dieser Attentatsklausel England, Italien und die Schweiz.) Die
Schweiz überträgt die Entscheidung, inwieweit ein gemeines Ver-
brechen vorliegt, dem Bundesgerichte (s. Art. 10 des schweize-
rischen Auslieferungsgesetzes von 1892) welche Auffassung immer-
mehr Anhänger zu gewinnen scheint. Vgl. Ullmann 1908 S. 399
Anm. 2 und Oppenheim Bd. 1, S. 337 und 339.
3) Vgl. den gleichen Fall im Vertrag mit Paruguay vom 26.
November 1909. (R.G.Bl. 1915 S. 571) Art. 3, Abs. 2.
4) Siehe Denkschrift S. 188 zu Artikel 3.
51 Diese Ausführungen sind der Rede des Reichstagsabgeord-
neten Professor v. Liszt entnommen. Siehe Reichstag vom 10. Mai
1917 S. 3203. Immerhin muss der Regierung der Vorwurf gemacht
— 168 —
brechen" an und für sich blieb jedoch nach wie vor in
tiefes Dunkel gehüllt und es war dementsprechend leicht
voraus/usehen, dass verschiedent: Abgeordnete ihre Be-
dienken zur Sprache bringen würden. Da jedoch geinäss
der Reichs^verfassung den Abgeordneten kein Abände-
rmigsrecht zustand, begnügte man sich, darauf hinzu-
weisen, dass- das türkische Staatswesen sich auf eine
immer höhere Kulturstufe stelle und gab demgemäss den
Ausführungen von Liszt's Folge.
Nachdem wir nun die Erörterung über diesen Punkt
abgeschlossen haben, können wir uns den folgenden Ar-
tikeli: zuwenderu
Gemäss den allgemein geltenden völkerrechtlichen
Bestimmungen setzt der 4. Artikel fest, dass selbstver-
ständlich keiner der Vertragsschliessenden Teile seine
eigenen Angehörigen auszuliefern verpflichtet sei.
Das Ersuchen um AusHeferung erfolgt gemäss Art. 5
auf diplomatischem Wege und muss von dem erforder-
lichen Haftbefehl nebst einer IJebersetzung in die Sprache
des ersuchten Teils begleitet -ein. i)
Art. 7 enthält ferner Bestimmungen über die vor-
läufige Festnahme, die jedoch nicht länger als 2 Monate
dauern darf.
Abgelehnt kann ein Auslieferungsgesuch werden:
1. wenn die Tat nicht auch nach den Gesetzen des
ersuchten Teils als eines der im Art. 2 bezeicli-
neten Verbrechen oder Vergehen anzusehen ist
(vgl. S. 165 Anm. 2);
2. wenn der nach den Gesetzen des ersuchten Teils
zur Verfolgung erforderliche Antrag des Berech-
tigten nicht gestellt worden ist;
3. wenrt die Handlung im Gebiete eines dritten
Staates begangen und nach den Gesetzen des er-
suchten Teils wegen einer solchen im Ausland
begangenen Handhing die Verfolgung nicht zu-
lässig ist (z. B. dieselbe als Uebertretung gilt);
werden, dass sie keine bestimmte Konferenz nannte, wodurch im
Reichstage Gelegenheit geboten wurde, von verschiedenen Seiten
gleich auf die schlimmsten Vereinbarungen hinzuweisen.
1) Auch hier soll für die ersten 5 Jahre die französische
Sprache noch zugelassen werden
— 169 —
4. wenn die strafbare Handlung oder die erkannte
Strale bei Stellung des Auslieferungsantrags nach
den Gesetzen des ersuchten Teils als verjährt an- .
zusehen ist (vgl. Art. S des Vertrages);')
5. falls die Straftat im Gebiete des ersuchten Teils
selbst verübt worden ist, dort ein Strafverfahren
anhängig ist, 2) oder der Beschuldigte bereits
ausser Verfolgung gesetzt, oder das Verfahren
durch ein rechtskräftiges Urteil geschlossen wor-
den ist (siehe Art. Q oes Vertrages).
Für den Fall einer Konkurrenz von Auslieferungs-
anträgen bestimmt Art. 11, dass dem Antrage der Vor-
zug gegeben werden soll, durch dessen Gewährung den
Interessen der Strafrechtspflege mehr entsprochen wird.
(Diese Bestimmung konnte umso leichter aufgenommen
werden, als die Türkei noch durch keine anderen Verträge
zur Zeit ües Abschlusses dieses Vertrages gebunden war.)
Ferner wurde vereinbart, dass etwaige Verbindlichkeiten,
die der Auszuliefernde im ersuv^hten Staate übernommen
hat, für seine Auslieferung, die an einem zu vereinbaren-
den Grenzorte zu vollziehen ist, kein Hindernis bieten
dürfen. (Siehe Art. 13 des Vertrages.) 3)
Ein'e etwa notwendige Durchheferung erfolgt auf dem
Wege, der den Behörden des ersuchten Teiles als der
geeignetste erscheint. (Siehe Art. 14 des Vertrages.)
Gemäss Art. 16 darf der Ausgelieferte „wegen einer
vor der Auslieferung begangenen strafbaren Handlung
nur insoweit zur Untersuchung gezogen, oder bestraft,
oder an einen dritten Staat ausgeliefert werden, als die
Auslieferung wegen dieser Handlung bewilligt, oder der
Vert'olgung oder Bestrafung ihretwegen von dem er-
suchten Teile zugestimmt ist". Der Auszuliefernde kann
1) Vgl. den deutsch-bulgarischen Vertrag vom 29. 9. 1911
(R.Ü.Bl. 1913, S. 468) und die Denkschrift hiezu (s. Drucksache
des Reichstags 13. Leg. Per. 1. Sess. 1912 Nr. 423 S. 66.
2) Die Auslieferung kann jedoch nicht nur dann verweigert
werden, „wenn beim Eingang des Auslieferungsantrags ein Straf-
verfahren anhängig war, sondern auch dann, wenn das Strafver-
fahren erst nach Stellung des Auslieferungsantrags anhängig ge-
worden ist " (s. Denkschrift S. 190).
3) Es ist hier bemerkenswert, dass nicht mehr von dem „zu-
nächst gelegenen Grenzorte" die Rede ist, wie es in früheren
Verträgen üblich war. Die nunmehrige Formulieruflg verdient den
Vorzug, da hierdurch dem ersuchten Staate Gelegenheit geboten
wird, durch vorhergehende Vereinbarung das Aufsuchen ungünstig
gelegener Grenzorte zu vermeiden. (Vgl. auch Denkschrift S. 19C.)
— 17U —
auch gemäss Art. 17 auf die ihm zustehenden Rechts-
NVühltateii eines förmUchen Ausheferungsvertrages ver-
zichten, was dem ersuchenden Staate durch den ersuchten
Staat amthch mitzuteilen ist.
2. Abschnitt: Weitere gegenseitige Rechtshilfe
in Strafsachen.
Wie in bürgerhchen Rechtsstreitigkeiten, so wird
auch in Strafsachen gegenseitig'e Rechtshilfe zugesichert.
Die hiefür erforderhchen Ersuchen haben von Behörde
zu Behörde auf diplomatischem Wege zu erfolgen (v<5l.
Art. 22), und können nur aus den anlässlich der Ausliefe-
lung und der Rechtshilfe in bürgerlichen Rechtsstreitig-
keiten erörterten Gründen abgelehnt werden. (Siehe
Art, 21.) 1) Die Kosten der Rechtshilfe werden gemäss
Art. 26 von dem ersuchten Teile getragen und zwar so-
weit als sie in seinem eigenen Gebiete entstehen. Die
Mitteilung der vollzogenen Verurteilung 2) selbst erfolgt
wieder auf diplomatischem Wege. (Vgl. Art. 27.)
Von Interesse ist der nunmehr folgende Artikel, der
die Bestimmung enthält, dass die im Art. 2 aufgeführten
ausliefeningswürdigen Verbrechen und Vergehen jeder-
zeit durch Vereinbarung der Regierungen beider Teile mit
der Massgabe ergänzt werden können, dass auf die hin-
zugefügten Verbrechen und Vergehen dieser Ausliefe-
rungsvertrag ebenso Anwendung findet, als wenn sie
im Art. 2 angeführt wären. Gegen diese Bestimmung
wurde gleichfalls im Reichstage ziemlich heftiger Wider-
spruch laut, da es die Regierung dem Anscheine nach
vollkommen in der Hand habe, nun auch politische De-
likte in beliebigem Masse für auslieferungswürdig zu
erklären. Dieser Einw^and erledigt sich jedoch, wie
V. Liszt in der damaligen Reichstagssitzung treffend be-
merkte, durch den Wortlaut der Denkschrift zu Art. 28:
„Die Aufnahme politischer Verbrechen und Vergehen
in den Kreis der die Auslieferung begründenden, Straf-
taten auf dem Wege der hier vorgesehenen Vereinbarung
ist durch die Bestimmung im Art. 3 des Vertrages aus-
geschlossen." Dieser Standpunkt wurde auf den Wunsch
V. Liszts in der Reichstagsdebatte vom 10. Mai 1917
1) Wie wir aus Art. 19 des Auslieferungsvertrages ersehen
können, ist hierdurch für die Leistung von Rechtshilfe in fiskali-
schen Strafsachen, der in anderen Verträgen noch enthaltende
Ablehnungsgrund weggefallen.
2) Mit Ausnahtne der Verurteilungen wegen Uebertretungen. ,
— 171 —
neuerdings klargestellt (und zwar durch den Direktor
des Auswärtigen Amtes v. Kriege), wodurch die Be-
denken einzelner Abgeordneter in Hinblick auf die be-
willigende Mehrheit hinfällig wurden. Die noch weiter-
hin in den Art. 29 — 31 folgenden Schlussbestimmungen
gleichen wieder vollkommen denen des Konsularver-
trages.
IV.
Niederlassungsvertrag zwischen dem Deutschen
Reiche und dem Osmanischen Reiche.
Wie wir aus der Geschichte der Kapitulationen er-
sehen konnten, hatten die Fremden in der Türkei ein
ausserordentlich weitgehendes Niederlassungsrecht, das.
trotz der Auslegungen verschiedener Schriftsteller in
Wirklichkeit soweit ging, dass türkische Behörden ohne
Genehmigung des betreffenden Konsuls keinen Fremden
des Landes verweisen durften. Dass dies mit der Sou-
veränität eines Staates durchaus nicht in Einklang ge-
bracht werden kann, steht wohl unzweifelhaft fest. Die
deutsche Regierung musste daher bei Abschluss dieses
•Vertrages neben den Interessen ihrer eigenen Angehö-
rigen vor allem auch den türkischen Bedürfnissen weit-
gehend entgegenkommen. Als Muster wurden bei der
Ausarbeitung dieses bedeutsamen Vertrages vor allem
der deutsch-niederländische 1) und der schweizerische
Niederlassungsvertrag 2) genommen, wobei naturgemäss
verschiedene Aenderungen vorgenommen werden muss-
ten, die sich teils aus der Nichtangrenzung der beiden
Staaten, teils aus den innerstaatlichen türkischen Ein-
richtungen ergaben.
Vollkommen entsprechend dem deutsch-niederländi-
schen Vertrag bestimmt Art. 1, dass die Angehörigen
jedes Vertragsschliessenden Teiles berechtigt sein sol-
len, '^) sich in dem Gebiete des anderen Teils niederzu-
lassen oder aufzuhalten, wenn und solange sie die dor-
1) Deutsch-niederländischer Niederlassungsvertrag vom 17.12.
1904 (RG.Bl. 1906 S. 879 deutscher und' holländischer Text).
2) Deutsch-Schweizerischer Niederlassungsvertrag vom 13. 11.
1909 (R.G-Bl. 1911 S. 887).
3) Die den Fremden zustehenden Rechte leiten sich nach der
heutigen völkerrechtlichen Auffassung nicht aus dem einzelnen
Vertrage, sondern aus dem Staatsrecht des Aufenthaltsstaates her
(Vgl. Overbeck: „Der deutsch-niederländische Niederlassungsver-
trag im Archiv für öffentliches Recht Bd. 23, S. 124.) Daher heisst
es auch: „Sollen berechtigt sein."
- 172 —
tij^t-n Gesetze 0 Ti't Einscliluss der Polizeiverordnuiiycu
befolgen". Der gleiche Abschnitt regelt ferner die tür
den Niederlassungsvertrag besonders bedeutsame Staats-
aiigehörigkeitsfrage dahin, dass das „ius sanguinis" und
nicht einfach das „ius soll" massgebend sein solle. -)
Entsprechend dem niederländischen Vertrage, der
in seinem Art. 1 Abs. 2 für den Ausweis der Perscui den
Besitz von gültigen Pässen oder anderen genügenden
Ausweispapieren über Person und Staatsangehörigkeit
vorsah, wird laut der Denkschrift auch für den deutsch-
türkischen Niederlassungsvertrag eine ähnliche Fest-
setzung geschaffen, (Vgl. die früher üblichen Teskeres,
d. h. Inlandspässe, die seit 1908 aufgehoben wufden.)
Art. 2 sichert den beiderseitigen Angehörigen unter
denselben Voraussetzungen wie den Angehörigen der
meistbegünstigten Nation das Recht zu, „jede .Art von
beweglichem oder unbeweglichem Vermögen zu erwer-
ben und zu besitzen und darüber durch Verkauf, Tausch,
Schenkung, letzten Willen oder auf andere Weise zu
verfügen, sowie Erbschaften vermöge letzten Willens
oder kraft Gesetzes zu erwerben". Deutschland wollte
hier absichtlich seinen Angehörigen nicht die gleiche
Stellung wie den türkischen Inländern verschaffen, da
dies insbesondere hinsichtlich des türkischen Immobiliar-
sachenrechts, das noch ziemlich stark mit der Staats-
religion zusammenhängt, lebhafte Bedenken hervorge-
rufen hätte. Deutschland trachtete daher auf diesem in
Art. 2 Abs. 1 umschriebenen Gebiete seinen Angehörigen
eine, diese möglichst sichernde Sonderstellung zu ver-
schaffen. 3)
Art, 3 sichert den beiderseitigen Angehörigen in
demselben Ausmasse w^ie den Angehörigen der meist-
begünstigten Nation das Recht zu, „jede Art von Gewerbe
und Handel auszuüben, landwirtschaftliche Grundstücke
zu bewirtschaften, oder sich einer sonstigen Tätigkeit
zu widmen",^) Durch diese Klausel der Meistbegün-
1) Der Ausdruck „Gesetz" ist hier im weitesten Sinne zu
verstehen (siehe Denkschrift S. 1941
2) Selbstverständlich können auch Angehörige beider Teile
ireiwillij^ die Staatsangehörigkeit des Geburtslandes erwerben.
(Siehe auch das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz
vom 22. Juli 1913 RGBl. S. 583).
3) Siehe DenkschriJt S. 194 ff.
4) Selbstverständlich kann dl« Niederlassungsfreih«it nicht «twa
der vertrigsmässigen Verpflichtung des anderen Teiles, solche
Personen trotzdem an einen dritten Staat auszuliefern entgegen-
stehen (siehe Denkschrift S 196).
— 173 —
stigung ist aber andererseits den Staaten die Möglichkeit
gegeben, den Wirkungsbereich der Fremden nach ver-
schiedenen Seiten hin aus xerkehrs- und sicherheits-
polizeilichen Gründen einzuschränken, i) was insbeson-
dere für die Türkei mit ihren noch vielfach patriarcha-
lischen Grundsätzen und Gebräuchen von ziemlicher Be-
deutung ist.
Eine besonders weitgehende Sicherstejlung d^r bei-
derseitigen Angehörigen erfolgte auf dem Gebiete des
Steuerwesens, von dem die Fremden vor Aufhebung der
Kapitulationen fast gar nicht betroffen worden waren.
Um inun diesem ziemlich starken Gegensatz teilv.cise
zu überbrücken, bestimmt Art. 2 Abs. 1, dass die An-
gehörigen jedes der Vertragsschliessenden Teile „in kei-
nem dieser Fälle (siehe Abs. 1) anderen oder höheren
Steuern und Abgaben unterliegen sollen, als die In-
länder oder die Angehörigen der meistbegünstigten Na-
tion".
Ferner sind die Untertanen beider Staaten auch hin-
sichtlich von Auflagen und Gebühren irgendwelcher Art
den Inländern oder den Angehörigen der meistbegünstig-
ten Nation gleichgestellt.
Bei Abschluss dieses deutsch-türkischen Vertrages
wurden alle erörterten Rechte nicht nur natürlichen, son-
dern auch juristischen Personen zugestanden. -) (Aktien-
gesellschaften und andere Gesellschaften kommerzieller,
industrieller, oder finanzieller Art mit Einschluss der Ver-
sicherungsgesellschaften.) All dies kann jedoch nicht
hindern, dass diese Gesellschaften verschiedenen Be-
schränkungen unteAvorfen werden können.
Jeder Teil kann z. B. den Grossbetrieb der GeseFl-
schaften des anderen Teils in seinem Gebiete untersagen,
wenn sich dort die geschäftliche Hauptniederlassung be-
findet; auch kann er ihre Rechtsgeschäfte als ungültig
1) Vgl. z. B. den deutsch-italienischen Handels-, Freundschafts-
und Schiffahrtsvertrag vom 6. 12, 1891 (R.G Bl. 1892 S. 97) Art. 1
Abs. 3, wodurch Apotheker, Handelsmakler, Hausierer und andere
Personen betroffen wurden. Ferner wird den Staatsfremden sehr
oft die Fischerei in den einheimischen Flüssen und Küstengewässern
verboten. Siehe insbesondere § 296 a des deutschen St.G.B. und
die Verbote des Verkaufs deutscher Handelsschiffe an Ausländer.
2) Vgl. den deutsch-niederländischen Vertrag über die gegen-
seitige Anerkennung der Akt.-Ges vom 11. 2. 1907 RG-Bl. 1908
S. 65 und Art. 5 des deutsch-schwedischen Handelsvertrags vom
2.5 1911 R G.Bl. S.275. Vgl. tj 12 der deutschen Gewerbe-Ordnung
vom 21. Juni 1869 und Art. 10 EG. zum B.G.B.
- 174 —
■erklären, wenn sie in seinem Gebiete abgeschlossen sind
und gegen den Zweck der Landesgesetze Verstössen. ')
Der Schlussatz des zweiten Absatzes des Art. 4,
dass ,,die Gesellschaften in diesem Gebiete jedenfalls
die gleichen Rechte geniessen sollen, die den gleich-
artigen Gesellschaften eines dritten Landes zustehen",
könnte leicht zu Missverständnissen Anlass geben über
die Reichweite dieser Bestimmung. Daher bestimmt die
Denkschrift, dass aus. diesen Festsetzungen nicht folge,
„dass die Vorteile, die etwa ein Teil durch besondere
Verträge der Gesellschaft, die einer dritten Macht an-
gehört, zuwendet, auch den Gesellschaften des anderen
Teiles gewährt werden müssen". (Siehe Denkschrift
S. 196.)
Aehiiliches Missfallen wie der Begriff „Anarchisti-
sches Verbrechen" erregte der 5. Artikel des Nieder-
lassungsvertrages im Reichstag, der neuerdings es der
Polizeigewalt anheimstellt, lästige Ausländer auszuwei-
sen, „sei es infolge eines strafgerichtlichen Urteils, sei es
aus Gründen der inneren oder äusseren Sicherheit, sei es
aus sonstigen polizeilichen Gründen, insbesondere aus
Gründen der Gesundheits-, Sitten- oder Armenpolizei". -)
Es wurde in dieser Hinsicht vom Reichstage mit Nach-
druck ein Fremdenrecht für Deutschland gefordert und
auch von Liszt wünschte die Schaffung eines nationalen
Fremdenrechts durch innerstaatliche Gesetzgebung; es
ist kaum daran zu zweifeln, dass die deutsche Regierung
diesem Verlangen nach dem Kriege entgegenkommen
wird. Im übrigen konnte man an dieser Bestimmung
des Art. 5 nicht den ganzen Vertrag scheitern lassen,
da, wie v. Liszt im Reichstage ausführte, alle Bedenken
„hinter der hohen politischen Bedeutung dieses Systems
I' Insbesondere gilt dies für den Erwerb von Grundbesitz
oder sonstigem Vermögen. Vgl. die diesbezügl. Verträge Deutsch-
lands mit Belgien, Griechenland, Grossbritannien, Oesterreich,
Russland usw. und die Niederlande.
2) Die ausgewiesenen Angehörigen des anderen Staates sind
gemäss den völkerrechtlichen Grundsätzen und dem vorliegenden
\'ertrage von ihrem Heimatsstaate aufzunehmen. Dies wurde schon
irüher öfters durch besondere Repatriierungsverträge vereinbart,
was jedoch nicht unbedingt erforderlich ist. Vgl. die Verträge
Deutschlands mit Italien vom 8. 8. 1873 und mit Russland vom
10. 2./29. 1. 1894. Siehe im vorliegenden Vertrage Art. 9/10, die
insbesondere ein diplomatisches Uebernahmeverfahren festsetzen
(Art. 10).
— 175 —
vou Verträgen" zurücktreten müssen. (Siehe Reichstai^
10. Mai 1917, S. 3203.) i)
Gemäss den heute fast iligemein anerkannten Prin-
zipien bleiben die beiderseitigen Angehörigen im Qc-
■biete des anderen Teiles von jeglichen Kriegsleistungen
oder Geldabgaben für Kriegszwecke für den anderen
Staat befreit. Für etwaige Enteignungen und militärische
Anforderungen, ~) wie sie ja gerade im gegenwärtigen
Kriege besonders häufig sind, müssen die beiderseitigen
Angehörigen keinesfalls ungünstiger entschädigt werden,
als die Landesangehörigen oder die Angehöligen der
meistbegünstigten Nation. (Siehe Art. 6 und 7.)
Ferner regelt noch Art. 8 die Bestimmungen der etwa
erforderlichen Krankenfürsorge und Verpflegung für
hilfsbedürftige Angehörige des anderen Teils. Wegen
der grossen Kulturunterschiede der einzelnen türkischen
Gebiete haben es die deutschen Unterhändler vermieden,
die deutschen Armen der gleichen Pflege zu unterstellen,
wie die Inländer und setzen hiefür den objektiven Be-
griff der „erforderlichen Pflege".
Ein Ersatz für etwa entstandene Kosten kann nur
gegenüber Privatangehörigen, nicht aber auch gegen-
über dem Heimatsstaate des Unterstützungsbedürfligen
verlangt werden.
Von all diesen Bestimmungen sind jedoch wieder
die deutschen Schutzgebiete ausgenommen (Art. 13) und
ferner die türkischen Provinzen Hedschas, Yemen und
Nedschd mit Einschluss der Bezirke Medina und Assir,
aber mit Ausnahme der Hafenpiätze Dschedda und Ho-
deida. Als Grund für diese Massregel gibt die Denkschrift
an, dass dies diejenigen Teile Arabiens sind, „wo aus
religiösen oder politischen Gründen fremde, insbeson-
dere nicht-mohammedanische Personen nur mit Gefahr
für die öffentliche Ruhe und Sicherheit zugelassen wer-
den könnten".
Die üblichen Ratifikationsbestimmungen und die
Festsetzung der Vertragsdauer gleichen wieder vollkom-
men denen des Konsular\ertrags. (Siehe daselbst S. 160.)
1) Eine Regelung des Fremdenrechts Hess z. B. Belgien durch
das Gesetz vom 12. 2. 1897 eintreten. England durch die Aliens
Act vom 11. 8. 1905, die Vereinigten Staaten durch Gesetze vom
20. 2. 1907.
2) „Unter militärischen Anforderungen im Sinne dieses Artikels
sind nur solche Anordnungen zu verstehen, die nach der Gesetz-
gebung jedes Teils im Fall der allgemeinen oder teilweisen Mobil-
machung zulässig sind." (Denkschrift S. 196.)
— 170 —
V.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und dem
Osmanischen Reiche über die gegenseitige Zuführung
von Wehrflüchtigen und Fahnenflüchtigen der Land-
und Seestreitkräfte.
Dieser Vertrag bedeutet angesichts des Freund-
schaftsverhältnisses zwischen Deutschland und der Tür-
kei durchaus nichts Seltsames, da derartige Kartelle
bereits -des öfteren schon zwischen befreundeten Staaten
zustandekamen.
Bemerkenswert ist immerhin, dass bei diesem Ver-
trage statt einer 20jährigen, ;iur eine 10jährige Dauer
vereinbart wurde.
Da die wesentlichen Vorausretzungen für diesen
Vertrag bereits durch den Auslieferungsvertrag gegeben
sind, so wird es genügen, in Kürze auf die einzelneit
Punkte einzugehen.
Art. 1 enthält zunächst die allgemeine Bestimmung,
dass sich beide Vertragsschliessenden Staaten gegenseitig
die wegen Wehrflucht oder Fahnenflucht zur Unter-
suchung gezogenen- oder verurteilten Staatsangehörigen
zuzuführen haben, i) wobei es wohl selbstverständlich ist,
dass es sich nur um Angehörige des ersuchenden, nicht
aber auch eines dritten Staates handeln kann. Art. 2 be-
stimmt, dass die Festsetzung der Art. 4, 7, Art. 8 Abs. 1
Nr, 4 und die Art. 10 — 18 des Auslieferungsvertrages
entsprechende Anwendung linden.
Art, 3 regelt ausserdem die Behandlung eines Flucht-
falles von Marineangehörigen, wobei auch einige Bestim-
mungen (Art. 23) des Konsularvertrages in Betracht
kommen, -)
Die Verköstigungsfrage für die Deserteure regelt
Art. 5, wonach die Kosten von dem ersuchenden Staate
zu tragen sind; für den Fall jedoch, dass auch ein ge-
meines Verbrechen die Auslieferung notwendig machte,
1) Natürlich sind auch die militärischen Ausrüstungsgegen-
stände, deren sich der Flüchtende gewöhnlich entledigt hat, zurück-
zuerstatten (s Art. 4 des Vertrages.
2' Dies'e Kartelle wegen Desertion von Matrosen (auch solche
von Kriegsschiffen sind fast allgemein zwischen den verschiedenen
Staaten zum Abschluss gelangt, wogegen die gewöhnliche Wehr-
fiucht als teilweise aus politischen Motiven begangen angesehen
wird und demnach nicht der Auslieferung verfällt, (vgl. besonders
die Schweiz und andere Staaten, i
findet eine besondere Regelung gemäss Art. 18 des Aus-
lieferungsvertrages statt.
Die übrigen Bestimmungen gleichen mit Ausnahme
dier bereits oben erwähnten Vertragsdauer wieder den
Schlussbesrimmungen des Konsularvertrages.
VI.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und
dem Osmanischen Reiche über die Anwendung
des deutsch-osmanischen Konsularvertrages vom
II. Januar 1917 auf die deutschen Schutzgebiete.
Wie wir aus den Schlussbestimmungen der einzelnen
bisher behandelten Verträge ersehen konnten, war jedes-
mal die Qeltungskraft des Vertrages nur auf die europä-
ischen Grenzen des Deutschen Reiches beschränkt und
wurde nicht gleichzeitig auch auf dessen überseeische
Besitzungen ausgedehnt.
Abgesehen von den besonderen Umständen, die für
die deutschen Schutzgebiete infolge ihrer Lage, Beschaf-
fenheit u. s. w. gegeben sind, kam bei der Behandlung!
dieser Nebenverträge auch noch eine Verfassungsfrage
in Btetracht. Gemäss § 1 des Schutzgebietgesetzes vom
25. Juli 1900 (R.G.Bl. S. 813) unterstehen die Kolonien
der Schutzgewalt des Kaisers und es bestand daher keine
Verpflichtung für diese Verträge, die die Beziehungen der
deutschen Schutzgebiete zu einer fremden Macht regeln
sollten, die Zustimmung des Bundesrats und des Reichs-
tags einzuholen, i)
Anders ist jedoch die Sachlage in dem vorliegenden
Nebenvertrage, der trotzdem gemäss Art. 11 Abs. 3 der
RIeichsverfassung der Genehmigung von Bundesrat und
Reichstag bedurfte, da er verschiedene Bestimmungen des
bürgerlichen Rechts der Schutzgebiete abänderte.
Betreffs des Vertragsinhaltes ist zu bemerken, dass
zunächst der 1. Artikel die Bestimmung enthält, dass die
Anordnungten des Hauptvertrages in gleicher Weise auf
die Beziehungen zwischen den deutschen Schutzgebieten
und dem osmanischen Reiche Anwendung finden, als
wenn erstere „zum Gebiete des Deutschen Reiches ge-
hörten''. (Siehe Art. 1.) Gemäss dieser Festsetzung er-
hfelt die Türkei das Recht, in den deutschen Kolonien (be-
liebig Konsuln einzusetzen, sofern das Deutsche Reich
1) Vgl. die Ausführungen der Denkschrift S. 200.
12
— 178 —
deren Anstellung an bestimmten Orten nicht allen Staaten
gegenüber verbietet.
Von Interesse ist der 2. Artikel, der bestimmt, dass
bei der Anwendung des Hauptvertrages auf die deutschen
Schutzgebiete die Angehörigen dieser Gebiete als An-
giehörige des Deutschen Reiches angesehen werden sol-
len, obgleich eine derartige staatsrechtliche Regelung
bisher durchaus nicht vorhanden war. ^) Hieraus er-
gibt sich aber die bemerkenswerte Folgerung, dass selbst
Angehörige der deutschen Schutzgebiete, die nicht Reichs-
angehörige sind, dem Schutze der deutschen Konsuln in
der Türkei unterstehen können.
Ferner bestimmt der 2. Artikel, dass überall da,
wo der eigentliche Konsularvertrag auf Gesetze der Ver-
tragsschliessenden Teile hinweist, auch die deutschen
Schutzgebiete inbegriffen sein sollen.
Im übrigen enthält dieser Vertrag noch einige be-
merkenswerte Ausnahmebestimmungen über den Rechts-
schutz der Mohammedaner und zwar sowohl der Mo-
hammedaner der deutschen Schutzgebiete, die sich im
Gebiete des osmanischen Reiches befinden, als auch der
mohammedanischen Angehörigen des osmanischen Rei-
ches, die sich in einem deutschen Schutzgebiete befinden.
Wie wir schon des öfteren auszuführen hatten, gehen die
türkischen Rechtsanschauungen auf dem Gebiete des
Familien- und Erbrechts infolge deren Basierung auf der
Staatsreligion noch immer soweit mit den deutschen An-
schauungen auseinander, dass diese Gebiete gemäss
Art. 18 und 19 der Geschäftsführung der Konsuln über-
lassen werden.
Dieser Grund fällt jedoch durchaus weg soweit s
sich um Mohammfedaner der deutschen Schutzgebiete
handelt, die sich im Gebiete des osmanischen Reiches be-
finden, oder mohammedanische Angehörige des osmani-
schen Reiches, die sich in einem solchen Schutzgebiete
befinden.
Die .Mohammedaner, die ohnehin in der Landesge-
richtsbarkeit ihren überlieferten Rechtsbegriffen Genüge
g'etan sehen, haben in ihr auch eine Behörde, der, wie
Dr. Kriege in der Reichstagssitzung vom 10. Mai 1917
ausführte, „die Behandlung der sonst der heimischen
1) Vgl. §33 Nr. 1 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes
und § 4, § 7 Abs. 3 und § 10 des Schutzgebietgesetzes.
— 179 —
Gerichtsbarkeit vorbehaltenen Materien unbedenklich
überlassen werden kann'*, i)
Die Landesgerichtsbarkeit hat ferner das mohamme-
danische Recht in derartigen Füllen zur Anwendung zu
bringien und kann nur auf Antrag eines Beteiligten in
Tätigkeit treten ; „auch ist der Antrag eines Erbbeteilig-
ten nicht mehr zulässig, wenn der Konsularbeamte des
Heimatslandes des Verstorbenen bereits mit der Behand-
lung des Nachlasses befasst war und die im Art. 19
§ 6 Abs. 1 des Hauptvertrages vorgesehene Anmelde-
frist verstrichen ist''. -)
Die durch den 2. Absatz des Art. 4 vorgesehene
freiwillige oder streitige Gerichtsbarkeit ist keine aus-
schliessliche (die bezeichneten Gerichte „können" ent-
scheiden) und wird durch sie die Zuständigkeit der
heimischen Gerichtsbarkeit nicht berührt.
Gemäss Art. 6 bestimmt sich die Dauer dieses
Nebenvertrages naturgemäss nach der Dauer seines
•Hauptvertrages,
VII.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und
dem Osmanischen Reiche betreffend die Anwendung
des deutsch-osmanischen Vertrages vom 11. Januar
1917 über Rechtsschutz und gegenseitige Rechts-
hilfe in bürgerlichen Angelegenheiten auf die deut-
schen Schutzgebiete.
Ueber die Art. 1 und 2 ist nichts besonderes anzu-
führen, da sie mit den bereits erörterten 2 Artikel«
des Konsularnebenvertrages it<haltlich übereinstimmen.
Im Art. 3 sehen wir das gleiche Problem behandelt
wie in den Art. 3 und 4 des Konsularnebenvertragjes.
Auch in diesem Vertrage findet eine Abweichung gegen-
über dem Hauptvertrage und zwar gegenüber dessen
Art. 2 Abs. 1 statt. Es können nämlich „die Mohamme-
daner der deutschen Schutzgebiete, die sich im Gebiete
des osmanischen Reiches befinden, sowie die mohamme-
danischen Angehörigen des osmanischen Reiches, die
sich im deutschen Schutzgebiete befinden, in den An-
gelegenheiten des Familienrechts und der Geschäfts-
fähigkeit die zuständigen Gerichte oder die sonst zu-
ständigen Behörden ihres Aufenthaltsortes anrufen, so-
1) S. Reichstag 105. Sitzung vom 10. Mai 1917 S. 3201.
2) Dieselbe beträgt 3 Monate.
— 180 —
weit diese Gerichte oder sonstigen Behörden das mo-^
hainmedanische Recht anwenden". Auch hier ging man
eben von der Anschauung aus, dass die Mohammedaner
hinsichtlich dieser Rechtsgebiete an ihrem Aufenthalts-
orte eine ihren Anschauungen und Bedürfnissen ent-
sprechende Gerichtsbarkeit finden.
Ebenso wie bei dem Konsularnebenvertrage ist auch
hier diese Gerichtsbarkeit über Mohammedaner keine
ausschliessHche und bestimmt sich die Anerkennung der
auf Grund dieses Artikels von den Gerichten oder son-
stigen Behörden des einen Teils erlassenen Entschei-
dungen in dem Gebiete des anderen Teils nach den dort
geltenden Gesetzen.
Die Schlussartikeln '4 und 5 enthalten inhaltlich das.
gleiche wie die des Konsularnebenvertrages.
VIII.
Vertrag: zwischen dem Deutschen Reiche und
dem Osmanischen Reiche über die Anwendung des
am 11. Januar 1917 unterzeichneten deutsch-osmani-
sehen Auslieferungsvertrages auf die deutschen
Schutzgebiete. ^)
Die einleitenden Art. 1 und 2 stimmen inhaltlich
wieder mit den bereits behandelten Nebenverträgen über-
ein. Bemerkenswert Sst nur, dass die osmanische Re-
gierung in Ansehung der nach türkischem Rechte nicht
strafbaren Doppelehe die Auslieferung eines Mohamme-
daners auf Grund des Art. 8 Nr. 1 des Hauptvertrages
(Ablehnungsgrund, weil die Tat nicht auch nach den
Gesetzen des ersuchten Teils strafbar ist), auch dann ab-
lehnen will, wenn die zweite Ehe (d. h, die Doppelehe)
am Orte der Tat strafbar war.-) Nicht ablehnen will die
türkische Regierung die Auslieferung, wenn, die in An-
sehung des türkischen Rechts nicht strafbare Doppel-
ehe dadurch entsteht, dass die zweite Ehe in Deutsch-
land oder in einem dritten Lande, wo die Doppelehe be-
straft wird, geschlossen worden ist. (Vgl. aber Art. 2
Nr. 8 des Hauptvertrages.) ^')
1) Die nun folgenden 3 Nebenverträge gingen, da sie nicht
unter die Vorschriit des Art. 11 Abs. 3 der Reichsverfassung fielen,,
dem Bundesrat nur zur Kenntnisnahme zu und wurden dement-
sprechend nicht weiter verhandelt
2; Siehe Denkschrift S. 203.
3> Siehe Denkschrift S. 188.
— 181 —
Art. 3 dieses Nebenvertrages entspricht dem Art. 10
des Hauptvertrages, wonach der Gerichtsbarkeit über
den in ihrem Bereiche befindlichen Verfolgten oder Ver-
urteilten vor der ausländischen Gerichtsbarkeit der Vor-
rang zugesichert 'wird. Ebenso entsprechende Anwen-
dung findet der Art. 10 Abs. 2 des Hauptvertrages.
Die Auslieferungsanträge sind auch für die Schutz-
gebiete auf "diplomatischem Wege zu stellen; jedoch ist
eine Ausnahme für den Fall zugelassen, dass in einem
deutschen Schutzgebiete "ein osmanischer Konsul nicht
zuständig ist. In diesem Falle kann sich die osmanische
Regierung unmittelbar an den Gouverneur des Schutz-
gebietes wenden, »von welchem Antrage jedoch die deut-
sche Regierung tmverzüglich zu verständigen ist.
Die Schlussbestimmungen stimmen wieder mit den
übrigen Nebenverträgen iiberein.
IX.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und
dem Osmanischen Reiche über die Anwendung des
deutsch-osmanischen Niederlassungsvertrages vom
11. Januar 1917 auf die deutschen Schutzgebiete und
die osmanischen Provinzen Hedschas, Jemen und
Nedschd.
Wie wir "bereits bei der Behandlung des Haupt-
vertrages ausführten, bedang sich die türkische Regierung
für ihre obigen Provinzen eine Ausnahmestellung aus,
die gemäss Art. 1 Abs. 2 des Neben Vertrages, darin be-
steht, dass "den Angehörigen und Gesellschaften des
Deutschen Reiches sowie der deutschen Schutzgebiete
in diesen Oebieten nur das Recht der Meistbegünsti-
gung zusteht. Wie wir gesehen haben, werden zu die-
sen türkischen Gebieten gemäss ihrer geographischen
Lage auch 'die Bezirke Medina und Assir gerechnet, ob-
gleich diese verwaltungstechnich selbständig sind. Für
die Hafenplätze 'Dschedda und Hodeida gilt das im
Hauptvertrage Ausgeführte. Hierbei sind die Ange-
hörigen und Gesellschaften der deutschen Schutzgebiete
denen des 'Deutschen Reiches gleichgestellt. (Siehe Art. 2
Abs. 1.)
Angehörige der deutschen Schutzgebiete können bei.
einer allenfallsigen Ausweisung sowohl nach Deutsch-
land als auch nach den deutschen Schutzgebieten abge-
schoben werden.
— 182 —
Für die In Deutschland sich aufhaltenden Osmanen
macht es hingegen keinen Uiiterschied, ob sie aus den
oben angeführten "Provinzen oder aus anderen Teilen
des türkischen Reiches stammen. Ebenso macht es in
Ansehung der Rechte, die sich aus dem Hauptvertrage
ergeben, für die osmanischen Gesellschaften keinen Un-
terschied, in welcher osmanischen Provinz sie bestehen.
Die Schlussbestimmungen gleichen wieder den bis-
her behandelten Nebenverträgen.
X.
Vertrag zwischen dem Deutschen Reiche und
dem Osmanischen Reiche betreffend die Anwendung
des deutsch-osmanischen Vertrages vom 11. Januar
1917 über die gegenseitige Zuführung von Wehr-
flüchtigen und Fahnenflüchtigen der Land- und
Seestreitkräfte auf die deutschen Schutzgebiete.
Die Art. 1 und 2 entsprechen wieder den Art. 1
und 2 Ues Konsularnebenvertrages.
Hervorzuheben ist 'jedoch der 3. Artikel, der be-
stimmt, dass sich die Anwendung des Hauptvertrages auf
die deutschen Schutzgebiete, nicht aber auch auf die
Mohammedaner dieser Gebiete erstreckt, die sich der
Wehrflucht oder Fahnenflucht schuldig machen. Bei
dieser merkwürdigen 'Regelung spielen wohl hauptsäch-
lich religiöse Momente auf türkischer Seite mit.
Art. 4 "und 5 entsprechen inhaltlich den Art. 4 und 5
des Nebenvertrages betreffend Auslieferung.
Art. 6 und 7 enthalten wie die anderen Nebenver-
träge die ^üblichen Schlussbestimmungen.
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JX Klinke, Max
1568 h±e Kapitulationen der
K8 Türkei, deren Aufhebung und
die neuen deutsch-türkischen
Rechtsverträge
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