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Full text of "Die grosse politik der europäischen kabinette, 1871-1914. Sammlung der diplomatischen akten des Auswärtigen amtes, im auftrage des Auswärtigen amtes"

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THE  LIBRARY 

OF 

THE  UNIVERSITY 

OF  CALIFORNIA 

RIVERSIDE 


Die 

Diplomatischen  Akten 
des  Auswärtigen  Amtes 

1871-1914 


Herausgregeben 
im  Auftrage  des  Auswärti2:en  Amtes 


Die 

Große  Politik  der 

Europäischen  Kabinette 
1871-1914 

Sammlung  der  Diplomatischen 
Akten  des  Auswärtigen  Amtes 

Im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 
herausgegeben  von 

Johannes  Lepsius 

Albrecht  Mendelssohn  Bartholdy 

Friedrich  Thimme 


1 


DEUTSCHE  VERLAGSGESELLSCHAFT  FÜR  POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.  B.  H.  IN  BERLIN  W  8 


7.  Band : 


Die  Anfänge 
des  Neuen  Kurses 


I 

Der  Russische  Draht 


I 


DEUTSCHE  VERLAOSOESELLSCHAFT  FÜR  POLITIK 
UND  GESCHICHTE  M.  B.  H.  IN  BERLIN  W  8 


u  7 


2.  Auflage 

Alle  Rechte,  besonders  das  der  Übersetzung,  vor- 
behalten/Für Rußland  auf  Grund  der  deutsch- 
russischen  Übereinkunft  /  Amerikanisches  Co- 
pyright 1923  by  Deutsche  Verlagsgesellschaft 
für  Politik  und  Geschichte  m.b.H.  in  Berlin 
W8,  Unter  den  Linden  17/18  /  Amerikanische 
Schutzzoliformel:  Made  in  Germany  /  Gesetzt 
in  der  Buchdruckerei  Oscar  Brandstetter  in 
Leipzig  /  Gedruckt  in  der  Buchdruckerei 
F.  E.  Haag  in  Melle  i.  H. 


Vorwort 

Die  zweite  Serie  der  Sammlung  der  diplomatischen  Akten 
des  Auswärtigen  Amtes,  die  hiermit  in  abermals  6  Bänden 
der  Öffentlichkeit  übergeben  wird,  behandelt  die  Große 
Politik  der  Europäischen  Kabinette  von  den  Anfängen  des 
„Neuen  Kurses"  in  Deutschland  im  Jahre  18Q0  bis  zu  dem, 
vor  allem  durch  das  Vorgehen  in  Ostasien  (1897)  gekenn- 
zeichneten Eintritt  des  Kaiserreichs  in  die  Weltpolitik.  Die 
dritte  Serie,  die  in  weiteren  6  Bänden  in  der  Drucklegung 
schon  weit  vorgeschritten  ist,  wird  bis  zum  Jahre  1904 
führen.  Mit  dem  Druck  der  vierten  Serie,  die  in  etwa 
10  Bänden  die  Zeit  von  1904  bis  zum  Ausbruche  des  Welt- 
krieges umfaßt,  wird  in  aller  Kürze  begonnen  werden.  Es 
besteht  volle  Aussicht,  daß  die  ganze  Sammlung  der  diplo- 
matischen Akten  des  Auswärtigen  Amtes  von  1871  bis  1914 
im  Sommer  des  kommenden  Jahres  abgeschlossen  vorliegen 
wird. 

Wenn  die  jetzt  vorgelegte  zweite  Serie  ebenso  wie  die 
folgenden  nur  einen  Zeitraum  von  je  7  Jahren  umfaßt, 
während  die  erste  der  Bismarckzeit  gewidmete  Serie  fast 
einen  dreifachen  Zeitraum  umspannte,  so  hat  das  seinen 
guten  Grund.  Der  oberste  Zweck  der  Aktenpublikation: 
die  möglichst  klare  und  vollständige  Aufdeckung  der  Ur- 
sachen des  Weltkrieges,  soweit  sie  in  der  Politik  der  Groß- 
mächte liegen,  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Zahl  der  abzu- 
druckenden Schriftstücke  wächst,  je  mehr  sich  die  Ereignisse 
der  Katastrophe  von  1914  nähern.  Dazu  kommt,  daß  das 
Schwergewicht  der  Großen  Politik,  das  in  der  Bismarck- 
schen  Periode  hauptsächlich  im  europäischen  Zentrum  lag, 
infolge  des  Drängens  aller  europäischen  Mächte  zur  kolo- 
nialen Expansion  und  zur  Weltpolitik  vielfach  in  die  ent- 
ferntere und  selbst  in  die  außereuropäische  Peripherie  ver- 
legt wurde.  Das  muß  sich  natürlich  auswirken  in  einer  Akten- 

VII 


Publikation,  die  die  gesamte  Große  Politik  der  Europäi- 
schen Kabinette  in  sich  begreift.  Den  orientalischen  Fragen, 
den  Mittelmeer-,  den  Kolonial-  und  den  ganz  neu  auf- 
tauchenden ostasiatischen  Fragen,  die  in  der  Bismarckzeit 
durchweg  noch  im  Rahmen  der  Abschnitte  behandelt 
werden  konnten,  die  den  Beziehungen  der  Mächte  unter- 
einander gelten,  mußten  von  1890  ab  in  zunehmendem 
Maße  selbständige  Kapitel  gewidmet  werden.  Der  Nach- 
teil, daß  auf  diese  Weise  die  Sammlung  der  Akten  von 
der  jetzt  ausgegebenen  Serie  ab  stark  in  die  Breite  zu 
gehen  und  damit  an  Übersichtlichkeit  einzubüßen  scheint, 
war  um  der  tieferen  Einsicht  willen  in  Kauf  zu  nehmen. 
Nur  dann  ist  es  möglich,  die  wechselnden  Phasen,  die 
die  Gruppierung  der  europäischen  Mächte  in  den  Jahren 
von  1890—1897  und  weiter  von  1897—1914  durchlief,  in 
Ursache  und  Auswirkung  zu  verstehen,  wenn  man  die 
Stellungnahme  der  Mächte  zu  dem  ganzen  Komplex  der 
Fragen  kennt,  die  durch  den  allgemeinen  imperialisti- 
schen Drang  teils  kompliziert,  teils  neu  heraufgeführt 
wurden.  Beispielsweise  ist  das  für  Deutschlands  Ge- 
schicke so  wichtige  Problem,  warum  die  Deutsche  Re- 
gierung im  Laufe  der  Jahre  nicht  einen  engeren  Anschluß 
an  England  oder  auch  an  Rußland  vollzog,  sondern  in  der 
gefahrvollen  Politik  der  freien  Hand  verharrte,  bis  mit  der 
englisch-französischen  Entente  von  1904  und  der  Begrün- 
dung der  Triple-Entente  1907  die  Freiheit  solchen  An- 
schlusses wegfiel,  gar  nicht  aufzuklären,  ohne  daß  man 
aufs  Genaueste  über  die  Stellungnahme  der  einzelnen 
Mächte  zu  den  Fragen  des  Orients  wie  des  Mittelmeers, 
Vorderasiens  wie  Ostasiens,  Nordafrikas  wie  Zentral-  und 
Südafrikas  unterrichtet  wird.  Die  Herausgeber  haben  bei 
der  Auswahl  des  schier  unübersehbaren  archivalischen  Stof- 
fes und  bei  seiner  Gliederung  in  Bände  und  Kapitel  gerade 
darauf  die  höchste  Sorgfalt  verwandt,  das  breit  und  tief 
verzweigte  Geflecht  der  Großen  Politik  der  Kabinette 
soweit  bloßzulegen,  daß  mit  dem  Zusammen-  und  Gegen- 
spiel der  einzelnen  Mächte  in  und  außerhalb  Europas  auch 
die  tiefere   Kausalität   ihrer  Gruppenbildung  zunächst  in 

Vlll 


dem  Zeitraum  von  1890—1904  erkennbar  wird,  in  dem 
sich  eigentlich  doch  schon  die  Geschicke  des  europäischen 
Kontinents  entschieden  haben. 

An  der  bisher  geübten  Editionsmethode,  wie  sie  in 
dem  Vorwort  zur  ersten  Serie  kurz  dargelegt  und  seither 
von  dem  mit  der  abschließenden  Bearbeitung  der  Publi- 
kation betrauten  Herausgeber  Dr.  Thimme  in  einem  Vor- 
trage vor  der  „Deutschen  Gesellschaft"  (veröffentlicht  in 
den  „Preußischen  Jahrbüchern",  Juliheft  1922)  des  näheren 
begründet  worden  ist,  konnten  wir  Herausgeber  in  allem 
Wesentlichen  nur  festhalten.  Diese  Editionsgrundsätze 
haben  ja  auch  im  Inlande  und  fast  noch  mehr  im  Auslande 
eine  weitgehende  Anerkennung  gefunden.  Die  hier  und  da 
in  deutschen  Besprechungen  anklingende  Besorgnis,  daß 
die  gekürzte  Wiedergabe  mancher  Schriftstücke,  die  bei 
dem  Prinzip  der  sachlichen  Anordnung  des  ausgewählten 
Aktenstoffes  zwangsläufig  war,  im  Auslande  ein  Miß- 
trauen erwecken  könne,  hat  sich  nicht  bestätigt.  In  ver- 
einzelten Fällen,  wo  englische  und  amerikanische  Forscher 
bei  den  Herausgebern  nachfragten,  was  in  bestimmten 
unvollständig  wiedergegebenen  Schriftstücken  —  es  han- 
delte sich  dabei  um  die  Krisenjahre  1887  und  1888  — 
fortgefallen  sei,  wurde  durch  die  bereitwillig  mitgeteilte 
Vervollständigung  der  Abschrift  bewiesen,  wie  die  Frage- 
steller selbst  anerkannten,  daß  die  aus  raumtechnischen 
Gründen  ausgesparten  Stellen,  weit  entfernt  auf  tenden- 
ziöser Auslassung  zu  beruhen,  nur  dazu  dienen  konnten, 
den  Friedenswillen  der  deutschen  Regierung  noch  mehr  zu 
erhärten.  Die  Herausgeber  werden  auch  weiterhin  bereit 
sein,  wo  irgendein  ernsthafter  Forscher  vor  allem  des 
Auslandes  das  wünschen  sollte,  ihm  über  den  Inhalt  nicht- 
gebrachter  Textteile  genaue  Auskunft  zu  geben. 

Die  Bemerkung,  die  wir  im  Vorwort  zur  ersten  Serie 
über  die  Auswahl  der  zu  veröffentlichenden  Randbemer- 
kungen Kaiser  Wilhelms  II.  gemacht  hatten,  bedarf  wegen 
eines  Mißverständnisses,  zu  dem  sie  geführt  hat,  der 
Erläuterung.  Es  ist  keineswegs  eine  so  weitgehende  Be- 
schränkung in  der  Wiedergabe  dieser  Randbemerkungen 

IX 


beabsichtigt  gewesen,  wie  man  wohl  gemeint  hat.  Die 
zweite  und  die  folgenden  Serien  werden  aufs  Schlüssigste 
zeigen,  daß  die  sachlichen  Bemerkungen  des  Kaisers, 
besonders  alle  irgendeinen  Einfluß  auf  die  Führung 
der  Außenpolitik  übenden  oder  bezweckenden  Äußerungen 
ohne  jede  politische  Rücksicht  und  unter  völliger  Hintan- 
stellung begreiflicher  Gefühle  veröffentlicht  worden  sind 
und  veröffentlicht  werden.  Eine  Auswahl,  die  irgend 
jemanden  schonen  wollte,  wäre  weder  dem  deutschen 
Volke  gegenüber,  dem  hier  Rechenschaft  abgelegt  wird, 
noch  vor  dem  früheren  Kaiser  selbst  zu  rechtfertigen,  ganz 
abgesehen  davon,  daß  sie  nach  den  bisherigen  Veröffent- 
lichungen niemanden  täuschen  könnte.  Weggelassen  sind 
lediglich  solche  Bemerkungen,  die  nur  den  augenblicklichen 
Eindruck  des  gelesenen  Schriftstücks  auf  den  Kaiser  kenn- 
zeichnen, aber  keine  Willensäußerung,  ja  nicht  einmal 
sicheres  Zeugnis  über  die  Bildung  des  Willens  enthalten, 
und  die  somit  für  die  Publikation  einen  unnützen  Ballast 
bedeuten  würden.  Im  Verhältnis  zu  der  Gesamtzahl  der 
wiedergegebenen  Randbemerkungen  ist  das  nur  ein  ganz 
geringer  Teil. 

Indem  wir  Herausgeber  nun  der  Öffentlichkeit  die 
zweite  Serie  der  Aktenpublikation  vorlegen  und  das  nahe 
Erscheinen  der  dritten  ankündigen,  halten  wir  uns  mehr 
als  je  davon  überzeugt,  daß  von  dem  mutigen  und  groß- 
herzigen Entschluß  der  Deutschen  Reichsregierung,  die 
Öffnung  ihrer  diplomatischen  Archive  für  die  ganze  Vor- 
kriegszeit rückhaltlos  durchzuführen  und  so  der  Wahrheit 
eine  breite  Gasse  zu  öffnen,  eine  heilende  und  versöhnende 
Kraft  im  Völkerleben  ausgehen  wird,  der  sich  auf  die 
Dauer  auch  nicht  eine  der  Nationen  entziehen  kann,  die 
Deutschland  im  Weltkriege  feindlich  gegenübergestanden 
haben.  Wir  Herausgeber  haben  nicht  das  Recht  und  nicht 
die  Absicht,  dem  Urteil  der  Welt  über  Inhalt  und 
Bedeutung  des  jetzt  neu  vorgelegten  Materials  vorzu- 
greifen. Zu  der  Hoffnung  und  der  Zuversicht  aber 
dürfen  wir  uns  bekennen,  daß  der  in  allen  Nationen 
liegende  Wahrheitsdrang    durch    die    nun    auf    die    Zeit 


Wilhelms  IL  übergreifende  Erschließung  des  deutschen 
Aktenmaterials  aufgerüttelt  werden  wird  zu  einem  ge- 
rechten Erkennen  und  Verstehen  der  deutschen  Dinge. 

Die  Herausgeber 


XI 


Inhaltsübersicht  des  siebenten  Bandes 

KAPITEL  XLIV 
Nichterneuerung  des  Rückversicherungsvertrages  1890 1 

KAPITEL  XLV 

Erneuerung  des  Dreibund-Vertrags.  Erste  Versuche  Frankreichs,  Italien 

vom  Dreibund  abzusprengen  1891   51 

Anhänge: 

A.  Aufmarsch-  und  Rüstungsfragen  im  Dreibund  1891 — 1892     . .    107 

B.  Der  erneuerte  Dreibund  und  das  Italienisch-Französische  Ver- 
hältnis 1893—1895    125 

KAPITEL  XLVI 
Erneuerung  des  Rumänischen  Vertrages  1892 149 

KAPITEL  XLVII 
Französisch-Russischer  Zweibund  1890 — 1894 189 

KAPITEL  XLVIII 
Deutsch-Französische  Beziehungen  1890 — 1894    261 

KAPITEL  XLIX 
Der  Draht  nach  Rußland  1890—1892 

A.  Äußere  Politik    345 

B.  Handelspolitische  Beziehungen 387 

KAPITEL  L 
Der  Draht  nach  Rußland  1892—1894 

A.  Äußere  Politik     405 

B.  Handelspolitische  Beziehungen 441 

Ein  Namenverzeichnis   für  die  Bände  VII — XII   erscheint  am  Schlüsse  des 
XII.  Bandes;   ein  ausführliches  Namen-  und  Sachverzeichnis  zum  Schlüsse 

des  gesamten  Werkes 


Kapitel  XLIV 

Nichterneuerung  des  Rückversicherungsvertrages 

1890 


I    Die  Große  PoIiflK.  7.  Bd, 


Nr.  1366 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 

Graf  Herbert  von  Bismarck  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Eigenhändige  Ausfertigung 
Geheim  Berlin,  den  20.  März  1S90 

Euerer  Majestät  melde  ich  alleruntertänigst,  daß  der  russische 
Botschafter  mir  gestern  abend  ganz  vertrauHch  sagte,  er  sei  von  dem 
Zaren  ermächtigt  worden,  den  geheimen  russisch-deutschen  Vertrag, 
welcher  uns  bei  einem  französischen  Angriff  Rußlands  Neutralität  zu- 
sicherte, und  welcher  im  Juni  dieses  Jahres  abläuft*,  auf  sechs  Jahre 
zu  verlängern,  und  zwar  in  der  Absicht,  die  bezügliche  Abmachung  als 
eine  dauernde  anzusehen  i.  Graf  Schuwalow  habe  nun  am  Tage  seiner 
Rückkehr  von  Petersburg,  am  17.  d.  Mts.**,  gleich  den  Reichskanzler  auf- 
gesucht, um  ihm  die  obenerwähnte  Eröffnung  zu  machen;  dabei  habe 
er  erfahren,  daß  Euere  Majestät  an  dem  gleichen  Morgen  dem  Reichs- 
kanzler hätten  sagen  lassen,  Allerhöchstdieselben  sähen  dem  Entlas- 
sungsgesuch des  Reichskanzlers  entgegen.  Graf  Schuwalow  habe  dar- 
auf seine  Anerbietungen  zurückgezogen;  nachdem  er  nun  bis  gestern 
abend  erfahren  habe,  daß  Euere  Majestät  keinen  Anstand  nehmen 
würden,  die  Entlassung  des  Fürsten  Bismarck  zu  vollziehen,  würde 
der  Kaiser  Alexander  auf  die  Verlängerung  des  geheimen  Vertrages 
verzichten,  da  eine  so  geheime  Angelegenheit  mit  einem  neuen  Reichs- 
kanzler nicht  verhandelt  werden  könne 2***.  H.  Bismarck 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Kopf  des  Schriftstücks: 
Einverstanden  mit  Erneuerung  des  Vertrages  und  ermächtige  Sie  das  Schuwaloff 
mitzutheilen  20.  111.  90. 
Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Einverstanden 
*  warum? 

♦  Siehe  den  Text  des  Vertrages  in  Bd.  V,  Kap.  XXXIV,  Nr.  1092. 
**  Graf  Schuwalow  war,  nachdem  er  am  10.  Februar  (nicht  am  12.,  wie  Goriainow, 
The  end  of  the  Alliance  of  the  Emperors,  The  American  Historical  Review 
Vol.  XXIIl,  p.  340  anführt)  eine  eingehende  Erörterung  mit  Fürst  Bismarck  über 
den  Rückversicherungsvertrag  und  seine  wünschenswerte  Verlängerung  gehabt 
hatte,  und  nachdem  er  in  Verfolg  dieser  Unterredung  von  Kaiser  Wilhelms  II. 
Bereitwilligkeit,  auf  die  Verlängerung  einzugehen,  verständigt  war  (siehe  Nr.  1367), 
am  27.  Februar  nach  Petersburg  gefahren,  um  dort  die  Angelegenheit  zu  be- 
treiben. Über  die  Unterredung  zwischen  Bismarck  und  Schuwalow  vom  10.  Fe- 
bruar liegt  keine  Aufzeichnung  bei  den  Akten;  wir  sind  hier  ganz  auf  den 
ausführlichen  Bericht  Graf  Schuwalows  (Goriainow,  a.  a.  O.,  p.  340  ff.)  angewiesen. 
***  Vgl.  H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1S90— 1S93  Bd.  I  (1913),  S.  113  f.  Nach 
Graf  Schuwalows  Bericht  (vgl.  Nr.  1373,  Anlage)  hätte  er  nicht  gesagt,  daß  Kaiser 
Alexander  nunmehr  auf  die  Vertragserneuerung  verzichte,  sondern  nur,  daß  er, 
Schuwalow,  angesichts  der  Entlassung  Bismarcks  erst  die  Befehle  seines  Gou- 
vernements einholen  müsse.    Vgl.  Goriainow  a.  a.  O.,  p.  343. 


Nr.  1367 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
Graf  Herbert  von  Bismarck  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Eigenhändige  Ausfertigung 
Geheim  Berlin,  den  20.  März  18Q0 

Aus  Euerer  Majestät  Allerhöchstem  Marginaldekret  zu  meinem 
wiederangeschlossenen  ehrfurchtsvollen  Immediatbericht  von  heute  mit- 
tag* entnehme  ich,  daß  ich  denselben  nicht  klar  genug  abgefaßt  habe, 
und  ich  gestatte  mir  daher,  die  nachstehende  alleruntertänigste  Erläu- 
terung Euerer  Majestät  zu  unterbreiten. 

Bereits  vor  der  Abreise  des  Grafen  Schuwalovv  nach  Petersburg 
hatten  Euere  Majestät  den  Fürsten  Bismarck  ermächtigt,  dem  rus- 
sischen Botschafter  auf  dessen  damalige  vertrauliche  Anregung  zu  sa- 
gen, daß  Allerhöchstdieselben  geneigt  seien,  den  in  drei  Monaten  ab- 
laufenden geheimen  Vertrag  zu  erneuern,  und  dies  war  dem  Grafen 
Schuwalow  damals  mitgeteilt.  Letzterer  beabsichtigte,  in  diesen  Tagen 
auf  Grund  der  ihm  vom  Zaren  gegebenen  Vollmacht  mit  dem  Fürsten 
Bisrparck  in  Verhandlung  zu  treten.  Nachdem  Fürst  Bismarck  aber 
inzwischen  von  Euerer  Majestät  aus  seinen  Ämtern  entlassen  ist,  hat 
mir  der  Graf  Schuwalow,  wie  ich  im  letzten  Satz  der  Anlage  alier- 
untertänigst  berichtete,  nun  mitgeteilt,  daß  russischerseits  auf  eine  Ver- 
längerung des  Vertrages  verzichtet  ^  würde. 

Nach  dieser  Eröffnung  des  Grafen  Schuwalow  vermag  ich  also 
nicht,  auf  die  Sache  zurückzukommen,  da  derselbe  nicht  darüber  im 
unklaren  ist,  daß  Euere  Majestät  die  Ermächtigung  zur  Verhandlung 
über  Erneuerung  des  geheimen  Abkommens  früher  erteilt  hatten,  und 
mir  trotzdem  gestern  abend  die  Allerhöchstdenselben  in  der  Anlage 
ehrfurchtvollst  gemeldete  negative  Äußerung  machte. 

H.  Bismarck 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Warum? 

Nr.  1368 

Aufzeichnung  des  Unterstaatssekretärs  im  Auswärtigen  Amt 
Grafen  von  Berchem 

Reinschrift,  am  25.  März  dem  Reichskanzler  von  Caprivi  eingehändigt,  von  diesem 
am  28.  zu  den  Akten  gegeben** 

Berlin,  den  25.  März  18Q0 
Der  Vertrag,   um    dessen   Erneuerung   es   sich   handelt,   hat  den 
Zweck,    kriegerische    Ereignisse    hervorzurufen,    deren   LokaHsierung 

♦  Siehe  Nr.  1366. 

♦*  Später,  im  Jahre  1904,  hat  der  als  Unterstaatssekretär  a.  D.  in  München  lebende 

Graf  von   Berchem   in  der  irrtümlichen   Meinung,  daß  seine  Aufzeichnung  vom 


äußerst  unwahrscheinlich  ist;  wir  können  demnach  leicht  auf  diesem 
Wege  den  allgemeinen  Krieg  herbeiführen,  den  wir  sonst  vielleicht 
heute  vermeiden  können  und  vermeiden  sollen,  auch  nach  der  Meinung 
des  Fürsten  Bismarck;  selbst  im  Falle  unserer  Neutralität  würden  wir 
am  Ende  immer  in  die  undankbare  Situation  des  Jahres  1878  geraten. 

Durch  den  zu  erneuernden  Vertrag  würde  jedenfalls  eine  Macht 
von  uns  getäuscht,  wahrscheinlich  aber  würden  beide  in  Frage  stehen- 
den östlichen  Nachbarn  dadurch  mystifiziert  werden;  denn  zunächst 
verweigern  wir  den  Österreichern  die  Bundeshülfe  in  der  ersten  ent- 
scheidenden Zeit  der  Entwickelung  der  bulgarischen  Sache;  sobald 
dieselbe  einen  weiteren  Umfang  genommen,  müssen  wir  jedoch  nach 
der  oft  ausgesprochenen  Meinung  des  früheren  Reichskanzlers  den- 
noch für  Österreich-Ungarn  fechten,  wenn  dasselbe  in  Bedrängnis  ge- 
ratet, wodurch  wir  den  Russen  die  Treue  verletzen.  Ein  guter  Friede 
kann  daraus  nicht  erwachsen,  wohl  aber  eine  dauernde  Verstimmung 
zweier  großer  Nationen,  wie  sie  sich  aus  der  Haltung  Österreichs 
gegen  Rußland  im  Krimkriege  ergeben  hat. 

Der  Vertrag  liefert  uns  schon  in  Friedenszeiten  in  die  Hand  der 
Russen;  sie  erhalten  eine  Urkunde,  womit  sie  jeden  Augenblick  un- 
sere Beziehungen  zu  Österreich,  Italien,  England  und  der  Pforte  trüben 
können*.   Wir  haben  die  letzten  Jahre  namentHch  England  und  Italien 


25.  März  1890  nicht  zu  den  Akten  gelangt  sei,  dem  Reichskanzler  Grafen  von 
Bülow  mittels  Schreibens  vom  3.  Juni  (siehe  Nr.  1391)  eine  eigenhändige  Ab- 
schrift eines  von  ihm  zurückbehaltenen  Entwurfs  zu  jener  Aufzeichnung  übersandt 
Dieser  Entwurf,  der  seither  auszugsweise,  jedoch  nicht  überall  ganz  wortgetreu 
von  Julius  von  Eckardt  (Aus  den  Tagen  von  Bismarcks  Kampf  gegen  Caprivi, 
S.  53ff.)  veröffentlicht  worden  ist,  weist  gegenüber  der  im  März  1890  zu  den 
Akten  gekommenen  Reinschrift  mancheriei  Abweichungen  auf.  So  lautet  gleich 
der  erste  Satz  in  der  ursprünglichen  Fassung:  „Der  Vertrag  hat  den  Zweck, 
einen  Krieg  her\^orzurufen,  dessen  Lokalisierung  äußerst  unwahrscheinlich,  den 
wir  heute  vielleicht  vermeiden  können  und  sollen,  auch  nach  der  Meinung  Seiner 
Durchlaucht."  Aus  den  Worten  „auch  nach  der  Meinung  Seiner  Durchlaucht'' 
braucht  nicht  notwendig  geschlossen  zu  werden,  daß  der  erste  Entwurf  noch  in 
die  Tage  der  Kanzlerschaft  Bismarcks  zurückreicht,  denn  Im  weiteren  Verlauf  des 
Entwurfs  wird  bereits  des  Rücktritts  Bismarcks  als  einer  vollzogenen  Tatsache 
gedacht.  Jedenfalls  ist  ausgeschlossen,  daß  Graf  Berchem  zu  Amtszeiten  Bis- 
marcks der  Auffassung  dienstlich  Ausdruck  gegeben  hätte,  daß  der  Rückversiche- 
rungsvertrag den  Zweck  gehabt  habe,  einen  Krieg  her\-orzu rufen.  Dieser  Berchem- 
sche  Satz  würde  die  ganze  Aufzeichnung  geradezu  in  das  Licht  einer  gegen  Bis- 
marck gerichteten  Intrige  rücken,  wenn  nicht  die  Deutung  möglich  wäre,  daß 
der  Vertrag  nach  Rußlands  Willen  den  Zweck  haben  sollte,  kriegerische 
Ereignisse  hervorzurufen.  In  diesem  Sinne  hat  auch  Julius  von  Eckardt,  der 
sich  auf  mündliche  Äußerungen  Berchems  beruft  (a.  a.  O.,  S.  53),  den  Satz  inter- 
pretiert 

♦  Vgl.  dazu  Bismarcks  Diktat  vom  28.  Juli  1887  und  seinen  Immediatbericht  vom 
gleichen  Tage  Bd.  V,  Kap.  XXXIV,  Nr.  1099,  1100.  Bismarck  war  durchaus  nicht 
der  Ansicht  gewesen,  daß  durch  ein  Bekanntwerden  des  Vertrags  die  Beziehungen 
Deutschlands  zu  Österreich  leider,  könnten;  im  Gegenteil,  er  fand  es  wünschens- 
wert, „wenn  die   Sache  von   Rußland   ebruitiert  wird". 


stets  darauf  hingewiesen,  in  Konstantinopel  den  Sultan  zu  unterstützen; 
die  gegenteilige  Sprache  führen  wir  in  der  Urkunde,  worin  wir  Bul- 
garien, das  Tor  von  Konstantinopel,  und  die  Meerengen  an  Rußland 
vertragsmäßig  ausliefern.  Sobald  die  Lage  für  Rußland  kritisch  werden 
sollte,  dürfte  Österreich,  von  Petersburg  aus  über  dieses  Abkommen 
unterrichtet,  mit  Rußland  einen  Separatfrieden  auf  unsere  Kosten 
schließen,  der  in  diesem  Falle  wegen  des  nicht  ganz  unbegründeten 
Verdachts  unserer  Felonie  in  Österreich-Ungarn  nicht  unpopulär  sein 
würde. 

Der  Vertrag  gewährt  keine  Gegenseitigkeit.  Aller  Vorteil  daraus 
kommt  Rußland  zugute.  Frankreich  wird  uns  nicht  angreifen,  ohne 
Rußlands  Mitwirkung  sicher  zu  sein.  Eröffnet  aber  Rußland  den  orien- 
talischen Krieg,  was  die  Absicht  des  Vertrags  ist,  und  schlägt,  wie 
voraussichtUch,  Frankreich  gleichzeitig  gegen  uns  los,  so  ist  die  Neu- 
tralität Rußlands  gegen  uns  ohnedies  in  den  Verhältnissen  gegeben, 
sie  liegt  auch  ohne  Vertrag  in  diesem  Falle  im  russischen  Interesse. 
Der  Vertrag  sichert  uns  demnach  nicht  gegen  einen  französischen  An- 
griff, gewährt  hingegen  Rußland  das  Recht  der  Offensive  gegen  Öster- 
reich an  der  unteren  Donau  und  verhindert  uns  an  der  Offensive 
gegen  Frankreich,  abgesehen  davon,  daß  er  in  seiner  Tendenz  mit 
dem  deutsch-österreichischen  Bündnis  schwer  vereinbar  ist. 

Die  Bestimmung  des  Zeitpunktes  des  europäischen  Krieges  der 
Zukunft  wird  durch  den  Vertrag  demnach  in  Rußlands  Hände  gelegt, 
und  es  erscheint  nach  den  vorliegenden  Anzeichen  nicht  ganz  un- 
wahrscheinlich, daß  Rußland,  gedeckt  durch  Deutschland,  ein  Interesse 
hat,  bald  loszuschlagen.  Es  darf  dahingestellt  bleiben,  ob  unser  und 
unserer  Verbündeten   militärisches   Interesse  sich   hiermit   deckt. 

Die  Vereinbarung  steht,  wenn  nicht  dem  Buchstaben,  so  jedenfalls 
dem  Geiste  der  Triplealiianz  direkt  entgegen*  und  wird  uns,  wenn  die 
Russen  im  Süden  losbrechen,  voraussichtlich  in  Gegensatz  zu  be- 
freundeten Mächten  bringen.  Der  Vertrag  ist  aber  auch  praktisch  un- 
durchführbar. 

Wenn  Graf  Kälnoky  noch  so  sehr  bestrebt  ist,  unserem  bisherigen 
Standpunkt  entgegenzukommen,  wenn  er  vermieden  hat,  die  Erklärung 


*  Der  Auffassung,  als  ob  der  Rückversicherungsvertrag  „wenn  nicht  dem 
Buchstaben  so  jedenfalls  dem  Geiste"  des  Dreibundes  direkt  zuwider- 
gelaufen sei,  ist  Bismarck  mit  allem  Nachdruck  entgegengetreten.  So  heißt  es 
in  dem  Artikel  der  „Hamburger  Nachrichten"  vom  31.  Oktober  1896,  der  den 
berühmten  „Enthüllungs"-Artikel  vom  24.  Oktober  rechtfertigen  sollte:  „Die  Be- 
hauptung, daß  das  1890  abgelaufene  deutsch-russische  Abkommen  mit  der  Treue 
gegen  den  Dreibund  nicht  verträglich  wäre,  ist  vollständig  aus  der  Luft  ge- 
griffen für  jeden,  der  es  kennt,  und  der  die  Dreibundverträge  auch  nur  ober- 
flächlich liest."  H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890—1898  Bd.  11  (1913),  S.  374.  Auch 
Staatssekretär  Freiherr  von  Marschall,  der  in  den  entscheidenden  Märztagen  des 
Jahres   1890  offenbar   der  Berchcm-Holsteinschen  Auffassung  von  der  Unverein- 


festzulegen,  daß  eine  Besetzung  Bulgariens  durch  Rußland  einen  Kriegs- 
fall für  Österreich-Ungarn  bildet,  und  wenn  auch  der  einflußreiche  un- 
garische Minister  Desider  Szilagyi  für  die  Teilung  der  Interessen- 
sphären auf  der  Balkanhalbinsel  eintreten  sollte,  so  wird  doch  Kaiser 
Franz  Joseph  das  Vorgehen  der  Russen  mit  einer  Truppenaufstellung 
an  der  serbischen  oder  rumänischen  Grenze  beantworten,  welche 
unter  Umständen  militärische  Rückwirkungen  an  der  galizischen  Grenze 
und  demnach  den  wahrscheinHchen  Eintritt  des  casus  foederis  Öster- 
reich gegenüber  für  uns  zur  Folge  haben  wird.  Das  in  auswärtigen 
Fragen  entscheidende  ungarische  Parlament  wird  die  österreichische 
Politik  ins  Schlepptau  nehmen,  selbst  wenn  dieselbe  zu  einer  neutralen 
Haltung  geneigt  wäre.  Graf  Kälnoky  wird  nicht  imstande  sein,  die 
Russen  auch  nur  in  die  Stellung  von  1854  einrücken  zu  lassen;  die 
Verwickelungen  werden  schon  früher  beginnen.  In  einem  frühen  Sta- 
dium der  Ereignisse  wird  die  österreichische  Armee  die  serbische 
Grenze  überschreiten  müssen,  was  zum  Kampfe  mit  den  Serben  und 
Montenegrinern,  den  Bundesgenossen  der  Russen,  führt  und  voraus- 
sichtlich unseren  casus  foederis  mit  Österreich  nach  sich  ziehen  könnte. 
Wird  die  österreichische  Aufstellung  aber  auch  an  der  rumänischen 
Grenze  genommen,  so  tritt  für  uns  in  naher  Zeit  auch  noch  der 
rumänische  casus  foederis  in  Kraft,  und  können  wir  Rußland  unsere 
Zusage  nicht  halten. 

Es  ist  äußerst  unwahrscheinlich,  daß  die  Russen  60  000  wohl- 
bewaffneten Bulgaren  gegenüber  die  Aktion  durch  eine  Landung  in 
Varna  einleiten  werden,  nach  den  ohne  vorgängige  Sicherstellung 
einer  Operationsbasis  bei  Plewna  gemachten  Erfahrungen.  Sie  werden 
demnach  die  Neutralität  Rumäniens  zu  verletzen  gezwungen  sein,  so- 
daß  nicht  nur  im  Westen  sondern  auch  im  Osten  der  rumänische 
casus  foederis  für  uns  vorliegen  wird.  Sollten  wir  Rumänien  im  Stich 
lassen,  so  trieben  wir  dasselbe  in  Rußlands  Arme.  Es  kommt  hierzu, 
daß  Graf  Kälnoky  noch  vor  wenigen  Tagen  laut  amtlichen  Berichtes 
des  Prinzen  Reuß  darauf  hingewiesen  hat,  wie  Österreich-Ungarn  im 
Streitfalle  auf  die  Kooperation  mit  der  bulgarischen  Armee  zu  zählen 
gezwungen  sei  in  Anbetracht  der  Feindschaft  Serbiens;  wir  würden 
nach  dem  Vertrage  hierzu  eine  unfreundliche  Stellung  einnehmen 
müssen. 


barkeit  des  Rückversicherungsvertrages  mit  dem  Dreibundvertrage  nachgegeben 
hat,  hat  am  16.  November  1896  bei  Gelegenheit  der  durch  die  Bismarckschen 
Enthüllungen  veranlaßten  Reichstagsinterpellation  die  Berchemsche  Theorie  der 
Unvereinbarkeit  so  nachdrücklich  wie  möglich  perhorresziert:  „Ich  weise  mit 
aller  Entschiedenheit  den  Gedanken  zurück,  als  ob  jemals  von  deutscher  Seite 
mit  irgendeinem  Staate  etwas  verabredet  worden  sei,  was  unvereinbar  wäre  mit 
bestehenden  Verträgen.  Das  ist  nicht  geschehen,  nicht  dem  Wortlaut, 
auch  nicht  dem  Geiste  nach;  denn  was  je  von  uns  verabredet  wurde, 
sollte  dem  Frieden  dienen,  also  demselben  Zweck  wie  unsere  Verträge."  Steno- 
graphische Berichte  über  die  Verhandlungen  des  Reichstags  1895/97  Bd.  V,  S.  3262. 


Wenn  wir  die  Autonomie  Bulgariens  preisgeben,  so  gehen  wir 
einem  Zerwürfnisse  auch  mit  Italien  entgegen.  Crispi,  so  fest  seine 
Stellung  zurzeit  ist,  wird  nicht  imstande  sein,  eine  Politik  zu  führen, 
die  gegen  die  Selbständigkeit  der  Balkanländer  gerichtet  ist.  Sobald 
wir  Österreichs  Orientpohtik  nach  dem  Vertrage  entgegenzutreten  ge- 
zwungen sein  werden,  so  wird  auch  Italien  beim  österreichischen  Bünd- 
nisse nicht  festzuhalten  sein,  freie  Hand  gewinnen  und  seinen  Vorteil 
da  suchen,  wo  es  ihn  finden  kann,  d.  h.  auf  Kosten  Österreichs. 

Artikel  I  und  III  des  Vertrags  zu  Dreien  mit  ItaHen  von  1882 
und  1887,  sowie  unser  Separatvertrag  mit  ItaHen  (Küste  des  Ägäischen 
Meeres)*  werden  ihrem  Geiste  nach  durch  den  zu  erneuernden  Ver- 
trag gleichfalls  verletzt. 

Was  die  Türkei  betrifft,  so  kann  dieselbe  auf  Grund  eines  solchen 
Abkommens  schon  in  Friedenszeiten  dauernd  in  Rußlands  Arme  ge- 
trieben werden.  Sie  wird  diesem  Einfluß  im  Falle  der  Verletzung  des 
Geheimnisses  russischerseits  um  so  leichter  verfallen,  als  wir  ihr  zu 
verschiedenen  Zeiten  geraten  haben,  ihre  militärischen  Rüstungen  — 
offenbar  nicht  gegen  Westen  —  zu  verstärken,  ein  Ratschlag,  mit  dem 
wir  uns  hiermit  in  Widerspruch  setzen  würden. 

Es  unterliegt  zwar  keinem  Zweifel,  daß  es  für  uns  vorteilhaft  ist,  je 
mehr  die  Russen  ihre  Rüstungen  gegen  unsere  südöstliche  Grenze  ver- 
mehren und  ihre  offensiven  Absichten  dahin  und  nach  der  Balkanhalbinsel 
richten.  Wie  die  Verhältnisse  heute  nach  dem  Rücktritt  des  Fürsten  Bis- 
marck  liegen,  werden  sie  das  bulgarische  Abenteuer  jedoch  nicht  leicht 
unternehmen,  und  das  in  Rede  stehende  Abkommen  wird  uns  dem- 
nach den  Nutzen  der  Ablenkung  der  russischen  Unternehmungslust 
nach  Südosten  nicht  bringen,  wohl  aber  alle  vorerwähnten  Nachteile. 
Eine  so  komplizierte  Politik,  deren  Gelingen  ohnedies  jederzeit  frag- 
lich gewesen  ist,  vermögen  wir  nicht  weiter  zu  führen  nach  dem  Aus- 
scheiden eines  Staatsmannes,  der  bei  seiner  Tätigkeit  auf  dreißig- 
jährige Erfolge  und  einen  geradezu  magnetisierenden  Einfluß  im  Aus- 
lande sich  stützen  konnte.  Aber  auch  dem  Fürsten  Bismarck  ist  es 
nicht  gelungen,  aus  dem  Vertrage  Vorteile  zu  ziehen;  derselbe  hat 
uns  nicht  vor  kritischen  Situationen  Rußland  gegenüber  bewahrt,  nicht 
vor  den  Truppenkonzentrationen  Rußlands  an  unserer  Grenze  und 
vor  lebhaften  Verstimmungen  des  Zaren.  Keinenfalls  aber  werden 
wir  nach  russischer  Seite  aus  dem  Vertrage  so  viel  gewinnen,  als  uns 
aus  demselben  Nachteile  nach  anderen  Richtungen  erwachsen. 

Wir  werden  eine  ruhige,  klare  und  loyale  Politik  zu  führen  haben, 
um  die  Errungenschaften  der  letzten  26  Jahre  festzuhalten;  auf  diesem 


•  Siehe  den  Text  der  Dreibundverträge  von  1882  und  1887  Bd.  III,  Nr.  571,  und 
Bd.  IV,  Nr.  858,  den  Text  des  Deutsch-Italienischen  Separatvertrags  von  1887 
Bd.  IV,    Nr.  85y. 

8 


Wege  wird  die  Erhaltung  und  Förderung  des  Deutschen  Reiches  wohl 
gelingen,  nicht  aber  durch  gefährliche  diplomatische  Wagnisse.  Fürst 
Bismarck  hat  ein  derartiges  Spiel  nicht  einmal  gegenüber  Napoleon  III. 
für  angezeigt  erachtet,  welcher  kein  Papier  in  Händen  hatte,  als  er 
von  seinen  belgischen  Träumen  erwachte.  Die  beabsichtigte  Verein- 
barung erinnert  an  den  Westminster-Vertrag  Friedrichs  des  Großen, 
mit  welchem  er  irrtümlicherweise  den  Versailler  Vertrag  für  kom- 
patibel erachtete,  dennoch  aber  hiermit  den  Siebenjährigen  Krieg  und 
seine  Isolierung  heraufbeschwor. 

Die  Gefahren  eines  russischen  Einmarsches  in  Bulgarien  hat  Fürst 
Bismarck  jedoch  selbst  nicht  unterschätzt;  aus  diesem  Grunde  war  es 
sein  Wunsch,  daß,  wenn  es  zu  Unruhen  im  Orient  käme,  dieselben 
nicht  in  Bulgarien,  sondern  in  den  griechischen  Gewässern  ausbrächen, 
wodurch  die  Gegenwirkung  Englands  und  der  Pforte  gegen  Rußland 
mehr  hervorgerufen  würde. 

Wenn  demnach  gewichtige  Bedenken  der  Erneuerung  der  Abrede 
entgegenstehen,  so  haben  wir  nichtsdestoweniger  an  dem  bisherigen 
Standpunkt  diplomatisch,  jedoch  ohne  uns  zu  binden,  festzuhalten, 
daß  Rußland  ein  wohlbegründetes  Recht  hat,  seinen  Einfluß  in  Bul- 
garien geltend  zu  machen;  wir  werden  den  Kaiser  Alexander  ebenso 
schonend  wie  früher,  wenn  möglich  noch  besser  zu  behandeln  haben, 
um  Vertrauen  in  unsere  Friedenspolitik  zu  erwecken,  und  wir  werden 
in  Wien  unsere  Ansichten  über  Bulgarien  in  der  bisherigen  Weise  zum 
Ausdruck  zu  bringen  haben.  Denn  es  ist  ein  dringendes  Interesse  un- 
serer Politik,  Rußlands  Hoffnungen  auf  Bulgarien  nicht  zu  entmutigen, 
da  diese  Entmutigung  sich  gegen  uns  wenden  würde,  und  zugleich  den 
Widerstand  anderer  Mächte  gegen  Rußland  im  Südosten  Europas  wach- 
zuerhalten.  Wir  können  auch  daran  festhalten,  daß  es  in  unserm  Inter- 
esse liegt,  das  Augenmerk  Rußlands  auf  die  Meerengenfrage  zu  lenken, 
wo  der  Gegensatz  zwischen  England  und  vielleicht  auch  Frankreich  mit 
Rußland  sich  entwickeln  wird,  aber  wir  werden  besser  tun,  hierfür 
keinen  Schein  auszustellen. 

Die  Gefahr  eines  Zusammengehens  Frankreichs  mit  Rußland  ist 
heute  geringer  als  noch  vor  einigen  Jahren,  wir  haben  kein  Interesse, 
dieses  Zusammengehen  zu  beschleunigen,  indem  wir  zu  einem  bulgari- 
schen Abenteuer  raten  in  einem  Augenblick,  da  wir  einen  Konflikt  mit 
Frankreich  nicht  wünschen  können. 

Fürst  Bismarck  hat  wiederholt  im  Reichstag  darauf  hingewiesen, 
daß  ein  großer  Krieg  heutzutage  nicht  ohne  lebhafte  Begeisterung  der 
Völker  geführt  werden  könne.  Diese  Begeisterung  würde  fehlen,  unsere 
Haltung  würde  dem  deutschen  Volke  unverständlich  bleiben,  wenn  wir 
im  Falle  von  politischen  Störungen  anfangs  ein  schwer  verständliches 
Spiel  trieben,  den  Anschei^n  erweckten,  als  wollten  wir  unsere  Bundes- 
genossen im  Stich  lassen,  und  erst  spät  in  die  Aktion  träten. 


Wir  haben  demnach  allen  Grund,  die  durch  russische  Initiative 
gegebene  Gelegenheit,  von  der  Abrede  zurückzutreten,  nicht  unbenutzt 
zu  lassen;  es  muß  dies  in  der  freundschaftlichsten  Weise  geschehen. 

Be  rchem 


Nr.  1369 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  28.  März  1890 
Am  gestrigen  Tage  haben  der  Unterzeichnete  und  der  Botschafter 
General  von  Schweinitz*  Seiner  Majestät  Vortrag  über  die  eventuelle  Er- 
neuerung des  geheimen  Vertrages   mit   Rußland  gehalten.    Sie  haben 
dabei  übereinstimmend  die  Ansicht  vertreten,  daß  solche  Erneuerung 


*  Botschafter  von  Schweinitz  war  auf  Veranlassung  des  Kaisers  am  21.  März  aus 
Petersburg  in  Berlin  eingetroffen,  um  an  dem  für  den  22.  anberaumten  Kapitel 
des  Schwarzen  Adlerordens,  wo  u.  a.  Prinz  Georg  von  Großbritannien  im  Bei- 
sein seines  Vaters,  des  Prinzen  von  Wales,  nachmaligen  Königs  Eduard  VII., 
investiert  werden  sollte,  teilzunehmen.  Schweinitz  wurde  in  Berlin  sogleich  zu 
den  Verhandlungen  über  den  Rückversicherungsvertrag  herangezogen.  Anfäng- 
lich sprach  er  sich  zugunsten  einer  Verlängerung  aus;  es  gelang  jedoch  Berchem 
und  Holstein,  ihn  umzustimmen,  speziell  mittels  Vorlegung  des  Rumänischen; 
Bündnisvertrags  von  18S3,  der  dem  Botschafter  nicht  mit  dem  Rückversicherungs- 
vertrag verträglich  erschien.  Vgl.  die  retrospektiven  Angaben  Berchems  und 
Holsteins  in  Nr.  1391  und  Nr.  1392.  Holstein  glaubte  noch  am  28.  März  in  Schwei- 
nitz einen  Anhänger  des  russischen  Vertrags  und,  was  für  ihn  identisch  war, 
einen  Parteigänger  von  Bismarck  Vater  und  Sohn  sehen  zu  sollen,  der  diese 
beiden  mittels  des  Rückversicherungsvertrages  wieder  in  den  Sattel  setzen  wollte. 
Siehe  das  charakteristische  Schreiben  Holsteins  vom  28.  März  bei  Vindex  Scrutator, 
Warum  der  russische  Draht  zerriß.  „Der  Tag".  Ausgabe  B  (rot)  vom  4.  November 
1920.  Daß  Holstein  die  treibende  Kraft  bei  der  Nichterneuerung  des  Rück- 
versicherungsvertrags gewesen  ist,  indem  er  zu  einer  Zeit,  als  Graf  Herbert 
Bismarck  noch  im  Amte  war,  und  ohne  dessen  Vorwissen  den  Text  des  Rück- 
versicherungsvertrages und  der  übrigen  nacii  seiner  Behauptung  damit  nicht  zu 
vereinbarenden  Verträge  erst  Caprivi,  dann  Marschall,  schließUch  Schweinitz  vor- 
legte, geht  auch  aus  einer  späteren  Aufzeichnung  Marschalls  vom  4.  Dezember 
1911  über  die  Meerengenfrage  hervor,  in  der  es  u.  a.  heißt:  „Als  nach  dem 
Sturze  des  Fürsten  Bismarck  von  mir  als  Staatssekretär  an  Stelle  Herbert  Bis- 
marcks  die  Rede  war,  erfuhr  ich  von  dem  geheimen  Rückversicherungsvertrag  mit 
Rußland,  der  kurz  darauf  ablief,  und  dessen  Verlängerung  Rußland  begehrt  hatte. 
Diesen  Vertrag  zeigte  mir  damals  Herr  von  Holstein.  Als  ich  da 
las,  daß  wir  den  Russen  in  ziemlich  unverblümten  Worten  die  Meerengen  und 
Konstantinopel  als  Gegenleistung  für  die  russische  Neutralität  in  gewissen  Kriegs- 
fällen zusagten,  habe  ich  Holstein  erklärt,  daß  ich  das  Amt  des  Staatssekretärs 
nicht  annehmen  werde,  wenn  dieser  Vertrag  verlängert  werde,  und  dies  damit 
begründet,  daß  ich  darin  eine  Untreue  gegen  Österreich-Ungarn  erblickte.  Ich 
habe  beigefügt,  daß  ein  großer  Mann  wie  Bismarck  auch  mit  solchen  kompli- 
zierten Instrumenten  arbeiten  könne,  ich  als  einfacher  Mensch  dagegen  außer- 
stande sei,  einen  solchen  Vertrag,  wenn  er  je  bekannt  werde,  unseren  Ver- 
bündeten  gegenüber  zu    rechtfertigen.    Caprivi   war   derselben   Ansicht." 

10 


zwar  das  Resultat  haben  würde,  Rußland  koalitionsunfähig  zu  machen, 
daß  aber  die  Festsetzungen  des  Vertrages  weniger  ihrem  Wortlaut 
als  ihrem  Sinne  nach  mit  dem  Dreibund,  mit  dem  Vertrage,  den  wir 
mit  Rumänien  haben,  und  mit  der  Einwirkung,  die  deutscherseits  auf 
England  geübt  ist,  nicht  wohl  in  Einklang  zu  bringen  seien.  Das  Be- 
kanntwerden des  Vertrages,  sei  es  durch  eine  absichtliche  oder  eine 
zufällige  Indiskretion,  gefährde  den  Dreibund  und  sei  geeignet,  England 
von  uns  abzuwenden.  Herr  von  Schweinitz  hielt  eine  absichtliche  In- 
diskretion seitens  Rußlands  um  deshalb  für  höchst  unwahrscheinlich, 
weil  sie  der  Natur  des  Zaren  widerspreche,  und  weil  sie  in  Rußland 
die  öffentliche  Meinung  gegen  die  Regierung  erregen  werde,  erkannte 
aber  auch,  daß  die  MögHchkeit  anderweiter  Indiskretionen  nicht  aus- 
geschlossen sei. 

Seine  Majestät  befahlen  hierauf,  daß  der  Herr  Botschafter  bei 
seiner  Rückkehr  nach  Rußland  dort  an  geeigneter  Stelle  aussprechen 
solle,  wie  diesseits  der  bestimmte  Wille  vorliege,  nach  wie  vor  die 
besten  Beziehungen  zu  Rußland  zu  unterhalten,  wie  aber  in  dem 
Personenwechsel,  der  sich  in  Deutschland  gegenwärtig  vollzogen,  und 
der  uns  das  Bestreben  nahe  lege,  fürs  erste  uns  ruhig  zu  verhalten 
und  in  keinerlei  weitgehende  Verhandlungen  einzutreten,  der  Grund 
liege,  "Weshalb  wir  für  geratener  hielten,  von  einer  Erneuerung  des 
Vertrages  abzustehen. 

v.  Caprivi 

Nr.  1370 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  103  St.  Petersburg,  den  3.  April  1890 

Geheim 

Bald  nach  meiner  Rückkehr,  am  Abend  des  31.  März,  begab  ich 
mich  zu  Herrn  von  Giers,  der  mich  mit  Ungeduld  erwartete.  Ich 
bemerkte  sogleich,  daß  Graf  Schuwalow  den  Minister  nur  unvoll- 
ständig über  die  Vorgänge  der  letzten  Tage  unterrichtet  hatte,  was 
ich  in  Anbetracht  der  Zartheit  einiger  Einzelheiten  nur  billigen  kann. 
Ich  fand  also  Herrn  von  Giers  noch  unter  dem  günstigen  Eindrucke, 
welchen  der  Bericht  des  russischen  Botschafters  über  seine  Audienzen 
bei  unserem  allergnädigsten  Kaiser  und  Herrn*  hervorbrachte;  Graf 
Schuwalow  hatte  zwar  infolge  meiner  Mitteilungen  vom  28.  März 
hierher  telegraphiert,  daß  ich  ohne  Vollmacht  nach  St.  Petersburg  zu- 
rückkehren würde,  aber  der  Minister  hielt  noch  an  der  Hoffnung  fest, 


*  Siehe  Nr.  1373,  Anlage. 

11 


daß  hierdurch  vielleicht  nur  eine  Veränderung  des  Wortlautes,  eine 
Verzögerung  des  Abschlusses,  doch  kein  Fallenlassen  des  Vertrages 
herbeigeführt  werde. 

Nachdem  ich  nun  die  großen  Tatsachen,  welche  sich  durch  den 
Personenwechsel  im  Auswärtigen  Amte  vollzogen,  in  ihrer  Bedeutung 
geschildert  und  meine  Überzeugung,  daß  hierdurch  an  unseren  guten 
Beziehungen  zu  Rußland  nichts  geändert  werde,  begründet  hatte,  gab 
ich  allmählich  Herrn  von  Oiers  zu  verstehen,  daß  meine  Regierung 
gegenwärtig  nicht  beabsichtige,  den  am  18.  Juni  d.  Js.  ablaufenden  Ver- 
trag zu  erneuern. 

Obwohl  ich  diese  Mitteilung  mit  allen  jenen  schonenden  Bemer- 
kungen umkleidete,  welche  mir  die  Gemeinsamkeit  unserer  monar- 
chischen Interessen,  unser  fester  Wille,  den  Frieden  zu  erhalten  und 
den  im  Vordergrunde  stehenden  russischen  Verlegenheiten  in  Bul- 
garien nach  wie  vor  Rechnung  zu  tragen,  an  die  Hand  gab,  so  war 
Herr  von  Giers  doch  etwas  konsterniert. 

Ohne  sich  ausführlich  zu  äußern,  ließ  mich  der  russische  Minister 
doch  erkennen,  welches  Bild  der  politischen  Gesamtlage  sich  vor  seinem 
Auge  aufrollte:  Die  drei  Zentralmächte  des  Kontinents  durch  laut  ver- 
kündete Verträge  verbunden,  England  durch  wiederholten  Austausch 
von  Höflichkeiten  und  neuerdings  durch  den  Besuch  des  Prinzen  von 
Wales*  Deutschland  genähert,  Frankreich  durch  unverkennbare  Friedens- 
sehnsucht der  Bevölkerung  im  Racheeifer  etwas  gemäßigt,  Österreich- 
Ungarn  von  der  weisen  und  wohlmeinenden,  aber  strengen  Kontrolle 
des  Fürsten  Bismarck  befreit,  und  dem  gegenüber  Rußland,  allein,  ohne 
jedes  Abkommen  mit  uns  oder  mit  irgendeiner  anderen  Macht  —  so 
etwa  mochte  Herrn  von  Giers  die  Situation  seines  Landes  erscheinen; 
dieses  hat  nun  freilich  seit  Jahren  durch  alle  Organe  seiner  öffent- 
Hchen  Meinung  stürmisch  gefordert,  daß  es  völlig  frei  von  jeder  binden- 
den Abmachung  mit  europäischen  Mächten  und  besonders  mit  Deutsch- 
land, stolz  auf  seine  unnahbare  Kraft  und  Größe  frei  dastehe,  nur 
die  eigenen  Interessen  pflegend,  dabei  aber  Frankreichs  Freundschaft 
auch  ohne  Vertrag  in  jedem  AugenbHcke  sicher. 

Während  diese  den  Slawophilen  so  teuere  Aktionsfreiheit  die  Popu- 
larität Alexanders  III.  im  Inneren  und  sein  Ansehen  im  Auslande  ver- 
mehrte, begriff  Herr  von  Giers  doch  sehr  wohl,  daß  eine  solche 
Isolierung  Nachteile  und  Gefahren  mit  sich  bringe,  und  deshalb  be- 
mühte er  sich  seit  neun  Jahren  rastlos  unter  unausgesetzten  Kämpfen 
erst  gegen  Ignatiew  und  dann  gegen  Katkow,  den  jungen  Zaren  zu 
vermögen,  daß  er  das  von  seinem  Herrn  Vater  mit  Deutschland 
und  Österreich-Ungarn  geknüpfte  Band  nicht  löse  und,  als  dies  1887 
nicht  mehr  zu  halten  war,  ein  neues  mit  uns  allein  ganz  im  geheimen 
anknüpfte. 


•  Er  weilte  seit  dem  21.  März  am  Kaiserlichen  Hoflagcr  zu  längerem  Besuch. 
12 


Hierdurch  wurde  ein  für  Rußland  sehr  günstiges  Verhältnis  ge- 
schaffen, durch  welches  es  instand  gesetzt  wurde,  seine  Rüstungen 
und  seinen  Aufmarsch  im  Westen  und  Südwesten  zu  fördern,  ohne 
sich  der  Gefahr  auszusetzen,  durch  eine  aktive  Politik  Österreichs 
gestört  zu  werden,  und  es  ist  daher  erklärlich,  daß  Herr  von  Giers 
mit  Bedauern  und  Besorgnis  einen  Zustand  zu  Ende  gehen  sieht, 
welcher   Rußland  Sicherheit  gewährt,  ohne   ihm   Opfer  aufzuerlegen. 

Aber  auch  für  uns  war  der  geheime  Vertrag  von  hohem  Werte, 
indem  er  den  Zaren  verhinderte,  der  zeitweise  sehr  lauten  Stimme  der 
Slawophilen  und  der  chauvinistischen  Generale,  der  Katkows  und  der 
Skobelews  Gehör  zu  geben  und  einer  Koalition  gegen  uns  beizu- 
treten, während  uns  gleichzeitig  die  Neutralität  Rußlands  im  Falle 
eines  französischen  Angriffskrieges  gesichert  wurde.  Diese  Vorteile 
sind  so  erhebhch,  daß  wir  sie  uns  auch  um  hohen  Preis  erhalten 
müßten,  wenn  wir  nicht  durch  die  aggressiven  Kriegsvorbereitungen 
Rußlands  gezwungen  worden  wären,  mit  mehreren  anderen  Staaten 
Bündnisse  abzuschließen,  welche  so  kompliziert  wurden,  daß  nur  Fürst 
Bismarck  imstande  war,  den  Widerspruch  zu  unterdrücken,  in  welchem 
sie  zu  dem  Deutsch-Russischen  Abkommen  stehen. 

Diesen  nur  teilweis  geheim  gebliebenen  Bündnissen,  welche  uns 
mit  unseren  Alliierten  und  einige  der  letzteren  durch  unser  Zutun 
mit  England  verbinden,  steht  nun  Herr  von  Giers  plötzlich  ganz  ver- 
einsamt gegenüber,  und  es  könnte  niemanden  überraschen,  wenn  er 
anderswo  Anlehnung  suchte. 

Meine  Versicherung,  daß  sich  auch  ohne  schriftliche  Form  in 
der  Sache  nichts  ändere,  daß  unsere  Politik  dieselbe  bleibe,  und  daß 
namentlich  unsere  Anerkennung  der  legitimen  Präponderanz  Rußlands 
in  Bulgarien  ungeschwächt  in  Geltung  fortbestehe,  beruhigte  den  rus- 
sischen Herrn  Minister  einigermaßen;  er  wollte  aber  doch  die  Hoff- 
nung nicht  aufgeben,  daß  der  letztere,  auf  Bulgarien  bezügliche  Satz 
noch  vor  Ablauf  unseres  Vertrages  in  irgendwelcher  Gestalt  schrift- 
lich, vielleicht  durch  Austausch  von  Noten,  bekräftigt  werde.  Ohne 
hierauf  näher  einzugehen,  aber  auch  ohne  ihm  jede  Aussicht  auf  eine 
die  bulgarische  Verlegenheit  mildernde  Zusicherung  zu  nehmen,  habe 
ich  Herrn  von  Giers  wiederholt  versichert,  daß  unsere  vom  Fürsten 
Bismarck  vorgezeichnete  Haltung  in  der  bulgarischen  Frage  nicht  nur 
auch  fernerhin  von  uns  streng  beobachtet,  sondern  auch,  insoweit  es 
unser  freundschaftliches  Verhältnis  zum  Wiener  Kabinett  mit  sich  bringt, 
bei  diesem  vertreten  werden  wird. 

Am  Tage,  der  auf  diese  Unterredung  folgte,  am  1.  April,  hatte 
Herr  von  Giers  Immediatvortrag  bei  Seiner  Majestät  dem  Kaiser, 
welcher  fieberkrank  war  und  sich  deshalb  nicht  lange  mit  seinem 
Minister  beschäftigen  konnte,  aber  doch  sogleich  die  Bereitwilligkeit 
aussprach,  mich  am  3.  April  zu  empfangen.  Der  Kaiser  ist  von  den 
Mitteilungen,   welche   ihm   Herr  von   Giers   auf  Grund   unseres  Ge- 

13 


spräches  machte,  befriedigt  gewesen  und  hat  die  Nachricht,  daß  meine 
hohe  Regierung  den  Vertrag  nicht  verlängern  wolle,  ohne  Befremden 
hingenommen*.  Des  eigenen  ehrlichen  Willens  fest  bewußt  und  end- 
lich ohne  Mißtrauen  gegen  uns,  fühlt  dieser  Monarch  kein  Bedürfnis 
nach  schriftlichen  Abmachungen. 

„Seine  Majestät",  so  sagte  mir  gestern  Herr  von  Oiers,  „hat  dem 
Vertrage  überhaupt  niemals  viel  Interesse  zugewendet,  aber  ich  tue 
es,  und  ich  habe  meine  guten  Gründe  hierzu."  Aus  den  Bemerkungen, 
welche  der  Herr  Minister  hieran  knüpfte,  glaube  ich  schließen  zu  dürfen, 
daß  unter  diesen  „guten  Gründen"  die  Möglichkeit  von  durch  Tod 
oder  sonstwie  hier  eintretenden  Personalveränderungen  obenansteht. 
Bejahrt  und  müde  möchte  Herr  von  Giers  seinen  Nachfolger  binden; 
aber  auch  solange  er  noch  im  Amte  ist,  glaubt  er  des  Vertrages  zu 
bedürfen  als  Bollwerk  seiner  Politik  gegen  die  russischen  Feinde  der- 
selben,  die  chauvinistischen   Generale  und  die  slawophilen  Komitees. 

Weiterhin  erzählte  mir  Herr  von  Giers  folgendes:  „Vor  etwa 
vier  Wochen  brachte  ich  bei  Seiner  Majestät  die  Frage  von  der  Ver- 
längerung unseres  am  18.  Juni  d.  Js.  ablaufenden  Vertrages  zur  Sprache; 
der  Kaiser  ermächtigte  mich,  mit  Ihnen  etwa  zwei  Monate  vor  diesem 
Termin  über  die  Sache  zu  sprechen.  Als  aber  bald  darauf  Graf  Schu- 
walow  hierher  kam  und  mir  sagte,  daß  Fürst  Bismarck  seine  Geneigt- 
heit, das  Abkommen  zu  erneuern,  zu  erkennen  gegeben  habe,  erbat 
ich  die  allerhöchste  Genehmigung,  den  Botschafter  bei  seiner  Rück- 
kehr nach  Berlin  mit  Vollmacht  zu  versehen;  dies  geschah,  wie  Sie 
wissen,  mündlich,  Graf  Schuwalow  traf  am  17./5.  März  in  Berlin 
ein  und  hatte  noch  an  demselben  Tage  eine  Besprechung  mit  dem 
Fürsten,  über  welche  er  telegraphisch  berichtete,  den  Rücktritt  des 
Reichskanzlers  als  unmittelbar  bevorstehend  bezeichnend  mit  dem  Hinzu- 
fügen, daß  letzterer  nicht  ausschließlich  durch  Meinungsverschieden- 
heit in  inneren  Fragen,  sondern  auch  durch  eine  Divergenz  in  der 
auswärtigen  Politik,  namentlich  das  Verhältnis  zu  Rußland  berührend, 
unvermeidlich  geworden  sei.  Das  Nähere  haben  Sie  von  meinem  aller- 
gnädigsten   Gebieter,   welcher  Sie   rufen   ließ,   selbst  gehört." 

„Die  Frage  des  Botschafters,  ob  er  die  Verhandlungen  fortsetzen 
dürfe,  wurde  bejaht,  und  als  dann  am  21. /9.  März  der  höchst  erfreuliche 
und  ausführiiche  telegraphische  Bericht  des  Grafen  Schuwalow  über 
die  Unterredung  einlief,  mit  welcher  ihn  Seine  Majestät  der  Kaiser 
Wilhelm  beehrt  hatte**,  ließ  ich  sofort  auf  allerhöchsten  Befehl  die 
schriftliche  Vollmacht  ausfertigen,  durch  welche  der  Botschafter  in- 
stand gesetzt  wurde,  den  Vertrag  mit  oder  ohne  das  Zusatzprotokoll 
für  fünf  Jahre  zu   veriängern.    Wenn   nun   auch,   wie  Sie  mir  sagen, 


*  Das  wird  bestätigt  durch  die  von  Goriainow  a,  a.  O.,  p,  344  mitgeteilten  Rand- 
bcmtrkiinjren   Kaiser  Alexanders  III. 
♦*  Siehe  Nr.  1373,  Anlage, 

14 


hiervon  jetzt  nicht  mehr  die  Rede  ist,  so  möchte  ich  Ihnen  doch 
gern  die  Instruktion  zeigen,  welche  durch  einen  Kurier  in  derselben 
Stunde  nach  Berlin  geschickt  werden  sollte,  in  welcher  am  28./16. 
März  Schuwalows  telegraphische  Meldung  hier  eintraf,  derzufolge  die 
Verhandlungen   über  die   Vertragserneuerung  sistiert   wurden." 

Der  Minister  zeigte  mir  nun  die  vom  ersten  Rate  des  Auswärtigen 
Amts  Grafen  Lamsdorff  mit  eigener  Hand  sauber  geschriebenen,  zur 
Unterzeichnung  fertiggestellten  Dokumente.  Das  Begleitschreiben  an 
den  Botschafter  begann  mit  dem  Ausdruck  der  hohen  Befriedigung, 
mit  welcher  Seine  Majestät  der  Kaiser  durch  die  vom  Grafen  Schuwalow 
wiedergegebenen  Worte  unseres  allergnädigsten  Kaisers  und  Herrn 
erfüllt  worden  war,  namentlich  durch  die  Versicherung,  daß  die  Er- 
haltung des  äußeren  Friedens  und  der  inneren  Ordnung  das  Bestreben 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  Wilhelm  bleibe.  An  die  warme  Erwiderung 
dieser  Zusicherung  schließt  sich  dann  der  Ausdruck  gleicher  Gesinnung 
und  der  Auftrag,  den  am  18.  Juni  d.  Js.  ablaufenden  Vertrag  ganz 
nach  den  Wünschen  der  deutschen  Regierung  mit  oder  ohne  Zusatz- 
protokoll, aber  lieber  ohne  dasselbe,  auf  fünf  Jahre  zu  verlängern. 
Ich  dankte  dem  Herrn  Minister  für  seine  Mitteilungen  und  sagte, 
daß  alles  beim  alten  bleibe,  wenn  nun  auch  nichts  unterschrieben 
würde.  Herr  von  Giers  antwortete  mir  hierauf  mit  der  Versicherung, 
daß  sein  erhabener  Monarch  auch  ohne  Vertrag  nie  daran  denken 
würde,  aus  der  Neutralität,  welche  dieser  uns  für  gewisse  Fälle  zu- 
sichere, herauszutreten;  der  Minister  fügte  hinzu,  daß  nun  also  vor- 
läufig über  diese  Angelegenheit  weder  unter  uns  beiden,  noch  zwi- 
schen ihm  und  seinem  erhabenen  Souverän  weiter  gesprochen  zu  werden 
brauche,  und  in  dieser  Weise,  in  freundschaftlichem  Tone,  schloß  unsere 
Unterredung,  ohne  Verstimmung  zu  hinterlassen. 

V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 


Nr.  1371 
Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Ausfertigung 

Nr.  104  St.  Petersburg,  den  3.  April  1890 

Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  erteilte  mir  heute  mittag 
12  Uhr  die  nachgesuchte  Audienz  und  empfing  mich  mit  gewohnter 
Güte. 

Nach  den  einleitenden  Worten  huldvoller  Begrüßung  sagte  mir 
der  Kaiser,  er  habe  schon  durch  Herrn  von  Giers  erfahren,  daß  ich 
im  ganzen  befriedigt  aus  Berlin  zurückgekehrt  sei.  Ich  bestätigte  dies 
und  ging  dann  zur  Ausführung  des  mir  erteilten  allerhöchsten  Be- 
fehles über,  indem  ich  sagte:  „Euere  Majestät  hatten  mich  beauf- 
tragt,  meinem   allergnädigsten    Kaiser  und   Herrn   den   Ausdruck   des 

15 


Vertrauens  zu  übermitteln,  daß  durch  den  Rücktritt  des  Fürsten  Bis- 
marck  weder  in  den  persönlichen  Beziehungen  der  Monarchen  noch 
in  den  politischen  der  Staaten  sich  irgendetwas  ändern  werde.  Auf 
Seine  Majestät  den  Kaiser  Wilhelm  haben  diese  Worte,  welche  aller- 
höchstdemselben  in  dem  ernsten  und  schmerzlichen  Augenblicke  der 
Trennung  von  dem  erprobten  Ratgeber  seines  Großvaters  zugingen, 
einen  wohltuenden  Eindruck  hervorgebracht  und  bei  allerhöchstdem- 
selben  volle  Gegenseitigkeit  gefunden.  Ich  bin  beauftragt,  Euerer  Maje- 
stät zu  sagen,  daß  mein  Souverän  die  Gesinnungen  Euerer  Majestät 
teilt  und  erwidert,  und  daß  er  mit  Vergnügen  dem  'Augenblick  ent- 
gegensieht, in  welchem  er  dies  Euerer  Majestät  persönhch  und  münd- 
Hch  auszusprechen  Gelegenheit  finden  wird." 

Kaiser  Alexander  antwortete  hierauf  mit  einigen  entsprechenden 
Äußerungen  über  den  erwarteten  Besuch  und  sprach  dann  mit  sicht- 
Hcher  Befriedigung  die  Hoffnung  aus,  daß  die  warmen  und  gnädigen 
Worte,  welche  Euere  Majestät  unlängst  zu  dem  Grafen  Schuwalow 
gesprochen  haben,  die  Fortdauer  der  zwischen  Deutschland  und  Ruß- 
land bestehenden  Freundschaft  verbürgen,  und  daß  hierin  durch  den 
Abgang  des  Fürsten  Bismarck  nichts  geändert  werde.  „Kaiser  Wil- 
helm", so  erzählte  der  Zar,  „hat  zum  Grafen  Schuwalow  gesagt,  es 
sei  ein  Irrtum,  das  russenfreundliche  Verhalten  Deutschlands  als  Bis- 
marcksche  Politik  zu  bezeichnen;  es  sei  die  Politik  seines  Großvaters 
und  seine  eigene." 

Im  weiteren  Verlauf  der  Audienz  tat  der  Zar  mit  dem  Freimut, 
welcher  ihm  eigen  ist,  mancherlei  Äußerungen,  welche  Euerer  Kaiser- 
lichen und  Königlichen  Majestät  wortgetreu  wiederzugeben  ich  wage: 
Er  sagte  unter  anderem:  mit  der  Tripleallianz  sehe  es  wohl  schlecht 
aus;  die  Lasten,  welche  durch  dieselbe  unseren  Verbündeten  auferlegt 
würden,  seien  gar  zu  schwer,  besonders  für  Italien;  aber  das  schade 
ja  weiter  nichts;  wenn  nur  Rußland  und  Deutschland  zusammenhalten, 
dann  müssen  alle  anderen  ruhig  zusehen.  Österreich  fahre  fort  „de 
faire  ses  petites  cochonneries",  aber  auch  das  sei  nicht  beunruhigend 
für  den  Frieden;  „wenn  nur  Rußland  und  Deutschland  feste  Freund- 
schaft halten,  so  ist  Ruhe.  Was  Sie  im  Innern  vornehmen,  darüber  haben 
wir  nicht  mitzusprechen,  das  geht  uns  nichts  an,  aber  es  ist  mir  sehr 
lieb  zu  hören,  daß  in  der  auswärtigen  Politik  keine  Änderung  eintritt, 
und  daß  darin  keine  Veranlassung  zum  Rücktritt  des  Fürsten  Bismarck 
gelegen  hat." 

Kaiser  Alexander  erkundigte  sich  dann  noch  mit  Interesse  nach 
dem  Verlauf,  welchen  der  Besuch  Seiner  Königlichen  Hoheit  des  Prinzen 
von  Wales  genommen,  und  nach  dem  Eindruck,  den  derselbe  hinter- 
lassen hat.    Ich  schilderte  dies   als   vollkommen   befriedigend. 

Der  Zar  fragte  auch  mit  wohlwollender  Teilnahme  nach  dem 
neuen  Reichskanzler  und  sprach  die  Hoffnung  aus,  daß  derselbe  nicht 
„wie  Graf  Waldersee"  den  Krieg  wünsche  und  herbeizuführen  suche. 

16 


Ich  sagte,  Seine  Majestät  könne  versichert  sein,  daß  General  Caprivi, 
obwohl  ohne  Zweifel  berufen,  im  Kriegsfall  eine  hervorragende  Rolle 
zu  spielen,  doch  nur  der  politischen  Notwendigkeit,  nicht  eigener 
Neigung  oder  Voreingenommenheit  folgend  zum  Kriege  raten  würde. 
„Nun",  sagte  Seine  Majestät,  „s'il  y  regarde  quatre  fois,  tout  sera 
bien." 

Nochmals,  ehe  er  mich  entließ,  sagte  Kaiser  Alexander,  alles 
komme  lediglich  darauf  an,  daß  Deutschland  und  Rußland  gut  zu- 
sammenhalten; hierauf  vertraue  er  fest, 

V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 


Nr.  1372 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  148  St.  Petersburg,  den  15.  Mai  1S90 

Geheim 

Herr  von  Giers  ist  seit  einigen  Tagen  unwohl,  sodaß  er  sich 
vorgestern  nicht  zum  regelmäßigen  Dienstagsvortrage  nach  Gatschina 
begeben  konnte;  gestern  jedoch  war  er  imstande,  die  fremden  Vertreter, 
wie  am  Mittwoch  übHch,  zu  empfangen,  obwohl  er  sich  noch  matt 
fühlte. 

An  einigen  seiner  allgemeinen  Bemerkungen  und  Redewendungen 
konnte  ich  bald  erkennen,  daß  er  etwas  ganz  Besonderes  mit  mir 
vorhabe,  und  in  der  Tat  brachte  er  nach  längerem  Gespräche  über 
gleichgültige  Dinge  ein  Schriftstück  zum  Vorschein,  welches,  drei  Foiio- 
seiten  ausfüllend,  von  des  Grafen  Lamsdorff  feiner  Hand  auf  Velinpapier 
geschrieben  und  mit  einigen  Randbemerkungen  des  Zaren  versehen  war. 
,,Dies  ist'*,  so  hub  Herr  von  Giers  an,  „der  Text  des  Telegramms, 
in  welchem  Graf  Schuwalow  am  20./8.  März  d.  Js.  über  die  Unter- 
redung Bericht  erstattete,  m.it  welcher  ihn  Seine  Majestät  der  Kaiser 
und  König  beehrte,  als  allerhöchstderselbe  den  Botschafter  zu  sich 
in  das  Schloß  beschieden  hatte;  diese  Depesche  ist  außer  meinem 
Souverän  und  dem  Grafen  Lamsdorff,  der  sie  entziffert  und  mundiert  hat, 
niemandem  bekannt;  obwohl  vvir  uns  über  diesen  Gegenstand  schon 
ausgesprochen  haben,  glaube  ich  doch,  Ihnen  dieses  Telegramm  vor- 
lesen zu  sollen." 

Als  die  Lektüre  beendet  war,  sagte  ich,  daß  ich  durch  dieselbe 
nichts  Neues  erführe,  weil  mir  Graf  Schuwalow,  als  ich  ihn  in  jenen 
Märztagen  in  Berlin  häufig  sah,  die  entsprechenden  Mitteilungen  ge- 
macht und  von  mir  die  notwendigen  Aufklärungen  erhalten  habe. 

2    Die  Große  Politik.  7.  Bd  17 


Der  russische  Minister  entwickelte  mir  hierauf  ähnlich,  aber  mit 
noch  mehr  Wärme  als  in  unserer  Unterredung:  vom  31.  März  d.  Js. 
(Confer:  Geheimen  Bericht  Nr.  103  vom  3.  April  d.  Js.*)  die  Gründe, 
weiche  es  ihm  bedauerlich  erscheinen  lassen,  daß  vom  18.  Juni  d.  Js. 
ab  kein  schriftliches  Abkommen  mehr  zwischen  uns  bestehen  solle;  er 
lege  gar  keinen  Wert  auf  die  weitgehenden  Abmachungen  des  Zusatz- 
protokolls oder  auf  jene  Adjektive  wie  „preponderante  et  decisive", 
welche  nicht  durch  ihn,  sondern  teils  durch  Herrn  Saburow,  teils  durch 
Graf  Schuwalow  hineingebracht  worden  seien;  ihm  sei  es  einzig  und 
allein  darum  zu  tun,  daß  etwas  Schriftliches  vorhanden  sei,  welches  die 
wesentliche  Grundlage  der  jetzt  bestehenden  guten  Beziehungen  vom 
Wechsel  der  Personen  unabhängig  mache. 

„Ich  will  mich  nicht  rühmen,"  sagte  Herr  von  Giers,  „aber  Sie 
wissen  es  ja  doch  ,que  je  suis  le  ressort',  auf  welchem  die  jetzige 
Politik  beruht;  morgen  kann  ein  anderer  hier  auf  diesem  Stuhle  sitzen, 
und  für  diesen  Fall  möchte  ich  etwas  Bindendes  zurücklassen.'' 

Als  ich  auch  diesen  Argumenten  gegenüber  in  meiner  Zurück- 
haltung verharrte  und  zu  verstehen  gab,  daß  ich  die  Frage  der  Er- 
neuerung unseres  Vertrages  als  eine  bereits  erledigte  ansehen  müsse, 
fuhr  der  Herr  Minister  fort,  den  Nutzen  einer  schriftlichen,  wenn  auch 
nur  die  Hauptlinien  festlegenden  Abmachung  zu  besprechen  und  mit 
aufrichtiger  Überzeugung  das  Mißliche  hervorzuheben,  welches  darin 
liegt,  daß  nach  dem  18.  Juni  gar  nichts  an  die  Stelle  des  Bestehenden 
treten,  und  dieses  somit  völlig  ins  Leere  fallen  solle.  „Es  bedürfe  ja 
gar  keines  Vertrages,"  sagte  Herr  von  Giers,  „ein  Austausch  von  Noten 
würde  genügen  —  vielleicht  ein  Briefwechsel  zwischen  den  Monarchen." 

Euere  Exzellenz  wollen  aus  diesen  Andeutungen  des  russischen 
Ministers  hochgeneigtest  entnehmen,  daß  er  triftige  Gründe  haben 
muß,  um  in  so  dringender  Weise  und  in  der  immerhin  ungewöhn- 
lichen Form  des  Hinweises  auf  Eröffnungen,  welche  unser  alier- 
gnädigster  Kaiser  und  Herr  dem  russischen  Botschafter  gemacht  hat, 
auf  das  Verlangen  nach  einer  schriftlichen  Abmachung  zurückzukommen, 
durch  welche  vor  allem  anderen  der  russischen  Regierung  die  Möglich- 
keit genommen  wird,  sich  mit  Frankreich  zu  gemeinschaftlichem  Vor- 
gehen zu  koalisieren.  Aus  der  Bereitwilligkeit  des  Herrn  von  Giers 
nicht  nur  das  „Protocole  additionnel  et  tres  secret",  welches  uns 
zum  „concours  en  Bulgarie"  und  zum  „appui  moral  et  diplomatique" 
an  den  Meerengen  verpflichtet,  fallen  zu  lassen,  sondern  auch  auf  die 
Anerkennung  der  „influence  preponderante  et  decisive  en  Bulgarie  et 
en  Roumelie"  zu  verzichten,  wollen  Euere  Exzellenz  ferner  ersehen,  daß 
die  Motive  des  Ministers  nicht  in  der  Absicht,  aktiv  auf  der  Balkan- 
halbinsel vorzugehen,  zu  suchen  sind.  Ich  habe  demnach,  indem  ich  die 
Worte  des  Herrn  von  Giers  pflichtgemäß  zu  Euerer  Exzellenz  Kenntnis 

*  Siehe  Nr.  1370. 
18 


bringe,  nur  hinzuzufügen,  daß  nach  meinem  ehrerbietigen  Dafürhalten 
der  Augenblick  günstig  ist,  um  uns  die  Neutralität  Rußlands  im  Falle 
eines  französischen  Angriffs  zu  sichern,  ohne  Verbindlichkeiten  zu  er- 
neuern, welche  mit  unseren  vertragsmäßigen  Verpflichtungen  gegen 
andere  Mächte  unvereinbar  sind.  Ich  darf  hierbei  nicht  unterlassen, 
die  unvorgreifliche  persönliche  Ansicht  auszusprechen,  daß,  wenn  wir 
die  weit  entgegenkommenden  Anträge  des  russischen  Ministers  völlig 
abweisen,  er  oder  sein  Nachfolger  gezwungen  sein  würde,  die  Anlehnung, 
die  er  bei  uns  nicht  findet,  anderwärts  zu  suchen. 

Herrn  von  Giers  gegenüber  habe  ich  mich  einstweilen  reserviert 
und  fast  nur  zuhörend  verhalten ;  als  ich  im  Laufe  des  Gespräches  unseres 
ihm  bekannten  Vertrages  mit  Österreich  Erwähnung  tun  mußte,  sagte 
der  Herr  Minister,  Rußland  hätte  diesem  Vertrage  beitreten  können, 
wenn  er  nicht  auch  Italien  einschlösse. 

Beiläufig  erwähnte  Herr  von  Giers,  daß  er  dem  Grafen  Schuwalow 
keinen  Auftrag  erteilen  werde.  Schritte  in  dem  Sinne,  in  welchem  er  zu 
mir  gesprochen  habe,  zu  tun;  ich  antwortete  ihm,  daß  ich  dies  sehr 
richtig  fände;  obwohl  ich  ihm  nicht  zugesagt  habe,  seine  Mitteilungen 
ad  referendum  zu  nehmen,  so  werde  ich  doch,  ehe  er  in  seine  finn- 
ländische  Sommerwohnung  zieht,  was  gleich  nach  dem  Besuche  des 
Kronprinzen  von  Italien,  also  in  etwa  14  Tagen,  geschehen  wird,  seine 
Anregung  durch  eine  Rückäußerung  erwidern  müssen. 

V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 


Nr.  1373 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Eigenhändiger  Privatbrief 

Geheim  St.  Petersburg,  den  16.  Mai  18Q0 

Eure  Exzellenz  werden  aus  meinem  Ihnen  heute  zugehenden  ge- 
heimen Berichte  Nr.  148  vom  15.  d.  Mts.*  ersehen  haben,  daß  Herr 
von  Giers  auf  den  Gedanken,  welchen  er  mir  am  31.  März  d.  Js.  aus- 
sprach, und  den  ich  in  Nr.  103  vom  3.  April**  meldete,  zurückgekommen 
ist,  nämlich  auf  den  Wunsch,  daß  an  die  Stelle  des  am  18.  Juni  d.  Js. 
ablaufenden  Vertrages  etwas  anderes  treten  möge. 

Um  seiner  damaligen  Anregung,  welche  bisher  ohne  Echo  ge- 
blieben ist,  Nachdruck  zu  geben,  las  mir  jetzt  Herr  von  Giers  den 
Text  des  Telegramms  vor,  in  welchem  Graf  Schuwalow  über  die  Er- 
öffnungen Bericht  erstattet,  mit  denen  ihn  unser  allergnädigster  Kaiser 

*  Siehe  Nr.  1372. 
**  Siehe  Nr.  1370. 


2» 


19 


und  Herr  am  20.  März  d.  Js.  im  Königlichen  Schlosse,  wohin  der  Bot- 
schafter berufen  worden  war,  beehrt  hat. 

Insoweit  als  mein  Gedächtnis  mich  nicht  im  Stiche  läßt,  glaube  ich 
alle  wesentlichen  Sätze  des  Schuwalowschen  Telegrammes  in  der  bei- 
Hegenden  Aufzeichnung*  wiederzugeben,  welche  ich  gemacht  habe, 
sobald  ich  in  meine  Wohnung  zurückgekehrt  war;  die  Stelle,  auf  welche 
es  ankommt,  habe  ich  unterstrichen. 

Aus  Gründen,  welche  Eure  Exzellenz  hoffentlich  billigen  werden, 
hielt  ich  es  nicht  für  angemessen,  die  kaiserlichen  Worte  in  meinen 
amtlichen  Bericht  aufzunehmen;  ich  ziehe  es  vor,  den  Wechsel  auf 
Sicht,  den  mir  Herr  von  Giers  präsentiert  hat.  Eurer  Exzellenz  gehor- 
samst zu  überreichen  mit  dem  Anheimstellen,  davon  nach  eigenem 
hohem  Erachten  Gebrauch  zu  machen. 

Ich  hahe  es  nicht  für  ratsam,  die  Hand,  welche  der  Zar  nochmals 
ausstreckt,  zurückzustoßen;  dagegen  scheint  es  mir  wohl  möglich  in 
Anbetracht  der  herabgeminderten  Ansprüche  Rußlands,  etwas  Schrift- 
liches zu  vereinbaren,  welches,  selbst  wenn  es  einmal  bekannt  werden 
sollte,  nicht  gegen  uns  verwertet  werden  könnte  und  uns  doch  die 
Neutralität  Rußlands  mindestens  für  die  ersten  Wochen  eines  französi- 
schen Angriffskrieges  sichern  würde. 

Indem  ich  diese  Erwägungen  Eurer  Exzellenz  ehrerbietig  unter- 
breite, bitte  ich,  eine  allerhöchste  Entscheidung  über  die  für  unser 
ferneres  Verhältnis  zu  Rußland  maßgebende  Frage  hochgeneigtest  her- 
beizuführen: ob  ich  auf  die  erneute  Anregung  des  Herrn  von  Giers 
eingehen  soll? 

V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 

Anlage 

Eigenhändig 

St.  Petersburg,  den  14.  Mai  1890 
Geheim 

Der  russische  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten  las  mir 
heute  ein  Telegramm  des  Graf en  Schuwalow  vom  20.  oder  21.  März  d.  Js. 
vor;  die  nachstehenden  Aufzeichnungen,  welche  ich  mir  machte,  so- 
bald als  ich  in  meine  Wohnung  zurückgekehrt  war,  geben  die  wesent- 
lichen Sätze  des  Telegrammes  wieder,  wenn  auch  ohne  Verbindung 
und   vielleicht   nicht   in   der   richtigen    Reihenfolge**. 

Personnel  et  secret.   Berlin  21/9  mars  1890.   Hier  matin  l'Empereur 

*  Siehe  Anlage. 

♦*  Zur  Kontrolle  vgl.  den  auszugsweise  bei  Goriainow  a.  a.  O.,  p.  343  f.  in  eng- 
lischer Übersetzung  mitgeteilten  Wortlaut  des  Schuwalowschen  Telegramms  vom 
21.  März. 

20 


m'a  invite  de  venir  chez  lui;  Sa  Majeste  m'a  dit  qu'elle  se  trouvait  dans 
la  triste  necessite  de  se  separer  du  chancelier.  L'Empereur  n'avait  pas 
cru  que  ce  moment  fut  si  proche,  mais  il  est  convaincu  de  ne  pas 
pouvoir  remettre  la  penible  decision  parceque  depuis  quelques  semaines 
le  Prince  de  Bismarck  souffre  d'une  teile  surexcitation  des  nerfs,  qu'on 
doit  s'attendre  ä  tout  moment  ä  une  grave  maladie. 

Excepte  quelques  divergences  dans  la  politique  Interieure  il  n'y  a 
pas  de  motifs  politiques  pour  cette  Separation;  c'est  uniquement  pour 
des  raisons  de  sante,  c'est  pour  le  sauver,  que  l'Empereur  lui  donne  sa 
liberte.  —  Sa  Majeste  a  continue:  „Je  veux  que  Votre  Souverain,  qui 
est  mon  ami  et  qui  a  toujours  ete  tres-bon  pour  moi,  sache,  que 
rien  ne  sera  change  dans  nos  relations;  la  politique,  que  le  chancelier 
a  faite,  n'etait  pas  la  sienne,  c'etait  celle  de  mon  grand-pere  et  c'est 
la  mienne." 

„—  Le  Comte  Herbert  Bismarck  m'a  dit,  que  Vous  hesitez  ä  con- 
tinuer  les  negociations  sur  le  renouvellement  de  notre  traite  secret 
en  vue  du  changement  qui  s'opere;  faites  savoir  ä  Votre  Souverain, 
que  je  suis  tout  pret  ä  entrer  dans  ses  vues." 

L'ambassadeur  a  repondu,  qu'en  effet  il  avait  cru  devoir  prendre 

l'avis  de  son  gouvernement,  auquel  il  s'empresserait  maintenant  de 
communiquer  les  gracieuses  assurances  de  Sa  Majeste.  — 

L'Empereur  a  dit:  „Je  desire  que  le  Comte  Herbert  Bismarck  reste; 
Vous  etes  son  ami,  tächez  de  le  convaincre,  qu'il  ne  doit  pas  insister  sur 
sa  demission;  les  conseils  de  son  pere  pourront  toujours  etre  utiles 
ä  sa  gestion  des  affaires,"  — 

„Je  sais  qu'on  s'occupe  des  Conferences  militaires,  auxquelles  j'ai 
convoque  mes  generaux  en  chef  des  corps  d'armee;  excepte  quelques 
changements  d'organisation,  il  ne  s'y  agit  que  des  mesures  ä  prendre 
en  cas  de  desordres,  qui  pourraient  se  produire  par  l'excitation  de  la 
classe  ouvriere  dans  quelques  districts. 

„A  mon  avenement  au  trone  on  a  repandu  le  bruit  que  j'etais 

belliqueux  et  que  j'aspirais  ä  la  gloire  militaire;  il  n'en  est  rien.  Je  ne 
veux  que  la  paix  au  dehors  et  l'ordre  dans  I'interieur."  —  — 

Hierzu  hat  Kaiser  Alexander  die  Randbemerkung  gemacht:  „Das  ist 
genau  dasselbe,  was  ich  will." 

Graf  Schuwalow  schließt  sein  Telegramm  mit  der  Bitte,  instand 
gesetzt  zu  werden,  auf  die  allerhöchsten  Eröffnungen  in  geeigneter 
Weise  zu  antworten;  auf  Befehl  des  Zaren  wurde  ihm  sofort  telegra- 
phisch aufgetragen,  dessen  Dank,  Befriedigung  und  Bereitwilligkeit, 
die  Verhandlung  zum  Abschluß  zu  bringen,  auszusprechen. 

V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 


21 


Nr.  1374 
Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Eigenhändig 

Berlin,  den  20.  Mai  1890 
In  dem  geheimen  russisch-deutschen  Vertrage  nebst  Zusatzprotokoll* 
übernehmen  wir  Verpflichtungen  zur  Unterstützung  von  Rußland ^ 

1.  Hinsichtlich   der   russischen   Rechte   auf   Bulgarien; 

2.  Hinsichtlich  des  Verschlusses  der  Meerengen. 

Jede  dieser  Verpflichtungen  ist  einmal  im  Vertrage,  einmal  im 
Zusatzprotokoll  erwähnt. 

General  von  Schweinitz  schreibt  jetzt,  der  Passus  wegen  Bul- 
garien solle  aus  Vertrag  und  Zusatzprotokoll,  der  Passus  wegen  Ver- 
schlusses der  Meerengen  aus  dem  Zusatzprotokoll  ausgemerzt  werden. 

Der  auf  Verschluß  der  Meerengen  bezügliche  Passus  des  Ver- 
trages würde  also  in  Kraft  bleiben..  Danach  sind  wir  verpflichtet,  in 
Konstantinopel  auf  fortdauernden  Schluß  der  Meerengen  hinzuwirken. 

Schon  während  der  russisch-afghanischen  Verwickelung  1885  haben 
wir  in  diesem  Sinne  in  Konstantinopel  gewirkt**  und  wesentlich  dadurch 
den  englisch-russischen  Krieg  verhindert,  der  sehr  nahe  war.  Durch 
die  SchHeßung  der  Meerengen  wurde  Rußland  für  England  unver- 
wundbar. 

Wenn  wir  die  Meerengenklausel  jetzt  verlängern,  so  muten  wir 
den  Russen  zu,  eine  Tatsache  geheimzuhalten,  die,  wenn  vertrau- 
lich den  Engländern  mitgeteilt,  den  Keil  des  Mißtrauens  zwischen 
England  und  Deutschland  schieben,  dagegen  aber  Moriers***  Gedanken 
einer  englisch-russischen  Verständigung  der  Verwirklichung  näher 
bringen  würde.  Nach  Moriers  Plan  soll  England  sich  von  der  Balkan- 
halbinsel desinteressieren,  wenn  Rußland  verspricht,  sich  Indien  nicht 
mehr  zu  nähern. 

Abgesehen  von  der  Meerengenklausel  würde  die  bloße  Tatsache, 
daß  zwischen  uns  und  Rußland  ein  geheimer  Vertrag  besteht,  zerstörend 
auf  unsre  Vertragsbeziehungen  zu  Österreich,  Rumänien  und  Italien 
wirken  f.  Insbesondere  hat  Italien  nach  dem  Wortlaute  des  deutsch- 
italienischen Vertrages  ausdrücklich  das  Recht,  von  uns  unterrichtet 
zu  werden  sur  nos  propres  dispositions  ainsi  que  sur  Celles  d'autres 
puissances  in  allen  Fragen,  die  sich  auf  das  Ägäische  Meer,  auf  otto- 
manische Küsten   und   Inseln  beziehen. 

Alles  aber,  was  Mißtrauen  gegen  Deutschlands  Politik  erwecken 
kann,  würde  im  gegenwärtigen  Augenblick  besonders  wirksam  sein, 
da  manche  neuerdings  bekannt  gewordenen  Äußerungen  des  Fürsten 

*  Siehe  den  Text  in   Bd.  V,   Kap.  XXXIV,  Nr.  1092. 
*♦  Vgl.   Bd.  IV,  Kap.  XXII,   Nr.  764,  765. 
***  Englischer  Botschafter  in  Petersburg, 
t  Vgl.  S.  6  f.,  Fußnote. 

22 


Bismarck  schon  an  sich  geeignet  sind,  unsre  Verbündeten  unsicher  zu 
machen.  Es  wird  genügen,  hier  an  den  Ausspruch  des  Fürsten  gegen- 
über dem  Korrespondenten  der  „Nowoje  Wremja"  zu  erinnern,  daß  die 
Zuicunft  dem  russisch-deutschen  Bunde  gehören  dürfte*. 

Diese  ungünstige  Zeitlage  bietet  uns  einen  plausiblen  Qrund  zur 
Ablehnung  bezw.  dilatorischen  Behandlung  des  russischen  Ansinnens. 
Wir  können  den  Russen  erwidern,  daß  die  neue  Regierung  sich  öffent- 
lich für  die  Kontinuität  der  deutschen  auswärtigen  Politik  ausgesprochen 
habe,  daß  sie  daher  vor  der  Welt  nicht  ganz  außer  Verbindung  zu 
stehen  scheine  mit  den  Grundsätzen,  welche  Fürst  Bismarck  als  die- 
jenigen der  bisherigen  deutschen  Politik  bezeichne.  Es  sei  deshalb 
für  uns  nötig,  eine  Klärung  der  öffentlichen  Meinung  abzuwarten. 
Außerdem  seien  die  Verhältnisse  auf  der  Balkanhalbinsel,  soviel  hier 
bekannt,  nicht  solche,  die  zu  schneller  Entscheidung  drängen. 

Dabei  dürfte  schon  jetzt  mit  Nutzen  die  Andeutung  zu  machen 
sein,  daß  Abmachungen  unverfänglicher  Art  das  Tageslicht  nicht  würden 
zu  scheuen  haben;  daß  andrerseits  eine  Abmachung  mit  Rußland  seiner- 
zeit nur  als  öffentlicher  Akt  für  uns  denkbar  sein  würde,  damit 
unsre  Verbündeten  sich  überzeugen  könnten,  daß  weder  wir  noch  Ruß- 
land vertragsmäßige  Rechte  zu  verkürzen  beabsichtigten. 

Herrn  von  Schweinitz  wird  man  zu  persönlicher  Information  und 
zur  Regelung  seiner  Sprache  auch  noch  mitteilen  können,  daß  die 
Geheimhaltung  uns  durch  den  Wortlaut  des  deutsch-italienischen  Ver- 
trages direkt  verboten  ist.  Holstein 

Randbemerkung  von  Caprivis: 

^  Auch  Neutralität  in  einem  russisch-englischen  Kriege,    v.  C. 

Nr.  1375 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  20.  Mai  1890 

Zu  dem  Promemoria  des  Herrn  von  Holstein**. 
Ich    bin    mit    dem    anliegenden    Promemoria    vollkommen    einver- 
standen.  Die  Gründe,  welche  gegen  die  Verlängerung  des  am  18.  Juni 


*  Nach  dem  in  den  „Hamburger  Nachrichten"  vcm  23.  und  21.  Mai  veröffent- 
lichten authentischen  Wortlaut  des  Interviews  hätte  Fürst  Bismarck  zu  dem 
Korrespondenten  der  „Nowoje  Wremja"  Lvvovv  nur  gesagt:  „Sie  finden,  daß 
nur  Rußland  und  Deutschland  eine  Zukunft  haben,  darin  liegt  viel  Wahres: 
wenigstens  war  das  auch  mein  steter  Gedanke  bis  zum  Schlüsse  des  Berliner 
Kongresses;  aber  dann  begriff  ich,  daß  es  für  Sie  und  uns  schwer  ist,  in 
dieser  Hinsicht  zusammenzugehen,  denn  Sie  fingen  an,  uns  zu  behandeln  wie 
wirkliche  Prussaken,  wie  ein  Ungeziefer,  und  das  diente  zur  Schädigung  unserer 
Beziehungen."  Penzler,  Fürst  Bismarck  nach  seiner  Entlassung  Bd.  1,  S.  38. 
**  Siehe  Nr.  1374. 

23 


ablaufenden  deutsch-russischen  Vertrages  sprechen,  treffen  in  der  Haupt- 
sache auch  bezüglich  des  neuerlichen  russischen  Vertragsangebotes 
zu.  Daß  sich  Rußland  bereit  erklärt,  einige  Punkte  aus  dem  bisherigen 
Vertrage  zu  beseitigen,  die  geeignet  sind,  ihres  materiellen  Inhalts 
wegen  uns  gegenüber  unsern  Verbündeten  zu  kompromittieren,  er- 
scheint mir  irrelevant  —  der  entscheidende  Punkt  bleibt  der,  daß  wir 
durch  jede  geheime  Abmachung  mit  Rußland  dem  letzteren  eine 
Waffe  in  die  Hand  geben,  um  in  wirksamer  Weise  bei  unseren  Ver- 
bündeten Mißtrauen  gegen  uns  zu  erwecken,  während  Rußland  aus 
der  bloßen  Existenz  einer  Abmachung,  die  wir  gegenüber  unseren 
Verbündeten  geheimzuhalten  uns  verpflichten,  die  Zuversicht  schöpfen 
wird,  daß  der  Dreibund  nicht  das  Maß  innerer  Festigkeit  besitzt, 
um    eventuell   einheitlich   in   Aktion    zu   treten. 

Als  plausibelster  Ablehnungsgrund  des  russischen  Vorschlags  bietet 
sich  der,  daß  bei  den  an  den  verschiedensten  Stellen  hervortretenden 
Versuchen,  gegen  die  auswärtige  Politik  Seiner  Majestät  Mißtrauen  zu 
erwecken,  die  letztere,  zumal  angesichts  des  eingetretenen  Personen- 
wechsels und  der  dadurch  bedingten  Erregung,  mehr  als  je  darauf 
angewiesen  ist,  durch  eine  offene,  klare  Politik  das  Vertrauen  in  die 
Kontinuität  der  bisherigen  friedliebenden  Tendenzen  zu  befestigen, 
und  Deutschland  daher  außerstande  ist,  zurzeit  auf  geheime  Ab- 
machungen einzugehen,  die,  auch  wenn  sie  sich  inhalthch  mit  den 
bestehenden  Verträgen  decken,  doch  geeignet  sind,  eben  wegen  ihrer 
Geheimhaltung  die  deutsche  PoUtik  in  ein  verfängliches  Licht  zu  stellen. 

Marschall 


Nr.  1376 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Kiderlen 

Eigenhändig 

Berlin,  den  20.  Mai  18Q0 
Die  Wichtigkeit,  welche  sowohl  russischer-  als  englischerseits  der 
Wasserstraße  zwischen  Schwarzem  und  Ägäischem  Meer  beigelegt  wird, 
und  die  Verschiedenheit  der  Interessen,  die  Rußland  einer-  und  Eng- 
land andrerseits  an  der  Schließung  resp.  Öffnung  der  sogenannten 
„Meerengen"  haben,  tritt  deutlich  hervor  in  den  Erklärungen,  welche 
die  Vertreter  der  beiden  Staaten  während  des  Berliner  Kongresses  ab- 
gegeben haben*. 

Lord  Salisbury  gab  in  der  18.  Sitzung  folgende  Erklärung  zu  Pro- 
tokoll: 


•  Vgl.  Bd.  M,  S.  334,  Fußnote. 
24 


„Considerant  que  le  Traite  de  Berlin  changera  une  partie  im- 
portante  des  arrangements  sanctionnes  par  le  Traite  de  Paris  de  1856, 
et  que  l'interpretation  de  l'article  2  du  Traite  de  Londres  qui  depend  du 
Traite  de  Paris  peut  ainsi  etre  sujet  ä  des  contestations, 

Je  declare  de  la  part  de  TAngleterre  que  les  obligations  de  Sa 
Majeste  Britannique  concernant  la  clöture  des  Detroits  se  bornent  ä 
un  engagement  envers  le  Sultan  de  respecter  ä  cet  egard  les  determi- 
nations  independantes  de  Sa  Majeste,  conformes  ä  Tesprit  des  Traites 
existants." 

In  der  darauffolgenden  19.  Sitzung  erklärte  Graf  Schuwalow: 

„Les  Plenipotentiaires  de  Russie,  sans  pouvoir  se  rendre  exacte- 
ment  compte  de  la  proposition  de  M.  le  Second  Plenipotentiaire  de  la 
Grande  Bretagne  concernant  la  clöture  des  detroits,  se  bornent  ä 
demander  de  leur  cöte  l'insertion  au  Protocole  de  Pobservation :  qu'ä 
leur  avis,  le  principe  de  la  clöture  des  detroits  est  un  principe  europeen, 
et  que  les  stipulations  conclues  ä  cet  egard  en  1841,  1856  et  1871,  con- 
firmees  actuellement  par  le  Traite  de  Berlin,  sont  obligatoires  de  la 
part  de  toutes  les  Puissances,  conformement  ä  l'esprit  et  ä  la  'ettre 
des  Traites  existants,  non  seulement  vis-ä-vis  du  Sultan,  mais  encore 
vis-ä-vis    de    toutes    les    Puissances    signataires    de    ces    transactions." 

Die  Verschiedenheit  dieser  Anschauungen  erhielt  praktischen  Aus- 
druck, als  im  April  und  Mai  1885  ein  englisch-russischer  Krieg  wegen 
Afghanistans  auszubrechen  drohte.  Englands  ganzes  Bestreben  war 
darauf  gerichtet,  freie  Durchfahrt  durch  die  Dardanellen  zu  erhalten. 
Zunächst  suchten  die  englischen  Staatsmänner  zu  diesem  Zweck  ein 
Bündnis  mit  der  Türkei  zu  schließen  —  allerdings  erfolglos.  Welchen 
Wert  man  englischerseits  auf  die  Durchfahrt  legte,  beweist,  daß  man 
als  Preis  dafür  bereit  war,  der  Türkei  Besetzung  Ägyptens  und  des  Suez- 
kanals, freie  Hand  in  Bulgarien  und  25  Millionen  Pfund  Sterling  zu 
bewilligen.  Andrerseits  drohte  man  dem  Sultan  mit  völliger  Los- 
trennung Ägyptens.  Als  dann  Neutralität  der  Türkei  wahrscheinlich 
wurde,  bestritt  man  englischerseits  die  Theorie  der  andern  Mächte, 
daß  Neutralität  der  Türkei  die  Pflicht  der  Schließung  der  Meerengen 
auferlege.  Dies  biete  den  Russen  einen  solchen  Vorteil,  daß  man  die 
Neutralität  nur  dahin  auslegen  könne,  daß  die  Meerengen  beiden  Krieg- 
führenden gleichmäßig  geöffnet  sein  müßten.  Diese  Ansicht  vertrat 
anfänglich  auch  Italien,  welches  dieselbe  nur  auf  energischen  Druck 
aus  Berlin,  dem  sich  dann  Österreich  anschloß,  fallen  ließ. 

Die  Mächte  schlössen  sich  damals  der  russischen  Auffassung  an, 
türkische  Neutralität  bedinge  Schließung  der  Meerengen,  Dies  ist  aber 
ausdrücklich   als   Begünstigung   Rußlands   anerkannt. 

Auf  Grund  des  geheimen  Vertrags  zu  Dreien  von  1881,  erneuert 
1884,  Artikel  3  Alinea  3*  wirkten  Deutschland  und  Österreich,  denen 


*  Siehe  Bd.  III,  Nr.  532  und  Nr.  630. 

25 


sich  später  Frankreich  und  Itahen  anschlössen,  in  Konstantinopel  auf 
Neutralitätserklärung  und  Schließung  der  Dardanellen.  Dies  wurde  er- 
reicht und  damit  den  Russen  die  Basis  aller  transkaspischen  Opera- 
tionen, gegen  Herat  etc.,  der  Kaukasus  in  Rücken  und  Flanke  gedeckt. 
Der  Friede  blieb  erhalten,  England  trat  den  diplomatischen  Rückzug  an. 
Sowohl  Herr  von  Giers  gegenüber  Herrn  von  Schweinitz  als  Fürst 
Lobanow  gegenüber  Graf  Kälnoky  erkannten  ausdrücklich  an,  daß 
durch  die  von  Deutschland  und  Österreich  durchgesetzte  Schließung 
der  Meerengen  das  russische  Interesse  vollständig  gedeckt  ge- 
wesen, und  der  Friede  zugunsten  des  diplomatisch  obsiegenden  Ruß- 
lands erhalten  worden  sei.  Rußland  erreichte  damals  also 
durch  den  Vertrag  zu  Dreien  alles  das,  was  es  jetzt  von 
uns  allein,  hinter  dem  Rücken  unserer  Verbündeten 
verlangt. 

Deutschland  und  Österreich  waren  dabei  so  weit  gegangen,  Ruß- 
land sogar  eine  „tätliche  Pression"  auf  den  Sultan  wegen  Neu- 
tralität, Schließung  und  eventueller  Verteidigung  der  Meerengen  in 
Aussicht  zu  stellen. 

Wie  Rußland,  das  nur  Schließung  der  „Meerengen" 
wünschte  und  eine  Befestigung  der  Dardanellen  ganz  natürlich 
fand,  die  Sache  eigentlich  auffaßte,  geht  daraus  hervor,  daß  es  sich 
am  18.  Mai  1885  in  Wien  darüber  beschwert,  daß  die  Türken  bei  der 
Gelegenheit  auch  den  Bosporus  befestigt  hätten!  Und  dabei  hatte 
Kaiser  Alexander  II.  nach  Behauptung  des  Grafen  Andrässy  seiner- 
zeit diesem  ausdrücklich  erklärt,  Rußland  denke  nicht  daran,  die  Meer- 
engen zu  nehmen. 

Die  Schließung  der  Meerengen  hat  noch  eine  weitere  Bedeutung. 
Rußland  erklärte  wiederholt,  eine  Öffnung  der  Meerengen  für  fremde 
Flotten  käme  einer  türkischen  Kriegserklärung  an  Rußland  gleich.  Er- 
kennen wir  die  Pflicht  zur  Schließung  an,  müssen  wir  also  auch  die 
zweite  Konsequenz  ziehen  und  Öffnung  der  Meerengen  als  türkische 
Kriegserklärung  an  Rußland  ansehen  und  damit  diesem  das  Recht  zu- 
erkennen, an  jedem  der  Oberhoheit  des  Sultans  unterworfenen  Punkte, 
also  auch  in  Bulgarien,  als  der  angegriffene  Teil  einzurücken. 

Als  wir  uns  dazu  herbeiließen,  in  Konstantinopel  auf  Schließung 
der  Meerengen  im  Fall  eines  englisch-russischen  Kriegs  hinzuwirken, 
geschah  dies  eingestandenermaßen  für  Rußland,  gegen  Eng- 
land. Dies  geht  klar  daraus  hervor,  daß  der  Gedanke,  den  Sultan 
auch  zur  Befestigung  der  Dardanellen  aufzufordern,  als  zu  „weit- 
gehende Maßregel"  wenigstens  amtlich  abgelehnt  wurde.  Esgeschah 
unter  der  Hand,  „wir  dürfen  damit  aber  wegen  Englands  nicht 
hervortreten".  Der  Vorschlag,  in  London  und  Petersburg  die  Aner- 
kennung der  Unverletzlichkeit  der  Meerengen  als  ein  Vertragsrecht 
zu  fordern,  wurde  als  ein  „Schachzug  gegen  England"  bis  nach  fak- 
tischem Ausbruch  des  Kriegs  zurückgestellt.  Ebenso  wurde  der  tür- 
26 


kische   Wunsch   einer   Bewachung   der   Eingänge   zu   den    Meerengen 
durch  neutrale  Schiffe  behandelt. 

Noch  kürzlich  hat  Lord  Salisbury  unserer  damaligen  Haltung  Graf 
Hatzfeldt  gegenüber  erwähnt*.  Lord  Salisbury  sagte  dabei:  ,,Zu  den 
gegen  uns  gerichteten  Befestigungen  an  den  Dardanellen  hat  sich  der 
Sultan  seinerzeit  durch  Ratschläge  aus  Berlin  bestimmen  lassen.  Das 
ist  aber  der  wichtigste  Punkt  für  die  Entwicklung  der  Dinge.  VC^oilen 
Sie  unserem  gemeinschaftUchen  Interesse  einem  russischen  Vorgehen 
gegenüber  ernstHch  nützen,  so  würde  dies  dadurch  geschehen,  daß  Sie 
jene  Ratschläge  rückgängig  machen  und  nach  Möglichkeit  dafür  sorgen, 
daß  wir  eventuell  die  Tür  nicht  verschlossen  finden." 

Das  beweist  klar,  wie  in  London  eine  russische  Indiskretion  über 
eine  vertragsmäßige  deutsche  Garantie  der  Unverletzlichkeit  der  Meer- 
engen  wirken  würde. 

Was  Italien  betrifft,  so  ist  einmal  daran  zu  erinnern,  daß  dieses 
schon  85  den  englischen  Standpunkt  vertrat  und  sich  unserem  nur 
widerwillig  anschloß,  sodann  hervorzuheben,  daß  wir  dasselbe  stets 
auf  England  in  allen  Mittelmeerfragen  verwiesen  haben,  und  daß  infolge- 
dessen eine  italienische  Lieblingsidee  für  den  Fall  eines  russischen  Vor- 
gehens im  Orient  eine  gemeinschaftliche  englisch-italienisch-österrei- 
chische Flottendemonstration  gegen  die  Dardanellen  ist,  der  wir  dann 
vertragsmäßig  feindUch  gegenüberstehen  müßten. 

Kiderlen 

Nr.  1377 

Auf  Zeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

Raschdau** 

Eigenhändig 

Berlin,  den  20.  Mai  1890 

Fürst  Bismarck  hat  gelegenthch  den  Ausspruch  getan,  man  müsse 
bei  jedem  internationalen  Vertrage  zunächst  fragen  „qui  trompe-t-on 
ici?"  Der  Satz  gilt  von  dem  vorliegenden  Vertrage  in  erhöhtem  Maße, 
und  in  erhöhtem  Maße  Hegt  auch  die  Schwierigkeit  auf  beiden  Seiten 
vor,  ihn  in  eventu  zu  erfüllen.  Rußland  hat  nur  das  eine  versprochen, 
sich  im  Falle  eines  französischen  Angriffs  auf  uns  neutral  zu  ver- 
halten und  den  Konflikt  zu  lokalisieren.  Niemand  (nach  gelegent- 
lichen Anmerkungen  auch  Fürst  Bismarck  nicht),  wird  bezweifeln,  daß, 
selbst  wenn  wir  die  dergestalt  Angegriffenen  wären  und  Frankreich 
im  Kampfe  in  eine  schwierige  Lage  käme,  der  russische  Kaiser  außer- 
stande wäre,  eine  neutralite  bienveillante  zu  beobachten.  Außerdem  aber 
ist  nichts  leichter,  als  den  Begriff  attaque  in  behebiger  Weise  zu  kon- 

*  Siehe  Bd.  IX,  Kap.  LV,  Nr.  20Q6. 

**  Vgl.  dazu  L.  Raschdau,  Das  Ende  der  deutsch-russischen  Rückversicherung  in 

„Der  Tag",  Ausgabe   B   (rot),   vom   17.  Oktober  1920. 

27 


struieren.  Wenn  ein  französischer  General  ä  la  Boulanger  die  deutsche 
Grenze  so  bedroht,  daß  wir  losschlagen  müssen,  so  fällt  der  einzige 
Vorteil,  den  uns  der  Vertrag  gewährt,  nach  aller  Voraussicht  überhaupt 
fort.  Alle  übrigen  Bestimmungen  des  Vertrages  und  Annexes  aber  sind 
Konzessionen  von  unserer  Seite,  für  die  uns  keinerlei  Entgelt  gewährt 
wird.  Das  sehen  heute  die  Russen  selbst  ein  und  verzichten  darum  aus 
freien  Stücken  auf  verschiedene  Zugeständnisse.  Bei  der  Natur  des 
Kaisers  Alexander  und  der  Zaghaftigkeit  des  Herrn  von  Giers  ist 
nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Zweck  der  neusten  Demarche 
(Erneuerung  jenes  Vertrages)  ein  friedlicher  ist.  Vielleicht  besorgt  man 
an  der  Newa,  daß  mit  dem  Erlöschen  des  1887er  Vertrages  die  Er- 
eignisse ins  Rollen  kommen  können,  und  man  wünscht  dies  an  höchster 
Stelle  nicht  oder  wenigstens  jetzt  nicht.  Neben  dieser  Möglichkeit 
aber  steht  die  andere,  daß  ein  solcher  geheimer  Vertrag  ausgebeutet 
wird,  um  Mißtrauen  bei  den  uns  alliierten  Mächten  zu  säen  und  damit 
den  Hebel  an  die  verhaßte  Tripelallianz  zu  setzen.  Bis  jetzt  liegt  uns 
meines  Wissens  kein  Anzeichen  vor,  daß  die  Existenz  des  Vertrages  von 
Rußland  nach  außen  hin  ausgebeutet  worden  sei.  Wir  wissen  nur,  daß 
seinerzeit  Fürst  Lobanow  von  der  Tatsache  (nicht  von  dem  Inhalt)  des 
Vertrages  Kenntnis  erhalten  habe.  Heute  könnten  uns  die  Russen  schwer- 
lich damit  kompromittieren,  da  der  jetzige  verantwortliche  Leiter  der 
auswärtigen  Politik  des  Reichs  dann  mit  der  Erklärung  an  die  Öffent- 
lichkeit treten  könnte,  dieser  Teil  der  Erbschaft  sei  nur  für  eine  kurz 
bemessene  Zeit  übernommen.  Vielleicht  könnte  es  aber  deshalb  den 
Russen  darum  zu  tun  sein,  von  uns  jetzt  ein  neues  ähnliches  Schrift- 
stück zu  erhalten.  Man  mag  nun  die  eine  oder  andere  der  beiden  ge- 
schilderten Möglichkeiten  annehmen,  so  werden  wir  einiges  gewinnen 
und  nichts  verlieren,  wenn  wir  die  russische  Anregung  nicht  ohne 
weiteres  abweisen,  sondern  mit  einem  gewissen  platonischen  Entgegen- 
kommen ihre  Anerbietungen  anhören.  Wir  werden  ihnen  zunächst  — 
der  Tatsache  entsprechend  —  sagen  können,  daß  der  Vertrag  ein 
„leoninischer"  sei,  bei  dem  fast  der  gesamte  Vorteil  auf  russischer 
Seite  liege  selbst  dann  noch,  wenn  die  additioneilen  Bestimmungen 
In  Fortfall  kämen.  Wir  werden  weiter  zu  dem  Artikel  II  des  Hauptver- 
trages (in  dem  übrigens  Herr  von  Giers  die  Worte  influence  prepon- 
dcrante  et  dccisive  opfern  will),  bemerken  können,  daß  wir  vielleicht 
zustimmen  könnten  ä  n'admettre  aucune  modification  du  statu  quo 
territorial  de  la  Peninsule,  daß  wir  aber  bei  unserer  Interesselosigkeit 
uns  nicht  verpflichten  könnten  ä  nous  opposer  ä  toute  tentative  pp., 
wenn  damit  eine  kriegerische  Mitwirkung  gemeint  sein  solle.  Diese 
und  verschiedene  andere  einwendende  Bemerkungen  könnten  münd- 
lich zu  dem  Texte  gemacht  und  schließlich  die  Erklärung  abgegeben 
werden,  Rußland  wisse,  daß  wir  mit  europäischen  Mächten  in  ge- 
wissen vertragsmäßigen  Beziehungen  ständen,  insonderheit  sei  unser 
Vertrag  mit  Österreich  amtlich  der  russischen  Regierung  mitgeteilt.  Wir 

28 


würden,  um  bei  den  übrigen  befreundeten  Staaten  über  die  friedliche 
Tragweite  des  Vertrages  keine  Mißdeutungen  aufkommen  zu  lassen, 
denselben  Mitteilung  von  dem  Vertrage  machen.  Ja,  wir  hielten  es 
für  in  hohem  Maße  erwünscht,  wenn  der  modifizierte  Vertrag  zur 
öffentlichen  Kenntnis  käme,  da  es  sehr  wesentlich  zur  Beruhigung 
und  Friedenssicherheit  beitragen  würde,  wen-n  ersichtlich  würde,  daß 
Angriffskriege  von  beiden  Staaten  nicht  geduldet  würden. 

Auf  diese  Vorschläge  wird  sich  aber  Rußland  nicht  einlassen,  und 
damit  die  Erneuerung  des  in  seinem  Gesamtinhalt  mit  unseren  übrigen 
Verträgen  nicht  in  Einklang  zu  bringenden  Abkommens  aussichtslos. 
Mit  jenem  Wege  würden  sich  auch  die  Erklärungen  Seiner  Maje- 
stät zu  Graf  Schuwalow  insofern  vereinbaren  lassen,  als  eine  prin- 
zipielle Abneigung  zum  VertragsscWuß  bei  uns  zunächst  nicht  her- 
vortritt. 

Raschdau 

Nr.  1378 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  23.  Mai  1890 
Seine  Majestät  haben  im  heutigen  Immediatvortrag  zu  genehmigen 
geruht,  daß  die  in  anliegender  Skizze*  enthaltenen  Gesichtspunkte  un- 
serem diplomatischen  Verkehr  mit  Rußland  zugrunde  gelegt  werden. 
Auch  wollen  allerhöchstdieselben,  daß  die  russischen  Anerbietungen 
nicht  dilatorisch,  sondern  so  behandelt  werden,  daß  sie  als  definitiv 
erledigt  anzusehen  sind.  Es  soll  in  der  Antwort  an  General  von 
Schweinitz  auf  die  Unmöglichkeit,  unserer  öffentlichen  Meinung  gegen- 
über ein  kompliziertes  Bündnissystem  auch  nach  dem  Ausscheiden 
des  Fürsten  Bisniarck  aufrechtzuerhalten,  hingewiesen  werden.  Se- 
krete Bündnisse  aber  abzuschließen,  verbiete  sich  jetzt  um  so  mehr, 
als  das  Verhalten  des  früheren  Reichskanzlers  ohnehin  Indiskretionen 
erleichtere,  Unsicherheit  und  Mißverständnisse  fördere.  Unsere  Poli- 
tik aber  könne  und  solle  nur  eine  einfache  sein. 

Seine  Majestät  wünschten,  daß  Herrn  von  Schweinitz  gegenüber 
auf  die  Worte  hingewiesen  würde,  die  Herr  von  Giers  bei  Erlöschen 
der  Entente  ä  trois  1887  gebraucht  habe**;  die  Lage  sei  für  uns  eine 
ähnliche. 

Auf  die  Frage,  was  ich  Seiner  Majestät  zu  sagen  riete,  wenn  man  in 
Rußland  auf  die  Zusagen  zurückkomme,  die  er  bei  seiner  Anwesenheit 
in  Rußland  als  Prinz  Wilhelm  im  Auftrage  seines  Herrn  Großvaters 
und   auf  Anraten   des   Fürsten    Bisniarck   bezüghch   der   Rußland  der 


Siehe  Nr.  1379. 
*  Siehe  Bd.  V,  Nr.  1073. 


29 


Türkei  gegenüber  zu  lassenden  freien  Hand  gemacht  habe*,  habe  ich 
erwidert,  ich  wäre  der  Ansicht,  daß  zu  sagen  sei,  wir  selbst  wären  am 
Marmarameer  gar  nicht  interessiert,  wir  seien  erbötig,  auch  dort  auf 
Erhaltung  des  Friedens  —  auch  Österreich  gegenüber  —  hinzuwirken, 
könnten  aber  Rußland  nur  raten,  sich  an  Österreich  direkt  zu  wenden 
und  mit  dem  zu  verständigen. 

Die  obenerwähnte  anliegende  Skizze,  sowie  den  Bericht  des  Herrn 
von  Schweinitz  vom  15.  Mai**  und  den  Privatbrief  an  mich  vom  16.  Mai 
nebst  der  Aufzeichnung  vom  14.  Mai***  habe  ich  Seiner  Majestät  in 
extenso  vorgelesen,  was  ich  Herrn  von  Schweinitz  ausdrücklich  zu 
sagen  bitte,  ehe  die  allerhöchste  Entscheidung  bezüglich  der  in  der 
Skizze  niedergelegten  Gesichtspunkte  erfolgt. 

Ich  bitte  nun,  die  Skizze,  soweit  es  rätlich  scheint,  ihrem  Inhalt 
nach  nicht  bloß  an  Herrn  von  Schweinitz,  sondern  auch  an  üraf 
Hatzfeldt,  Prinz  Reuß,  Graf  Solms  und  Herrn  von  Radowitz  mitzu- 
teilen f.  Nach  Bukarest  wird  wenigstens  zu  sagen  sein,  daß  wir  Wert 
auf  dessen  Haltung  legten  und  nach  wie  vor  auf  dem  Boden  des 
Bündnisses  stünden. 

Seine  Majestät  haben  im  heutigen  Vortrage  auf  das  bestimmteste 
ausgesprochen,  daß  allerhöchstdieselben  sich  zu  keiner  mündlichen 
oder  schriftlichen  von  den  Grundzügen  der  Skizze  abweichenden  Äuße- 
rung gegen  den  Zaren  würde  bestimmen  lassen. 

V.  C  a  p  r  i  v  i 


Nr.  1379 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  22.  Mai  1890 

Dreimal,  seit  Herr  von  Schweinitz  mit  der  ablehnenden  Antwort  von 
hier  nach  Petersburg  zurückgekehrt  ist,  hat  er  über  Versuche  des 
Herrn  von  Giers,  auf  die  Erneuerung  eines  Vertrages  mit  Rußland  hin- 
zuwirken, berichtet:  unter  dem  3.  April,  I.Mai  und  15.  Maiff.  Die  Art 
wechselte,  gemeinsam  bleibt  aber  den  drei  Versuchen:  Italien  wird 
nicht  berücksichtigt.    Dies  und  das  Verhalten  Rußlands  auf  der  Brüs- 


*  Siehe  Bd.  III,  Kap.  XIX,  Nr.  631-634. 

**  Siehe  Nr.  1372. 

♦**  Siehe  Nr.  1373  nebst  Anlage. 

t  Die    Mitteilung   erfolgte    durch    Erlaß    nach    Petersburg   Nr.  227   vom    29.  Mai, 

der  wieder  den   Botschaftern   in   Wien,  London,   Rom   und   Konstantinopel   nebst 

Schweinitz'  Bericht  vom  15.  Mai  (siehe  Nr.  1372)  und  einem  anderweiten  Erlaß  an 

diesen   vom  29.  Mai   (siehe   Nr.  1380)   mitgeteilt  wurde. 

tt  Siehe  Nr.  1370,  137Z 

30 


seier  Konferenz*  rechtfertigt  den  Schluß:  man  will  den  Dreibund 
sprengen  und  mit  Italien  auch  England  uns  entfremden. 

Wäre  diese  Folgerung  falsch,  wollte  Rußland  in  der  Tat  nur  den 
Frieden,  so  bedürfte  es  eines  Bündnisses  nicht,  denn  eine  Störung 
des  Friedens  hätte  die  Welt  zurzeit  nur  von  Rußland  zu  erwarten;  eine 
„bulgarische  Gefahr"  liegt  nicht  vor,  wenn  Rußland  nicht  will. 

Die  für  uns  unverfänglichste  der  russischen  Andeutungen  wäre 
die  erneute  Herstellung  eines  Bündnisses  zu  Dreien  zwischen  Rußland, 
Österreich  und  Deutschland.  Hat  indes  Rußland  1887  Motive  gehabt, 
darauf  nicht  einzugehen,  so  würden  diese  zurzeit  latenten  Motive  um  so 
eher  wieder  hervortreten,  als  die  Verhältnisse  auf  der  Balkanhalbinsel  in- 
zwischen den  Gegensatz  zwischen  Rußland  und  Österreich  mehr  akzen- 
tuiert haben.  Deutschland  geriete  in  die  Gefahr,  eines  Tages  zwischen 
Rußland  und  Österreich  wählen  zu  müssen.  Entschieden  wir  uns  dann 
für  Österreich,  so  hätten  wir  dieselben  Verhältnisse  wie  heut,  nur  minus 
Italien  und  guter  Beziehungen  zu  England.  Entschieden  wir  uns  für 
Rußland,  so  wären  wir  ihm  auf  Gnade  und  Ungnade  ergeben,  Frankreich 
und  Österreich  stünden  Rußland  über  lang  oder  kurz  gegen  uns  zu 
Diensten. 

Die  übrigen  Andeutungen  des  Herrn  von  Giers  laufen  alle  auf 
geheime  Abmachungen,  sei  es  in  Form  eines  Vertrages,  Notenaus- 
tausches oder  Briefwechsels  der  Monarchen,  hinaus.  Solches  Geheim- 
nis aber  legt  eine  Mine  unter  den  jetzigen  Dreibund,  die  Rußland  alle 
Tage  zünden  kann. 

Aber  auch  abgesehen  hiervon,  können  wir  in  bezug  auf  eine 
Änderung  der  Verhältnisse  in  Bulgarien  oder  an  den  Meerengen  keine, 
selbst  keine  mündliche  Zusage  machen.  Wir  erkennen  nach  wie  vor 
die  jetzigen  Zustände  in  Bulgarien  als  illegal  an,  sehen  aber  anderer- 
seits ein,  daß  sie  tatsächlich  besser  geworden  sind,  als  sich  erwarten 
ließ.  Wir  werden  des  persönlichen  Interesses,  welches  der  Kaiser  von 
Rußland  an  den  bulgarischen  Dingen  nimmt,  nicht  uneingedenk  sein, 
ein  eigenes  Interesse,  sie  zu  ändern,  haben  wir  nicht,  aber  auf  Öster- 
reichs Interesse  am   Bestehenden  müssen  wir  Rücksicht  nehmen. 

Ebensowenig  haben  wir  an  den  Meerengen  ein  direktes  Interesse 
und  noch  weniger  einen  Grund,  den  Artikel  III  des  geheimen  Vertrages, 
der  uns  nötigen  könnte,  England  und  Italien  dort  direkt  gegenüber- 
zutreten, wiederherzustellen.  Diese  beiden  Mächte  aber  haben  sehr 
triftige  Gründe,  nicht  zu  wünschen,  daß  sich  Rußland  und  Frank- 
reich auf  dem  Mittelmeer  die  Hand  reichen.  Für  uns  würden  dadurch 
die  französisch-russischen  Beziehungen  dauernd  festere  und  ungünstigere 
werden. 


*  Gemeint  ist  der  seit  Anfang  Februar  in  Brüssel  tagende  Anti-Sklaverei-Kongreß, 
auf  dem  Rußland  eine  Annäherung  an  England  suchte. 

31 


Haben  wir  somit  Iceinen  Grund,  welcher  uns  wünschen  ließe, 
den  gegenwärtigen  Zustand  im  Osten  zu  ändern,  so  folgt  aus  den  wie- 
derholten Versuchen  Rußlands,  daß  dort  das  entgegengesetzte  In- 
teresse dringend  geworden  ist.  Rußland  fühlt  sich  isoliert,  möchte 
aber  doch  —  vielleicht  weil  die  Verhältnisse  in  Bulgarien  sich  für 
russische  Wünsche  zu  sehr  konsolidieren  —  einen  Schritt  weiter  auf 
Konstantinopel  hin  tun.  Die  Verlegenheit  für  Rußland  entsteht  daraus, 
daß  es  diesen  Schritt  nur  über  das  Schwarze  Meer  fort  tun  kann. 
Der  Weg  durch  Armenien  ist  von  der  Natur  überaus  erschwert,  der 
durch  Rumänien  stößt  auf  dessen  Bundesgenossen.  Der  Weg  über 
die  See  dagegen  findet  seine  Gefahr  in  den  Engländern.  Deshalb  vor 
allem  die  Meerengen  schHeßen  —  darauf  geht  der  letzte  Vorschlag 
des  Herrn  von  Giers. 

Eine  Annäherung  Deutschlands  an  Rußland  also  würde  unsere 
Verbündeten  uns  entfremden,  England  schädigen  und  unserer  eigenen 
Bevölkerung,  die  sich  in  den  Gedanken  des  Dreibundes  immer  mehr 
eingelebt  hat,  unverständlich  und  unsympathisch  sein. 

Was  gewönnen  wir  für  diese  Nachteile?  Welchen  Wert  hätte  es, 
wenn  Rußland,  wie  Herr  von  Schweinitz  sagt,  sich  mindestens  die 
ersten  Wochen  nach  einem  Angriff  der  Franzosen  auf  uns  ruhig  ver- 
hielte? Diese  Ruhe  würde  nicht  so  vollständig  sein,  daß  wir  nicht 
einen  Teil  unserer  Armee  an  der  russischen  Grenze  stehen  lassen 
müßten.  Wir  würden  gegen  Frankreich  doch  nicht  mit  unserer  gan- 
zen Kraft  auftreten  können,  während  auf  der  anderen  Seite  für  Öster- 
reich der  casus  foederis  nicht  vorläge. 

Man  kann  aber  weiter  an  der  Frage  nicht  vorübergehen:  was 
sind  denn  Bündnisse  heutzutage  überhaupt  wert,  wenn  sie  nicht  auf 
Interessengemeinschaft  gegründet  sind?  Seit  die  Nationen,  ihre  In- 
teressen und  Stimmungen,  in  einer  so  viel  wesentlicheren  Art  als  etwa 
im  siebenjährigen  Kriege  an  Krieg  und  Frieden  beteiligt  sind,  reduziert 
sich  der  Wert  einer  Allianz  von  Regierung  zu  Regierung  erheblich, 
wenn  das  Bündnis  nicht  die  Stütze  in  der  öffentlichen  Meinung  findet. 
Ob  diese  in  Deutschland  dahin  zu  bringen  wäre,  ihr  Heil  im  unver- 
brüchlichen Festhalten  an  Rußland  zu  suchen,  ist  sehr  die  Frage;  daß 
aber  die  öffentliche  Meinung  in  Rußland  uns  nicht  als  gleichberech- 
tigten Bundesgenossen  akzeptieren  würde,  ist  fraglos.  Ob  Herr  von 
Giers  oder  wer  sonst  die  Geschäfte  in  Rußland  leitet,  keiner  kann  uns 
die  Sicherheit  geben,  daß  unser  Bündnis  mit  Rußland  nicht  im  gegebenen 
Augenblick  durch  den  Druck  der  Massen  gesprengt  wird.  Die  un- 
sicherste Art  von  Bündnissen  sind  aber  diejenigen,  nach  welchen  casus 
foederis  erst  eintritt,  wenn  ein  Teil  angegriffen  ist.  Man  kann  einen 
Gegner  geflissentlich  solange  mit  Nadelstichen  reizen,  bis  er  losschlägt; 
liegt  dann  casus  foederis  vor?  Rußland  selbst  hat  früher  durch  die 
öffentliche  Meinung  sowohl  als  durch  den  Mund  des  Fürsten  Gor- 
tschakow  jeden  Zweifel  darüber  beseitigt,  daß  es  von  Bündnissen  wenig 

32 


hält.  Aber,  wie  Herr  von  Schweinitz  sich  treffend  ausdrückt:  Rußland 
sieht  jetzt  einen  Zustand  zu  Ende  gehn,  welcher  ihm  Sicherheit  ge- 
währte, ohne  ihm  Opfer  aufzuerlegen. 

Was  aber  die  Möglichkeit  angeht,  daß  Rußland  die  Anlehnung, 
die  es  bei  uns  nicht  findet,  anderswo  suchen  könnte,  so  kommen  hier- 
für nur  Frankreich  und  England  in  Betracht.  Für  den  Schritt,  den 
Rußland  jetzt  vorzuhaben  scheint,  und  den  es  sichtlich  tun  möchte,  ohne 
einen  allgemeinen  Krieg  herbeizuführen,  ist  die  französische  Allianz 
ihm  wertlos,  solange  die  englische  Mittelmeerflotte  dazwischentreten 
kann.  Durch  eine  engUsche  Allianz  würde  Rußland  das,  was  es  von  uns 
kostenfrei  zu  erhalten  wünscht,  nur  durch  Opfer  an  andern  Stellen 
(Asien?)  gewinnen  können  und  seine  Beziehungen  zu  Frankreich 
voraussichtlich  lockern.  Eine  Allianz  aber,  die  England  und  Frankreich 
umschlösse,  ist  der  englischen  Interessen  im  Mittelmeer  wegen  durch- 
aus unwahrscheinlich. 

Wir  haben  unverändert  den  Wunsch,  mit  Rußland  in  guten  Ver- 
hältnissen zu  leben,  und  wüßten  nichts,  was  uns  einen  Anlaß  geben 
könnte,  sie  zu  trüben.  Aber  wir  müssen  so  weit  Rücksicht  auf  unsere 
Verbündeten  nehmen,  daß,  wenn  wir  sie  auch  —  sei  es  in  Bulgarien 
oder  in  Biserta  —  nicht  unterstützen  können  und  wollen,  wir  ihnen 
doch  mindestens  dort  keine  Schwierigkeiten  bereiten.  Drängt  uns  aber 
Rußland  durch  wiederholte  Versuche  einer  intimeren  Annäherung  aus 
dieser  Stellung  heraus,  so  würde  das  nur  die  Folge  haben  können, 
daß  wir  diejenigen  Bündnisse  und  Beziehungen,  die  uns  schon  jetzt 
mit  anderen  Staaten  verbinden,  noch  enger  zu  knüpfen  suchen  müßten. 

V.  Caprivi 


Nr.  13S0 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Botschafter  in  Petersburg 

von  Schweinitz 

Reinkonzept 

Nr.  22S  Berlin,  den  29.  Mai  1890 

Geheim  [abgegangen  am  31.  Mai) 

Euere  pp.  sind  bei  Ihrem  letzten  Aufenthalt  in  Berlin  im  März 
d.  Js.  ausführlich  über  die  Gründe  informiert  worden,  die  uns  trotz 
unseres  aufrichtigen  Wunsches,  unsere  guten  Beziehungen  zu  Ruß- 
land zu  erhalten  und  zu  pflegen,  veranlaßt  haben,  von  der  Erneuerung 
des  am  18.  Juni  ablaufenden  geheimen  schriftlichen  Abkommens  Abstand 
zu  nehmen.  Ebenso  ist  Euerer  pp.  bekannt,  daß  wir  entschlossen 
sind,  auch  ohne  Erneuerung  des  schriftlichen  Abkommens  an  der  bis- 
herigen Richtung  unserer  auswärtigen  Politik  sowohl  im  allgemeinen 
als  speziell  Rußland  gegenüber  festzuhalten. 

3    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  33 


Die  Gründe,  die  uns  zwangen,  das  russische  Anerbieten  im  März 
abzulehnen,  sind  für  uns  maßgebend  auch  den  neuen  Eröffnungen 
des  Herrn  von  Oiers  gegenüber,  von  denen  mir  Euere  pp.  in  dem  Be- 
richt Nr.  148  vom  15.  d.  Mts.*  Kenntnis  gegeben  haben. 

Nachdem  Euere  pp.  der  Notwendigkeit  nicht  entgangen  sind,  noch- 
mals die  Frage  der  Vertragsverlängerung  auf  Grund  erneuter  dies- 
seitiger Instruktionen  mit  Herrn  von  Giers  zu  besprechen,  beehre  ich 
mich,  Euere  pp.  zu  ersuchen,  die  Giersschen  Vorschläge  unter  Hinweis 
auf  Ihre  früheren  Unterredungen  (cfr.  Bericht  Nr.  103  vom  3.  v.  Mts.**) 
und  unter  Benutzung  der  Ihnen  in  Nachstehendem  an  die  Hand  ge- 
gebenen Motivierung  in  freundschaftlicher  Weise  zu  beantworten. 

Als  es  sich  1887  um  Erneuerung  der  Verständigung  zu  Dreien 
handelte,  ist  die  russische  Ablehnung  damit  begründet  worden,  daß 
Rußland  seiner  eigenen  öffentlichen  Meinung  gegenüber  einen  Vertrag 
nicht  würde  rechtfertigen  können.  Nach  dem  Bericht  des  Geschäfts- 
trägers von  Bülow  Nr.  137  vom  14.  April  1887***  sagte  damals  Herr 
von  Giers:  „Ce  n'est  pas  autant  pour  des  raisons  de  politique 
etrangere  qu'il  (der  russische  Kaiser)  n'en  a  pas  envie,  que  pour  des 
raisons  de  convenance.  II  craint  decidement  que  signer  ä  present  un 
traite  avec  l'Autriche  lui  ferait  trop  de  tort  devant  le  peuple 
russe  et  devant  Thistoire  si  jamais  la  chose  s'ebruitait." 

Die  Rücksichten,  welche  die  autokratische  russische  Regierung  da- 
mals auf  das  „russische  Volk"  nehmen  zu  müssen  geglaubt  hat,  kommen 
jetzt  für  die  KaiserUche  Regierung  zum  mindesten  in  gleichem  Maße 
zur  Geltung. 

Wir  würden  nicht  in  der  Lage  sein,  den  verschiedenen  Faktoren 
unserer  öffentlichen  Meinung  Verständnis  für  ein  so  kompliziertes 
Vertragssystem  beizubringen,  wie  es  durch  den  bisherigen  Vertrag 
mit  Rußland  neben  unseren  sonstigen  bekannten  Bündnisver- 
trägen geschaffen  worden  ist.  Das  Prestige,  das  Fürst  Bismarck  in 
bezug  auf  auswärtige  Politik  sowohl  im  eigenen  Lande  als  auch 
bei  allen  fremden  Mächten  hatte,  würde  es  i  h  m  vielleicht  ermöglicht 
haben,  die  Vereinbarkeit  der  verschiedenen  von  uns  eingegangenen  Ver- 
bindlichkeiten der  öffentlichen  Meinung  in  Europa  plausibel  zu  i'nachen. 
Nach  dem  Ausscheiden  des  Fürsten  Bismarck  kann  mit  dieser  Mög- 
lichkeit nicht  weiter  gerechnet  werden.  Daß  Herr  von  Giers  einzelne 
Teile  des  Vertrags  und  das  Zusatzprotokoll  fallen  lassen  will,  er- 
scheint irrelevant;  die  bloße  Tatsache,  daß  zwischen  uns  und  Rußland 
ein  Vertrag  besteht,  den  wir  gegenüber  unseren  Verbündeten  geheim- 
zuhalten uns  verjiflichten,  würde  unser  Bündnisverhältnis  zu  Österreich- 
Ungarn  und  Italien  lockern,  das  Vertrauen  in  die  Festigkeit  und  Ein- 
heit des  Dreibundes  erschüttern  und  damit  die  friedliche  Tendenz  kom- 

♦  Siehe  Nr.  1372. 

**  Siehe  Nr.  1370. 

**♦  Irrtümlich  für  Nr.  147  vom  25.  April  1887,  siehe  Bd.  V,  Kap.  XXXIV,  Nr.  1073. 

34 


promittieren,  welche  wir  in  Übereinstimmung  mit  der  russischen  Re- 
gierung verfolgen. 

Der  Abschluß  eines  geheimen  Vertrages  verbietet  sich  aber 
für  uns  gerade  in  diesem  Augenblick  um  so  mehr,  als  unsere  Gegner 
eifriger  denn  je  am  Werke  sind,  Mißtrauen  gegen  die  deutsche  Politik 
zu  erwecken,  und  gleichzeitig  der  frühere  Reichskanzler  eine  Haltung 
einnimmt,  die  geeignet  erscheint,  Indiskretionen  zu  erleichtern,  die  öf- 
fentliche Meinung  zu  verwirren  und  bei  unseren  Verbündeten  Mißver- 
ständnisse über  die  Ziele  der  gegenwärtigen  Regierung  her\'orzurufen. 
Die  Mitteilungen,  welche  in  Friedrichsruh  an  Zeitungskorrespondenten 
von  notorisch  deutschfeindlicher  Gesinnung  gemacht  wurden,  haben 
begreiflicherweise  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  erregt.  Es  wird  ge- 
nügen, an  die  Unterredung  mit  dem  Reporter  der  „Nowoje  Wremja" 
und  den  Ausspruch  des  Fürsten  Bismarck  zu  erinnern,  die  Zukunft  ge- 
höre dem  russisch-deutschen  Bündnis*.  Solchen  Bestrebungen 
und  Vorgängen  gegenüber  muß  die  deutsche  Politik  eine  einfache, 
durchsichtige  sein,  wenn  anders  verhindert  werden  soll,  daß  Un- 
ruhe und  Unsicherheit  entstehen,  und  damit  eine  Gefährdung  des  Frie- 
dens eintrete. 

Ich  hätte  annehmen  zu  dürfen  geglaubt,  daß  Herr  von  Giers 
auf  die  Frage  der  Vertragserneuerung  nicht  zurückkommen  würde  nach 
dem,  was  Ew.  in  dem  Bericht  Nr.  103**  über  die  Ansichten  des 
Kaisers  Alexander  in  dieser  Beziehung  gemeldet  haben.  Wenn  Ew. 
in  jenem  Bericht  sagen:  „Des  eigenen  ehrlichen  Willens  fest  be- 
wußt und  endlich  ohne  Mißtrauen  gegen  uns,  fühlt  dieser  Monarch 
kein  Bedürfnis  nach  schriftlichen  Abmachungen",  so  gilt  dies  in  gleicher 
Weise  Punkt  für  Punkt  auch  von  uns.  Wir  halten  an  der  Überzeugung 
fest,  daß  Rußland  —  wenigstens  unter  seinem  jetzigen  Kaiser,  und  so- 
lange Herr  von  Giers  die  Geschäfte  leitet  —  mit  uns  in  Frieden  und 
Freundschaft  leben  will,  nehmen  aber  für  uns  selbst  das  gleiche  Zutrauen 
in  Anspruch.  Auf  dem  Boden  dieser  beiderseitigen  Überzeugung  werden 
die  gemeinsamen  friedlichen  Zwecke  auch  ohne  Austausch  von  Schrift- 
stücken sicherer  gefördert  werden  als  mit  geheimen  schriftlichen  Ab- 
machungen, deren  eventuelles  Bekanntwerden  („si  la  chose  s'ebruitait") 
zum  mindesten  Verwirrung  anrichten  würde. 

Herr  von  Giers  hat  Ihnen  nach  Inhalt  des  soeben  angezogenen 
Berichts  gesagt,  er  seinerseits  habe  „gute  Gründe",  den  Vertrag  zu  wün- 
schen, und  hat  damit  nach  Euerer  pp.  Ansicht  andeuten  wollen,  daß  er 
gern  seinen  eventuellen  Nachfolger  binden  würde.  Demgegenüber 
können  Euere  pp.  Herrn  von  Giers  an  die  Worte  erinnern,  die  Ihnen  Fürst 
Gortschakow  im  Jahre  1876  erwiderte,  als  Sie  ihn  wegen  einer  russischen 
Garantie  gewisser  deutscher  Gebietsteile  als  Gegenleistung  für  unsere 


*  Vgl.  S.  23,  Fußnote 
**  Siehe  Nr.  1370. 


35 


Unterstützung  in  orientalischen  Fragen  sondierten:  „Dies  würde  Ihnen 
wenig  nützen;  in  unserer  Zeit  haben  Traktate  einen  sehr  geringen 
Wert"  (cf.  Bericht  Nr.  1  d.d.  Jalta,  den  I.November  1876)*. 

Dies  halte  auch  ich,  wenn  auch  vielleicht  nicht  ganz  in  dem  von 
Fürst  Gortschakow  gemeinten  Sinne,  für  richtig.  Seit  die  Nationen 
mit  ihren  Interessen  und  Stimmungen  auf  die  Entscheidung  über  Krieg 
und  Frieden  einen  so  viel  wesentlicheren  Einfluß  ausüben  als  etwa  im 
siebenjährigen  Kriege,  reduziert  sich  der  Wert  einer  Allianz  von  Regierung 
zu  Regierung  bedeutend,  sobald  sie  nicht  von  der  öffentlichen  .Meinung 
getragen  wird.  Es  wäre  fraglich,  ob  Rußland  eintretendenfalls,  wenn  wir 
in  Krieg  mit  Frankreich  kämen,  dem  Strom  seiner  öffentlichen  Meinung 
gegenüber  imstande  oder  unter  einem  neuen  Leiter  seiner  äußern 
Politik  willens  wäre,  den  Bestimmungen  des  Artikels  I  des  Vertrages 
die  wohlwollende  Auslegung  zu  geben,  deren  wir  bedürfen,  um  aus 
diesem  einzigen  Paragraphen,  in  dem  auch  von  Deutschlands  Interessen 
die  Rede  ist,  Vorteil  zu  ziehen. 

Daß  übrigens  auch  russischerseits  für  den  Wert  des  Vertrags  nicht 
als  gleichgültig  angesehen  wird,  wer  an  der  Spitze  der  Geschäfte  des 
einen  der  Kontrahenten  steht,  beweist  die  anfängliche  russische  Wei- 
gerung, mit  einem  andern  Reichskanzler  als  Fürst  Bismarck  zu  ver- 
handeln. 

Hinsichtlich  der  übrigen  Bestimmungen  des  Vertrages,  die  nur 
Rußland  und  seiner  Stellung  im  Orient  zugute  kommen,  können  Euere  pp. 
Herrn  von  Giers  darauf  hinweisen,  daß  die  Zustände  auf  der  Balkan- 
halbinsel zurzeit,  soviel  hier  bekannt,  nicht  solche  sind,  welche  zu 
schneller  Entscheidung  drängen. 

Ich  nehme  an,  daß  Euere  pp,  in  der  Lage  sein  werden,  an  der 
Hand  der  vorstehenden  Ausführungen  die  jüngsten  Offerten  des  russi- 
schen Ministers  höflich  und  freundschaftlich,  aber  definitiv  abzulehnen, 
ohne  daß  auf  russischer  Seite  eine  Verstimmung  zurückbleibt. 

V.  Caprivi 


Nr.  1381 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Staats- 
sekretär des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändiger  Privatbrief 

Geheim  Wien,  den  4.  Juni  18Q0 

Euerer  Exzellenz  darf  ich  meinen  ganz  gehorsamsten  Dank  für  die 
hochinteressante  Mitteilung  der  Korrespondenz  mit  General  von  Schwei- 

*  Siehe  Bd.  II,  Nr.  252. 
36 


nitz   über   die    russischen   Versuche,   wietier   ein   geheimes   Vertrags- 
verhältnis mit  uns  anzuknüpfen,  aussprechen. 

Euere  Exzellenz  haben  mich  nicht  um  meine  Ansicht  befragt,  ich 
bitte  daher,  mir  zu  verzeihen,  wenn  ich  mich  trotzdem  nicht  enthalten 
kann,  meine  rückhaltlose  Zustimmung  zu  den  politischen  Grundsätzen 
auszusprechen,  welche  in  den  an  den  Botschafter  gerichteten  Erlassen 
vom  29.  V.  Mts.*  in  so  klarer  und  bestimmter  Weise  ausgesprochen  sind. 

Für  einen  unsicheren  halben  Verbündeten,  den  wir  in  höflicher 
Weise  abgewiesen  haben,  gewinnen  wir  die  Sicherheit,  daß  unsere  alten 
Verbündeten  nur  um  so  fester  an  uns  halten  werden. 

Ich  habe  in  den  letzten  Jahren,  als  eine  vage  Vermutung  des  ge- 
heimen Abkommens  von  1887  in  mir  auftauchte,  mehreremals  an  geeig- 
neter Stelle  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  meiner  Überzeugung 
nach  wir  uns  Österreich  dauernd  entfremden  würden,  wenn  hier  das 
kleinste   Mißtrauen   in   unsere   Zuverlässigkeit   sich   eindrängen   sollte. 

Fürst  Bismarck  hielt  wenig  von  der  Bundestüchtigkeit  Österreichs 
und  sah  in  diesem  Bündnis  nicht  das  Äquivalent  für  die  Gefahren, 
denen  wir,  zwischen  Rußland  und  Frankreich  eingeklemmt,  ausgesetzt 
sein  könnten. 

Es  wäre  verblendet,  wollte  man  behaupten,  daß  die  Macht  und 
Tatkraft  Österreichs  an  und  für  sich  das  Ideal  dessen  erreichte,  was  wir 
von  einem  Bundesgenossen  erwarten  können.  Durch  unsere  Ratschläge 
und  durch  unser  Drängen  ist  aber  Österreich  in  den  letzten  drei  Jahren 
militärisch  unzweifelhaft  vorwärts  gegangen.  Was  mir  indessen  wich- 
tiger als  die  vollendete  miHtärische  Tüchtigkeit  erscheinen  will,  das  ist 
die  Zuverlässigkeit  und  der  redliche  Wille  unseres  Alliierten,  Bundes- 
treue zu  halten,  mag  dieselbe  nun  in  der  harten  Notwendigkeit  ihren 
Grund  haben  oder  nicht.  Die  besten  Bündnisse  sind  die,  welche  auf  dem 
Fundament  des  wohlverstandenen  Interesses   aufgebaut  sind. 

Ohne  daß  wir  hier  erzählen,  was  zwischen  uns  und  Rußland  vor- 
gegangen ist,  wird  man  schon  durchfühlen,  daß  Österreich,  wenn  es 
angegriffen  wird,  noch  weit  rückhaltloser  auf  uns  zählen  kann  als 
früher;  und  die  Folge  davon  wird  naturgemäß  sein,  daß  nicht  nur  die 
Freundschaft  fester  geknüpft  sein  wird,  sondern  auch  daß  man  hier  sich 
mehr  als  zuvor  hüten  wird,  den  zuverlässigen  Freund  in  Verlegenheiten 
zu  setzen.  Denn  daß  man  hier  sehr  wohl  zu  würdigen  weiß,  daß  wir 
österreichischer  Balkaninteressen  wegen  nicht  in  einen  Krieg  verwickelt 
werden   wollen,  ist  zweifellos. 

Soweit  dies  mit  dem  diskreten  Charakter  der  ganzen  Sache  ver- 
einbar ist,  werde  ich  die  in  den  Erlassen  nach  Petersburg  entwickelten 
allgemeinen  politischen  Gesichtspunkte  hier  vertraulich  venverten. 

H.  VII.  P.  Reuß 


SlehR  Nr.  1380. 

37 


.    Nr.  1382 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  169  St.  Petersburg,  den  4.  Juni  1890 

Geheim 

Die  hohen  geheimen  Erlasse  Nr.  227  und  228  vom  29.  v.  Mts.*  habe 
ich  am  2.  d.  Mts.  durch  königHchen  Feldjäger  zu  erhalten  die  Ehre 
gehabt;  heute,  am  letzten  Empfangstage  des  Herrn  von  Giers  vor  seiner 
morgen  erfolgenden  Abreise  nach  Finnland  habe  ich  die  in  jenen  Er- 
lassen enthaltenen  Aufträge  ausgeführt. 

In  der  freundschaftlichen  Weise  und  mit  der  Offenheit,  zu  welcher 
ein  vierzehnjähriger  Verkehr  mich  berechtigt,  der  politisch  fast  immer 
geschraubt  und  gereizt,  persönlich  aber  stets  vertrauensvoll  und  un- 
getrübt u^ar,  sagte  ich  dem  russischen  Herrn  Minister  des  Äußeren 
ungefähr  folgendes: 

„Ich  habe  bereits  die  Ehre  gehabt,  Ihnen  zu  sagen,  daß  ich  alles, 
was  Sie  neulich  die  Güte  hatten,  mir  mit  Bezug  auf  die  durch  den 
Abgang  des  Fürsten  Bismarck  unterbrochenen  Unterhandlungen  zu 
eröffnen,  zur  Kenntnis  des  Generals  von  Caprivi  gebracht  habe. 

Der  Herr  Reichskanzler  hat  mir  hierauf  geantwortet,  daß  er 
fest  entschlossen  ist,  an  der  bisherigen  Politik  Rußland  gegenüber 
festzuhalten,  und  daß  er  dies  auch  ohne  schriftliche  Abmachung  tun 
wird;  die  Politik,  welche  er  gemäß  den  allerhöchsten  Intentionen  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs  zu  führen  gedenkt,  soll  eine  einfache 
und  durchsichtige  sein,  welche  nirgends  Unruhe,  Unsicherheit  oder 
Mißtrauen  aufkommen  läßt;  eine  solche  Politik  schließt  aber  seiner 
Ansicht  nach  geheime  Verträge  aus. 

Der  Herr  Reichskanzler  geht  von  der  Überzeugung  aus,  daß  der 
Wert  von  Verträgen,  welche  zwischen  Kabinetten  abgeschlossen  werden, 
ein  geringer  ist,  wenn  sie  nicht  von  der  öffentlichen  Meinung  ge- 
tragen werden;  dies  würde  nun  jetzt  weder  bei  uns  noch  bei  Ihnen  der 
Fall  sein;  es  wird  Euerer  Exzellenz  nicht  entgangen  sein,  daß  seit  der 
vor  etwa  drei  Wochen  vom  Wiener  ,Times'-Korrespondenten  lanzierten 
Nachricht  von  einem  deutsch-russischen  Bündnisse  die  ganze  russische 
Presse  vom  ,Grashdanin',  der  dem  Hofe,  bis  zum  ,Swet',  der  dem 
Volke  am  nächsten  steht,  stürmisch  gegen  ein  solches  Abkommen 
getobt  hat.  Hiernach  ist  es  wohl  erklärlich,  wenn  General  von  Caprivi 
sich  fragt,  ob  ein  anderer  Minister  als  Sie  imstande  sein  würde,  im 
Falle    eines   französischen   Angriffs    auf   uns    dem    Vertrage    diejenige 


*  Siehe  Nr.  1380  und  S.  30,  Fußnote  f. 
38 


Auslegung  zu  geben,  deren  wir  bedürfen.  Solange  als  Sie  die  russi- 
sche Politik  leiten,  brauchen  wir  keinen  Vertrag,  und  wenn  Sie  einmal 
nicht  mehr  Minister  sind,  so  würde  sein  Wert  für  uns  lediglich  von 
der  Interpretation  abhängen,  welche  Ihr  Nachfolger  ihm  geben  würde; 
es  ist  ja  oft  schwer  zu  entscheiden,  ob  derjenige,  welcher  taktisch 
den  Angriff  eröffnet,  nicht  strategisch,  politisch,  moralisch  der  An- 
gegriffene ist;  wohl  aber  würden  wir  von  dem  Bekanntwerden  des 
Abkommens  dieselben  Nachteile  erwarten  müssen,  wie  Sie  es  taten, 
als  Sie  im  Jahre  1887  den  Vertrag  mit  Österreich-Ungarn  nicht  er- 
neuerten ;  es  waren  damals  nicht  sowohl  politische  Gründe,  welche 
Sie  abhielten,  als  vielmehr  die  Besorgnis,  daß  das  immerhin  mögliche 
Verlautbaren  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Alexander  gar  zu  großen 
Schaden  beim  russischen  Volke  und  in  dem  Urteil  der  Geschichte  tun 
würde.  Wenn  nun  jetzt  oder  späterhin  ein  solcher  Fall  eintrete,  so 
würde  unsere  Nation  und  Europa  alles  Vertrauen  in  die  ehrliche,  ein- 
fache, durchsichtige  Politik  verlieren,  welche  die  Geschäftsleitung  des 
neuen  Reichskanzlers  charakterisieren  wird. 

General  von  Caprivi  hat  nicht  verfehlt,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser 
und  Könige  meinen  Brief  vollinhaltlich  zu  unterbreiten,  und  es  ist 
dem  Kanzler  gelungen,  Seine  Majestät  von  der  Richtigkeit  und  der 
vollkommenen  Lauterkeit  seiner  Auffassung  zu  überzeugen;  Seine  Maje- 
stät haben  infolgedessen  allerhöchstihren  Willen  dahin  kundzugeben 
geruht,  daß  wir  unsere  vortrefflichen  Beziehungen  zu  Rußland  so  wie 
in  der  Vergangenheit  so  auch  in  der  Zukunft  erhalten  wollen,  aber  ohne 
Vertrag." 

Herr  von  Giers  hörte  mir  ruhig  zu  und  machte  sich  Notizen; 
dann  wiederholte  der  Herr  Minister  nochmals  die  Besorgnisse,  welche 
ihm  der  Wegfall  jedes  schriftlichen  Abkommens  mit  uns  einflößt;  gegen- 
über dem  Dreibunde  mit  dessen  offen  ausgesprochener  Tendenz  gegen 
Rußland  habe  letzteres  durch  den  Vertrag  mit  uns  Sicherheit  gegen 
„Avanien"  gefunden,  welche  Österreich  und  besonders  Ungarn  ihm 
zuzufügen  nur  zu  geneigt  sei.  Je  mehr  sich  Herr  von  Giers  in  diese 
Betrachtungen  vertiefte,  um  so  weniger  wollte  er  sich  damit  zufrieden 
geben,  daß  nun  wirklich  gar  kein,  wenn  auch  noch  so  loses  Band  uns 
mit  Rußland  verknüpfen  solle.  Als  ich  ihm,  wenn  auch  in  schonender 
Weise,  doch  sehr  bestimmt  meine  heutige  Eröffnung  als  eine  definitive 
bezeichnete,  sagte  Seine  Exzellenz,  unsere  diplomatischen  Verhand- 
lungen seien  nun  freilich  als  abgeschlossen  zu  betrachten,  nicht  so  sei 
es  aber  mit  dem  Gedankenaustausch  zwischen  den  Monarchen;  ein 
solcher  sei  eingeleitet  worden  durch  die  Gespräche,  welche  Seine  Maje- 
stät der  Kaiser  Alexander  mit  mir  und  Seine  Majestät  der  Kaiser  Wil- 
helm mit  dem  Grafen  Schuwalow  geführt  habe. 

Ich  erwiderte  dem  Herrn  Minister,  sein  erhabener  Souverän  habe 
mich   beauftragt,    meinem    kaiserlichen    Herrn   zu    sagen,    er   vertraue 

39 


darauf,  daß  der  Abgang  des  Fürsten  Bismarck  weder  an  den  persön- 
lichen noch  an  den  politischen  Beziehungen  etwas  ändern  werde;  diese 
Mitteilungen  hätten  bei  meinem  allergnädigsten  Kaiser  und  Herrn 
Widerhall  und  eine  vertrauensvolle  Erwiderung  gefunden,  welche  ich 
nach  meiner  Rückkehr  aus  Berlin  persönlich  zu  übermitteln  die  Ehre 
hatte;  hiermit  habe  der  durch  mich  geführte  Verkehr  von  Souverän 
zu  Souverän  seinen  Abschluß  gefunden.  Von  einem  Vertrage  ist,  bei- 
läufig gesagt,  hierbei  nie  die  Rede  gewesen. 

Ich  erinnerte  übrigens  auch  Herrn  von  Giers  daran,  daß  er  selbst 
mir  gesagt  habe,  Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  lege  keinen 
besonderen  Wert  auf  schriftliche  Abmachungen;  er  möge  diso,  wenn 
er  seinem  kaiserlichen  Herrn  meine  heutigen  Mitteilungen  unterbreite, 
weniger  von  dem  nicht  erneuerten  Vertrage  sprechen  als  von  der 
Einfachheit  und  Durchsichtigkeit  unserer  auf  Erhaltung  des  Friedens 
gerichteten  Politik,  welche,  so  wie  ich  den  Charakter  des  Kaisers 
Alexander  kenne,  dem  erhabenen  Sinne  höchstdesselben  völlig  ent- 
sprechen würde. 

Der  Herr  Minister  wollte  sich  aber  hierbei  nicht  beruhigen  und 
kam  immer  wieder  auf  seinen  Wunsch  zurück,  daß  irgendetwas  Schrift- 
liches, sei  es  auch  noch  so  allgemein  gehalten,  an  die  Stelle  des  ab- 
laufenden Vertrages  treten  möge;  er  deutete  an,  daß  er  jetzt  den 
Grafen  Schuwalow  ermächtigen  werde,  mit  Euerer  Exzellenz  über  die 
Sache  zu  sprechen.  Ich  riet  Herrn  von  Giers,  dies  zu  unterlassen, 
es  werde  nicht  zu  dem  von  ihm  gewünschten  Ergebnisse  führen  und 
könne  den  Herrn  Botschafter  in  Anbetracht  aller  mit  dieser  Angelegen- 
heit zusammenhängenden  Umstände  vor  eine  schwierige  Aufgabe  stellen. 
Ich  konnte  nicht  umhin,  den  russischen  Herrn  Minister  auch  auf  den 
wesentlichen  Unterschied  aufmerksam  zu  machen,  welcher  zwischen 
dem  Geschäftsgange  in  Gatschina  und  der  verfassungsmäßigen  Ord- 
nung der  deutschen  Reichsregierung  besteht. 

Herr  von  Giers  war  noch  zu  keinem  bestimmten  Entschlüsse 
gekommen,  als  ich  ihn  nach  einstündigem  Gespräche  verlassen  mußte; 
er  will  die  Notizen,  welche  er  sich  von  meinen  Äußerungen  machte, 
mit  nach  Finnland  nehmen,  wohin  er  sich  morgen  zu  vierwöchentlichem 
Aufenthalte  begibt,  und  wird  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  schriftlichen 
Bericht  darüber  erstatten.  Ich  wiederholte  ihm  noch  beim  Abschiede 
dasjenige,  was  ich  ihm  schon  im  Laufe  der  Unterredung  angeraten 
hatte,  nämlich:  das  Nächstliegende  sei  „de  resserrer  les  liens  d'amitie 
qui  unissent  nos  Souverains",  und  hierzu  werde  sich  ja  in  zwei  Monaten 
die  schönste  Gelegenheit  finden,  selbst  wenn  dabei  gar  nicht  von  Politik 
gesprochen  werden  sollte. 

V.  S  c  h  vv  e  i  n  i  t  z 


40 


Nr.  1383 

Der  Botschafter  in  Konstantinopel  von  Radowitz  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Eigenhändige  Ausfertigung 

Nr.  106  Therapia,  den  9.  Juni  1890 

Geheim 

Euerer  Exzellenz  geheimen  Erlaß  Nr.  101  vom  29.  v.  Mts.  und  die 
beigefügten  Schriftstücke*,  betreffend  unsere  Beziehungen  zu  Rußland, 
habe  ich  mit  gehorsamstem  Danke  zu  erhalten  die  Ehre  gehabt  und 
der  mir  erteilten  Weisung  gemäß  auf  das  strengste  sekretiert. 

Euere  Exzellenz  haben  mir  schon  bei  meiner  Anwesenheit  in 
Berlin  den  Anlaß  gegeben,  es  auszusprechen,  daß  ich  nur  diejenige 
Politik  Rußland  gegenüber,  welche  in  den  beiden  Erlassen  nach  Peters- 
burg vom  29.  V.  Mts.**  dargelegt  ist,  auch  auf  Grund  meiner  hiesigen 
Eindrücke  und  Erfahrungen  ehrerbietigst  anzuraten  imstande  sei.  Die 
seitdem  hier  gemachten  Beobachtungen  bestärken  mich  darin.  Ich 
finde  hier,  wo  sich  die  russischen  Tendenzen  für  die  europäische 
Politik  vielfach  klarer  und  ungenierter  als  anderswo  ausprägen,  seit 
der  Krisis  in  Berlin  eine  erhebliche  Verschärfung  russischer  Feind- 
seligkeit gegen  das  deutsch-österreichisch-italienische  Bündnis  und 
habe  um  so  mehr  die  Überzeugung,  daß  ein  neues  geheimes  Ab- 
kommen mit  uns  von  russischer  Seite  als  Sprengmittel  der  Tripel- 
allianz verwertet  worden  wäre,  um  uns  möglichst  zu  isolieren  und 
dann  für   Orientinteressen    Rußlands   ausnutzen   zu  können. 

Unsere  jetzige  Haltung  ist  jedenfalls  keine  Förderung  mehr  für 
russische  Unternehmungslust  auf  der  Balkanhalbinsel  oder  an  den  Meer- 
engen und  dient  dadurch  dem  Frieden.  Drängt  das  Moskauer  Slawen- 
tum trotzdem  auf  Abenteuer,  und  treibt  es  zum  Kriege,  so  trifft  es 
auf  um  so  fester  gefügte  Bündnisse  zur  Abwehr. 

Radowitz 

Nr.  1384*** 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  Kaiser  Wilhelm  II., 
z.  Z.  in  Hügel  bei  Essen 

Telegramm.  Konzept 

Berlin,  den  27.  Oktober  1896 

Der  Artikel  der  „Hamburger  Nachrichten"  vom  24.  d.  Mts.  „Fürst 
Bismarck  und  Rußland",  der  von  geheimen  1890  nicht  erneuerten  Ab- 

*  Vgl.  S.  30,  Fußnote  f. 

»*  Siehe  Nr.  1380  und  S.  30,  Fußnote  f. 

***  Des  Zusammenhangs  wegen  werden  im  folgenden  noch  emige  Schriftstücke 

wiedergegeben,  die  die   Bismarckschen  Enthüllungen  aus  dem  Oktober  1896  über 

41 


machungen  spricht*,  hat  im  In-  und  Auslande  großes  Aufsehen  hervor- 
gerufen: Namentlich  zeigt  sich  die  Presse  in  Österreich-Ungarn  in 
hohem  Grade  erregt  über  die  Enthüllung,  von  der  man  eine  Lockerung 
des  Dreibunds  befürchtet.  Da  vielfach  eine  amtliche  Aufklärung  ver- 
langt w'ird,  habe  ich  im  nichtamtlichen  Teile  des  heutigen  Reichs- 
anzeigers folgendes  veröffentlichen  lassen: 

„Bei  der  öffentlichen  Besprechung  der  jüngsten  , Enthüllungen*  der 
.Hamburger  Nachrichten'  über  deutsch-russische  Beziehungen  bis  zum 
Jahre  1890  ist  vielfach  der  Wunsch  hervorgetreten,  die  Regierung  möge 
auch  ihrerseits  das  Wort  zur  Sache  ergreifen.  Wir  sind  zu  der  Erklärung 
ermächtigt,  daß  dies  nicht  geschehen  wird.  Diplomatische  Vorgänge  der 
von  den  , Hamburger  Nachrichten*  erwähnten  Art  gehören  ihrer  Natur 
nach  zu  den  strengsten  Staatsgeheimnissen;  sie  gewissenhaft 
zu  wahren,  beruhtauf  einer  internationalen  Pflicht,  deren  Verletzung  eine 
Schädigung  wichtiger  Staatsinteressen  bedingen  würde.  Die  Kaiserliche 
Regierung  muß  daher  auf  jede  Klarstellung  verzichten,  sie  wird  jenen 
Auslassungen  gegenüber  weder  Falsches  berichtigen  noch  Unvoll- 
ständiges ergänzen,  in  der  Überzeugung,  daß  die  Zuversicht  in  die 
Aufrichtigkeit  und  die  Vertragstreue  der  deutschen  Politik  bei  anderen 
Mächten  zu  fest  begründet  ist,  als  daß  sie  durch  derartige  , Enthüllungen* 
erschüttert  werden  könnte**." 

C.  Hohenlohe 


den  Rückversicherungsvertrag  betreffen,  und  weiterhin  einige  retrospektive  Äuße- 
rungen Berchems  und  Holsteins  aus  dem  Jahre  1904  über  die  entscheidenden 
Vorgänge  während  des  März  1890. 

*  In  dem  direkt  auf  Bismarck  zurückgehenden  Artikel  der  „Hamburger  Nach- 
richten" (siehe  den  Wortlaut  bei  H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890—1898  Bd.  II 
[1913],  S.  370  ff.)  hieß  es:  „Bis  zu  diesem  Termine  (seil.  1890)  waren  Rußland 
und  Deutschland  im  vollen  Einverständnis  darüber,  daß,  wenn  eins  von  ihnen 
angegriffen  würde,  das  andere  wohlwollend  neutral  bleiben  solle,  also  wenn  bei- 
spielsweise Deutschland  von  Frankreich  angefallen  wäre,  so  war  die  wohlwollende 
Neutralität  Rußlands  zu  gewärtigen,  und  die  Deutschlands,  wenn  Rußland  un- 
provoziert  angegriffen  würde.  Dieses  Einverständnis  ist  nach  dem  Ausscheiden 
des  Fürsten  Bismarck  nicht  erneuert  worden,  und  wenn  wir  über  die  Vorgänge 
in  Berlin  richtig  unterrichtet  sind,  so  war  es  nicht  etwa  Rußland  in  Ver- 
stimmung über  den  Kanzlerwechsel,  sondern  Graf  Caprivi  war  es,  der  die  Fort- 
setzung dieser  gegenseitigen  Assekuranz  ablehnte,  während  Rußland  dazu  bereit 
war." 

**  Vgl.  dazu  die  ebenfalls  auf  den  Fürsten  Bismarck  zurückgehende  Erwiderung 
der  „Hamburger  Nachrichten"  vom  31.  Oktober  1896:  „Die  Erklärung  im  .Reichs- 
anzeiger' "  (H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890—1898  Bd.  II  [1913],  S.  373  ff.)  und 
die  Replik  des  „Reichsanzeigers"  vom  3.  November.  Fürst  Bismarck  machte  in 
seiner  Erwiderung  geltend,  daß  diplomatische  Vorgänge  von  der  Art  des  Rück- 
versicherungsvertrages keineswegs  als  zu  den  „strengsten  Staatsgeheimnissen" 
gehörend  betrachtet  werden  könnten.  „Die  besprochenen  russisch-deutschen  Ver- 
handlungen gehören  der  Geschichte  an  und  den  Archiven;  ihre  Geheimhaltung 
war  für  uns  wie  für  den  Dreibund  von  Hause  aus  kein  Bedürfnis,  sie  erfolgte 
lediglich  auf  russischen  Wunsch,  und  die  Situation,  auf  welcher  dieser  Wunsch 
damals  beruhte,  besteht  heute  nicht  mehr.    Im  deutschen  Interesse  hätte  unserer 

42 


Nr.  1385 

Der  Chef  des  Geheimen  Zivilkabinetts  von  Lucanus,  z.  Z.  in  Essen, 
an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Telegramm.  Entzifferung 

Essen,  den  28.  Oktober  18Q6 
Seine  Majestät  der  Kaiser  beabsichtigen,  das  nachstehende  Tele- 
gramm an  Seine  Majestät  den  Kaiser  von  Österreich  zu  senden,  und 
wünschen   Euerer  Durchlaucht  Meinung  darüber  zu  vernehmen: 

„Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Franz  Joseph 

Gödöllö. 

Durch  meine  letzten  Reisen  am  Zeitungslesen  bisher  verhindert, 
erfahre  ich  erst  jetzt  durch  Telegramme  und  Auszüge  von  den  Ver- 
öffentlichungen des  Fürsten  Bismarck*.  Dieselben  enthalten  das,  was 
ich  Dir  bei  unserm  ersten  Zusammentreffen  nach  seiner  Entlassung 
mitteilte,  und  wirst  Du  sowohl  wie  die  Welt  nunmehr  in  dem  Ver- 
ständnis bekräftigt,  weshalb  ich  den  Fürsten  entließ. 

Wilhelm." 

Seine  Majestät  lassen  ersuchen,  die  Erwiderung  so  schleunig  als 
möglich  direkt  an  mich  hierher  zu  senden. 

Lucanus 

Nr.  1386 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Chef  des  Gel.eimen 
Zivilkabinetts  von  Lucanus,  z.  Z.  in  Essen 

Telegramm.  Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Berlin,  den  28.  Oktober  1896 
Ich   bin   einverstanden,   daß  Seine  Majestät  an  den   Kaiser  Franz 
Joseph  eine  vertrauliche  Mitteilung  über  die  fragliche  Angelegen- 

Ansicht  nach  die  volle  Veröffentlichung  gelegen,  da  der  ganzen  Sache  für  uns 
nicht  etwa  ein  Pudendum  zugrunde  liegt,  sondern  ein  berechtigter  Anlaß  für  alle 
friedliebenden  Angehörigen  des  Reiches  wie  des  Dreibundes,  mit  Genugtuung 
zurückzublicken."  Demgegenüber  wies  der  „Reichsanzeiger"  darauf  hin,  daß 
Deutschland  seinerzeit  bedingungslos  die  Zusage  erteilt  habe,  sowohl  die  Tat- 
sache wie  den  Inhalt  der  vor  1890  mit  Rußland  geführten  Verhandlungen  geheim- 
zuhalten, und  daß  somit  diese  Verpflichtung  für  alle,  die  darum  wüßten,  un- 
verändert fortdauere.  Daß  in  der  Tat  die  russische  Regierung  noch  I8QÖ  auf  der 
unbedingten  Geheimhaltung  bestand,  beweist  Nr.  13S9.  Früher,  nach  Abschluß  des 
Rückversicherungsvertrages  im  Jahre  1887,  hatte  übrigens  Fürst  Bismarck  selbst 
die  Notwendigkeit  unbedingter  Geheimhaltung  des  Vertrages  betont;  vgl.  Bd.  V, 
Kap.  XXXIV,  Nr.  1100. 
*  Vgl.  S.  42,  Fußnote  *  und  ** 

43 


heit  richtet.  Dies  kann  aber  nur  durch  chiffriertes  Telegramm  an  den 
Geschäftsträger  in  Wien  geschehen,  da  unsre  vertragsmäßige  Verpflich- 
tung Rußland  gegenüber,  nichts  von  dem  damaligen  Vertrage  in  die 
Öffentlichkeit  kommen  zu  lassen,  heute  noch  fortbesteht. 

C.  Hohenlohe 


Nr.  1387 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  das  Aus- 
wärtige Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  232  Wien,  den  28.  Oktober  1896 

In  Vertretung  des  abwesenden  Ministers  erklärte  mir  soeben  Graf 
Szccsen*,  daß  die  hiesige  Regierung  durch  die  Hamburger  Veröffent- 
lichungen in  keiner  Weise  verstimmt  worden  sei,  sondern  nur  den 
schlechten  Eindruck  in  der  öffentlichen  Meinung  bedauere.  Der  gleichen 
Auffassung  habe  auch  Graf  Goluchowski**  vor  seiner  Abreise  Ausdruck 
gegeben.  Morgen  werde  das  „Fremdenblatt"  einen  beruhigenden,  den 
Erklärungen  des  „Reichsanzeigers"  entsprechenden  Leitartikel  bringen, 
welcher  das  volle  Vertrauen  der  hiesigen  Regierung  zur  gegenwärtigen 
deutschen  betonen  wird, 

Lichnowsky 


Nr.  1388 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  von  Lichnowsky  an  das  Aus- 
wärtige Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  234  Wien,  den  30.  Oktober  1896 

Unter  Bezugnahme  auf  Telegramm  Nr.  169  vom  28.  Oktober. 

Graf  Szecsen  hat  mir  das  nachstehende  Telegramm  Seiner  Maje- 
stät des  Kaisers  Franz  Joseph  an  Seine  Majestät  unsern  allergnädigsten 
Herrn  übergeben: 

„Herzlichsten  Dank  für  die  freundschaftlichen  Worte  anläßlich  eines 
bisher  unerhörten  Vorgangs,  den  ich  zwar  lebhaft  bedauere,  der  aber 
nur  dazu  beitragen  kann,  die  Innigkeit  und  Unerschütterlichkeit  gegen- 
seitigen vollen  Vertrauens  zu  kräftigen. 

Ich  war  Dir  zu  Dank  verpflichtet,  als  Du  mir  seinerzeit  die  Tat- 


•  Sektionschef  im  k.  u.  k.  Reichsministerium  des  Äußern. 
••  K.  u.  k,  Minister  des  Äußern. 

44 


Sache   selbst  mitteiltest;   seitdem  hat  sich   die  treueste   Freundschaft 
mehr  und  mehr  bewährt,  die  uns  aneinander  schließt. 

Franz  Joseph." 
Lichnowsky 

Nr.  1389 

Der  Verweser  des  russischen  Ministeriums  des  Äußern  Schischkin 
an  den  russischen  Botschafter  in  Berlin  Grafen  von  der  Osten-Sacken 

Telegramm.  Abschrift  am  14.  November  vom  Grafen  von  der  Osten-Sacken  überreicht* 

St.  Petersbourg,  le  2/14  Novembre  1896 
Notre  traite  avec  TAUemagne  stipulant  en  toutes  lettres  que  les 
deux  parties  contractantes  s'engagent  ä  observer  le  secret  non  seule- 
ment  quant  au  contenu,  mais  aussi  „sur  l'existence  du  traite",  il  nous 
parait  que  le  seul  fait  ä  constater  serait  de  relever  le  caractere  partir 
culier  de  transactions,  —  indispensables  dans  certaines  circonstances,  — 
qui,  par  raison  d'etat,  ne  se  contractent  qu'ä  condition  expresse  d'un 
secret  absolu  sur  leur  existence  meme. 

Les  declarations  que  le  Prince  de  Hohenlohe  et  le  Baron  de 
Marschall  se  disposent  ä  faire  au  Reichstag,  revelant  qu'ä  une  data 
peu  eloignee  un  pareil  traite  a  existe,  sont  en  contradictiqn  avec  l'en- 
gagement  pris,  sans  relever  que  rattacher  ä  la  clause  du  secret  le  refus 
de  renouveler  le  traite,  —  serait  insinuer  que  nous  avions  Heu  de  tenir 
particulierement  du  secret,  tandisqu'il  etait  „mutuel"  pour  les  deux 
parties. 

Vous  pouvez  dire  au  Prince  de  Hohenlohe  et  au  Baron  de  Mar- 
schall que  leurs  declarations  au  Reichstag  feraient  le  plus  deplorable 
effet  chez  nous  et  ne  manqueraient  pas  de  provoquer  en  Russie  et 
dans  presse  Russe  accusation  d'etre  manoeuvre  tendant  ä  semer  de- 
fiance.  —  (sig.)  Chichkine 

Nr.  1390 

Aide-Memoire,  bestimmt  für  den  russischen  Botschafter  in  Berlin 
Grafen  von  der  Osten-Sacken 

Unsigniertes  Konzept  von  der  Hand  des  Staatssekretärs  Freiherrn  von  Marschall 

Berlin,  14  Novembre  1896 
Le  Baron  de  Marschall  ne  nie  pas  les  obligations  du  secret  meme 
sur   l'existence   du    traite,   mais    considere   la  Situation   completement 


*  Das  Telegramm  war  veranlaßt  worden  durch  die  Nachricht,  daß  die  deutsche 
Reichsregierung  die  Absicht  habe,  auf  eine  von  dem  Grafen  von  Hompesch 
namens  des  Zentrums  im  Reichstage  eingebrachte  Interpellation  wegen  der  Nicht- 
emeuerung  des  Rückversicherungsvertrages   Rede  und  Antwort  zu  stehen. 

45 


changee  par  les  revelations  de  rhomme  le  plus  competent  dans  cette 
matiere,  celui  meme  qui  a  signe  le  traite.  Le  grand  emoi  qui  en  a 
ete  la  consequence  en  Allemagne  comme  ailleurs  et  les  reproches  que 
le  Princc  de  Bismarck  fait  au  gouvernement  d'avoir  ete  ä  la  remorque 
de  TAngleterre*,  lui  impose  le  devoir  de  parier  et  de  repondre  ä  Tinter- 
pellation.  Dans  le  cas  contraire  il  laisserait  aux  partisans  du  Prince 
de  Bismarck  le  champ  libre  pour  fortifier  ses  accusations  et  continuer 
ses  revelations.  Du  moment  oü  il  y  a  Obligation  de  parier,  toute 
declaration  qui  ne  contient  pas  un  dementi  formel  sur  l'existence  du 
traite  equivaudrait  ä  un  aveu.  Un  dementi  formel  est  impossible  ä 
cause  de  la  notoriete  publique  de  son  existence  et  compromettrait  le 
gouvernement  sans  profit. 

Ni  le  Prince  de  Hohenlohe,  ni  le  Baron  de  Marschall  n'ont  l'inten- 
tion  de  preter  au  gouvernement  russe  d'avoir  tenu  particulierement 
au  secret.   Les  raisons  du  secret  ne  seront  pas  touchees. 

Le  Baron  de  Marschall  est  d'avis  que  Ton  peut  donner  des  declara- 
tions  dans  ce  sens  sans  eveiller  le  soupgon  de  vouloir  semer  defiance;  il 
croit  au  contraire  qu'essayer  par  le  gouvernement  de  voiler  meme 
l'existence  du  traite  pourrait  precisement  lui  valoir  l'accusation  de 
semer  defiance  en  laissant  supposer  qu'il  y  a  encore  des  engagements. 
Le  Baron  de  Marschall  croit  que  le  soin  de  ne  pas  eveiller  la  defiance 
de  qui  que  ce  soit  est  un  interet  commun  des  deux  cabinets,  car 
l'eveiller  ä  notre  detriment  serait  le  provoquer  ailleurs  contra  le  gou- 
vernement Allemand**. 


*  Ein  solcher  Vorwurf  findet  sich  ansredeutet  in  dem  auf  Bismarck  zurückgehenden 
Artikel  der  „Hamburger  Nachrichten"  vom  12.  November  „Die  Interpellation". 
Es  heißt  da:  „Die  Frage,  ob  ein  mächtiges  Nachbarreich  wie  Rußland  mit  uns 
oder  mit  unseren  Gegnern  in  Europa  engere  Fühlung  hat,  ist  für  die  gesamte 
Bevölkerung  des  Deutschen  Reiches  eine  Frage  von  hervorragender  Wichtigkeit, 
und  nicht  minder  ist  dies  die  andere,  ob  die  englische  Politik  bemüht  und  im- 
stande ist,  auf  die  unsrigc  einen  Einfluß  zu  üben,  dessen  Ergebnisse  nicht  un- 
bedingt im  Interesse  des  Deutschen  Reiches  liegen."  H.  Hofmann,  Fürst  Bis- 
marck 1890—1898  Bd.  II   (1913),  S.  387. 

**  Tatsächlich  wurde  die  vom  Grafen  Hompesch  eingebrachte  Interpellation  am 
16.  November  von  dem  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe  und  dem  Staats- 
sekretär Freiherrn  von  Marschall  beantwortet.  Beide  hielten  in  ihren  Reden  daran 
fest,  daß  sie  bei  der  seinerzeit  mit  Rußland  verabredeten  unbedingten  Geheim- 
haltung über  das  Ergebnis  der  deutsch-russischen  Verhandlungen  von  1887—1890 
amtliche  Auskunft  nicht  zu  geben  vermöchten.  Indessen  nahmen  sie  einerseits  die 
deutsche  Politik  vor  1890  gegen  den  Vorwurf  in  Schutz,  daß  damals  mit  Ruß- 
land Dinge  verabredet  worden  seien,  die  im  Widerspruch  mit  den  bestehenden 
Verträgen  ständen  (vgl.  auch  S.  6  f.,  Fußnote),  andererseits  die  deutsche  Politik 
nach  1890  gegen  den  Vorwurf,  daß  sie  eine  wichtige  Sicherung  und  Friedens- 
garantie preisgegeben  habe.  Ausdrücklich  erklärte  Fürst  Hohenlohe,  die  Gründe, 
welche  im  Frühjahr  1890  die  deutsche  Politik  leiteten,  „nach  sorgfältigster 
Prüfung  des  vorhandenen  Materials"  als  vollwichtig  anerkennen  zu  müssen.  Siehe 
den  Wortlaut  der  Reden:  Stenogranhische  Berichte  über  die  Verhandlungen  des 
Reichstags   1895/97,  Bd.  V,  S.  3262  ff. 

46 


Nr.  1391 

Der  Unterstaafssekretär  im  Auswärtigen  Amt  a.  D.  Graf  von  Berchem 
an  den  Reichskanzler  Grafen  von  Biilow 

Eigenhändig 

Vertraulich  München,  den  3.  Juni  1904 

Das  anliegende  Memoire*  habe  ich  im  Monat  März  1890  dem 
Reichsicanzler  Herrn   von   Caprivi  vorgelegt. 

Der  Botschafter  von  Schweinitz  war  persönlich  in  Berlin  erschienen, 
um  die  von  ihm  vorbereitete  Erneuerung  des  geheimen  Vertrages  mit 
Rußland  d.  d.  1887  zu  betreiben.  Es  gelang  mir,  in  einer  Konferenz 
(28.  3.  1890)  des  Reichskanzlers  von  Caprivi  mit  Herrn  von  Schweinitz, 
zu  welcher  ich  beigezogen  wurde**,  an  der  Hand  dieses  Schrifts4ückes 
letzteren  zu  überzeugen,  daß  der  beabsichtigte  Schritt  besser  unter- 
bleibe. Mündlich  wurde  dabei  betont,  daß  es  bei  der  damaligen  hoch- 
gradigen Erregung  der  Gemüter  nicht  angehe,  sich  der  Gefahr  einer 
publizistischen  Verwertung  dieses  Abkommens  auszusetzen. 

Nachdem  Herr  von  Caprivi  sich  schon  vorher  meinem  mit  dem 
des  Geheimen  Legationsrates  Herrn  von  Holstein  identischen  Votum*** 
angeschlossen  hatte,  so  entfiel  die  auch  an  allerhöchster  Stelle  nicht 
gewünschte  Unterzeichnung  des  Vertragsentwurfes.  General  von  Ca- 
privi hatte  mich  eingeladen,  in  seiner  Gegenwart  das  Memoire  auch 
Seiner  Majestät  gegenüber  zu  vertreten;  ich  bat  aber,  davon  abzu- 
sehen, da  dies  unzweckmäßiges  Aufsehen  erregt  haben  würde. 

Fürst  Bismarck  hat,  als  ich  im  Jahre  1896  in  Friedrichsruh  war, 
in  meiner  Gegenwart  bei  Besprechung  des  französisch-russischen  Bünd- 
nisses dessen  Entstehung  nicht  mit  der  unterlassenen  Erneuerung  des 
geheimen  Vertrages,  sondern  mit  der  angeblichen,  in  Petersburg  nicht 
gern  gesehenen  Provozierung  einer  Einladung  unseres  allergnädig- 
sten  Herrn  nach  Krasnoe  Selof  und  mit  den  in  Cowes  gewechselten 


*  Es  handelt  sich  um  den  Entwurf  der  Berchemschen  Aufzeichnung  vom  25.  März; 
siehe  Nr.  1368  nebst  Fußnote.  Der  Entwurf  ist  auszugsweise  gedruckt  bei  J.  von 
Eckardt,  Aus  den  Tagen  von  Bismarcks  Kampf  gegen  Caprivi  S.  53  f f. 
**  Nach  Caprivis  Aufzeichnung  vom  28.  März  (siehe  Nr.  1369)  muß  die  Um- 
stimmung  Schweinitz'  mindestens  schon  am  27.,  wo  Reichskanzler  und  Botschafter 
gemeinschaftlich  dem  Kaiser  Vortrag  im  Sinne  der  Nichterneuerung  hielten,  ein- 
getreten  sein.    Vgl.  auch  das  folgende  Schriftstück. 

***  Ein  schriftliches  Votum  Holsteins  aus  dem  März  liegt  nicht  vor;  vielleicht 
denkt  Berchem  an  den  gemeinschaftlichen  Vortrag,  den  er,  Holstein  und  Raschdau 
am  23.  März  dem  Reichskanzler  von  Caprivi  über  die  Frage  des  Rückversicherungs- 
vertrags erstattet  haben.  Vgl.  Holsteins  Brief  vom  Abend  des  22.  März:  „Morgen 
um  10  werden  Berchem,  Raschdau  und  ich  gemeinsamen  Vortrag,  von  mir  an- 
geregt, an  Caprivi  halten.  Dann  muß  man  sehen,  was  Caprivi  ausrichtet."  (Vindex 
Scrutator.  Warum  der  russische  Draht  zerriß,  „Der  Tag",  Ausgabe  ß  [rot]  vom 
4.  November  1920.) 
t  Vgl.   dazu   Bismarcks  Gedanken   und  Erinnerungen  Bd.  III   (1919),  S.  144f. 

47 


Toasten*  erklärt.  Ich  erinnere  mich  ferner  daran,  daß,  als  1887  die 
Russen  der  geheimen  Vereinbarung  nur  eine  zeitlich  sehr  begrenzte 
Dauer  zugestanden,  Fürst  Bismarck  diese  Verweigerung  einer  längeren 
Frist  mit  der  damals  bereits  in  Petersburg  in  Aussicht  genommenen 
Eventualität  einer  Annäherung  an  Frankreich  in  Verbindung  brachte**. 

Es  ist  also  auch  nach  der  Meinung  des  Fürsten  Bismarck  nicht 
richtig,  was  in  vielen  Kreisen  als  erwiesen  gilt,  daß  das  Bündnis  zwi- 
schen Paris  und  Petersburg  der  unterlassenen  Verlängerung  des  Ver- 
trages von  1887  seinen  Ursprung  verdanke***. 

Das  anliegende  Memoire,  nur  in  einem  von  mir  geschriebenen 
Konzepte  ausgefertigt,  habe  ich  mit  Zustimmung  des  Generals  von 
Caprivi  damals  nicht  zu  den  Akten  übergeben  f.  Da  dasselbe  aber 
immerhin  einen  gewissen  Kommentar  zu  dem  nunmehr  verjährten  in- 
teressanten Vorgang  von  1890  bildet,  so  halte  ich  mich  für  verpflichtet, 
dieses  Schriftstück  zur  Vervollständigung  der  Registratur  des  Aus- 
wärtigen Amtes  Hochdenselben  ganz  gehorsamst  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Gf.  v.  Berchem 

Nr.  1392 
Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein 

Reinschrift 

Berlin,  den  10.  Juni  1904 
Im   März    1890   gaben   die   Mitglieder   der  politischen   Abteilung 
schriftliche  Gutachten  ab,  welche  sich  ebenso  wie  dasjenige  des  da- 
maligen  Unterstaatssekretärs  Grafen   Berchem   gegen   die   Erneuerung 
des  Rückversicherungsvertrages  aussprachen  ff.  Das  Votum  des  Unter- 

♦  Gemeint  sind  wohl  die  Guildhall-Toaste  vom  10.  Juli  1891.  Vgl.  Bd.  VIII,  Nr.  1726, 
Fußnote  **.    Vgl.  Bd.  VIII,  Nr.  1727. 

**  Berchem  irrt  hier.  Nicht  die  Russen,  sondern  Bismarck  hat  auf  der  „zeit- 
lich sehr  begrenzten  Dauer"  des  Vertrages  bestanden.  Vgl.  Bd.  V,  Kap.  XXXIV, 
Nr.  1093. 

***  Auch  hier  irrt  Berchem.  Bismarck  hat  wiederholt  die  Entente  zwischen  Ruß- 
land und  Frankreich  auf  das  Zerreißen  des  russischen  Drahts  zurückgeführt.  So 
heißt  es  in  dem  berühmten  Artikel  der  „Hamburger  Nachrichten"  vom  24.  Ok- 
tober 1896:  „So  entstand  Kronstadt  mit  der  Marseillaise  und  die  erste  Annäherung 
zwischen  dem  absoluten  Zarentume  und  der  französischen  Republik,  unserer  An- 
sicht nach  ausschließlich  durch  die  Mißgriffe  der  Caprivischen  Politik  herbei- 
geführt. Dieselbe  hat  Rußland  genötigt,  die  Assekuranz,  die  ein  vorsichtiger  Po- 
litiker in  den  großmächtlichen  Beziehungen  Europas  gern  nimmt,  in  Frankreich  zu 
suchen."  H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890—1898  Bd.  II  (1913),  S.  373. 
t  Ein  weiterer  Irrtum  Berchems;  Reichskanzler  von  Caprivi  hat  die  Reinschrift 
des  Memoires  schon  am  28.  März  1890  zn  den  Akten  gegeben, 
tt  Augenscheinlich  hat  Holstein  die  schriftlichen  Gutachten  im  Auge,  die  er  und 
seine  beiden  Kollegen  von  der  politischen  Abteilung,  von  Kiderlen  und  Raschdau, 
in  einer  späteren  Phase  der  Verhandlungen  am  20.  Mai  (siehe  Nr.  1374,  1376  und 
1377)  erstattet  hatten.  Aus  dem  März  liegen  schriftliche  Gutaditen  der  Mitglieder 
der  politischen  Abteilung  nicht  vor;  sie  dürften,  was  Raschdau  nachgehends  in 
seinem  Artikel  Das  Ende  der  deutsch-russischen  Rückversicherung,  „Der  Tag", 
Ausgabe  B  (rot)  vom  17.  Oktober  1920  bestätigt,  mündlich  und  zwar  am  23.  März 
erstattet  sein.    Vgl.  S.  10,  Fußnote. 

48 


fertigten  bezeichnete  die  Erneuerung  als  „zurzeit'*  nicht  ratsam.  Ohne 
die  Wirkung  dieser  Schriftstücke  herabsetzen  zu  wollen,  habe  ich  doch 
historisch  zu  konstatieren,  daß  auf  die  Sinnesänderung  des  Botschaf- 
ters von  Schvveinitz,  auf  dessen  Stellungnahme  gegen  die  Erneuerung 
der  Text  unseres  rumänischen  Vertrages  von  entscheidender  Wirkung 
gewesen  ist.  In  der  Konferenz  mit  dem  Reichskanzler  von  Caprivi 
und  dem  Unterstaatssekretär  Grafen  Berchem  wurden  zunächst  dem 
General  von  Schweinitz  alle  unsere  Geheimverträge  vorgelegt.  Der- 
selbe erklärte,  darüber,  ob  der  österreichische  Vertrag  sich  mit  dem 
Rückversicherungsvertrag  vereinigen  lasse,  könne  man  allenfalls  noch 
streiten,  mit  dem  rumänischen  Vertrage  aber  sei  der  Rückversiclierungs- 
vertrag  gänzlich  unvereinbar.  Von  dem  rumänischen  Vertrage  habe  er, 
der  General,  bis  dahin  keine  Kenntnis  gehabt. 

Als  der  Reichskanzler  Seiner  Majestät  dem  Kaiser,  welcher  die  Be- 
sprechung der  drei  Herren  angeordnet  hatte,  meldete,  daß  der  General 
von  Schweinitz  nach  Kenntnis  des  rumänischen  Vertrages  sich  wegen 
der  Widersprüche  zwischen  diesem  und  dem  beabsichtigten  Rück- 
versicherungsvertrag nunmehr  gegen  letzteren  ausgesprochen  habe,  sagte 
Seine  Majestät:  „Nun,  dann  geht  es  nicht,  so  leid  es  mir  tut," 

Von  den  vier  Hauptbeteiligten  leben  heute  noch  Seine  Majestät  und 
der  Graf  Berchem.  Der  Unterzeichnete  ebenso  wie  Herr  von  KUe-len 
erfuhr  den  Hergang  vom  Reichskanzler  gleich  nach  dessen  Rückkehr 
vom  Immediatvortrag. 

Holstein 


4    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  49 


Kapitel  XLV 

Erneuerung  des  Dreibund -Vertrags. 

Erste  Versuche  Frankreichs,  Italien  vom  Dreibund 

abzusprengen  18Q1 

Anhang: 
A.Aufmarsch-undRüstungsfragenimDreibundl891 — 18Q2 

B.  Der  erneuerte  Dreibund  und  das  italienisch-französische 
Verhältnis  1891—1895 


Nr.  1393 

Der  Geschäftsträger  in  Rom  Freiherr  von  Doernberg  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  283  Rom,  den  13.  Oktober  1890 

Herr  Crispi  sagte  mir  heute  mit  Bezug  auf  einen  etwaigen  Besuch 
Euerer  Exzellenz:  ein  Zusammentreffen  mit  Euerer  Exzellenz  in  nicht 
zu  ferner  Zeit  sei  ihm  aus  dem  Grunde  besonders  erwünscht,  weil  für 
ItaUen  die  Frage  einer  Verlängerung  des  Bündnisses  im  Vordergrund 
der  politischen  Interessen  stehe,  und  er  die  Absicht  habe,  diese  Frage 
mit  Euerer  Exzellenz  zu  besprechen. 

Doernberg 

Nr.  1394 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi,  z.  Z.  in  Mailand* 

Eigenhändig 

Mailand,  den  7.  November  1890 
M.  Crispi  suchte  mich   heut  auf  und  berührte  in   einer  längeren 

ziemlich    einseitig  von    seiner  Seite   geführten    Unterhaltung  folgende 

Punkte: 

1.  Der  Vertrag  Italiens  mit  Spanien**  sei  für  ersteres  von  hoher 


*  Am  7.  November  traf  Reichskanzler  von  Caprivi  in  Mailand  ein,  wo  er  eine 
längere  Konferenz  mit  Crispi  hatte.  Am  folgenden  Tage  begab  er  sicli  mit  dem 
italienischen  Ministerpräsidenten  nach  Monza,  um  sich  dem  italienischen  Königs- 
paare vorzustellen.  Über  die  zwischen  dem  deutschen  Reichskanzler  und  dem 
italienischen  Ministerpräsidenten  gepflogenen  Unterredungen  hat  auch  der  letztere 
Aufzeichnungen  hinterlassen  (vgl.  Francesco  Crispi,  Questioni  Internazionali  ed. 
T.  Palamenghi-Crispi,  p.  8  s.),  die  indessen  nicht  überall  mit  der  Erzählung  Ca- 
privis  übereinstimmen.    Vgl.  Nr.  1395. 

**  Gemeint  ist  das  Geheimabl<ommen  vom  4.  Mai  1887,  durch  das  Spanien  sich 
verpflichtete,  in  bezug  auf  die  nordafrikanischen  Gebiete  keinerlei  Abkommen 
mit  Frankreich  einzugehen,  qui  serait  directement  ou  indirectement  dirige  contra 
ritalie,  l'Allemagne  et  l'Autriche,  und  überhaupt  im  Einvernehmen  mit  Italien  den 
Status  quo  im  Mittelmeer  aufrechtzuerhalten.  Siehe  den  Text  des  Abkommens  bei 
Pribram,  Die  politischen  Geheimverträge  Österreich-Ungarns  1879—1914  Bd.  I, 
S.  48  f. 

53 


Wichtigkeit;  er  habe  den  dringenden  Wunsch,  das  Band  mit  Spanien 
fester  zu  gestalten,  weil  Spanien  im  Fall  eines  Krieges  mit  Frankreich 
einen  immerhin  nicht  unerheblichen  Teil  der  französischen  Streitkräfte 
an  den  Pyrenäen  binden  könne.  Auch  du  cote  de  I'Afrique  könne  ihm 
eine  spanische  Bundesgenossenschaft  von  Wert  sein.  Auf  meine  Ent- 
gegnung, daß  dazu  die  Sicherheit,  auf  England  zählen  zu  können,  die 
erste  Voraussetzung  sei,  entgegnete  er,  daß  diese  Voraussetzung  vor- 
liege, er  sei  Englands  ganz  sicher.  Ich  bemerkte  ferner,  daß  mir,  wenn 
er  —  wie  er  angab  —  einen  Einfluß  auf  das  Kabinett  des  Herzogs 
von  Tetuan*  habe,  vor  allem  eine  Hinwirkung  auf  die  Verbesserung 
der  spanischen  Marine  im  Interesse  Italiens  zu  liegen  scheine.  Herr 
Crispi  erwiderte,  das  sei  auch  seine  Meinung,  die  er  Spanien  bereits 
ausgesprochen  habe. 

Er  wünschte  unsere  Mitwirkung,  um  Spanien  der  Tripleallianz 
näher  zu  bringen.  Ich  habe  ihm  gesagt,  que  je  faisais  de  mon  mieux 
pour  appuyer  ses  intentions**. 

2.  Herr  Crispi  fand,  daß  die  Pläne  Frankreichs  in  bezug  auf  den 
Maximaltarif  in  erster  Linie  gegen  Italien  gerichtet  seien***,  eine  An- 
sicht, in  der  ich  ihn  im  Hinblick  auf  den  Schutz,  den  uns  die  Meist- 
begünstigungsklausel gibt,  bestärkte.  Er  sieht  es  als  eine  Lebensfrage 
der  Tripleallianz  an,  daß  es  uns  gelinge,  eine  ligue  commerciale 
zwischen  Italien,  Österreich  und  uns  zu  gründen,  eine  Art  inneren 
Markt,  der  diese  drei  Reiche  unabhängiger  von  der  Außenwelt  mache. 
Er  äußerte  sich  in  einem  erstaunlich  monarchischen  Sinne,  schrieb  sich 
das  Verdienst  zu,  wenn  in  Portugal  die  Monarchie  durch  schonendes 
Auftreten  Englands  gerettet  wurde,  und  stellte  ein  gemeinsames  Vor- 
gehen in  Handelssachen  als  die  Entwickelung  einer  ligue  monarchique 
aus  der  ligue  commerciale  dar.  Ich  habe  ihm  gesagt,  es  freue  mich 
im  höchsten  Grade,  diese  Ansichten  bei  ihm  zu  finden,  ich  harmoni- 
sierte vollkommen  damit.  Auch  Graf  Kälnoky  halte  einen  Anschluß  auf 
dem  Boden  des  Handels  für  sehr  wünschenswert,  und  wir  würden  zu- 
nächst mit  Österreich  und  dann  mit  Italien  die  Verständigung  in  Handels- 
und Tariffragen  suchen. 

3.  Herr  Crispi  sagte,  er  sei  überzeugt,  daß  der  Kaiser  von  Ruß- 
land den  Frieden  wollte,  es  seien  aber  trotzdem  Überraschungen  von 
dieser  Seite  nicht  ausgeschlossen.  Er  halte  Bulgarien  für  das  zurzeit 
best  regierte  der  Balkanländer,  besser  wie  Rumänien.  Am  übelsten 
stehe  es  um  Serbien.  Man  müsse  auf  seiner  Hut  sein;  er  wisse,  daß 
Frankreich  seine  Festungen  approvisionniere. 


*  Spanischer  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  Canovas  del  Castillo. 

**  Bei  der  Erneuerung  des  spanisch-italienischen  Abkommens  vom  4.  Mai  1887,  die 

am  4.  Mai  1891   stattfand  (siehe  Pribram  a.a.O.,  S.  61  ff.),  trat  auch  Deutschland 

demselben  mittels  Note  vom  4.  Mai  bei. 

***  Vgl.  dazu:  Die  Memoiren  Francesco  Crispis,  herausgegeben  von  T.  Palamenghi- 

Crispi.    Deutsch  von  W.  Wichmann,  S.  442  f. 

54 


In  bezug  auf  unseren  Vertrag,  der  nur  beiläufig  berührt  wurde, 
sagte  Herr  Crispi,  er  müsse  erneuert  werden,  ob  im  einzelnen  Ver- 
besserungen daran  auszuführen  seien,  könne  noch  offen  bleiben. 

V.  Caprivi 


Nr.  1395 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

[Berlin],  den  10.  November  1890 
Ein  zweites  längeres,  sowie  die  kürzeren  gelegentlichen  Gespräche 
mit  Herrn  Crispi  ergaben  wenig.  Herr  Crispi  kam  auf  die  ligue  com- 
merciale  et  douaniere  zurück,  die  sich  in  eine  lutte  commerciale  ver- 
wandeln könne.  Er  schien  von  dem  Gedanken,  Frankreich  auf  dem 
Boden  der  Zölle  durch  die  Tripleallianz  zu  befehden,  sehr  eingenommen. 
Er  schalt  auf  den  Mangel  an  Wahrhaftigkeit  in  der  französischen  Diplo- 
matie. Er  versicherte,  nichts  sehnlicher  zu  wünschen  wie  die  Erhaltung 
des  Friedens;  er  brauche  noch  7—8  Jahre,  um  die  ihm  vorschwebenden 
Aufgaben  im  Inneren  Italiens  zu  erfüllen;  er  bedürfe  dazu  des  Friedens. 
Seiner  bevorstehenden  Wahlen  glaubte  er  ganz  sicher  zu  sein,  obschon 
ihm  Frankreich  die  Sache  so  sehr  als  möglich  erschwere.  Frankreich 
unterhielte  drei  Botschafter  in  Italien:  einen  beim  Quirinal,  einen  beim 
Vatikan  und  den  dritten  bei  der  italienischen  Presse;  letzterer  werde 
Frankreich  am  kostspieligsten.  Die  Tripleallianz  lebe  sich  trotzdem 
immer  mehr  in  das  Bewußtsein  der  Italiener  ein;  auch  Österreich  gegen- 
über werde  die  Stimmung  immer  besser. 

Ich  brachte  die  Rede  nochmal  auf  England,  um  zu  sagen,  mir 
schiene  für  alles,  was  Italien  am  Mittelmeer  interessiere,  die  englische 
Freundschaft  unumgänglich  Vorbedingung.  Er  meinte,  er  sei  Englands 
völlig  sicher,  auch 'über  das  Dasein  Lord  Salisburys  hinaus.  Ich  sagte 
weiter:  auch  wenn  dem  so  wäre,  würde  ich  an  Herrn  Crispis  Stelle 
das  Äußerste  versuchen,  um  die  italienische  Marine  zu  heben,  selbst 
auf  Kosten  der  Armee,  wenn  es  nicht  anders  ginge.  Er  entgegnete, 
für  die  Armee  müsse  insofern  noch  etwas  geschehen,  als  sie  nur  für 
1400  000  Mann  Handwaffen  habe,  er  brauche  aber  für  2  000  000  Mann. 
In  bezug  auf  die  Flotte  gab  er  zu,  daß  von  der  österreichischen  für 
Italien  nicht  viel  abfallen  würde,  deshalb  müsse  die  spanische  gehoben 
werden.  Meines  Erachtens  überschätzte  er  seine  eigene  Flotte  erheb- 
lich; doch  erkannte  er  an,  daß  eine  Flotte  sich  nicht  improvisieren 
läßt  und  die  Heranbildung  des  Personals  zeitraubend  sei. 

Ich  fing  dann  von  Biserta*  an  und  sagte,  mir  schiene,  wenn  sich 


*  Vgl.   darüber:   Die  Memoiren   Francesco  Crispis  a.a.O.,  S.  4S3f, 

53 


jemand  über  diesen  Hafen  zu  beunruhigen  Grund  hätte,  so  seien  es 
zuerst  die  Engländer.  Er  i<am  wieder  damit,  daß  von  dort  eine  Lan- 
dung in  Sizilien  sehr  leicht  sei.  Auf  meine  Bemerkung,  daß  dazu  doch 
erst  französische  Truppen  und  Schiffe  von  wo  anders  her  nach  Biserta 
geschafft  werden  müßteft,  meinte  er,  man  könne  ja  das  französische 
Armeekorps  aus  Algier  nach  Biserta  bringen  und  da  einschiffen.  Ich 
entgegnete,  diese  Konzentration  in  Biserta  würde  langwierig  sein, 
außerdem  aber  gehörten  dazu  auch  zahlreiche  Transportschiffe,  Bei- 
schiffe von  Kriegsschiffen,  die  dann  doch  auch  erst  von  Toulon  kommen 
müßten,  vielleicht  post  festum,  und  sagte:  er  und  Garibaldi  würden 
doch,  um  bei  Marsala  zu  landen,  niemals  zuvor  einen  Abstecher  nach 
Biserta  gemacht  haben.  Darauf  antwortete  er  nicht,  fragte  mich  aber 
später,  ob  unser  Generalstab  Arbeiten  über  Biserta  hätte.  Ich  sagte, 
unser  Generalstab  bearbeite  alle  auftauchenden  Fragen;  mehr  Material 
über  Biserta  würden  aber  die  Engländer  haben. 

Im  ganzen  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  es  ihm  darauf  ankam,  sich 
durch  meine  Anwesenheit  Relief  zu  geben.  Die  gescheiterte  Demon- 
stration Cavalotti*  hatte  seine  Lage  ohnehin  sehr  verbessert. 

Seine  Majestät  Umberto  hatte  ein  langes  Gespräch  mit  mir,  das 
aber  wenig  Bemerkenswertes  bot;  er  kannte  die  3  Punkte,  über  die 
Herr  Crispi  am  ersten  Tage  mit  mir  gesprochen  hatte,  und  lobte  die 
guten  Dienste  seines  Premierministers  sehr  warm,  schalt  dagegen 
ganereil  auf  die  Advokaten,  deren  Überzahl  im  italienischen  Parlament 
schädlich  sei.  Der  König  wiederholte  mehrfach,  wie  sehr  er  unser 
Bündnis  schätze,  und  daß  wir  dabei  mehr  die  Gebenden,  Italien  die 
Empfangenden  seien. 

V.  C  a  p  r  1 V  i 

Nr.  1396 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  304  Rom,  den  20.  November  1890 

Geheim 

Unmittelbar  nach  seiner  Rückkehr  von  Mailand  hat  Herr  Crispi 
dem  österreichischen  Botschafter  Mitteilung  von  seinen  Unterredungen 
mit  Euerer  Exzellenz  gemacht  und  seiner  großen  Befriedigung  über  die 
Begegnung  mit  Hochdenselben  Ausdruck  gegeben. 

Beim  letzten  diplomatischen  Empfange  bat  Herr  Crispi  den  Baron 
Brück,  dem  Grafen  Kälnoky  zu  melden,  daß  er  mit  vollster  Entschieden- 

*  Der  Führer  der  dreibundfeindlichen  italienischen  Radikalen  hatte  geplant,  wäh- 
rend der  Anwesenheit  des  Reichskanzlers  von  Caprivi  in  Mailand  ein  Bankett  als 
Demonstration  gegen  den  Dreibund  abzuhalten. 

56 


heit  an  der  Tripleallianz  und  an  der  ferneren  Fortdauer  derselben  fest- 
halte, daß  er  aber  dabei  den  dringenden  Wunsch  hege,  das  Band 
zwischen  Italien  und  Österreich  noch  fester  zu  knüpfen  als  bisher  una 
den  italienisch-österreichischen  Vertrag  dahin  zu  vervollständigen,  daß 
er  dem  zwischen  Italien  und  Deutschland  bestehenden  gleichkomme. 
Wenn  drei  Mächte,  hat  Herr  Crispi  ergänzend  hinzugefügt,  unter- 
einander im  Vertragsverhältnisse  stehen,  sei  es  nicht  gut,  daß  die 
Allianzbedingungen  unter  den  betreffenden  Mächten  verschiedene  seien. 

Baron  Brück  ist  der  Überzeugung,  daß  Herr  Crispi  bei  dem  Be- 
streben, sich  näher  an  Österreich  anzuschließen,  von  dem  übrigens 
lang  gehegten  Wunsche  geleitet  ist,  sich  das  sofortige  aktive  Eingreifen 
der  österreichischen  Flotte  zu  sichern,  im  Falle  es  im  Mittelmeere,  z.  B. 
wegen  Tunis  zu  einem  Kriege  zwischen  Italien  und  Frankreich  kommen 
sollte,  nachdem  Österreich  bis  jetzt  hierzu  vertragsmäßig  nicht  ver- 
pflichtet ist. 

Herr  Crispi  hat  dann  weiter  hervorgehoben,  die  Aufgabe  der  Triple- 
allianz werde  es  sein  müssen,  dem  monarchischen  Prinzip  in  Europa 
eine  Stütze  zu  sein  und  dasselbe  tunlichst  zu  befestigen.  Gegenüber  der 
maßlosen  Agitation  des  republikanischen  Frankreichs  treten  Portugal  in 
erster  und  Spanien  in  zweiter  Linie  als  besonders  bedroht  hervor;  es 
sei  daher  richtig,  diese  beiden  Länder  an  die  Tripleallianz  heran- 
zuziehen. Endlich  hat  Herr  Crispi  den  Wunsch  zu  erkennen  gegeben, 
durch  gegenseitige  Konzessionen  auf  dem  Gebiete  der  Handelspolitik 
zwischen  Italien  und  Österreich  ein  neues  Band  zu  knüpfen. 

Baron  Brück  hat  über  seine  Unterredung  sofort  nach  Wien  be- 
richtet, pp. 

Graf  Solms 


Nr.  13Q7 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  338  Wien,  den  30.  November  1890 

Gelegentlich  meines  heutigen  Besuches  beim  Grafen  Kälnoky  kam 
derselbe  auf  die  Zusammenkunft  zu  sprechen,  die  Euere  Exzellenz  un- 
längst mit  Herrn  Crispi  in  Mailand  gehabt  haben. 

Er  habe  Berichte  des  k.  u.  k.  Botschafters  in  Rom  über  die  Mit- 
teilungen erhalten,  die  der  italienische  Ministerpräsident  letzterem  über 
die  in  Mailand  stattgehabten  Besprechungen  gemacht  hat.  Diese  Be- 
richte habe  er,  Graf  Kälnoky,  an  den  Grafen  Szechenyi  geschickt,  die- 
selben Euerer  Exzellenz  vorzulegen,  um  die  Bitte  auszusprechen, 
Hochdieselben  möchten  entscheiden,  ob  die  Crispischen   Erzählungen 

57 


nicht  vielleicht  doch  ein  wenig  ausgeschmückt  worden  seien.  Ihm,  dem 
Grafen,  wolle  es  so  vorkommen,  als  wenn  Herr  Crispi  aus  den  rein 
akademischen  Gesprächen  mit  Euerer  Exzellenz  gewisse  Konsequenzen 
gezogen  hätte,  die  wohl  nicht  geschäftlich  daraus  zu  ziehen  waren. 
Die  Berichte  des  Herrn  von  Brück  deckten  sich  nicht  ganz  mit  dem, 
was  Euere  Exzellenz  dem  Grafen  Szechenyi  über  die  Besprechungen 
mit  Herrn  Crispi  zu  sagen  die  Gefälligkeit  gehabt  hätten*. 

Ich  habe  infolge  der  mir  durch  Euere  Exzellenz  erteilten  münd- 
lichen Erlaubnis  dem  Minister  dasjenige  über  den  Mailänder  Besuch 
erzählt,  was  Hochdieselben  die  Güte  gehabt  haben,  mir  darüber  zu 
erzählen.  Hieraus  ging  nun  allerdings  nicht  hervor,  daß,  wenn  auch 
Herr  Crispi  seiner  Hoffnung  Ausdruck  gegeben  hat,  den  Dreibund  er- 
neuert zu  sehen,  doch  schon  von  bestimmten  Punkten,  die  etwa  in  den 
Verträgen  abgeändert  werden  könnten,  die  Rede  gewesen  ist. 

Der  Minister  hatte  die  fraglichen  römischen  Berichte  nicht  zur 
Hand,  hat  mir  aber  versprochen,  mir  dieselben  ein  anderes  Mal  zu 
zeigen.  Euere  Exzellenz  werden  aber  wohl  nunmehr  Einsicht  in  die- 
selben genommen  haben  und  Entscheidung  darüber  treffen,  ob  ich 
zur  Aufklärung  ermächtigt  werden  soll. 

Graf  Nigra  ist  wieder  krank,  ich  habe  ihn  daher  nicht  sprechen 
und  konstatieren  können,  welche  Mitteilungen  er  etwa  direkt  durch 
seinen  Chef  über  die  Mailänder  Unterredungen  erhalten  haben  dürfte. 

H.VII.  P.  Reuß 


Nr.  1398 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  347  Wien,  den  11.  Dezember  1890 

Geheim 

Euerer  Exzellenz  sage  ich  meinen  verbindlichsten  Dank  für  die  mir 
mittelst  hohen  Erlasses  Nr.  538  vom  4.  d.  Mts.  mitgeteilten  Aufzeich- 
nungen über  die  Unterredungen  mit  Herrn  Crispi**. 

Da  ich  während  einiger  Tage  unwohl  war,  so  habe  ich  den  Grafen 
Kälnoky  nicht  sehen  können.   Derselbe  besuchte  mich  nun  gestern  nach- 


*  Vgl.  dazu  Pribram,  Die  politischen  Geheimverträge  Österreich-Ungarns  Bd.  I, 
S.  217,  nebst  Anm.  183.  Danach  hätte  Caprivi  mit  voller  Bestimmtheit  erklärt: 
„Daß  die  bestehenden  Allianzverträge  noch  vor  dem  Ablaufe  erneuert  werden 
sollten,  das  habe  Herr  Crispi  mit  keiner  Silbe  erwähnt."  Nach  dem  Grafen 
Szechenyi  hätte  sich  Caprivi  auch  entschieden  gegen  eine  vorzeitige  Erneuerung 
des  Vertrages  geäußert. 
*♦  Siehe  Nr.  1394  und  1395. 

58 


mittag,  und  fand  ich  im  Laufe  unseres  Gespräches  eine  sehr  nützliche 
Gelegenheit,  den  Inhalt  jener  Aufzeichnungen  zu  verwerten. 

Der  Minister  kam  nämlich  gerade  vom  italienischen  Botschafter, 
welcher  ihm  einen  eigenhändigen  Brief  des  Herrn  Crispi*  vorgelesen 
hatte.  In  diesem  Schreiben  macht  der  italienische  Ministerpräsident  ganz 
in  derselben  Weise,  wie  er  dies  dem  österreichischen  Botschafter  gegen- 
über getan  hat,  Mitteilung  von  der  Unterredung  mit  Euerer  Exzellenz, 
Diese  Mitteilung  deckt  sich  im  allgemeinen  mit  Euerer  Exzellenz  Auf- 
zeichnungen, weicht  aber  in  einem,  und  zwar  im  wichtigsten  Punkt 
ganz  bedeutend  von  denselben  ab,  und  zwar  mit  Bezug  auf  die  Mai- 
länder Besprechungen  über  unseren  Vertrag. 

Ich  war  nun  in  der  glücklichen  Lage,  aus  Euerer  Exzellenz  Auf- 
zeichnungen den  Minister  aufzuklären.  Er  war  sehr  dankbar  hierfür 
und  äußerte,  er  fände  in  meinen  heutigen  Mitteilungen  vollkommene 
Übereinstimmung  mit  dem,  was  ich  ihm  schon  früher  darüber  gesagt, 
und  mit  den  Eröffnungen,  die  Euere  Exzellenz  dem  Grafen  Szechenyi 
seinerzeit  gemacht  haben. 

Was  nun  den  Brief  Herrn  Crispis  betrifft,  so  habe  dieser  Staats- 
mann seiner  Phantasie  freien  Lauf  gelassen.  Seine  Ideen  über  eine 
ligue  commerciale  zwischen  Deutschland,  Italien  und  Österreich  ent- 
behrten aller  sachlichen  Grundlage,  wenn  es  auch  gewiß  sehr  wünschens- 
wert wäre,  daß  auch  Italien  in  den  jetzt  hoffentlich  zwischen  uns  zu 
erneuernden  Rahmen  eines  Vertragsverhältnisses  mit  hineingezogen 
würde. 

In  sehr  monarchischem  Sinne  und  durchaus  vertragstreu  äußere 
sich  Herr  Crispi  in  seinem  Briefe;  infolgedessen  beabsichtige  Graf 
Kälnoky  nach  dem  Beispiel  Euerer  Exzellenz  ihm  hierüber  seine  hohe 
Befriedigung  auszusprechen. 

Was  aber  die  Äußerungen  des  italienischen  Staatsmannes  über  die 
Erneuerung  unseres  geheimen  Vertrags  betreffe,  so  müßten  dieselben, 
um  ihn  nicht  zu  verletzen,  mit  größter  Vorsicht  behandelt  werden. 
Der  Brief  des  Herrn  Crispi  mache  nämlich  den  Eindruck,  als  wenn  er 
über  die  Abänderung  des  Vertrages  mit  Euerer  Exzellenz  schon  ganz 
einig  geworden  und  es  nur  noch  der  Zustimmung  des  Grafen  Käl- 
noky bedürfte,  um  die  Sache  perfekt  zu  machen.  Aus  unseren  Mit- 
teilungen ging  nun  hervor,  daß  die  Phantasie  des  Herrn  Crispi  ihm 
hier  einen  Streich  gespielt  habe.  Er,  Graf  Kälnoky,  zögerte  keinen 
Augenblick,  mir  zu  erklären,  daß  er  die  Verlängerung  unseres  Vertrages 
zu  Dreien  wolle.  Ob  aber  durch  Veränderung  desselben  Verbesserungen 
gemacht  werden  würden,  darüber  sei  er  sich  noch  nicht  klar.  Der  Ver- 
trag, so  wie  er  ist,  habe  sich  bewährt,  und  er,  Graf  Kälnoky,  verlange 
gar  keine  Abänderungen  daran. 


*  Siehe  den  vom  4.  Dezember  datierten   Brief  Crispis  an  den  Grafen  Nigra  bei: 
Francesco  Crispi,  Questioni  Internazionali  p.  12  s. 

59 


Er  habe  nun  in  seiner  Besprechung  mit  Graf  Nigra,  der  übrigens 
sehr  verständig  sei  und  die  Fortdauer  des  Vertragsverhältnisses  in 
loyaler  Weise  anstrebe,  die  Sache  so  zu  drehen  versucht,  daß  er  den 
Italienern  Argumente  gegen  ihre  eigenen  Vorschläge  an  die  Hand  ge- 
geben habe,  welche  der  Botschafter  als  seine  Ansichten  Herrn  Crispi 
gegenüber  verwerten  wolle.  Es  handele  sich  hier  erstens  um  den  ita- 
lienischen Wunsch  einer  Unifizierung  des  Vertrages.  Hier  hat  Graf 
Kälnoky  geltend  gemacht,  daß  wir  bei  Anfang  unserer  Verhandlungen* 
alle  drei  denselben  Wunsch  gehabt  hätten.  Im  Laufe  derselben  habe 
sich  aber  ergeben,  daß  die  verschiedenen  Interessen  nicht  in  einem 
unifizierten  Vertrag  unterzubringen  waren.  Ebenso  wie  Deutschland 
keine  Lust  bezeigte,  sich  auf  Bestimmungen  einzulassen,  welche  sich 
auf  den  Orient  bezogen,  ebensowenig  fand  Österreich  ein  Interesse 
daran,  sich  für  das  westliche  Becken  des  Mittelländischen  Meeres  zu 
engagieren.  Bei  neuen  Verhandlungen  würde  man  daher  wieder  zu 
dem   Resultat  kommen,   daß   eine   Unifizierung  nicht  praktisch   wäre. 

Zweitens  handelt  es  sich  um  die  Abänderung  des  Vertrags;  wolle 
Italien  beispielsweise  von  Österreich  noch  größere  Leistungen  ver- 
langen, als  wie  dieses  ihm  im  alten  Vertrag  zugesagt  habe,  so  müsse 
sich  Italien  noch  vorher  überlegen,  ob  es  ein  Äquivalent  dafür  Öster- 
reich bieten  könne.  Im  alten  Vertrage  seien  die  Gegenleistungen  Italiens 
für  die  ihm  gemachten  Zugeständnisse  sehr  gering  gewesen,  und  im 
Lauf  der  Jahre  habe  man  sich  davon  überzeugt,  daß  die  italienische 
Regierung  im  Ernstfall  in  die  größte  Verlegenheit  geraten  wäre,  wenn 
sie  ihre  hochtönenden  mündlichen  Versprechungen  hätte  einlösen  sollen. 

Von  dem  Zuzug  der  in  loyalster  Weise  versprochenen  Armeekorps** 
würde  weder  Österreich  noch  Deutschland  viel  gesehen  haben.  Trete 
der  Fall  ein,  daß  Österreich  und  Deutschland  in  einen  Krieg  mit  Ruß- 
land verwickelt  würden,  so  würden  diese  beiden  Reiche  auch  gegen 
Frankreich  sich  schlagen  müssen,  und  in  einem  solchen  Falle  würde 
Österreich  nicht  einmal  auf  die  italienische  Flotte  rechnen  können,  die, 
wenn  sie  sich  selbst  überlassen  bliebe  und  nicht  durch  eine  andere 
Seemacht  verstärkt  würde,  alle  Mühe  haben  würde,  sich  vor  Frank- 
reichs Flotten  zu  retten.  Die  österreichische  Marine  wäre  nicht  stark 
genug,  um  mit  Italien  vereint  Frankreich  zur  See  anzugreifen. 

Wenn  nun  auch  Herr  Crispi  seine  Verbesserungsvorschläge  noch 
nicht  bestimmt  formuliert  hat,  so  wird  er  dies  wohl  tun  müssen,  weil 
er  der  einzige  zu  sein  scheint,  der  solche  Verbesserungen  haben  will. 
Es  sei  daher  nützlich,  daß  ihm  die  vorstehenden  Einwendungen  recht- 
zeitig unterbreitet  würden,  und  hat  sich,  wie  gesagt,  Graf  Nigra  gern 
bereit  erklärt,  dies  zu  übernehmen.  Graf  Kälnoky  will  daher,  wie  er 
mir  sagte,  seine  vorsichtige  Aktion  in  Rom  durch  den  Grafen  Nigra 

♦  Vgl.  Bd.  IV,  Kap.  XXIV. 
**  Vgl.  Bd.  VI,  Kap.  XU. 

60 


sekundieren  lassen  und  hofft,  daß  der  italienische  Ministerpräsident, 
ohne  eine  Abweisung  seiner  Eröffnungen  hierin  zu  erblicken,  hierdurch 
allmählich  wieder  mehr  auf  den  Boden  der  realen  Verhältnisse  zurück- 
geführt werden  werde. 

H.VII.  P.  Reuß 


Nr.  1399 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  353  Wien,  den  16.  Dezember  18Q0 

Geheim 

Mit  ganz  gehorsamer  Bezugnahme  auf  meinen  geheimen  Bericht 
Nr.  347  vom  11.  d.  Mts.*,  die  eventuelle  Erneuerung  des  Vertrages  zu 
Dreien  mit  Italien  betreffend,  beehre  ich  mich  Euerer  Exzellenz  nach- 
folgendes ganz  gehorsamst  zu  melden. 

Graf  Kälnoky  kam  heut  auf  die  Sache  zurück  und  erzählte  mir, 
er  habe,  immer  mit  der  Sekundierung  durch  Graf  Nigra,  Herrn  Crispi 
eine  Mitteilung  zugehen  lassen.  Unter  besonderer  Hervorhebung  der 
korrekten  monarchischen  und  Vertragstreuen  Gesinnungen,  die  Herr 
Crispi  sowohl  Euerer  Exzellenz  als  wie  auch  ihm  durch  sein  Schreiben 
an  Graf  Nigra  an  den  Tag  gelegt  hat,  ist  der  Minister  in  seinem  an 
Baron  Brück  gerichteten  Brief  demselben  Ideengange  gefolgt,  den 
er  mir  schon  neulich  skizziert  hatte,  um  dem  italienischen  Minister  an- 
schauUch  zu  machen,  daß  seine  Verbesserungsideen  bei  näherer  Über- 
legung auch  für  Itaüen  selbst  ihre  Bedenken  hätten.  Er,  Graf  Käl- 
noky, sei  jeden  Augenblick  zur  Erneuerung  unseres  Vertrages  bereit, 
sähe  aber  keine  Notwendigkeit  hierzu,  da  wir  noch  viel  Zeit  vor  uns 
hätten. 

Sollte  es  Herrn  Crispi  indes  angenehm  sein,  sich  schon  jetzt  aus- 
zusprechen, so  würde  man  seitens  des  Wiener  Kabinetts  sehr  gern 
seinen  konkreten  Vorschlägen   entgegensehen. 

Der  itahenische  Botschafter  hat  dem  Grafen  Kälnoky  heut  ein 
Telegramm  des  Herrn  Crispi  gezeigt,  durch  welches  letzterer  für  die 
entgegenkommende  Mitteilung  in  warmen  Worten  dankt  und  sich  vor- 
behält, auf  die  Sache  zurückzukommen. 

Er  sagte  mir,  Graf  Nigra  habe  den  Eindruck  gehabt,  als  wenn 
sich  der  phantasiereiche  italienische  Staatsmann  nunmehr  beruhigt  hätte, 
und  die  Dinge  geschäftsmäßiger  behandelt  werden  würden. 

H.VII.  P.  Reuß 


•  Siehe  Nr.  1398. 

61 


Nr.  1400 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  17  Wien,  den  21.  Januar  1891 

Geheim 

Als  Graf  Kälnoky  heut  auf  die  italienische  Politik  und  auf  die 
Ideen  zu  sprechen  kam,  welche  Herr  Crispi  vor  einiger  Zeit  über  die 
Erneuerung  unseres  Vertrags  geäußert  hatte,  benutzte  ich  diesen  An- 
laß, um  dasjenige  festzustellen,  was  Graf  Szechenyi  Euerer  Exzellenz 
über  die  Ansichten  seines  Ministers  gesagt  hat,  und  wovon  Hoch- 
dieselben die  Güte  hatten,  mir  vor  einigen  Tagen  zu  sprechen. 

Der  österreichische  Botschafter  scheint,  wie  ich  mir  dies  wohl 
dachte,  die  ihm  erteilten  Aufträge  etwas  zu  absolut  aufgefaßt  zu  haben, 
Graf  Kälnoky  hat  ihm  nur  aufgetragen  zu  sagen,  daß,  wenn  Herr  Crispi 
mit  konkreten  Vorschlägen  für  Erneuerung  des  Vertrages  oder  für 
Abänderungen  desselben  herauskäme,  er  ebensogern  bereit  wäre,  die 
Verträge,  deren  Fortdauer  er  für  die  ganze  europäische  Lage  für  not- 
wendig halte,  sofort  zu  erneuern,  als  damit  zu  warten. 

Der  Minister  setzte  hinzu,  als  er  mir  dies  mitteilte,  er  würdige 
indessen  vollkommen  die  Gründe,  welche  Euerer  Exzellenz  es 
wünschenswert  erscheinen  ließen,  mit  dieser  Erneuerung  zu  warten. 
Wir  hätten  ja  noch  über  ein  Jahr  Zeit,  und  man  könne  nicht  wissen, 
wie  sich  die  afrikanischen  Verhältnisse  bis  dahin  gestalten  würden. 

Wie  ich  seinerzeit  bereits  zu  melden  mich  beehrte,  hat  Graf  Käl- 
noky dem  italienischen  Ministerpräsidenten  unter  den  Fuß  gegeben, 
konkrete  Vorschläge  zu  machen.  Seit  der  Zeit  ist  Herr  Crispi  nicht 
wieder  auf  die  Sache  zurückgekommen,  und  Graf  Kälnoky  wartet  deren 
weitere  Entwicklung  ruhig  ab. 

H.VII.  P.  Reuß 

Nr.  1401 

Der  Österreich -ungarische  Botschafter  in  Rom  Freiherr  von  Brück 
an  den  Österreich-ungarischen  Minister  des  Äußern  Grafen  Kälnoky 

Unsignierte  Abschrift.    Vom  Österreich-ungarischen   Botschafter  in  Berlin  Grafen 
Szechenyi  am  3.  März  mitgeteilt 

Nr.  15B  Rom,  den  16.  Februar  18Q1 

Graf  Nigra  wird  Euerer  Exzellenz  bereits  den  Dank  des  Marchese 
di  Rudini*  über  die  seinem   ersten  Telegramme**  durch   Euere   Ex- 

•  Seit  dem  9.  Februar  Nachfolger  des  am  31.  Januar  gestürzten  Crispi  als  Minister- 
präsident und  Minister  des  Äußern. 
*♦  Vgl.  Pribram  a.  a.  O.,  S.  221,  Anm.  191. 

62 


zellenz  gewordene  freundschaftliche  Aufnahme  übermittelt  haben.  —  Der 
neue  italienische  Minister  des  Äußern  gab  mir  wiederholt  darüber  seine 
Befriedigung  zu  erkennen  und  betonte,  er  werde  die  auswärtige  PoHtik 
Italiens  ganz  in  gleicher  Weise  fortsetzen,  wie  es  seine  Vorgänger  getan 
hätten.  Er  wäre  vor  Crispi  Anhänger  der  Tripelallianz  gewesen,  und  fiele 
es  ihm  umsoweniger  ein,  daran  rütteln  zu  wollen,  als  Italien  seinen  Ver- 
pflichtungen ganz  und  voll  nachkommen  wolle  und  es  keinem  italieni- 
schen Minister  gestattet  werden  könne,  anders  zu  denken  und  anders  zu 
handeln. 

Momentan  wäre  für  Italien  die  empfindlichste  Schwierigkeit  die 
finanzielle  Lage  des  Landes,  und  müsse  er  trachten,  da  helfend  ein- 
zugreifen. Er  werde  Ersparungen  zu  machen  suchen,  um  das  Budget 
ganz  zu  equilibrieren,  müsse  aber  in  dieser  Hinsicht  vor  allem  auf  die 
Haltung  Frankreichs  Rücksicht  nehmen. 

Er  wisse  noch  nicht,  welche  Aufnahme  seinen  friedfertigen  Ten- 
denzen in  Paris  blühen  werde,  wolle  aber  versuchen,  zwischen  beiden 
Nachbarreichen  eine  bessere  Stimmung  eintreten  zu  lassen.  Die  Ge- 
hässigkeiten hätten  sich  in  letzter  Zeit  zwischen  Rom  und  Paris  immer 
mehr  und  mehr  zugespitzt,  und  das  Land  hätte  nur  das  Nachsehen  da- 
von. Könne  man  eine  Änderung  dieser  gespannten  Situation  zu  Wege 
bringen,  so  käme  dies  dem  Handel  und  der  Industrie  des  Landes  ent- 
schieden zugute.  Ich  erwiderte  dem  italienischen  Premier,  daß  wir 
immer  zugunsten  eines  guten  Verhältnisses  zwischen  Frankreich  und 
Italien  das  Wort  geredet,  da  dies  ja  allein  in  den  Rahmen  jener  Friedens- 
politik passe,  die  sich  die  Tripelallianz  als  ihr  schönstes  und  bestes 
Ziel  gesetzt  hätte. 

Marchese  di  Rudini  bemerkte  mir  hierauf,  es  wäre  ihm  dies  be- 
kannt gewesen,  und  wisse  er  auch,  daß  man  sowohl  in  Berlin  als 
auch  in  London  die  gleiche  Ansicht  hege.  Die  französische  Presse,  ja 
selbst  die  französische  Regierung  hätten  aber  einen  solchen  Haß  gegen 
Crispi  genährt,  daß  es  nicht  möglich  wurde,  einen  Ausweg  aus  dieser 
Sackgasse  zu  finden. 

Er  werde,  wie  gesagt,  einen  Versuch  machen,  und  hinge  es  nun 
von  Paris  ab,  wie  und  ob  dieser  gelingen  könne.  Will  man  in  Paris 
die  gebotene  Hand  freundlich  entgegennehmen,  so  könne  eine  De- 
tention eintreten,  nur  müsse  man  aber  in  Frankreich  begreifen  lernen, 
daß  sich  Italien  in  keiner  Weise  aus  der  eingeschlagenen  politischen 
Richtung  hinausdrängen  und,  wenn  auch  vollkommen  bereit,  sich  mit 
dem  nahen  Frankreich  in  ein  freundschaftliches,  dem  allgemeinen  Frie- 
den vorteilhaftes  Verhältnis  einzulassen,  die  Tripelallianz  in  keiner 
Weise  tangieren  lassen  werde. 

Dies  die  erste  kurze  Unterredung,  die  ich  gestern  am  diplomati- 
schen Empfangstage  mit  Marchese  di  Rudini  hatte,  der  mir  übrigens 
bereits  seit  langer  Zeit  bekanni  war,  und  der  in  die  diplomatischen  Ge- 
schäfte einen  entschieden  ruhigen,  überlegten  Ton  hineinbringen  dürfte. 

63 


Nr.  1402 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift,  mit  eigenhändiger  Nachschrift 

Berlin,  den  7.  März  1891 

Der  italienische  Botschafter  hat  mich  heute  nachmittag  aufgesucht 
und  mir  folgende  vertrauliche  Mitteilung  gemacht: 

Marquis  Rudini  habe  ihm  vorgestern  folgendes  telegraphiert:  Der 
italienische  Geschäftsträger  in  Paris  Herr  Reßmann  sei  vor  kurzem  in 
Rom  gewesen,  um  über  die  gegenwärtige  Stimmung  in  Paris  münd- 
lichen Bericht  zu  erstatten;  nach  Paris  zurückgekehrt,  habe  er  eine 
Unterredung  mit  Herrn  Ribot  über  das  Verhältnis  Frankreichs  zu 
Italien  gehabt.  Der  Inhalt  der  Eröffnungen  Herrn  Ribots  sei  gewesen: 
,que  pour  mettre  le  Gouvernement  fran^ais  en  mesure  de  prendre  envers 
ritalie  une  attitude  ouvertement  amicale  le  Gouvernement  Italien  de- 
vrait  par  des  declarations  explicites  eliminer  les  soupgons  qui  planent 
sur  le  but  et  la  portee  de  la  triple  alliance**.  „Ce  que  M.  Ribot  voudrait, 
c'est  une  assurance  positive  sur  le  caractere  strictement  defensif  de 
notre  traite  en  vigueur  et  plus  encore  du  traite  futur,  car  on  presuppose 
ici  qu'on  va  le  renouveler.  Si  tout  au  moins  on  avait  la  certitude  que 
dans  la  triple  alliance  il  n'y  a  pas  une  Situation  plus  menagante  pour 
la  France  que  la  Situation  qui  resulte  du  traite  entre  l'Allemagne  et 
TAutriche,  tous  les  obstacles  tomberont  et  le  Gouvernement  fran^ais 
serait  ä  son  tour  pret  ä  prendre  l'engagement  formel  de  ne  pas  atta- 
quer l'Italie  ni  de  porter  atteinte  au  statu  quo  dans  la  Mediterranee." 

Marquis  Rudini  knüpft  an  diese  Mitteilung  über  die  Unterredung 
zwischen  Herrn  Reßmann  und  Herrn  Ribot  die  Bitte  an  Grafen  Launay, 
ihm  seinen  Rat  über  die  an  Frankreich  zu  richtende  Antwort  sowie 
darüber  zu  erteilen,  ob  es  angesichts  der  neuerdings  wieder  eingetretenen 
Spannung  zwischen  Deutschland  und  Frankreich**  rätlich  erscheine, 
jetzt  schon  der  deutschen  Regierung  Kenntnis  von  den  französischen 
Anerbietungen  zu  geben. 

Graf  Launay  verlas  mir  darauf  das  Antworttelegramm,  welches  er 


*  Die  französischen  Versuche,  hinter  das  Geheimnis  des  Dreibundes  zu  kommen 
und  Italien  womöglich  gelegentlich  der  Verhandlungen  über  Erneuerung  des  Ver- 
trags abzusprengen,  gehen  bis  auf  den  Sommer  1890  zurück.  Vgl.  den  Bericht 
des  italienischen  Geschäftsträgers  in  Paris  Reßmann  vom  21.  August  1890,  mit- 
geteilt in  Crispis  Memoiren,  a.a.O.,  S.  478 ff.  Ausdrücklich  konstatiert  Reßmann: 
„Den  Dreibund  zerstören,  das  ist  das  eifrige,  unaufhörliche  Bestreben  der  franzö- 
sischen Staatsmänner." 

**  Anspielung  auf  die  Vorgänge  anläßlich  des  Aufenthalts  der  Kaiserin  Friedrich 
in  Paris  (18.— 27.  Februar),  die  indessen  von  der  deutschen  Regierung  ganz  igno- 
riert wurden.  Vgl.  Kap.  XLVIII. 

64 


an  Marquis  Rudini  gerichtet  hat.  Der  Botschafter  spricht  in  demselben 
seine  Ansicht  dahin  aus,  daß  es  sich  darum  handle,  den  Aspirationen 
Frankreichs  gegenüber  die  Würde  Italiens  zu  wahren.  Der  Minister- 
präsident könne  auf  die  Vorschläge  Ribots  nichts  anderes  tun,  als 
sich  auf  die  Erklärungen  beziehen,  welche  er  hinsichtlich  des  Charakters 
der  Tripelallianz  in  der  Deputiertenkammer  abgegeben  habe*.  Eine 
Zusicherung  Frankreichs,  Italien  nicht  anzugreifen,  dürfe  Italien  nur 
dann  annehmen,  wenn  damit  die  Zusage  verbunden  werde,  auch  Deutsch- 
land und  Österreich-Ungarn  nicht  anzugreifen.  Die  Eröffnungen  Ribots 
enthielten  den  Versuch,  die  Tripelallianz  zu  sprengen  und  Italien  zum 
Vasallen  der  Französischen  Republik  zu  machen.  Ein  solcher  Versuch 
sei  ohne  weiteres  zurückzuweisen.  —  Die  jüngsten  Pariser  Ereignisse 
hätten  keine  Spannung  zwischen  der  deutschen  und  französischen  Re- 
gierung herbeigeführt,  es  stehe  also  nichts  im  Wege,  die  erstere  von 
der  Sachlage  zu  informieren. 

Marquis  Rudini  beabsichtigte,  folgendes  Telegramm  an  den  italieni- 
schen Botschafter  in  Paris  Grafen  Menabrea  zu  erlassen: 

„Votre  Excellence  a  regu  le  texte  officiel  de  mes  declarations  du 
4  c.  ä  la  Chambre;  elles  me  paraissent  conformes  aux  voeux  que 
M.  Ribot  avait  exprimes  ä  M.  Reßmann.  Dites  au  Ministre  des  Affaires 
Etrangeres  que  j'ai  precisement  voulu  par  ces  declarations  repondre 
ä  ses  avances.  Nous  ne  demandons  ä  notre  tour  rien  ä  la  France. 
C'est  ä  eile  de  prendre  envers  nous  d'apres  les  ouvertures  de  M.  Ribot 
une  attitude  amicale  et  donnant  ä  nos  interets  de  conservation  et  de 
paix  une  securite  complete." 

Marquis  Rudini  beauftragte  den  Grafen  Launay,  der  Kaiserlichen 
Regierung  Kenntnis  von  diesem  Entwurf  zu  geben  und  ihre  Ansicht 
darüber  einzuholen.  Der  Botschafter  soll  dabei  hervorheben,  daß  der 
Wunsch  Rudinis,  die  Beziehungen  mit  Frankreich  zu  verbessern,  in 
keiner  Weise  seinen  festen  Entschluß  abschwäche,  das  Band  der  Tripel- 
allianz nicht  lockern,  noch  viel  weniger  lösen  zu  lassen,  und  daß  seine 
Anschauungen  in  diesen  Beziehungen  trotz  der  Gewißheit,  dadurch 
die  Unterstützung  einer  Partei  (der  radikalen)  zu  verlieren,  feste  und 
unerschütterliche  seien. 


*  Am  14.  Februar  hatte  Rudini  gelegentlich  der  Vorstellung  des  neuen  Mini- 
steriums in  der  Kammer  erklärt:  „Unsere  Politik  wird  schlicht,  freimütig,  ohne 
Hintergedanken  sein,  wie  es  einem  Lande  geziemt,  welches  wirklich  den  Frieden 
will.  Dieser  Gedanke,  dieser  Wunsch,  dieses  Bedürfnis  des  Friedens  hat  jene 
Mächte  zur  Vereinigung  gebracht,  welche  sich  absolute  Sicherheit,  Europa  eine 
dauernde  Ruhe  verschaffen  wollten.  Unsern  Bündnissen  werden  wir  feste  und  zu- 
verlässige Treue  bewahren.  Durch  unsere  Haltung  werden  wir  allen  zeigen,  daß 
wir  keine  Angriffsabsichten  haben.  Und  da  bezüglich  unseres  Verhältnisses  zu 
Frankreich  Zweifel,  Argwohn,  Mißtrauen  erregt  worden  ist,  so  werden  wir  unser 
Bemühen  darauf  richten,  jede  falsche  Meinung  zu  widerlegen."  Ähnliche  Er- 
klärungen gab  Rudini  auch  Anfang  März  in  der  Kammer  ab. 

5    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  65 


Ich  habe  den  Herrn  Botschafter  nach  Emholungf  der  Befehle  des 
Herrn  Reichskanzlers  gebeten,  dem  Marquis  Rudini  zu  sagen,  daß  die 
Kaiserliche  Regierung  mit  dem  Entwürfe  seiner  Antwort  an  die  Re- 
gierung der  französischen  Republik  vollständig  einverstanden  und  dank- 
bar sei  für  die  bekundete  loyale  und  aufrichtige  Gesinnung.  Wir  er- 
achteten das  Vorgehen  Frankreichs  für  einen  Versuch,  nicht  nur  die 
Tripelallianz  zu  sprengen,  sondern  auch  die  franzosenfreundliche  repu- 
blikanische Partei  in  Italien  zu  stärken  und  einen  Keil  zwischen  Italien 
und  England  zu  treiben.  Die  italienisch-englische  Freundschaft  sei 
Frankreich  ein  besonderer  Dorn  im  Auge,  da  sie  für  die  französischen 
Aspirationen  im  Mittelmeer  das  stärkste  Hindernis  bilde.  Frankreichs 
Absicht  sei  erkennbar,  Italien  erst  von  der  Tripelalhanz  abzusprengen, 
dann  von  England  zu  isolieren  und  auf  diese  Weise  von  sich  abhängig 
zu  machen.  Besonders  bemerkenswert  sei,  daß  Frankreich  diese  Ver- 
suche gerade  in  dem  Augenblick  unternehme,  wo  es  durch  das  eng- 
lische Vorgehen  in  der  Frage  der  Inspektion  der  Gerichte  sich  in 
seinen  Interessen  verletzt  fühle  und  im  Begriffe  sei,  die  ägyptische 
Frage  gegenüber  England  wieder  in  Fluß  zu  bringen.  Da  am  die  Unter- 
stützung Deutschlands  nicht  zu  rechnen  sei,  habe,  wie  es  scheine,  Herr 
Ribot  die  Bundesgenossenschaft  Italiens  zu  diesem  Zwecke  in  Aussicht 
genommen.  Da  zwischen  ItaHen  und  England  bezüglich  der  Mittel- 
meerfrage gewisse  geheime  Stipulationen  beständen*,  so  müßte  ich 
anheimstellen,  ob  nicht  von  den  Eröffnungen  Ribots  außer  in  Wien  und 
Berlin  auch  in  London  vertraulich  Mitteilung  gemacht  werden  soll. 
Lord  Salisbury  werde  einen  solchen  Beweis  von  Vertrauen  zu  schätzen 
wissen,  während  es  ihn  umgekehrt  peinlich  berühren  könne,  wenn  er 
auf  indirektem  Wege  von  der  Sachlage  Kenntnis  erhalte.  Man  dürfe 
nicht  außer  acht  lassen,  daß  Frankreich  ein  Interesse  daran  habe, 
Italien  gegenüber  England  zu  kompromittieren,  und  daß  zu  diesem 
Zwecke  die  Verbreitung  von  Nachrichten  über  französisch-itahenische 
Intimitäten  [als]   ein  sehr  dienliches  Mittel  erscheine. 

Graf  Launay  wollte  sofort  in  diesem  Sinne  nach  Rom  telegraphieren. 

Marschall 

Berlin,  den  9.  März  18Q1 

Graf  Launay  hat  mir  heute  mitgeteilt,  daß  Marquis  Rudini  das  be- 
treffende Telegramm  an  den  Grafen  Menabrea  abgesandt  habe  und  die 
Kabinette  von  Wien  und  London  ebenfalls  von  den  Ribotschen  Vor- 
schlägen und  der  itahenischen  Erwiderung  darauf  Kenntnis  erhalten 
würden. 

Marschall 


*  Vgl.  Bd.  IV,  Kap.  XXVIII. 
66 


Nr.  1403 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  London  Grafen  von  Hatzfeldt 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  187  Berlin,  den  9.  März  1891 

Aus  der  beifolgenden  Aufzeichnung*  wollen  Ew.  pp.  ersehen,  daß 
die  französische  Regierung  jetzt  den  Augenblick  für  gekommen  hält, 
um  Italien  vom  Dreibunde  und  namentlich  von  England  zu  trennen. 
Das  Anerbieten,  sich  Italien  gegenüber  —  d.  h.  also  mit  Italien  zu- 
sammen —  auf  Erhaltung  des  Status  quo  im  Mittelmeer  zu  verpflichten, 
geht  noch  unmittelbarer  gegen  die  ägyptische  Politik  Englands  als 
gegen  Deutschland  oder  Österreich,  welche  beide  den  Status  quo  nicht 
bedrohen. 

Aus  dem  Berichte  Nr.  38**  des  Grafen  Münster,  welcher  Ew.  pp. 
mittelst  Erlasses  vom  3.  d.  Mts.  Nr.  162  mitgeteilt  wurde,  haben  Sie 
bereits  entnommen,  mit  welcher  Erregung  Herr  Ribot  die  Möglichkeit, 
daß  England  sich  in  Ägypten  festsetzen  könnte,  ins  Auge  faßt,  sowie 
auch,  daß  derselbe  den  Kaiserlichen  Botschafter  fragte,  „ob  er  In- 
struktionen habe  oder  erwarte"?  Herr  Ribot  hoffte  also  wahrschein- 
lich, daß  auch  Deutschland  geneigt  sein  könnte,  wie  seinerzeit  bei  den 
französisch-chinesischen  Friedenspräliminarien***  in  der  Erwartung 
einer  dadurch  zu  erreichenden  Verbesserung  deutsch-französischer  Be- 
ziehungen Frankreich  wiederum  seine  Unterstützung  zu  leihen. 

Daß  endlich  auch  Rußland,  wenigstens  die  russische  Presse,  den 
jetzigen  ägyptischen  Konflikt  als  eine  Gelegenheit  für  eine  wenigstens 
diplomatische  Aktion  betrachtet,  wollen  Ew.  pp.  aus  dem  gleiclifalls 
beigefügten  Berichte  des  Herrn  von  Schweinitz  ersehen. 

Es  v/ird  sich  empfehlen,  wenn  Ew.  pp.,  sobald  entweder  der  eng- 
lische Minister  oder  der  italienische  Botschafter  Ihnen  mitteilet,  daß 
die  italienische  Eröffnung  in  London  gemacht  worden  ist,  Ihrerseits 
das  neue  Material  bei  Lord  Salisbury  verwerten,  als  weiteren  Beweis 
dafür,  daß  England  seine  Seestreitkräfte  im  Mittelmeer  verstärken  und 
seine  Beziehungen  zu  Italien  pflegen  muß. 

Marschall 


*  Siehe  Nr.  1402. 

**  In  seinem  Berichte  Nr.  38  vom  26.  Februar  hatte  Graf  Münster  dargelegt,  daß 

die  von  den  Engländern  beabsichtigte  Reform  der  ägyptischen  Justizverwaltung, 

zu    deren     Vorbereitung     sie     keinen     Franzosen,     wohl     aber    einen    Italiener 

als  Kommissar  zugezogen  hatten,  in  Frankreich  als  ein  neues  Anzeichen  für  das 

Festsetzen  Englands  in  Ägypten  sehr  verstimmt  habe. 

♦**  Vgl.  Bd.  III,  Kap.  XX. 

5»  67 


Nr.  1404 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  das 

Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  49  Rorn,  den  9.  März  1S91 

Geheim 

Marquis  Rudini  hat  mir  eri<lärt,  er  sei  nicht  nur  geneigt,  sondern 
fest  entschlossen,  den  geheimen  AUianzvertrag  mit  uns  zu  vereinbaren  i. 
Bericht  folgt.  Solms 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  IL: 
1  Gut!    Dann  je  eher  desto  besser 
als  Antwort  nach   Paris. 


Nr.  1405 

Der  Botschafter  in  Wien  Prirz  Heinrich  V!I.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  68  Wien,  den  11.  März  1891 

Geheim 

Graf  Nigra  hat  dem  Grafen  Kälnoky  im  Auftrag  des  Marquis 
Rudini  folgendes  mitgeteilt: 

Herr  Crispi  habe  nunmehr  seinen  Nachfolger  von  dem  Ideen- 
austausch in  Kenntnis  gesetzt,  welcher  zwischen  den  Kabinetten  von 
Berlin,  Wien  und  Rom  über  die  Erneuerung  des  Dreibundes  statt- 
gefunden  habe. 

Marquis  Rudini  sei  ebenso  wie  sein  Vorgänger  ganz  bereit,  den 
Vertrag  zu  erneuern,  weil  er  darin  die  Vorbedingung  der  Erhaltung  des 
Friedens   und   also   auch   das   größte   Interesse   Italiens   erblicke. 

Graf  Kälnoky  hat  hierauf  den  italienischen  Botschafter  gebeten, 
seinen  Chef  mit  den  Ansichten  des  hiesigen  Kabinetts  bekannt  zu 
machen  und  hervorzuheben,  wie  die  Besprechungen  mit  Herrn  Crispi 
nicht  weiter  gediehen  wären  als  bis  zu  der  Aufforderung  von  hier 
aus,   Italien  sollte  mit  konkreten  Vorsch'ägen  herauskommen. 

Graf  Kälnoky  hat  dem  Botschafter  auch  von  dem  Bestreben  einiger 
italienischer  Abgeordneten  gesprochen,  die  Regierung  dazu  zu  be- 
wegen, unseren  geheimen  Vertrag  zu  veröffentlichen,  und  ihn  ersucht, 
den  italienischen  Ministerpräsidenten  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
mit  welcher  Wärme  französischerseits  dieses  Verlangen  aufgefaßt 
worden  sei. 

Er  bemerkte,  der  allgemeine  Eindruck,  den  ihm  das  Verhalten 
Rudinis   bisher   mache,   sei   dahin   zusammenzufassen,   daß,   wenn   der 

68 


neue  Minister  auch  recht  korrekt  in  seinen  bundestreuen  Gesinnungen 
sei  und  sich  so  ausspreche,  er  doch  die  Eigenschaften,  welche  man 
an  Herrn  Crispi  auszusetzen  hatte,  in  zu  geringem  Grade  zu  besitzen 
scheine.  Während  der  frühere  Ministerpräsident  mit  einer  oft  bedenk- 
lichen Empfindlichkeit  jeden  Schritt  Frankreichs  beobachtete  und  einen 
großen  Lärm  darüber  machte,  Marquis  Rudini  eher  geneigt  sei,  gar 
vieles  zu  beschönigen,  was  von   Paris  ausginge. 

Da  ihm  von  Berlin  aus  die  Meldung  zugegangen  sei,  daß  die 
Kaiserliche  Regierung  das  Verhalten  des  Herrn  von  Freycinet  mit 
argwöhnischen  Augen  betrachtete,  so  habe  er  es  für  nützlich  gehalten, 
den  Grafen  Nigra  hierauf  aufmerksam  zu  machen.  Wenn,  wie  es 
schiene,  dieser  ehrgeizige  französische  Minister  danach  strebe,  die  ver- 
ständigen Elemente  wie  Herrn  Carnot,  Ferry  u.  a.  zu  verdrängen  und 
selbst  die  Zügel  der  Regierung  zu  ergreifen,  dann  könne  man  mit 
einiger  Bestimmtheit  dem  Ausbruch  des  Revanchekrieges  gegen 
Deutschland  entgegensehen.  Die  italienische  Regierung  möge  dies 
bedenken  und  nicht  durch  eine  zu  franzosenfreundliche  Haltung  in 
Frankreich  den  Glauben  erwecken,  als  könne  man  Italien  vom  Drei- 
bund loslösen.  Hierdurch  könnten  die  dortigen  Kriegsgelüste  nur  Er- 
mutigung erfahren. 

Graf  Nigra  hat  dies  vollständig  eingesehen  und  die  Sache  sehr 
ernst  genommen. 

H.  VII.  P.  Reuß 

Nr.  1406 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  78  Wien,  den  19.  März  1891 

Geheim 

pp.  Der  Minister*  sprach  die  Ansicht  aus,  daß  es  bei  der  augen- 
scheinlich beginnenden  Rührigkeit  der  französischen  Diplomatie  doch 
für  alle  Fälle  recht  nützlich  sein  würde,  wenn  unsere  geheimen  Ver- 
träge mit  Italien  bald  erneuert  würden.  Marquis  Rudini  zeige  sich 
ja  gewiß  als  loyaler  Bundesgenosse,  aber  seine  parlamentarische  Stel- 
lung sei  keine  feste,  und  deshalb  würde  es  gut  sein,  dies  Geschäft 
nicht  hinauszuschieben. 

Wie  er  mir  schon  neulich  gesagt,  habe  er,  von  diesem  Gedanken 
geleitet,  den  Grafen  Nigra  gebeten,  den  italienischen  Ministerpräsidenten 
über  die  Lage  und  die  hiesigen  Ansichten  aufzuklären.  Dies  habe 
der  Botschafter  auch  getan,  und  er,  Graf  Kälnoky,  erwarte  nunmehr, 
daß  der  Marquis  das  unter  Crispis  Amtsführung  ins  Stocken  geratene 

•  Graf  Kalnoky. 

69 


Gespräch  über  diesen  Gegenstand  wieder  aufnehmen  und  seinerseits 
Vorschläge  machen  werde. 

Der  Minister  zweifelt  nicht  an  Euerer  Exzellenz  Geneigtheit  i, 
ebenso  wie  er  in  die  Verhandlungen  einzutreten  und  den  dreiseitigen 
Vertrag  mit  oder  ohne  Abänderungen  zu  erneuern,  pp. 

H.  VII.  P.  Reuß 

Randbemerkung  von  Caprivis: 

1  Angesichts  der  Möglichkeit   eines  Kabinetts,  das  noch  französischer  wäre,  bin 
ich  auch  für  baldige  Aufnahme  der  Verhandlungen,  v.  C. 


Nr.  1407 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  19.  März  1891 

Der  italienische  Botschafter  gab  mir  bei  dem  heutigen  Empfangstage 
Kenntnis  von  einem  Telegramm  des  Marquis  Rudini  folgenden  Inhalts: 
Graf  Menabrea  habe  Herrn  Ribot  die  Antwort  Italiens  auf  die  jüngsten 
französischen  Eröffnungen*  überbracht  und  dabei  bemerkt,  daß  Frank- 
reich seine  günstigen  Dispositionen  gegen  Italien  am  besten  durch  eine 
Annäherung  auf  handelspolitischem  Gebiete  bekunden  könne.  M.  Ribot 
habe  darauf  erwidert,  daß  er  zu  einer  solchen  Annäherung  gerne  bereit 
sei,  „mais  qu'il  etait  arrete  par  notre  traite  d'alliance,  dont  il  ne 
connaissait  le  texte  et  sur  le  caractere  duquel  de  simples  declarations 
ministerielles  ne  pouvaient  pas  suffisamment  rassurer".  Marquis  Rudini 
bemerkt  dazu,   daß  er  nunmehr  die  Sache  fallen  lassen  werde. 

Graf  Launay  hat  sein  Einverständnis  hiermit  telegraphisch  aus- 
gesprochen und  dabei  bemerkt,  daß  die  neueste  Erklärung  Ribots 
noch  indiskreter  als  die  frühere  und  „une  recidive  avec  des  circon- 
stances  aggravantes"  sei.  Daß  Herr  Ribot  auf  „de  simples  declara- 
tions ministerielles"  kein  Gewicht  lege,  sei  aus  seinen  früheren  Er- 
klärungen bezüglich  Bisertas  bekannt,  in  denen  er  formelle  Erklärungen 
eines  seiner  Vorgänger  (Barthelemy  de  St.  Hilaire)  als  nicht  bindend 
bezeichnet  habe;  Herr  Ribot  sei  also  konsequent  in  dieser  Beziehung. 
Für  Italien  erübrige  nichts,  als  die  Sache  fallen  zu  lassen  und  abzu- 
warten, ob  Frankreich  demnächst  freundlichere  Dispositionen  gegen 
Italien   zeigen  werde. 

Marschall 

*  Vgl.  Nr.  1402. 
70 


Nr.  1408 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Nr.  84  Ausfertigung 

Sehr  vertraulich  Rom,  den  23.  März  1891 

Als  mir  Marquis  Rudini  vor  einigen  Tagen  erzählte,  Herr  Ribof 
lege  seinen  in  der  Kammer  abgegebenen  Erklärungen  keinen  Wert 
bei,  Frankreich  v^erde,  solange  es  den  italienisch-deutschen  Vertrag 
nicht  kenne,  Italien  bezüglich  des  Handels  und  der  Finanzen  keine 
Erleichterung  gewähren,  bemerkte  ich,  daß  zur  Veröffentlichung  eines 
geheimen  Vertrages  doch  schließlich  beide  beteiligten  Mächte  gehörten. 

Der  Minister  entgegnete,  er  denke  auch  nicht  daran,  die  Forde- 
rungen Frankreichs  zu  erfüllen;  er  habe  dies  auch  dem  Herrn  Bonghi* 
wiederholt,  w^elcher  ebenfalls  auf  die  Veröffentlichung  des  Vertrages 
dringe.  Er  habe  es  auch  für  nützlich  gehalteri,  dem  Deputierten 
Imbriani  von  der  Drohung  des  Herrn  Ribot  Mitteilung  zu  machen. 
Selbst  Imbriani,  der  es  erst  nicht  habe  glauben  wollen,  sei  über  diese 
französische   Unverschämtheit   empört   gewesen. 

Beim  gestrigen  Sonntagsempfange  hat  Marquis  Rudini  den  fran- 
zösischen Botschafter**  wegen  der  Äußerung  Ribots  zur  Rede  ge- 
stellt und  ihm  gesagt,  er  sei  durch  dessen  Äußerungen  gegen  Graf 
Menabrea  im  höchsten  Grade  verletzt. 

Wenn  er,  Marquis  Rudini,  in  der  Kammer  politische  Gedanken 
und  Pläne  erörtert  hätte,  so  könnte  man  solchen  Aussprüchen  einen 
größern  oder  geringern  Wert  beilegen,  wenn  er  aber,  wie  dies  ge- 
schehen, über  ein  Faktum  eine  ganz  bestimmte  Erklärung  abgebe,  so 
müsse  er  verlangen,  daß  Herr  Ribot  diese  als  vollwertig  und  wahr  an- 
nehme. Wenn  Herr  Ribot  unter  der  Hand  die  Gewährung  von  Zoll- 
erleichterungen an  Italien  verhindere  oder  durch  einen  Druck  auf  die 
französischen  Finanzkreise  das  Zustandekommen  italienischer  Finanz- 
operationen hintertreibe,  so  sei  dies  zwar  auch  nicht  freundlich,  müßte 
aber  italienischerseits  ertragen  werden;  ein  ganz  anderes  Gesicht  aber 
bekomme  die  Sache,  wenn  der  Minister  dem  italienischen  Vertreter 
diesen  seinen  Entschluß  cruement  ausspreche;  das  sei  eine  Drohung i; 
außerdem  könne  Italien  den  Vertrag  nicht  einseitig  veröffentlichen; 
es  gehörte  dazu  die  Zustimmung  des  andern  Teiles;  er  begriffe  nicht, 
warum  Herr  Ribot  den  Inhalt  des  Vertrages  immer  nur  von  Italien 
zu  erfahren  suche;  er  möchte  sich  doch  einmal  nach  Berlin  oder 
Wien  wenden  und  hören,  was  man  ihm  dort  antworten  würde  2. 

Herr  Billot  hat  versucht,  Herrn  Ribot  zu  entschuldigen.  Er  habe 
sicherlich  nicht  die  Absicht  gehabt,  Italien  zu  verletzen,  auch  sei  er 
wahrscheinlich  vom  Grafen  Menabrea  falsch  verstanden  worden. 


Ruggero  Bonghi,  Abgeordneter  und  Publizist 
Billot. 


71 


Dann  ist  Herr  Ribot*  wieder  auf  die  Frage  zurückgekommen,  ob 
Italien,  wenn  Frankreich  im  Falle  eines  Krieges  Elsaß  und  Lothringen 
zurückerobern  sollte,  Deutschland  Beistand  zu  leisten  verpflichtet  sei. 
Ferner  hat  er  die  neue  Frage  aufgeworfen,  ob  eventuell  für  Italien 
Kompensationen  in  Aussicht  genommen  seien,  zum  Beispiel  in  Tunis. 

Marquis  Rudini  hat  darauf  erwidert:  „Wenn  ich  Ihnen  diese 
Fragen  beantworten  wollte,  so  würde  ich  Ihnen  den  Schlüssel  zu  den 
Verträgen  in  die  Hand  geben;  dazu  habe  ich  aber  gar  keine  Lust 
und  keine  Veranlassung i/*  Graf  Solms 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Gut      2  bravo! 

Nr.  1409 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms -Sonnenwalde  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  63  Rom,  den  5.  April  1891 

Geheim 

Marquis  Rudini  wird  nächster  Tage  Graf  de  Launay  mit  Ein- 
leitung von  Verhandlungen  zur  Verlängerung  des  Allianzvertrages  be- 
auftragen. Nach  Ideenaustausch  mit  Graf  de  Launay  und  Graf  Nigra 
hält  er  einfache  Erneuerung  ohne  Zusatz  für  das  beste  und  baldigen 
Abschluß  für  wünschenswert,  um  etwaigen  Intrigen  durch  fait  accompli 
zuvorzukommen.  Solms 

Nr.  1410 

Der  italienische  Minister  des  Äußern  Marchese  di  Rudini  an  den 
italienischen  Botschafter  in  Berlin  Grafen  de  Launay 

Abschrift  in  Übersetzung,  übergeben  vom  Grafen  de  Launay  am  24.  April 

Confidentielle  Roma,  le  15  Avril  1891 

1.  L'echange  d'idees  confidentiel  que  j'ai  eu  en  ces  derniers  jours, 
par  l'intermediaire  de  Votre  Excellence  et  du  Comte  Nigra,  avec  les 
Cabinets  de  Berlin  et  de  Vienne  a  etabli  que  les  trois  Gouvernements 
sont  d'accord  sur  les  points  suivants: 

qu'il  convient  de  proceder  des  ä  present  au  renouvellement  du 
Traite  du  20  fevrier  1887; 

que  le  renouvellement  ait  lieu,  substantiellement,  sur  la  base  du 
maintien   de  ce  qui  existe  presentement; 

que  Berlin  est  le  siege  plus  approprie  pour  les  nouvelles  nego- 
ciations: 


•  So  im  Original;  verschrieben  für  „Billot". 
72 


La  phase  preliminaire  des  negociations  etant  ainsi  terminee,  il 
Importe  que  celies-ci  prennent  desormais  un  caractere  officiel,  afin 
de  pouvoir  les  amener  rapidement  ä  une  conclusion  favorable.  Ce 
ä  quoi  voulant,  pour  ce  qui  me  concerne,  contribuer  sans  retard,  je 
m'empresse  de  resumer  dans  cette  depeche  les  idees  que  Votre  Ex- 
cellence  voudra  bien  prendre  pour  guide  dans  les  negociations  immi- 
nentes. 

2.  II  faut  avant  tout  que  Votre  Excellence  declare  au  Chancelier 
de  l'Empire  etre  pret  ä  lui  communiquer  les  propositions  qui  semblent 
au  Gouvernement  du  Roi  propres  ä  faciliter  un  renouvellement  con- 
venable  de  ralliance,  Cette  declaration  s'entend  faite  non  seulement 
au  Cabinet  de  Berlin,  mais  egalement  ä  celui  de  Vienne,  que  Son 
Excellence  M.  ie  Chancelier  devrait  avoir  la  courtoisie  de  pressentir 
aussi  pour  notre  compte,  Si  les  deux  Cabinets  consentent,  comme 
nous  en  avons  confiance,  ä  nous  laisser  l'initiative  des  premicres 
propositions,  Votre  Excellence  est  des  ä  present  autorisce  ä  !es  enoncer 
dans  les  termes  que  je  vais  lui  indiquer  dans  cette  depeche. 

3.  Une  premiere  Observation  de  notre  part  porterait  sur  la  struc- 
turc  des  nouvelles  stipulations.  —  En  1887  le  renouvellement  de 
Talliance  a  ete  stipule  moyennant  un  traite  additionnel*  dans 
lequel  l'article  l^""  (suivi  d'un  article  2"^  de  pure  forme)  declare  confirme 
et  maintenu  en  vigueur,  jusqu'au  30  Mai  1892,  le  precedent  traite  du 
20  Mai  1882.  —  A  Toccasion  du  second  renouvellement,  dont  il  s'agit 
maintenant,  il  paraitrait  convenable  de  reproduire  sans  autre  et  textuelle- 
ment  dans  le  nouveau  traite  les  differends  articles  du  traite  de  1882. 
Et  l'affirmation  de  la  continuite  de  Talliance  desormais  decennale, 
pourrait  resulter  du  preambule  du  nouveau  traite,  dans  lequel  il  serait 
dit  que  les  trois  Gouvernements  ont  ete  müs  ä  le  stipuler  par  le  ferme 
propos  de  conserver  ä  leurs  Etats  les  bienfaits  qu'ils  ont  retires  — 
tant  au  point  de  vue  politique  qu'au  point  de  vue  monarchique  et 
social  —  de  l'alliance  contractee  en  1882,  et  renouvelee  une  pre- 
miere fois  dejä  en   1887. 

4.  Une  seconde  et  plus  importante  Observation  de  notre  part  se 
refere  egalement  ä  la  structure  du  nouvel  accord.  —  Lorsque,  a 
l'occasion  des  negociations  de  1887,  on  ajouta  aux  stipulations  origi- 
naires  de  1882  d'autres  stipulations  ä  Tegard  desquelles  les  Cabinets 
de  Vienne  et  de  Berlin  ne  crürent  pas  pouvoir  assumer  une  attitude 
identique,  on  eut  recours  ä  l'expedient  de  conclure  avec  l'Autriche- 
Hongrie  et  l'Allemagne  deux  traites  separes**,  comme  complement 
du  traite  principal  de  renouvellement.  Le  lien  entre  les  trois  traites 
etait,  toutefois,  solennellement  declare  dans  le  proces-verbal  de  signa- 
ture,  les  termes  duquel,  en  verite,  ne  pourraient  etre  plus  explicites 


*  Siehe  den  Text  Bd.  IV,  Nr.  858. 

**  Siehe  den  Text  des  deutsch-italiciiischen  Separatvertrages  Bd.  IV,  Nr.  859;  der 

Text   des   österreichisch-italienischen   Vertrages   bei   Pribram   a.  a.  O.,   S.  44  f. 

73 


et  peremptoires  ä  cet  egard.  —  II  me  semble  que,  au  lieu  de  re- 
courir  ä  un  expedient  semblable,  il  serait  hon  de  reunir  en  un  seul 
et  meme  traite  les  stipulations  des  trois  traites  separes.  Cette  trans- 
formation  des  pactes  actuellement  en  vigueur  me  paraitrait  corre- 
spondre  ä  I'intention,  qui  s'enracine  toujours  plus  profondement  chez 
les  trois  Gouvernements,  de  se  constituer  en  groupe  indissoluble  pour 
la  tuteile  et  la  sauvegarde  des  interets  communs  d'ordre,  d'equilibre 
et  de  paix.  Si,  pour  des  motifs  legitimes,  les  trois  Puissances  n'ont 
pas  toutes  dans  le  groupe  allie  une  position  parfaitement  identique, 
si  certains  liens  et  certaines  obligations  sont  valables  pour  l'une 
d'elles,  tandis  que  l'autre  n'a  pas  pu  ou  voulu  les  accepter,  nous  ne 
croyons  pas  pour  cela  qu'il  faille  renoncer  ä  l'unite  de  l'acte,  car 
on  peut  parfaitement  concevoir  et  admettre  qu'ä  cote  des  stipulations 
communes  figurent  des  stipulations  speciales  ä  la  Charge  de  l'une  ou 
de  I'autre  des  trois  parties  contractantes.  Le  traite  de  1882  lui-meme, 
auquel  se  refere  le  traite  additionnel  de  1887,  nous  fournit  dejä  un 
exemple  de  cette  variete  d'obligations  dans  Tunite  de  Tacte,  ce  dont 
il  est  tres  aise  de  se  convaincre  en  lisant  les  articles  II  et  III  du  premier 
traite,  lesquels  assignent  ä  chacune  des  trois  Puissances  des  devoirs 
et  des  droits  notablement  differents. 

Si  notre  proposition  trouve  un  accueil  favorable  ä  Berlin  et  ä 
Vienne,  on  devrait  intercaler  dans  le  nouveau  traite,  outre  les  articles  V 
et  VI,  les  articles  reproduisant  —  sauf  les  modifications  que  je  vais 
mentionner  —  les  deux  traites  separes  de  1887. 

5.  Le  premier  alinea  de  l'article  I  du  traite  separe  en  vigueur 
entre  l'Italie  et  l'Autriche-Hongrie,  et  l'alinea  unique  de  l'article  I  du 
traite  separe  entre  l'Italie  et  l'Allemagne  sont  reciproquement  identi- 
ques,  sauf  cette  seule  difference  que,  dans  le  traite  avec  l'Allemagne, 
Pobligation  de  s'employer  ä  empecher  quelconque  changement  terri- 
torial nuisible  en  Orient  se  refere  expressement  aux  cötes  et  iles 
ottomanes  de  l'Adriatique  et  de  la  mer  Egee.  En  se  tenant  ä  la  lettre 
du  pacte,  une  semblable  restriction  ne  pourrait  avoir  que  ce  seul  effet: 
d'obliger  en  verite  l'Allemagne  ä  veiller  au  maintien  du  statu  quo 
dans  les  iles  et  sur  les  cötes  ottomanes  de  la  mer  Egee  et  de  l'Adria- 
tique, mais  de  dispenser  l'Allemagne,  pour  ce  qui  concerne  les  cötes 
de  la  Mer  Noire  et  les  regions  interieures  de  la  peninsule  des  Balkans. 
II  est  cependant  permis  de  douter  que  la  repugnance  du  Gouvernement 
Allemand  aille  aussi  loin  pour  tout  ce  qui  peut  Her  son  action  dans 
la  peninsule  balkanique.  S'employer  ä  maintenir  le  statu  quo,  sans 
distinction  entre  zone  et  zone  de  la  peninsule,  ne  devrait  pas  lui 
paraitre  un  engagement  trop  onereux  ou  incompatible  avec  la  liberte 
qu'il  veut  se  reserver  ä  cet  egard,  principalement  en  vue  de  ses  relations 
avec  la  Russie.  Je  croirais  que  l'on  pourrait  demander,  non  sans 
espoir  d'un  accueil  favorable,  que  l'Allemagne  aussi  accepte,  pour  la 
clause  dont  il  s'agit,  la  formule  du  traite  avec  rAutriche.    Et  si  notre 

74 


demande  est  accueillie,  dans  le  traite  unique  viendrait,  immediatement 
apres  l'article  V,  un  article  VI  reproduisant  le  premier  alinea  de 
l'article  I   du   traite  separe   avec  l'Autriche-Hongrie. 

6.  L'article  II  actuel  du  traite  separe  avec  TAllemagne  suivrait 
ensuite,  comme  article  VII.  —  L'Autriche-Hongrie  ne  peut  evidemment 
avoir  de  difficulte  ä  opposer  sa  signature  ä  une  stipulation  semblable, 
qui  correspond  ä  sa  politique,  non  moins  qu'ä  celle  de  ses  deux  allies. 

7.  Le  deuxieme  alinea  actuel  de  l'article  I  du  traite  separe  avec 
l'Autriche-Hongrie  formerait  l'article  VIII,  en  supprimant  seulement 
le  mot  „toutefois*'.  La  teneur,  exprimant  une  obhgation  exclusive- 
ment  bilaterale  entre  l'Italie  et  l'Autriche-Hongrie,  en  serait  purement 
et  simplement  maintenu. 

8.  Les  cotes  nord-africaines  du  bassin  central  et  occidental  de  la 
Mediterranee,  sont  exclusivement  contemplees  dans  le  traite  separe 
entre  l'Italie  et  l'AUemagne,  et  nous  ne  voudrions  pas  demander  que 
l'Autriche-Hongrie  assume  une  position  identique  ä  l'egard  de  ces 
regions,  dans  lesquelles  eile  a  declare  plusieurs  fois  n'avoir  pas  d'interets 
directs.  Cependant,  meme  en  les  considerant  seulement  dans  les 
rapports  mutuels  entre  l'Italie  et  l'AUemagne,  les  pactes  de  1887 
relatifs  ä  ces  regions  ne  nous  paraissent  pas  correspondre  pleinement 
aux  interets  communs,  qui  sont  des  interets  d'equiHbre  et  de  paix, 
L'article  III  du  traite  italo-allemand  separe  envisage,  en  effet,  l'even- 
tualite  extreme  d'une  guerre  provoquee  par  des  invasions  frangaises, 
mais  n'envisage  point  la  possibilite  d'une  action  pacifique  et  diplo- 
matique concordee  entre  les  deux  Cabinets,  II  me  semble  qu'en  se 
modelant  sur  ce  qui  a  ete  sttpule,  pour  l'Empire  Ottoman,  entre  l'Italie 
et  l'Autriche-Hongrie  par  le  traite  separe  du  20  fevrier  1887,  et  entre 
l'Italie,  l'Autriche-Hongrie  et  l'Angleterre  par  I'accord  ä  trois  du 
12/16  decembre  1887,  on  pourrait  convenablement  stipuler  des  pactes 
analogues  entre  l'Italie  et  l'AUemagne  relativement  ä  la  Tripolitaine, 
la  Tunisie  et  le  Maroc.  Le  but  pourrait  etre  atteint  moyennant  un 
article  IX  ainsi  congu: 

„L'Italie  et  l'Allemagne  s'engagent  ä  s'employer  au  maintien  du 
statu  quo  de  fait  et  de  droit  dans  les  regions  nord-africaines  de  la 
Mediterranee:  la  Cyrenaique,  Tripolitaine,  Tunisie  et  le  Maroc.  Les 
representants  des  deux  Puissances  dans  ces  regions  auront  l'instruc- 
tion  de  se  maintenir  dans  la  plus  grande  intimite  de  Communications 
et  d'assistance  reciproque.  Si  le  maintien  du  statu  quo  se  montrait 
malheureusement  impossible,  l'Allemagne  s'engage  ä  appuyer  l'Italie 
dans  I'action  que  celle-ci,  sous  forme  d'occupation  ou  autre  garantie, 
devrait  entreprendre  dans  un  interet  d'equilibre  et  de  compensation 
legitime." 

Q.  Comme  complement  naturel  du  nouveau  pacte,  viendraien^ 
ensuite  un  article  X  et  un  article  XI  reproduisant  les  articles  III  et  IV 
actuel  du   traite  separe   entre  l'Italie   et  l'Allemagne,   avec  les   seuls 

75 


variantes   necessaires   pour   mieux   mettre    en   lumiere   qu'il   s'agit   ici 
d'engagement  pris   exclusivement  tintre  l'Italie  et  l'Allemagne. 

10.  La  Serie  des  pactes  separes  se  trouvant  ainsi  epuisee,  on 
reviendrait  ä  la  reproductions  des  articles  VI,  VII  et  VIII  restants  du 
traite  de  1882,  qui  dans  le  nouveau  traite  porteraient  les  numeros  XII, 
XIII  et  XIV. 

11.  L'articie  XII  (VI)  pourrait,  ä  Texemple  de  ce  qui  a  dejä  ete 
stipule  dans  les  deux  traites  separes  de  1887,  se  borner  ä  etablir 
I'obligation  du  secret  pour  le  seul  contenu  du  traite,  et  non  plus  aussi 
pour  son  existence.  Desormais  I'existence  de  l'Alliance  a  ete  plusieurs 
fois  admise  et  publiquement  declaree  par  les  Ministres  dirigeants  des 
trois  Etats.  A  Tavenir  aussi  il  sera  utile  de  pouvoir  I'affirmer,  et  il 
ne  serait  pas  bienseant  de  faire  une  chose  expressement  defendue  par 
le  traite. 

12.  Enfin,  ä  Tarticle  XIII  (VII),  on  pourrait  stipuler  pour  le 
nouveau  traite  une  duree  de  cinq  ans  apres  l'echeance  de  la  periode 
quinquennale  actuelle;  ou,  mieux  encore,  stipuler  une  duree  de  six 
ans  ä  partir  du  jour  de  la  signature  du  nouveau  traite. 

13.  Pendant  les  negociations  preliminaires  on  a  parle  de  com- 
pleter  les  pactes  politiques  de  l'alliance  moyennant  quelque  stipulation 
d'ordre  economique,  et  Ton  a  reconnu  l'impossibilite  de  contracter 
en  cette  matiere  des  engagements  precis.  II  ne  nous  parait  pas 
cependant  que  Ton  devrait  pour  cela  renoncer  ä  toute  idee  de  ce  genre. 
Pour  ce  qui  nous  concerne  —  et  sous  reserve  de  Tapprobation  parle- 
mentaire  pour  les  stipulations  ulterieures  qui  seraient  le  corollaire 
d'un  consentement  de  principe  —  nous  ne  serions  pas  cloignes  de 
participer  ä  un  accord  moyennant  lequel  les  trois  allies  se  pro- 
mettraient  reciproquement  de  s'accorder  en  matiere  economique  (finance, 
douanes  et  chemins  de  fer),  outre  le  traitement  de  la  nation  plus 
favorisee,  toutes  les  facilitations  particulieres  compatibles  avec  les 
exigences  propres  ä  chaque  Etat  et  avec  les  Conventions  respectives 
avec  les  tierces  Puissances. 

14.  En  vertu  des  accords  de  fevrier  1887  et  du  mois  de  decembre 
suivant*,  l'Angleterre  participe  virtuellement  aux  stipulations  en  vigueur 
entrc  Tltalie  et  TAutriche-Hongrie,  de  par  le  traite  separe  du  20  fevrier 
1887,  relativement  ä  l'Orient  proprement  dit,  c'est  ä  dire  les  terri- 
toires  sous  la  domination  du  Sultan.  II  serait  bon  que  l'Allemagne 
et  l'Italie,  sinon  les  trois  Puissances,  se  promissent  de  s'employer 
en  commun,  sous  la  forme  que  les  circonstances  consentiraient  le 
mieux,  ä  obtenir  l'accession  de  l'Angleterre  aussi  aux  pactes  entre 
l'Italie  et  l'Allemagne  relativement  ä  la  Tripolitaine,  la  Tunisie  et 
le  Maroc,  de  fa^on  ä  ce  que  la  Cooperation  de  l'Angleterre  nous  fut 
assuree,  diplomatiquement  pour  le  maintien  du  statu  quo  en  ces  re- 


*  Vgl.   Bd.  IV,  Kap.  XXVI   und  XXVIII. 
76 


gions,  et  aussi  militairement  pour  les  cas  oü,  d'une  perturbation  du 
statu  quo  par  le  fait  de  la  France,  pourrait  deriver  un  conflit  arme 
entre  celle-ci  et  les  deux  Puissances  alliees. 

15.  Les  deux  pactes  adjonctifs  ci-dessus  mentionnes,  devraient, 
je  pense,  trouver  plus  convenablement  place  dans  un  protocole  separe. 
Pour  notre  compte,  cependant,  nous  n'aurions  pas  de  difficulte  ä  les 
inscrer  dans  le  corps  meme   du  traite. 

16.  Pour  mieux  expliquer  ma  pensee  je  joins  ici  un  projet  de 
traite*   et  de  protocole**   conformes   aux  propositions   qui   precedent. 

17.  Les  presentes  Instructions  passent  par  Vienne,  II  en  reste 
copie  au  Comte  Nigra,  avec  faculte  d'en  donner  connaissance  au  Comte 
Kalnoky.  Je  ferai  de  meme  pour  toute  autre  proposition  ulterieure. 
II  est  toutefois  bien  entendu  que  Ton  veut  concentrer  la  negociation 
ä  Berlin,  et  qu'il  appartient  au  Chancelier  Imperial,  auquel  nos  pro- 
positions sont  presentees  par  vous,  de  nous  repondre,  non  seulement 
pour  son  propre  compte,  mais  aussi  pour  le  compte  du  Cabinet  de  Vienne, 
par  lui  prealablement  consulte.  Cette  methode,  dejä  pratiquee  pour 
les  negociations  de  1882  ä  Vienne,  et  de  1887  ä  Berlin,  a  donne 
d'excellents  resultats:  il  est  bon  de  l'adopter  aussi  pour  les  negociations 
actuelles  ä  Berlin.  Une  double  discussion,  en  deux  endroits  differents, 
sur  le  meme  objet,  serait  evidemment  impossible. 

18.  J'ai  divise  la  presente  depeche  en  autant  de  paragraphes 
numerotes.  De  cette  maniere  les  references  eventuelles  dans  notre 
correspondance   ulterieure,   surtout   telegraphique,   seront   plus   faciles. 

19.  Je  conclus  en  vous  exprimant,  aussi  au  nom  de  Sa  Majeste,  la 
plus  entiere  confiance,  avec  le  ferme  espoir  que  le  concours  eclaire 
et  devoue  de  Votre  Excellence  aura  de  bons  resultats,  pour  le  bien 
du  pays  et  ä  Tavantage  de  la  cause  de  la  paix,  en  laquelle  reside 
I'essence  de  notre  politique. 

(signe)  Rudini 

Anlage 

Projet  de  Traite*** 
Art.  VI.  —  Les  Hautes  Parties  contractantes  n^ayant  en  vue  que 
le  maintien,  autant  que  possible,  du  status  quo  territorial  en  Orient, 
s'engagent  ä  user  de  Leur  influence  pour  prevenir  toute  modification 
territoriale  qui  porterait  dommage  ä  l'une  ou  ä  l'autre  des  Puissances 
signataires   du  present  traite.    Elles   se   communiqueront,   ä  cet   effet, 


*  Vgl.  die  Anlage. 

**  Das  von  Rudini   vorgeschlagene  Schlußprotokoll  ist  wörtlich  gleichlautend  mit 

dem  nachher  wirklich  abgeschlossenen  Protokoll  (siehe  Nr.  1427),  braucht  hier  also 

nicht   aufgenommen  zu   werden. 

***  Artikel  1— V  hier  übergangen,  weil  völlig  gleichlautend  mit  den  Artikeln  I — V 

des  Vertrages  vom  20.  Mai  1882.    Siehe   Bd.  III,  Nr.  571. 

77 


tous  les  renseignements  de  nature  ä  les  eclairer  mutuellement  sur  leurs 
propres   dispositions    ainsi   que   sur   Celles    d'autres    Puissances. 

Art.  VII.  —  Les  stipulations  de  l'article  qui  precede  ne  s'applique- 
ront  d'aucune  maniere  ä  la  question  egyptienne,  au  sujet  de  laquelle 
les  Hautes  Parties  contractantes  conservent  respectivement  leur  liberte 
d'action,  en  egard  toujours  aux  principes  sur  lesquels  repose  le 
present  traite. 

Art.  VIII.  —  Dans  le  cas  oü,  par  suite  des  evenements,  le  maintien 
du  statu  quo  dans  les  regions  des  Balkans,  ou  des  cotes  et  iles 
ottomanes  dans  l'Adriatique  et  dans  la  mer  Egee  deviendrait  im- 
possible,  et  que,  soit  en  consequence  de  l'action  d'une  Puissance 
tierce,  soit  autrement,  l'Italie  ou  rAutriche-Hongrie  se  verraient  dans 
la  necessite  de  le  modifier  par  une  occupation  temporaire  ou  per- 
manente de  Leur  part,  cette  occupation  n'aura  Heu  qu'apres  un  accord 
prealable  entre  les  deux  Puissances,  base  sur  le  principe  d'une  compen- 
sation  reciproque  pour  tout  avantage,  territorial  ou  autre,  que  chacune 
d'Elles  obtiendrait  en  sus  du  statu  quo  actuel,  et  donnant  satis- 
faction  aux  interets  et  aux  pretentions  bien  fondees  des  deux  Parties. 

Art.  IX.  —  L'Italie  et  l'Allemagne  s'engagent  ä  s'employer  pour 
le  maintien  du  statu  quo  de  fait  et  de  droit  dans  les  regions  nord- 
africaines  sur  la  Mediterranee,  ä  savoir  la  Cyrenai'que,  la  Tripolitaine, 
la  Tunisie  et  le  Maroc.  Les  representants  des  deux  Puissances  dans 
ces  regions  auront  pour  Instruction  de  se  tenir  dans  la  plus  etroite 
intimite  de  Communications  et  assistance  mutuelles.  Si  malheureuse- 
ment  le  maintien  du  statu  quo  devenait  impossible,  l'Allemagne 
s'engage  ä  appuyer  l'Italie  en  toute  action,  sous  la  forme  d'occupation 
ou  autre  prise  de  garantie,  que  cette  derniere  devrait  entreprendre 
en  vue  d'un  interet  d'equilibre  et  de  legitime  compensation. 

Art.  X.  —  S'il  arrivait  que  la  France  fit  acte  d'etendre  son  oc- 
cupation, ou  bien  son  protectorat,  ou  sa  souverainete,  sous  une 
forme  quelconque,  sur  les  territoires  nordafricains,  et  qu'en  con- 
sequence de  ce  fait  l'Italie  crüt  devoir,  pour  sauvegarder  sa  position 
dans  la  Mediterranee,  entreprendre  elle-meme  une  action  sur  les  dits 
territoires  nordafricains,  ou  bien  recourir  sur  le  territoire  frangais 
en  Europe  aux  mesures  extremes,  l'etat  de  guerre  qui  s'en  suivrait 
entre  l'Italie  et  la  France  constituerait  ipso  facto  sur  la  demande 
de  l'Italie,  et  ä  la  charge  commune  de  l'Italie  et  de  l'Allemagne  le 
casus  foederis  prevu  par  les  articles  II  et  V  du  present  traite,  comme 
si  pareille  eventualite  y  etait  expressement  visee. 

Art.  XI.  —  Si  les  chances  de  toute  guerre  entreprise  en  commun 
contre  la  France  par  les  deux  Puissances  amenaient  l'Italie  ä  rechercher 
des  garanties  territoriales  ä  l'egard  de  la  France,  pour  la  securite 
des  frontieres  du  Royaume  et  de  sa  position  maritime,  ainsi  qu'en  vue 
de   la   stabiHte   de   la   paix,   l'Allemagne   n'y   mettra   aucun   obstacle, 

78 


et  au  besoin,  et  dans  une  mesure  compatible  avec  les  circonstances, 
s'appliquera  ä  faciliter  les  moyens  d'atteindre  uti  semblable  but. 

Art.  XII.  —  Les  Hautes  Parties  contractantes  se  promettent 
mutuellement  le  secret  sur  le  contenu  du  present  traite. 

Art.  XIII.  —  Le  present  traite  restera  en  vigueur  durant  Tespace 
de  six  ans  ä  partir  de  l'echange  des  ratifications. 

Art.  XIV.  —  Les  ratifications  du  present  traite  seront  echangees 
ä  Berlin,  dans  un  delai  de  quinze  jours,  ou  plus  tot  si  faire  se  peut. 


Nr.  1411 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  114  Wien,  den  21.  April  1891 

Geheim 

Der  italienische  Botschafter  hat  gestern  dem  Grafen  Kälnoky 
Mitteilung  von  den  Vorschlägen  gemacht,  welche  Marquis  Rudini  behufs 
der  Erneuerung  unserer  geheimen  Verträge  mit  Italien  in  diesen  Tagen 
an  den  Grafen  Launay  nach  Berlin  hat  abgehen  lassen. 

Graf  Kälnoky,  der  mir  dies  heute  mitteilte,  sagte  mir,  er  habe 
sich  nicht  auf  eine  Diskussion  der  italienischen  Vorschläge  eingelassen, 
sondern  dem  Grafen  Nigra  gesagt,  da  Berlin  als  Ort  der  Verhand- 
lungen gewählt  worden  sei,  so  wolle  er  der  Kaiserlich  deutschen  Re- 
gierung nicht  vorgreifen,  sondern  die  Meinungsäußerung  Euerer  Ex- 
zellenz abwarten,  bevor  er  der  Sache  näher  treten  werde.  Er  habe, 
so  äußerte  der  Minister,  sich  deshalb  auch  nicht  in  Gegenwart  des 
Botschafters  auf  eine  Vergleichung  des  neuen  Projekts  mit  den  alten 
Verträgen  eingelassen. 

Soviel  er  indessen  aus  der  flüchtigen  Lesung  des  italienischen 
Projekts  habe  ersehen  können,  scheine  man  sich  doch  die  Auffassung 
des  Herrn  Crispi  einigermaßen  angeeignet  zu  haben  und  eine  Unifi- 
zierung der  zwei  Verträge  anzustreben.  Vom  österreichischen  Stand- 
punkt aus  betrachtet,  ließe  sich  dies  auf  den  ersten  Blick  nicht  als 
absolut  unannehmbar  betrachten.  Was  Deutschland  beträfe,  so  dürften 
bei  uns  die  Ansichten  vielleicht  sich  anders  stellen.  Der  Minister  fragte 
mich,  ob  ich  ihn  wohl  darüber  aufklären  könnte. 

Ich  habe  hierauf  mich  in  dem  Sinne  dessen  geäußert,  was  Euere 
Exzellenz   mir  vor  kurzem   in    Berlin   gesagt  haben,   nämlich: 

l.daß   die   Kaiserliche   Regierung  damit   einverstanden  sei,   daß   die 

Verhandlungen   in    Berlin   geführt  würden, 
2»  daß    Euere   Exzellenz   entschieden   wünschten,   daß   die   Sache   so 

rasch  wie  möglich  unter  Dach   gebracht  würde,   und 

79 


3.  daß  es  der  Kaiserlichen  Regierung  geraten  erscheine,  die  alten 
Verträge  so,  wie  sie  sind,  zu  erneuern,  ohne  ein  Wort  daran  zu 
ändern;  denn,  so  hätten  Euere  Exzellenz  argumentiert,  wenn  es 
auch  vielleicht  Punkte  gäbe,  die  besser  zu  ändern  sein  würden, 
so  wisse  man  nicht,  wenn  einmal  an  dem  alten  Werk  gerührt 
würde,  zu  welchen  Weiterungen  dies  führen  könnte. 

Aus  diesen  Gründen,  so  setzte  ich  hinzu,  glaubte  ich  kaum,  daß 
die  italienischen  Abänderungsvorschläge  bei  uns  auf  guten  Boden 
fallen  würden. 

Graf  Kälnoky  erwiderte  mir,  daß  er  ganz  mit  Euerer  Exzellenz 
Ansichten  übereinstimmte,  denn  ihm  käme  es  auch  in  erster  Linie 
darauf  an,  daß  das  Geschäft  rasch  abgeschlossen  würde. 

Nur  einen  Gedanken  erlaube  er  sich  der  Erwägung  Euerer  Ex- 
zellenz anheimzugeben,  den  er  auch  dem  Grafen  Nigra  gegenüber 
ausgesprochen  hätte.  Man  hätte  gesehen,  daß  die  Vertragsfrist  von 
fünf  Jahren  zur  Kenntnis  des  großen  Publikums  gekommen  wäre. 
Allerdings  habe  Herr  Crispi  dieses  Geheimnis  selbst  in  einer  seiner 
Reden  verraten.  Durch  dieses  Bekanntwerden  sei  eine  Erregung  in 
die  Welt  gekommen;  die  Kabinette  und  die  Feinde  des  Dreibundes 
hätten  in  Anbetracht  des  baldigen  Ablaufes  der  Verträge  einerseits 
darauf  spekuliert,  andererseits  versucht,  den  Bund  zu  sprengen  und 
die  Erneuerung  zu  hindern.  Dies  alles  würde,  wie  er  glaube,  ver- 
hindert werden,  wenn  man  die  Formel,  welche  sich  auf  die  Dauer 
der  Verträge  bezieht,  abändere  und  sage:  daß,  wenn  nach  Ablauf 
der  Vertragszeit  die  Verträge  nicht  gekündigt  würden,  dieselben  für 
drei  oder  für  vier  Jahre  weiterliefen. 

Dieser  Ausweg  hätte  auch  folgenden  Vorteil:  Wenn,  was  ja  nicht 
unmöglich  sei,  ein  Feind  des  Dreibundes  die  italienische  Politik  gerade 
zu  dem  Augenblick  leite,  wo  nach  fünf  Jahren  die  Erneuerungsverhand- 
lungen stattfinden  müßten,  so  könne  dieser  hindernd  in  den  Weg 
treten.  Nach  dem  von  ihm  angeregten  Modus  sei  dies  aber  nicht 
leicht  möglich,  denn  die  Verträge  zu  kündigen  sei  viel  schwerer,  als 
dieselben  in  neuen  Verhandlungen  zum  Scheitern  zu  bringen.  Hätte 
man  mit  Rumänien  diesen  Modus  angewendet,  so  würde  man  dort 
den  jetzigen  Schwierigkeiten  nicht  gegenüberstehen. 

Der  Minister  wartet  nun  eine  Mitteilung  von  uns  ab,  wie  die 
italienischen  Vorschläge  aufgenommen  worden  sind.  Je  schneller  die- 
selbe erfolge,  und  je  bestimmter  sie  lauten  wird,  desto  besser  würde 
es  sein, 

Marquis  Rudini  sei  gewiß  vortrefflich,  aber  wielange  er  sich 
werde   halten   können,   sei   nicht   vorauszusehen. 

H.  VII.  P.  Reuß 
80 


Nr.  1412 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  23.  April  1891 

Wenn  die  von  Italien  in  den  Artikeln  VI  und  IX  vorgenommenen 
Veränderungen  am  Bestehenden  den  Zweck  haben,  Deutschland  noch 
mehr  als  bisher  zu  engagieren,  so  ist  das  um  so  ungerechtfertigter, 
als  gleichzeitig  die  italienischen  Streitkräfte  reduziert  werden.  Man 
verlangt  mehr  und  verringert  die  eigene  Gegenleistung.  Robilant  ver- 
langte am  26./11.  86  mehr,  als  der  Vertrag  von  1882  Italien  bot; 
unser  Vertrag  vom  20./2.  87  ging  noch  über  jenes  Verlangen  hinaus, 
und  jetzt  genügt  auch  das  noch  nicht.  Ist  denn  der  reale  Nutzen 
der  italienischen  Allianz  für  uns  groß  genug,  um  es  in  das  Belieben 
Italiens  zu  stellen,  ob  wir  wegen  einer  afrikanischen  Oase  in  einen 
Kampf  ums  Dasein  verwickelt  werden? 

Ich  kann  immer  nur  wiederholen:  der  militärische  Wert  von 
Italiens  Bundesgenossenschaft  hängt  zumeist  davon  ab,  ob  England 
der  vierte  im  Bunde  ist  und  Italien  die  Sorge  um  seine  Küsten  ab- 
nimmt. Eine  Konzession  an  Italien,  welche  zugleich  England  nutzt 
und  verbindet,  ist  mir  lieber  wie  eine,  von  der  England  nichts  hat. 
Man  kann  Italien  Zugeständnisse  machen  für  den  Fall,  daß  die  Türkei 
zerfällt,  nicht  aber  Versprechungen  in  Tripolis  pp.  bei  lebendigem 
Leibe  des  Türken,  und  solange  England  ein  Interesse  an  seinem 
Leben   hat. 

Ich  vermeine  also,  daß  ernstlich  danach  getrachtet  werden  muß, 
Italien  im  Bündnis  zu  erhalten,  ohne  ihm  mehr  zu  geben.  Sagt  ihm 
die  Form  eines  gemeinsamen  Vertrages  zu  Dreien  mehr  zu,  so  habe 
ich   dagegen   kein    Bedenken. 

Auffallend  ist  mir,  daß  im  Eingange  die  Worte  aus  dem  bis- 
herigen Vertrag  zu  Dreien  fehlen:  animes  du  desir  d'augmenter  les 
garanties  de  la  paix  generale.  Bei  der  dereinstigen  Interpretation 
einzelner  Vertragsstellen  kann  diese  Zweckbestimmung  doch  nütz- 
lich sein. 

Zu  Artikel  VI.  Gegen  die  Auslegung  der  Worte  „sur  les  cotes 
et  lies  ottomanes,  dans  la  mer  Adriatique  et  dans  la  mer  Egee'*  sehe 
ich  kein  Bedenken.  Meines  Erachtens  handelt  dieser  ganze  Passus 
nur  von  diplomatischer,  nicht  aber  von  militärischer  Unterstützung, 
wie  aus  dem  „influence''  zu  folgern  ist.  Auch  findet  Passus  VI  auf 
alle  drei,  also  auch  auf  Österreich  Anwendung;  hätte  er  eine  mili- 
tärische Tragweite,  so  wäre  auch  Österreich  für  den  weiteren  Begriff 
„Orient"  —  falls  dieser  dem  Sprachgebrauch  nach  Afrika  überhaupt  ein- 
schließen sollte  —  militärisch  gebunden,  während  Artikel  VIII  die  „Aktion" 
Österreichs  auf  eine  Afrika  nicht  umfassende  Sphäre  beschränkt. 

Ich  würde  glauben,  daß  eine  Erweiterung  unserer  diplomatischen 

6    Die  Grnße  roli'ik.  7.  Bd.  81 


Unterstützung  in  Nordafrika,  soweit  es  zum  Orient  zu  rechnen  ist, 
um  so  eher  zugesagt  werden  kann,  als  es  Italien  nach  Artikel  X  ohne- 
hin in  der  Hand  hat,  uns  wegen  Nordafrika  vor  den  casus  foederis 
zu  stellen. 

Zu  Artikel  IX.  Während  Artikel  X  zweifellos  eine  militärische 
Unterstützung  Italiens  durch  Deutschland  für  den  Fall  im  Auge  hat, 
daß  Italien  Frankreich  angreift,  verstehe  ich  Artikel  IX  so,  daß  es 
sich  hier  nur  um  ein  diplomatisches  „appuyer"  handelt,  aber  ohne 
Begrenzung  auf  Frankreich  als  Gegner  und  unter  Ausdehnung  auf 
ganz  Nordafrika.  Damit  könnten  wir  in  Marokko  zu  einer  Gegner- 
schaft Englands  kommen,  die  zu  vermeiden  wir  auch  um  Italiens 
willen  ein  dringendes  Interesse  haben.  Italien  darf  keinen  Vertrag 
abschließen,  der  eine  Spitze  gegen   England  haben  könnte. 

Was  wir  Italien  an  Unterstützung  auf  diplomatischem  Wege  zu 
leisten  haben,  drückt  Artikel  VI  umfänglich  genug  aus;  in  dieser  Hin- 
sicht ist  IX  entbehrlich,  kann  nur  verwirrend  wirken. 

Wie  aber  Italien  glauben  kann,  sich  für  eine  Verletzung  des  Status 
quo  ohne  Krieg  an  anderer  Stelle  durch  prise  de  garantie  schadlos  zu 
halten,  ist  mir  unerfindlich.  Solche  Verletzung  könnte  doch  nur  als 
von  einer  Italien  nicht  verbündeten  Macht,  die  am  Mittelmeer  liegt, 
also  Türkei  oder  Frankreich,  ausgehend  gedacht  sein.  Diesen  gegen- 
über kann  Italien  doch  eine  Garantie  nur  wieder  in  türkischem  oder 
französischem  Lande  suchen.  Ohne  Krieg  ist  das  nicht  denkbar.  Mit 
einem  Kriege  kann  Italien  aber  auf  Grund  des  Artikels  X  schon  jetzt, 
ohne  den  neuen  Artikel  zum  Ziele  kommen  und  uns  den  casus 
foederis  aufdrängen. 

Ich  verstehe  nicht,  was  man  sich  italienischerseits  unter  solcher 
Garantie  denkt,  und  wo  sie  hergenommen  werden  soll.  Wollte  sie 
Italien  der  Türkei  entreißen,  ehe  diese  aufgeteilt  wird,  und  solange 
England  an  der  Erhaltung  der  Türkei  ein  Interesse  hat,  so  verliert 
es  die  Freundschaft  Englands,  ohne  die  es  im  Mittelmeer  keinen  Schritt 
tun  kann.  Wollte  Italien  die  Garantie  aber  auf  französischem  oder 
von  Frankreich  beanspruchtem  Boden  suchen,  ist  der  Krieg  da  und 
muß  erst,  und  zwar  am  Rhein  und  den  Alpen,  ausgefochten  sein,  ehe 
vom   Einheimsen   eines   Gewinnes   die   Rede   sein   kann. 

Ich  möchte  hoffen,  daß  es  möglich  sein  muß,  Italien  von  der 
Nutzlosigkeit  des  Artikels  IX  zu  überzeugen.  Vielleicht  käme  man  am 
leichtesten  dahin,  wenn  man  den  italienischen  Unterhändler  veranlassen 
könnte,  aus  dem  Gebiet  der  Phrase  herauszutreten  und  an  Beispielen 
zu  erläutern,  wie  man  sich  diese  occupation  und  prise  de  garantie 
etwa  denkt.  Daraus  werden  wir  kein  Hehl  zu  machen  brauchen, 
daß  wir  militärisch  Italien  immer  nur  auf  eine  einzige  Weise  unter- 
stützen können:  Krieg  am  Rhein. 

V.  Caprivi 

82 


Nr.  1413 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Kiderlen 

Eigenhändig 

Berlin,  den  24.  April  1891 

Die  italienischen  Vorschläge  gipfeln,  von  nebensächlichen  Ände- 
rungsvorschlägen abgesehen,  in  zwei  neuen  Forderungen:  wir  sollen 
am  Balkan  und  im  westlichen  Mittelmeerbecken  neue,  resp.  erweiterte 
Verpflichtungen  übernehmen;  neue  Vorteile  werden  uns  dagegen  nicht 
geboten. 

1.  Die  erste  den  Balkan  i  betreffende  Forderung  findet  sich  in  Ar- 
tikel VI  des  vom  italienischen  Botschafter  übergebenen  Vertrags- 
entwurfs*. Nach  diesem  Artikel  würde  auch  Deutschland  ganz  aii- 
gemein  sich  verpflichten,  den  status  quo  territorial  en  Orient  aufrecht- 
zuerhalten. 

Die  Annahme  des  Artikels  wäre  somit  ein  offener,  schriftlich 
fixierter  Bruch  2  mit  der  zur  Zeit  des  Fürsten  Bismarck  befolgten  Politik, 
und  zwar  durch  eine  neue  Belastung  Deutschlands  am  Balkan,  speziell 
in  Bulgarien.  Diese  vertragsmäßige  Belastung  würde  einer  Interpella- 
tion im  Reichstag  gegenüber  schwer  abzuleugnen  sein  3;  sie  würde 
aber,  bekannt  geworden,  die  öffentliche  Meinung  schwer  beunruhigen, 
unsere  Beziehungen  zu  Rußland  trüben  und  uns  keinen  Vorteil  bringen. 

Unsere  Politik  am  Balkan  und  an  den  Meerengen*  derart  festzu- 
legen, hätte  aber  noch  weitere  positive  Nachteile  bei  kriegerischen 
Verwicklungen.  Es  läßt  sich  zum  Beispiel  folgender  Fall  denken:  Wir 
geraten  in  Krieg  mit  den  Franzosen;  Rußland  droht,  Österreich  anzu- 
greifen s,  zeigt  sich  aber  doch  bereit,  sich  mit  diesem  über  Kom- 
pensationen auf  der  Balkanhalbinsel  und  an  den  Meerengen  abzufinden. 
Wir  werden  dann  viel  eher  in  der  Lage  sein,  als  „ehriiche  Makler" 
eine  friedliche  Auseinandersetzung  zwischen  Rußland  und  Österreich 
zu  vermitteln,  wenn  uns  bei  der  Verfügung  über  die  uns  nicht  direkt 
interessierenden  Objekte,  welche  zwischen  jenen  beiden  Ländern  streitig 
sind,  die  Hände  nicht  zum  voraus  gebunden  sind. 

Dies  den  Italienern  in  dieser  Weise  zu  sagen,  dürfte  aber  nicht 
gut  sein.  Der  italienische  Vorschlag  könnte  vielleicht  in  der  Weise 
abgelehnt  werden: 

wir  müßten  uns,  wenn  die  Vertragsveriängerung  bekannt  werde  6, 
im  Reichstage  auf  die  Frage  gefaßt  machen,  ob  wir  im  Orient  neue 
Verpflichtungen  übernommen.  Könnten  wir  dies  nicht  verneinen,  so 
würde  Beunruhigung  geschaffen'^,  und  unsere  Beziehungen  zu  Ruß- 
land, sowie  zugleich  auch  diejenigen  unserer  Verbündeten  zu  letzterem 
würden  erschwert  und  getrübt.    Oute  deutsch-russische   Beziehungen 

*  VgL  Nr.  1410,  Anlage. 

6«  83 


liegen  aber  im  Interesse  Italiens,  denn  dieses  muß  wünschen,  daß  wir 
bei  einem  etwaigen  gemeinschaftliciien  Kriege  mit  Frankreicli  unsere 
ganze  Kraft  gegen  dieses  einsetzen  könnten. 

Das,  was  die  Italiener  zu  erlangen  wünschen,  bestehe  aber  schon 
de  facto;  eine  Störung  im  Orient  sei  nur  von  Rußland  zu  befürchten; 
für  diesen  Fall  aber  genüge  unser  Bündnis  mit  Österreich  und  unser 
Beitritt  zum  österreichisch-rumänischen  Vertrag,  der  ja  voraussichtlich 
erneuert  werde.  Schließlich  würde  ein,  wenn  auch  nur  vages  Bekannt- 
werden weitergehender  Abmachungen  über  den  „Orient"  im  all- 
gemeinen geeignet  sein,  England  zu  verleiten,  dort  die  Hände  noch 
mehr  als  bisher  in  den  Schoß  zu  legen,  was  gerade  Italien  nicht 
wünschen  kann. 

2.  Die  zweite  italienische  Forderung  betrifft  die  nordafrikanische 
Küste.  Wenn  hier,  insbesondere  um  der  italienischen  Regierung  dem 
eigenen  Lande  gegenüber  die  Vertragserneuerung  zu  erleichtern,  ein 
weiteres  Entgegenkommen  von  unsrer  Seite  über  die  bisherigen  Ver- 
träge hinaus  für  möglich  erachtet  würde,  so  müßten  gegen  die  von 
Italien  in  Artikel  IX  des  Vertragsentwurfs  vorgeschlagene  Fassung 
eine  doppelte  Einwendung  gemacht  werden: 

Nach  der  italienischen  Fassung  müßten  wir  für  jedes,  also  auch 
ein  aggressives  Vorgehen  Italiens  in  Nordafrika  eintreten  s,  ohne  daß 
wir  auf   ein  solches   Vorgehen   vorher   irgendwelchen    Einfluß   hätten. 

In  dem  von  Graf  Launay  übergebenen  Memoire  sagt  Marquis  Rudini 
selbst,  der  Artikel  sei  „modele  sur  ce  qui  a  ete  stipule  pour  l'Empire 
ottoman  entre  l'Angleterre,  l'ltalie  et  l'Autriche";  dort  wird  aber  aus- 
drücklich accord  prealable  verlangt.  Ein  solcher  müßte  auch  in 
dem  neuen  Paragraph  IX  zur  Voraussetzung  unserer  Unterstützung 
eines  italienischen  Vorgehens  gemacht  werden  9. 

Dies  dürfte  italienischerseits  anerkannt  werden,  da  Rudini  im  Me- 
moire von  einer  „action  pacifique  et  diplomatique  concordee"  spricht. 

Ferner  muß  es  als  selbstverständlich  betrachtet  werden,  daß  wir 
keine  italienische  Aktion  im  Mittelmeer  gegen  England  unterstützen 
können.  Dies  muß  aber  in  dem  Paragraphen  ausdrücklich  gesagt 
werden. 

Der  ganze  Paragraph  dürfte  aber  am  besten  in  einen  besonderen 
Vertrag  zu  bringen  sein,  den  man  dann  den  Engländern  eventuell 
zeigen  kann,  um  sie  —  nach  Rudinis  ausdrücklichem  Wunsch  —  zu 
ähnlichen  Abmachungen  mit  Italien  zu  veranlassen. 

Die  Aufnahme  des  vorgeschlagenen  Paragraphen  in  einen  be- 
sondern Vertrag  10,  der  für  uns  mit  den  erwähnten  zwei  Modifikationen 
nicht  unannehmbar  sein  dürfte,  würde  der  allerseits  gewünschten  Be- 
schleunigung der  Erneuerung  des   Bündnisses  förderlich  sein. 

Wenn  Italien  damit  einverstanden  ist,  daß  der  Artikel  VI  den 
Wortlaut  erhält,  den  er  in  dem  87^''  Vertrag  zwischen  uns  und  Italien 
hat,   und  daß  bezüglich  des  Inhalts  des  Artikels  IX,  wenn  sich   über 

84 


dessen  Fassung  Schwierigkeiten  ergeben  sollten,  zunächst  nur  in  euicm 
besondern  Protokoll  ein  pactum  de  contrahendo  geschlossen  würde, 
so  würde  einem  raschen  Abschlüsse  des  Vertrags  kaum  etwas  im  Wege 
stehen. 

Ob  der  auf  die  ökonomischen  Beziehungen  der  drei  Staaten  unter- 
einander sich  beziehende  passus  materiell  zu  beanstanden  ist,  vermag 
ich  nicht  zu  beurteilen;  formell  würde  er  wohl  ebenfalls  besser  zum 
Gegenstand  eines  besondern  Vertrags  zu  machen  sein. 

Im  übrigen  dürfte  der  italienische  Wunsch,  alle  bisherigen  Ver- 
träge in  einen  einzigen  zusammenzugießen,  weder  hier  noch  in  Wien 
zu  beanstanden  sein. 

Österreich,  dem  keine  neuen  Verpflichtungen  —  von  dem  ökonomi- 
schen Paragraphen  abgesehen  —  zugemutet  werden,  dürfte  auch  sonst 
keine   Einwendungen   erheben. 

Der  vom  Prinzen  Reuß  erstattete  Bericht  (AS  594)*  bezeugt  dies. 
Nur  wünscht  Graf  Kälnoky,  daß  der  Vertrag  nach  Ablauf  von  fünf 
Jahren  von  selbst  fortdauert,  wenn  er  nicht  ausdrücklich  gekündigt 
wird.    Dagegen  dürfte  unsrerseits  kein  Bedenken  bestehen. 

Es  kann  aber  wohl  Graf  Kälnoky  überlassen  werden,  diesen  An- 
trag seinerseits  zu  stellen,  sobald  wir  dem  italienischen  Wunsch  ent- 
sprechend das  zwischen  uns  und  Italien  Vereinbarte  in  Wien  vorlegen 
werden. 

Bezüglich  des  Geheimnisses  wünscht  Italien,  daß  dasselbe  nur 
auf  den  Inhalt  des  Vertrags,  nicht  auf  seine  Existenz  erstreckt  werde. 
Vielleicht  könnte  man,  statt  das  Wort  „existence"  (im  italienischen  Ent- 
wurf Artikel  XII)  einfach  zu  streichen,  dasselbe  durch  „duree"  ersetzen. 
Man  würde  sich  also  gegenseitig  das  Geheimnis  über  Inhalt  und 
Dauer  des  Vertrags,  nicht  aber  über  die  Existenz  desselben  ver- 
sprechen. Kiderlen 

Randbemerkungen  von  Caprivis: 

1  Woraus  folgt,  daß  der  Balkan  unter  den  Begriff  „Orient"  fällt?  M.  E.  ist  das 
nicht  der  Fall.  Fiele  er  aber  unter  diesen  Begriff,  so  haben  wir  uns  schon 
durch  den  jetzigen  Artikel  I  zum  maintien  du  statu  quo  territorial  auf  dem 
Balkan  bekannt. 

2  Deduktion,  deren  Richtigkeit  ich  bezweifle. 

3  Wie  kommt  der  Reichstag  dazu,  hier  eine  Rolle  zu  spielen?  Hat  sich  die  Re- 
gierung  früher  auf   Interpellation   über  geheime   Verträge  eingelassen? 

*  An  den  Meerengen  haben  wir  sie  schon  jetzt  festgelegt;  was  heißt  denn  les 
Gutes  et  lies  Ottomanes  dans  la   mer  Egee  anders? 

*  Wenn  dieser  Fall  einträte,  werden  wir  als  Makler  wenig  Wert  haben,  weil 
uns  dann  die  Macht  fehlt,  unsere  Vorschläge  zu  unterstützen. 

^  Können    wir   das    sagen,    wenn    wir    uns   zur  Geheimhaltung   verpflichten? 
^  Sind   Verpflichtungen  für   Tripolis  nicht  ebenso   beunruhigend? 

8  Müssen  wir  jetzt  auch  schon 

9  gut 

10  Ehe  ich  darüber  urteilen   kann,   muß  ich  mir  irgendeine  Vorstellung  darüber 
bilden  können,  was  mit  prise  de  garantie  gemeint  ist. 

*  Siehe  Nr.  1411. 

85 


Nr.  1414 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  24.  April  18Q1 
Zu  dem  anliegenden  Gutachten  gestatte  ich  mir  zu  bemerken: 
Der  Artikel  I  des  österreichisch-ungarisch-italienischen  Vertrages 
vom  Jahre  1887*  begreift  unter  „Orient"  weder  Ägypten  noch  Nord- 
afrika (Tripolis,  Tunis  pp,),  sondern  —  wie  der  Absatz  2  des  Artikels 
zeigt  —  ausschließlich  „les  rcgions  des  Balkans,  les  cotes  et  iles 
ottomanes  dans  l'Adriatique  et  dans  la  mer  Egee'';  der  Artikel  I  des 
deutsch-italienischen  Vertrags  von  1887**  spricht  in  seinem  Ein- 
gange, wo  davon  die  Rede  ist,  „Les  parties  contractantes  ayant  en 
vue"  usw.,  ebenfalls  vom  Statu  quo  territorial  „en  Orient",  beschränkt 
jedoch  diesen  Begriff  in  den  folgenden  Worten,  in  denen  die 
Verpflichtungen  der  kontrahierenden  Staaten  bezeichnet  werden, 
auf  „les  cotes  et  iles  ottomanes  dans  la  mer  Adriatique  et  dans  la 
mer  Egee".  Wenn  also  dem  neusten  italienischen  Vorschlage  ent- 
sprechend diese  letzteren  Worte  gestrichen  und  Deutschland  in  dieser 
Beziehung  dieselben  Verpflichtungen  übernehmen  solU,  welche 
bisher  zwischen  Italien  und  Österreich-Ungarn  bestanden,  so  ist  die 
praktische  Folge,  daß  wir  uns  engagieren 2,  unsern  Einfluß  auch  für 
Erhaltung  des  Status  quo  „dans  les  Balkans"  einzusetzen. 
Ich  halte  diese  Änderung  für  bedenklich.  Wir  haben  allen  Anlaß, 
uns  bezüglich  der  einschlägigen  Fragen  freie  Hand  zu  erhalten;  einmal 
aus  Rücksicht  auf  Rußland,  welches  in  einer  deutschen  Garantie  für 
den  von  ihm  perhorreszierten  Status  quo,  speziell  in  Bulgarien  bzw. 
Ostrumelien  einen  feindseligen  Akt  Deutschlands  erblicken  und  dar- 
aus ein  weiteres  Motiv  entnehmen  würde,  sich  enger  an  Frankreich 
anzuschließen,  —  sodann  aber  —  und  dies  ist  für  mich  der  gewich- 
tigste Punkt  —  weil  wir  durch  ein  engagement  für  den  „Statu  quo 
territorial  dans  les  Balkans"  uns  eines  gewichtigen  Pressionsmittels 
gegenüber  österreichischen  bezw.  ungarischen  Velleitäten  begeben 
würden.  Seit  Jahren  hat  die  Deutsche  Regierung  wiederholt  Anlaß 
gehabt,  in  Wien  vor  Torheiten  zu  warnen,  speziell  davor,  daß  Öster- 
reich sich,  um  ungarischen  Chauvinisten  zu  gefallen,  in  Bulgarien  allzu- 
sehr für  die  gegenwärtigen  Verhältnisse  engagiere  und  Rußland  gegen- 
über mit  dem  Feuer  spiele;  unser  durchschlagendes  Argument  dabei 
war,  daß  wir  im  Balkan  und  speziell  in  Bulgarien  keinerlei  Interesse 
haben,  und  Österreich-Ungarn,  wenn  es  durch  sein  Vorgehen  einen 
Krieg  mit  Rußland  provoziere,  dies  auf  eigene  Gefahr  tue.  —  Nehmen 

*  Vgl.  Pribram  a.a.O.,  5.14. 
**  Vgl.  Bd.  IV,  Nr.  859. 

86 


wir  jetzt  den  italienischen  Vorschlag  an,  so  würde  man  uns  in  einem 
ähnlichen  Falle  in  Wien  einfach  erwidern:  „Was  wollt  Ihr  denn,  wir 
arbeiten  an  der  Erhaltung  des  Status  quo  territorial,  und  für  den 
habt  Ihr  Euch  selbst  verbürgt  3/<  Wir  würden  daher  nach  den  ver- 
schiedensten Richtungen  in  eine  schiefe  Lage  kommen;  —  war  es  ein 
Fehler,  sich  mit  Rußland  gegen  den  Statu  quo  dans  les  Balkans  zu 
engagieren  (vgl.  den  geheimen  Vertrag  mit  Rußland)  und  damit  Ruß- 
land die  Möglichkeit  zu  geben,  uns  bei  unseren  Bundesgenossen  zu 
kompromittieren,  so  scheint  es  mir  andererseits  nicht  geraten,  uns  mit 
Österreich-Ungarn  und  Italien  in  Verbindungen  für  den  Status  quo 
einzulassen,  deren  Geheimhaltung  wir  im  Interesse  der  Erhaltung 
unseres  guten  Verhältnisses  zu  Rußland  wünschen  müßten. 

Auch  der  Gesichtspunkt,  daß  wir  uns  stets  die  Möglichkeit  vor- 
behalten müssen,  zwischen  Türkei  und  Österreich  bezüglich  der  Balkan- 
frage zu  vermitteln,  spricht  gegen  die  Annahme  des  italienischen  Vor- 
schlags. 

Der  italienische  Vorschlag  bezüglich  Nordafrikas  ist  nur  akzeptabel, 
wenn  eine  Form  gefunden  wird,  welche  auf  England  Rücksicht  nimmt 
und  bei  der  Frage  der  Kompensationen  die  Notwendigkeit  eines  vor- 
herigen Akkords  statuiert. 

Marschall 


Randbemerkungen  von  Caprivis: 

1  Dem  widerspricht  m.  E.  die  verschiedene  Fassung  von  Art.  VIII  und  IX. 

■  verstehe  ich  nicht   so 

3  nicht  mehr  wie  schon  bisher. 


Nr.  1415 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

[Berlin,  den  24.  April  1891] 

Die  Meinungsverschiedenheit  zwischen  den  beiden  Herren  und 
mir*  kommt  im  wesentlichen  darauf  hinaus,  was  unter  „Orient''  zu 
verstehen  ist.  Diese  Meinungsverschiedenheit  zeigt  aber  auf  alle  Fälle, 
daß  die  jetzige  Redaktion  von  Artikel  VI  eine  uns  ungünstige  Aus- 
legung zuläßt  und  deshalb  besser  zu  ändern  ist. 

Artikel  IX  scheint  mir  nach  wie  vor  der  bedenklichere  schon  seiner 
noch  größern  Unklarheit  wegen,  und  weil  ich  vermute,  daß  er  die 
Crispischen  Traditionen  in  bezug  auf  Tunis,  Biserta  pp.  im  Auge  hat. 


•  Vgl.  die  beiden  voraufgehenden  Schriftstücke. 

87 


Der  Status  quo  de  droit  geht  wohl  auf  die  Umwandlung  der  französi- 
schen Okkupation  in  Annexion. 

In  bezug  auf  den  zitierten  Reichstag  bitte  ich  recherchieren  zu 
lassen,  wie  die  Regierung  sich  bisher  in  bezug  auf  die  Besprechung 
geheimer  Verträge  verhalten  hat. 

Im  übrigen  habe  ich  mir  erlaubt,  einige  Bleibemerkungen  an  den 
Rand  zu  setzen. 

y.  Caprivi 


Nr.  1416 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  Vll.  Reuß 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderlen 

Nr.  26S  Berlin,  den  25.  April  1891 

Geheim 

Die  dem  Grafen  Kalnoky  bereits  bekannten  italienischen  Vor- 
schläge wegen  Vertragserneuerung  sind  auch  hier  durch  den  Grafen 
Launay  mitgeteilt  worden*.  Für  die  Verhandlungen  mit  Österreich 
dürfte  sich  kaum  eine  nennenswerte  Schwierigkeit  erheben,  da  diesem 
die  Übernahme  neuer  Verpflichtungen  nicht  zugemutet  wird  und  Graf 
Kalnoky  nach  Ihrem  Bericht  Nr.  114  vom  21.4.**  gegen  den  italieni- 
schen Vorschlag,  nur  einen  Vertrag  zu  schließen,  keine  Bedenken  zu 
haben   scheint. 

Auch  wir  haben  gegen  den  letzteren  Vorschlag  um  so  weniger 
etwas  einzuwenden,  als  bereits  im  Schlußprotokoll  die  Einheitlichkeit 
und  der  Zusammenhang  der  bisherigen  verschiedenen  Verträge  an- 
erkannt ist. 

Von  uns  dagegen  verlangt  Italien  Zusagen,  die  weitergehen  als 
diejenigen,  welche  wir  in  den  bisherigen  Verträgen  gemacht  haben. 
Es  handelt  sich  um  unsere  Zusicherungen  betreffs  des  Orients  und 
Nordafrikas;  die  neuen  italienischen  Forderungen  finden  sich  in  den 
Artikeln  VI  und  IX  des  vom  Grafen  Launay  übergebenen  Vertrags- 
entwurfs; ich  füge  zu  Euerer  pp.  Orientierung  Abschrift  der  beiden 
Artikel  bei***. 

Der  Artikel  VI  ist  eine  wörtliche  Wiedergabe  des  ersten  Absatzes 
des  Artikels  I  des  österreichisch-italienischen  Vertrags  vom  20.  Februar 
ISST;  er  unterscheidet  sich  dagegen  von  dem  entsprechenden  Artikel 


*  Siehe  Nr.  1410. 

**  Siehe  Nr.  1411. 

***  Hier  nicht  wiederholt,  da  schon  in  Nr.  1410,  Anlage  abgedruckt 

88 


unseres  Vertrags  mit  Italien  dadurch,  daß  in  letzterem  sich  hinter 
„prevenir"  die  einschränkenden  Worte  befinden  „sur  les  cotes 
et  lies  ottomanes,  dans  la  mer  Adriatique  et  dans  la  mer  Egee",  und 
daß  diese  Worte  im  jetzigen  italienischen  Entwurf  auch  uns  gegen- 
über weggelassen  sind. 

Artikel  IX  ist  vollständig  neu  und  enthält  eine  Erweiterung  der 
Verpflichtungen,  welche  wir  in  dem  als  Artikel  X  in  den  italienischen 
Entwurf  aufgenommenen  Artikel  III  unseres  Separatvertrags  mit  Italien 
übernommen  haben. 

Es  wird  ohne  längere  Ausführungen  dem  österreichischen  Herrn 
Minister  begreiflich  erscheinen,  daß  wir  wenig  Neigung  haben,  weiter- 
gehende Zusagen  als  die  bisherigen  zu  machen,  um  so  weniger,  als 
uns  keine  größeren  Vorteile  als  Äquivalent  geboten  werden. 

Wir  glauben  Grund  zu  der  Annahme  zu  haben,  daß  die  Wieder- 
herstellung unseres  alten  Vertragstextes  im  Artikel  VI  bei  Italien  keine 
großen  Schwierigkeiten  finden  würde.  Was  den  neu  eingeschobenen 
Paragraphen  IX  betrifft,  so  sind  wir,  um  Italien  unsern  guten  Willen 
zu  zeigen,  und  im  Interesse  einer  Beschleunigung  des  Abschlusses  des 
neuen  Vertrags  bereit,  mit  den  Italienern  eine  Fassung  des  Artikels  IX 
zu  suchen,  die  uns  denselben  annehmbar  macht. 

Gegen  das  vorgeschlagene  Protokoll,  das  gleichfalls  neue  Vor- 
schläge enthält,  und  von  dem  ich  deshalb  Abschrift  für  Euere  pp. 
beifüge,  haben  wir  keine  Bedenken  geltend  zu  machen. 

Der  erste,  die  handelspolitischen  Beziehungen  betreffende  Abschnitt 
ist  schon  in  Anbetracht  der  am  Eingang  und  am  Schlüsse  gemachten 
Restriktionen  mehr  dekorativer  Natur.  Der  Beitritt  Englands  zu  unsern 
Abmachungen  mit  Italien  bezüglich  Nordafrikas  und  des  westlichen 
Beckens  des  Mittelmeers,  auf  den  sich  der  zweite  Abschnitt  des  Protokolls 
bezieht,  kann  uns  nur  erwünscht  sein,  und  wir  werden  uns  daher  um 
diesen  Beitritt  gern  im  „moment  opportun"  bemühen. 

Den  von  Graf  Kälnoky  angeregten  Gedanken,  daß  der  Vertrag, 
wenn  er  nicht  ausdrücklich  gekündigt  wird,  eo  ipso  als  auf  eine  Reihe 
von  Jahren  erneuert  angesehen  werden  soll,  werde  ich  gleichfalls 
bei  den  Verhandlungen  mit  Italien  schon  jetzt  verwerten. 

Euere  pp.  wollen  das  Vorstehende  dem  Grafen  Kälnoky  vertrau- 
lich mitteilen  und  dabei  bemerken,  daß  wir,  sobald  wir  uns  mit  Italien 
über  die  einzelnen  Punkte  verständigt  haben,  das  Resultat  dieser  Ver- 
handlungen in  Wien  mitteilen  werden.  Sollte  aber  Österreich  hinsicht- 
lich irgendeines  Punktes  noch  besondere  Wünsche  haben,  so  würden 
wir  deren  vertrauliche  Mitteilung  an  uns  schon  während  des  jetzigen 
Stadiums  der  Verhandlungen  als  nützlich  für  eine  wünschenswerte 
Beschleunigung  der  Verhandlungen  ansehen. 

Marschall 


89 


Nr.  1417 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  126  Wien,  den  27.  April  1891 

Geheim 

Ich  habe  heut  den  Inhalt  des  hohen  Erlasses  Nr.  268  vom 
25.  d.  Mts.*,  die  Erneuerung  der  geheimen  Verträge  mit  Italien  be- 
treffend, mit  dem  Grafen  Kälnoky  besprochen. 

Er  hat  mich  gebeten,  Euerer  Exzellenz  für  diese  sehr  schätzens- 
werte Mitteilung,  sowie  auch  für  die  an  den  Tag  gelegte  Rücksichts- 
nahme  auf  eventuelle  österreichische  Wünsche  zu  danken.  Es  freue 
ihn  sehr,  daß  Euere  Exzellenz  seine  Anregung  wegen  des  später  ins 
Leben  zu  tretenden  Modus  bei  Erneuerung  des  Vertrags  angenommen 
hätten  und  verwerten  wollten. 

Der  Minister  erklärte  mir  zunächst,  daß  er  keine  Wünsche  habe, 
da  für  Österreich-Ungarn  der  italienische  Entwurf  auch  in  der  heutigen 
Form  angenommen  werden  könnte.  Außerdem  würde  er  von  dem 
Wunsch  geleitet,  nichts  zu  tun,  was  den  Abschluß  hinausschieben  und 
denselben  komplizieren  könnte. 

Er  werde  indessen  sehr  gern  seine  Zustimmung  zu  den  Ab- 
änderungen geben,  die  wir  noch  vornehmen  würden.  Daß  uns  die 
beiden  Artikel  VI  und  IX  nicht  passen  würden,  habe  er  sich  wohl 
gedacht.  Wenn  Aussicht  vorhanden  sei,  daß  die  Wiederherstellung 
unseres  alten  Vertragstextes  im  Artikel  VI  bei  Italien  keine  großen 
Schwierigkeiten  finden  würde,  so  sei  dies  erfreulich. 

Daß  uns  die  neuen,  durch  die  Einschiebung  des  Artikels  IX  zu 
übernehmenden  Verpflichtungen  nicht  paßten,  fände  er  von  unserem 
Standpunkt  aus  betrachtet  sehr  natürlich.  Die  Italiener  hätten  eben 
versucht,  uns  für  den  status  quo  am  Mittelmeer  in  höherem  Grade  zu 
interessieren,  als  dies  bisher  der  Fall  gewesen.  Es  sei  italienischer 
Brauch,  bei  allen  Geschäften,  auch  bei  politischen,  aufzuschlagen  und 
zu  versuchen,  soviel  als  möglich  zu  erlangen;  man  ließe  sich  aber  auch 
wieder  herunterhandeln,  ohne  daß  dies  weiter  böses  Blut  machte. 

Nach  meinem  ehrerbietigsten  Erachten  kann  ich  dem  Grafen  Käl- 
noky nur  recht  geben.  Wenn  es  den  Italienern  nützlich  erscheint, 
ohne  größere  Gegenleistungen  zu  gewähren,  uns  aus  unserer  be- 
währten alten  Stellung  im  Orient  und  Nordafrika  hinauszudrängen, 
so  sehe  ich  durchaus  keine  Verpflichtung  für  uns,  ihnen  den  Willen 
zu  tun;  und  dies  um  so  weniger,  als  die  itahenischen  Wünsche  hier 
in  Wien  keine  Unterstützung  finden. 


♦  Siehe  Nr,  1418. 
90 


Mit  der  Fassung  des  Protokolls  ist  Graf  Kälnoky  einverstanden. 
Er  wird  mit  Interesse  den  weiteren  geneigten  Mitteilungen  über  den 
Gang  der  Verhandlungen  entgegensehen. 

H.  VII.  P.  Reuß 


Nr.  1418 

Der  Militärattache  in  Rom  Oberstleutnant  von  Engelbrecht 
an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Abschrift 

Rom,  den  28.  April  1891 

Der  französische  Botschafter  Herr  Billot,  welcher  seinerzeit  der 
BegräbnisfeierHchkeit  des  verstorbenen  Prinzen  Napoleon*  fern- 
geblieben war,  hatte  wenige  Tage  nach  derselben  eine  Audienz  er- 
beten, um  Seiner  Majestät  dem  Könige  das  Beileid  der  französischen 
Regierung  auszudrücken. 

Bei  dieser  Gelegenheit  hat  Herr  Billot  es  für  passend  gefunden, 
das  Ansinnen  auf  Veröffentlichung  des  Vertrages  zwischen  Deutsch- 
land und  Italien,  in  noch  dazu  sehr  entschiedener  Weise,  zu  stellen. 

Der  Verlauf  der  Unterhaltung  über  diesen  Gegenstand  ist  folgen- 
der gewesen. 

Auf  die  gegenseitigen  Beziehungen  beider  Länder  das  Gespräch 
überführend,  äußerte  Herr  Billot  sein  Bedauern,  daß  es  bisher  noch 
immer  nicht  gelungen  sei,  dieselben  den  Interessen  beider  Länder  ent- 
sprechend zu  gestalten.  Es  liege  allein  beim  Könige,  einen  wohl- 
tätigeren Zustand  hier  eintreten  zu  lassen,  und  nun  sprach  Herr  Billot 
die  Bitte  aus,  den  Vertrag  mit  Deutschland  zu  veröffentlichen,  da 
es  sonst  für  Frankreich  nicht  möglich  sei,  auf  dem  Wege  des  Ent- 
gegenkommens weiter  fortzuschreiten. 

Der  König  erwiderte,  daß  die  Veröffentlichung  eines  Vertrages 
nur  mit  Zustimmung  beider  Kontrahenten  geschehen  könne,  man  möge 
daher  diesem  Wunsche  auch  in  Berlin  Ausdruck  geben. 

Herr  Billot  deutete  darauf  hin,  in  welche  schwierige  Lage  Frank- 
reich versetzt  wäre;  man  könne  doch  nicht  verlangen,  daß  es  seine 
Mittel  einem  Lande  zur  Verfügung  stelle,  von  welchem  man  wisse, 
daß   es  im   Falle  eines  Krieges  sein  Gegner  sein  werde. 

Die  Erklärung  des  Königs,  daß  Frankreich  weder  von  Italien 
noch  von  Deutschland  eine  Aggression  zu  befürchten  habe,  daß  der 
Vertrag  lediglich  auf  Erhaltung  des  Friedens  hinziele,  vermochte  den 
Argwohn  des  Botschafters  nicht  zu  beseitigen.  Derselbe  wurde  ein- 
dringlicher, konnte  auch  die  bisher  beobachtete  Ruhe  nicht  bewahren 
und   ließ   sich   zur   Äußerung   verleiten,   daß   es   schwer   zu   verstehen 


Prinz  Jerome  Napoleon  f  17.  März  in  Rom. 

91 


sei,  daß  sich  Männer  zur  Bildung  einer  Regierung  fänden,  ohne  die 
übernommenen  Verträge  zu  kennen,  er  (Herr  Billot)  würde  in  ein 
solches  Ministerium   nicht  eintreten. 

Die  Verträge,  so  bemeri<te  der  König,  seien  von  ihm  eingegangen 
worden;  dieselbe  zu  kennen  brauche  nur  der  Minister  des  Äußern, 
außer  Mancini,  Robilant,  Crispi  und  Rudini  habe  in  Italien  niemand 
von  den  Verträgen  Kenntnis  erhalten. 

Da  Herr  Billot  auch  nun  noch  weiter  insistierte,  so  erklärte  der 
König,  dem  Botschafter  in  der  Auffassung,  die  Veröffentlichung  des 
Vertrages  zu  einem  Gegenstand  von  Leistung  und  Gegenleistung  zu 
machen,  nicht  folgen  zu  können;  für  ihn  sei  es  eine  Frage  der  Würde; 
er  könne  es  nur  bedauern,  wenn  die  von  einem  Souverän  gegebene 
Versicherung  hinsichtlich  des  Charakters  des  Vertrages  nicht  zur  Be- 
seitigung unrichtiger  Vorstellung  beizutragen  vermöchte,  und  stellte, 
das  Gespräch  beendigend,  Herrn  Billot  anheim,  sich  an  den  Marquis 
di  Rudini  zu  wenden,  der  mit  seinen  Instruktionen  versehen  sei. 

Einige  Tage  später  sah  Marquis  di  Rudini  Herrn  Billot  und 
unterließ  nicht,  demselben  sein  Befremden  über  die  Art  auszudrücken, 
in  welcher  der  Botschafter  erwähnte  Angelegenheit  mit  dem  Könige 
verhandelt   habe. 

Man  war  gescheitert,  den  Vertrag  auf  diesem  Wege  zu  erfahren, 
und   schlug  nunmehr  einen  anderen   ein. 

Es  mögen  ungefähr  zehn  Tage  her  sein,  als  sich  bei  dem  Mi- 
nister des  Äußern  Herr  Padova,  der  Agent  Rothschilds  in  Italien,  an- 
melden ließ. 

Derselbe  war  Träger  eines  Briefes  des  Hauses  Rothschild,  in 
welchem  dasselbe  mit  ausdrücklicher  Zustimmung  des  auswärtigen 
Ministers  Herrn  Ribot  der  italienischen  Regierung  die  notwendigen 
Geldmittel  zur  Disposition  stellte,  unbeschadet  des  weiteren  Verbleibens 
Italiens  in  der  Alliance  mit  Deutschland.  Dahingegen  möge  Italien 
nur  in  einer,  eventuell  geheim  zu  haltenden  schriftlichen  Erklärung 
die  Verhältnisse  und  Bedingungen  angeben,  unter  denen  es  sich  an 
einem   Kriege   Deutschlands  gegen  Frankreich  beteiligen  werde. 

Marquis  di  Rudini  entgegnete  Herrn  Padova,  daß  er  bedauere,  einen 
Italiener  vor  sich  zu  sehen,  welcher  der  Regierung  seines  Vaterlandes 
eine  solch  unwürdige  Handlung  zumute.  Herr  Padova  fingierte  über 
diesen  „unverdienten"  Vorwurf  Entrüstung  und  erwiderte,  daß  er  ge- 
glaubt, als  Patriot  zu  handeln,  um  sein  Land  aus  der  schwierigen  Lage 
zu  befreien.  Der  Marquis  schnitt  indes  das  Gespräch  mit  der  Be- 
merkung ab,  daß  jede  Diskussion  über  die  Angelegenheit  mit  dem 
unnütz  sei,  welcher  kein  richtiges  Fühlen  für  dieselbe  habe,  und  bat 
Herrn   Padova,  ihn  nie  wieder  in  dieser  Sache  aufzusuchen. 

Dem  Könige  über  den  Vorfall  mündlich  Bericht  erstattend,  fügte 
der  Minister  hinzu,  daß  im  ersten  Moment  die  Versuchung  groß  für 
ihn  gewesen  sei,  den  schmutzigen  Hebräer  an  den  Hals  zu  fassen  und 

92 


ihn  mit  einem  Fußtritt  zur  Tür  hinauszubefördern,  doch  habe  er  sich 
trotz  seiner  Indignation  gesagt,  daß  dies  einem  Marquis  di  Rudini 
nicht  wohl  angestanden  haben  würde. 

Die  stolze  Gesinnung  des  Marquis  hat  sich  vor  solchem  Schmutz 
gebäumt,  und  hat  er  deshalb  auch  nicht  gewollt,  daß  durch  eine  Mit- 
teilung an  seine  auswärtigen  Organe  diesen  bekannt  werde,  mit  welcher 
vilen  Zumutung  man  an  ihn  herangetreten  sei. 

Auf  die  ausdrückliche  Frage,  ob  mir  der  Vorfall  mitgeteilt  werden 
dürfe,  hat  der  Minister  nichts  dagegen  einzuwenden  gehabt,  und  da 
dieser  Vorgang  sowie  der  eingangs  erwähnte  für  die  Beurteilung  der 
Persönlichkeit  der  leitenden  auswärtigen  Minister  am  Tiber  und  an  der 
Seine  von  Wert  sein  kann,  so  habe  ich  gewagt,  in  tiefster  Ehrfurcht 
alleruntertänigsten   Bericht  hierüber  zu   erstatten  i. 

(gez.)  von  Enge 'brecht 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Gut. 

Nr.  1419 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  28.  April  1891 
Meine  Bedenken  gegen  Artikel  IX  bestehen  auch  in  der  jetzt  vor- 
geschlagenen Fassung*  fort. 

Ich  verstehe  nicht,  was  der  Artikel,  wenn  er  nicht  irgendeinen  mir 
unbekannten  Hintergedanken  hat,  den  Italienern  nutzen  soll.  Schädigen 
die  Franzosen  italienisches  Interesse  in  Nordafrika,  so  gibt  den  Ita- 
lienern Artikel  VI  unsere  diplomatische  Unterstützung.  Kommt  dabei 
italienischerseits  ein  Wunsch  nach  Kompensationen  zum  Ausdruck, 
der  uns  gefällt,  so  werden  wir  unsere  influence  einsetzen,  um  den  Ita- 
lienern diese  Kompensation  zu  verschaffen.  Gefällt  die  Sache  uns  nicht, 
so  werden  wir  nicht  darauf  eingehen,  und  den  Italienern  steht  dann 
frei,  den  casus  foederis  nach  Artikel  X  zu  schaffen.  Mehr  gibt  Artikel  IX 
auch  nicht,  es  sei  denn  die  Ausdehnung  auf  Marokko.  Daß  Italien  an 
Marokko  ein  reales  Interesse  hätte,  sehe  ich  nicht.    Der  mür  examen 

*  Am  27.  April  hatte  Graf  Launay  dem  Staatssekretär  Freiherrn  von  Marschall  eine 
neue  Fassung  des  Artikels  IX  vorgeschlagen.  Danach  sollte  das  letzte  Alinea  dieses 
Artikels  nunmehr  lauten:  „Si  malheureusement  en  suite  d'un  mür  examen  de  la 
Situation  et  un  echange  de  vues,  l'Italie  et  l'AUemagne  reconnaissaient  l'une  et 
I'autre  que  le  maintien  du  statu  quo  devenait  impossible,  l'AUemagne  s'engage 
apres  un  accord  formet  et  prealable,  ä  appuyer  l'Italie  en  toute  action 
sous  la  forme  d'occupation  ou  autre  prise  de  garantie,  que  cette  derniere  devrail 
entreprendre  dans  un  interet  d'equilibre  et  de  legitime  compensation.  11  est 
entendu,  que  pour  pareille  eventualite  une  entente  prealable  devrait  aussi  s'etablir 
avec  l'Angleterre." 

93 


und  der  accord  prealable  schaffen  keine  andere  Lage  als  die,  die  Ar- 
tikel VI  gibt,  sind  nur  Umschreibungen  des  im  Artikel  VI  Gesagten. 
Soll  der  accord  prealable  heißen:  wir  behalten  freie  Hand,  so  ist  der 
ganze  Artikel  IX  überflüssig.  Kommen  wir  aber  nicht  zu  gleichen  An- 
sichten, so  tritt,  wenn  wir  Artikel  IX  annehmen,  wahrscheinlich  eine 
stärkere  Spannung  ein  wie  nach  Artikel  VI.  — '  Reale,  militärische  Hülfe 
verschafft  Artikel  IX  den  Italienern  auch  nicht,  denn  dazu  sind  wir 
weder  in  Albanien  noch  in  Afrika  imstande.  Solche  Hülfe  können  wir 
nur  am  Rhein  geben,  und  dazu  reicht  Artikel  X  hin.  Der  italienische 
Gedanke,  ohne  Krieg  zu  einer  Kompensation  zu  kommen,  ist  gegen 
Frankreichs  Wille  der  Krieg  und  mit  Frankreichs  Einverständnis, 
auch  ohne  im  Vertrag  eine  Rolle  zu  spielen,  ausführbar. 

Dem  Artikel  IX  liegt  ein  unklarer  Gedanke  zugrunde,  der  nach- 
her in  der  Ausführung  wieder  Unklarheiten  schaffen  wird.  Er  nutzt 
den  Italienern  nichts  und  uns  auch  nicht. 

Die  Änderung  „de  fait  et  de  droit'  in  „territorial"  wäre  eine  Ver- 
besserung, schließt  aber  nicht  aus,  daß  irgendeine  unfindbare  Oase 
den  Vorwand  gibt,  eine  Verletzung  des  status  quo  zu  konstruieren. 

Die  entente  prealable  mit  England  kann,  wenn  die  Kompensation 
z.  B.  in  Albanien  gesucht  würde,  Österreich  verletzen. 

V.  Caprivi 


Nr.  1420 

Der  italienische  Botschafter  in  Berlin  Qraf  de  Launay  an  den  Staats- 
sekretär des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  le  30.  Avril  1891 
Par  telegramme  que  j'ai  regu  au  moment  oü  Vous  me  faisiez 
votre  aimable  visite,  le  Marquis  di  Rudini  me  mande  qu'il  accepte  la 
nouvelle  formule  que  j'avais  propose  pour  l'article  IX*.  —  II  me  donne 
seulement  ^Instruction  de  proposer  l'amendement  suivant  pour  la  der- 
niere  phrase  relative  ä  l'Angleterre: 

„II  est  entendu  que  pour  pareiile  eventualite,  les  deux  Puissances 
chercheraient  ä  se  mettre  egalement  d'accord  avec  l'Angleterre." 

Les  mots  „devrait  aussi  s'etablir"  seraient  donc  omis  de  maniere 
que  les  mots  ,, entente  prealable".  Cela  semblerait  faire  de  cette  en- 
tente une  condition  preliminaire  de  l'appui  de  l'Allemagne.  Ce  serait 
livrer  en  quelque  sorte  au  bon  plaisir  d'une  tierce  Puissance  la  valeur 
d'une  clause  engageant  les  deux  Puissances  contractantes.  Une  sem- 
blable  combinaison  ne  serait  reguliere  qu'au  cas  oü  l'accession  de 
TAngleterre  ä  Talliance  serait  dejä  un  fait  accorapli.  — 

*  Siehe  Nr.  1419,  Fußnote. 
94 


Acceptez-Vous  la  modification  proposee?  —  Je  voudrais  pouvoir 
telegraphier  aujourd^hui  encore  votre  reponse  au  Marquis  di  Rudini. 
—  Ce  qu'il  demande  me  parait  acceptable. 

Mon  bureau  chiffre  ä  Tinstant  ce  qui  a  ete  convenu  dans  notre 
entretien  aujourd'hui. 

Launay 


Nr.  1421 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderlen 

Nr.  278  Berlin,  den  30.  April  1891 

Geheim  [abgegangen  am  1.  Mai] 

Euerer  pp.  beehre  ich  mich  zu  Ihrer  Information  und  für  die 
dortigen  Akten  anbei  Abschrift  des  italienischerseits  vorgelegten  Ent- 
wurfs eines  an  Stelle  der  bisherigen  Allianceverträge  von  1882  und  1887 
zu  setzenden  einheitlichen  Vertrags  zu  übersenden. 

Dieser  mit  „I"  bezeichnete  Entwurf  ist  derjenige,  der  meinem 
Erlasse  Nr.  268  vom  25.  d.  Mts.*  zugrunde  gelegt  war,  und  der  auch 
dem  Grafen  Kälnoky  bereits  vorliegt. 

Die  weiter  beiliegende,  mit  „II"  bezeichnete  Abschrift  eines  Ent- 
wurfs** enthält  das  Resultat  meiner  bisherigen  Besprechungen  mit  dem 
Grafen  Launay.  Nach  den  dem  letzteren  inzwischen  aus  Rom  zu- 
gegangenen Weisungen  ist  man  dort  mit  diesem  neuen  Projekt  im 
wesentlichen   einverstanden. 

Über  zwei  Punkte,  die  ich  weiter  unten  näher  bezeichnen  werde, 
fehlt  noch  die  Äußerung  des  Marquis  Rudini.  pp. 

Wie  Euere  pp.  aus  Entwurf  II  ersehen,  haben  wir  an  Stelle  des 
italienischen  Artikels  VI  zwei  Artikel  —  VI  und  VII  —  gesetzt,  welche 
zugleich  den  im  italienischen  Entwurf  als  VIII  bezeichneten  Artikel 
enthalten.  Damit  ist  der  Wortlaut  der  betreffenden  Artikel  des  deutsch- 
italienischen und  des  österreichisch-italienischen  Vertrags  wieder- 
hergestellt. Der  Marquis  Rudini  hat  sich  mit  dieser  Redaktion  einver- 
standen erklärt. 

Der  Artikel  VIII  des  Entwurfs  II  entspricht  dem  Artikel  VII  des 
Entwurfs  I,  und  somit,  da  Artikel  VIII  des  letzteren  in  Artikel  VII 
des  Entwurfs  II  enthalten  ist,  entspricht  Artikel  IX  des  Entwurfs  II 
wieder   dem   Artikel  IX    des    Entwurfs  I,   mutatis    mutandis. 

Die  von  uns  beantragten  Änderungen  im  Artikel  IX,  die  Euere  pp. 

*  Siehe  Nr.  1416. 

**  Der  Abdruck  erübrigt  sich,  da  d-eser  zweite  Entwurf  in  allem  irgend  Wesent- 
lichen bereits  identisch   ist  mit  dem   endgültigen  Wortlaut  des  Vertrages. 

95 


mit  roter  Tinte  eingezeichnet  finden,  sind  von  Marquis  Rudini  bereits 
gebilligt.  Nur  haben  wir  noch  ferner  die  Worte  „et  le  Maroc"  ge- 
strichen; darüber  fehlt  noch  die  Antwort  aus  Rom,  da  Graf  Launay 
erst  heute  darüber  nach  Rom  berichtet  hat.  Doch  zweifeln  wir 
auch  in  diesem  Punkt  nicht  an  der  italienischen  Zustimmung.  Wir 
haben  die  Streichung  jener  Worte  beantragt,  zunächst,  weil  wir  sie 
angesichts  des  spanisch-italienischen  Abkommens,  dem  wir  ebenso 
wie  Österreich  beigetreten  sind*,  für  ein  superfluum  halten. 

Maßgebend  für  uns  war  aber  der  Gesichtspunkt,  daß  sich  im  letzt- 
genannten Abkommen  Italien  und  Spanien  feierlich  zusagen,  sich  über 
alles  Marokko  Betreffende  laufende  Mitteilungen  zu  machen,  und  daß 
es  deshalb  nicht  angängig  ist,  daß  wir  mit  Italien  ein  vor  Spanien 
zu  verheimlichendes  Separatabkommen  treffen,  das  namentlich  bei  den 
etwaigen  Änderungen  des  „statu  quo**  mit  dem  spanisch-italienischen 
Abkommen  kollidieren  könnte. 

Artikel  XIV,  betreffend  die  Vertragsdauer,  entspricht  der  Anregung 
des  Grafen  Kälnoky.  Um  demselben  in  Rom  leichter  Eingang  zu  ver- 
schaffen, habe  ich  mit  Graf  Launay  den  ziemlich  nichtssagenden  Ar- 
tikel XIII  verabredet. 

Letzteres  bemerke  ich  jedoch  nur  zu  Ihrer  persönlichen  In- 
formation. Auch  über  diesen  Punkt  —  die  jeweilige  Wiedererneuerung 
des  Vertrags  —  steht  die  Antwort  des  Marquis  Rudini  noch  aus. 

Sobald  die  Antwort  aus  Rom  auf  die  zwei  Punkte  —  Streichung 
von  Marokko  und  Artikel  wegen  der  Dauer  —  eingegangen  ist,  und 
falls  dieselbe,  wie  zu  erwarten,  zustimmend  lautet,  steht  von  unserer 
und  italienischer  Seite  der  Unterzeichnung  des  Vertrags  nichts  mehr 
im  Wege. 

Euere  pp.  wollen  vorstehendes  dem  Grafen  Kälnoky  mitteilen 
und  ihm  den  Entwurf  II  zu  lesen  geben,  ihm  auch  auf  V^erlangen  Ab- 
schrift desselben  lassen.  Euere  pp.  bitte  ich,  zugleich  den  Herrn 
Minister  zu  fragen,  ob  er  seinerseits  —  unter  Voraussetzung  der  italieni- 
schen Zustimmung  zu  den  noch  offenen  zwei  Punkten  —  noch  Wünsche 
oder  Bedenken  hinsichtlich  des  zwischen  uns  und  Italien  vereinbarten 
Vertragstextes  habe.  Sollte  dies  nicht  der  Fall  sein,  so  wollen  Euere  pp., 
falls  der  Herr  Minister  mit  der  Unterzeichnung  in  Berlin  einverstanden 
ist,  demselben  vorschlagen,  schon  jetzt  die  erforderliche  Spezialvollmacht 
für  den  hiesigen  österreichischen  Botschafter  anfertigen  und  abgehen 
zu  lassen,  damit  die  Unterzeichnung  dann  nach  kurzer  telegraphischer 
Verständigung  ohne  Verzug  vor  sich  gehen  kann.  Denselben  Vorschlag 
habe  ich  durch  Graf  Launay  an  das  italienische  Kabinett  übermitteln 
lassen. 

Marschall 


*  Vgl.  Nr.  1394,  S.  54,  Fußnote  **.    Den  Text  des  Abkommens  siehe  bei  Pribram 
a.  a.  O.,  S.  61  ff. 

96 


Nr.  1422 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden   Rats  von   Kiderlen 

Nr.  80  Berlin,  den  1.  Mai  1891 

Geheim 

Heute  abend  dort  eintreffender  Erlaß,  betreffend  Vertragserneue- 
rung*, ist  dahin  zu  ergänzen,  daß  soeben  italienisches  Kabinett  den 
in  jenem  Erlaß  noch  als  offen  bezeichneten  zwei  Punkten  zugestimmt  hat. 

Demnach  sind  wir  und  Italien  über  Entwurf  II  einig.  Einige  ganz 
indifferente  stilistische  Änderungen  folgen  per  Postchiffre!  Teilen 
Sie  dies  Graf  Kälnoky  mit  dem  Hinzufügen  mit,  daß  Graf  Launay 
seine  Spezialvollmacht  am  6.  erwartet.  Melden  Sie  telegraphisch  Ant- 
wort des  Ministers 

Marschall 

Nr.  1423 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  81  Wien,  den  2.  Mai  1891 

Geheim 

Antwort  auf   Erlaß   Nr.  278**  und   Telegramm   Nr.  80***. 

Graf  Kälnoky  wird  Vertragsentwurf  seinem  Kaiser  vorlegen.  Vor- 
behaltlich der  allerhöchsten  Genehmigung,  an  der  er  nicht  zweifelt, 
erklärt  er  mir  schon  heute  sein  Einverständnis.  Er  beabsichtigt  nicht, 
Abänderungen  vorzuschlagen,  und  wird  die  Vollmacht  für  Graf  Szechenyi 
womöglich  am  5.  in  Berlin  eintreffen. 

Reuß 

Nr.  1424 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 

an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Telegramm.  Entzifferung 
Geheim  Berlin,  den  6.  Mai  1891 

Euerer  Majestät  melde  ich,  daß  der  Vertrag  soeben  von  dem  Herrn 
Reichskanzler  und  den  Botschaftern  von  Österreich-Ungarn  und  Italien 

*  Siehe  Nr.  1421. 
**  Siehe  Nr.  1421. 
♦**  Siehe  Nr.  1422. 

7    Die  Große  Politik.  7    Bd.  97 


unterzeichnet  wurde  i.  Die  italienische  Regierung  hat  aus  parlamen- 
tarischen Gründen  den  Wunsch  aussprechen  lassen,  daß  die  Tatsache 
der  Erneuerung  der  Verträge  erst  in  einigen  Wochen  bekanntgegeben 
werde  2. 

Marschall 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Hurrah  „Durch." 

2  Einverstanden 


Nr.  1425 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Grafen  zu  Solms-Sonnenwalde 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderien 

Nr.  208  Berlin,  den  7.  Mai  1891 

Geheim 

Euerer  pp.  beehre  ich  mich  zu  Ihrer  ganz  persönlichen  Informa- 
tion ergebenst  mitzuteilen,  daß  gestern  nachmittag  die  Euerer  pp.  be- 
kannten geheimen  Verträge  aus  den  Jahren  1882  und  1887  in  einem 
neuen  einheitlichen  Vertrage  verlängert  worden  sind.  Dieser  neue 
Vertrag  ist  seit  gestern  an  Stelle  der  bisherigen  drei  Verträge  getreten, 
nämlich  des  Vertrags  zu  Dreien  vom  20.  Mai  1882  resp.  20.  Februar 
1887,  sowie  des  deutsch-italienischen  und  des  österreichisch-italieni- 
schen Vertrags  von  demselben  Datum.  In  den  neuen  Vertrag  sind  die 
Bestimmungen  der  erwähnten  Verträge  wörtlich  wieder  aufgenommen; 
außerdem  sind  noch  einige  neue,  nachstehend  aufgeführte  Ver- 
einbarungen dazu  getreten.  Die  wichtigste  derselben  enthält  der  Ar- 
tikel IX  des  neuen  Vertrags,  in  welchem  wir  den  Italienern  unsere 
Unterstützung  für  Aufrechterhaltung  des  Status  quo  an  der  nordafrikani- 
schen Küste,  mit  Ausnahme  Marokkos  ganz  allgemein  zusagen  und 
gleichzeitig  uns  für  eine  Verständigung  über  eine  Aktion  engagieren, 
die  einzutreten  haben  würde,  wenn  nach  der  gemeinsamen  Auf- 
fassung beider  Regierungen  die  Aufrechterhaltung  des  status  quo  un- 
möglich würde.  Marokko  ist  in  diesem  Artikel  mit  Rücksicht  auf  das 
in  dieser  Beziehung  bestehende  spanisch-italienische  Abkommen,  dem 
wir  beigetreten  sind,  nicht  erwähnt.  Euere  pp.  erhalten  anbei  Ab- 
schrift des  Wortlauts  des  Artikels  IX,  welche  Sie  ebenso  wie  diesen 
Erlaß   unter   Ihren   persönlichen,   sicheren    Verschluß   nehmen   wollen. 

Die  Dauer  des  Vertrags  ist  zunächst  auf  6  Jahre  festgesetzt;  er- 
folgt jedoch  ein  Jahr  vor  Ablauf  desselben  keine  Kündigung  seitens 
eines  der  Beteiligten,  so  bleibt  der  Vertrag  für  weitere  6  Jahre  in 
Kraft. 

98 


Dem  Vertrag  ist  noch  ein  Protokoll  angeheftet.  In  dem  ersten 
Absatz  desselben  versprechen  sich  die  drei  Kontrahenten  gegenseitiges 
Entgegenkommen  in  ökonomischen  Fragen;  in  dem  zweiten  Absatz 
sagen  sich  die  vertragschUeßenden  Parteien  zu,  in  geeigneter  Weise 
auf  Anschluß  Englands  an  die  deutsch-italienischen  Abmachungen  be- 
züglich der  nordafrikanischen  Küste  und  des  westlichen  Mittelmeer- 
beckens hinzuwirken,  pp. 

Marschall 

Nr.  1426 
Text  des  Dreibund- Vertrages  vom  6.  Mai  1891 

Ausfertigung 

Leurs  Majestes 
l'Empereur  d'AlIemagne,  Roi  de  Prusse, 
TEmpereur  d'Autriche,   Roi  de  Boheme  etc.   et  Roi  Apostolique 

de  Hongrie,  et 
le  Roi  d'Italie 
fermement  resolus  d'assurer  ä  Leurs  Etats  la  continuation  des  bienfaits 
que  leur  garantit,   au  point  de  vue  politique  aussi  bien   qu'au   point 
de  vue  monarchique   et  social,   le  maintien   de  la  Triple   Alliance,   et 
voulant  dans  ce  but  prolonger  la  duree  de  cette  alliance  conclue  le 
20  mai  1882  et  renouvelee,  une  premiere  fois  dejä,  par  les  traites  du 
20  fevrier  1887  dont  l'echeance  etait  fixee  au  30  mai  18Q2  ont,  ä  cet 
effet,  nomme  comme  Leurs  plenipotentiaires,  savoir: 
Sa  Majeste  l'Empereur  d'AlIemagne,  Roi  de  Prusse: 

le    Sieur    Leon    de    Caprivi,    general    d'infanterie,    Chancelier    de 
l'Empire,  Son  President  du  Conseil  des  Ministres  de  Prusse; 
Sa  Majeste  l'Empereur  d'Autriche,   Roi  de  Boheme  etc.  et  Roi  Apo- 
stolique de   Hongrie: 

le  Sieur  Emeric,  Comte  Szechenyi,  de  Särväri  Felsö-Videk,  Cham- 
bellan  et  Conseiller  Intime  Actuel,   Son  Ambassadeur  Extraordi- 
naire  et  Plenipotentiaire  pres  Sa  Majeste  l'Empereur  d'AlIemagne, 
J^oi  de   Prusse; 
Sa  Majeste  le   Roi  d'Italie: 

le   Sieur   Edouard,   Comte   de   Launay,   Son   Ambassadeur   Extra- 
ordinaire  et  Plenipotentiaire  pres  Sa  Majeste  l'Empereur  d'AlIe- 
magne,  Roi  de  Prusse, 
lesquels,  apres  echange  de  leurs  pleins-pouvoirs,  trouves  en  bonne  et 
due  forme,  sont  convenus  des  articles  suivants: 

Article  I. 
Les  Hautes  Parties  contractantes  se  promettent  mutuellement  paix 
et  amitie,   et  n'entreront  dans  aucune  alliance  ou  engagement  dirige 
contra  l'un  de  Leurs  Etats. 

r  99 


Elles  s'engagent  ä  proceder  ä  un  echange  d'idees  sur  les  questions 
politiques  et  economiques  d'une  nature  generale  qui  pourraient  se 
presenter,  et  se  promettent  en  outre  Leur  appui  mutuel  dans  la  limite 
de  Leurs  propres  interets. 

Article  II. 

Dans  le  cas  oü  I'Italie,  sans  provocation  directe  de  sa  part,  serait 
attaquee  par  la  France  pour  quelque  motif  que  ce  soit,  les  deux  autres 
Parties  contractantes  seront  tenues  ä  preter  ä  la  Partie  attaquee  secours 
et  assistance  avec  toutes  Leurs  forces. 

Cettc  meme  Obligation  incombera  ä  I'Italie  dans  le  cas  d'une 
agression  non  directement  provoquee  de  la  France  contre  TAllemagne. 

Article  III. 
Si  une  ou  deux  des  Hautes  Parties  contractantes,  sans  provocation 
directe  de  Leur  part,  venaient  ä  etre  attaquees  et  ä  se  trouver 
engagees  dans  une  guerre  avec  deux  ou  plusieurs  Grandes  Puissances 
non  signataires  du  present  Traite,  le  „casus  foederis"  se  presentera 
simultanement   pour   toutes   les   Hautes   Parties   contractantes. 

Article  IV. 
Dans  le  cas  oü  une  Grande  Puissance  non  signataire  du  present 
Traite  menacerait  la  securite  des  Etats  de  l'une  des  Hautes  Parties 
contractantes,  et  la  Partie  menacee  se  verrait  par  lä  forcee  de  lui  faire 
la  guerre,  les  deux  autres  s'obligent  ä  observer,  ä  l'egard  de  Leur 
allie,  une  neutralite  bienveillante.  Chacune  se  reserve,  dans  ce  cas, 
la  faculte  de  prendre  part  ä  la  guerre,  si  Elle  le  jugeait  ä  propos,  pour 
faire  cause  commune  avec  Son  allie. 

[--    ^  Article  V. 

■  Si  la  paix  de  l'une  des  Hautes  Parties  contractantes  venait  a  etre 
menacee  dans  les  circonstances  prevues  par  les  articles  precedents, 
les  Hautes  Parties  contractantes  se  concerteront  en  temps  utile  sur 
les  mesures  militaires  ä  prendre  en  vue  d'une  Cooperation  eventuelle. 
Elles  s'engagent,  des-ä-present,  dans  tous  les  cas  de  participation 
commune  ä  une  guerre,  ä  ne  conclure  ni  armistice,  ni  paix,  ni  traite, 
que  d'un  commun  accord  entre  Elles. 

Article  VI. 
L'Allemagne  et  I'Italie,  n'ayant  en  vue  que  le  maintien,  autant 
que  possible,  du  statu  quo  territorial  en  Orient,  s'engagent  ä  user 
de  Leur  influence  pour  prevenir,  sur  les  cotes  et  iles  ottomanes  dans 
la  Mer  Adriatique  et  dans  la  Mer  Egee,  toute  modification  territoriale 
qui  porterait  dommage  ä  l'une  ou  ä  l'autre  des  Puissances  signataires 
du  present  Traite.  Elles  se  communiqueront,  ä  cet  effet,  tous  les 
renseignements  de  nature  ä  s'eclairer  mutuellement  sur  Leurs  propres 
dispositions,   ainsi  que   sur  Celles  d'autres   Puissances. 

100 


Article  VII. 
L'Autriche-Mongrie  et  Tltalie,  n'ayant  en  vue  que  le  maintien, 
autant  que  possible,  du  statu  quo  territorial  en  Orient,  s'engagent  ä 
user  de  Leur  influence  pour  prevenir  toute  modification  territoriale 
qui  porterait  dommage  ä  l'une  ou  ä  Tautre  des  Puissances  signataires 
du  present  Traite.  EUes  se  communiqueront,  ä  cet  effet,  tous  les 
renseignements  de  nature  ä  s'eclairer  mutuellement  sur  Leurs  propres 
dispositions,  ainsi  que  sur  celles  d'autres  Puissances.  Toutefois  dans 
le  cas,  oü,  par  suite  des  evenements,  le  maintien  du  statu  quo  dans 
les  regions  des  Balkans  ou  des  cötes  et  lies  ottomanes  dans  l'Adria- 
tique  et  dans  la  Mer  Egee  deviendrait  impossible,  et  que,  soit  en 
consequence  de  Taction  d'une  Puissance  tierce  soit  autrement,  l'Autriche- 
Hongrie  ou  l'Italie  se  verraient  dans  la  necessite  de  le  modifier  par 
une  occupation  temporaire  ou  permanente  de  Leur  part,  cette  oc- 
cupation  n'aura  Heu  qu'apres  un  accord  prealable  entre  les  deux 
Puissances,  base  sur  le  principe  d'une  compensation  rcciproque  pour 
tout  avantage,  territorial  ou  autre,  que  chacune  d'Elles  obtiendrait 
en  sus  du  statu  quo  actuel  et  donnant  satisfaction  aux  interets  et 
aux  pretentions  bien  fondees  des  deux  Parties. 

Article  VIII. 

Les  stipulations  des  articles  VI  et  VII  ne  s'appliqueront  d'aucune 

maniere    ä    la    question    egyptienne    au    sujet    de    laquelle    les    Hautes 

Parties   contractantes   conservent  respectivement  Leur  liberte   d'action, 

en  egard  toujours  aux  principes  sur  lesquels  repose  le  present  Traite. 

Article  IX. 

L'AlIemagne  et  l'Italie  s'engagent  ä  s'employer  pour  le  maintien 
du  statu  quo  territorial  dans  les  regions  nord-africaines  sur  la  Me- 
diterranee  ä  savoir  la  Cyrenaique,  la  Tripolitaine  et  la  Tunisie.  Les 
representants  des  deux  Puissances  dans  ces  regions  auront  pour  In- 
struction de  se  tenir  dans  la  plus  etroite  intimite  de  Communications 
et  assistance   mutuelles. 

Si  malheureusement,  en  suite  d'un  mür  examen  de  la  Situation, 
l'Allemagne  et  l'Italie  reconnaissaient  l'une  et  l'autre  que  le  maintien 
du  statu  quo  devenait  impossible,  l'Allemagne  s'engage,  apres  un 
accord  formel  et  prealable,  ä  appuyer  l'Italie  en  toute  action  sous 
la  forme  d'occupation  ou  autre  prise  de  garantie,  que  cette  derniere 
devrait  entreprendre  dans  ces  memes  regions  en  vue  d'un  interet 
d'equilibre  et  de  legitime  compensation. 

II  est  entendu  que  pour  pareille  eventualite  les  deux  Puissances 
chercheraient  ä  se  mettre   egalement   d'accord  avec  l'Angleterre. 

Article  X. 
S'il  arrivait  que  la  France  fit  acte  d'etendre  son  occupation  ou 
bien  son  protectorat,  ou  sa  souverainete,  sous  une  forme  quelconque, 

101 


sur  les  territoires  nord-africains,  et  qu'en  consequence  de  ce  fait  PItalie 
crüt  devoir,  pour  sauvegarder  sa  position  dans  la  Mediterranee,  entre- 
prendre  elle-meme  une  action  sur  les  dits  territoires  nord-africainSj  ou 
bien  recourir  sur  le  territoire  fran^ais  en  Europe  aux  mesures  ex- 
tremes, l'etat  de  guerre  qui  s'en  suivrait  entre  i'Italie  et  la  France 
constituerait  ipso  facto,  sur  la  demande  de  Tltalie,  et  ä  la  charge 
commune  de  l'Allemagne  et  de  I'Italie,  le  casus  foederis  prevu 
par  les  articles  II  et  V  du  present  Traite,  comme  si  pareille  even- 
tualite   y   etait   expressement   visee. 

Article  XI. 
Si  les  chances  de  toute  guerre  entreprise  en  commun  contre  la 
France  par  les  deux  Puissances  amenaient  I'Italie  ä  rechercher  des 
garanties  territoriales  ä  l'egard  de  la  France,  pour  la  securite  des 
frontieres  du  Royaume  et  de  sa  position  maritime,  ainsi  qu'en  vue 
de  la  stabilite  et  de  la  paix,  l'Allemagne  n'y  mettra  aucun  obstacle, 
et  au  besoin,  et  dans  une  mesure  compatible  avec  les  circonstances, 
s'appliquera  ä  faciliter  les  moyens   d'atteindre  un  semblable  but. 

Article  XII. 
Les  Hautes  Parties  contractantes  se  promettent  mutuellement  le 
secret  sur  le  contenu  du  present  Traite. 

Article  XIII. 
Les  Puissances  signataires  se  reservent  d'y  introduire  ulterieure- 
ment,  sous  forme  de  protocole  et  d'un  commun  accord,  les  modifica- 
tions   dont   l'utilite   serait  demontree   par  les   circonstances. 

Article  XIV. 
Le  present  Traite  restera  en  vigueur  pour  l'espace  de  six  ans  ä 
partir  de  l'echange  des  ratifications;  mais  s'il  n'avait  pas  ete  denonce 
un  an  ä  l'avance  par  l'une  ou  l'autre  des  Hautes  Parties  contractantes, 
il  restera  en  vigueur  pour  la  meme  duree  de  six  autres  annees. 

Article  XV. 
Les  ratifications  du  present  Traite  seront  echangees  ä  Berlin,  dans 
un  delai  de  quinze  jours,  ou  plus  tot  si  faire  se  peut. 

En  foi  de  quoi,  les  Plenipotentiaires  respectifs  ont  signe  le  present 
Traite,  et  y  ont  appose  le  cachet  de  leurs  armes. 

Fait  ä   Berlin,   en  triple  exemplaire,  le  sixieme  jour  du  mois  de 
mal  mil  huit  cent  quatre-vingt-onze. 

(L.  S.)  V.  Caprivi 
(L.  S.)  Szechenyi 
(L.  S.)  Launay 

102 


Nr.  1427 

Prolocole 

Au  moment  de  proceder  ä  la  signature  du  Traite  de  ce  jour  entre 
l'Allemagne,  l'Autriche-Hongrie  et  l'Italie,  les  Plenipotentiaires  sous- 
signes  de  ces  trois  Puissances,  ä  ce  düment  autorises,  se  declarent 
mutuellement  ce  qui  suit: 

1.  Sauf  reserve  d'approbation  parlamentaire  pour  les  stipulations 
effectives  qui  decouleraient  de  la  presente  declaration  de  principe,  les 
Hautes  Parties  contractantes  se  promettent,  des  ce  moment,  en  matiere 
economique  (finances,  douanes,  chemins  de  fer)  en  sus  du  traitement 
de  la  nation  la  plus  favorisee,  toutes  les  facilites  et  tous  les  avantages 
particuliers  qui  seraient  compatibles  avec  les  exigences  de  chacun  des 
trois  Etats  et  avec  Leurs  engagements  respectifs  avec  les  tierces  Puis- 
sances. 

2.  L'accession  de  l'Angleterre  etant  dejä  acquise,  en  principe, 
aux  stipulations  du  Traite  de  ce  jour  qui  concernent  FOrient,  propre- 
ment  dit,  ä  savoir  les  territoires  de  ['Empire  Ottoman,  les  Hautes 
Parties  contractantes  s'emploieront  au  moment  opportun,  et  pour  autant 
que  les  circonstances  le  comporteraient,  ä  provoquer  une  accession 
analogue  ä  l'egard  des  territoires  nord-africains  de  la  partie  centrale 
et  occidentale  de  la  Mediterranee,  le  Maroc  compris.  Cette  accession 
pourrait  se  realiser  moyennant  acceptation,  de  la  part  de  TAngleterre, 
du  Programme  etabli  aux  articles  IX  et  X  du  Traite  de  ce  jour. 

En  foi  de  quoi,  les  trois  Plenipotentiaires  ont  signe,  en  triple 
exemplaire,  le  present  protocole. 

Fait  ä  Berlin,  le  sixieme  jour  du  mois  de  mai  mil  huit  cent  quatre- 
vingt-onze. 

V.  Caprivi 

Szechenyi 

Launay 

Nr.  1428 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschali 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VIl.  Reuß 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderlen 

Nr.  83  Berlin,  den  8.  Mai  1891 

„Daily  Telegraph"  von  heute  meldet  „Unterzeichnung  neuen  Drei- 
bundsvertrags", angeblich  aus  Berlin.  Ähnliche  Nachricht  kam 
vor  einiger  Zeit  aus  Wien.  Wir  haben  heutige  Meldung  in  „Nord- 
deutscher  Allgemeiner   Zeitung"    dementiert*,    da    im    gegenwärtigen 

*  Das  Dementi  der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung"  lautete: 

„Der  , Daily  Telegraph'   enthält  folgende   aus   Berlin  datierte   und   angeblich 
aus  ,guter  Quelle'  stammende  Mitteilung:  Rudini  sei  im  Interesse  des  euro- 

103 


Moment  jedes  Durchsickern  der  vollen  Wahrheit  in  hohem  Grad  un- 
erwünscht. Vorstehendes  zur  Mitteilung.  Hiesiger  Korrespondent  des 
erwähnten  englischen  Blattes  verkehrt  nicht  im  Auswärtigen  Amt. 
Ist  Herr  Lavino  noch  Wiener  Korrespondent  des  „Daily  Telegraph"? 

Marschall 

Nr.  1429 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Telegramm.   Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  111  Berlin,  den  19.  Juni  1891 

Graf  Launay  hat  mir  heute  ein  Telegramm  des  Marquis  di  Rudini 
vorgelesen,  wonach  letzterer  bei  der  demnächstigen  Beantwortung 
der  Interpellation  Cavalotti  voraussichtlich  in  die  Lage  kommen  wird, 
die  Tatsache  der  stattgehabten  Erneuerung  der  Tripelallianz  bekannt- 
zugeben; zuvor  wünschte  sich  Marquis  di  Rudini  unseres  Einverständ- 
nisses zu  versichern. 

Ich  habe  dem  Botschafter  erwidert,  daß  unsererseits  keinerlei 
Bedenken  gegen  die  Veröffentlichung  der  Tatsache  der  Erneuerung 
bestehen.    Ew.  pp.  bitte  ich,  dies  dem  Grafen  Kälnoky  mitzuteilen. 

Marschall 


päischen  Friedens  und  Italiens  von  der  Rätlichkeit  des  weiteren  Verharrens 
Italiens  beim  Dreibunde  auf  fünf  Jahre  überzeugt.  Die  , schon  unterzeich- 
neten' Vertragsbestimmungen  seien  den  früheren  ähnlich.  Eine  ähnliche  Nach- 
richt ist  bereits  vor  einiger  Zeit  aus  Wien  in  die  Welt  gesetzt  worden.  Wenn 
dieselbe  nunmehr  in  bestimmterer  Form  wieder  aufgewärmt  wird,  so  düi"fte 
nach  unserer  Kenntnis  auch  hierbei  der  Zweck  obwalten,  durch  die  Behaup- 
tung unrichtiger  Tatsachen  Entgegnungen  zu  provozieren,  um  darauf  weitere 
politische  Kombinationen  aufzubauen." 

Auf  dieses  Dementi  hin  meldete  sich  der  Berliner  Korrespondent  des  „Daily 
Telegraph''  J.  L.  Bashford  bei  Holstein  als  Verfasser  des  inkriminierten  Artikels, 
dessen  Unterlagen  er  von  einer  durchaus  vertrauenswürdigen  Autorität  erhalten  zu 
haben  behauptete. 

Unangenehmer  noch  als  die  Indiskretion  des  „Daily  Telegraph"  wurden  im 
Auswärtigen  Amt  Enthüllungen  über  die  Verlängerung  des  Dreibundtraktats 
empfunden,  die  die  „Saale-Zeitung"  am  2.  Juni  aus  „absolut  zuverlässiger"  und 
tatsächlich  ziemlich  genau  orientierter  Quelle  brachte.  Reichskanzler  von  Ca- 
privi  ordnete  aus  diesem  Anlaß  eine  verantwortliche  Vernehmung  des  gesamten 
Botschaftspersonals  in  Rom  wegen  etwaiger  Indiskretionen  an,  die  indessen  negativ 
ausfiel. 

Wenn  also  später  sich  die  Meinung  festsetzte,  als  sei  die  Erneuerung  des 
Dreibundvertrags  mit  zuviel  Geräusch  in  Szene  gesetzt,  so  kann  die  deutsche 
Regierung  keinerlei  Vorwurf  treffen.  Auch  der  deutsche  Kaiser  hat  erst  am 
29.  Juni,  demselben  Tage,  wo  der  italienische  Ministerpräsident  Rudini  in  der 
Kammer  die  Verlängerung  des  Dreibundvertrages  proklamierte  (vgl.  Nr.  1430), 
persönlich  Herrn  Nissen  auf  der  Fahrt  von  Hamburg  nach  Helgoland  eine 
dahingehende   Mitteilung  gemacht 

104 


Nr.  1430 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  188  Rom,  den  29.  Juni  1891 

In  der  heutigen  Senatssitzung  interpellierte  Graf  Taverna  den 
Ministerpräsidenten  wegen  der  umlaufenden  Gerüchte  bezüglich  eines 
Übereinkommens   zwischen   Italien,   England  und  den  Zentralmächten. 

Marquis  Rudini  erwiderte  darauf: 

Der  Senat  kennt  die  Intentionen  betreffs  der  äußeren  Politik, 
Intentionen,  welche  ich  die  Ehre  gehabt  habe,  bei  der  letzten  Dis- 
kussion über  das  Budget  des  Ministeriums  des  Äußern  zu  bezeichnen. 
Es  kann  nicht  schaden,  sie  zu  wiederholen.  Das,  was  Italien  mit  Aus- 
dauer und  Zähigkeit  will,  ist  der  Friede,  weil  es  dies  für  die  Ent- 
wicklung seiner  Institutionen  und  zur  Verbesserung  seiner  ökonomi- 
schen Lage  für  nötig  hält. 

Italien  will  außerdem,  daß  das  Gleichgewicht  in  Europa,  der 
Status  quo,  besonders  im  Mittelmeer  aufrechterhalten  werde. 

Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  datiert  es  nicht  bloß  von  heute,  daß 
die  Regierung  Einverständnisse  zu  haben  und  Übereinkommen  mit 
denjenigen  Mächten  zu  schließen  sucht,  welche  sich  in  derselben 
Ideenrichtung  befinden  und  Interessen  haben,  welche  mit  den  unseren 
Hand  in  Hand  gehen. 

Es  sind  schon  Jahre  her,  daß  mit  England  ein  Ideenaustausch 
stattfand,  und  daß  Fergusson  im  englischen  Parlamente  von  diesem 
Austausche  Mitteilung  machte  und  Gedanken  entwickelte,  welche  durch- 
aus  der   Wahrheit   gemäß   waren. 

Die  beiden  Länder  schlugen  vor,  den  Frieden  und  den  status  quo 
zu  bewahren,  und  ich  sehe  nicht  ein,  daß  hier  eine  Frage  vorliegt, 
in  welcher  die  Anschauungsweise  von  Italien  und  England  nicht  über- 
einstimmend wäre. 

Betreffs  der  Beziehungen  mit  den  Zentralmächten  weiß  man  längst, 
daß  sie  intim  sind,  und  daß  die  Freundschaft  Italiens  für  Deutsch- 
land und  Österreich  lebendig  und  innig  ist.  Die  unterschriebenen 
Traktate  sind  feste  und  sichere  Garantien  des  Friedens.  (Sehr  gut.) 

Der  Moment  des  Ablaufs  der  Traktate  rückte  heran.  Es  war 
natürlich,  daß  dies  eine  Zeit  der  Aufregung,  der  Zweifel  und  der 
Ungewißheit  war,  welche  die  öffentliche  Meinung  in  Italien  und  im 
Auslande  erregten. 

Ich  schloß  deshalb  Übereinkommen  und  bestätige,  daß,  bevor 
noch  die  alten  Verträge  verfallen  sein  werden,  die  neuen  schon  seit 
lange  in  Kraft  sind,  weil  in  der  äußeren  Politik  keine  Unterbrechun- 
gen der  Fortdauer  eintreten  dürfen. 

105 


Unsere  fest  und  aufrichtig  aufrechterhaltenen  Verträge  sichern 
für  lange   Zeit  den   Frieden   Europas.    (Zustimmung.) 

Ich  glaube,  daß  ganz  Europa  anerkennen  muß,  daß  das  Werk  der 
italienischen  Regierung  v/eise  und  friedlich  war.  Zehn  Jahre  der  Er- 
fahrung hätten  genügen  sollen,  das  erhobene  Mißtrauen  zu  beseitigen. 
Ich  hoffe,  daß  diese  meine  neuen  und  freimütigen  Erklärungen  einiges 
der  Erfahrung  hinzufügen  und  alle  überzeugen  werden,  daß  die 
unserigen  Absichten  des  Friedens  und  nicht  der  Aggression  sind.  Der 
Friede  wird  bestehen,  das  Mißtrauen  sich  auflösen. 

Ich  glaube,  daß  die  Regierung  dem  Lande  einen  Dienst  erwiesen 
hat,  und  ich  hoffe,  daß  auch  der  Senat  eine  Politik  billigen  wird,  ein- 
gegeben von  der  Wohlfahrt  Italiens  und  von  dem  lebhaften  Wunsche, 
Italien  eine  starke  Position  in  Europa  zu  sichern.  (Lebhafter  und 
allgemeiner  Beifall.) 

Graf  Solms 


IJIJUAIMMW,WIWIHII  m 


106 


Anhang: 

A.  Aufmarsch-  und  Rüstungsfragen  im  Dreibund 

1891—1892 


Nr.  1431* 

Der  Militäratfachd  in  Wien  Oberstleutnant  von  Deines  an  das 
Preußische  Kriegsministerium 

Abschrift 

Nr.  45  Wien,  den  4.  Juni  1891 

Geheim 

Seine  Majestät  der  Kaiser  sprach  mir  heute  davon,  daß  seitens 
des  italienischen  Generalstabes  der  vertrauliche  Wunsch  geäußert  wor- 
den sei,  mit  dem  eventuellen  Truppentransport  über  die  Alpen  nach 
dem  Elsaß  eintretendenfalls  früher  beginnen  zu  können,  wie  bis  jetzt 
vorgesehen.  Als  Grund  werde  angegeben,  daß  es  geratener  sei,  die 
öffentliche  Meinung  in  Italien  sofort  ^  bei  etwaigem  Kriegsausbruch  vor 
ein  fait  accompli  zu  stellen  und  durch  Engagieren  der  Armee  fort- 
zureißen, als  diesem  leicht  schwankenden  Faktor  Zeit  zu  lassen  zu 
längerer  Überlegung  und  zur  Möglichkeit  entgegengesetzter  Eindrücke. 

Im  italienischen  Kriegsministerium  halte  man  einen  früheren  und 
rascheren  Abtransport  der  betreffenden  Armee  nur  dann  für  ausführbar, 
wenn  von  selten  Österreich-Ungarns  oder  Deutschlands  eine  weiter- 
gehende Aushilfe  an  rollendem  Material,  ganz  besonders  an  Lokomo- 
tiven   bereitgestellt  werden  könne  2, 

Seine  Majestät  äußerten,  daß  es  ihm  sehr  wichtig  und  nützlich 
scheine,  wenn  diesem  Wunsch  der  Italiener  entsprochen  werden  könne 3. 
Sein  Generalstab  sei  aber  zurzeit  außerstand,  eine  nennenswerte 
Mehrleistung  an  Lokomotiven  wie  die  früher  vereinbarte  zusagen  zu 
können;  er  hoffe,  daß  wir  eher  in  der  Lage  sein  würden,  den  Italienern 
entgegenzukommen. 


*  Im  Hinblick  auf  die  anhaltenden  französischen  Bestrebungen,  den  accord  diplo- 
matique mit  Rußland  zu  festen  militärischen  Verabredungen  und  Aufmarschplänen, 
die  sich  ihrer  Natur  nach  nur  gegen  die  Dreibundstaaten  richteten,  zu  erweitern 
(vgl.  Kap.  XLVH),  erscheint  es  zweckmäßig,  die  deutsche  Haltung  in  der  gleichen 
Richtung  nach  Abschluß  des  Dreibundvertrages  von  1891  nachzuprüfen.  Die 
Akten  ergeben,  daß  von  deutscher  Seite  keinerlei  Anregung  zu  irgendwelchen 
militärischen  Abmachungen  ausgegangen  ist,  daß  Deutschland  auch  allen  gegen- 
teiligen Behauptungen  zum  Trotz  keinerlei  Druck  auf  Italien  zur  Verstärkung 
seiner  militärischen  Rüstung  ausgeübt  hat. 

109 


Ich  habe  geglaubt,  dem  Kaiser  sagen  zu  dürfen,  daß  man  in 
Berlin  bei  der  Wichtigkeit  der  Sache  gewiß  geneigt  sein  werde,  die 
Frage  der  Maschinenaushilfe  an  Italien  in  erneute  Erwägung  zu  ziehen*. 

(gez.)  V.  Deines 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  in  Abschrift: 

i  Richtig 

-  ja,  soll  geschehn. 

8  sehr  gern 

*  ja 

Schlußbemerkung  des  Kaisers  in  Abschrift: 
Die  Nachricht  ist  sehr  erfreulich. 

Nr.  1432 

Der  Chef  des  Generalstabes  Graf  Schlieffen  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  432  Berlin,  den  3.  Dezember  1891  * 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  im  Anschluß  an  mein  Schreiben 
vom  5.  6.  d.  Js.  Nr.  3Q8  geheim  hierdurch  zur  geneigten  Kenntnis- 
nahme ganz  gehorsamst  mitzuteilen,  daß  den  nunmehr  eingegangenen, 
bestimmt  formulierten  Wünschen  des  Königlich  italienischen  General- 
stabes betreffs  des  früheren  Abtransports  Königlich  italienischer  Trup- 
pen nach  dem  Rhein  vom  I.April  1892  ab  von  hier  aus  entsprochen 
werden  wird. 

Graf  Schlieffen 

Nr.  1433 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Botschafter  in  Wien 
Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Privatbrief.  Abschrift 

Berlin,  den  25.  August  1891 
Euer  Durchlaucht  beehre  ich  mich  nachstehendes  ganz  vertraulich 
und  unter  Anheimgabe  des  nach  Ihrer  Kenntnis  der  Verhältnisse  und 
Personen  am  zweckmäßigsten  erscheinenden  Gebrauches  mitzuteilen: 
Der  Chef  des  Generalstabes  der  Armee  General  Graf  Schlieffen 
hat  mir  heut  vertraulich  mitgeteilt,  er  habe  einen  Brief  des  Oberst 
von  Deines  erhalten,  worin  dieser  sagt,  es  bestehe  österreichischerseits 
die  Absicht,  den  Ruhetag,  Sonntag,  den  6.  September**,  zu  einem  Kriegs- 

*  Des  Zusammenhangs  wegen  hier  eingereiht. 

**  Kaiser  Wilhelm  II.  beabsichtigte,  sich  am  2.  September  mit  dem  Reichskanzler 
von  Caprivi  nach  Wien  zu  begeben,  um  den  österreichischen  iUanövern,  zu  denen 
auch  der  König  von  Sachsen  eingeladen  war,  beizuwohnen. 

110 


rat  über  einen  etwaigen  künftigen  Feldzug  gegen  Rußland  zu  benutzen 
und  dazu  den  Erzherzog  Albrecht,  Feldzeugmeister  Beck,  den  König 
von  Sachsen,  den  General  Graf  Schlieffen  und  vielleicht  beide  Kaiser 
zu  vereinigen. 

Diese  Idee  erscheint  dem  Grafen  Schlieffen  wie  mir  überaus  un- 
erwünscht. Ich  habe,  da  sie  amtlich  noch  nicht  an  mich  herangetreten 
ist,  und  in  der  Hoffnung,  daß  es  vielleicht  so  weit  gar  nicht  kommt. 
Seiner  Majestät  noch  nicht  davon  gesprochen. 

Zunächst  hätte  ich  dagegen  einzuwenden,  daß  kein  Mensch  wissen 
kann,  unter  welchen  Verhältnissen  der  nächste  Feldzug  beginnen  wird, 
und  daß  deshalb  jedes  Binden  an  ausgesprochene  Pläne  sehr  bedenk- 
lich ist.  Die  Freiheit  des  Handelns,  die  wir  unter  Umständen  vertrags- 
mäßig besitzen,  z.  B.  wenn  Österreich-Ungarn  den  Krieg  vom  Zaune 
bräche,  könnte  durch  solche  Besprechungen  beeinträchtigt  werden.  Wäh- 
rend man  in  Österreich  von  alters  her  an  solche  Kriegsräte  gewöhnt  ist, 
liegt  es  nicht  in  den  preußischen  Gewohnheiten,  dies  die  Verantwortung 
so  leicht  verschiebende  und  das  Handeln  lähmende  Mittel  anzuwenden. 
Soll  nur  der  beiderseitige  Aufmarsch  besprochen  werden,  so  geschieht 
das  am  besten  durch  die  beiden  Chefs  der  Generalstäbe  allein;  alle 
anderen  Teilnehmer  sind  über  die  dabei  in  Betracht  kommenden  De- 
tails zu  wenig  orientiert,  um  ein  begründetes  Urteil  abgeben  zu  können. 
Wollte  man  aber  auch  von  vornherein  alle  bindenden  Beschlüsse  aus- 
schließen, so  bleibt  die  Gefahr,  daß  ein  Meinungsaustausch  trennt, 
statt  zu  verbinden,  daß  Verstimmungen  zurückbleiben.  Bei  aller  hohen 
Verehrung,  die  ich  für  Seine  Majestät  den  König  von  Sachsen  habe, 
scheint  es  mir  doch  nicht  unbedenklich,  ihn  zuzuziehen. 

Endlich  bleibt  zu  erwägen,  welche  Wirkungen  solcher  Kriegsrat 
nach  außen  haben  kann.  Wenn  Graf  Kälnoky  treffend  gesagt  hat,  er 
bedauere,  daß  die  Erneuerung  des  Dreibundes  der  Welt  mit  Pauken 
und  Trompeten  verkündet  sei*,  so  scheint  mir  die  Gefahr  nahe  zu  liegen, 
daß  die  Geburt  eines  Kriegsplanes  ebenso  bekannt  werde.  Der  bloße 
Umstand,  daß  eine  Besprechung  der  bezeichneten  Personen  stattgefun- 
den habe,  mehr  noch  jede  Indiskretion  kann  ausgebeutet  und  zu 
einer  Kriegsdrohung  umgestaltet  werden. 

Das  ganze  Projekt  scheint  mir,  auch  wenn  ich  die  schwierige 
Lage  berücksichtige,  in  welche  Seine  Majestät  unser  Kaiser  dem  so 
viel  älteren  Kaiser  von  Österreich,  dem  Erzherzog  Albrecht,  ja  auch 
dem  König  von  Sachsen  gegenüber  kommen  kann,  so  auffallend,  daß 
ich  nicht  verstehe,  wie  man  es  österreichischerseits  hat  proponieren 
können.  Es  sieht  aus,  wie  wenn  Preußen  majorisiert  und  die  militä- 
rische  Hegemonie   von   Österreich   ausgeübt   werden    solle. 

Auch  daß  Oberst  von  Deines  es  übernommen  hat,  einen  solchen 
Auftrag   an   den    Chef   des   Generalstabs   zu    übermitteln,    setzt   mich 


Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1505. 

111 


dermaßen  in  Erstaunen,  daß  ich  schon  auf  den  Gedanken  gekommen 
bin,  ob  dem  etwa  eine  auf  anderem  Wege  erfolgte  Kommunikation 
mit  unserem  allergnädigsten  Herrn  vorhergegangen  ist. 

Euer  Durchlaucht  würden  mich  durch  eine  baldige  Mitteilung  dar- 
über, ob  und  wie  Sie  dem  Projekt  entgegentreten  können,  zu  verbind- 
lichem Dank  verpflichten.  Vielleicht  ließe  sich  für  den  Sonntag  irgend- 
eine Unternehmung  planen,  welche  den  Tag  für  Seine  Majestät  den 
Kaiser  auf  andere  Weise  ausfüllt  und  den  beiden  Chefs  der  General- 
stäbe die  Möglichkeit  gäbe,  sich  allein  zu  unterhalten. 

(gez.)  v.  Caprivi 


Nr.  1434 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Privatbrief.  Eigenhändig 

Wien,  den  27.  August  1891 
Euerer  Exzellenz 

eigenhändigen  Privatbrief  vom  25.*  habe  ich  heute  mit  gehorsam- 
stem Dank  zu  erhalten  die  Ehre  gehabt. 

Oberstleutnant  von  Deines  hatte  mir  vor  nicht  gar  langer  Zeit 
mitgeteilt,  der  General  von  Beck  habe  ihm  den  Wunsch  ausgesprochen, 
gelegentlich  der  Zusammenkunft  mit  General  Graf  von  Schlieffen  bei 
den  österreichischen  Manövern  die  vertraulichen  Besprechungen  wie- 
der aufzunehmen,  welche  im  Jahre  1888  zwischen  dem  verewigten 
Feldmarschall  Grafen  Moltke  und  dem  Obersten  von  Steininger  über 
den  Aufmarsch  beider  verbündeter  Armeen  für  den  Fall  eines  Krieges 
mit  Rußland  stattgefunden  haben**.  Seit  dieser  Zeit  habe  sich  so  man- 
ches geändert;  die  österreichische  Armee  in  Galizien  sei  verstärkt 
worden,  von  der  Anhäufung  der  russischen  Truppen  gar  nicht  zu 
reden.  Es  sei  dem  hiesigen  Chef  des  Generalstabes  wichtig,  mit  Graf 
Schlieffen,  den  er  nur  wenig  kenne,  nähere  Fühlung  zu  nehmen  und 
die  Gedanken  über  diese  Gegenstände  auszutauschen. 

Wie  mir  Herr  von  Deines  soeben  sagt,  hat  er  den  Brief  an  Graf 
Schlieffen,  von  dem  mir  Euere  Exzellenz  sprachen,  einzig  und  allein 
in  der  Absicht  geschrieben,  daß  dieser  General  durch  solche  Bespre- 
chungen nicht  unvorbereitet  überrascht  würde.  Der  Oberstleutnant 
mißt  sich  selbst  die  Schuld  bei,  wenn  der  Tenor  seines  Briefes  in 
Berlin  den  Eindruck  machen  konnte,  als  beabsichtige  man  österreichi- 
scherseits,  uns  gewissermaßen  in  einen  Kriegsrat  hineinzulocken,  der 
uns  ungelegen  sein  muß.   Herr  von  Deines  versichert  hoch  und  heilig, 

♦  Siehe  Nr.  1433. 

*♦  Vg).  Bd.  VI,  Kap.  XXXVIII. 

112 


daß  hier  ein  solcher  Plan  nicht  vorliege,  daß  man  uns  zu  keinen  mili- 
tärischen Zusagen  nötigen  wolle,  ja,  daß  man  ihm  ausdrücklich  gesagt 
habe,  daß,  wenn  unsererseits  eine  solche  Besprechung  nicht  angeregt 
würde,  von  hier  aus  dies  nicht  geschehen  werde. 

Die  Absicht  des  Herrn  Militärattaches  war  in  erster  Linie  die, 
die  beiderseitigen  Chefs  der  Generalstäbe  näher  zusammenzubringen. 
Denn,  dies  darf  ich  Euerer  Exzellenz  im  engsten  Vertrauen  mitteilen, 
die  Schweigsamkeit  und  das  wenig  entgegenkommende  Wesen  des 
Grafen  Schlieffen  hatten  bei  dessen  Begegnung  mit  General  Beck  in 
Berlin  keinen  sehr  günstigen  Eindruck  auf  letzteren  gemacht. 

Euere  Exzellenz  sind  nun  selbst  damit  einverstanden,  daß  sich 
diese  beiden  Herren  ungestört  und  allein  auch  über  einen  eventuellen 
Aufmarsch  gegen  Rußland  besprechen.  Es  ist  hierbei  nicht  nötig,  daß 
sich  der  eine  oder  der  andere  bindet,  was  früher  auch  nicht  geschehen 
ist.  Die  Österreicher  haben  sich  gewöhnt,  an  uns  hinaufzusehen.  Diese 
gute  Gewohnheit  fallenzulassen,  halte  ich  nicht  für  erwünscht;  na- 
mentlich scheint  es  mir  aber  praktisch,  daß  diese  beiden  Generale 
sich  öfters  sehen  und  sich  genauer  kennenlernen.  Sie  werden  sich  dann 
auch  aus  der  Ferne  besser  verstehen. 

Da,  wie  ich  aus  den  Mitteilungen  des  hiesigen  Militärkabinetts 
und  des  Grafen  Kälnoky  weiß,  Seine  Majestät  am  6.  September  die 
Einladung  zum  Erzherzog  Albrecht  zum  Frühstück  in  Göpfritz  bereits 
angenommen  haben,  und  daß  dabei  auch  der  König  von  Sachsen,  Graf 
Schlieffen,  Baron  Beck  und  andere,  aber  nicht  der  Kaiser  Franz 
Joseph  erscheinen  werden,  so  ist  in  diesem  Arrangement  nichts  mehr 
zu  ändern.  Wohl  aber  wird  dafür  gesorgt  werden,  daß  nach  diesem 
Frühstück,  wo  nach  der  Idee  des  Herrn  von  Deines  die  ominöse  Be- 
sprechung stattgefunden  haben  würde,  die  beiden  Chefs  der  General- 
stäbe sich  isolieren  können,  um,  was  in  den  sehr  besetzten  vorher- 
gehenden Manövertagen  wegen  Mangels  an  Zeit  und  Raum  kaum 
möglich  sein  wird,  sich  ungestört  besprechen  zu  können.  Herr  von 
Deines  wird  dies  auf  meinen  Wunsch  vor  dem  Beginn  der  großen 
Manöver,  wo   er  mit  Baron   Beck  zusammenkommen   wird,    einleiten. 

Ich  habe  außerdem  den  Grafen  Kälnoky  ganz  vertraulich  gebeten, 
er  möge  sein  Augenmerk  darauf  richten,  daß  nichts  geschähe,  was 
nach  außen  hin  Aufsehen  erwecken  könnte.  Es  würden  so  viele  Militär- 
attaches und  andere  fremde  Agenten  in  der  Manövergegend  anwesend 
sein,  die  gewiß  ihre  Spürnase  überall  da  hineinstecken  würden,  wo 
sie  nichts  zu  suchen  hätten.  Beispielsweise,  so  ließ  ich  einfließen, 
könnte  die  Zusammenkunft  so  vieler  Generale  in  Göpfritz,  von  denen 
mehrere  zu  der  Tafel  des  Erzherzogs  gezogen  werden  würden,  wo 
auch  Seine  Majestät  erscheinen  werde,  leicht  Aufmerksamkeit  erregen 
und  zu  Kombinationen  Anlaß  geben.  Er  möge  tun,  was  er  könne,  um 
da  jeden  Anlaß  zu  Verdacht  zu  verhindern. 

Der  Minister  erwiderte  lebhaft:  „Das  fehlte  gerade  noch!    Wir 

8    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  113 


haben  schon  an  dem  Lärm  über  die  Erneuerung  des  Dreibundes  ge- 
nug gehabt," 

Daß  der  Kaiser  von  Österreich  an  diesem  Tage  nicht  nach  Göpfritz 
kommt,  ist  günstig  und  bricht  der  Fii^tion,  daß  ein  Kriegsrat  gehalten 
würde,  die  Spitze  ab. 

Was  den  Verdacht  betrifft,  welchen  Euere  Exzellenz  am  Schluß 
Ihres  Schreibens  aussprechen,  ob  etwa  auf  anderem  Wege  über  den 
Gedanken  der  Abhaltung  eines  Kriegsrates  mit  unserem  allergnädigsten 
Herrn  korrespondiert  worden  sei,  so  ist  dies  von  seiten  des  Oberst- 
leutnant von  Deines  nicht  geschehen. 

Die  Frage,  ob  es  opportun  wäre,  nach  dieser  Seite  hin  Kenntnis 
von  diesem  ganzen  Zwischenfall  zu  geben,  darf  ich  Euerer  Exzellenz 
Ermessen  überlassen  zu  entscheiden.  Das  beste  wäre  gewiß,  wenn 
unser  Kaiser  nicht  von  Kriegsplänen  zu  reden  anfinge.  Geschieht  dies 
nicht,  so  wird  der  Erzherzog  Albrecht,  der  gewiß  gern  mit  ihm  auch 
über  diese  Eventualitäten  spräche,  nicht  davon  anfangen. 

So  gern  die  Österreicher  schon  seit  Abschluß  unseres  Bündnisses 
von  1879  von  uns  bestimmtere  Zusagen  über  eine  Kooperation  für 
jeden  Fall  extrahiert  hätten,  so  hat  ihnen  Fürst  Bismarck  eine  solche 
Velleität  niemals  aufkommen  lassen.  Sie  wissen,  daß  wir  uns  streng 
an  den  Vertrag  halten  und  uns  nicht  binden  lassen  werden.  Einen 
Krieg  vom  Zaune  brechen,  wird  Österreich  niemals,  weil  es  ihn  weniger 
brauchen  kann  als  irgendein  anderes  Reich.  Unleugbar  ist  aber,  daß 
hier  die  Gewißheit  besteht,  daß  wir  Österreich-Ungarn  nicht  zertrüm- 
mern lassen  können.  Und  hieraus  erwächst  naturgemäß  die  Hoffnung, 
daß  Deutschlands  Heere  nicht  abwarten  werden,  bis  Österreich  die 
erste  Niederlage  erlitten  haben  wird.  Auf  ein  Mehr  rechnet  die 
österreichisch-ungarische   Regierung  nicht. 

H.VII.RReuß 


Nr.  1435 
Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  82  Rom,  den  23.  April  1892 

Unterm  21.  März  hatte  ich  die  Ehre  zu  melden,  daß  Marquis  Rudini 
gegen  mich  äußerte,  man  dränge  auf  weitere  Ersparnisse  im  Militär- 
budget, dazu  aber  wolle  er  die  Hand  nicht  bieten*. 

*  Bei  der  seit  langem  bestehenden  Mißlichkeit  der  italienischen  Finanzlage  bildete 
die  Notwendigkeit  der  Ersparnisse  im  Militärwesen  eine  stehende  Rubrik  in  einem 
Teil  der  italienischen  Presse. 

114 


Im  Laufe  der  Verhandlungen,  welche  der  Ministerkrisis*  voran- 
gingen, scheint  Marquis  Rudini  in  bezug  auf  die  Mihtärfrage  an- 
gesichts der  sich  ihm  entgegenstellenden  Schwierigkeiten  schwankend 
geworden  zu  sein,  denn  er  hat  dem  Baron  Brück  vertraulich  die  Frage 
vorgelegt,  was  wohl  eine  italienische  Armeereduktion  in  Österreich 
und  Deutschland  für  einen  Eindruck  machen  würde.  Baron  Brück  hat 
ihm  genau  in  demselben  Sinne  geantwortet,  in  welchem  ich  mich 
früher  einmal  über  diesen  Gegenstand  ausgesprochen  hatte,  daß  es 
besser  gewesen  sein  würde,  zehn  mit  allem  Erforderlichen  ausgerüstete 
Armeekorps  zu  haben,  anstatt  dieselben  auf  zwölf,  die  finanziellen 
Kräfte  des  Landes  übersteigende,  nicht  genügend  organisierte  Armee- 
korps zu  erhöhen  und  dadurch  die  Schlagfertigkeit  der  Armee  in  ihrer 
Gesamtheit  zu  beeinträchtigen**.  Heute  würde  eine  Unterdrückung 
von  zwei  Armeekorps  aus  Ersparnisrücksichten  die  zehn  übrigen  nicht 
verbessern,  sondern  man  würde  nur  statt  der  früheren  zwölf  mangel- 
haft ausgerüsteten  Korps    deren  zehn  in  gleicher  Verfassung  besitzen, 

Baron  Brück  hat  dem  Grafen  Kälnoky  hierüber  Bericht  erstattet 
und  um  Weisung  gebeten,  wie  er  sich  dieser  Frage  gegenüber  ver- 
halten solle. 

Graf  Kälnoky  hat  erwidert,  er  sei  mit  der  von  Baron  Brück  ge- 
äußerten Ansicht  ganz  einverstanden,  möge  aber  dem  Marquis  Rudini 
raten,  sich  bezüglich  der  Armeeorganisation  vor  allem  mit  Deutsch- 
land ins  Einvernehmen  setzen.  Die  deutsche  Heeresleitung  habe  bei 
Feststellung  ihrer  Operationspläne  die  italienische  Armee  jedenfalls 
zu  zwölf  Armeekorps  berechnet.  Wenn  Italien  dieselben  plötzlich  auf 
zehn  reduziere,  so  würde  das  voraussichtlich  die  deutschen  Berech- 
nungen wesentUch  stören. 

Baron  Brück  hat  jedoch  diesen  Auftrag  bis  jetzt  nicht  aus- 
geführt und  will  warten,  bis  Marquis  Rudini  noch  einmal  auf  die 
Sache  zurückkommt,  weil  er  glaubt,  daß  es  meine  Sache  sei,  die  An- 
sichten Deutschlands  der  italienischen  Regierung  gegenüber  zu  ver- 
treten, und  weil  er  befürchtet,  Marquis  Rudini  könne  den  Verdacht 
schöpfen,  daß  wir,  Baron  Brück  und  ich,  auf  Grund  gemeinsamer 
Verabredung  einen  lästigen  Druck  auf  ihn  ausüben  wollten. 

Graf  Solms 


*  Am  H.April  hatte  Ministerpräsident  di  Rudini  infolge  von  Meinungsverschieden- 
heiten im  Ministerrat  über  die  dem  Parlament  zu  unterbreitenden  Finanzvorschläge 
dem  Könige  die  Demission  des  Kabinetts  unterbreitet;  es  kam  jedoch  zu  einer 
Rekonstruktion  des  Kabinetts  unter  Neubesetzung  des  Finanzministeriums. 
**  Die  Vermehrung  der  italienischen  Armee  von  zehn  auf  zwölf  Armeekorps  war 
im  Verfolg  des  Gesetzes  vom  29.  Juni  1882  vor  sich  gegangen. 


115 


Nr.  1436 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  83  Rom,  den  24.  April  1892 

Bei  dem  heutigen  Empfange  des  diplomatischen  Korps  kam  Marquis 
Rudini  auf  seine  Unterhandlungen  mit  dem  General  Ricotti*  zu  spre- 
chen. Er  sagte,  man  werde  entweder  die  Cadres  oder  die  Dienstzeit 
verringern  müssen;  anders  i<omme  man  aus  der  schwierigen  Lage  nicht 
heraus.  Die  zwölf  Armeekorps  entsprächen  in  ihrer  Organisation  nicht 
den  Anforderungen,  welche  man  heute  an  die  Schlagfertigkeit  einer 
Armee  stelle.  Es  werde  praktischer  sein,  die  Armee  um  zwei  Korps 
zu  verringern  und  dafür  die  zehn  übrigen  kriegsmäßiger  zu  organisieren. 

Nach  Ansicht  des  Generals  Ricotti  werde  der  Krieg  eines  Tages 
so  schnell  ausbrechen,  daß  man  zu  einer  selbst  schnellen  Mobilmachung 
keine  Zeit  haben  werde,  sondern  schon  im  Frieden  so  gerüstet  sein 
müsse,  daß  man  sofort  die  nötigen  Truppen  zur  Hand  habe,  um  un- 
mittelbar nach  der  Kriegserklärung  in  die  Aktion  eintreten  zu   können. 

Der  General  sei  überzeugt,  daß  die  Truppen  an  der  Grenze  bei 
Ausbruch  eines  Krieges  nicht  Zeit  haben  werden,  ihre  Reserven  ab- 
zuwarten, sondern  daß  man  das,  was  man  gerade  zur  Hand  habe, 
zum  Vorstoß  oder  zur  Verteidigung  werde  verwenden  müssen. 

Deshalb  komme  es  weniger  auf  die  Zahl  der  Cadres  an,  sondern 
auf  eine  möglichst  hohe  Friedens-Präsenz-Stärke.  Als  Minimum  für  die 
Kompagnie  im  Frieden  rechne  er  175  Mann,  für  den  Krieg  —  wie  in 
Preußen  —  250  Mann,  weil  heute  die  Kompagnie  die  taktische  Einheit 
geworden  sei  und  diese  mindestens  ebenso  stark  sein  müsse  als  die 
des  mutmaßlichen  Feindes.  Auch  wolle  er,  daß  die  Kompagniechefs 
wieder  beritten  gemacht  werden. 

General  Ricotti  sage,  es  sei  notwendig,  die  Offiziere  schon  im 
Frieden  zu  gewöhnen,  stärkere  Truppenkörper  zu  kommandieren;  dies 
sei  nützlich  für  ihre  eigene  Ausbildung  und  hebe  das  moralische  Be- 
wußtsein: „Geben  Sie  einem  Major  30  Mann  zu  kommandieren,  so  wird 
er  ein  Sergeant,  und  geben  Sie  einem  Sergeanten  ein  Bataillon,  so 
wird  er  ein  Major." 

General  Ricotti  will  also  zwei  Armeekorps  auflösen,  von  der 
Infanterie  fünfzehn  Regimenter  abschaffen,  dafür  aber  die   übrigen   Re- 


*  Der  frühere  langjährige  Kriegstninister  General  Ricotti  war  bei  der  Ministerkrise 
Mitte  April  als  Nachfolger  des  Kriegsministers  Pelloux  in  Frage  gel<ommen;  doch 
trat  dieser  auch  in  das  rei<onstruiertc  Ministerium  über.  Der  Militärattache  von 
Engclbrecht  nennt  Ricotti  in  seinem  Bericht  vom  5.  Mai  „den  Organisator  und 
gründlichsten  Kenner  der  Armee,  der  Chauvinismus,  persönliche  Interessen  und 
Popularität  nicht  kennt,  der  gesunde  und  solide  konstituierte  Einheiten  im  Frieden 
haben  will". 

116 


gimenter  der  Armee  so  verstärken,  daß  sie  per  Kompagnie  im  Frieden 
175  und  im  Kriege  250  Mann  stark  sind  und  nötigenfalls  sofort  aus- 
rücken können,  pp. 

Ich  habe  dem  Marquis  Rudini,  als  er  geendet  hatte,  erwidert,  seine 
Auseinandersetzung  hätte  mich  in  hohem  Grade  interessiert,  indessen 
bliebe  ja  jetzt  der  General  Pelloux  als  Kriegsminister  im  Amte,  und 
der  sowohl,  wie  der  General  Cosenz*,  hätten  sich  meines  Wissens 
auf  das  energischste  für  beibehalten  der  zwölf  Armeekorps  ausge- 
sprochen; oder  solle  ich  aus  seiner  Mitteilung  entnehmen,  daß  er 
trotz  der  anscheinenden  Beilegung  der  Ministerkrisis  mit  der  Absicht 
umgehe,  den  General  Pelloux  durch  den  General  Ricotti  zu  ersetzen? 

Der  Marquis  erwiderte,  wie  die  Sache  sich  mit  dem  Ministerium 
gestalten  werde,  wisse  er  selbst  noch  nicht.  Etwas  müsse  im  Heere 
geschehen,  denn,  wiederholte  er,  eine  Verminderung  der  Cadres  oder 
eine  Abkürzung  der  Dienstzeit  werde  unvermeidlich  sein.  Schließlich 
fragte  er,  was  ich  zu  der  Sache  meinte. 

Ich  entgegnete,  wir  seien  seinerzeit  mit  der  Vermehrung  der 
Armee  um  zwei  Armeekorps  nicht  einverstanden  gewesen,  weil  man 
bei  uns  vorausgesehen  habe,  daß  die  Maßregel  sich  nur  auf  Kosten 
der  Kriegsbereitschaft  der  italienischen  Armee  überhaupt  würde  ins 
Werk  setzen  lassen.  Diese  Voraussicht  hätte  sich  leider  in  gewisser 
Beziehung  bestätigt.  Obgleich  ich  den  Absichten  des  Generals  Ricotti 
den  praktischen  Wert  nicht  absprechen  wollte,  so  wäre  bei  den  oft 
eintretenden  Finanzverlegenheiten  schwer  zu  sagen,  ob  der  General 
bei  der  Ausführung  seiner  Pläne  nicht  wiederholentlich  auf  Hinder- 
nisse stoßen  würde,  sodaß  man  schließlich  statt  der  zwölf  nicht 
ganz  gut  organisierten  Korps  deren  zehn  ebenfalls  minderwertige  haben 
würde.  Außerdem  würde  doch  auch  der  moralische  Eindruck  zu  be- 
rücksichtigen sein,  wenn  es  plötzlich  hi^ße,  Italien  reduziert  seine 
Armee,  weil  es  die  Rüstung  finanziell  nicht  mehr  tragen  könne. 

Der  Marquis  beteuerte,  daß  es  sich  um  eine  Verstärkung  und 
nicht  um   eine  Schwächung  der  Wehrkraft  des   Landes   handle. 

Dieser  Konversation  habe  ich  entnommen,  daß  Marquis  Rudini 
für  seine  Person  ganz  der  Ansicht  beigetreten  ist,  die  Armee  müsse 
um  zwei  Korps  vermindert  werden;  daß  er  überzeugt  ist,  die  Armee 
sei  in  ihrer  heutigen  Organisation  nicht  schlagfertig  genug,  um  einem 
Kriege  ruhig  entgegensehen  zu  können;  daß  er  in  dem  Plane  Ricottis, 
zehn  feste  Armeekorps  zu  schaffen,  eine  größere  Garantie  für  die 
Sicherung  Italiens  erblickt  als  in  dem  Plane  Pelloux',  so  viel  Cadres 
zu  schaffen,  daß  die  größtmöglichste  Zahl  Militärtauglicher  darin  Platz 
hat,  und  endlich,  daß  ihm  sehr  viel  daran  liegt  zu  erfahren,  wie  unsere 
allerhöchste  Regierung  den  oben  entwickelten  Plan  Ricottis  beurteilt, 
um   sich  aus  unserm  Ausspruch,  wenn   er  im  Sinne  Ricottis  ausfiele, 


*  Chef  des  italienischen  Generalstabes. 

117 


eventuell  eine  Waffe  gegen  den  General  Pelloux  zu  machen,  wozu 
es  meines  gehorsamsten  Dafürhaltens  nicht  gut  sein  würde,  die  Hand 
zu  bieten. 

Ich  halte  mich  weder  für  kompetent  noch  befugt,  diesen  Plan 
ohne  eine  bestimmte  Instruktion  Euerer  Exzellenz  mit  dem  Marquis 
Rudini  zu  diskutieren.  Ich  habe  ihn  weder  gebilligt,  noch  habe  ich 
ihn  bekämpft,  denn  daß  die  zwölf  vorhandenen  Armeekorps  bei  einer 
so  minimalen  Friedens-Präsenz-Stärke,  wie  sie  jetzt  vorhanden  ist,  im 
Falle  einer  plötzlichen  Mobilmachung  ungleich  weniger  leistungsfähig 
sein  werden  als  zehn  bereits  im  Frieden  solid  zusammengefügte,  wohl 
ausgerüstete  Korps  scheint  mir  ebenso  unbestreitbar,  wie  daß  eine 
Armeereduktion  Italiens  politisch  auf  das  Ausland  den  Eindruck  der 
Schwäche  machen  wird. 

Ich  werde  dem  Kaiserlichen  Militärattache  Oberst  von  Engelbrecht 
von  diesem  Berichte  Kenntnis  geben,  sobald  er  von  Urlaub  zurück- 
gekehrt sein  wird. 

Graf  Solms 

Nr.  1437 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall  für  den  Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi, 

z.  Z.  in  Karlsbad 

Eigenhändig 

Berlin,  den  29.  April  18Q2 

Euer  Exzellenz  beehre  ich  mich  die  heute  eingegangenen  Berichte 
des  Grafen  Solms  über  die  Reorganisation  der  italienischen  Armee* 
mit  dem  gehorsamsten  Anfügen  vorzulegen,  daß  ich  die  Vorlage  der- 
selben an  Seine  Majestät  nicht  für  zweckmäßig  erachte,  vielmehr,  falls 
Euer  Exzellenz  damit  einverstanden  sind,  Immediatvortrag  über  die- 
selben in  dem  Sinne  zu  halten  gedenke,  daß  wir  es  der  italienischen 
Regierung  in  der  Hauptsache  überlassen  müssen,  auf  welchem  Wege 
sie  die  Erhaltung  der  Wehrkraft  Italiens  und  damit  seiner  europäischen 
Stellung  mit  den  Bedürfnissen  der  gegenwärtigen  finanziellen  Lage 
in  Einklang  bringen  will.  Die  Haltung  der  französischen  Blätter,  welche 
triumphierend  verkünden,  daß  Italien  unter  der  Last  der  Dreibunds- 
politik zusammenbreche,  daß  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  einen 
starken  Druck  in  Rom  gegen  jede  Verminderung  der  Heeresausgaben 
ausübten,  und  daß  die  Berliner  Reise  der  italienischen  Herrschaften** 
wesentlich  den  Zweck  verfolge,  die  Zustimmung  der  deutschen  Re- 
gierung zu  einer  Schwächung  der  italienischen  Wehrkraft  zu   erhalten, 

*  Siehe  Nr.  1435  und  Nr.  1436. 

**  Der   Besuch  des   italienischen  Königspaares  am  deutschen  Kaiserhofe  erfolgte 

vom  20.  bis  24.  Juni   1892. 

118 


zeigt,  nach  welcher  Seite  die  französischen  Wünsche  liegen.  Das  Bild, 
daß  Italien  die  Last  nicht  mehr  tragen  kann,  aber  dem  Drucke  Deutsch- 
lands weichend  auf  die  Gefahr  finanziellen  Ruins  weitertragen  muß, 
hat  in  Paris  natürlich  etwas  sehr  Verlockendes.  Ich  bin  der  Ansicht, 
daß  Italien  selbst  wissen  muß,  was  es  zu  tun  hat.  So  bedauerlich  auch 
der  moralische  Eindruck  wäre,  den  eine  Reduktion  der  italienischen 
Armee  oder  auch  nur  eine  erhebliche  Verminderung  der  Heeresaus- 
gaben nach  sich  ziehen  müßte,  so  wäre  es  meines  Erachtens  doch 
politisch  viel  bedenklicher,  wenn  wir  jetzt  die  Italiener  bereden  woll- 
ten, wider  bessere  Einsicht  ihre  Heeresausgaben  auf  derselben  Höhe 
zu  erhalten,  sofern  damit  die  bisherige,  auf  die  Dauer  absolut  ruinöse 
Defizitwirtschaft  fortbestehen  würde.  Die  logische  Folge  wäre,  daß 
man  wie  seither  die  Defizits  durch  Anleihen  decken  würde  —  und 
dazu  müßte  der  deutsche  Markt  herhalten  —  und  sich  dann  Italien 
eines  Tages  in  derselben  Lage  befände  wie  heutzutage  Portugal.  —  Die 
poUtischen  Folgen  einer  solchen  Gestaltung  der  Dinge,  —  ganz  ab- 
gesehen von  den  wirtschaftlichen,  die  doch  auch  recht  bedauerlich  für 
uns  wären,  bedürfen  keiner  Darlegung. 

Ich  würde  also  vom  politischen  Gesichtspunkte  empfehlen,  daß 
Graf  Solms  sich  auch  fernerhin  der  größten  Reserve  befleißigt. 

Marschall 

Nr.  1438 

Der  Reichskanzler  Oraf  von  Caprivi,  z.  Z.  in  Karlsbad,  an  den 
Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Karlsbad,  den  30.  April  1892 
Euer   Exzellenz  sende  ich   die  Aufzeichnung  betreffend   eine   Re- 
duktion der  italienischen  Armee*  nebst  Anlagen  unter  verbindlichem 
Danke  zurück. 

Ich  bin  mit  der  Behandlung  der  Sache  im  Immediatvortrag  ein- 
verstanden und  teile  die  Ansicht,  daß  man  Italien  überlassen  sollte, 
selbst  zu  beurteilen,  wie  weit  es  in  der  Schwächung  seiner  Armee 
gehen  kann.  Auch  die  Überzeugung  teile  ich,  daß  ein  finanzieller 
Ruin  ItaHens  uns  in  mehr  wie  einer  Beziehung  mitschädigen  müßte. 

Ich  würde  eine  Reduktion  der  italienischen  Armee  um  ein  Sechstel 
mehr  als  eine  politische,  ideelle  wie  als  eine  militärische,  reale 
Schwächung  des  Dreibundes  ansehen.  Stellt  man  die  Heeresstärken  des 
Dreibundes  denen  der  Franzosen  und  Russen  gegenüber,  so  verschiebt 
sich  das  ohnehin  ungünstige  Verhältnis  allerdings  noch  mehr  zu  unseren 
Ungunsten,  sobald  Italien  zwei  Armeekorps  eingehen  läßt.    Die  Vor- 

*  Siehe  Nr.  1437. 

119 


Stellung  der  Welt  von  der  Stärke  des  Bundes  wird  eine  Einbuße 
erleiden. 

Faktisch  aber  kann  Italien  im  Falle  eines  Krieges  gegen  Rußland  und 
Frankreich  außerhalb  seiner  eigenen  Grenzen  und  über  das  Maß  dessen 
hinaus,  was  es  an  französischen  Streitkräften  von  uns  ab-  und  auf  sich 
zieht,  nur  dadurch  wirken,  daß  es  den  Österreichern  den  Rücken  deckt 
und  mit  einem  Teil  seiner  Truppen  zu  uns  über  die  Alpen  kommt.  In 
bezug  auf  die  österreichische  Rückendeckung  ändert  sich  nichts,  auch 
bei  nur  zehn  Armeekorps.  In  bezug  auf  das  Erscheinen  nördlich  der 
Alpen  braucht  sich  nichts  zu  ändern,  sobald  man  sich  in  Italien  ent- 
schließt, dem  Schutz  der  eigenen  Grenzen  und  Küsten  nicht  mehr 
Truppen  zuzuwenden  als  unumgänglich.  Die  Frage  aber,  ob  man 
überhaupt  mit  einem  Teil  der  Kräfte  den  direkten  Anschluß  an  uns 
suchen  wird,  hängt  davon  ab,  ob  man  in  hinreichender  Stärke  die  Über- 
zeugung gewinnt  und  sie  nicht  nur  den  Staatsmännern,  sondern  auch  der 
öffentlichen  Meinung  Italiens  beibringt,  daß  das  Schicksal  dieses  Landes 
im  nächsten  Kriege  nicht  auf  seinem  Grund  und  Boden,  sondern  am 
Rhein  entschieden  werden  wird.  Daß  solche  Überzeugung  Allgemein- 
gut des  beängstigten  Landes  werden  sollte,  ist  unwahrscheinlich;  ge- 
schähe es  aber,  so  wird  die  in  Rede  stehende  Reduktion  kein  Hindernis 
sein,  uns  direkt  die  Hand  zu  bieten.  Überwiegt  dagegen  die  Sorge 
für  die  eigenen  Penaten,  so  werden  wir  am  Rhein  allein  schlagen, 
auch  bei  der  jetzigen  Stärke  des  italienischen  Friedensstandes.  Sehr 
wesentlich  wird  auf  die  Entscheidung  dieser  Frage  der  Gang  der 
Dinge  zur  See  einwirken.  Nimmt  ein  englisch-italienischer  Seesieg 
den  Italienern  die  Sorge  um  ihre  Küsten  und  Inseln,  so  können  sie 
auch  von  zehn  Armeekorps  fünf  über  die  Alpen  schicken.  Geschieht 
das  nicht,  so  kommt  auch  von  zwölfen  keins. 

Im  übrigen  hat  die  Überspannung  der  italienischen  Wehrkraft  im 
Frieden  für  uns  die  Gefahr,  die  zu  Herrn  Crispis  Zeiten  nahe  genug 
lag,  daß  man,  um  aus  der  drückenden  Lage  herauszukommen,  aben- 
teuerliche Unternehmungen  in  Nordafrika,  trotz  der  üblen  Erfahrungen 
mit  Massaua,  entrieren  könnte.  Tragen  Rüstungen  den  Charakter  des 
ad  hoc,  so  muß  schließlich  ein  hoc  gefunden  werden,  sobald  die 
Last  unerträglich  wird,  oder  man  muß  zurückschrauben.  Reduziert 
Italien  seine  Wehrkraft,  so  vermindert  sich  die  Gefahr,  daß  ein  Krieg 
frivol  provoziert  werden  könnte.  Bei  Ablauf  der  fixierten  Periode  des 
Dreibundes  werden  wir  zu  erwägen  haben,  ob  sich  die  Zusicherung 
unserer  Mitwirkung  bezüglich  Nordafrikas  nicht  der  reduzierten  mili- 
tärischen Leistungsfähigkeit  Italiens  gegenüber  einschränken  läßt. 

Es  scheint  auch  mir  rätlich,  den  Grafen  Solms  anzuweisen,  daß 
er  sich  großer  Reserve  befleißige.  Es  wird  sich  empfehlen,  daß  er 
sich  jedes  Eingehens  auf  die  überdies  aus  den  Anlagen  gar  nicht  zu 
beurteilenden,  anscheinend  sehr  unreifen  italienischen  Organisations- 
pläne enthalte,  dagegen  aber  selbst  oder  durch  den  Militärattache   ge- 

120 


legentlich  dahin  wirke,  daß  die  Idee,  italienische  Truppen  eventuell 
über  die  Alpen  zum  Anschluß  an  die  unsrigen  kommen  zu  lassen, 
nicht  aufgegeben  wird.  Das  wird  auch  nach  einer  Reduktion  des  ita- 
lienischen Friedensstandes,  wahrscheinlich  sogar  in  der  früher  ver- 
abredeten Stärke,  ebenso  möglich  bleiben  wie  bisher. 

Euere  Exzellenz  bitte  ich  ergebenst,  bei  dem  Immediatvortrag  dies 
als  meine  Ansicht  gefälligst  zum  Ausdruck  bringen  zu  wollen. 

v.  Caprivi 

Nr.  1439 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.QQ  Rom,  den  S.Mai  1892 

Geheim 

Eurer  Exzellenz  beehre  ich  mich  anliegend  einen  Bericht  des 
Militärattaches  Oberst  von  Engelbrecht*  gehorsamst  einzureichen. 

Der  Schlußsatz  desselben  deutet  die  Schwierigkeiten  an,  welche 
Seiner  Majestät  dem  Könige  daraus  entstehen,  daß  er,  um  in  seiner 
ritterlichen  Gesinnung  das  Verhältnis  zum  Bundesgenossen  nicht  zu 
lockern,  es  vorzieht,  wegen  des  Bestandes  der  Armee  und  der  Flotte 
den  Kampf  mit  den  inneren  Schwierigkeiten  aufzunehmen  und  ihnen 
die  Stirn  zu  bieten. 

Ich  habe  in  der  letzten  Zeit  so  vielfach  Gelegenheit  gehabt,  mit 
den  maßgebenden  Persönlichkeiten  über  diese  Militärfragen  und  die 
großen  finanziellen  Verlegenheiten  zu  sprechen,  welche  die  öffentliche 
Meinung  immer  wieder  als  von  der  Militärlast  unzertrennlich  auffaßt, 
daß  sich  mir  unwillkürlich  die  Frage  aufgedrängt  hat,  ob  es  nicht 
vielleicht  unserem  eigenen  Interesse  entsprechen  würde,  wenn  wir 
Seiner  Majestät  dem  Könige  aus  eigenem  Antriebe  zu  verstehen  geben, 
daß  wir  einen  größeren  Wert  auf  eine  gesunde  Gestaltung  der  inneren 
Verhältnisse  Italiens  legen  als  auf  die  Aufrechterhaltung  einer  größe- 
ren Zahl  unvollkommen  gerüsteter  Armeekorps.  Damit  würde  unseren 
Widersachern  zugleich  die  Waffe  genommen  werden,  welche  uns  für 

*  Der  Bericht  des  Militärattaches  vom  5,  Mai  behandelte  die  Vorschläge  des 
Generals  Ricotti  über  eine  Armeereduktion.  Am  Schlüsse  des  Berichtes,  wo  von 
der  Nichtgenehmigung  dieser  Vorschläge  durch  König  Humbert  die  Rede  war, 
hieß  es:  „Für  diese  Entscheidung  sind  Motive  moralischer  Natur  und  Rücksichten 
auf  die  äußere  Politik  leitend  gewesen.  Im  Hinblick  auf  letztere  steht  Deutsch- 
land als  Alliierter  hier  einer  wahrhaft  königlichen  Gesinnung  gegenüber.  Vor 
jnnern  Schwierigkeiten  wird  nicht  zurückgescheut,  um  das  Verhältnis  zum  Bundes- 
genossen nicht  zu  lockern,  und  kann  dieser  daher  nur  wünschen,  daß  die  Krone 
in  diesem  edlen  Streben  nicht  bis  an  die  äußerste  Grenze  eines  möglicheaveise 
für  die  Armee  gefährlichen  Widerstandes  gedrängt  werde." 

121 


den  Ruin  Italiens  verantwortlich  machen,  angeblich  weil  wir  unserem 
Bundesgenossen   eine  unerträgliche   Rüstung  auferlegen. 

Die  in  meinem  Berichte  Nr,  83  vom  24.  April  er.*  gemachte  kon- 
fidentielle  Anfrage  Rudinis  könnte  als  Anknüpfung  dienen. 

Seine  Majestät  der  König  würde  von  selbst,  ohne  von  uns  ermutigt 
zu  sein,  auf  keinen  Fall  eine  Armeereduktion  genehmigen  und  sich 
eher  inneren  Schwierigkeiten  aussetzen,  die  momentan  gar  nicht  zu 
berechnen  sind, 

Graf  Solms 

Nr.  1440 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Grafen  zu  Solms-Sonnenwalde 

Telegramm.  Reinkonzept 

Nr.  72  Berlin,  den  15.  Mai   1892 

Prinz  Reuß  telegraphiert:  „Italienische  Regierung  hat  hier  an- 
fragen lassen,  wie  Wiener  Kabinett  eventuelle  Reduzierung  der  Armee 
um 'zwei  Korps  auffassen  würde. 

Graf  Kälnoky  hat  geantwortet,  er  könne  gegen  diese  Maßregel 
an  und  für  sich  nichts  einwenden,  möchte  aber  nicht  dazu  raten,  weil 
der  Eindruck  auf  die  öffentliche  Meinung  kein  guter  sein  würde.** 

Ebenso  hat  Seine  Majestät,  unser  allergnädigster  Herr,  nach 
Kenntnis  Ew.pp.  Bericht  Nr.  99**  sowie  des  beigefügten  MiUtärberichts 
verfügt,  daß  von  allen  Ratschlägen  bezüglich  der  italienischen  Heer- 
verfassung unsererseits  abzusehen  ist. 

Marschall 

Nr,  1441 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Rom  Grafen  zu  Solms-Sonnenwalde 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  74  Beriin,  den  21.  Mai  1892 

Vervollständigung  des  Telegramms  Nr.  72. 

Wir  können  erwarten,  daß  die  Interpellation  Imbriani***  und  Ge- 
nossen dahin  beantwortet  werden  wird,  daß  wir  auf  die  Entschließungen 


*  Siehe  Nr.  1436. 
**  Siehe  Nr.  1439. 

***  Am  19.  Mai  1891  hatte  die  „Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung"  einen  ausführ- 
lichen Artikel  über  „Italiens  militärische  Machtstellung"  gebracht,  der  das  fort- 
schreitende militärische  Erstarken  des  italienischen  Verbündeten  mit  freudigster 
Zustimmung  begrüßte.  Gleichzeitig  brachten  die  „Hamburger  Nachrichten"  vom 
19.  Mai  einen  Artikel  des  Fürsten  Bismarck  „Der  Druck  auf  Italien",  der  dringend 

122 


Italiens  in  der  Rüstungsfrage  keinerlei  Druck,  überhaupt  keinerlei  Ein- 
wirkung geübt  und  nicht  mal  einen  Wunsch  ausgesprochen  haben,  da 
wir  in  der  Tat  von  der  Überzeugung  ausgehen,  daß  die  italienische 
Regierung  am  besten  in  der  Lage  ist,  italienische  Interessen  zu  be- 
urteilen. 

Der  Artikel  der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung"  ist  eine 
Arbeit  der  Redaktion,  welche  weder  mir  noch  dem  poHtischen  Dezer- 
nenten vorher  bekannt  war. 

Ew.  pp,  wollen  sich  im  Sinne  des  Vorstehenden  womöglich  noch 
vor  der  Sitzung  gegen  den  Minister  äußern. 

Marschall 


davor  warnte,  „auf  Italien,  wenn  es  sich  in  finanzieller  Schwierigkeit  befindet, 
irgendwelchen  Druck  zwecks  Erhöhung  seiner  Militärmacht  auszuüben  und  dies 
mit  Dreibundsrücksichten  zu  motivieren".  Vgl.  H.  Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890 
bis  1898,  Bd.  II  (1913),  S.  70.  Infolge  dieser  beiden  Artikel  beabsichtigte  der  irre- 
dentistischc  und  dreibundfeindliche  Abgeordnete  Imbriani  eine  Interpellation  in 
der  italienischen  Kammer  einzubringen,  jedoch  gelangte  dieser  Gedanke  nicht  zur 
Ausführung.  Der  neuernannte  Minister  des  Äußern  Brin  bestätigte  dem  Grafen 
Solms  am  21.  Mai,  er  habe  nie  gehört,  daß  von  selten  der  deutschen  Regierung 
jemals  ein  Rat  erteilt  oder  auch  nur  eine  Meinung  geäußert  sei  über  die  Stärke- 
verhältnissc  der  italienischen  Streitkräfte.  Daß  Italien  keinerlei  internationale  Ver- 
pflichtungen zu  Rüstungen  übernommen  habe,  hatte  übrigens  Rudini  schon  am 
21,  März  1S92  in  der  italienischen  Kammer  auf  eine  Insinuation  Imbrianis  erwidert. 


123 


I 


B.  Der  erneuerte  Dreibund 

und  das  Italienisch -Französische  Verhältnis 

1893—1895 


Nr.  1442 

Aufzeichnung  des  Unterstaatssekretärs  im  Auswärtigen  Amt 

Freiherrn  von  Rotenhan 

Eigenhändig 

Berlin,  den  20.  August  1893 
Der  italienische  Geschäftsträger  teilt  mir  mit,  da  der  Maire  von 
Aigues-Mortes  öffentlich  das  Vorgehen  der  französischen  Arbeiter  gegen 
die  italienischen*  für  berechtigt  erklärt  habe,  sei  der  italienische  Bot- 
schafter zu  Paris  angewiesen  worden,  die  Bestrafung  bzw.  Absetzung 
dieses  Beamten  in  Paris  zu  verlangen.  Wenn  Frankreich  dem  nicht  bald 
stattgebe,  halte  die  italienische  Regierung  die  Lage  für  ernst  und 
fühle  sich  daher  verpflichtet,  ihren  Verbündeten  über  den  Vorfall  eine 
Mitteilung  zu  machen. 

Rotenhan 

Nr.  1443 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  118  Rom,  den  20.  August  1893 

Minister  Brin  hat  bei  der  französischen  Regierung  zweimal,  bis- 
her vergeblich,  Satisfaktion  für  Aigues-Mortes  beantragt.  Minister  De- 
velle**  ist  von  Paris  abwesend,  der  Minister  des  Innern***  anscheinend 
mit  Wahlen  zu  beschäftigt,  um  den  Botschafter  zu  empfangen,  der  nur 
mit  Räten  verhandelt  hat  Italien  verlangt  mindestens  Maßregelung  des 


*  In  Aigues-Mortes  bei  Marseille  hatten  am  17.  August  schwere  Zusammenstöße 
zwischen  französischen  und  italienischen  Arbeitern  stattgefunden,  bei  denen  sieben 
Italiener  getötet  und  34  verwundet  wurden.  Der  Maire  und  die  Behörden  taten 
nichts,  um  die  Italiener  zu  schützen;  ja  im  Hospital  zu  Marseille  wurde  den  ver- 
wundeten Italienern  die  Aufnahme  verweigert.  Die  Kunde  von  diesen  Vorgängen 
löste  in  Italien  den  heftigsten  allgemeinen  Unwillen  aus,  der  sich  in  antifranzösi- 
schen Demonstrationen  in  Rom,  Neapel  und  vielen  anderen  Städten  Luft  machte. 
Formell  wurden  die  Zwischenfälle  durch  gegenseitige  Erklärungen  der  beiden  Re- 
gierungen vom  2t.  August  für  geschlossen  erklärt;  in  Italien  zitterte  aber  die 
Erregung:  die  durch  handeis-  und  wirtschaftspolitische  Schikanen  Frankreichs, 
namentlich  in  der  Währungsfrage  geschürt  war,  noch  lange  nach;  sie  drohte  von 
neuem  loszubrechen,  als  das  Schwurgericht  von  Angouleme  Ende  Dezember  1893 
sämtliche  Angeklagten  von  Aigues-Mortes  freisprach  (vgl.  Nr.  1454). 
**  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  Dupuy. 
***  Ministerpräsident  Dupuy  war  zugleich   Minister  des  Innern. 

127 


Maire  von  Aigues-Mortes.    Man  hat  hier  Maßregeln  ergriffen,  wieder- 
holte Straßendemonstrationen  in   Rom  zu  verhindern. 

Unterstaatssekretär  Ferrari  fürchtet  größere  Unruhen,  wenn  nicht 
bald  zufriedenstellende  Antwort  Frankreichs  eintrifft. 

Solms 
Nr.  1444 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  120  Rom,  den  20.  August  1893 

Graf  Nigra*  telegraphiert,  Graf  Kälnoky  erkenne  den  Ernst  der 
Ereignisse  von  Aigues-Mortes  und  sagte,  daß  die  französische  Re- 
gierung sofortige  Satisfaktion  geben  müßte;  Graf  Kälnoky  werde  aus 
eigener  Initiative  die  französische  Regierung  im  europäischen  Inter- 
esse von  dieser  seiner  Ansicht  in  Kenntnis  setzen. 

Solms 
Nr.  1445 

Der  Unterstaatssekretär  im  Auswärt  gen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderlen 
Nr.  93  Berlin,  den  21.  August  1893 

Nach  Telegrammen  aus  Rom  scheint  man  dort  wegen  Zwischen- 
falls in  Aigues-Mortes  einigermaßen  besorgt.  Wir  haben  bisher  nicht 
Eindruck,  daß  ernstere  Komplikationen  daraus  entstehen,  solange  An- 
gelegenheit auf  Verhandlungen  zwischen  Italien  und  Frankreich  be- 
schränkt bleibt.  Wir  werden  uns  aber,  um  jeden  Eindruck  einer  Pres- 
sion zu  vermeiden,  in  Paris  jeder  Äußerung  enthalten.  Teilen  Sie 
dies  Graf  Kälnoky  mit. 

Rotenhan 
Nr.  1446 

Der  stellvertretende  Geschäf:sträger  in  Paris  Graf  Arco  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Entzifferung 
Nr.  189  Paris,  den  19.  August  1893 

Ganz  vertraulich 

Der  italienische  Botschafter**,  welchen  ich  heute  in  persönlichen 
Angelegenheiten  besuchte,  zeigte  sich  sehr  mißmutig  über  den  Ver- 
lauf der  Verhandlungen  in  der  Münzfrage.  Er  sagte,  die  französi- 
schen Minister  würden  sich  im  nächsten  Kabinettsrat  mit  den  italieni- 
schen  Vorschlägen   beschäftigen,    er   habe   aber  wenig   Hoffnung   auf 


*  Italienischer  Botschafter  in  Wien. 
**  Ressmann. 

128 


eine  günstige  Lösung,  Das  Verhältnis  Frankreichs  zu  Italien  gestalte 
sich  immer  schlechter.  Es  sei  seit  Jahren  das  offensichthche  Bestreben 
der  Franzosen,  Italien  durch  Schädigung  seiner  Interessen  auf  kom- 
merziellem und  finanziellem  Gebiete  vom  Dreibund  abzulenken.  Er 
persönlich  glaube  allerdings,  daß  diese  Intrigen  gerade  die  gegenteilige 
Wirkung  auf  die  italienische  Politik  hervorbringen  werden.  Seiner 
Meinung  nach  solle  aber  auch  Italien  alles  vermeiden,  wodurch  Frank- 
reich gereizt  werden  könnte. 

Mit  letzterer  Bemerkung  wollte  Herr  Ressmann  offenbar  auf  den 
bevorstehenden  Besuch  des  Prinzen  von  Neapel  im  Reichsland*  hin- 
weisen, welcher  gegenwärtig  der  hiesigen  Presse  Stoff  zu  Hetzartikeln 
gibt,  und  an  welchen  viele  Blätter  die  Forderung  knüpfen,  jede  von 
Italien  gewünschte  Gefälligkeit  abzulehnen.  Ich  habe  es  vermieden,  auf 
das  Thema  einzugehen  oder  mir  den  Anschein  zu  geben,  als  ob  ich 
die  Anspielung  verstanden  hätte.  Ich  weiß  aber  von  Kollegen,  daß 
Herr  Ressmann  schon  seit  längerer  Zeit  mit  einiger  Besorgnis  dem 
Manöverbesuch  des  Prinzen  entgegensieht. 

Über  die  Massakrierung  der  italienischen  Arbeiter  in  Aigues-Mortes, 
die  mattherzige  Kundgebung  des  dortigen  Maire  und  die  Haltung  der 
französischen  Presse  in  dieser  Sache  zeigte  sich  Herr  Ressmann  sehr 
gereizt.  Über  die  Details  war  er  noch  ohne  Nachricht.  Er  zog  eine 
Parallele  zwischen  dem  Vorgehen  Frankreichs  gegen  Siam  wegen  eines 
isoliert  gebliebenen  Verbrechens**  und  der  Haltung  der  französischen 
Presse  zur  Niedermetzelung  der  armen  Italiener. 

Graf  Arco 

Nr.  1447 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  222  Wien,  den  21.  August  1893 

Euerer  Exzellenz  Telegramm  Nr. 93  von  heute***,  den  Zwischenfall 
in  Aigues-Mortes  betreffend,  habe  ich  zu  erhalten  die  Ehre  gehabt  und 
dem  Grafen  Kälnoky  sofort  Mitteilung  von  der  beabsichtigten  Haltung 
der  Kaiserlichen  Regierung  gemacht. 

Graf  Kälnoky  sagte  mir,  daß  ihn  der  italienische  Botschafter 
gestern  gebeten  habe,  ob  das  hiesige  Kabinett  nicht  in  Paris  auf  die 
Notwendigkeit  einer  raschen  Genusftuungf  hinweisen  könnte. 


*  Kronprinz  Viktor  Emanuel   traf   am   1.  September  in   Koblenz  ein,   um   an   den 

Kaisermanövern  in  der  Rheinprovinz  und  in  den  Reichslanden  teilzunehmen. 
**  Der  schon  seit  1892  bestehende  Konflikt  zwischen  Frankreich  und  Siam  war  im 
Juni   1893  durch   die    Ermordung   eines  französischen   Inspektors   Grosgurin   ver- 
schärft   worden.     Aus    dem    französisch-siamesischen    wurde    bald    ein    englisch- 
französischer  Konflikt.    Vgl.    Bd.  VII!;   Kap.  LH    B. 
***  Siehe  Nr.  1445. 

9    Die  Große  Politik.    7.  Bd.  J29 


Hierauf  sei  er,  der  Minister,  nicht  eingegangen.  Er  habe  aber 
dem  Botschafter  versprochen,  daß  er  den  österreichisch-ungarischen 
Geschäftsträger*  anweisen  würde,  Herrn  Develle  vertraulich  in 
seinem,  des  Ministers,  Auftrage  zu  sagen,  daß  hier  Meldungen  über 
die  wachsende  Aufregung  in  der  italienischen  Bevölkerung  eingelaufen 
seien,  und  daß  er  im  Interesse  des  uns  allen  notwendigen  Friedens 
nicht  umhin  könne,  die  lebhafte  Hoffnung  auszusprechen,  daß  die 
französische  Regierung  mit  energischer  Raschheit  dasjenige  tun 
werde,  was  diesen  Zwischenfall  aus  der  Welt  zu  schaffen  geeignet  wäre. 

Graf  Zichy  habe  weder  darüber  zu  sprechen,  was  die  französische 
Regierung  tun  solle,  noch  sonst  einen  Rat  zu  geben. 

Der  Minister  bemerkte,  er  habe  die  Italiener  nicht  ganz  abweisen 
wollen,  begreift  aber,  daß  wir  es  nicht  für  angezeigt  hielten,  in  Paris 
zu  sprechen,  da  man  dort  hierin  leicht  eine  Pression  erblicken  könnte. 

Nebenbei  bemerkt,  werde  man  ja  jetzt  sehen  können,  ob  Rußland 
in  Paris  zugunsten  Italiens  intervenieren  werde,  damit  es  nicht  zu 
einem  Konflikt  komme.  Dies  sei  eine  Probe  auf  die  durch  die  „Ham- 
burger Nachrichten"  verbreitete  Ente  eines  russisch-italienischen  ge- 
heimen Einverständnisses. 

H.  VII.  P.  Reuß 

Nr.  1448 

Der  Botschafter  in  Rom  Graf  zu  Solms-Sonnenwalde 
an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  123  Rom,  den  22.  August  1893 

Minister  Brin  teilte  mir  den  Inhalt  eines  nach  Berlin  gerichteten 
Telegramms  mit,  wonach  die  französische  Regierung  den  Maire  von 
Aigues-Mortes  suspendiert  und  strenge  Untersuchung  der  Vorgänge 
angeordnet  hat  und  der  Botschafter  Ressmann  angewiesen  ist  zu  er- 
klären, daß  die  italienische  Regierung  den  Inzidenzfall  als  zufrieden- 
stellend geschlossen  betrachtet. 

Solms 

Nr.  144Q 
Der  Geschäf  isträger  in  Paris  von  Schoen  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  217  Paris,  den  23.  August  1893 

Der  italienische  Botschafter  hält,  wie  er  mir  ganz  vertraulich  sagt, 
trotz  beruhigenden  Veröffentlichungen  über  die  gegenseitigen  Er- 
klärungen und  Maßregeln  die  Lage  noch  nicht  frei  von  Besorgnis,  weil 

*  Graf  Zichy 
130 


er  fürchtet,  daß  die  säumige  und  wenig  befriedigende  Art  der  franzö- 
sischen Genugtuung  weitere  unheilsvolle  Explosionen  des  italienischen 
Nationalgefühls  und  lange  andauernde  Verbitterung  her\'orrufen  dürfte. 
Die  Havasnote  vom  21.  d.  Mts.  erscheint  ihm  dadurch,  daß  sie  im 
Widerspruch  mit  den  Tatsachen  den  italienischen  Ausdruck  des  Be- 
dauerns voranstellt,  geeignet,  die  hier  geläufige  Vorstellung  zu  ver- 
stärken, als  ob  Frankreich  mehr  Genugtuung  zu  fordern  wie  zu  geben 
habe,  in  Italien  aber  böses  Blut  zu  machen.  Auch  ist  zu  betonen,  daß 
die  französische  Regierung  den  Maire  von  Aigues-Mortes  wegen  seiner 
den  Mord  geradezu  billigenden  Proklamation  nicht,  wie  vom  italieni- 
schen und  allgemeinen  Standpunkt  erwartet  werden  mußte,  und  wie 
Herrn  Ressmann  zugesagt  war,  seines  Amtes  entsetzt,  sondern  nur 
suspendiert  hat. 

Das  Verhalten  der  italienischen  Regierung  findet  bei  der  hiesigen 
Presse  im  allgemeinen  anerkennendes  Verständnis,  doch  kommt  die 
letztere  aus  diesem  Anlaß  wieder  mit  ihren  Empfindlichkeiten  wegen 
der  Reise  des  Prinzen  von  Neapel  nach  den  Reichslanden  hervor. 

Schoen 


Nr.  1450 

Der  Geschäf(sfräger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  192  Paris,  den  25.  August  1893 

Vertraulich 

Seitdem  ich  die  Ehre  habe,  Herrn  Ressmann,  den  jetzigen  ita- 
lienischen Botschafter  und  früheren  ersten  Sekretär  unter  seinem  Vor- 
gänger, zu  kennen  und  mit  ihm  über  politische  Dinge  mich  zu  unter- 
halten, ist  mir  stets  eine  gewisse  Neigung  zu  pessimistischen  Anschau- 
ungen bei  ihm  aufgefallen.  So  schwarzsehend  wie  jetzt  aber  habe  ich 
Herrn  Ressmann  noch  nie  gefunden.  Er  ist  sehr  mißmutig  über  den 
Mangel  an  Willfährigkeit,  den  er  bei  der  hiesigen  Regierung  in  der 
Angelegenheit  von  Aigues-Mortes  sowohl  wie  in  der  Frage  der  Außer- 
kurssetzung der  italienischen  Scheidemünze  gefunden  und  sieht  darin 
einen  weiteren  Beweis  dafür,  daß  Frankreich  ganz  systematisch  Italien 
in  jeder  Beziehung  zu  schaden  suche,  in  der  Meinung,  es  mürbe  zu 
machen  und  zum  Abfall  vom  Dreibund  zu  bringen,  zum  mindesten 
aber  seinen  Wert  als  Mitglied  desselben  möglichst  herunterzudrücken. 
Ja,  Herr  Ressmann  geht  noch  weiter;  er  glaubt,  daß  in  vielen  fran- 
zösischen Köpfen  der  Gedanke  lebt,  Italien  so  lange  zu  reizen,  bis 
dort  dem  feurigen  und  empfindlichen  Volk  die  Geduld  reißt  und 
Dinge  vorfallen,  die  einen  kriegerischen  Konfhkt  mit  dem  Anscheine 

9»  131 


herbeiführen,  als  sei  der  Angriff  von  Italien  ausgegangen.  In  diesen 
Tagen  sei  ein  solcher  Konflikt  bedenklich  nahe  gewesen,  die  Gefahr 
desselben  übrigens  noch  nicht  ganz  beseitigt.  Die  Wage  des  Krieges 
und  Friedens  habe  in  seiner,  des  Botschafters,  Hand  geruht,  und  es 
habe  nicht  geringer  Selbstbeherrschung  und  Mäßigung  bedurft,  um 
ihn  zu  hindern,  der  Schale  des  Krieges  das  Übergewicht  zu  geben. 
Herr  Ressmann  knüpfte  daran  die  allgemeine  Bemerkung,  die  Lage 
Europas  und  speziell  Italiens  sei  nachgerade  so  unerträglich  geworden, 
daß  es  sich  frage,  ob  wir,  der  Dreibund,  nicht  besser  daran  getan 
hätten,  den  Krieg,  der  nun  doch  einmal  unvermeidlich  sei,  zu  eiaer 
Zeit  zu  entfesseln,  wo  die  Chancen  uns  noch  günstiger  standen  wie 
heutzutage. 

Ich  erlaubte  mir  zu  entgegnen,  daß  ich  von  der  Unvermeidlich- 
keit des  Krieges  durchaus  nicht  überzeugt  sei  und  eher  an  eine  fried- 
liche als  an  eine  kriegerische  Lösung  der  Spannung  glaube.  Jeden- 
falls würde  ein  Krieg,  selbst  wenn  er  für  uns  Dreibundmächte  günstig 
ausfiele,  uns  mehr  herunterbringen  als  der  bewaffnete  Friede,  ein  un- 
glücklicher Krieg  uns  aber  nahezu  vernichten,  deshalb  müßten  alle 
Anstrengungen,  wie  dies  bei  den  verbündeten  Regierungen  auch  der 
Fall,  auf  Erhaltung  des  Friedens  gerichtet  sein.  Je  mehr  wir  alle, 
Freunde  und  Gegner,  auf  den  Krieg  rüsteten,  desto  unwahrschein- 
licher werde  der  Ausbruch  desselben.  Der  Friede,  der  nun  eine 
22jährige  Probe  bestanden,  werde  auch  ferner  erhalten  werden  können. 

Der  Botschafter  meinte,  in  dem  französischen  Volke  glimme  un- 
auslöschliche Glut  unter  der  Asche,  eines  Tages  werde  die  Flamme 
doch  hervorschlagen.  Er  komme  viel  mit  Franzosen  zusammen  und 
wisse,  wie  tief  der  Grimm  gegen  Deutschland  in  ihnen  sitze,  wie 
sehr  sie  alle  von  der  Idee  der  Wiedergewinnung  Elsaß-Lothringens 
beherrscht  seien.  Vielleicht  gelinge  es,  den  Krieg  noch  einige  Jahre, 
etwa  bis  zur  Weltausstellung  1900,  zu  vermeiden,  länger  aber  kaum. 

Auf  die  Beziehungen  zwischen  Italien  und  Frankreich  zurück- 
kommend, klagte  Herr  Ressmann  lebhaft  über  die  Schwierigkeiten 
derselben  und  seiner  Stellung.  Zu  offener  und  ehrlicher  Feindschaft, 
wie  zwischen  Deutschland  und  Frankreich,  ein  Verhältnis,  das  den 
Vorteil  der  Klarheit  und  Bestimmtheit  habe,  dürfe  er  es  nicht  kommen 
lassen,  denn  seine  Regierung  habe  mit  einer  franzosenfreundlichen 
Partei  im  Lande  zu  rechnen,  franzosenfreundlich  nur  in  dem  Sinne,  daß 
sie  eine  Besserung  der  Beziehungen  im  eigenen  Interesse  wünscht, 
denn  Italien  ist  in  wirtschaftlichen  Dingen  vielfach  auf  Frankreich  an- 
gewiesen. Die  Regierung  dürfe  diese  Partei  nicht  vor  den  Kopf  stoßen, 
dies  würde  sie  und  ihre  Forderungen  nur  stärken.  Andererseits  mache 
das  offenkundige  Übelwollen  auf  französischer  Seite  die  Herstellung 
leidlicher  Beziehungen  nahezu  unmöglich  und  erschwere  ihm  und  seiner 
Regierung  die  Stellung.  Der  König,  so  betonte  der  Botschafter  v/ieder- 
holt,  wohl  in  Hinsicht  auf  die  Reise  des  Kronprinzen  nach  den  Reichs- 

132 


landen,  stehe  freilich  über  den  Parteien  und  brauche  sich  von  Rück- 
sichten auf  dieselben  nicht  leiten  zu  lassen. 

Euerer  Exzellenz  habe  ich  geglaubt,  die  Anschauungen  des  ita- 
lienischen Botschafters  wiedergeben  zu  sollen.  Mir  scheinen  sie,  wie 
schon  erwähnt,  etwas  zu  düster,  ein  Ausfluß  persönlicher  Verstimmung 
über  die  Erfolglosigkeit  der  bisherigen  Bemühungen,  wirtschaftliche 
und  handelspolitische  Zugeständnisse  von  Frankreich  an  Italien  zu  er- 
reichen, sowie  über  die  Säumigkeit  in  der  Erledigung  der  Sache  von 
Aigues-Mortes,  auch  wohl  eine  Folge  gestörter  Gesundheit  und  phy- 
sischer Ermüdung. 

V.  Schoen 

Nr.  1451 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  218  Paris,  den  27.  September  1893 

Mein  italienischer  Kollege,  gestern  von  Italien  zurückgekehrt,  be- 
suchte mich  sogleich. 

Den  Botschafter  fand  ich  sehr  pessimistisch  gestimmt,  und  kann 
ich  nur  dasjenige  bestätigen,  was  der  Geschäftsträger  Herr  von  Schoen 
(Bericht  Nr.  192  vom  25.  v.  Mts.*)  vor  der  Abreise  des  Herrn  Ress- 
mann  berichtete.  Durch  seinen  Aufenthalt  und  seine  Reise  durch  ganz 
Italien  scheint  diese  pessimistische  Auffassung  nicht  gemildert  worden 
zu  sein. 

Die  öffentliche  Meinung  in  Italien  und  die  Stimmung  der  Bevöl- 
kerung muß  nach  den  Schilderungen  des  Botschafters  eine  sehr  er- 
regte und  gegen  Frankreich  sehr  feindliche  sein^. 

Die  Franzosen,  meinte  Herr  Ressmann,  intrigieren  nach  zwei  Rich- 
tungen hin;  sie  wollen  Italien  finanziell  ruinieren  und  wollen  zur  Re- 
volution und  Republik  treiben.  Beides  werden  sie  nicht  erreichen;  sie 
treiben  aber  zu  einer  ganz  andern  und  gefährlichen  Lösung  dieser  ge- 
spannten Situation,  zum  Kriege.  Überall  habe  er  die  Äußerung  gehört, 
man  müsse  der  unerträglichen  Lage  ein  Ende  machen. 

Auch  bis  in  die  höchsten  Kreise  habe  er  diese  Stimmung  gefunden. 

Vielfach  habe  er  die  Ansicht  gehört,  als  ob  Seine  Majestät,  unser 
allergnädigster  Herr,  dem  Kriege  nicht  abgeneigt  sei  2.  Als  ich  be- 
stimmt versicherte,  das  sei  nicht  der  Fall,  Seine  Majestät  wünschten 
aufrichtig  die  Erhaltung  des  Friedens,  und  könnten  wir  auf  keinen 
Fall  wünschen,  daß  der  Krieg  auf  leichtsinnige  Weise  von  Italien  aus 
provoziert  werde,  meinte  er,  das  beruhige  ihn  sehr,  und  er  hoffe,  daß 
wir  in  Italien  dieses  bestimmt  betonen  würden. 


♦  Siehe  Nr.  1450. 

133 


Nach  den  ganz  vertraulichen  Äußerungen  des  Botschafters  zu 
urteilen,  scheint  sein  König  selbst  ernstlich  die  Möglichkeit  eines  bal- 
digen Krieges  ins  Auge  zu  fassen. 

Wenn  ich  auch  annehme,  daß  mein  Kollege  zu  schwarz  sieht,  so 
wird  es  aber  doch  sehr  wünschenswert  sein,  daß  von  unserer  Seite 
beruhigend  in  Italien  gewirkt  werde  ^. 

Herr  Develle,  der  heute  auf  einen  Tag  in  der  Stadt  ist  —  er  ist 
meistens  noch  auf  dem  Lande  — ,  sagte  mir,  die  Vorfälle  in  Aigues- 
Mortes  beklage  er  sehr,  über  die  italienische  Regierung  könne  er 
durchaus  nicht  klagen,  sie  habe  bei  den  unangenehmen  Vorfällen  in 
Rom  alles  getan,  was  man  von  hier  aus  hätte  erwarten  können.  Leider 
sei  aber  die  Aufregung  der  italienischen  Bevölkerung  und  die  Ani- 
mosität gegen  Frankreich  sehr  groß,  und  er  sei  nicht  ganz  sicher, 
daß  die  italienische  Regierung  stark  genug  der  aufgeregten  Nation 
gegenüber  sei. 

In  finanziellen  Kreisen  herrscht  auch  eine  gewisse  Besorgnis,  man 
fürchtet  un  coup  de  tete  Italien. 

Die  Gebrüder  Rothschild,  die  ich  alle  drei  zusammen  traf,  gaben 
auch  dieser  Besorgnis  Ausdruck  und  meinten,  es  sei  eine  große  Un- 
geschicklichkeit der  hiesigen  finanziellen  Kreise  gewesen,  daß  die- 
selben auf  jede  Weise  versucht  hätten,  die  italienische  Rente  zu  werfen. 
Ihr  Haus  hätte  das  nicht  mitgemacht,  und  hätten  sie  im  Gegenteil  ver- 
sucht, sie  mit  zu  halten.  Die  finanziellen  Verlegenheiten  Italiens  seien 
so  schon  groß  genug,  die  Stimmung  in  Italien  könne  geradezu  für 
den  Frieden  Europas  gefährlich  werden. 

\  Die  Italiener  schreien  und  gestikulieren  im  gewöhnlichen  Leben 
viel,  ehe  sie  wirklich  ernstlich  zuschlagen,  und  das  wird  hoffentlich 
jetzt  auch  der  Fall  sein*.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Gut     *  1     3  vor  allem  England!      *  sehr  richtig. 

Nr.  1452 
Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  247  Paris,  den  6.  Oktober  18Q3 

Herr  Ressmann  vertraut  mir  an,  er  habe  vor  einigen  Tagen  dem 
hier  anwesenden  Botschafter  Billot*  ganz  offen  gesagt,  eine  Fort- 
setzung der  bisherigen  französischen  Politik  gegen  Italien  werde  nicht, 
wie  die  Absicht  scheine,  zu  Bankrott  und  Revolution  in  Italien,  sondern 
zum  Krieg  führen,  worauf  Herr  Billot  die  Friedfertigkeit  Frankreichs 
beteuerte. 

Herr  Ressmann  ist  überzeugt,  daß  Frankreich  in  der  Tat  keinen 

*  Französischer  Botschafter  in  Rom. 
134 


Krieg  will,  weil  es  im  Frieden  Italien  langsam,  aber  sicher  ruiniere, 
dieser  Zustand  sei  kaum  länger  zu  ertragen.  Auf  meine  Betonung  des 
Charakters  des  Dreibundes  gab  der  Botschafter  in  gewundener  Weise 
zu  verstehen,  es  sei  in  Rom  erwünscht  zu  wissen,  wieweit  man  in 
gegenwärtiger  Lage  auf  deutsche   Unterstützung  rechnen  könne. 

Die  von  französischen  Blättern  gemeldeten  italienischen  Mobil- 
machungsvorbereitungen an  der  Alpengrenze  stellt  Herr  Ressmann  in 
Abrede. 

Schoen 
Nr.  1453 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  277  Beriin,  den  10.  Oktober  1893 

Falls  Herr  Ressmann  die  akademische  Erörterung  über  den  Drei- 
bundvertrag und  dessen  eventuelle  Interpretation*  wieder  aufnehmen 
sollte,  sagen  Sie  ihm,  Sie  seien  nicht  orientiert.  Jedenfalls  werde  aber 
seine  Regierung,  wenn  sie  sich  nach  Berlin  wende,  dort  authentische 
Auskunft  erhalten. 

Marschall 
Nr.  1454 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  296  Paris,  den  31.  Dezember  1893 

Das  Geschworenengericht  zu  Angouleme  hat  sämtliche  Angeklagte 
von  Aigues-Mortes  freigesprochen,  obgleich  30  der  Beschuldigten  nach- 
gewiesenermaßen Italiener  totgeschlagen  haben.  Der  italienische  Bot- 
schafter fürchtet,  daß  diese  Freisprechung  in  Italien  große  Aufregung 
hervorrufen  wird. 

Münster 

Nr.  1455 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  1  Paris,  den  6.  Januar  1894 

Der  Neujahrsempfang  des  diplomatischen  Korps  fand  in  der  ge- 
wöhnlichen Weise  statt.  Der  Nuntius  und  der  Präsident**  hielten  ziem- 
lich nichtssagende  Reden. 

Daß   der  Präsident  besonders   die   Liebe  und  Achtung  der  fran- 

*  Vgl.  Nr,  1452. 
**  Carnot. 

135 


zösischen  Nation  für  Recht  und  Gesetz  in  einem  Augenblicke  betonte  *, 
wo  die  Geschworenen  in  Angouleme  Italien  gegenüber  einen  schreien- 
den Rechtsbruch  verübten,  klang  fast  wie  Hohn  2. 

Für  mich  ist  es  eins  der  gefährlichsten  Zeichen  des  allmählichen 
Niederganges  der  französischen  Nation,  daß  das  Rechtsbewußtsein 
immer  mehr  schwindet,  und  daß  auch  der  französische  Richterstand 
immer  weniger  selbständig  und  immer  mehr  abhängig  von  der  je- 
weiligen Regierung  zu  werden  scheint  2. 

Die  hiesige  Regierung  und  die  besseren  Kreise  bedauern  zwar 
lebhaft  den  Spruch  der  Geschworenen  in  Angouleme.  Herr  Casimir 
Perier*  tat  das  auch  mir  gegenüber  in  sehr  bestimmter  Weise  und 
las  mir  den  Bericht  des  Oberstaatsanwalts  zu  Angouleme  vor,  der 
sich  und  den  Präsidenten  des  Gerichtshofes  zu  entschuldigen  versucht. 

Dieser  behauptet,  daß  er  und  der  Gerichtspräsident  alles,  was  in 
ihren  Kräften  stand,  getan  hätten,  um  eine  Verurteilung  herbeizuführen, 
und  schiebt  das  Mißlingen  dieser  Bemühungen  vor  allem  der  Gegen- 
wart des  italienischen  Generalkonsuls  Durando  zu.  Die  Geschworenen 
hätten  seine  Gegenwart  angesehen,  als  solle  eine  Pression  auf  sie  aus- 
geübt werden,  und  dadurch  seien  die  politischen  Motive  wieder  in 
den  Vordergrund  getreten. 

Herr  Casimir  Perier  erkannte  es  an,  daß  Herr  Crispi  und  die  ita- 
lienische Regierung  bestrebt  sind,  die  öffentliche  Meinung  in  Italien 
zu  beruhigen  und  öffentliche  Ausschreitungen  zu  verhindern. 

Eine  Gefahr  in  unserer  Zeit  ist  das  Nationalgefühl,  welches  eine 
bedenkliche  Richtung  einschlägt*  und  zum  Nationalhaß  immer  mehr 
ausartet.    Darin  sehe  ich  die  wirkliche  Kriegsgefahr,    pp. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  .War  sehr  mal  apropos    *  ja    ^  richtig    *  gut. 

Nr.  1456 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  44  Rom,  den  20.  Februar  1894 

Ganz  vertraulich 

Der  italienische  Botschafter  in  Paris,  Herr  Ressmann,  welcher  vor 
acht  Tagen  hier  eintraf  und  heute  über  Florenz  auf  seinen  Posten 
zurückkehren  will,  suchte  mich  auf,  um  mir  seine  Ansichten  über  das 
Verhältnis  Italiens  zu  Frankreich  auseinanderzusetzen.  Herr  Ressmann 
betonte  hierbei,  daß  er  im  Vertrauen  auf  meine  Diskretion  mit  der 
Offenheit  spreche,  zu  welcher  ihn  unsere  langjährigen  persönlichen 
Beziehungen  autorisierten. 

*  Präsident  des   Ministeriums   und    Minister  des   Äußern   seit   1.  Dezember    1893. 
136 


Italien,  entwickelte  Herr  Ressmann,  müsse  wissen,  was  es  wolle. 
Wolle  es  den  Krieg,  dann  lieber  heute  als  morgen.  In  diesem  Falle 
wäre  jeder  Aufschub  von  Schaden.  Wenn  jedoch  die  italienische  Re- 
gierung und  das  italienische  Volk  den  Zusammenstoß  mit  Frankreich 
zu  vermeiden  wünschten,  müßten  beide  jenen  Nachbarn  vorsichtiger 
als  bisher  behandeln.  Vor  allem  müsse  Italien  gegenüber  Frankreich 
weniger  empfindlich  werden,  mit  der  französischen  Eitelkeit  und  selbst 
mit  der  französischen  Überhebungssucht  rechnen.  „II  faut  traiter  la 
France  comme  une  femme  qui  a  quelquefois  besoin  de  caresses  et  ä 
laquelle  il  faut  pardonner  bien  des  choses.''  Man  solle  sich  in  Italien 
speziell  um  die  —  allerdings  in  hohem  Grade  beleidigenden,  oft  em- 
pörenden —  Auslassungen  d^r  Pariser  Presse  möglichst  wenig  küm- 
mern. Alles  dies  schließe  natürlich  nicht  aus,  daß  Italien  angesichts 
des  unberechenbaren  französischen  Nationalcharakters  sein  Pulver 
trocken  halte.    „Fortiter  in  re,  sed  suavissime  in  modo." 

Herr  Ressmann  behauptet,  daß  auch  ernsthafte  Franzosen  bona 
fide  an  kriegerische  Absichten  Italiens  gegenüber  Frankreich  geglaubt 
hätten  und  noch  glaubten.  Die  Anwesenheit  des  Prinzen  von  Neapel 
bei  den  deutschen  Manövern*,  einige  italienische  Truppenbewegungen 
an  der  französischen  Grenze,  das  Wiedererscheinen  des  Herrn  Crispi 
an  der  Spitze  der  Regierung**,  die  Truppensendungen  nach  Sizilien 
wären  in  Paris  als  ebensoviele  kriegerische  Symptome  gedeutet  v.'orden. 
Als  ich  auf  die  Absurdität  dieser  Auffassung  hinwies,  meinte  Herr 
Ressmann:  „C'est  absurde,  mais  c'est  comme  cela.  Le  cer\'eau  francais 
est  un  cerveau  ä  part."  Herr  Ressmann  möchte,  daß  von  hier  aus  in 
Paris  gelegentlich  beruhigende  Erklärungen  abgegeben  würden,  wie 
er  solche  vor  einiger  Zeit  vergeblich  von  Baron  Blanc  zu  extrahieren 
versucht  habe.  Er  bat  mich  vertraulich,  hier  gegenüber  Frankreich 
kaltes  Blut  und  möglichste  Courtoisie  anzuempfehlen. 

Über  die  allgemeine  Stimmung  in  Frankreich  meinte  Herr  Ress- 
mann, daß  der  Gedanke  der  Wiederaufrichtung  der  französischen  Vor- 
herrschaft in  Europa  freilich  noch  in  allen  französischen  Herzen  lebendig 
sei.  Aber  von  sofortigem  Losschlagen,  nach  welcher  Richtung  es  auch 
sei,  wolle  trotzdem  niemand  in  Frankreich  etwas  wissen.  Die  Fran- 
zosen wollten  zunächst  das  Ablaufen  der  Tripelallianz  abwarten,  in 
der  Hoffnung,  daß  dieselbe  nicht  wieder  erneuert  werden  würde. 
Demnächst  sei  die  Erinnerung  an  1870/71  noch  nicht  erloschen;  Frank- 
reich möchte  das  nächste  Mal  militärisch  ganz  sicher  gehen.  Endlich 
sei  die  Republik  als  solche  zweifellos  friedlich.  „Comment  pouvez 
vous  croire  notre  democratie  belliqueuse",  sagte  Herr  Carnot  dem 
italienischen  Botschafter,  während  Herr  Challemel-Lacour***  geäußert 


*  Vgl.  Nr.  1446,  S.  129,  Fußnote  *. 

**  Das    neiic    Ministerium    Crispi    mit    Baron    Blanc    als    Außenminister   war    am 

10.  Dezember  1893  zustandegekommen. 

***  Präsident  des  französischen   Senats. 

137 


haben  soll:  „La  France  se  fait  tellement  materialiste  et  tellement 
pacifique  qu'il  faut  la  secouer  de  temps  en  temps  afin  qu'elle  n'oublie 
pas  ce  qu'elle  ne  doit  pas  oublier." 

Auch  Herr  Ressmann  hofft  für  den  Fall  eines  Konflikts  mit  Frank- 
reich auf  englische  Unterstützung  für  Italien.  Aber  Italien  dürfe  bei 
einem  solchen  Konflikt  nicht  der  formal  schuldige  Teil  sein.  Die  eng- 
lischen Staatsmänner,  habe  ihm  Lord  Dufferin  neulich  gesagt,  sähen 
jetzt  fast  alle  ein,  daß  Großbritannien  nicht  Italien  gegenüber  Frank- 
reich preisgeben  dürfe.  Aber  gegen  die  öffentliche  Meinung  könne 
kein  englischer  Staatsmann  ankommen.  Diese  öffentliche  Meinung 
werde  nur  dann  —  dann  jedoch  sicher  —  für  Italien  Partei  nehmen, 
wenn  dieses  als  der  angegriffene  und  nicht  als  der  angreifende  Teil 
erscheine. 

Herr  Ressmann  lenkte  schließlich  das  Gespräch  auf  sein  Verhält- 
nis zu  Baron  Blanc.  Er  fürchte,  daß  dieser  an  seine  Stelle  nach  Paris 
kommen  möchte,  obwohl  seines  Erachtens  der  derzeitige  Minister  des 
Äußern  aus  vielen  Gründen  gerade  dorthin  gar  nicht  passen  würde. 
Herr  Ressmann  schien  sichtlich  erleichtert,  als  ich  ihm  sagen  konnte, 
daß  Baron  Blanc  mir  gegenüber  kürzlich  proprio  motu  jede  Aspiration 
auf  Paris  in  Abrede  gestellt  habe. 

Allerdings  hat  sich,  was  ich  Herrn  Ressmann  nicht  wohl  sagen 
durfte,  Baron  Blanc  mir  gegenüber  mehrfach  einigermaßen  abfällig 
über  den  italienischen  Botschafter  in  Paris  ausgelassen,  welchen  er 
gegenüber  Frankreich  zu  nervös  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu 
nachgiebig  findet.  Auch  Herr  Crispi  hatte  sich  über  einige  Berichte 
des  Herrn  Ressmann  geärgert,  welche  in  lebhaften  Farben  die  fran- 
zösischen Besorgnisse  vor  italienischen  Angriffsplänen  schilderten,  und 
ad  marginem  eines  dieser  Berichte  geschrieben:  „Der  Wolf  klagt  über 
das  Lamm.*'  Der  Konseilpräsident  hat  Herrn  Ressmann  nichtsdesto- 
weniger freundlich  aufgenommen  und  ihn  ermächtigt,  in  Paris  zu  er- 
klären, „que  I'Italie,  fidele  ä  sa  politique  de  paix  et  ne  desirant  que 
la  paix,  ne  provoquerait  certainement  personne".  Herr  von  Rudini  unter- 
hält seit  lange  freundschaftliche  Beziehungen  zu  Herrn  Ressmann; 
letzterer  hat  den  Führer  der  Rechten  hier  öfters  gesehen.  Von  König 
Hunibert  vi^urde  Herr  Ressmann  in  gnädiger  Weise  empfangen,  mit 
einer  Einladung  zur  Tafel  beehrt  und  durch  längere  Unterhaltung  aus- 
gezeichnet. 

Ich  habe  Herrn  Ressmann,  wie  allen  meinen  hiesigen  Bekannten, 
welche  die  Rede  auf  das  Verhältnis  Italiens  zu  Frankreich  brachten, 
in  unbefangenem  Tone  erwidert,  v^ie  wir  ganz  damit  einverstanden 
wären,  daß  Italien  unter  Wahrung  seiner  Würde  und  Sicherheit  gegen- 
über Frankreich  eine  friedliche  und  höfliche  Haltung  einnehme,  die 
weder  unseren  Wünschen  noch  unsern  Interessen  widerspräche,  von 
welcher  sich  aber  meines  Erachtens  bisher  auch  keine  italienische  Re- 
gierung ekartiert  habe.  B.  von  Bülow 

138 


Nr.  1457 
Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  12  Rom,  den  6.  Januar  1895 

pp.  Über  die  Abberufung  des  Botschafters  Herrn  Ressmann  be- 
merkte Herr  Crispi,  daß  er  persönlich  nichts  gegen  den  genannten 
habe,  den  er  lange  gegen  Baron  Blanc  in  Schutz  genommen  hätte;  seine 
Entfernung  aus  Paris  sei  jedoch  sachlich  notwendig  geworden.  Herr 
Crispi  hatte  soeben  ein  Telegramm  des  Herrn  Ressmann  erhalten,  in 
welchem  derselbe  anzeigt,  daß  er  morgen,  Montag,  dem  Botschafts- 
rat Herrn  Gallina  die  Geschäfte  übergeben  und  denselben  dem  fran- 
zösischen  Minister  des   Äußern   als   Geschäftsträger  vorstellen   werde. 

Der  Ministerpräsident  sprach  schließlich  die  Bitte  aus,  daß  Graf 
Gallina,  dessen  Stellung  keine  leichte  sein  werde,  bei  unserer  Bot- 
schaft Anlehnung  und  Unterstützung  finden  möge.  Herr  Crispi  fügte 
hinzu:  „Vous  aurez  remarque,  avec  quelle  violence  la  presse  frangaise 
—  et  surtout  les  journaux  officieux  —  m'attaquent.  La  haine  des 
Francais  —  et  du  gouvernement  frangais  —  contre  moi  provient  de 
ce  que  l'Italie  ne  sortira  pas  de  la  triple  alliance  tant  que  je  suis  au 
pouvoir,  je  vous  le  garantis.  Si  je  tombais,  la  politique  etrangere  de 
l'Italie  changerait  de  direction."  Der  Ministerpräsident  kam  mehrfach 
darauf  zurück,  daß  die  Maßlosigkeit  der  Pariser  gouvernementalen 
Organe  nicht  nur  seine  Stellung  erschwere,  sondern  auch  nicht  ohne 
Rückwirkung  auf  die  Beziehungen  zwischen  Italien  und  Frankreich 
bleiben  werde.  Er  Heß  hierbei  durchblicken,  daß  er  es  mit  Dank  be- 
grüßen würde,  wenn  die  Verbündeten  Italiens  in  Paris  warnend  und 
mäßigend  einwirken  könnten,    pp. 

Bülow 

Nr.  1458 

Der  Reichskanzler  Fürst  von  Hohenlohe  an  den  Botschafter  in  Paris 

Grafen  Münster 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  6  Berlin,  den  T.Januar  1895 

Bei  oder  nach  Besprechung  der  durch  die  Haltung  der  französischen 
Presse  für  beide,  die  französische  wie  die  deutsche  Regierung  er- 
schwerten Dreyfus-Angelegenheit*  wird  sich  Ew.  vielleicht  Gelegenheit 

*  Am  1.  Dezember  war  der  Artilleriehauptmann  Dreyfus  unter  dem  Verdacht 
verhaftet  worden,  fremden  Militärbevollmächtigten  geheime  Aktenstücke  mitgeteilt 
zu  haben.  Die  Verhaftung  hatte  eine  heftige  Preßfehde  gegen  die  fremden,  ins- 
besondere die  deutschen  und  italienischen  Militärattaches  zur  Folge,  sodaß  Graf 
Münster  sich  beschwerdeführend  an  die  französische  Regierung  wenden  mußte. 
Näheres  über  den  Dreyfus-Fall  siehe  in  Bd.  IX,  Kap.  LIX. 

13Q 


bieten,  auch  die  Maßlosigkeiten  der  französischen  Presse  gegenüber  der 
itahenischen  Regierung  akademisch,  zur  Beleuchtung  der  Gesamt- 
lage, mit  in  die  Erörterung  zu  ziehen.  Wenn  wir  das  jetzige  Stadium 
als  ein  akutes  betrachteten,  so  könnte  uns  kaum  etwas  erwünschter 
sein  als  diese  Polemik,  welche  bei  Krone  und  Volk  in  Itahen  die 
patriotische  Fiber  anregt  und  sogar  einen  Bonghi  zum  zeitweiHgen 
Verbündeten  Crispis  gemacht  hat.  Da  -wir  aber  bis  jetzt  glauben,  mit 
der  französischen  Regierung  in  dem  Wunsche  der  Erhaltung  des  inter- 
nationalen Friedens  einig  zu  sein,  so  fehlt  uns  der  Schlüssel  für  die  Ton- 
art, welche  neuerdings  der  „Temps"  in  seinen  Angriffen  gegen  ita- 
lienische Staatsmänner  angeschlagen  hat.  Wir  fragen  uns,  was  die 
Welt  sagen  würde,  wenn  die  „Norddeutsche  Zeitung"  in  diesem  Stile 
die  leitenden  Persönlichkeiten  nichtverbündeter  Staaten  kritisieren 
wollte  —  was  ihr  sogar  zur  Zeit  Boulangers  nicht  passiert  ist,  da  selbst 
damals  Deutschland  die  Hoffnung  auf  Erhaltung  des  Friedens  niemals 
aufgegeben  hat.  Und  doch  ist  die  Einwirkung  der  Kaiserlichen  Re- 
gierung auf  die  „Norddeutsche  Zeitung''  eine  relativ  ebenso  geringe 
wie  wahrscheinlich  die  der  französischen  Regierung  auf  den  „Temps'*. 
Aber  es  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  der  Ruf  der  Inspiration,  in 
welchem  beide  Blätter  stehen,  ihnen  eine  Hebelkraft  für  Aufreizung 
der  Leidenschaft  gibt,  die  kaum  verträglich  scheint  mit  ganz  unkontrol- 
lierter Willkür  der  Redaktion  in  schwierigen  Momenten. 

C.  Hohenlohe 

Nr.  1459 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  44  Rom,  den  16.  Februar  1895 

Graf  TornieHi*  sagte  mir  vor  seiner  Abreise  nach  Paris,  daß  er 
ohne  Enthusiasmus  an  seine  neue  Aufgabe  herangehe.  Auf  die  Glück- 
wünsche, welche  ihm  anläßlich  seiner  Ernennung  nach  Paris  zu- 
gegangen wären,  habe  er  erwidert,  daß  Beileidskundgebungen  an- 
gezeigter sein  würden.  Nicht  nur,  weil  aus  bekannten  Gründen  gerade 
seine  persönliche  Stellung  in  Paris  eine  überaus  schwierige  sein  würde, 
sondern  auch  weil  die  politischen  Beziehungen  zwischen  Italien  und 
Frankreich  selten  weniger  herzliche  gewesen  wären  wie  gegenwärtig. 
Graf  Tornielli,  welcher  ein  alter  Bekannter  von  mir  ist,  unterzog 
bei  dieser  Gelegenheit  die  auswärtige  Politik  der  derzeitigen  italieni- 


•  Der  bisherige  Botschafter  in  London  Graf  Tornielli,  ein  von  je  zu  Frankreich 
neigender  Staatsmann  (vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LIV,  A.),  wer  als  Nachfolger  Ressmanns 
auf  den  Pariser  Posten  versetzt  worden. 

140 


sehen  Regierung  einer  nicht  gerade  wohlwollenden  Kritik.  Der  Fehler 
des  Baron  Blanc  sei,  äußerte  Graf  Tornielli  unter  anderem,  daß  der- 
selbe eine  englisch-russische  oder  gar  eine  englisch-russisch-französische 
Entente  für  unmöglich  halte.  Eine  solche  Entente  sei  aber  nicht  nur 
möglich,  sondern  sogar  wahrscheinlich  und  werde  vielleicht  Jahrzehnte 
dauern.  Als  ich  Graf  Tornielli  auseinandersetzte,  daß  und  warum  ich 
seine  Auffassung  für  eine  irrige  hielte,  entgegnete  derselbe:  „Was  Sie 
sagen,  wäre  richtig,  wenn  England  noch  das  England  von  vor  50  oder 
selbst  vor  20  Jahren  wäre.  Dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall.  Das  heutige 
England!  wird  den  Franzosen  und  Russen  jede  Konzession  machen,  um 
sich  eine  Galgenfrist  der  Ruhe  zu  erkaufen."  Graf  Tornielli  ist  der 
Meinung,  daß  Italien  angesichts  der  nach  seiner  Ansicht  in  London 
jetzt  prävalierenden  Tendenzen  sich  nach  allen  Seiten  größter  Reserve 
befleißigen  und  „une  politique  de  passivite"  treiben  müsse,   pp. 

B.  von  Bülow 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Liberale  Ministerien 

Nr.  1460 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Grafen  zu  Eulenburg 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  193  Berlin,  den  19.  März  1895 

Ew.  beehre  ich  mich  in  der  Anlage  einen  Bericht  des  Kaiserhchen 
Geschäftsträgers  in  Paris  über  eine  Unterredung  desselben  mit  dem 
Grafen  Wolkenstein*  abschriftlich  zu  übersenden. 

Bei  Besprechung  der  italienisch-französischen  Beziehungen  sagte 
der  österreichisch-ungarische  Botschafter,  daß  er  von  Wien  aus  an- 
gewiesen sei,  die  Annäherung  Italiens  an  Frankreich  nach  Kräften  zu 
fördern. 

Aus  Mitteilungen  des  Baron  Blanc,  welche  Ew.  mit  heutiger  Ex- 
pedition zugehen,  ergibt  sich,  daß  auch  in  Rom  die  österreichische 
Diplomatie  bereits  seit  länger  als  zehn  Jahren  fortgesetzt  den  Rat  er- 
teilt hat,  Italien  möge  irgendwie,  eventuell  zusammen  mit  England 
eine  Verständigung  mit  Frankreich  zu  erreichen  suchen. 

*  Nach  dem  Berichte  des  Geschäftsträgers  von  Schoen  vom  9.  März  1895  (Nr.  65) 
hätte  Graf  Wolkenstein  Besorgnisse  darüber  geäußert,  daß  Graf  Tornielli,  der 
mit  der  Instruktion,  in  versöhnlichem  Sinne  tätig  zu  sein,  nach  Paris  geschickt 
sei,  dieser  Aufgabe  im  Hinblick  auf  seinen  mißtrauischen  und  spröden  Charakter 
und  auf  neuerdings  entstandene  französisch-italienische  Kolonialschwierigkeiten 
(Harrarfrage)  nicht  gewachsen  sein  möchte.  Bei  dieser  Gelegenheit  betonte  der 
österreichische  Botschafter,  daß  Graf  Käinoky  großen  Wert  auf  ein  gutes  Ver- 
hältnis zwischen  Italien  und  Frankreich  lege  und  ihn  angewiesen  habe,  möglichst 
in  diesem  Sinne  zu  wirken. 

141 


Da  das  Wiener  Kabinett  gleichzeitig  seine  ganze  Beredsamkeit  auf- 
bietet, um  eine  dauernde  politisciie  Verbindung  zwischen  Italien  und 
Spanien  herzustellen,  so  liegt  die  Vermutung  nicht  allzu  fern,  daß  man 
in  Wien  bemüht  ist,  einen  lateinischen  Dreibund  herzustellen,  wo  das 
antiösterreichische  italienische  Element  durch  Frankreich  und  Spanien 
in  Ordnung  gehalten  würde.  Daß  diese  Gruppierung  wirklich  für 
Österreich  die  gleiche  Garantie  gegen  die  Irredenta  bieten  würde  wie 
der  Dreibund,  möchte  ich  bezweifeln.  Frankreich,  einmal  mit  Italien 
versöhnt,  hat  ein  Interesse  daran,  daß  die  Italiener  ihr  jetziges  Pro- 
gramm der  Mittelmeerexpansion  aufgeben  und  sich  wieder  dem  alten 
Irredentaprogramm  zuwenden,  das  in  seinem  weiteren  Sinne  auch  auf 
Albanien,  welches,  wie  Graf  Launay  zu  sagen  pflegte,  „mit  einem  guten 
Fernglase  von  der  italienischen  Küste  aus  sichtbar  ist",  Anwendung 
findet.  Ob  Graf  Kälnoky  das  volle  Bewußtsein  des  Nutzens  hat,  wel- 
chen gerade  in  dieser  Beziehung  die  österreichisch-ungarische  Mon- 
archie aus  dem  Dreibunde  zieht,  darf  man  bezweifeln  angesichts  der 
wenig  entgegenkommenden  Haltung,  welche  Graf  Kälnoky  gegenüber 
Italien  stets  beobachtet  hat.  Österreich  hat,  wie  gesagt,  nachweisbaren 
Vorteil  dadurch,  daß  der  Dreibund  die  Irredenta  gezähmt  hat.  Da- 
gegen würde  es  schwer  sein  zu  sagen,  welche  Vorteile  Italien  davon 
gehabt  hat,  daß  es  sich,  um  mit  Deutschland  verbündet  zu  sein,  gleich- 
zeitig an  Österreich  anschließt. 

Daß  Österreich,  welches  unausgesetzt  die  Italiener  zur  Mäßigung 
ermahnt,  ähnliche  Ratschläge  in  Paris  erteilt  hätte,  ist  hier  nicht  be- 
kannt geworden,  und  doch  hätte  die  Haltung  Frankreichs  gegenüber 
Italien  mancherlei  Anlaß  dazu  geboten. 

Die  Tatsache,  daß  der  Minister  Develle  unumwunden  erklärte,  für 
ihn  beständen  die  französisch-italienischen  Vereinbarungen  wegen 
Harrar*  nicht,  da  Italien  inzwischen  den  Dreibund  erneuert  habe,  ge- 
hört in  der  Geschichte  der  Verträge  und  des  diplomatischen  Verkehrs 
doch  immerhin  zu  den  Ausnahmen.  Wenn  Baron  Blanc  diese  Tatsache 
zum  Ausgangspunkt  einer  Beschwerde  in  Paris  macht,  so  mag  vielleicht 
daran  wie  an  anderen  Äußerungen  seines  ungeduldigen  Temperaments 
formal  allerlei  zu  kritisieren  sein,  aber  im  Grunde  hat  der  italienische 
Minister  nicht  unrecht  mit  seiner  Behauptung,  daß  der  Anschluß  Italiens 
an  das  deutsch-österreichische  Bündnis  bisher  vorteilhaft  für  Österreich, 
weniger  aber  für  Italien  war. 

Ew.  stelle  ich  anheim,  die  vorstehenden  Gesichtspunkte  gelegent- 
lich mit  dem  Grafen  Kälnoky  zu  erörtern;  vielleicht  wird  es  sich  da- 
durch erreichen  lassen,  daß  der  österreichisch-ungarische  Minister  seine 
Ermahnungen  zur  Verträglichkeit  nicht  bloß  nach  Rom,  sondern  auch 
nach  Paris  richtet. 

Marschall 


*  Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LIV,  A. 
142 


Nr.  1461 

Der  Botschafter  in  Wien  Graf  zu  Eulenburg  an  den  Reichskanzler 

Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 
Nr.  72  Wien,  den  30.  März  1895 

Ganz  vertraulich 

Es  war  mir  möglich,  mit  dem  Grafen  Kalnoky  über  die  Beziehungen 
Österreichs  zu  Italien,  respektive  zwischen  Italien  und  Frankreich  eine 
längere  Unterhaltung  zu  führen,  die  lediglich  die  Form  privater  Dis- 
kussion trug. 

Ich  machte  hierbei  die  Bemerkung,  daß  bei  der  Aufnahme  Italiens 
in  den  Dreibund  Österreich  mehr  gewonnen  habe  als  Italien  bezüglich 
seines  Verhältnisses  zu  Österreich.  Das  Schweigen  der  Irredcnta  trage 
wesentlich  zur  Annehmlichkeit  Österreichs  bei,  ganz  abgesehen  von 
den   Vorteilen,  die   es   bei   einer  kriegerischen   Komplikation   gewähre. 

Graf  Kälnoky  schien  auf  die  Frage  der  Irredenta  keinen  besonderen 
Wert  zu  legen.  Selbst  als  ich  erwähnte,  daß  die  Vorgänge  in  Pirano* 
früher  ernste  Folgen  für  die  Lage  der  Regierung  hätten  haben  müssen, 
während  sie  jetzt  kaum  ein  Aufflackern  von  Verstimmung  in  Italien 
zur  Folge  gehabt  hätten,  meinte  Graf  Kälnoky,  Österreich  habe  genug 
Mittel  in  der  Hand,  um  die  italienischen  Untertanen  völlig  verstummen 
zu  machen  und  damit  auch  die  Irredenta  in  Italien  im  Zaum  zu  halten. 
Man  brauche  nur  ein  paar  Bataillone  mehr  in  die  Grenzprovinzen  zu 
legen  und  die  slawische  Bewegung  zu  unterstützen.  Die  numerische 
Überzahl  der  Slawen  werde  bald  ersticken,  was  sich  italienisch  rege. 

Sehr  auffällig  war  es  mir,  daß  der  Graf  im  Laufe  des  Gespräches 
viel  mehr  den  Gedanken  der  Notwendigkeit  des  Festhaltens  an  dem 
Bündnisse  mit  Italien  betonte  als  früher.  Es  war,  v\'ie  gesagt,  nicht  die 
Rücksicht  auf  die  Irredenta,  sondern  eine  andere  Besorgnis  —  über  die 
zu  berichten  ich  schon  Gelegenheit  hatte  — ,  welche  von  neuem  zu- 
tage trat.  Die  Besorgnis  vor  dem  Zusammenbruch  der  italienischen 
Monarchie  und  der  Bildung  einer  nördlichen  und  südlichen  Republik. 
Der  Graf  muß  Nachrichten  aus  der  Lombardei  erhalten  haben,  die  ihn 
ernstlich  beunruhigten.  Ich  vermute  aber  auch,  daß  die  Erfahrungen, 
welche  die  hiesige  Regierung  am  Vatikan  bezüglich  der  Mission  des 
Kardinals  Schönborn**  macht,  nicht  unwesentlich  dazu  beitragen,  die 

*  Die  Anbringung  slowenischer  Gerichtstafeln  in  der  Provinz  Istrien  hatte  im 
Herbst  1SQ4  zu  Tumulten  in  der  italienischen  Bevölkerung  geführt;  in  Pirano 
wurden  die  neu  angebrachten  doppelsprachigen  Tafeln  mit  Gewalt  entfernt. 
**  Im  Februar  18Q5  hatten  im  Namen  des  Österreich-ungarischen  Episkopats  Kar- 
dinal Schönborn,  Bischof  Bauer  und  Bischof  Steiner  die  Hilfe  des  Papstes  gegen 
den  unbotmäßigen  niederen  Klerus  erbeten,  der  mehr  und  mehr  in  das  Lager 
der  radikalen  Parteien,  insbesondere  der  christlich-sozialen  Antisemiten  über- 
gegangen war.  Der  Papst  indessen  hieß  in  seiner  Antwort  das  Programm  der 
Christlich-Sozialen  unbeschadet  der  Mißbilligung  ihrer  Ausschreitungen  ausdrück- 
lich gut. 

143 


aufgetretene  Tendenz  der  Kurie,  der  demokratischen  Richtung  des 
niederen  Klerus  eher  freien  Lauf  zu  lassen,  als  sie  einzudämmen,  hat 
Besorgnis  des  Grafen  zu  erhöhen.  Die  in  ganz  bestimmten  Formen 
unzweifelhaft  auch  dem  Grafen  die  Gefahr  vor  Augen  geführt,  die 
diese  Politik  für  Italien  enthält.  Ich  habe  während  der  Dauer  meiner 
Anwesenheit  in  Wien  eine  Art  Erwachen  der  hiesigen  Regierung 
gegenüber  diesen  von  der  Kurie  drohenden  Gefahren  für  die  Mon- 
archien ^  zu  meiner  Genugtuung  konstatieren   können. 

Das  Schreckbild  einer  lombardischen  Republik  scheint  demnach 
momentan  einen  ziemlich  zähen  Leim  für  das  Bündnis  Italien-Österreich 
zu  bilden  —  was  nichts  daran  ändert,  daß  man  den  Gegenstand  an 
und  für  sich  häßlich  und  den  Leim  übelriechend  findet. 

Diese  Anschauung  hat  auch  zur  Folge,  daß  mir  Graf  Kälnoky  auf 
meine  in  phantastischer  Form  gemalten  Betrachtungen  über  das  Zu- 
kunftsbild eines  Bündnisses  der  romanischen  Länder  ganz  bestimmt 
aussprach:  nur  auf  republikanischer  Basis  könnte  sich  dieses  voll- 
ziehen —  und  aus  diesem  Grunde  sei  es  notwendig,  mit  allen  Mitteln 
sowohl  König  Humbert  als  die  Königin-Regentin  von  Spanien  zu  halten  2. 
Ich  erwiderte,  daß  sich  bei  einer  solchen  Lage  der  Dinge  die  Notwendig- 
keit ergäbe,  die  Beziehungen  zwischen  Italien  und  Frankreich  weder 
zu  warm  werden  zu  lassen,  noch  gar  zu  viel  zu  unterstützen  3.  Der  Graf 
ripostierte  mit  einiger  Heftigkeit,  daß  Baron  Blancs  Unruhe,  Feind- 
seligkeit gegen  Frankreich,  Unberechenbarkeit  und  Größenwahn  eine 
Gefahr  für  Komplikationen  am  Roten  Meer  und  in  Afrika*  darstellten: 
Österreich  wolle  nichts  mit  diesen  Dingen  zu  tun  haben,  sei  ander- 
seits durch  seine  geographische  Lage  bei  Komplikationen  am  Mittel- 
meer sofort  in  eine  Art  Mitleidenschaft  gezogen.  Daher  habe  er  die 
unbequemen  Anzapfungen  des  Baron  Blanc  bezüglich  einer  größeren 
Betätigung  des  Bündnisses  mit  Italien  nur  streng  ablehnend  beant- 
worten können  und  sich  genötigt  gesehen,  den  Zündstoff  nach  Mög- 
lichkeit zwischen  Italien  und  Frankreich  zu  beseitigen.  Dieses  habe 
zu  Ermahnungen  zur  Herstellung  eines  freundlichen  Verhältnisses  an 
Italien  sowohl  wie  an  Frankreich  geführt.  Graf  Wolkenstein  habe  eine 
solche  Instruktion  nach  Paris  mit  auf  den  Weg  erhalten. 

Ich  nehme  an,  daß  die  Aufmerksamkeit,  die  das  Bestreben  des 
Grafen  erregte,  eine  Annäherung  zwischen  Italien  und  Frankreich  her- 
zustellen, und  die  Mißdeutungen,  welche  ein  solches  Vorgehen  erregen 
kann,  ihn  genügend  aufgeklärt  hat  und  dazu  beitrug,  jenes  Bild  klar- 
zustellen, welches  er  sich  angesichts  der  republikanischen  Gefahren  in 
den  romanischen  Königreichen  machte.  P.  Eulen  bürg 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 
^  Gut        2  gut      s  richtig 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Philli]  hat  gut  gearbeitet. 

*  Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LIV,  A. 
144 


Nr.  1462 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 

Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

^'■•'^3  Rom,  den  26.  März  18Q5 

Vertraulich 

Der  mir  hochgeneigtest  mitgeteilte  Bericht  des  Kaiserlichen  Ge- 
schäftsträgers in  Paris  vom  9.  d.  Mts.  über  eine  Unterhaltung  desselben 
mit  dem  Grafen  Wolkenstein*  bestätigt,  was  mir  Baron  Blanc  wieder- 
holt über  den  Wunsch  des  Wiener  Kabinetts  gesagt  hat,  eine  An- 
näherung von  Italien  an  Frankreich  herbeizuführen.  Es  ist  richtig,  daß 
das  Verhältnis  Italiens  zu  Frankreich  seit  einem  Jahr  kein  besonders 
freundliches  ist.  Wenn  auch  während  dieser  Zeit  von  einer  wirklichen 
Kriegsgefahr  nie  die  Rede  war,  so  trugen  die  diplomatischen  Beziehungen 
zwischen  beiden  Regierungen  doch  einen  ziemlich  frostigen  Charakter. 

Ich  würde  die  Grenzen  der  mir  gezogenen  Berichterstattung  über- 
schreiten, wenn  ich  eine  einigermaßen  erschöpfende  Darstellung  der 
Stellung  und  Stimmung  Italiens  gegenüber  Frankreich  geben  wollte. 
Ich  glaube  aber,  die  Situation  vom  Standpunkt  unserer  Interessen  kurz 
dahin  resümieren  zu  dürfen,  daß  wir  ebensowohl  einen  Angriff  Italiens 
gegen  Frankreich  als  ein  Bündnis  Italiens  mit  Frankreich  zu  ver- 
hindern haben  1. 

In  ersterer  Beziehung  unterliegt  es  kaum  einem  Zweifel,  daß 
manche  italienische  Politiker  während  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  mehr- 
mals nicht  übel  Lust  hatten,  mit  Frankreich  anzubinden  2.  Obwohl  gegen- 
wärtig die  Stimmung  in  Italien  —  an  höchster  Stelle,  in  Regierungs- 
kreisen und  in  der  Bevölkerung  —  eine  ausgesprochen  friedliche  ist 
und  politische,  militärische  wie  finanzielle  Gründe  eine  italienische 
Aggressivpolitik  unwahrscheinlich  erscheinen  lassen,  bleibt  es  meines 
ehrerbietigen  Erachtens  nach  wie  vor  geboten,  sorgfältig  darüber  zu 
wachen,  daß  Italien  keinen  Konflikt  mit  Frankreich  provoziert,  der  uns 
in  Mitleidenschaft  ziehen  würde. 

Andrerseits  darf  jedoch  auch  nicht  übersehen  werden,  daß  die 
Sehnsucht  nach  einer  Verständigung  mit  Frankreich  in  Italien  eine  leb- 
hafte und  verbreitete  ist.  Den  meisten  Italienern  würde  ein  Stein  vom 
Herzen  fallen,  wenn  sie  sich  ohne  Preisgebung  vitalster  Interessen 
noch  Verletzung  ihrer  nationalen  Eitelkeit  mit  Frankreich  arrangieren 
könnten.  Wie  sehr  dies  noch  neuerdings  bei  verschiedenen  Anlässen 
—  Entrevue  Calmette**,  Ermordung  des  Präsidenten  Carnot***  usw.  — 
hervortrat,  habe  ich  schon  früher  hervorzuheben  mir  gestattet. 

*  Vgl.  Nr.  1460,  Fußnote. 

**  Gaston  Calmette,  „Figaro"-Korrespondent,  dem  König  Humbert  in  Venedig  eine 

Unterredung  gewährt  hatte. 

***  Carnot  war  am   24.  Juni   1894  durch   einen  italienischen   Anarchisten   Cesario 

Santo  in  Lyon   ermordet  worden. 

10    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  145 


Zwischen  Italien  und  Franlcreich  stehen,  eine  Verbindung  hindernd, 
nanienthch  drei  Streitfragen:  1.  Die  römische  Frage.  Frankreich,  auch 
als  Republik  die  älteste  Tochter  der  Kirche,  kann  sich  schwer  zu  dem 
Prinzip  der  „Roma  intangibile"  bekennen,  2.  Die  afrikanischen  Diffe- 
renzen —  Tunis,  Tripolis,  Marokko,  Harrar*  — ,  wo  sich  Aspira- 
tionen und  Interessen  beider  Mittelmeermächte  durchkreuzen.  3.  Die 
französische  Überhebung  gegenüber  Italien.  Hier  liegt  vielleicht  das 
Haupthindernis  für  eine  wirkliche  Aussöhnung  zwischen  beiden  Völkern. 
Wenn  die  Franzosen  sich  entschließen  könnten,  Italien  als  gleich- 
berechtigte Großmacht  anzuerkennen  und  zu  behandeln,  so  würden 
wahrscheinlich  viele  Italiener  ungeachtet  der  französischen  Koketterie 
mit  dem  Papst  und  trotz  Nordafrika  der  französischen  Anziehungskraft 
nicht  widerstehen  können. 

Die  französische  Unterströmung  in  Italien  ist  eine  sehr  starke. 
Gerade  auf  diesem  Gebiete  begegnen  sich  in  den  Massen  die  roten  und 
die  schwarzen  Elemente,  im  Parlament  die  äußerste  Linke  (Cavalotti, 
Imbriani,  Costa)  und  die  äußerste  Rechte  (Bonghi,  Visconti-Venosta, 
Prinetti).  Unter  den  Intimen  des  Herrn  Crispi  befinden  sich  deklarierte 
Franzosenfreunde,  wie  der  Mailänder  Bankier  Weill-Schott.  pp. 

Von  irgendwelchem  Haß  gegen  Frankreich  ist  auf  italienischer 
Seite  jetzt  keine  Rede,  wohl  aber  vielfach  von  kaum  zu  entwurzelnder 
Vorliebe.  Italiener  und  Franzosen  haben  —  wenn  ich  mich  dieses 
französischen  Ausdrucks  bedienen  darf  —  viele  Atomes  crochus.  Sie 
haben  mannigfache  gemeinsame  geschichtliche  Erinnerungen.  Zwischen 
Frankreich  und  Italien  laufen  viele  Fäden  hin  und  her.  Wenn  Graf 
Kälnoky  es  für  unmöglich  erklärt,  daß  Italien  sich  Frankreich  anschließe, 
so  ist  dies,  soweit  Italien  in  Betracht  kommt,  nicht  richtig.  Ich  könnte 
mir  sehr  wohl  ein  Frankreich  wieder  zugewandtes  Italien  vorstellen,  pp. 

Ob  es  unter  diesen  Umständen  so  sehr  bedauerlich  ist,  daß,  wie 
Graf  Wolkenstein  behauptet,  der  allerdings  etwas  eckige  Graf  Tornielli 
nicht  die  Gabe  besitzt,  die  Franzosen  zu  bezaubern,  möchte  ich  dahin- 
gestellt sein  lassen.  Ich  hoffe.  Euerer  Durchlaucht  hohen  Intentionen 
zu  entsprechen,  wenn  ich  einerseits  nach  wie  vor  jedem  offenen  Kon- 
flikt Italiens  mit  Frankreich  vorzubeugen  suche,  es  aber  andererseits 
unbeschadet  bester  persönlicher  Beziehungen  zu  meinem  französischen 
Kollegen  nicht  als  meine  Aufgabe  betrachte,  ein  völlig  ungetrübtes 
Verhältnis  zwischen   Italienern   und   Franzosen   herbeizuführen  i. 

B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Richtig 

2  Crispi  speziell  ist  sleinerj  Z[eitl  vom  Fürsten  Blismarck]  dazu  förmlich  verleitet 
worden. 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Einverstanden.    Das  ist  Bülows  vornehmste  Aufgabe  in  Rom,  und  darum  muß  er 
sicher  lange  dableiben. 

*  Vgl.   über  diese   Fragen   Bd.  VIII. 
146 


Nr.  1463 

Der  Botschafter  in  Rom  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  112  Rom,  den  17.  Juni  18Q5 

Der  italienische  Minister  des  Äußern  Baron  Blanc  teilte  mir  ver- 
traulich einen  Erlaß  mit,  welchen  er  unter  dem  7.  d.  Mts.  an  den  ita- 
lienischen Botschafter  in  Paris  gerichtet  hat.  Der  französische  Minister 
des  Äußern,  Herr  Hanotaux,  hatte  dem  italienischen  Botschafter  im 
April  erklärt,  daß  Frankreich  ein  Waffeneinfuhrverbot  für  Djibuti  und 
Obock  nur  erlassen  könne,  wenn  England  für  Zeila*  dieselbe  Maßregel 
ergreife.  Obwohl  letzteres  von  englis-cher  Seite  inzwischen  geschehen 
ist,  scheint  die  französische  Regierung  nicht  gewillt,  den  in  Rede 
stehenden  italienischen  Wunsch  zu  erfüllen. 

Der  im  italienischen  Original  wie  in  deutscher  Übersetzung  ehr- 
erbietigst beigefügte  Erlaß  des  Baron  Blanc  an  Graf  Tornielli  läßt 
darauf  schließen,  daß  in  den  hiesigen  amtlichen  Kreisen  die  Ver- 
stimmung gegenüber  Frankreich  wieder  im  Steigen  ist.  Es  hängt  dies 
auch  damit  zusammen,  daß  die  Pariser  Presse  während  des  jüngsten 
italienischen  Wahlkampfes  in  überaus  leidenschaftlicher  Weise  gegen 
Herrn  Crispi  Partei  ergriff. 

Baron  Blanc  kam  während  der  letzten  Zeit  mir  gegenüber  mehr- 
fach darauf  zurück,  daß  die  französische  Politik  gegenüber  Italien  nur 
ein  Ziel  verfolge  und  nur  von  einem  Gesichtspunkt  inspiriert  sei: 
Italien  vom  Dreibund  oder  vielmehr  von  Deutschland  abzusprengen. 
Daß  die  Franzosen  diesen  Zweck  durch  schlechte  Behandlung  der  Ita- 
liener, Einschüchterungsversuche,  Feindschaft,  überhaupt  nicht  durch 
Zuckerbrot,  sondern  mit  der  Peitsche  zu  erreichen  suchten,  sei  ein  tak- 
tischer Fehler,  da  der  Italiener  dem  Lafontaineschen  Wanderer  gliche, 
welchem  die  schmeichelnde  Sonne  den  Mantel  ablockte,  den  der  kalte 
Wind  nicht  zu  entführen  vermochte.  Die  Haltung  der  Franzosen  sei 
einerseits  auf  ihre  tiefe  innerliche  Erbitterung  und  Ranküne  gegenüber 
Italien  zurückzuführen  —  die  Franzosen  könnten  sich  im  Gegensatz 
zu  den  Italienern  schlecht  verstellen  — ,  andererseits  darauf,  daß  die 
französischen  Radikalen  und  Ultramontanen  der  französischen  Regie- 
rung übereinstimmend  versicherten,  der  monarchische  italienische  Ein- 
heitsstaat werde  bald  zusammenbrechen,  verdiene  also  weder  Entgegen- 
kommen noch  Schonung,   pp. 

B.  von  Bülow 


*  Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LIV,  A. 


«O»  147 


KAPITEL  XLVI 

Erneuerung  des  Rumänischen  Vertrages 

1892 


Nr.  1464 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  22  Bukarest,  den  27.  Februar  18Q1 

Geheim 

Wie  Euer  Exzellenz  wissen,  sind  die  geheimen  Abmachungen, 
welche  Rumänien  mit  den  Staaten  der  Tripelallianz  verbinden*,  hier  nur 
Seiner  Majestät  dem  Könige  Karl,  Herrn  Joan  Bratianu,  Herrn  Demeter 

*  Vgl.  Bd.  III,  Kap.  XVII.  Der  zunächst  auf  fünf  Jahre  abgeschlossene  Bündnis- 
vertrag zwischen  Österreich-Ungarn  und  Rumänien  vom  30.  Oktober  1883,  dem 
Deutschland  durch  Akzessionserklärung  vom  gleichen  Tage  beigetreten  war,  lief 
auf  Grund  von  Artikel  V,  da  er  nicht  ein  Jahr  vor  seinem  Ablauf  gekündigt 
wurde,  auf  drei  weitere  Jahre,  also  bis  Ende  Oktober  1891  weiter.  Inzwischen 
war  auch  Italien  durch  Vertrag  vom  15.  Mai  1888  (siehe  denselben  bei  Pribram, 
Die  politischen  Geheimverträge  Österreich-Ungarns  1879—1914  I  [1920],  S.  33  f.) 
dem  Bündnis  beigetreten.  Die  erste  Anregung  zu  diesem  Beitritt  scheint  der 
rumänische  Minister  Sturdza  bei  seinem  Aufenthalt  in  Friedrichsruh  (21.  bi's 
22.  Januar  1888)  vom  Fürsten  Bismarck  empfangen  zu  haben,  der  kurz  zuvor  zu 
einem  Berichte  Reuß'  vom  7.  Januar  1888  bemerkt  hatte:  „Italien  müßte  unserm 
österreichisch-rumänischen  Vertrage  beitreten,  es  ist  immer  noch  besser,  den 
Rumänen  den  vertragsmäßigen  Beistand  in  italienischen  Truppen  zu  leisten  als 
in  deutschen"  (vgl.  Bd.  VI,  S.  246).  Sturdza  hat  den  Gedanken  des  italienischen 
Beitritts  dann  in  Wien  mit  dem  Grafen  Kälnoky  erörtert,  der  aber  dem  Beitritt 
Italiens  keine  große  Bedeutung  beizulegen  schien,  da  er  die  Beteiligung  Italiens 
an  einem  russischerseits  durch  Angriff  auf  Rumänien  provozierten  Krieg  schon 
durch  die  bestehenden  Verträge  gesichert  glaubte.  Deutscherseits  darauf  hin- 
gewiesen (Erlaß  an  Prinz  Reuß  vom  31.  Januar),  daß  diese  Annahme  nicht  zu- 
treffe, daß  nach  der  Fassung  der  Verträge  Italien  zwar  im  Fall  eines  russischen 
Angriffs  auf  Österreich  zur  Hilfeleistung  verpflichtet  sei,  nicht  aber  auch  im 
Falle  eines  Angriffes  auf  Rumänien,  erkannte  auch  Graf  Kälnoky  an,  daß  der  Bei- 
tritt Italiens  zu  den  Abmachungen  mit  Rumänien  wichtig  sei,  und  übernahm  es, 
die  Verhandlungen  mit  Italien  einzuleiten.  Der  Wiener  Anregung,  daß  un- 
beschadet der  österreichischen  Einleitung  die  Verhandlungen  ä  quatre  geführt 
werden  möchten,  widersprach  Fürst  Bismarck  in  einem  Erlasse  an  Prinz  Reuß 
vom  30.  März  1888.  Statt  dessen  schlug  er  vor,  daß  Italien  dem  Bündnis  einfach 
durch  Akzessionserklärung,  wie  vordem  Deutschland,  beitreten  möge.  Im  ganzen 
wollte  Bismarck  überhaupt  kein  durchschlagendes  Gewicht  auf  den  rumänischen 
Vertrag  legen.  „Ich  sehe  in  demselben  eine  Steigerung  eher  unsrer  Passiva  als 
unsrer  Aktiva  und  habe  unsere  Akzession  dazu  durchaus  nicht  aus  dynastischem 
Interesse,  sondern  nur  aus  Konnivenz  für  die  österreichische  Politik  bei  Seiner 
Majestät  befürwortet.  Die  Beziehungen  unsres  Königshauses  zu  der  in  Rumänien 
herrschenden  Linie  der  HohenzoUern  würden  einen  deutschen  Reichskrieg  an  sich 

151 


Sturdza,  Herrn  Carp  und  Herrn  Alexander  Beldiman*  bekannt.  Da 
sich  von  den  genannten  Politikern  zurzeit  keiner  im  Amte  befindet, 
machte  mich  der  österreichisch-ungarische  Gesandte  Graf  Goluchowski 
kürzlich  darauf  aufmerksam,  daß  es  sich  empfehlen  dürfte,  allmählich 
die  Frage  ins  Auge  zu  fassen,  wie  die  nach  seiner  Annahme  im  Herbste 
dieses  Jahres  ablaufenden  sekreten  Stipulationen  am  besten  zu  er- 
neuern wären.  Graf  Goluchowski  gab  hierbei  der  Ansicht  Ausdruck, 
daß  zu  diesem  Zweck  entweder  Herr  Carp  ins  Ministerium  eintreten 
oder  König  Karl  die  Herren  Manu**  und  Alexander  Lahoväry***  ins 
Vertrauen  ziehen  müsse,  damit  letztere  die  Vertragserneuerung  vor- 
nähmen. Mein  Österreich-ungarischer  Kollege  ging  hierbei  von  der 
Überzeugung  aus,  daß  König  Karl  jedenfalls  die  fragliche  Erneuerung 
wünsche  und  beabsichtige;  deshalb  werde  höchstderselbe  auch  wohl 
dafür  sorgen,  daß  in  jedem  Kabinette  wenigstens  ein  Mitglied  sitze, 
mit  dem  von  selten  der  Zentralgruppe  unterhandelt  werden  könnte. 

Diese  Annahme  scheint  vorläufig  nicht  ganz  zutreffend  zu  sein. 
Wenigstens  Heß  Seine  Majestät  König  Karl  in  einer  ganz  vertrau- 
lichen Unterredung  über  die  derzeitige  innere  Lage  Rumäniens  heute 
mir  gegenüber  die  Äußerung  fallen,  daß  es  wohl  kaum  möglich  sein 
werde,  die  geheimen  Abmachungen  zu  erneuern,  bevor  hier  wieder 
die  Nationalliberalen  ans  Ruder  kämen,  die  aber  noch  nicht  regierungs- 
reif wären.  General  Manu  und  General  Florescu  würden  kaum  den 
A'lut  haben,  den  Vertrag  abzuschließen;  Herr  Alexander  Lahoväry 
würde  nicht  die  nötige  Autorität  besitzen,  Herr  Laskar  Catargi  von 
der  Krone  zu  große  Gegenkonzessionen  verlangen,  und  Herrn  Carp 
wolle  er  das  Heft  nicht  anvertrauen.  „Übrigens  schadet  es  nichts/' 
fügte  der  hohe  Herr  hinzu,  „wenn  der  Vertrag  so  lange  außer  Kraft 
tritt,  bis  hier  wieder  stabilere  Zustände  Platz  greifen.  Ich  glaube 
nicht,  daß  wir  dem  ewigen  Frieden  entgegengehen,  aber  für  ein  bis 
zwei  Jahre  scheint  ja  nach  dem  Besuche  des  Erzherzogs  Franz  Ferdi- 
nand in  St.  Petersburg,  bei  der  in  den  deutsch-französischen  Beziehungen 


nicht  rechtfertigen  können.  Wir  werden  deshalb  den  bestehenden  Vertrag  mit 
derselben  Entschiedenheit  durchführen,  wie  es  von  Österreich  geschehen  wird, 
und  daß  ein  Vertragsabschluß  zwischen  Italien  und  Rumänien  stattfinde,  halte  ich 
für  nützlich,  im  deutschen  wie  im  österreichischen  Interesse;  ich  sehe  aber  nicht 
ein,  weshalb  Italien  dem  österreichischen  Vertrage  nicht  in  derselben  Weise  bei- 
treten sollte,  wie  wir  es  getan,  d.  h.  also,  ohne  daß  der  Verhandlungsapparat 
jetzt  durch  unser  Hineinziehen  kompliziert  wird." 

Die  wohlberechnete  kühle  Reserve  Bismarcks  hatte  vollen  Erfolg.  Italien, 
das  erst  in  den  mit  Rumänien  abzuschließenden  Vertrag  allerlei  Kautelen  auf- 
genommen sehen  wollte,  erklärte  sich  nunmehr  mit  der  einfachen  Akzession,  die 
am  15.  Mai  1888  erfolgte,  einverstanden. 

*  1883,    bei   Abschluß    des    rumänischen    Vertrages,   erster  Legationssekretär   der 
rumänischen  Gesandtschaft  in  Berlin. 
**  G.  Manu,  rumänischer  Konseilpräsident. 
***  Alinister  des  Äußern. 

152 


eingetretenen  detente  und  angesichts  der  freundlicheren  Beziehungen 
zwischen  Italien  und  Frankreich  der  Frieden   gesichert." 

Ich  habe,  indem  ich  betonte,  daß  ich  ohne  Auftrag,  lediglich  auf 
Grund  meiner  persönlichen  Eindrücke  spräche,  Seine  Majestät  nach- 
drücklich darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  Rumänien  an  den  Ver- 
trägen ein  weit  größeres  Interesse  habe  als  die  Mächte  des  Drei- 
bundes. Ich  könne  deshalb  nur  dringend  raten,  selbst  für  kurze  Zeit 
nicht  das  Seil  zu  lockern,  welches  die  kleine  rumänische  Jolle  an  das 
Orlogschiff  der  Tripelallianz  knüpfe.  Schon  deshalb  sollte  der  König 
für  zuverlässige  Minister  sorgen,  damit  die  für  ihn,  die  rumänische 
Dynastie  und  Rumänien  so  wertvollen  geheimen  Stipulationen  erneut 
werden  könnten.  Der  König  entgegnete,  daß  er  sich  die  Sache  noch 
überlegen  wolle. 

Ich  gestatte  mir  schließlich  noch  zu  bemerken,  daß  ich  von  den 
Auslassungen  des  Königs  meinen  Österreich-ungarischen  Kollegen  streng 
vertraulich  in  Kenntnis  gesetzt  habe,  der  einigermaßen  konsterniert 
war.  Ich  riet  dem  Grafen  Goluchowski,  dieselben  zwar  zu  beachten, 
aber  vorläufig  nicht  zu  sehr  au  tragique  zu  nehmen:  Es  müsse  sich 
noch  herausstellen,  ob  der  König  nur  in  einem  Anfall  von  momen- 
taner Schwäche  —  wie  solche  bei  dem  hohen  Herrn  nicht  ganz  s-elten 
sind  —  gesprochen  habe    oder  mit  tiefer  Hegenden  Absichten. 

B.  von  Bülow 


Nr.  1465 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  27  Bukarest,  den  6.  März  1891 

Vertraulich 

Die  Nachgiebigkeit  des  Königs  Karl  gegenüber  den  Forderungen 
der  Bojarenpartei,  welche  Seine  Majestät  binnen  einer  Woche  von 
der  Berufung  des  Generals  Florescu*  bis  zur  Annahme  der  von  dem- 
selben vorgelegten  rein  konservativem  Ministerliste  und  von  dieser 
Annahme  zur  Gewährung  der  Kammerauflösung  führte,  geht  aus  ver- 
schiedenen und  einigermaßen  komplizierten  Ursachen  hervor. 

Zunächst  handelt  der  König  gegenüber  den  sich  widerspechenden 
Prätensionen  der  verschiedenen  Parteien  überhaupt  mit  Vorliebe  nach 


*  Anfang  März  1891  hatte  das  Ministerium  Manu  einem  Ministerium  Florescu 
Platz  gemacht,  in  dem  L.  Catargi  das  Innere,  G.  Vernescu  die  Finanzen  übernahm. 
Da  das  neue  Ministerium  gleich  bei  seiner  Vorstellung  in  der  Kammer  ein  Tadels- 
votum erhielt,  wurde  die  Kammer  am  5.  März  aufgelöst. 

153 


dem  Sprüchwort:  Dem  bösesten  Hund  den  fettesten  Bissen.  Indem  der 
König  immer  in  erster  Linie  diejenigen  zu  beruhigen  sucht,  die  ihm 
am  gefährhchsten  erscheinen,  setzt  er  allerdings  eine  Prämie  auf  Illoya- 
lität aus,  was  zur  Folge  hat,  daß  ihm  keine  Partei  mehr  traut  und 
kaum  ein  Politiker  ihm  persönlich  devouiert  ist^. 

Im  vorliegenden  Falle  wurde  der  König  in  seiner  gewöhnlichen 
Taktik  noch  durch  die  Erwägung  bestärkt,  daß  die  Bojaren  am  ehesten 
imstande  wären,  sein  Jubiläum*  ernstlich  zu  stören,  und  darum  vor  allem 
befriedigt  werden  müßten. 

Es  kam  dazu,  daß  die  Nationalliberalen  aus  kurzsichtigem  Hasse 
gegen  die  Junimisten  und  Jungkonservativen  seit  Monaten  erklärten, 
die  Krone  müsse  zwischen  den  „historischen  Parteien"  der  Roten 
und  Weißen  wählen,  dürfe  aber  nicht  länger  mit  der  junimistischen 
„Gruppe"  regieren.  Da  nun  die  Aktionskraft  der  Roten  durch  den 
körperlichen  Kräfteverfall  ihres  Führers  Jean  Bratianu**  zurzeit  ge- 
lähmt ist,  entschied  sich  Seine  Majestät  für  die  Weißen. 

Endlich  muß  ich  im  allerengsten  Vertrauen  noch  erwähnen,  daß 
manche  neuerliche  Ereignisse  auf  dem  Gebiete  der  großen  Politik 
den  impressionablen  und  durch  seine  Diplomatie  nicht  immer  richtig 
informierten  Monarchen  deroutierten,  obwohl  ich  es  mir  besonders 
und  fortgesetzt  angelegen  sein  ließ,  höchstdenselben  von  der  Uner- 
schütterlichkeit des  Dreibundes  wie  des  gegenwärtigen  status  quo  in 
Europa  zu  überzeugen.  Die  Stimmung  des  Königs  ist  nach  meinen 
ganz  vertraulichen  Eindrücken  zur  Zeit  eine  solche,  daß  er  lieber  etwas 
weiter  von  der  Tripelallianz  abrücken,  als  zu  sehr  zu  Rußland  und 
Frankreich  in  Gegensatz  geraten  möchte.  Der  allmählich  akuter  ge- 
wordene Nationalitätenhader  in  Siebenbürgen  bestärkt  den  hohen  Herrn 
in  dieser  Neigung,  während  ihn  auch  die  —  speziell  von  den  Weißen 
genährte  —  separatistische  Bewegung  in  der  Moldau  zu  Konzessionen 
an  die  Bojarenpartei  trieb. 

Wenn  ich  auch  das  letztgenannte  Moment  hervorhebe,  so  will  ich 
damit  nicht  sagen,  daß  König  Karl  eine  lange  Dauer  des  Bojaren- 
kabinetts wünscht.  Ich  habe  vielmehr  Grund  zu  der  Annahme,  daß 
der  König  dans  son  for  Interieur  hofft,  das  Ministerium  werde  der 
Opposition  der  übrigen  Fraktionen  nicht  gewachsen  sein  2.  Die  Über- 
lassung der  Regierung  an  die  Herren  Florescu,  Catargi  und  Vernescu 
bleibt  trotzdem  bedauerlich,  pp. 

B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

'  Ja 

2  unmoralisch  für  einen  Monarchen  im  höchsten  Grade  und  sehr  bedauerlich 


*  Für  den  22.  Mai  stand  das  25jährige  Regierungsjubiläum  des  Königs  bevor. 
♦*  t  15.  Mai  1891. 

154 


Nr.  1466 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  33  Bukarest,  den  17.  März  1891 

Geheim 

Mein  österreichisch-ungarischer  Kollege  erzählt  mir,  er  habe  im 
Laufe  der  ihm  vor  seiner  Abreise  nach  Wien  gestern  vom  König  Karl 
bev^illigten  Audienz  die  Frage  fallen  lassen,  wie  Seine  Majestät  sich 
die  Erneuerung  der  im  September  ablaufenden  sekreten  Abmachungen 
denke. 

Der  König  habe  erwidert,  daß  mit  dem  gegenwärtigen  Kabinett 
in  seiner  derzeitigen  Zusammensetzung  die  Erneuerung  der  Verträge 
schwerlich  angängig  sein  dürfte.  Doch  trage  er  sich  mit  der  Hoffnung, 
daß  es  ihm  im  nächsten  Herbst  möglich  sein  werde,  entweder  zu  den 
Liberalen  zurückzukehren  oder  das  jetzige  Ministerium  zu  reorgani- 
sieren Bülow 

Nr.  1467 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  80  Wien,  den  19.  März  1891 

Erhaltener  Ermächtigung  gemäß  habe  ich  den  Inhalt  des  dem 
hohen  Erlaß  Nr.  175  vom  14.  d.  Mts.  beigefügten  Berichtes  des  Kaiser- 
lichen Gesandten  in  Bukarest  vom  6.  d.  Mts.*  zur  Kenntnis  des  Grafen 
Kälnoky  gebracht. 

Der  Minister  stimmt  den  Äußerungen  des  Herrn  von  Bülow  zu, 
daß  das  jetzige  Ministerium  gar  keine  Garantie  für  die  auswärtige 
Politik  dieses  kleinen  Königreiches  bietet;  auch  fürchtet  er  nach  seinen 
Wahrnehmungen,  daß  sich  bei  dem  Könige  Karl  eine  Wandelung  voll- 
zogen hat  und  er  von  der  Anlehnung  an  die  Zentralmächte  einiger- 
maßen abgekommen  ist.  Daß  hierzu  die  falschen  Nachrichten  über 
die  Lockerung  des  Dreibundes  beigetragen  haben,  scheint  dem  Grafen 
Kälnoky  wahrscheinlich.  Auf  die  Hindeutung  auf  die  siebenbürger 
Rumänen  ist  er  nicht  eingegangen.  Ich  habe  schon  vor  einigen  Tagen 
die  Ehre  gehabt,  hierüber  zu  schreiben,  und  bin  überzeugt,  der  Minister 
kennt  diese  Achillesferse  genau,  kann  aber  den  ungarischen  Chauvi- 
nisten gegenüber  noch  nicht  durchdringen 


*  Siehe  Nr.  1465. 

155 


Er  sagte  mir,  daß  er  nur  sehr  geringe  Anforderungen  an  Rumänien 
stelle,  und  wie  ich  wisse,  er  schon  längst  an  das  Spiegelbild  großer 
militärischer  Kooperation  seitens  der  rumänischen  Armee  nicht  mehr 
glaube.  Aber  das  müsse  erreicht  werden,  daß  sich  Rumänien  wenigstens 
nicht  an   Rußland  anschließe. 

Er  wolle  den  Grafen  Goluchowski  hören,  welcher  demnächst  hier 
eintreffen  werde,  und  dann  weiter  über  die  Sache  sprechen. 

Es  scheint  dem  Minister  nicht  unwahrscheinlich,  daß  russischerseits 
dem  Könige  das  verführerische  Projekt  eines  von  Österreich  nicht  ab- 
hängigen Balkanbundes  vorgespiegelt  werden  dürfte,  —  unter  rumä- 
nischer Führung,  aber  selbstredend  unter  russischem   Protektorat. 

Der  Wechsel  in  der  russischen  Vertretung  in  Bukarest*  ist  dem 
hiesigen  Kabinett  nicht  unangenehm.  Herr  von  Ponton,  welcher  lange 
Jahre  in  Wien  als  Botschaftsrat  angestellt  war,  ist  hier  behebt  und 
als    ruhiger,  friedliebender  und  anständig  denkender    Mann    bekannt. 

H.VII.P.Reuß 


Nr.  1468 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  85       .  ■"  Wien,  den  25.  März  1891 

Geheim 

Wie  ich  Euerer  Exzellenz  zu  melden  mich  beehrte,  hatte  Graf 
Kälnoky  den  k.  u.  k.  Gesandten  von  Bukarest  hierher  berufen,  um  die 
Frage  der  Erneuerung  der  Verträge  mit  ihm  zu  besprechen  und  seinen 
Vortrag  zu  hören. 

Der  Minister  sagte  mir  hierüber  heute  folgendes.  In  Übereinstim- 
mung mit  Herrn  von  Bülow  hätte  Graf  Goluchowski  die  Ansicht  aus- 
gesprochen, daß  König  Karl  wenig  Geneigtheit  zeige,  die  Verträge 
in  der  alten  Form  zu  erneuern.  Die  Gründe  für  diese  Stimmung 
sind  Euerer  Exzellenz  aus  den  Berichten  des  Kaiserlichen  Gesandten 
bekannt.  Den  Vor  wand  zu  dieser  Abneigung  bietet  aber  der  Um- 
stand, daß  keiner  von  den  jetzigen  Ministern  etwas  von  der  Existenz 
der  geheimen  Verträge  weiß  und  der  König  Bedenken  trägt,  einen 
Florescu,  Catargi  oder  Vernescu  in  das  Geheimnis  einzuweihen,  deren 
Mitwirkung  nicht  zu  erwarten  ist,  und  von  denen  einige  kaum  das 
Geheimnis    Rußland   gegenüber   bewahren   dürften. 

Graf  Kälnoky  ist  nun  der  Ansicht,  daß  hierin  der  König  allerdings 
nicht  ganz  unrecht  hat;  Seine  Majestät  hätten  aber  noch  bei  Lebzeiten 
des   Ministeriums   Manu-Lahovary   die  Sache   machen   können,   um   so 

*  Der  russische  Gesandte  Hitrowo  war  durch  von  Fonton  abgelöst  worden. 
156 


eher,  als  der  damalige  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  selbst 
sich  mit  der  Idee,  einen  ähnlichen  Vertrag  mit  Österreich-Ungarn  zu 
schließen,  getragen  hätte.  Gemahnt  wäre  der  König  von  hier  aus  öfters 
worden,  dieses  Geschäft  nicht  aufzuschieben. 

Er,  der  Minister,  hat  sich  nun  gefragt,  ob  man  den  Vertrag,  der, 
wenn  er  nicht  gekündigt  wird,  wieder  auf  drei  Jahre  weiter  läuft,  im 
Herbst  d.  Js.  nicht,  ähnlich  wie  dies  vor  drei  Jahren  geschehen,  als 
verlängert  erklären  könne.  Dieser  Gedanke,  so  einfach  er  klänge,  sei 
nun  aber  nicht  ausführbar,  weil  dazu  immer  ein  Minister  zugezogen 
werden   müsse,   um   das   Faktum   amtlich   zu   registrieren. 

Eine  andere  Idee,  die  ihm  gekommen,  sei  folgende: 

Der  König  habe  während  des  Ministeriums  Manu-Lahoväry  die 
auswärtige  Politik  persönlich  geleitet,  ohne  diese  Herren  von  der 
Existenz  der  Verträge  in  Kenntnis  zu  setzen.  Die  rumänische  Politik 
sei  auch,  wenn  auch  die  Minister  in  Unkenntnis  blieben,  nach  den 
Ideen  der  Verträge  weitergeführt  worden.  Es  würde  daher  auch  Seine 
Majestät  von  dieser  Bahn  nicht  abweichen,  wenn  er  etwa,  durch 
einen  direkten  Brief  des  Kaisers  Franz  Joseph  dazu  aufgefordert,  eben- 
falls durch  einen  eigenhändigen  Brief  sich  verpflichtete,  auch  ferner 
drei  Jahre  an  den  Verträgen  festzuhalten.  Während  dieser  Zeit  wäre 
vielleicht  ein  anderes  Ministerium  ans  Ruder  gekommen,  etwa  mit 
Herrn  Carp,  der  doch  früher  oder  später  wieder  in  das  Kabinett  ein- 
treten werde,  und  dann  hätte  man  die  Verträge  ordnungsmäßig  mit 
diesem  Minister  erneuern  können. 

Er,  Graf  Kälnoky,  habe  aber  diesen  Gedanken  fallenlassen  müssen, 
weil  ihm  Graf  Goluchowski  erklärt  habe,  nach  seiner  Kenntnis  des 
Charakters  des  Königs  Karl  würde  letzterer  sich  zu  einem  solchen 
Schritt  niemals  bewegen  lassen. 

Man  müsse  daher  sehen,  wie  sich  die  Verhältnisse  entwickeln 
würden.  Die  bevorstehenden  Wahlen  würden  vielleicht  die  jetzigen 
Minister  wieder  fortspülen,  und  man  müsse  sehen,  welche  Staats- 
männer dann  ans  Ruder  kommen  würden. 

Es  bleibt  nach  Ansicht  des  Herrn  Ministers  daher  nichts  übrig, 
als  vorläufig  abzuwarten,  den  König  jetzt  nicht  allzusehr  zu  drängen, 
aber  dann  die  Bemühungen  nicht  aufzugeben,  ihn  von  der  Notwendig- 
keit zu  überzeugen,  daß  Rumänien,  wenn  es  seine  Selbständigkeit  retten 
wolle,  bei  der  Anlehnung  an  den   Dreibund  beharren  müsse. 

Mit  diesem  Bescheid  ist  Graf  Goluchowski  heute  wieder  auf  seinen 
Posten  zurückgekehrt. 

Graf  Kälnoky  lobt  sehr  die  vortrefflichen  Beziehungen,  die  zwischen 
dem  deutschen  und  dem  österreichisch-ungarischen  Gesandten  be- 
stehen, und  hofft,  daß  es  diesen  beiden  ebenso  intelligenten  wie  ge- 
schickten Diplomaten  gelingen  möge,  diese  Aufgabe  zu  lösen. 

H.VII.P.Reuß 

157 


Nr.  1469 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Botschafter  in  Wien 
Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Konzept 

Nr.  210  Berlin,  den  26.  März  1891 

Die  rumänische  Frage,  welche  der  Bericht  Nr.  80*  behandelt,  ist 
für  unsern  allergnädigsten  Herrn  und  seine  Regierung  ein  Gegenstand 
der  Besorgnis.  Seit  dem  Jahre  1880,  wo  Fürst  Bismarck  in  Wien  zu 
größerer  Rüclcsichtnahme  auf  Rumänien  riet,  hat  sich  die  Lage  zu 
Ungunsten  Österreich-Ungarns  und  damit  auch  zum  Nachteil  seiner 
Freunde  verschoben.  Damals  wies  Fürst  Bismarck  den  Baron  Haymerle 
darauf  hin,  daß  die  russische  mehr  als  die  österreichische  Politik  der 
rumänischen  Eigenart  und  Empfindlichkeit  Rechnung  trage,  und  daß 
dadurch  bei  dem  Wettbewerb  um  Rumäniens  Freundschaft,  wo  Öster- 
reich die  Sicherung  des  vorhandenen  Besitzstandes,  Rußland  aber  neuen 
Erwerb  in  Siebenbürgen  versprechen  könne,  die  Aussichten  Österreichs 
als  gefährdet  erschienen. 

Bereits  einige  Monate  zuvor  hatte  Fürst  Bismarck  getan,  was  an 
ihm  lag,  um  eine  Annäherung  Rumäniens  an  Österreich  herbeizuführen, 
indem  er  dem  Minister  Bratianu  die  auf  eventuelle  Unterstützung  Ru- 
mäniens bezüglichen  Zusicherungen  erteilte,  welche  durch  den  Erlaß 
vom  29.  März  1880  zu  Ew.  Kenntnis  gebracht  worden  sind.  Daß  der 
Fürst  diese  Zusicherungen  allein  nicht  für  genügend  zur  Anbahnung 
gesicherter  Beziehungen  zwischen  Wien  und  Bukarest  erachtete,  erhellt 
aus  seiner  späteren  zweimaligen  Warnung. 

Heute  liegen  die  Verhältnisse  infolge  der  aggressiven  Politik, 
welche  in  Pest  gegen  die  siebenbürgischen  Rumänen  verfolgt  worden 
ist,  und  welche  ihren  letzten  Ausdruck  in  dem  Zwangskinderbewahr- 
gesetz  gefunden  hat,  wesentlich  ungünstiger  als  im  Jahre  1880. 

Wenn  Graf  Kälnoky  Ew.  gegenüber  die  angebliche  Erschütterung 
des  Dreibundes  als  Ursache  der  Abneigung  des  Königs  gegen  die  Er- 
neuerung des  Vertrages  mit  Österreich  bezeichnet  hat,  so  war  diese 
Äußerung  vielleicht  die  konventionelle  Form,  mittelst  welcher  eine  Er- 
örterung der  wirklichen  Ursache  rumänischer  Entfremdung  vermie- 
den werden  sollte.  Vor  sich  selber  dürfte  der  Graf  als  unbefangener 
Beobachter  keinen  Zweifel  darüber  haben,  daß  nur  die  .Agitation, 
welche  infolge  der  siebenbürgischen  Vorgänge  nach  Rumänien  hinein- 
getragen worden  ist**,  in  neuester  Zeit  eine  Erschütterung  der  Stel- 
lung des  Königs  herbeigeführt  und  diesen  in  die  Zwangslage  versetzt 
hat,   sich   durch    Ernennung   eines   antiösterreichischen   Kabinetts   von 

*  Siehe  Nr.  1467. 

**  Vgl.  darüber  die  beiden  am  Schlüsse  des  Kapitels  abgedruckten  Denkschriften 

Demeter  Sturdzas. 

158 


dem  Vorwurfe  zu  befreien,  mitschuldig  bei  der  Unterdrückung  der 
Siebenbürger  Rumänen  zu  sein. 

Die  Erneuerung  des  Vertrages  wird,  wie  die  Dinge  heute  liegen, 
nicht  von  dem  Willen  des  Königs,  sondern  von  seiner  Macht  oder 
Ohnmacht  bedingt.  Letzterer  kann  nur  von  Wien  und  Pest  aus  ab- 
geholfen werden,  durch  eine  maßvollere  Verwaltungspolitik  in  Sieben- 
bürgen. Diese  Frage  erlangt  dadurch,  daß  von  der  Art  ihrer  Lösung 
die  Flankendeckung  unserer  österreichisch-ungarischen  Verbündeten  im 
Kriegsfalle  abhängt,  für  uns  eine  große  Bedeutung.  Die  Neutralität, 
welche  Graf  Kälnoky  von  Rumänien  erwartet,  ist  etwas  keineswegs 
Selbstverständliches,  denn,  wenn  die  jetzige  Stimmung  der  Gemüter 
fortdauert,  ist  anzunehmen,  daß  ein  Aufstand  in  Siebenbürgen,  möge 
derselbe  auch  nur  von  geringer  Ausdehnung  sein,  das  Königreich  mit 
fortreißt.  Bei  der  Nichterneuerung  des  Vertrages  kommt  neben  der 
Tatsache,  d.  h.  dem  Aufhören  des  bisherigen  Bündnisses,  auch  die 
Ursache,  d.h.  die  feindselige  Erregung  der  Rumänen  gegen  Ungarn, 
in  Betracht.  Angenommen,  daß  König  Karl  durch  eine  ihm  sonst 
nicht  innewohnende  energische  Regung  seinem  Lande  die  Verlänge- 
rung des  Vertrages  als  Tatsache  oktroyierte,  so  wäre  damit  wenig 
gewonnen,  solange  die  Ursache  der  Mißstimmung  fortdauert,  die  Ge- 
fahr, daß  die  Rumänen  den  König  auf  revolutionärem  Wege  des- 
avouieren, würde  bestehen  bleiben. 

Die  fernere  Entwickelung  der  österreichisch-ungarisch-rumänischen 
Beziehungen  liegt  demnach  lediglich  in  der  Hand  von  Österreich- 
Ungarn  oder  vielmehr  in  der  Hand  von  Ungarn  als  Bestand- 
teil der  Gesamtmonarchie.  Ein  Hinweis  auf  die  fast  unwider- 
stehliche Anziehungskraft,  welche  ein  österreichisch-deutscher  Handels- 
vertrag auf  Rumänien  aus  wirtschaftlichen  Gründen  ausüben  muß*, 
dürfte  im  jetzigen  Stadium  der  Handelsvertragsverhandlungen  verfrüht 
und  vielleicht  geeignet  sein,  Mißtrauen  gegen  die  Objektivität  unsrer 
Anschauung  zu  erwecken.  Es  erübrigt  daher  nur,  daß  Ew.  bei  der 
Besprechung  der  rumänischen  Frage  sich  auf  die  rein  politischen  und 
militärischen  Momente  beschränken  und  dem  Grafen  Kälnoky  sagen, 
wir  würdigten  vollkommen  die  Verlegenheit,  in  welcher  die  österrei- 
chisch-ungarische Regierung  angesichts  der  Entscheidung  zwischen 
inneren  Schwierigkeiten  und  auswärtigen  Gefahren  sich  befinde.  Uns 
scheine  indessen  die  Besorgnis,  daß  das  Magyarentum  infolge  der  Nicht- 
berücksichtigung eines  Lieblingswunsches  sich  von  der  Gesamtmon- 
archie lostrennen  und  als  einsame  Insel  im  slawischen  Ozean  herum- 
schwimmen sollte,  weniger  naheliegend  als  die,  daß  Rumänien  in  die 
Rolle  einer  russischen  Vorhut  und  Etappenstraße  hineingeärgert  werde. 


*  Dem  deutsch-österreichischen  Handelsvertrage  vom  6.  Dezember  1891  folgten 
in  der  Tat  bald  Verhandlungen  mit  Rumänien,  die  aber  erst  am  21.  Oktober  1893 
zu  dem  Abschluß  eines  Handeisvertrages  führten. 

159 


Nach  meiner  Ansicht  würde  die  Feindseligkeit  Rumäniens  ein  nicht 
unerhebliches  Hemmnis  für  die  militärische  Machtentfaltung  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  bilden  und  folglich  auch  für  uns  eine 
Erhöhung  der  Gefahren  des  Krieges  bedeuten. 

Eine  Abwendung  Rumäniens  vom  Dreibunde  öffnet  Rußland  den 
Landweg  nach  Bulgarien  und  kann  uns,  mit  sehr  geringem  Kraftaufwand 
von  selten  Rußlands  auf  der  Balkanhalbinsel  zahlreiche  Gegner  schaffen, 
denen  gegenüber  Österreich-Ungarn  bei  Ausbruch  eines  Krieges  zur 
Abzweigung  einer  Armee  an  seiner  Südostgrenze  genötigt  sein  würde. 
Die  ganze  militär-politische  Lage  im  Südosten  verschiebt  sich,  sobald 
Rumänien  sich  für  Rußland  entscheidet,  auf  das  nachteiligste  für  un- 
seren Verbündeten. 

Mag  Rumänien  selbst  bei  einem  schriftlichen  Vertrage  ein  un- 
sicherer Zuwachs  an  aktiver  Kraft  für  uns  sein,  so  überhebt  es  uns 
doch,  auch  wenn  es  schließlich  über  eine  uns  wohlwollende  Neutralität 
nicht  hinauskommt,  wenigstens  bis  nach  den  ersten,  an  anderen  Stellen 
fallenden  großen  Entscheidungen,  der  Notwendigkeit,  unsere  eigenen 
Kräfte  durch  Verlängerung  unserer  Front  zu  schwächen,  während  es 
Rußland   zur   Aufstellung   eines   Beobachtungskorps   am    Pruth   nötigt. 

Die  Leistungen  der  rumänischen  Truppen  lagen  im  letzten  russisch- 
türkischen Kriege  nicht  unter  dem  Niveau  ihrer  Verbündeten.  Seitdem 
ist  jene  Armee  weder  schwächer  noch  schlechter  geworden.  Mag  man 
ihren  Wert  aber  noch  so  gering  anschlagen,  sie  repräsentiert  für  den 
ersten  Teil  eines  Feldzuges  einen  so  erheblichen  Faktor,  daß  es  wohl 
eines  Opfers  wert  scheint,  wenn  auch  nicht  auf  ihren  Beistand,  so  doch 
wenigstens  mit  Sicherheit  auf  ihre  Neutralität  rechnen  zu  können.  Eine 
Neutralität  Rumäniens  kann  aber  nur  dann  in  den  strategischen  Kalkülen 
Österreich-Ungarns  verwertet  werden,  wenn  ihre  Durchführung  nicht 
durch  die  steigende  Verstimmung  der  Nation  von  Haus  aus  in  Frage 
gestellt  ist. 

V.  Caprivi 


Nr.  1470 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  89  Wien,  den  30.  März  1891 

Geheim 

Im  Verfolg  Euerer  Exzellenz  hohen  Erlasses  Nr.210  vom  26.  d.  Mts.*, 
die   rumänischen   Angelegenheiten   betreffend,   habe    ich    heut    Anlaß 

•  Siehe  Nr.  1469. 
160 


genommen,  mit  dem  Grafen  Kälnoky  die  Frage  zu  besprechen,  unter 
Hervorhebung,  daß  dieselbe  für  unseren  allergnädigsten  Herrn  sowie 
für  die  kaiserliche  Regierung  ein  Gegenstand  der  Besorgnis    sei. 

Ich  habe  mir  erlaubt,  auch  ohne  dazu  besonders  autorisiert  zu 
sein,  dem  Minister  diesen  geheimen  Erlaß  als  Beweis  meines  ganz 
besonderen  Vertrauens  vorzulesen. 

Wie  ich  dies  wohl  vorhergesehen  hatte,  waren  dem  Grafen  Kälnoky 
Euerer  Exzellenz  mahnende  Worte  nicht  gerade  angenehm.  Er  weiß 
genau,  wo  ihn  der  Schuh  drückt,  und  deshalb  ist  er  auch  bisher, 
wenn  wir  diese  Angelegenheiten  besprachen,  immer  um  die  eigent- 
lichen Gründe  der  rumänischen  Verstimmungen  herumgegangen. 

Heute  nun  blieb  ihm  nichts  anderes  übrig,  als  darauf  einzugehen, 
und  sprach  er  sich  ungefähr  wie  folgt  aus. 

Die  militärischen  Betrachtungen,  welche  Euere  Exzellenz  an  die 
zweifelhafte  Stellung  des  Königs  Karl  knüpfen,  teile  er  vollkommen, 
und  dächten  die  hiesigen  Militärs  nicht  anders  als  Euere  Exzellenz. 
Es  herrsche  deshalb  zwischen  Hochdenselben  und  ihm  volle  Über- 
einstimmung darüber,  wie  wichtig  es  sei,  die  Rumänen  nicht  in  die 
Arme  Rußlands  geraten  zu  lassen. 

Daß  er  diese  Frage  schon  längst  mit  Aufmerksamkeit  und  Be- 
sorgnis verfolge,  daran  würden  Euere  Exzellenz  wohl  kaum  zweifeln ; 
denn  wenn  unser  Interesse  dabei  mit  Recht  geweckt  sei,  so  läge  der 
hiesigen  Regierung  diese  Frage  doch  noch  viel  näher. 

Der  Minister  verurteilte  ohne  Zögern  manche  Maßregel,  welche 
die  ungarische  Regierung  ergriffen  hätte,  namentlich  aber  bezeichnete 
er  das  Kindergärtengesetz  als  eine  große  Ungeschicklichkeit.  Deshalb 
habe  er  auch  wiederholt,  und  noch  bei  seinem  jüngsten  Aufenthalt  in 
Budapest  die  ungarischen  Minister  ermahnt,  vorsichtiger  zu  sein  und 
nicht  durch  solche  unbedeutende  Quälereien  Anlaß  zu  Weiterungen 
zu  geben.  Im  übrigen  müsse  er  aber  davor  warnen,  alle  von  Rumänien 
und  auch  von  Siebenbürgen  kommenden  Nachrichten  über  Bedrückung 
der  Rumänen  für  bare  Münze  zu  nehmen.  Er  wolle  den  magyarischen 
Chauvinismus  nicht  in  Schutz  nehmen.  Aber  man  könne  der  ungarischen 
Regierung  es  doch  nicht  verdenken,  wenn  sie  der  ungarischen  Sprache 
Eingang  zu  verschaffen  suche  und  namentlich  verlange,  daß  die  an- 
gestellten  Beamten  die  Staatssprache  verstünden. 

Die  Siebenbürger  Rumänen,  welche  kein  Ungarisch  lernen  wollten, 
verließen  das  Land,  gingen  nach  Rumänien  und  erfüllten  dort  die 
Luft  mit  ihren  Klagen.  Es  wäre  nicht  verwunderlich,  daß  dieser 
Zug  nach  dem  Königreiche  bestände,  weil  die  außerhalb  desselben 
wohnenden  Stammesgenossen  dort  als  Märtyrer  gefeiert,  außerdem 
aber  dadurch  angelockt  würden,  daß,  wie  so  viele  Beispiele  zeigten, 
gar   manche    dunkle    Existenz    es    in    Bukarest   bis    zu    den    höchsten 

11    Die  Große  Politik.    7.  Bd.  161 


Würden  bringen  könnte.  Es  ginge  mit  der  rumänischen  Irredenta* 
ganz  ähnlich  wie  mit  der  italienischen;  auch  dort  verließen  einzelne 
Unzufriedene,  die  in  Österreich  kein  Fortkommen  fänden,  das  Land, 
um  dann  über  Unterdrückung  zu  schreien. 

Ich  habe  allen  diesen  Erläuterungen  gegenüber  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß,  wenn  die  ungarische  Regierung  nur  die  alten  ungari- 
schen Nationalitätsgesetze  befolgen  wolle,  die  Rumänen  sich  nicht  zu 
beklagen  haben  würden.  Denn  wenn  auch  die  Klagen,  die  von  dort 
kämen,  oft  übertrieben  sein  dürften,  so  möchte  ich  nur  hervorheben, 
wie  das  Wirken  des  „Kulturvereins",  die  Handhabung  der  Schul- 
verordnungen und  anderer  Maßregeln  nicht  gerade  geeignet  seien, 
die  alte  zwischen  Rumänen  und  Magyaren  bestehende  Feindschaft 
zu    beseitigen, 

Graf  Kälnoky  fühlt  sehr  wohl,  daß  die  ungarische  Regierung  nicht 
ohne  Schuld  an  der  rumänischen  Aufregung  ist;  aber  da  er  nur  eine 
sehr  bedingte  Einwirkung  auf  die  inneren  Verhältnisse  in  der  jen- 
seitigen Reichshälfte  hat,  so  ist  es  ihm  nicht  angenehm,  wenn  ihm 
Vorstellungen  gemacht  werden  über  Dinge,  die  er  wohl  abändern 
möchte,  wozu  ihm  aber  die  Macht  fehlt.  Immerhin  ist  es  sehr  nütz- 
lich, wenn  er  von  selten  des  deutschen  Verbündeten  auf  diese  Übel- 
stände aufmerksam  gemacht  wird.  Er  findet  dann  nicht  bloß  bei 
den  ungarischen  Ministern,  sondern  auch  bei  seinem  Kaiser  einen 
ihm  ganz  gut  passenden  Vorwand,  auf  Abhülfe  zu  dringen. 

Daß  letztere  nicht  so  leicht  und  einfach  ist,  liegt  auf  der  Hand, 
weil   eben   der  magyarische  Chauvinismus  dabei  ins    Spiel    kommt. 

Auch  heute  wollte  der  Minister  übrigens  die  Abneigung  des  Königs 
Karl,  den  Vertrag  zu  erneuern,  nicht  allein  der  rumänischen  Irredenta 
zuschieben,  sondern  mehr  der  Energielosigkeit  Seiner  Majestät,  die 
sich  seit  einiger  Zeit  wieder  sehr  bemerklich  mache.  Dazu  kämen 
Einflüsse  auf  dieses  schwächliche  Gemüt,  die  ihn  unschlüssig  machten. 
Hierzu  rechnet  der  Minister  die  Gesinnung  der  Königin,  die  leider 
immer  eigentümlicher  und  in  Politik  immer  konfuser  würde.  Der  Hyp- 
notismus,  dem  sie  sich  seit  einiger  Zeit  zuneigte,  trüge  auch  noch 
dazu  bei,  ihr  klares  Urteil  zu  verwirren.  Dabei  sei  bekannt,  daß 
die  sonst  so  hochbegabte  Frau  durchaus  keine  freundlichen  Gesin- 
nungen für  ihr  deutsches  Vaterland  hätte. 

Als  Ergänzung  dessen,  was  mir  der  Minister  vor  einigen  Tagen 
gesagt,  teilte  er  mir  mit,  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Franz  Joseph 
geneigt  sei,  einen  Brief  an  den  König  Karl  zu  schreiben,  in  welchem 
er  die  feste  Überzeugung  aussprechen  wolle,  wie  er  bestimmt  von 
den  alten  freundschaftlichen  Gesinnungen  des  Königs  erwartete,  daß 
der  König  auch  das  alte  Vertragsverhältnis  erneuern  werde. 

Graf  Goluchowski  ist  indessen  vorläufig  beauftragt,  über  die  Stim- 


*  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  Demeter  Sturdzas  in  Nr.  1488,  Anlage  II. 
162 


mung  des  Königs  zu  berichten  und  anzugeben,  wann  er  den  Moment 
zu  diesem  Schritt  für  geeignet  halten  würde. 

Der  König  habe  dem  Kaiser  Franz  Joseph  immer  so  viel  auf- 
richtige Verehrung  und  wahre  Anhänghchkeit  gezeigt,  daß  von  einer 
solchen  Ansprache  wohl  ein  Erfolg  zu  erwarten  sein  würde. 

H.VII.  P.Reuß 


Nr.  1471 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  90  Sinaia,  den  4.  August  1891 

Ganz  vertraulich 

Euerer  Exzellenz  hoher  Ermächtigung  entsprechend,  verschob  ich 
auf  Wunsch  des  Grafen  Kälnoky  meine  Abreise  von  Wien  hierher 
bis  zur  Rückkehr  des  Ministers  aus  Ischl.  Die  beachtenswerteren  Äuße- 
rungen, welche  Graf  Kälnoky  im  Laufe  der  beiden  Unterredungen 
fallen  ließ,  die  ich  am  1.  d.  Mts.  mit  ihm  hatte,  gestatte  ich  mir  nach- 
stehend zu  resümieren,  obwohl  dieselben  im  wesentlichen  nur  die  Be- 
richterstattung der  Kaiserlichen  Botschaft  in  Wien  bestätigen  dürften,  pp. 

Graf  Kälnoky  schien  verstimmt  darüber,  daß  der  jüngste  Versuch 
des  Grafen  Goluchowski,  den  König  Karl  zu  einer  präzisen  Erklärung 
hinsichtlich  der  Fortdauer  des  geheimen  Vertragsverhältnisses  zu  be- 
wegen, völhg  mißglückt  sei.  Der  Minister  verhehlte  hierbei  anfänglich 
nicht,  wie  er  hoffe,  daß  ich  demnächst  diesen  Versuch  mit  besserem 
Erfolge  wiederholen  möge^.  Ich  sagte  dem  Grafen  Kälnoky,  daß  wir 
hinsichtlich  der  Ziele  seiner  Politik  in  Rumänien  durchaus  mit  ihm 
übereinstimmten,  wie  ich  überhaupt  die  generelle  Instruktion  habe, 
die  in  politischer  wie  in  wirtschaftlicher  Beziehung  mit  den  unserigen 
identischen  österreichisch-ungarischen  Interessen  an  der  unteren  Donau 
in  jeder  Weise  zu  fördern.  Was  jedoch  die  Mittel  zum  Zwecke  betreffe, 
so  glaube  ich  auf  Grund  meiner  Beobachtung  des  Charakters  Seiner 
Majestät  des  Königs  Karl,  daß  ein  Brüskieren  höchstdesselben  grade 
in  diesem  Augenblicke  mehr  schaden  als  nützen  würde.  Nach  einigem 
Hin-  und  Herreden  stimmte  der  Minister  mir  darin  zu,  daß  wir  vor- 
derhand versuchen  müßten,  den  durch  innere  Schwierigkeiten  und 
häusliche  Sorgen  deprimierten  König  in  Güte  und  allmählich  aufzurich- 
ten und  umzustimmen  2. 

Der  Minister  gab  hierbei  dem  Wunsche  Ausdruck,  daß  der  ge- 
heime Vertrag  seinerzeit  nicht  erneuert,  sondern  verlängert  werden 
möge:  Dies  dürfte  freilich  besonders  schwer  halten,  denn  König  Karl 
werde  den  Konservativen  nicht  eingestehen  wollen,  daß  er  sie  jahre- 

n»  163 


lang  durch  die  Beteuerung  getäuscht  habe,  es  existierten  überhaupt 
keine  sekreten  Stipulationen  zwischen  Rumänien  und  den  Mächten 
des  Dreibunds.  In  betreff  der  von  mir  als  erstrebenswert  bezeichneten 
Reorganisierung  des  gegenwärtigen  rumänischen  Ministeriums  äußerte 
Graf  Kälnoky,  daß  ihm  jetzt  ein  rein  konservatives  Kabinett  Catargi 
alles  in  allem  die  liebste  Kombination  sein  würde;  Herr  Carp  sei 
beim  Könige  zu  schlecht  angeschrieben,  auch  unverträglich  und  heiß- 
spornig; Herr  Demeter  Sturdza  flöße  in  Wien  wegen  seiner  Haltung 
in  kommerziellen  Fragen  wie  gegenüber  der  irredentistischen  Bewegung 
nur  bedingtes  Vertrauen  ein.  Mit  Anerkennung  sprach  der  Minister 
von  den  verschiedenen  Mitgliedern  der  FamiHe  Lahoväry  —  dem 
früheren  Minister  des  Äußern  Alexander  Lahoväry,  dem  früheren 
Generalsekretär  im  Ministerium  des  Äußern  Alexander  Emanuel  Laho- 
väry und  dem  jetzigen  Kriegsminister  Jacques  Lahoväry  — ,  die  zwar 
französisch,  aber  weder  panslawistisch  noch  eigentlich  antiösterreichisch 
wären. 

Graf  Kälnoky  würde  großes  Gewicht  darauf  legen,  daß  König 
Karl  in  diesem  Sommer  mit  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Franz  Joseph 
zusammenträfe,  hält  eine  solche  Begegnung  jedoch  nicht  für  wahr- 
scheinlich. Der  König  habe  erklärt,  daß  er  nicht  gut  zweimal  hinter- 
einander nach  Ischl  kommen  könne;  die  Andeutung,  daß  Kaiser  Franz 
Joseph  dem  Könige  eventuell  irgendwohin  entgegenfahren  könne,  sei 
nicht  releviert  worden;  der  König  wolle  sich  offenbar  an  dem  Kaiser 
„vorbeidrücken". 

Ich  benützte  diesen  Anlaß,  um  nochmals  auf  die  nachteiligen  Folgen 
hinzuweisen,  welche  ein  unfreundliches  Verhalten  der  Magyaren  gegen 
die  siebenbürgischen  Rumänen  für  die  Haltung  des  Königs  Karl  wie 
für  die  Orientierung  der  auswärtigen  Politik  des  rumänischen  König- 
reichs nach  sich  ziehe.  Graf  Kälnoky  nahm  meine  diesbezüglichen 
Darlegungen,  welche  ich  mit  Auslassungen  des  Königs  Karl,  der  nam- 
haftesten rumänischen  Politiker  und  der  rumänischen  Presse  belegen 
konnte,  diesmal  williger  entgegen  als  bei  früheren  Gelegenheiten.  Es 
sei  richtig,  meinte  der  Minister  ganz  vertraulich,  daß  sich  die  Ungarn 
gegenüber  ihren  rumänischen  Mitbürgern  oft  mehr  von  kurzsichtiger 
Leidenschaft  als  von  den  Erwägungen  kühler  Vernunft  leiten  ließen. 
Glücklicherweise  verfielen  die  Magyaren,  die  darin  etwas  Asiaten  wären, 
ebenso  schnell  in  lethargisches  Nichtstun,  als  sie  rasch  aufbrausten. 
Es  sei  ihm  gelungen,  die  Ausführung  des  unglücklichen  Kindergarten- 
gesetzes aufzuhalten ;  auch  auf  das  bekannte  Memorandum  der  rumäni- 
schen Studenten  habe  die  Pester  Universitätsjugend  auf  höheren  Wink 
eine  maßvolle  Antwort  erteilt;  es  stehe  zu  hoffen,  daß  sich  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  verschiedenen  Rassen  in  Siebenbürgen  nach  und  nach 
bessern  werde.  Der  Minister  erwähnte  hierbei,  daß  Herr  Baroß*  neuer- 

*  Ungarischer  Handelsminister. 
164 


dings    mit    Eifer    für    das    Zustandekommen    eines    Handelsvertrags 
zwischen  Österreich-Ungarn  und   Rumänien   eintrete,    pp.* 

B.  von  Bülow^ 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Lieber  nicht 

2  ja 

Nr.  1472 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bü!ow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  92  Sinaia,  den  7.  August  1891 

Geheim 

König  Karl  erzählte  mir  motu  proprio  im  engsten  Vertrauen  und 
mit  der  Bitte,  seine  diesbezüglichen  Konfidenzen  nicht  telles-quelles 
nach  Wien  gelangen  zu  lassen,  daß  Graf  Goluchowski  vor  seinem 
kürzlichen  Urlaubsantritt  eine  „nicht  sehr  glückliche"  Demarche  bei 
ihm  gemacht  habe.  Der  österreichisch-ungarische  Gesandte  habe  ihm 
in  ziemlich  apodiktischem  Tone  eröffnet,  daß  im  Herbste  die  Frage  an 
ihn  herantreten  werde,  ob  er  sich  durch  die  Prolongierung  der  ge- 
heimen Abmachungen  für  oder  durch  die  Nichtprolongierung  gegen 
Österreich-Ungarn  und  den  Dreibund  erklären  wolle.  „Es  ist  von 
Seiten  der  Österreicher  nicht  klug,"  fügte  Seine  Majestät  hinzu,  „mich 
schon  jetzt  und  mit  dieser  Schärfe  vor  ein  solches  aut-aut  zu  stellen. 
Die  Fortdauer  des  geheimen  Vertragsverhältnisses  liegt  auch  mir  am 
Herzen,  aber  das  Wann  und  Wie  der  Erneuerung  hängt  zum  Teil 
von  hiesigen  inneren  Personenverhältnissen  und  Vorgängen  ab,  die 
ich  wohl  allmählich  gestalten  und  umformen,  aber  nicht  von  heute 
auf  morgen  und  ausschließlich  nach  meinem  Willen  bestimmen  kann. 
Die  Österreicher  sollten  mir  eine  gewisse  Latitüde  gewähren; 
wenn  sie  mich  brüskieren  und  vor  der  Zeit  mir  keine  andere  Wahl 
lassen,  als  sofort  den  Vertrag  zu  erneuern  oder  von  ihnen  als  Feind 
betrachtet  zu  werden,  spielen  sie  ein  gefährliches  Spiel  und  treiben 
mich  in  das  Lager  ihrer  Gegner  i.  So  schroff  darf  die  Alternative  nicht 
gestellt  werden,  wenigstens  jetzt  noch  nicht." 

Ich  erwiderte,  daß  man  von  unserer  Seite  —  und  nach  meinen 
Wiener  Eindrücken  auch  von  selten  des  Grafen  Kälnoky  —  nicht  die 
Absicht  habe,  Seine  Majestät  zu  drängen.  Gewiß  wäre  meine  aJler- 
höchste  Regierung  der  Ansicht,  daß  die  Aufrechterhaltung  des  Ver- 
tragsverhältnisses eine  Lebensfrage  sei  wie  für  die  Selbständigkeit 
Rumäniens,  so  für  die  souveräne  Unabhängigkeit  des  Königs  und  die 
Fortdauer  seiner  Dynastie.    Aber  grade  weil  wir  annähmen,    daß    der 


•  Die  Fortsetzung  des  Berichts  siehe  Kap.  XLVII,  Nr.  1505. 

165 


König  dies  wisse  und  einsehe,  wie  die  Fortdauer  der  Verträge  weit 
mehr  in  seinem  Interesse  liege  als  in  demjenigen  der  großen  Mächte 
der  Tripelallianz,  überließen  wir  den  Zeitpunkt  und  die  Modalitäten 
der  Erneuerung  seiner  Loyalität  und  seinem  Takte, 

König  Karl  schien  durch  dieses  vertrauensvolle  Entgegenkommen 
angenehm  berührt.  Der  hohe  Herr  kam  im  Laufe  desselben  Tages 
noch  mehrfach  aus  eigener  Initiative  auf  die  Vertragsfrage  zurück, 
indem  er  betonte,  wie  er  hohen  Wert  auf  die  Erneuerung  der  geheimen 
Stipulationen  lege.  Seine  Majestät  geht  hierbei  von  der  Voraussetzung 
aus,  daß  die  Erneuerung  der  Verträge  durch  die  Konservativen  ihm 
und  uns  die  besten  Garantien  für  die  eventuelle  Erfüllung  derselben 
bieten  würde.  Denn  in  diesem  Falle  würden  sich  die  drei  großen  Par- 
teien des  Landes  für  das  Zusammengehen  Rumäniens  mit  der  Zentral- 
gruppe erklärt  haben:  Die  Liberalen,  indem  sie  vor  acht  Jahren  den 
Vertrag  abschlössen;  die  Junimisten,  als  sie  denselben  1888  indossier- 
ten; die  Konservativen,  wenn  sie  denselben  jetzt  verlängerten  oder  er- 
neuerten. Der  König  glaubt,  daß  sowohl  Herr  Lascar  Catargi  als 
Herr  Esarcu*  sich  für  die  Vertragsidee  gewinnen  lassen  würden; 
er  fürchtet  jedoch,  daß  der  erstere  wegen  seines  Gesundheitszustandes 
nicht  mehr  allzu  lange  im  Amte  bleiben  werde,  während  der  letzt- 
genannte wenig  Prestige  besitze.  Seine  Majestät  denkt  deshalb  für 
die  Renovation  der  Verträge  in  erster  Linie  an  den  Kriegsminister 
General  Jacques  Lahoväry  und  den  früheren  und  voraussichtlich  künf- 
tigen  Minister   des   Äußern,   Herrn   Alexander   Lahoväry. 

Ich  werde  es  mir  auch  ferner  angelegen  sein  lassen,  gesprächsweise 
und  bis  auf  weiteres  ohne  Bezugnahme  auf  höheren  Auftrag  Seiner 
Majestät  dem  Könige  Karl  die  sich  für  ihn  aus  seiner  ganzen  Situation 
ergebende  Notwendigkeit  klarzumachen,  daß  er  die  Vertragserneue- 
rung fortgesetzt  im  Auge  behalte  und  seine  innere  Politik  auf  dieselbe 
zuschneide.  Den  österreichisch -ungarischen  Geschäftsträger  Graf 
Szecsen  habe  ich  in  allgemeinen  Zügen  und  ohne  Wiedergabe  solcher 
Äußerungen  des  Königs,  die  in  Wien  verstimmen  könnten,  von  dem 
gegenwärtigen  Standpunkt  Seiner  Majestät  gegenüber  der  Vertrags- 
angelegenheit in  Kenntnis  gesetzt  und  ihm  gesagt,  daß  übertriebenes 
Insistieren  nach  meinen  Beobachtungen  in  diesem  Augenblicke  mehr 
schaden  als  nützen  dürfte.  Den  Gedanken,  daß  an  die  Stelle  der  so- 
fortigen Vertragserneuerung  für  einige  Zeit  und  als  Surrogat  eine 
schriftHche  Erklärung  des  Königs  treten  könnte,  in  welcher  er  den 
drei  verbündeten  Monarchen  die  tatsächliche  Fortführung  der  bisherigen 
auswärtigen  rumänischen  Politik  auf  der  Basis  der  ablaufenden  ge- 
heimen Stipulationen  und  die  baldmöglichste  formale  Erneuerung  dieser 
Stipulationen  verspräche,  habe  ich  noch  nicht  vorgebracht.   Meines  ge- 


•  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  Florescu. 
166 


I 


horsamsten  Erachtens  empfiehlt  es  sich,  diese  Karte  erst  später  als 
Pis-aller  auszuspielen,  sofern  sich  die  Vertragsrenovierung  nicht  sogleich 
erreichen  läßt.  B.  von  Bülow 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  IL: 
^  Dann  wäre  er  erledigt 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Richtig 

Nr.  1473 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Abschrift 

Nr.  96  Sinaia,  den  11.  August  1891 

pp.  Ich  habe  es  mir  angelegen  sein  lassen,  unter  Widerlegung 
der  übertriebenen  und  schiefen  Seiten  der  Auffassung  der  rumänischen 
Politiker  über  angebliche  russisch-französische  Abmachungen  in  Kron- 
stadt und  deren  Folgen  meine  rumänischen  Bekannten  davon  zu  über- 
zeugen, daß,  grade  wenn  ihre  Annahmen  zuträfen,  hierin  für  Rumänien 
nur  ein  Grund  mehr  liegen  würde,  Anlehnung  bei  der  Zentralgruppe 
zu  suchen.  Denn  wenn  es  wirklich  zu  einem  franko-russischen  Bündnis 
gekommen  sei,  könne  Frankreich  die  Mitwirkung  Rußlands  für  die 
Wiedergewinnung  Elsaß-Lothringens  doch  allein  durch  Konzessionen 
im  Orient  erkauft  haben  i;  solche  Zugeständnisse  würden  nach  Lage 
der  Dinge  in  erster  Linie  die  Selbständigkeit  Rumäniens  bedrohen, 
das  lediglich  bei  der  Tripelallianz  Schutz  gegen  diese  Gefahr  zu  finden 
vermöge.  Der  Minister  des  Äußern,  Herr  Esarcu,  ebenso  wie  der 
frühere  —  und,  wie  zu  erwarten  steht,  zukünftige  —  Minister  der 
auswärtigen  Angelegenheiten,  Herr  Alexander  Lahoväry,  zeigten  sich 
nicht  unempfänglich  für  diese  Andeutungen.  Beide  meinten,  sie  müßten 
allerdings  trotz  aller  Sympathien  für  die  Franzosen  zugeben,  daß  diese, 
hypnotises  par  le  trou  des  Vosges,  wohl  bereit  sein  würden,  für  das 
linke  Rheinufer  nicht  nur  die  ganze  Balkanhalbinsel,  sondern  insbeson- 
dere auch  Rumänien  preiszugeben.  In  dieser  bedrohlichen  Konstellation 
liege  für  die  rumänische  Regierung  die  Aufforderung,  an  der  von  den 
Liberalen  inaugurierten  und  von  den  Junimisten  fortgeführten  nationalen 
und  dynastischen  auswärtigen  Politik  auch  fernerhin  festzuhalten.  Seit- 
dem brachte  die  Wiener  „Politische  Korrespondenz"  eine  inspirierte 
Bukarester  Korrespondenz,  welche  mit  den  Worten  schloß:  „Le  gou- 
vernement  liberal-conservateur  evite  jusqu'au  soupcon  d'immixtion  dans 
les  affaires  interieures  de  I'Autriche-Hongrie,  un  pays  voisin  et  ami, 
€t,  d'un  autre  cote,  la  Roumanie  a  une  politique  nationale  dont  I'unite 
€t  la  continuite  sont  garanties  par  la  dynastie  et  dont  aucun  parti  ou 
groupe  politique  ne  se  departira."    Andrerseits   hat  der   Führer    der 

167 


Nationalliberalen,  Herr  Demeter  Sturdza,  dem  französischen  Flotten- 
besuche in  Rußland  in  der  „Liberte  Roumaine"  eine  Reihe  von  Leit- 
artikeln gewidmet,  in  denen  die  Unerläßlichkeit  eines  festen  und  ziel- 
bewußten Zusammenhaltens  Rumäniens  mit  der  Zentralgruppe  dar- 
gelegt wird,  da  hierdurch  allein  die  Unabhängigkeit  des  Landes  gegen 
die  ihr  von  Norden  drohende  Gefahr  sichergestellt  werden  könne,  pp. 

(gez.)  B.  V.  Bülow 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.; 
^  Richtig  und  Schleswig  Holstein 


Nr.  1474 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Kiderlen 

Eigenhändig 

Berlin,  den  25.  Oktober  1891 

Am  11.  November  dieses  Jahres  läuft  der  geheime  österreichisch- 
rumänische  Vertrag,  dem  Deutschland  und  Italien  beigetreten  sind,  ab. 

Die  Frage  seiner  Erneuerung  wird  daher  bei  der  demnächstigen 
Anwesenheit  des  Königs  in  Berlin  notwendig  zur  Sprache  kommen, 
denn  es  ist  hohe  Zeit,  daß  der  König  Farbe  bekennt. 

Der  Grund,  warum  der  König  bislang  an  die  Erneuerung  nicht 
hat  herantreten  wollen,  liegt  darin,  daß  er  fürchtet,  sein  jetziges  Mi- 
nisterium und  überhaupt  die  am  Ruder  befindlichen  Konservativen 
würden  nicht  darauf   eingehen  wollen. 

Der  König  selbst  erklärt,  unter  allen  Umständen  auf  dem  Stand- 
punkt des  Vertrags  stehen  bleiben  zu  wollen,  auch  ohne  die  Existenz 
eines  solchen. 

In  dieser  Beziehung  müßte  dem  König  klargemacht  werden,  daß 
gerade,  wenn  er  zu  einer  solchen  PoUtik  auch  im  Kriegsfall  entschlossen 
sei,  der  Abschluß  eines  Vertrags  für  Rumänien  vom  allergrößten 
Interesse  sei. 

Denn,  wenn  kein  Vertrag  existiere,  müßten  die  Dreibundsmächte 
bei  allem  Vertrauen  in  den  guten  Willen  des  Königs  ihre  Politik  auf 
die  Möglichkeit  eines  feindlichen  Rumäniens  einrichten  und  sich  auf 
der  Balkanhalbinsel  nach  andern  Freunden  für  gewisse  Eventualitäten 
umsehen. 

Denn  es  sei  doch  sehr  fraglich,  ob  der  König,  der  im  Frieden 
nicht  wagen  könne,  seinen  Ministern  vom  Anschluß  an  den  Dreibund 
zu  sprechen,  imstande  sein  würde,  einen  solchen  im  kritischen  Mo- 
mente durchzusetzen. 

168 


Eine  lediglich  persönliche  Verpflichtung  des  Königs,  die  bis- 
herige Politik  fortzusetzen,  würde  nur  geringen  Wert  haben,  weil  man 
eben  nicht  am  Willen  des  Königs,  sondern  nur  an  seiner  Macht 
im  gegebenen  Augenblick  zweifelt. 

Es  würde  dann  dem  König  klarzumachen  sein,  daß  europäische 
Verwicklungen  durch  direktes  Aufeinanderstoßen  der  Großmächte  für 
absehbare  Zeit  nicht  wahrscheinlich,  insbesondere  auch  durch  den 
Kronstadter  Besuch*  nicht  näher  gerückt  seien.  Es  sei  vielmehr  mit 
Bestimmtheit  anzunehmen,  daß  die  Sache  auf  der  Balkanhalbinsel  los- 
gehe, die  in  beständiger  Gärung  sei,  und  auf  der  täglich  ein  Zwischen- 
fall eintreten  könne,  der  den  Stein  ins  Rollen  bringe.  Dabei  könnte 
dem  König  vertraulich  gesagt  werden,  daß  auch  Herr  von  Giers  in 
seiner  Unterredung  mit  Marquis  di  Rudini**  auf  die  Eventualität  von 
Verwicklungen  am  Balkan  hingewiesen  hat. 

Was  dann  Rumänien  ohne  sichere  Anlehnung  an  den  Dreibund  zu 
erwarten  hat,  ist  klar.  Selbst  ein  „befreundetes'*  Rußland  dürfte  mit 
Rumänien  nicht  sehr  glimpflich  verfahren;  darüber  ist  der  König  1878 
belehrt  worden. 

Die  andern  Mächte  würden  aber  Rumänien,  das  sich  erst  im 
letzten  Moment  an  sie  wendete,  kaum  Hülfe  zu  bringen  geneigt  sein. 
Österreich,  das  sich  für  Rumänien  noch  am  meisten  interessiert,  würde 
seine  Haltung  doch  wesentlich  von  derjenigen  Italiens  und  Englands 
am  Bosporus  und  auf  dem  Balkan  abhängig  machen;  beide  Mächte 
haben  aber  stets  für  Bulgarien  mehr  Sympathien  gezeigt  als  für  Ru- 
mänien und  würden  daher  voraussichtlich  unter  Preisgabe  Rumäniens 
ihre  schützende  Hand  nur  über  Bulgarien  breiten  wollen.  Dies  Argu- 
ment dürfte  bei  dem  König  besonders  ziehen,  da  Bulgarien  ohnedies 
seine  bete  noire  ist. 

Wenn  der  König  auf  die  Innern  Schwierigkeiten  seines  Landes  zu 
sprechen  kommt,  so  könnte  ihm  folgendes  entgegengehalten  werden: 

Es  ist  seinem  politischen  Geschick  gelungen,  unter  den  bisherigen 
Vertrag  die  Unterschriften  der  Liberalen  und  der  Junimisten  (1883 
und  1888)  zu  erhalten;  gewinnt  er  auch  die  dritte  große  Partei  des 
Landes  für  sich,  so  würde  damit  seine  auswärtige  Politik  und  über- 
haupt die  Stellung  seiner  Dynastie  unangreifbar. 

Geht  es  nicht  mit  den  jetzigen  Ministern  Florescu  und  Esarcu, 
so  scheinen  die  Brüder  Jacques  und  Alexander  Lahoväry,  mit  denen  der 
König  vor  seiner  Abreise  nach  Venedig,  wie  Herr  von  Bülow  be- 
richtet, die  Frage  akademisch  bereits  erörtert  hat,  einem  festen  An- 
schluß an  den  Dreibund  zugängiger. 


*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1502. 

**  Am  13.  Oktober  waren  der  russische  Minister  des  Äußern  von  Giers  und  der 
russische  Botschafter  in  Rom  Vlangali  zusammen  mit  Rudini  vom  Könige  von 
Italien  in  Monza  empfangen  worden. 

169 


Zum  Schluß  wird  noch  gehorsamst  bemerkt,  daß  von  den  den 
König  begleitenden  Herrn  Herr  Kalinderu,  der  vertrauteste  Ratgeber 
des  Königs,  um  den  geheimen  Vertrag  weiß.  Da  er  sehr  gut  gesinnt 
ist,  dürfte  sich  eine  besondere  Berücksichtigung  desselben  auch  bei 
der  Ordensfrage  empfehlen.  Kiderlen 

Nr.  1475 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  29.  Oktober  1891 
Seine  Majestät  der  König  von  Rumänien  hat  mich  gestern  mit 
einer  längeren  Unterhaltung  beehrt,  in  welcher  er  über  die  Stellung 
Rumäniens  zum  Dreibunde  bestimmt  aussprach,  daß  dieselbe  mit  oder 
ohne  Vertrag  dieselbe  bleibe,  und  daß  er  persönlich  dafür  bürge, 
eintretendenfalls  Rumänien  an  unsere  Seite  zu  stellen.  Alle  miUtäri- 
schen  Maßregeln  in  Rumänien  hätten  nur  eine  Front.  Wenn  zurzeit 
die  Erneuerung  des  Vertrages  nicht  rätlich  sei,  so  habe  das  seinen 
Grund  ledigHch  in  den  Parteiverhältnissen.  Es  müßte  dem  Könige 
daran  liegen,  auch  die  Konservativen  innerlich  seiner  Politik  zu  ge- 
winnen, aller  anderen  Parteien  glaube  er  ohnehin  sicher  zu  sein.  Der 
König  hat  schon  jetzt  keinen  Zweifel,  daß  auch  die  Konservativen 
bei  Ausbruch  eines  Krieges  für  den  Dreibund  sein  würden.  Es  sei 
aber  nicht  klug,  ihnen  schon  jetzt  eine  Entscheidung  abnötigen  zu 
wollen.  Das  jetzige  Ministerium  setze  sich  zumeist  aus  bejahrten  Män- 
nern zusammen  und  habe  die  Bedingungen  längeren  Daseins  nicht  mehr 
in  sich.  Man  solle  Seiner  Majestät  nur  vertrauen,  er  trachte  von  selbst 
nach  Erneuerung  des  geheimen  Vertrages  und  werde  den  Moment 
nicht  versäumen,  sobald   er  sich  biete. 

Inzwischen  gingen  die  militärischen  Vorbereitungen  ihren  Weg  in 
derselben  Richtung  wie  bisher.  Die  Dislokation  der  Kavallerie  an  der 
russischen  Grenze  werde  demgemäß  verändert  werden.  Seine  Majestät 
erkannte  die  Wichtigkeit  von  Galatz  und  dessen  steter  Verteidigungs- 
fähigkeit an,  verkannte  aber  nicht,  daß  gerade  da  noch  manches  fehle, 
und  daß  man  namentlich  eine  wesentliche  Verstärkung  in  der  Richtung 
auf  Reni  noch  nicht  in  Angriff  nehmen  wolle,  um  Rußland,  dessen 
Grenze  zu  nahe  liege,  nicht  zu  provozieren.  Die  Nachrichten  von 
Häufung  russischer  Truppen  in  Bessarabien,  von  denen  die  Zeitungen 
so  viel  gesprochen,  seien  völlig  unbegründet.  Von  den  Fortschritten, 
die  Bulgarien  mache,  sprach  Seine  Majestät  mit  Anerkennung,  wogegen 
ihm  Serbien  immer  mehr  zurückzubleiben  schiene. 

Der  König  schien  zuzugeben,  daß  das  Trachten  Rußlands  nach 
den  Dardanellen  unter  allen  Umständen  eine  große  Gefahr  für  die 
Existenz    Rumäniens    involviere.    Ich    erlaubte   mir    anzudeuten,    daß, 

170 


wenn  es  sich  auch  nur  um  eine  russische  Besatzung  in  den  Dar- 
danellenforts handle,  diese  infolge  ihrer  isolierten  Lage  immer  eine 
Stärke  haben  müsse,  hinreichend,  sie  auf  einige  Zeit  selbständig  zu 
machen,  und  daß  sie  einer  stets  offenen  Verbindung  mit  der  russischen 
Heimat  nicht  entbehren  könne.  Der  Weg  dahin  durch  Kleinasien  sei 
nicht  offen,  der  Seeweg  immer  unsicher,  es  liege  also  in  der  Natur 
der  Dinge,  daß  Rußland  nicht  darauf  verzichten  könne,  den  Darda- 
nellen durch  Rumänien  und  auf  Kosten  Rumäniens  näher  zu  kommen. 
Die  eigenen  Kräfte  dieses  Landes  würden  nicht  hinreichen,  dem  mit 
Erfolg  zu  widerstehen.  Ein  Anschluß  Rumäniens  an  den  Dreibund 
könne  jene  Gefahr  abwenden  und  sei  zugleich  für  Österreich-Ungarn 
das  willkommenste  Mittel,  seine  eigenen  Interessen  auf  der  Balkan- 
halbinsel zu  befriedigen.  Leiste  Rumänien  als  Hindernis  gegen  rus- 
sische Tendenzen  nach  den  Meerengen  keine  Gewähr,  so  würde  Öster- 
reich-Ungarn sein  Augenmerk  mehr  als  bisher  auf  Bulgarien    richten. 

Seine  Majestät  äußerte,  daß  ihm  die  Freundschaft  Österreich- 
Ungarns  von  hohem  Wert  sei,  und  daß  er  nur  wünschen  könne,  die 
rumänische  Nationalitätsfrage  möge  hüben  und  drüben  so  behandelt 
werden,  daß  sie  dem  Nachbar  keine  Schwierigkeiten  mache.  Er  sei 
Seiner  Majestät  dem  Kaiser  von  Österreich  sehr  dankbar  für  die  Art 
und  Weise,  wie  dieser  sich  persönlich  gegen  eine  rumänische  Depu- 
tation geäußert  habe,  nur  bliebe  etwas  mehr  Rücksichtnahme  auf  die 
in  Ungarn  lebenden  Rumänen  seitens  der  ungarischen  Regierung  zu 
wünschen. 

In  bezug  auf  die  russischen  Umtriebe  bemerkte  Seine  Majestät, 
daß  seit  der  Entfernung  des  Herrn  Hitrowo  ihr  Zentralpunkt  nach 
Galatz  verlegt  sei,  wo  die  Fäden  in  den  Händen  eines  Herrn  Ro- 
manescu  zusammenliefen.  v.  Caprivi 

Nr.  1476 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschali 

Reinschrift  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Kiderlen 

Berlin,  den  29.  Oktober  1891 
Seine  Majestät  der  König  von  Rumänien  hat  sich  mir  gegenüber 
im  allgemeinen  ebenso  ausgesprochen  wie  dem  Herrn  Reichskanzler 
gegenüber.  Insbesondere  hat  auch  mir  der  König  als  das  zunächst  zu 
erstrebende  Ziel  die  Gewinnung  der  Konservativen  für  einen  festen 
Anschluß  an  den  Dreibund  bezeichnet.  Herr  Kalinderu  hat  dies  eben- 
falls hervorgehoben  und  zugleich  bestätigt,  was  Herr  von  Bülow  be- 
reits gemeldet,  —  daß  die  Brüder  Lahoväry  im  Prinzip  bereits  für 
den  Anschluß  an  den  Dreibund  gewonnen  seien,  und  es  sich  daher 
nur  noch  um  die  Frage  der  erneuten  schriftlichen   Fixierung  handle. 

171 


Hinsichtlich  Österreichs  klagten  der  König  und  Herr  Kalinderu  dar- 
über, daß  dieses  wegen  des  Vertrags  so  sehr  dränge. 

Demgegenüber  habe  ich  hervorgehoben,  daß  ein  gewisses  Drängen 
Österreich  nicht  zu  verübeln  sei;  Österreich  sei  bei  dieser  Frage  der 
Nächstinteressierte  und  müsse  sich  auf  die  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  bevorstehende  Krisis  auf  der  Balkanhalbinsel  vorbereiten;  für 
diese  Eventualität  könne  Österreich  nur  mit  sicheren  Faktoren  rech- 
nen, Rumänien  werde  gut  tun,  dafür  zu  sorgen,  daß  es  unter  die 
„sicheren"  Faktoren  gerechnet  werden  könne.  Der  König  sah  dies 
ein  und  versprach,  sein  Möglichstes  bezüglich  Einwirkung  auf  die 
konservative  Partei  zu  tun.  Er  werde  jetzt  sogleich  nach  seiner  Rück- 
kehr nach  Bukarest  ein  neues  Ministerium  berufen  müssen,  an  dessen 
Spitze  Lascar  Catargi  treten  und  dem  Alexander  Lahoväry  als  aus- 
wärtiger Minister  angehören  werde. 

Marschall 

Nr.  1477 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  124  Sinaia,  den  31.  Oktober  1891 

Ganz  vertraulich 

König  Karl  lenkte  nach  seiner  Ankunft  die  Aufmerksamkeit  der 
zu  seiner  Begrüßung  hierher  gekommenen  Minister  auf  die  der  Do- 
brudscha  von  russischer  Seite  drohenden  Gefahren  i.  Seine  Majestät 
betonte  hierbei,  daß  sich  aus  dieser  Sachlage  für  Rumänien  die  Not- 
wendigkeit einerseits  erhöhter  militärischer  Vorsichtsmaßregeln,  an- 
dererseits der  engeren  Fühlung  mit  dem  Dreibunde  ergebe. 

Bülow 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Gott  sei  Dank  der  Wink  hat  gesessen. 

Nr.  1478 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  108  Bukarest,  den  30.  Dezember  1891 

Geheim 

Herr  Carp  sagt  mir,   der  Ministerpräsident   Lascar  Catargi    und 

der  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten   Alexander  Lahoväry* 

*  Am  9.  Dezember  war  an  die  Stelle  des  Kabinetts  Florescu  ein  Kabinett  Catargi 
gebildet,  in  das  Ende  des  Monats  auch  Peter  Carp  (1883  als  Gesandter  in  Wien 
an  dem  Abschluß  des  Vertrages  beteiligt)  eintrat. 

172 


hätten  ihm  im  Laufe  der  behufs  Umformung  des  Kabinetts  stattgehabten 
Verhandlungen  erklärt,  daß  sie  die  Notwendigkeit  des  vertragsmäßigen 
Anschlusses  Rumäniens  an  die  Tripelallianz  anerkannten  und  der  For- 
mulierung dieses  Anschlusses  demnächst  gemeinsam  mit  den  Juni- 
misten näher  treten  wollten.  , 

B  ü  1  o  w 


Nr.  1479 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VH.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Capiivi 

Ausfertigung 

Nr.  6  Wien,  den  11.  Januar  1892 

Geheim 

Seine  Majestät  der  Kaiser  von  Österreich  hatte  gestern  die  Gnade, 
mir  über  den  Besuch  zu  sprechen,  welchen  ihm  König  Karl  von 
Rumänien  unlängst  in  Budapest  gemacht  hat*. 

Der  Kaiser  sagte,  König  Karl  sei  ganz  besonders  guter  Laune 
und  zufrieden  mit  seinen  politischen  Erfolgen  gewesen.  Er  habe  sich 
in  loyalster  Weise  über  seine  Stellung  zu  Österreich-Ungarn  und  zum 
Dreibund  ausgesprochen. 

Ich  erlaubte  mir.  Seine  Majestät  zu  fragen,  ob  höchstderselbe  den 
König  nicht  ermahnt  hätte,  nun,  da  er  sichere  Männer  im  Ministerium 
hätte,  sein  Vertragsverhältnis  mit  uns  zu  regeln?  Der  Kaiser  erwiderte, 
der  König  habe  ihm  in  dieser  Hinsicht  keine  bestimmten  Zusagen 
gemacht,  aber  gesagt,  er  hoffe  seine  neuen  Minister  günstig  für  die 
Vertragserneuerung  zu  stimmen.  Dem  Ministerpräsidenten  Catargi  habe 
er  bereits  Andeutungen  gemacht,  die  dieser  gut  aufgenommen  hätte: 
man  möge  ihm  nur  Zeit  lassen,  da  er  sehr  vorsichtig  vorgehen  müsse. 

Seine  Majestät  bemerkten,  er  habe  nicht  drängen  wollen,  um  dem 
Könige  kein  Mißtrauen  zu  zeigen. 

Graf  Kälnoky,  dem  ich  heute  über  meine  Unterhaltung  mit  seinem 
kaiserlichen  Herrn  sprach,  meinte,  das  Verhalten  Seiner  Majestät  wäre 
gewiß  richtig  gewesen.  Indessen  behalte  er  sich  vor,  wenn  der  König 
auf  dem  Rückweg  nach  Bukarest  wieder  durch  Wien  käme,  das  Eisen 
zu  schmieden,  solange  es  noch  warm  wäre.  Man  müsse  anerkennen, 
daß  der  König  mit  großer  Geschicklichkeit  manövriert  hätte,  um  sein 
jetziges  Ministerium  zu  konstruieren,  und  sei  es  gewiß  gut  gewesen, 
ihn  jetzt  nicht  zu  drängen  und  ihm  zu  vertrauen,  da  er  doch  schließ- 
lich die  Sachen  allein  mache.  Aber  die  Fühlung,  die  nun  wieder  auf- 
genommen wäre,  dürfe  nicht  verlorengehen. 


*  König  Karl  von  Rumänien  war  mii  dem  Thronfolger  Prinz  Ferdinand  zum  Be- 
such bei  dem  Kaiser  am  4.  Januar  in  Pest  eingetroffen. 

173 


Graf  Kälnoky  hat  den  Grafen  Goluchowski  ersucht,  beruhigend 
auf  Herrn  Carp  einzuwirken,  damit  dieser  nicht  vorzeitig  über  die 
Sache  sich  äußerte.  Im  übrigen  sprach  sich  der  Minister  sehr  befrie- 
digt über  das  ersprießhche  Zusammenwirken  unserer  beiderseitigen 
Vertreter  in  Bukarest  aus,  ohne  welche  die  Versöhnung  zwischen 
den  Junimisten  und  den  konservativen  Ministern  wohl  nicht  zustande 
gekommen  wäre. 

Was  die  Idee  betrifft,  welche  ich  in  einem  der  letzten  Berichte 
des  Herrn  von  Bülow,  die  durch  meine  Hände  gegangen  sind,  ge- 
funden, und  die  auch  Graf  Goluchowski  dem  Grafen  Kälnoky  gegen- 
über gemeidet  hat,  nämlich  den  alten  Vertrag  nicht  zu  erneuern,  son- 
dern einen  neuen  abzuschließen,  so  sprach  mir  der  Minister  in 
folgendem  Sinne  darüber. 

Dem  König  würde  die  Verhandlung  mit  seinen  Ministern  hier- 
durch allerdings  erleichtert  werden:  er  brauchte  ihnen  dann  nicht  das 
ihm  peinliche  Geständnis  zu  machen,  daß  er  seine  Regierung  außer 
Herrn  Carp  seit  zehn  Jahren  an  der  Nase  herumgeführt  hätte.  Er, 
Graf  Kälnoky,  hätte  auch,  wenn  der  König  hierauf  bestünde,  prinzipiell 
nichts  dagegen.  Besser  wäre  aber  eine  Erneuerung  der  Verträge. 
Hierdurch  würde  die  Kontinuität,  die  wichtig  sei,  bewiesen.  Auch 
würde  es  dem  Könige  leichter  gemacht  werden,  seinen  Räten  beweisen 
zu  können,  wie  nützlich  der  Vertrag  für  Rumänien  sei.  Seit  zehn 
Jahren  wäre  das  rumänische  Volk  in  keiner  Weise  durch  seine  Ver- 
tragsgenossen inkommodiert  worden,  und  das  gute  Verhältnis,  welches 
zwischen  diesen  und  Rumänien  dadurch  hergestellt  worden  sei,  hätte 
dem  Lande  eine  Sicherheit  für  seine  innere  Entwickelung  gegeben, 
welche  ohne  dies  Vertragsverhältnis  vielleicht  nicht  bestanden  haben 
würde. 

H.VII.P.Reuß 


Nr.  1480 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  62  Wien,  den  3.  März  1892 

Geheim 

Euere  Exzellenz  werden  durch  den  Kaiserlichen  Gesandten  in  Bu- 
karest von  dem  augenblicklichen  Stand  der  Angelegenheit  der  Ver- 
tragserneuerung unterrichtet  sein;  ich  will  aber  nicht  unterlassen,  über 
dasjenige  ganr  gehorsamst  zu  berichten,  was  mir  Graf  Kälnoky  heut 
darüber  gesagt  hat. 

Graf  Goluchowski  schreibt  dem  Minister  folgendes:  . 

174 


Durch  Herrn  Carp  angespornt,  scheine  sich  der  König  Karl  nun- 
mehr entschlossen  zu  haben,  der  Sache  näher  zu  treten  und  seinen 
Ministern  darüber  zu  sprechen.  Infolgedessen  glaubten  unsere  beider- 
seitigen Vertreter,  daß  der  Augenblick  gekommen  sein  dürfte,  auch 
ihrerseits  die  Angelegenheit  mit  dem  Könige  zu  besprechen. 

Herr  Carp  habe  vertraulich  mitgeteilt,  er  habe  die  Frage  eines 
Vertragsabschlusses  bereits  rein  akademisch  mit  dem  Minister- 
präsidenten Catargi  behandelt.  Dieser  habe  sich  nicht  abgeneigt  ge- 
zeigt. Da  Herr  Catargi  den  Wunsch  zu  hegen  scheine  zu  stipulieren, 
daß,  wenn  ein  förmUcher  Vertrag  abgeschlossen  werden  sollte,  auch 
darin  eine  Stipulation  darüber  enthalten  sein  müsse,  daß  für  den  Fall 
eines  Krieges  mit  Rußland  kein  Friede  ohne  Rumäniens  Teilnahme 
am  Friedensschluß  abgeschlossen  werden  dürfte,  so  hat  Herr  Carp 
ungefähr  folgenden  Zusatz  vorgeschlagen:  Die  vertragschließenden 
Teile  verpflichteten  sich  (oder  erklärten),  daß  bei  eventuellen  Friedens- 
verhandlungen Rumänien  zugezogen  werden  solle. 

Graf  Kälnoky  findet  diesen  Wunsch  Catargis  unverfänglich  und 
hat  nichts  dagegen,  daß   ein  Zusatz  in  dieser  Form  gemacht  werde. 

Ferner  würde  es  der  österreichisch-ungarische  Minister  für  nütz- 
lich erachten,  der  Stipulation  über  die  Dauer  des  Vertrages  eine  Form 
zu  geben,  durch  welche  das  Ablaufen  desselben  möglichst  aus- 
geschlossen und  erschwert  würde.  Es  würde  sich  empfehlen  zu  sagen: 
wenn  der  qu. Vertrag  nicht  ein  Jahr  vor  dem  Ablaufstermin  von  einem  oder 
dem  anderen  kontrahierenden  Teil  gekündigt  wird,  so  läuft  derselbe 
noch  weitere  drei  Jahre. 

Es  sei  von  Wichtigkeit,  der  Eventualität  aus  dem  Wege  zu  gehen, 
die  jetzt,  wenn  auch  in  ungefährlicher  Weise,  weil  Frieden  herrsche, 
eingetreten  sei.  Man  dürfe  aber  die  ängstlichen  Rumänen  auch  nicht 
erschrecken;  die  vorgeschlagene  Form  bezwecke  dies,  sichere  aber 
gleichzeitig  die  längere  Dauer,  weil  man  sich  schwer  dazu  entschlösse, 
einen  Vertrag  zu  kündigen. 

Endlich  liege  die  bereits  besprochene  Frage  vor,  ob  der  alte 
Vertrag  zu  erneuern,  oder  ob  ein  neuer  Vertrag  abzuschließen  sein 
werde. 

König  Karl  sei  bisher  für  die  letztere  Form  eingenommen  gewesen, 
weil  er  sich  nicht  entschließen  konnte,  seinen  uneingeweihten  Ministern 
die  Existenz  des  alten  Vertrages  einzugestehen.  Graf  Kälnoky  würde 
es  für  besser  und  natürlicher  halten,  wenn  man  den  alten  Vertrag 
mit  den  angegebenen  Zusätzen  erneute.  Sollte  der  König  aber  durch- 
aus auf  seinem  Wunsch  bestehen,  so  würde  er  aus  seiner  Ansicht 
keine  conditio  sine  qua  non  machen. 

Der  Minister  wartet  nun  die  weitere  Berichterstattung  des  Grafen 
Goluchowski  ab,  dem  er  morgen  in  dem  vorstehenden  Sinne  schreibt. 
Er  hat  ihm  außerdem  den  Wortlaut  des  alten  Vertrages  überschickt, 
von  welchem  nur  ein  Exemplar  sich  im  Archiv  des  Ministeriums  des 

175 


Äußern  befindet,  und  zwar  aus  folgendem  Grunde.  Der  Gesandte 
meldet,  der  König  oder  der  mit  der  Verhandlung  betraute  Minister 
würde  begreiflicherweise  nur  mit  dem  Vertragstext  in  der  Hand  dar- 
über diskutieren  wollen.  Nun  befinde  sich  aber  das  rumänische  Ver- 
tragsinstrument im  geheimen  Verschluß  im  Schlosse  zu  Sinaia,  und 
könnte  der  König  allein  zu  demselben  gelangen.  Eine  Reise  nach  diesem 
Sommeraufenthalt  würde  der  König  aber  des  Aufsehens  wegen  wohl 
vermeiden  wollen,  und  dürfte  die  Angelegenheit  hierdurch  wieder  auf- 
gehalten  werden. 

Dieser  Eventualität  hat  Graf  Kälnoky  aber  vorbeugen  wollen. 

Nun  hat  mich  der  Minister  gebeten.  Euerer  Exzellenz  die  vor- 
stehenden Mitteilungen  zu  machen  und  seine  Vorschläge  zu  unter- 
stützen. Er  beabsichtigt  nicht,  den  k.  und  k.  Botschafter  in  Berlin 
in  diese  Verhandlungen  hineinzuziehen.  Je  weniger  Menschen  von 
solchen  geheimen  Verhandlungen  wüßten,  und  je  weniger  Papier  dar- 
über beschrieben   würde,   desto   besser  wäre   es. 

H.VII.P.Reuß 


Nr.  1481 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  14  Bukarest,  den  20.  März  1892 

Geheim 

König  Karl  hat  vorgestern  mit  dem  Minister  des  Äußern  rückhalt- 
los und  eingehend  über  die  Erneuerung  der  geheimen  Abmachungen 
gesprochen,  wobei  Seine  Majestät  Herrn  Alexander  Lahoväry  das 
Vorhandensein  wie  den  Inhalt  der  früheren  Stipulationen  mitteilte. 
Herr  Lahoväry  erklärte  sich  gegenüber  dem  König  —  wie  später 
auch  motu  proprio  mir  gegenüber  —  zur  Erneuerung  der  Verträge 
bereit. 

König  Karl  will  nunmehr  den  Ministerpräsidenten  Catargi  für  die 
Vertragserneuerung  gewinnen,  wünscht  jedoch  hierzu  noch  eine  kurze 
Frist.  Seine  Majestät  sprach  mir  den  Wunsch  aus,  inzwischen  nicht 
von  österreichischer  Seite  gedrängt  zu  werden.  Ich  habe  meinen 
österreichisch-ungarischen  Kollegen  von  diesem  Wunsch  in  Kenntnis 
gesetzt. 

Nach  erlangter  Zustimmung  auch  des  Herrn  Catargi  wird  König 
Karl  uns  hiervon  Mitteilung  machen,  damit  sodann  seitens  der  drei 
Zentralmächte  die  offizielle  Demarche  wegen  Vertragserneuerung 
erfolge. 

Bülow 

176 


Nr.  1482 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  48  Bukarest,  den  16.  Mai  1892 

Geheim 

König  Karl  sagt  mir,  daß  er  gestern  die  Vertragsangelegenheit 
mit  dem  Ministerpräsidenten  Catargi  besprochen,  demselben  den  In- 
halt der  abgelaufenen  geheimen  Stipulationen  mitgeteilt  und  die  Not- 
wendigkeit ihrer  Erneuerung  dargelegt  habe.  Herr  Catargi  habe  sich 
mit  dieser  Erneuerung  im  Prinzip  einverstaiiden  erklärt. 

Bülow 


Nr.  1483 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  158  Wien,  den  11.  Juni  1892 

Geheim 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  anliegend  eine  mir  gestern 
durch  den  Grafen  Goluchowski  überbrachte  Expedition  des  Kaiser- 
lichen Gesandten  in  Bukarest  nach  genommener  Kenntnis  ganz  gehor- 
samst zu  überreichen*. 

Graf  Kälnoky  hatte  mir  schon  gestern  Mitteilung  von  dem  endlich 
bis  zur  Unterzeichnung  reif  gewordenen  Vertragsgeschäft  gesprochen. 
Er  drückte  mir  seine  hohe  Befriedigung  über  dieses  wichtige  Resultat 
aus  und  erwähnte  mit  großer  Anerkennung  der  ersprießlichen  Tätig- 
keit der  Herrn  Gesandten  von  Bülow,  ohne  dessen  geschickte  Behand- 
lung der  Personen  und  der  Dinge  die  Sache  wohl  noch  nicht  so  weit 
gediehen  wäre. 

Der  Minister  hätte  gewünscht,  daß  die  rumänischen  Minister  seine 
Redaktion  des  Artikels  V  wegen  der  Dauer  des  Vertrages  angenommen 
hätten,  begnügt  sich  aber  mit  dem  Erreichten. 

Die  Vertragsinstruniente  werden  nunmehr  hier  ins  reine  ge- 
schrieben, und  wird  Graf  Goluchowski  sodann  mit  denselben  zu  deren 
Unterzeichnung  nach   Bukarest  zurückkehren. 

H.VII.P.Reuß 

*  Siehe  Nr.  1484. 

12    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  177 


Nr.  1484 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr. 58  Bukarest,  den  S.Juni  1892 

Geheim 

Der  rumänische  Minister  des  Äußern,  Herr  Alexander  Lahoväry, 
hat  nunmehr  mit  Ermächtigung  Seiner  Majestät  des  Königs  Karl  und 
unter  Zustimmung  des  Konseilpräsidenten  Lascar  Catargi  dem  öster- 
reichisch-ungarischen Gesandten  Grafen  Goluchovvski  amtlich  seine 
Bereitwilligkeit  ausgesprochen,  den  im  vergangenen  Herbste  abgelaufe- 
nen geheimen  Vertrag  mit  Österreich-Ungarn  tel  quel  zu  erneuern. 

Im  Laufe  der  ganz  vertraulichen  Vorbesprechungen,  welche  dieser 
Erklärung  vorausgingen,  machte  Herr  Alexander  Lahoväry  einige  Male 
den  Versuch,  die  geheime  Vertragsfrage  mit  der  Kornzollangelegenheit 
zu  verquicken,  indem  er  die  Behauptung  aufstellte,  daß  die  erstere 
nicht  vor  Erledigung  der  letzteren  reguliert  werden  dürfe.  Der  Minister 
des  Äußern  wurde  jedoch  darauf  hingewiesen,  daß  zwischen  beiden 
Angelegenheiten  kein  innerer  Zusammenhang  bestehe,  insofern  es  sich 
bei  der  Kornzollfrage  lediglich  um  ein  wirtschaftliches  Petitum  der 
Rumänen  gegenüber  Deutschland,  in  der  geheimen  Vertragsfrage  um 
einen  rein  politischen  Staatsakt  zwischen  Rumänien  und  Österreich- 
Ungarn  handle. 

König  Karl  war  nicht  abgeneigt,  anläßlich  der  Vertragserneuerung 
die  Beschwerden  der  ungarländischen  Rumänen  zur  Sprache  zu  bringen. 
Der  hohe  Herr  bestreitet  nicht,  daß  das  neuerliche  Vorgehen  der 
siebenbürgischen  Rumänen  in  der  Memorandumsangelegenheit  und 
speziell  das  Liebäugeln  derselben  mit  Jungtschechen,  Slowenen  und 
Antisemiten  von  bedauerlichem  Mangel  an  politischem  Takt  zeugen. 
Er  hegt  aber  trotzdem  den  —  nicht  unberechtigten  —  Wunsch,  daß 
von  ungarischer  Seite  tunlichst  vermieden  werden  möge,  was  den 
magyarisch-rumänischen  Antagonismus  wieder  verschärfen  und  den- 
selben dem  hiesigen  Publikum  noch  deutlicher  zum  Bewußtsein  bringen 
könnte. 

Im  allerengsten  Vertrauen  gestatte  ich  mir  zu  erwähnen,  daß  König 
Karl  mir  gegenüber  die  Äußerung  fallen  ließ,  er  habe  Lust,  sich  für 
den  Fall  eines  siegreichen  Krieges  gegen  Rußland  von  Österreich  die 
Bukowina  versprechen  zu  lassen.  Seine  Majestät  sah  jedoch  selbst 
ein,  daß  eine  solche  Prätention  sich  nicht  formulieren,  geschweige 
denn  verteidigen  lassen  würde. 

Der  neue  geheime  Vertrag  wird  sich  nach  Form  und  Inhalt  dem 
abgelaufenen  anschließen,  welchen  Graf  Goluchowski  vor  einer  Woche 
Herrn  Alexander  Lahoväry  und  heute  dem  Ministerpräsidenten  Catargi 
vorgelegt  hat.    Ich  habe  mich  bemüht  zu  erreichen,  daß    der   Stipula- 

178 


1 


m 


tion  über  die  Dauer  des  Vertrags  (Artikel  V  des  abgelaufenen  Ver- 
trags) die  nach  dem  Wiener  Bericht  Nr.  62  vom  S.März  d.  Js.*  von 
Graf  Käinoky  gewünschte  Formulierung  gegeben  würde.  König  Karl 
und  Herr  Alexander  Lahoväry  erklärten  sich  auch  damit  einverstanden, 
daß  der  neue  Vertrag  auf  vier  Jahre  abgeschlossen  werde,  demnächst 
jedoch  „indefiniment"  weiter  laufe,  bis  die  eine  oder  die  andere  Seite 
denselben  kündige.  Herr  Lascar  Catargi  war  jedoch  nicht  dazu  zu 
bewegen,  weitergehende  Verpflichtungen  zu  übernehmen,  als  sie  seiner- 
zeit Herr  Bratianu  auf  sich  genommen  hat.  Unter  diesen  Umständen 
erschien  es  in  Berücksichtigung  des  „Le  mieux  est  Tennemi  du  bien'' 
nicht  angezeigt,  aus  der  Zeitfrage  eine  conditio  sine  qua  non  zu  machen. 
Der  neue  Vertrag  wird  somit  auch  in  seinem  Artikel  V  mit  dem  alten 
übereinstimmen. 

Mein  österreichisch-ungarischer  Kollege,  welcher  sich  heute  für 
etwa  acht  Tage  nach  Wien  begibt,  wird  auf  Wunsch  der  hiesigen 
Regierung  die  Vertragsinstrumente  im  dortigen  Ministerium  des 
Äußern  herstellen  lassen.  Demnächst  soll  der  Vertrag  von  ihm  und 
Herrn  Alexander  Lahoväry  unterzeichnet  werden. 

Ich  erlaube  mir  noch  zu  bemerken,  daß  um  den  neuen  Vertrag 
von  Rumänien  nur  der  Ministerpräsident  Lascar  Catargi,  der  Minister 
des  Äußern  Alexander  Lahoväry,  der  Handelsminister  Carp  und  Herr 
Kalinderu  wissen.  Der  rumänische  Gesandte  in  Berlin,  Herr  Gregor 
Ghika,  ist  ebensowenig  au  courant  der  Angelegenheit  wie  sein  Bruder, 
der  Gesandte  in  Wien,  Herr  Emil  Ghika. 

Nach  Unterzeichnung  des  rumänisch-österreichischen  Vertrags  wird, 
wie  mir  Graf  Goluchowski  sagt,  das  Wiener  Kabinett  den  erfolgten 
Vertragsabschluß  zur  Kenntnis  des  Berliner  Kabinetts  wie  der  italieni- 
schen Regierung  bringen  und  beide  ersuchen,  dem  Vertrage  in  der- 
selben Weise  beizutreten,  wie  dies  früher  geschehen  ist.  Es  war  — 
wie  ich  gleichfalls  im  engsten  Vertrauen  erwähne  —  nicht  ganz  leicht, 
während  der  Vertragsbesprechungen  Differenzen  zwischen  dem  öster- 
reichisch-ungarischen und  dem  italienischen  Vertreter  vorzubeugen. 
Graf  Goluchowski  hätte  Herrn  Curtopassi**  am  liebsten  ganz  aus  dem 
Spiele  gelassen;  Herr  Curtopassi,  hierdurch  in  seiner  Eigenliebe  frois- 
siert,  suchte  den  Gang  der  Verhandlungen  zu  verlangsamen,  indem 
er  unter  anderem  den  allerdings  seltsamen  Vorschlag  machte,  dieselben 
zu  suspendieren,  bis  sich  die  inneren  Verhältnisse  Italiens  mehr  ge- 
klärt hätten.  Zur  Charakterisierung  der  politischen  Gesamtauffassung 
des  Königs  Karl  möchte  ich  vertraulich  noch  anführen,  daß  der  hohe 
Herr,  als  ich  ihm  im  Laufe  der  Vertragsbesprechungen  andeutete, 
wie  es  sich  im  Grunde  doch  nur  um  ein  rumänisch-österreichisches 
Abkommen  handle,  bei  welchem  wir  mehr  als  wohlwollende  Zuschauer 
beteihgt  wären,  mit  Lebhaftigkeit  entgegnete:  „Wenn  es  sich  um  einen 

*  Siehe  Nr.  1480. 

**  Italienischer  Gesandter  in  Bukarest. 

12*  179 


lediglich  rumänisch-österreichischen  Vertrag  handelte,  würde  kein  Ru- 
mäne denselben  unterschreiben;  der  künftige  Beitritt  Deutschlands  er- 
möglicht erst  den  Vertrag  und  gibt  demselben  in  meinen  Augen,  wie  in 
den  Augen  meiner  Minister  erst  seinen  wahren  Wert." 

B.  von  Bülow 

Nr.  1485 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  60  Sinaia,  den   15.  Juni   1892 

Geheim 

König  Karl  sagte  mir  unmittelbar  vor  seiner  Abreise,  daß  die 
vergangene  Woche  ihm  zwei  „große  succes"  gebracht  habe,  die  Ver- 
lobung seines  Neffen*  und  die  Erneuerung  der  geheimen  Verträge. 
„Ich  betrachte,"  bemerkte  Seine  Majestät  hierbei  motu  proprio,  „die 
Vertragssache  nunmehr  als  erledigt,  die  Erneuerung  als  ein  fait  ac- 
compli,  den  Vertrag  als  abgeschlossen  i."  Der  König  hat,  wie  höchst- 
derselbe  mir  weiter  erzählte,  den  Ministerpräsidenten,  Herrn  Lascar 
Catargi,  als  dieser  sich  am  8.  d.  Mts.  zur  Erneuerung  der  geheimen 
Stipulationen  endgültig  und  ohne  Abänderungen  bereit  erklärte,  um- 
armt und  ihm  gesagt:  „Vous  etes  un  bon  patriote,  et  dorenavant  je 
Vous  place  dans  mon  esprit  sur  la  meme  ligne  que  feu  Jean  Bratiano." 

Der  österreichisch-rumänische  Vertrag,  fügte  der  König  hinzu,  solle 
nach  seiner  Rückkehr,  also  voraussichtlich  im  Laufe  des  Juli^  von 
Herrn  Alexander  Lahoväry  und  Graf  Goluchowski  unterzeichnet  werden. 
Die  Vollmacht  für  den  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten, 
Herrn  Alexander  Lahoväry,  werde  der  Ministerpräsident,  Herr  Lascar 
Catargi,  gegenzeichnen,  sodaß  auch  dieser  sich  mit  Namensunter- 
schrift für  den  Vertrag  engagiere.  Der  Beitritt  Deutschlands  könne 
nach  meiner  Rückkehr  von  Urlaub,  in  der  zweiten  Hälfte  des  August 
erfolgen. 

Mein  österreichisch-ungarischer  Kollege  hätte  gewünscht,  daß  die 
Unterzeichnung  des  Vertrags  schon  während  der  Abwesenheit  Seiner 
Majestät  vor  sich  ginge  ^;  er  bat  mich,  den  König  dahin  zu  bringen, 
daß  höchstderselbe  zu  diesem  Zwecke  die  Vollmacht  für  Herrn  Laho- 
väry noch  vor  seiner  Abreise  von  Bukarest  ausstelle.  Da  jedoch  der 
hohe  Herr  im  Drange  mancher  anderen  Geschäfte,  und  da  sich  alle 
auf  die  geheimen  Abmachungen  bezüglichen  Schriftstücke  im  Schlosse 
Pelesch  bei  Sinaia  befinden,  hierzu  keine  Lust  zeigte,  schien  es  mir 
vorsichtiger,  den  König  nicht  durch  zu  ungeduldiges  Urgieren  des 
formalen  Abschlusses  zu  irritieren,  wo  es  unter  Benutzung    der   hier 

*  Die  Verlobung  des  rumänischen  Thronfolgers  Prinz  Ferdinand  mit  der  Prin- 
zessin  Marie  von   Edinburg  hatte  Anfang  Juni  am   Berliner  Hof  stattgefunden. 

180 


durch  die  Verlobung  des  Prinzen  Ferdinand  hervorgerufenen  gehobenen 
Stimmung  gelungen  ist,  die  materielle  Erledigung  der  Angelegenheit 
zu  erreichen*. 

Herr  Lascar  Catargi  und  Herr  Alexander  Lahoväry  sprachen  mir 
ihre  Genugtuung  über  die  Regulierung  der  Vertragsfrage  aus.  „II  ne 
s'agit  plus,"  äußerte  hierbei  Herr  Alexander  Lahoväry,  „de  la  poli- 
tique  de  tel  ou  tel  chef  de  parti,  mais  de  la  seule  politique  etrangere 
que  la  Roumanie  peut  suivre,  la  politique  nationale,  qui  est  consignee 
dans  les  stipulations  secretes  que  nous  adoptons^." 

B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Sehr  schön 

2  geht  das  nicht  früher? 

3  ja 

1  richtig 
i  gut 

Nr.  1486 

Der  Geschäftsträger  in  Bukarest  Mumm  von  Schwarzenstein,  z.  Z.  in 
Sinaia,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  61  Sinaia,  den  25.  Juli  18Q2 

Geheim 

Der  geheime  Bündnisvertrag  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Ru- 
mänien* ist  heute,  Montag,  vorbehaltlich  der  Ratifikation  durch  die 
beiderseitigen  Regierungen  von  dem  österreichisch-ungarischen  Ge- 
sandten Grafen  Goluchowski  und  dem  rumänischen  Minister  der  aus- 
wärtigen Angelegenheiten,  Herrn  Lahoväry,  hier  unterzeichnet  worden. 

Die  für  letzteren  von  Seiner  Majestät  dem  König  Karl  ausgestellte 
Vollmacht  ist  von  dem  Ministerpräsidenten,  Herrn  Catargi,  gegen- 
gezeichnet, wodurch  auch  dieser  sich  für  den  Vertrag  engagiert  hat. 

Mumm 

Nr.  1487 
Deutsche  Akzessionserklärung  zum  österreichisch-rumänischen 

Bündnisvertrag** 

Ausfertigung 

Sa  Majeste  TEmpereur  d'Autriche,  Roi  de  Boheme,  etc.  et  Roi 
Apostolique  de  Hongrie,   et 

*  Veröffentlicht  in:  Pribram,  Die  politischen  Geheimverträge  Österreich-Ungarns 
1879—1914,   Bd.  I   (1920),  S.  69. 

**  Veröffentlicht  in:  Pribram,  Die  politischen  Geheimverträge  Österreich-Ungarns 
1879—1914  a.  a.  O.  S.  72.  —  Der  Beitritt  Italiens  zum  Österreich-ungarisch-rumäni- 
schen  Bündnisvertrag  erfolgte  am  28.  November  1892.    Daselbst. 

181 


Sa  Majeste  le  Roi  de  Roumanie  ayant  conclu  ä  Sinaia  le  25/13 
Juillet  de  l'annee  courante  le  traite  d'amitie  et  d'alüance  suivant. 

Article  1". 
Les  hautes  Parties  contractantes  se  promettent  paix  et  amitie   et 
n'entreront  dans  aucune  alliance  ou  engagement  dirige  contre  l'un  de 
leurs  Etats.    Elles  s'engagent  ä  suivre  une  politique  amicale  et   ä   se 
preter  un  appui  dans  la  limite  de  leurs  interets. 

Article  2. 
Si  la  Roumanie,  sans  provocation  aucune  de  se  part,  venait  ä  etre 
attaquee,  l'Autriche-Hongrie  est  tenue  ä  lui  porter  en  temps  utile 
secours  et  assistance  contre  l'agresseur.  Si  l'Autriche-Hongrie  etait 
attaquee  dans  les  memes  circonstances  dans  une  partie  de  ses  Etats 
limitrophe  ä  la  Roumanie,  le  casus  foederis  se  presentera  aussitöt  pour 
cette  derniere. 

Article  3. 
Si  une  des  hautes  Parties  contractantes  se  trouvait  menacee  d'une 
aggression  dans  les  conditions  susmentionnees,  les  Gouvernements  re- 
spectifs  se  mettront  d'accord  sur  les  mesures  ä  prendre  en  vue  d'une 
Cooperation  de  leurs  armees.  Ces  questions  militaires,  notamment  celle 
de  l'unite  des  Operations  et  du  passage  des  territoires  respectifs, 
seront  reglees  par  une  Convention  militaire. 

Article  4. 
Si  contrairement  ä  leur  desir  et  espoir  les   hautes   Parties  con- 
tractantes etaient  forcees  ä  une  guerre  commune  dans  les  circonstances 
prevues  par  les  articles  precedents,  elles  s'engagent  ä  ne  negocier  ni 
conclure  separement  la  paix. 

Article  5, 
Le  present  traite  restera  en  vigueur  pour  la  duree  de  quatre  ans 
ä  partir  du  jour  de  l'echange  des  ratifications.  Si  une  annee  avant  son 
expiration  le  present  traite  n'est  pas  denonce  ou  si  la  revision  n'en 
est  pas  demandee  par  aucune  des  hautes  Parties  contractantes,  il  sera 
considere  comme  prolonge  pour  la  duree  de  trois  autres   annees. 

Article  6. 
Les  hautes  Parties  contractantes  se  promettent  mutuellement   le 
secret  sur  le  contenu  du  present  traite. 

Article  7. 

Le  present  traite  sera  ratifie  et  les  ratifications  seront  echangees 
dans  un  delai  de  trois  semaines  ou  plus  tot  si  faire  se  peut. 

Ont  invite  Sa  Majeste  TEmpereur  d'Allemagne,  Roi  de  Prusse, 
ä  acceder  aux  dispositions  du  susdit  traite. 

182 


En  consequence  Sa  Majeste  TEmpereur  d'AUemagne,  Roi  de 
Prusse,  a  muni  de  Ses  pleins-pouvoirs  ä  cet  effet  Son  representant 
ä  Bucarest,  le  conseiller  de  legation  Bernard  de  Bülow  pour  adherer 
formellement  aux  stipulations  contenues  dans  le  traite  susmentionne. 
En  vertu  de  cet  acte  d'accession  Sa  Majeste  FEmpereur  d'AUemagne, 
Roi  de  Prusse,  prend  au  nom  de  l'Empire  d'AUemagne  envers  Leurs 
Majestes  TEmpereur  d'Autriche,  Roi  de  Boheme,  etc.  et  Roi  Aposto- 
lique  de  Hongrie,  et 

le  Roi  de  Roumanie,  et  en  meme  temps  Leurs  Majestes  l'Empereur 
d'Autriche,  Roi  de  Boheme,  etc.  et  Roi  Apostolique  de  Hongrie,  et 
le  Roi  de  Roumanie,  prennent  envers  Sa  Majeste  TEmpereur  d'AUe- 
magne, Roi  de  Prusse,  les  memes  engagements  auxquels  les  hautes 
Parties  contractantes  se  sont  mutuellement  obligees  par  les  stipulations 
du  dit  traite  insere  ci-dessus. 

Le  present  acte  d'accession  sera  ratifie  et  les  ratifications  seront 
echangees  dans  un  delai  de  trois  semaines  ou  plus  tot  si  faire  se  peut. 

En  foi  de  quoi  les  Plenipotentiaires  respectifs  ont  signe  le  present 
acte  d'accession  et  y  ont  appose  le  sceau  de  leurs  armes. 

Fait  ä  Bucarest  le  23/1  le  jour  du  mois  de  Novembre  de  l'an  de 
gräce  mil  huit  cent  quatre  vingt-douze. 

(L.  S.)  B.  v.  Bülow 

(L.  S.)  A.  G  o  1  u  c  h  o  w  s  k  i 

(L.  S.)  AI.  Lahovari 

Nr.  1488 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 
an  den  Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi* 

Ausfertigung 

Nr.  79  Sinaia,    den    16.  Oktober    1893 

Vertraulich 

Einer  der  eifrigsten  und  konsequentesten  Anhänger  der  Dreibunds- 
politik in  Rumänien,  der  frühere  Minister  der  auswärtigen  Angelegen- 
heiten und  gegenwärtige  Führer  der  liberalen  Opposition,  Herr  Demeter 
Sturdza,  hat  über  die  rumänisch-magyarischen  Differenzen  für  König 
Karl  zwei  vertrauliche  Notizen  aufgesetzt,  welche  er  Seiner  Majestät 
vor  einigen  Tagen  übergab.  Abschrift  dieser  Aufzeichnungen,  mit  deren 
Gedankengang  und  Schlußfolgerungen  sich  König  Karl  durchaus  ein- 
verstanden  erklärte,  gestatte  ich  mir  in  der  Anlage  beizufügen. 

Die  Auslassungen  der  ungarischen  Minister  während  der  jüngsten 
Nationalitätendebatte   in   Pest   würden   hier   einen   noch   bessern    Ein- 

*  Der  vorliegende  Bericht,  der  mit  den  beiden  als  Anlagen  abgedruckten  Denk- 
schriften Demeter  Sturdzas  die  das  österreichisch-rumänische  Bündnis  vielfach  er- 
schwerenden rumänisch-magyarischen  Differenzen  näher  behandelt,  mag  gleichsam 
als  Anhang  zu  diesem  Kapitel  gegeben  werden. 

183 


druck  gemacht  haben,  wenn  nicht  die  magyarische  Publizistilc  durch 
ihre  nach  wie  vor  nicht  grade  taktvolle  Sprache  die  Wirkung  jener 
Enunziationen  beeinträchtigte.  So  kam  anläßlich  der  Rede  des  Ministers 
Hieronymi  der  „Pester  Lloyd''  darauf  zurück,  daß  die  rumänische 
Regierung  durch  Österreich-Ungarn  gezwungen  werden  müsse,  zur 
Unterdrückung  der  siebenbürgischen  Bewegung  beizutragen.  Wie  mir 
hier  nicht  nur  von  Rumänen,  sondern  auch  von  solchen  mit  den  sieben- 
bürgischen Verhältnissen  vertrauten  Deutschen  und  Engländern  gesagt 
wird,  welche  dem  dortigen  Nationalitätenhader  neutral  gegenüberstehen, 
besitzt  die  hiesige  Regierung  so  gut  wie  keinen  Einfluß  auf  die  ungar- 
ländischen  Rumänen,  deren  große  Mehrheit  vorläufig  noch  nach  Wien 
blicke.  Diejenigen  transsylvanischen  Elemente,  welche  unter  dem  Ein- 
flüsse magyarischen  Drucks  oder  russischer  Wühlereien  schon  nach 
Bukarest  sähen,  sollen  hier  weder  von  der  Regierung  noch  von  der 
Opposition,  sondern  lediglich  von  der  Kulturliga  —  einem  Gegen- 
und  Seitenstück  zu  den  ungarischen  Kulturvereinen  —  das  Heil  er- 
warten. 

Ich  gestatte  mir  noch  zu  erwähnen,  daß  das  verbreitetste  rumä- 
nische Blatt,  die  „Independance  Roumaine",  die  siebenbürgische  Frage 
fortgesetzt  zum  Gegenstand  ihrer  Österreich-Ungarn  wenig  freundlichen 
Betrachtungen  macht.  Die  fraglichen  Artikel  werden  von  einem  wegen 
Schulden  aus  dem  Dienst  entlassenen  früheren  rumänischen  Diplomaten, 
Herrn  Steriadi  verfaßt,  welcher,  wie  ich  ganz  vertraulich  hinzufüge, 
auf  der  russischen  Gesandtschaft  aus  und  ein  geht. 

B.  von  Bülow 

Anlage  I 

Abschrift 

Deutschland  ist  der  Führer,  wie  es  der  Begründer  des  Dreibundes 
ist.  Der  historische  Grund  dieser  Tatsache  liegt  in  den  gesunden  Ver- 
hältnissen dieses  so  mächtigen  Reichs.  Es  hat  nicht  wie  Italien  Partei- 
strömungen, welche  fremde  Interessen  für  höher  halten  als  die  eigenen; 
es  laboriert  nicht  wie  Österreich-Ungarn  an  inneren  Kämpfen  einander 
feindlich  gegenüberstehender  Nationalitäten. 

Es  ist  sicher,  daß  Franzosen  und  Russen  auf  die  Verwirrung  und 
Zerrissenheit  rechnen,  welche  französische  Sympathien  in  Italien  und 
innere  Kämpfe  der  Völkerstämme  in  Österreich-Ungarn  nach  sich  ziehen 
können.  Diese  Unzulänglichkeiten  —  die  schwachen  Seiten  des  Drei- 
bundes —  auszugleichen  und  womöglich  ganz  zu  beseitigen,  ist  eine 
der  Hauptaufgaben  der  Staatsmänner  des  Dreibundes.  Soll  man  am 
Tage  der  Entscheidung  sicher  vorgehen,  so  muß  schon  vorher  Ord- 
nung geschaffen  werden,  da  sonst  in  diesen  Schwierigkeiten  eine  Läh- 
mung des  Handelns  und  Eingreifens  liegen  wird. 

Am  schwierigsten  gestalten  sich  in  dieser  Beziehung  die  Verhält- 

184 


I 


nisse  in  Österreich-Ungarn,  da  die  österreichischen  Länder  von  einer 
slawischen  Bewegung  beunruhigt  werden  und  im  ungarischen  König- 
reiche der  magyarische  Chauvinismus  eine  wunde  Stelle  bildet. 

Die  slawische  Bewegung  hat  ihre  Beziehungen  nach  außen  und 
steht  in  Verbindung  mit  dem  Panslawismus,  oder  richtiger  gesagt 
mit  dem  Panrussismus,  dessen  Hauptgegenstand  die  Erstürmung  der 
Balkanhalbinsel  ist.  Der  magyarische  Chauvinismus  verdankt  seine 
Entstehung  und  Erhaltung  dem  übertriebenen  Hochmute  der  Magyaren, 
die  nicht  einsehen,  daß  Ungarn  eine  bedeutende  Stellung  in  der  euro- 
päischen Staatengemeinschaft  nur  einnimmt,  weil  es  ein  Teil  der  Habs- 
burgischen Monarchie  ist.  Wenn  die  slawische  Bewegung  ihre  Rich- 
tung nach  außen,  die  magyarische  nach  innen  hat,  so  haben  beide  das 
Gemeinsame,  daß  sie  zur  Zerbröckelung  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie  führen. 

Die  Zustände  in  Ungarn  sind  hauptsächlich  eine  nicht  zu  unter- 
schätzende Gefahr  für  das  Königreich  Rumänien.  Dieses  ist  berufen, 
im  Falle  eines  Krieges  eine  russische  Armee  lahm  zu  legen,  während 
die  jetzige  Haltung  der  Ungarn  alsdann  dazu  beitragen  wird,  eine 
österreichisch-ungarische  Armee  in  Ungarn  selbst  zu  immobilisieren. 
Vor  dem  Kriege  können  innere  Wirrnisse  Unzulänglichkeiten  zum 
Nutzen  der  Feinde  schaffen;  nach  dem  Siege  kann  der  Übermut  zur 
Ausführung  der  bloßen  Personalunion  führen.  Beides  bedeutet  aber 
eine  Schwächung  der  Großmachtstellung  Österreich-Ungarns. 

In  Rumänien  blickt  man  mit  Sorge  auf  die  Abwickelung  dieser 
Zustände,  weil  man  zu  sehr  bewußt  ist,  daß  die  Resultate  sich  un- 
mittelbar am  südlichen  Abhänge  der  Karpathen  zeigen  werden.  Es 
erscheint  somit  angezeigt,  dem  magyarischen  Chauvinismus  ein  Gegen- 
gewicht zu  verschaffen,  um  die  unleugbare  Energie  der  Magyaren  in 
ein  ruhiges  Fahrwasser  zu  leiten.  Die  zähen  Rumänen  fügen  sich 
nicht  dem  erneuerten  Magyarisierungsversuche.  Stammesverschieden 
von  den  Slawen,  bedroht  durch  das  Russentum,  haben  sie  mit  den 
Magyaren  gemeinsame  Zukunftsinteressen.  Beide  Völker  sind  durch 
Selbsterhaltungsvorsorge  aneinander  gewiesen,  und  der  zwischen  ihnen 
entbrannte  Kampf  kann  für  beide  als  Selbstmord  charakterisiert  wer- 
den zugunsten  des  einen  mächtigen  und  beide  bedrohenden  Feindes. 

Es  muß  also  auf  die  Ungarn  dahin  gewirkt  werden,  daß  sie  auf 
ihren  Anlauf  zur  gewaltsamen  Magyarisierung  der  andern  Völker- 
stämme Ungarns  verzichten  und  in  gerechter  freier  Verwaltung  aller 
nicht  eine  Schwächung,  sondern  eine  Stärkung  ihres  Königreichs  er- 
blicken. 

Würden  die  Führer  der  Rumänen  in  Ungarn  ins  Gefängnis  wan- 
dern, und  die  Rumänen  unter  das  magyarische  Joch  sich  fügen  müssen, 
so  kann  dies  zeitweilig  Ruhe  schaffen,  aber  um  so  sicherer  wird  es 
das  Terrain  für  russische  Wühlereien  und  Umtriebe  vorbereiten,  die 
dann  auch  im  Königreich  Rumänien  sich  abspielen  werden. 

185 


Man  stelle  sich  nur  vor,  wie  die  Lage  eine  ganz  andere  sein 
würde,  wenn  in  Ungarn  Friede  und  gegenseitiges  Vertrauen  der  Na- 
tionalitäten waltete.  Es  würde  dies  auf  die  Umtriebe  Rußlands  unter 
den  Slawen  drücken  und  eine  Sicherheit  des  Vorgehens  der  Habs- 
burgischen Monarchie  zur  Folge  haben,  die  jetzt  fehlt  —  zu  Ungunsten 
des  Dreibundes  und  zur  Gefahr  für  Rumänien.  Die  Wirrnisse  in  Un- 
garn sind  ein  Atout  in  den  Händen  Rußlands  und  Frankreichs. 

(gez.)  Demeter  Sturdza 

Anlage  11 

Abschrift 

Die  Rumänen  in  Siebenbürgen  und  Ungarn  und  die  Rumänen  in 
den  beiden  Donaufürstentümern  Moldau  und  Walachei  sind  seit  Jahr- 
hunderten in  ihren  politischen  Schicksalen  getrennt  gewesen  und  haben 
sich  unabhängig  voneinander  entwickelt.  Rein  kulturelle,  Schule  und 
Kirche  betreffende  Beziehungen  zwischen  den  Rumänen  diesseits  und 
jenseits  der  Karpathen  haben  wohl  bestanden,  aber  nie  auf  die  Ge- 
staltung der  politischen  Verhältnisse  eingewirkt.  Die  beiden  vonein- 
ander getrennten  Glieder  desselben  Volkes  haben  in  einer  voneinander 
unabhängigen  und  selbständigen  Weise  ihre  nationalen  Interessen 
wahrgenommen. 

In  den  verschiedenen  Phasen  des  Kampfes,  welcher  den  Rumänen 
in  Ungarn  durch  die  Gewaltpolitik  der  Magyaren  aufgezwungen  wurde, 
sind  jene  durchaus  selbständig  vorgegangen,  und  eine  Einwirkung  dar- 
auf hat  vom  Königreich  aus  in  keiner  Weise  stattgefunden.  Verfolgt 
man  aufmerksam  ihre  ganze  Aktion,  so  wird  man  nichts  darin  ent- 
decken, was  als  „Irredentismus"  bezeichnet  werden  könnte.  Im  Gegen- 
teil, es  ist  kennzeichnend  für  ihre  Bestrebungen,  und  es  kann  nicht 
nachdrücklich  genug  hervorgehoben  werden,  daß  sie  nichts  unter- 
nehmen und  nichts  fordern,  was  auf  eine  Lostrennung  vom  öster- 
reichisch-ungarischen Kaiserstaate  abzielte.  Ihre  Loyalität,  Treue  und 
Anhänglichkeit  an  das  Habsburgische  Herrscherhaus  sowie  ihre  Zu- 
sammengehörigkeit zu  dieser  Monarchie  haben  sie  nicht  nur  bei  jeder 
Gelegenheit  in  feierlicher  Weise  betont,  sondern  auch  stets  konsequent 
danach  gehandelt. 

Wenn  sie  sich  entschieden  dagegen  wehren,  als  Heloten  in  ihrem 
eigenen  Lande  behandelt  zu  werden,  wenn  sie  ihre,  politische  Gleich- 
berechtigung mit  den  magyarischen  Staatsangehörigen  und  die  An- 
wendung des  bestehenden  Nationalitätengesetzes  auf  ihre  Verhältnisse 
verlangen;  wenn  sie  an  der  Selbstverwaltung  ihrer  Kirchen  und 
Schulen  festhalten  und  mit  angestammter  Zähigkeit  ihre  Sprache  und 
nationale  Eigenart  gegen  die  mit  Hochdruck  betriebene  Magyarisie- 
rungspolitik  verteidigen,  so  liegt  in  allen  diesen  gesetzlichen  und  be- 
rechtigten Forderungen  nichts,  was  tatsächlich  einen  irredentistischen 

186 


Charakter  hätte.  Die  beständige  Bezeichnung  „Rumänische  Irredenta'', 
wie  sie  in  Pest  für  alles  beliebt  wird,  was  mit  der  siebenbürgischen 
Frage  zusammenhängt,  ist  weit  eher  geeignet,  derartige  Bestrebungen, 
die  heute  nicht  vorhanden  sind,  hervorzurufen,  als  die  Bewegung,  wie 
sie  sich  tatsächlich  darstellt,  wirksam  einzudämmen. 

Der  Konflikt,  der  zwischen  den  Magyaren  und  Rumänen  immer 
akuter  wird,  ist  so  sehr  aus  der  Natur  der  dortigen  Zustände  hervor- 
gegangen, die  das  Ergebnis  der  chauvinistischen  Gewaltpolitik  sind, 
daß  es  verfehlt  ist,  seinen  Ursprung  oder  die  heutige  Führung  des 
Kampfes  auf  Einwirkungen  aus  dem  Königreiche  zurückführen  zu 
wollen.  Und  ebensowenig  ist  die  Annahme  zutreffend,  als  ob  es  mög- 
lich wäre,  vom  Königreiche  aus  die  Rumänen  in  Ungarn  in  dem 
Sinne  zu  beeinflussen,  daß  sie  in  der  ihnen  aufgezwungenen  Notwehr 
nachgiebiger  werden  und  vor  dem  magyarischen  Chauvinismus  kapi- 
tuheren 

Dagegen  ist  es  unvermeidlich,  daß  der  immer  schärfer  sich  ge- 
staltende Kampf  einen  verhängnisvollen  Rückschlag  auf  die  Lage  im 
Königreich  ausübt.  Die  Teilnahme  für  die  Leiden  der  Stammesgenossen 
in  Ungarn  ist  eine  natürliche  und  läßt  sich  nicht  unterdrücken.  Die 
öffentliche  Meinung  wird  nicht  nur  durch  die  Ereignisse  jenseits  der 
Karpathen  beständig  gegen  Ungarn  aufgeregt;  aber  auch  die  zahl- 
reichen Elemente,  welche  notgedrungen  infolge  der  dortigen  un- 
erträglichen Zustände  nach  dem  Königreich  kommen,  und  die  den 
verschiedensten  Berufsklassen  angehören,  wie  Landwirte,  Handel-  und 
Gewerbetreibende,  Lehrer,  Priester  usw.,  alle  diese  Elemente  treten 
mit  allen  Schichten  der  Bevölkerung  in  direkte  Beziehungen  und 
fachen  überall  den  Haß  gegen  Ungarn  an.  So  werden  die  weitesten 
Kreise  der  Nation  immer  mehr  in  eine  Stimmung  hineingetrieben,  in 
welcher  sie  in  den  Magyaren  weit  ärgere  Feinde  der  Rumänen  erblicken 
als  in  den  Russen.  Auf  diesem  gefahrvollen  Wege  wird  aber  die 
notwendige  Stellungnahme  des  Königreichs  Rumänien  zum  Dreibunde 
untergraben  —  eine  Stellungnahme,  die  um  ihre  Wirkungen  zu  er- 
zielen, des  Rückhalts  in  der  ganzen  Nation  bedarf  — ,  und  den  Be- 
strebungen der  russischen  Orientpolitik  werden  Tür  und  Tor  geöffnet. 

(gez.)  Demeter  Sturdza 


187 


Kapitel  XLVIl 

Französisch-Russischer  Zweibund 
1890-1894 


Nr.  1489 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Graf  vonPourtales  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  179  St.  Petersburg,  den  19.  Juni  1890 

In  den  Beziehungen  zwischen  Rußland  und  Frankreich,  welche  im 
Laufe  des  vergangenen  Jahres  nach  der  Beschießung  von  Sagallo*  und 
nach  dem  Fiasko  des  Generals  Boulanger**  wesentlich  kühler  gewor- 
den waren,  ist  in  den  letzten  Wochen  eine  entschiedene  Wendung  im 
Sinne   einer  Annäherung  zwischen   beiden   Ländern   erfolgt. 

Bis  zu  den  höchsten  Kreisen  hinauf  war  im  vorigen  Jahre  hier 
vielfach  noch  die  Hoffnung  verbreitet,  daß  die  von  den  boulangisti- 
schen  Parteien  getragene  Bewegung  gegen  die  jetzigen  Machthaber 
in  Frankreich  schließlich  zur  Wiederherstellung  der  Monarchie  führen 
könnte;  diese  Hoffnung  war  mit  der  Niederlage  jener  Parteien  und 
dem  glänzenden  Gehngen  der  Ausstellung  als  Säkularfeier  der  Revo- 
lution*** geschwunden;  beim  Kaiser  Alexander  aber  hatte  sich  die 
Abneigung  gegen  das  republikanische  Frankreich  immer  mehr  aus- 
geprägt. Alle  Aufmerksamkeiten,  welche  den  die  Ausstellung  besuchen- 

*  In  der  zweiten  Hälfte  Januar  18S9  war  der  „freie  Kosake"  Aschinow  in  Ver- 
folg seiner  Bemühungen,  nähere,  besonders  auch  kirchHche  Beziehungen  /wischen 
Rußland  und  Abessinien  zustande  zu  bringen  und  womöglich  am  Golf  von  Aden 
eine  russische  Kolonie  zu  gründen,  bei  Sagallo,  in  der  Einflußsphäre  der  fran- 
zösischen Kolonie  Obock  gelandet.  Da  er  den  Befehlen  der  französischen  Autori- 
täten, den  Ort  zu  verlassen,  nicht  nachkam,  vielmehr  die  russische  Flagge  hißte, 
kam  es  zu  der  Beschießung  Sagallos  durch  den  französischen  Kreuzer  Seignelay. 
Dieser  Zwischenfall  führte,  obwohl  das  französische  Vorgehen  gegen  Aschinow 
erst  erfolgte,  nachdem  die  russische  Regierung  ihn  völlig  desavouiert  hatte,  zu 
einer  lebhaften  Verstimmung  der  slawophilen  Kreise  in  Rußland  und  Frankreich 
und  veranlaßte  scharfe  Angriffe  der  Patriotenliga  (die  dafür  am  28.  Februar  auf- 
gelöst wurde),  gegen   die  französische   Regierung. 

**  Am  13.  August  1SS9  war  Boulanger  von  dem  Ausnahmegerichtshof  des  Kom- 
plotts des  Attentats  und  der  Unterschlagung  für  schuldig  erklärt  und  zur  De- 
portation verurteilt  worden.  Das  bedeutete,  wie  die  Folge  lehrte,  das  Ende  des 
Boulangismus.  .Am  30.  September  1S91  verübte  Boulanger  in  Brüssel  Selbstmord. 
***  Am  5.  AUi  1S89  war  in  Versailles  die  Erinnerungsfeier  des  Zusammentretens  der 
französischen  Generalstaaten  (1789)  mit  großem  Pomp  begangen  worden.  Tags 
darauf  fand  die  Eröffnung  der  Pariser  Weltausstellung  statt.  Wegen  des  pronon- 
ciert  republikanischen  Charakters,  der  der  Weltausstellung  durch  die  Jahrhundert- 
feier der  Revolution  aufgeprägt  wurde,  beobachteten  die  diplomatischen  Vertreter 
der  europäischen  Großmächte,  einschließlich  des  russischen  Botschafters  während 
der   Eröffnungsfeierlichkeiten  völlige   Zurückhaltung. 

191 


den  Russen  in  Frankreich  erwiesen  wurden,  vermochten  die  in  hie- 
sigen maßgebenden  Kreisen  Frankreich  gegenüber  herrschende  Stim- 
mung nicht  zu  bessern,  und  als  schließlich  der  von  der  französischen 
Presse  immer  von  neuem  angekündigte  Besuch  der  Ausstellung  durch 
den  Großfürsten-Thronfolger  unterblieb,  machte  die  hiesige  franzö- 
sische Vertretung  kein  Hehl  aus  ihrer  Verstimmung  über  das  geringe 
Entgegenkommen,  welches  die  russenfreundliche  Haltung  der  Pariser 
Regierung  hier  finde. 

Deuteten  nun  in  der  letzten  Zeit  schon  verschiedene  Symptome 
darauf  hin,  daß  man  hier  mit  der  Haltung  der  französischen  Regierung 
jetzt  sehr  zufrieden  sei,  so  kommen  die  vor  einigen  Wochen  in  Paris 
erfolgten  Verhaftungen  russischer  Nihilisten  zu  einem  sehr  geeigneten 
Zeitpunkte,  um  diese  günstige  Stimmung  zu  fördern.  Zwar  sind  die 
französischen  Nachrichten  über  die  Aufnahme,  welche  das  Vorgehen 
der  französischen  Regierung  bei  der  Entdeckung  des  Nihilistenkomplottes 
hier  gefunden  haben  soll,  weit  übertrieben,  doch  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  dieses  Vorgehen  hier  in  hohem  Maße  und  jedenfalls  viel  mehr  als 
die  analogen  Dienste,  welche  wir  zu  wiederholten  Malen  den  Russen 
zu  leisten  in  der  Lage  gewesen  sind,  anerkannt  worden  ist*.  Der 
Kaiser  selbst  hat,  wie  ich  aus  guter  Quelle  weiß,  befohlen,  der  fran- 
zösischen Regierung  mit  besonderer  Wärme  seinen  Dank  auszuspre- 
chen, und  die  in  der  Presse  auftauchende  Nachricht,  daß  demnächst 
hohe  russische  Ordensauszeichnungen  an  die  französischen  Staats- 
männer zur  Verteilung  gelangen  werden**,  erscheint  nach  vertraulichen 
Andeutungen,  die  mir  gemacht  worden  sind,  nicht  unwahrscheinlich. 

Bezeichnend  für  die  Art,  mit  welcher  französischerseits  jede  Ge- 
legenheit zur  Pflege  der  russischen  Freundschaft  benutzt  wird,  ist  das 
Auftreten  der  Franzosen  bei  dem  gegenwärtig  hier  tagenden  Gefängnis- 
kongreß. Nicht  weniger  als  35  Franzosen,  darunter  allerdings  zahlreiche 
nichtoffizielle  Delegierte,  sind  zur  Teilnahme  an  diesem  Kongreß  hier 
eingetroffen;  der  erste  von  ihnen  ist  der  Generaldirektor  der  Ge- 
fängnisse in  Frankreich  Herr  Herbette,  ein  Bruder  des  Botschafters 
in  Berlin.  Als  besondere  Aufmerksamkeit  ist  derselbe  zum  „Gehilfen 
des  Präsidenten"  bei  dem  Kongreß  gemacht  worden,  während  die 
eigentliche  Vizepräsidentenstelle  dem  Unterstaatssekretär  Braunbehrens 
aus   dem   preußischen   Ministerium   des   Innern   zugefallen   ist. 

Herr  Herbette  und  seine  Kollegen  bieten  nun  alles  auf,  um  aus 

*  Seit  Ende  April  1890  war  der  neue  französische  Minister  des  Innern  mit 
aller  Schärfe  gegen  die  anarchistisclien  Agitatoren  in  ganz  Frankreich,  unter 
denen  sich  viele  russische  Nihilisten  befanden,  vorgegangen;  u.  a.  wurden  am 
29.  Mai  elf  Russen  und  vier  Russinnen  bei  der  Fabrikation  von  Sprengstoffen  er- 
tappt und  verhaftet. 

**  Die  Verleihung  von  russischen  Ordensauszeichnungen  an  französische  Staats- 
männer erfolgte  erst  im  Frühjahr  1891,  indem  Präsident  Carnot  im  März  den 
Andreasorden,  Ministerpräsident  Freycinet  und  Außenminister  Ribot  im  Mai  das 
Großkreuz  des  Alexander-Newsky-Ordens  empfingen.    Vgl.  Nr.  1494. 

192 


dem  Kongreß  für  die  russisch-französische  Verbrüderung  möglichst 
viel  Kapital  zu  schlagen;  sie  lassen  keine  Gelegenheit  unbenutzt,  um 
in  Reden  den  Russen  zu  schmeicheln,  die  Sympathien  Rußlands 
für  Frankreich  zu  betonen  und  für  die  russisch-französische  Freund- 
schaft Reklame  zu  machen.  Während  alle  übrigen  Länder  sich  damit 
begnügt  haben,  die  ihnen  zugewiesenen  Tische  im  Ausstellungsraum 
mit  ihren  Landesfarben  zu  schmücken,  sind  in  der  französischen  Ab- 
teilung zahlreiche  Fahnenembleme  angebracht,  bei  welchen  die  russische 
Flagge  mit  der  französischen  verschlungen   erscheint. 

Das  Auftreten  der  Franzosen  fällt  bei  den  anderen  auswärtigen 
Vertretern  allgemein  auf,  und  selbst  in  russischen  Kreisen  findet  man, 
wie  mir  vertraulich  mitgeteilt  wird,  daß  französischerseits  „die  Note 
etwas  forciert  wird". 

Überhaupt  möchte  ich  die  unmaßgebliche  Ansicht  aussprechen, 
daß,  wenn  auch  das  Buhlen  der  Franzosen  um  russische  Gunst  gegen- 
wärtig hier  wieder  mehr  Entgegenkommen  findet  und  den  Russen 
das  heutige  Frankreich  jetzt  bündnisfähiger  erscheinen  mag  als  noch 
vor  einigen  Monaten,  dennoch  zurzeit  von  einer  Annäherung  zwischen 
beiden  Ländern  von  größerer  politischer  Bedeutung,  das  heißt  mit 
Übernahme  gegenseitiger  Verpflichtungen  nicht  die  Rede  sein  dürfte. 
Die  Russen  wissen  zu  gut,  daß  sie,  ohne  sich  zu  engagieren,  der  fran- 
zösischen Unterstützung  jederzeit,  wenn  sie  sie  brauchen,  sicher  sind. 

F.  Pourtales 

Nr.  1490 

Der  Botschafter  in  Paris  öraf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  166  Paris,  den  24.  Juni  18Q0 

Verschiedene  Zeitungen  haben  die  zuerst  durch  das  „Morning 
Chronicle"  gebrachte  Nachricht  von  dem  vollzogenen  Abschlüsse  eines 
neuerdings  abgeschlossenen  Bündnisses  zwischen  Frankreich  und  Ruß- 
land verbreitet. 

Nach  meinen  Beobachtungen  zweifle  ich  entschieden  daran. 

Die  Russen  wissen  recht  gut,  daß  sie  im  Falle  des  Krieges  auf 
Frankreich  rechnen  können,  und  daß  es  dazu  eines  Bündnisses,  welches 
leicht  unbequem  werden  könnte,  nicht  bedarf.  Ein  mir  bekannter 
General  sagte:  „Les  Russes  regardent  la  Republique  Frangaise  comme 
une  cocotte  que  Ton  peut  avoir  quand  on  la  desire,  sans  mariagei." 
Das  schildert  die  Lage  richtig.  Liebesverhältnis  für  eine  gewisse  Zeit, 
den  Krieg,  ja;  Ehe,  d.  h.  Bündnis  im  Frieden,  nein 2. 

Sollten  die  Russen  auf  positiven  Abmachungen  bestehen,  was  ich 
nicht  glaube,  so  würden  selbst  die  Franzosen  nicht  leicht  darauf  ein- 
gehen, weil  das  Mißtrauen  gegen  die  Russen  doch  immer  groß  ist.  pp. 

13    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  193 


Den  durch  die  Presse  verbreiteten  Nachrichten  über  die  Allianz 
können  Börsenspekulationen  zugrunde  liegen,  auch  haben  unsere  Ver- 
handlungen mit  England*  die  öffentliche  Meinung  hier  sehr  erregt,  und 
ist  vielfach  der  Glaube  verbreitet,  als  ob  geheime  Abmachungen  über 
Äg}'pten  und  den  Beitritt  Englands  zur  Tripelallianz  existierten.  Als 
Antwort  darauf  wurde  der  französisch-russische  Allianzabschluß  er* 
funden. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Sehr  gut 

2  stimmt 

Nr.  1491 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  186  Paris,  den  26.  Juli  1890 

Die  Gerüchte  von  dem  Abschluß  einer  russisch -französischen 
Allianz  werden  von  Zeit  zu  Zeit  absichtlich  verbreitet,  namentlich  ge- 
schieht das  dann,  wenn  die  Isolierung  Frankreichs  besonders  fühlbar 
wird.  Ich  glaube  entschieden  nicht  daran,  und  meine  hiesigen  Kollegen 
sind  derselben  Ansicht. 

Die  älteste  Tochter  des  russischen  Botschafters  Baron  von  Mohren- 
heim hat  sich  mit  einem  französischen  Offizier,  le  Vicomte  de  Seze, 
verlobt.  Er  ist  der  Großsohn  des  Verteidigers  von  Louis  XVI.  Ich  be- 
nutzte diesen  Umstand,  um  Herrn  Ribot**  etwas  auf  den  Zahn  zu  fühlen, 
und  sagte  ihm  ganz  ruhig:  „Ich  gratuliere  zur  russisch-französischen 
Allianz.''  Über  diese  Anrede  erschrak  er  so,  daß  ich  erst  glaubte,  es 
sei  etwas  daran.  Er  erholte  sich  erst,  als  ich  ihm  sagte,  ich  habe  die 
Mohrenheimsche  Verlobung  gemeint. 

Im  weiteren  Verlauf  des  Gespräches  sagte  Herr  Ribot,  er  wisse, 
daß  Gerüchte  wegen  Abschlusses  einer  Allianz  verbreitet  würden,  es 
bedürfe  aber  seinerseits  nicht  der  Versicherung,  daß  dies  unwahr  sei. 
Er  wolle  für  Frankreich  la  pleine  liberte  d'action  bewahren  und  sich 
nach  keiner  Seite  binden. 

Ich  glaube,  daß  seine  Äußerungen  aufrichtig  waren,  und  daß,  wenn 
er  in  der  auswärtigen  Politik  sich  etwas  rühriger  zeigt,  er  es  lediglich 
tut,  um  sich  selbst  zu  halten  und  um  Waffen  gegen  parlamentarische 
Angriffe  in  der  Hand  zu  haben. 

Anlaß  zu  den  Gerüchten  können  auch  die  Demonstrationen  gegeben 

*  Gemeint   sind  die   Helgoland— Sansibar-Verhandlungen,  die   am   1.  Juli  zum  Ab- 
schluß gelangten.    Vgl.   Bd.  VIII,  Kap.  LI. 
**  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  de  Freycinet,  seit  Mitte  März  1890. 

194 


haben,  welche  immer  wieder  in  Szene  gesetzt  werden,  sowie  sich  ein 
Russe  in  hoher  Stellung  hier  zeigt.  So  wurden  dem  russischen  Kriegs- 
minister Wannowski  in  Vichy  Ovationen  gebracht  und  die  russische 
Nationalhymne  gespielt,  wo  er  sich  blicken  läßt.  Ebenso  wird  im 
hiesigen  Hippodrom,  welches  die  Stimmung  zu  benutzen  und  zu  be- 
einflussen sucht,  Jeanne  d'Arc,  die  nicht  zieht,  durch  ein  russisches 
Schaustück  bald  ersetzt  werden. 

Das  nutzt  nicht  viel,  und,  was  die  Russen  betrifft,  so  glaube  ich 
noch  an  den  Vergleich  zwischen  einer  Kokotte  und  der  angetrauten 
Frau  und  glaube,  daß  der  Kaiser  von  Rußland  Frankreich  so  ansieht 
und  weiß,  daß  er  Frankreich  haben  kann,  wenn  er  in  Form  eines 
Krieges  zahlen  wollte. 

Münster 

Nr.  1492 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  1  -       Paris,  den  4.  Januar  1891 

pp.*  Wie  das  Verhältnis  zu  Rußland  steht,  ist  sehr  schwer  zu 
erkennen.  An  den  Abschluß  einer  festen  russisch-französischen  Allianz 
glaube  ich  noch  immer  nicht i,  wohl  an  militärische  Verabredungen 
für  den  Fall  des  Krieges  2**. 

Herr  Ribot  ist  ein  früherer  Jurist  und  guter  parlamentarischer 
Redner,  aber  ohne  jede  diplomatische  Schulung  und  politischen  Über- 
blick. Er  wird  sich  leichter  von  den  Russen  hinter  das  Licht  führen 
lassen  als  seine  Vorgänger,  pp. 

Der  russische  Botschafter  von  Mohrenheim  wird  doch  immer  mehr 
als  lächerliche  Figur  betrachtet.  Er  läßt  sich  überall  Ovationen  bereiten. 

So  z.  B.  hat  er  mit  seiner  Familie  und  dem  ganzen  Botschafts- 
personale vorige  Woche  das  Theater  des  Folies  bergere  besucht,  wo 
sich  einige  russische  Sängerinnen  hören  ließen.  Es  waren  drei  Logen 
besonders  für  die  russische  Botschaft  dekoriert  worden;  die  Zuschauer 
erhoben  sich,  als  Mohrenheim  erschien,  die  russische  Hymne  wurde  ge- 
spielt und  auf  Verlangen  wiederholt,  und  nahm  derbezahlte  Applaus  kein 
Ende.    Das  ist  auch  den  Franzosen  zu  stark  gewesen,  zumal  da  das 

*  Den  Anfang  des  Berichts  siehe  in  Kap.  XLVIII,  Nr.  1544. 

**  In  der  Tat  hatten  die  ersten  Besprechungen  über  ein  Einvernehmen  des  russi- 
schen und  französischen  Generalstabes  im  Hinblick  auf  einen  Krieg  gegen  die 
Dreibundmächte  schon  im  Sommer  1890,  gelegentlich  einer  Reise  des  Generals 
de  Boisdeffre  zu  den  russischen  Manövern  stattgefunden.  Siehe  die  Depesche  des 
französischen  Botschafters  in  Petersburg  de  Laboulaye  vom  24.  August  1890. 
Troisieme  Livre  Jaune  Fran^ais.  L'Alliance  Franco-Russe  (1918),  p.  63;  zu  festen 
Verabredungen  kam  es  bekanntlich  erst  im  August  1892. 

n«  195 


Theater  des  Folies  bergere  ein  Vergnügungslokal  der  allerleichtfertig- 
sten  Sorte  ist,  ein  Ort,  an  dem  sich  selbst  Herren  der  guten  Gesell- 
schaft nicht  gern  zeigen.  —  pp.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ich  auch  nicht 

2  ja 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Gut 

Nr.  1493 

Der  Militärbevollmächtigte  in  Petersburg  General  von  Villaume  an 

Kaiser  Wilhelm  II. 

Abschrift 

Nr.  165  St.  Petersburg,  den  ^^'  ^f^      1891 

21.  Februar 

Als  die  Zeitungen  den  Brief  veröffentlicht  hatten,  in  welchem 
Ew.  Majestät  der  französischen  Akademie  Allerhöchstdero  Teilnahme  an 
dem  Verlust  des  Malers  Meissonier  allergnädigst  Ausdruck  zu  geben 
geruhten,  als  ferner  der  Entschluß  zahlreicher  berühmter  Künstler, 
die  Berliner  Ausstellung  zu  beschicken,  fast  gleichzeitig  mit  der  Reise 
Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  nach  Paris  bekannt  wurde*, 
machte  man  mir  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  Anspielungen,  aus 
denen  die  Besorgnis  deutlich  hervorsah,  daß  sich  auf  dem  neutralen 
Boden  der  Kunst  eine  Annäherung  zwischen  Frankreich  und  Deutsch- 
land vollziehen  könne.  Der  Passus  in  der  Rede  Ew.  Majestät  Statt- 
halters von  Elsaß-Lothringen**,  „daß  beiderseits  Hoffnung  auf  eine 
Rückkehr  zu  normalen  Beziehungen  bestehe",  verstärkte  noch  diese 
Befürchtungen,  da  auch  sonst  ganz  verständige  Leute  an  der  Ansicht 
festhielten^  daß  die  Herstellung  eines  vernünftigen  modus  vivendi 
zwischen  Deutschland  und  Frankreich  nur  auf  Kosten  der  freund- 
schaftlichen Beziehungen  des  letzteren  mit  Rußland  zustande  kommen 
könne. 

Die  Presse  teilte  und  nährte  selbstverständlich  diese  falsche  Auf- 
fassung, indem  sie  daran  erinnerte,  daß  die  freundliche  Aufnahme, 
welche  seinerzeit  Lesseps  und  Simon  in  Berlin  gefunden,  in  Frankreich 
ebenso  sympathisch  berührt  habe  wie  die  jüngsten  Aufmerksamkeiten, 
welche  der  französischen  Künstlerwelt  erwiesen  seien.    Ununterrichtet 


*  Siehe  darüber  Kap.  XLVIII,  Nr.  1546«. 

**  Am  25.  Februar  hatte  Fürst  von  Hohenlohe  auf  einem  Diner  des  Landes- 
ausschusses von  Elsaß-Lothringen  eine  Ansprache  gehalten,  die  in  die  Hoffnung 
ausklang,  daß  in  den  Beziehungen  zwischen  dem  Reichslande  und  dem  Reiche,  die 
früher  getrübt  gewesen  seien,  wieder  gegenseitiges  volles  Vertrauen  Platz  greifen 
werde.  Auf  die  deutsch-französischen  Beziehungen  spielte  Hohenlohe  in  seiner 
Rede  nur  leise  an. 

196 


wie  immer,  behauptete  sie,  daß  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  Friedrich 
das  erste  Mitglied  des  erlauchten  preußischen  Königshauses  sei,  welches 
nach  dem  Kriege  1870/71  französischen  Boden  betreten  habe,  daß 
allerhöchstdieselbe  mit  einer  politischen  Mission  betraut  sei  und  dem 
Nationalgefühl  sowie  der  Künstlerwelt  schmeicheln  solle,  um  den  Haß 
der  Franzosen  zu  besänftigen  und  einen  versöhnlichen  Verkehr  zwischen 
beiden  Nationen  anzubahnen. 

Ebenso  allgemein  wie  diese  Besorgnis  war  daher  auch  die  Freude, 
als  der  Telegraph  den  neuen  Sieg  des  Chauvinismus  in  Paris  meldete. 
Der  einmütige  Jubel  der  hiesigen  Presse  über  „diesen  Mißerfolg 
Deutschlands**  beweist,  wie  groß  und  schwer  der  Stein  gewesen  sein 
muß,  der  bisher  auf  ihrem  Herzen  gelegen  hatte.  Auch  nicht  eine 
Zeitung  hatte  eine  Wort  der  Mißbilligung  für  die  taktlosen  Mani- 
festationen der  Chauvinisten  oder  ein  Gefühl  für  die  beschämende 
Rolle,  welche  in  erster  Linie  französische  Künstler,  ferner  die  grande 
nation  im  allgemeinen  und  endlich  die  französische  Regierung  im 
speziellen  in  dieser  Angelegenheit  spielten,  indem  sie  sich  von  Ele- 
menten beherrschen  ließen,  welche  sie  selbst  mit  anerkennenswerter 
Energie  und  unter  allgemeiner  Zustimmung  vor  kurzem  erst  nieder- 
geworfen hatten.  Im  Gegenteil!  Alle  schieben  Deutschland  die  Schuld 
in  die  Schuhe;  denn,  wie  der  „Grashdanin"  sagt,  der  Sieger,  der  es 
wagt,  nach  Niederwerfung,  Ruinierung  und  Beleidigung  des  Schwäche- 
ren so  ganz  ohne  Umschweife  sich  in  „der  von  ihm  zerstörten  Stadt" 
einzufinden,  muß  auf  solche  Ablehnung  gefaßt  sein.  Auch  die  ,,Nowoje 
Wremja"  glaubt,  daß  das  Terrain  für  derartige  Annäherungsversuche 
noch  nicht  genügend  vorbereitet  gewesen  sei,  da  der  Haß  gegen 
Deutschland  in  Frankreich  eher  zu-  als  abgenommen  habe  und  kein 
Opfer,  keine  Zuvorkommenheit  Deutschlands  imstande  seien,  ihn  zu 
besänftigen,  solange  die  Wunden,  die  der  französischen  Eigenliebe 
geschlagen,  nicht  geheilt  und  ihrem  verletzten  Stolz  nicht  Genugtuung 
gegeben  sei.  Wenn  es  demnach  auch  erwiesen  sei,  daß  die  ungeheuere 
Majorität  der  französischen  Nation  von  einer  Annäherung  an  Deutsch- 
land nichts  wissen  wolle  und  mit  den  Ideen  eines  Jules  Ferry  und 
Genossen  nicht  sympathisiere  i,  so  könne  man  trotzdem  von  einer  Ohn- 
macht der  französischen  Nation  der  chauvinistischen  Agitation  gegen- 
über nicht  sprechen.  Denn  die  französische  Gesellschaft  habe  oft  genug 
bewiesen,  daß  sie  sich  durch  den  Chauvinismus  eines  Deroulede  und 
der  Patriotenliga  nicht  fortreißen  ließe,  wenn  deren  Ausfälle  der  Stim- 
mung der  Majorität  nicht  entsprächen;  diesmal  aber  sei  der  Boden 
für  den  Protest  gegen  die  Beteiligung  der  französischen  Künstler  an 
der  Berliner  Ausstellung  schon  genügend  vorbereitet  gewesen.  Wo- 
durch verschweigt  die  Zeitung. 

Die  „Nowosti"  werfen  Deutschland  vor,  daß  es  um  gar  zu  billigen 
Preis  „die  blutigen  Beleidigungen  und  rohen  Vergewaltigungen"  habe 
vergessen  machen  wollen,  mit  deren  Hülfe  das  heutige  Deutsche  Reich 

197 


geschaffen  sei;  Frankreich  sei  doppelt  im  Recht,  da  sich  Deutschland 
ihm  gegenüber  ein  doppeltes  Unrecht  habe  zuschulden  kommen  lassen: 
„denn  es  hat  vom  lebendigen  Staatskörper  Frankreichs  ein  zuckendes 
Stück  Fleisch  nicht  nur  losgerissen,  sondern  behält  es  auch  jenem 
Gerechtigkeitsprinzip  zuwider,  welches  das  französische  Volk  mehr  als 
einmal  aufgestellt  hat." 

Freund  Deroulede  und  Genossen  werden  eifersüchtig  auf  den 
Redakteur  der  „Nowosti"  werden,  welcher  ihrem  chauvinistischen 
Wortschatz  solche  Schlagwörter  entlehnt.  Dafür  kann  sich  dieser  un- 
versöhnliche Revancheapostel  aber  an  dem  Weihrauch  erfreuen,  den 
der  „Swjet",  die  „Moskowski  Wjedomosti"  und  andere  panslawistische 
Hetzblätter  „dem  ruhmvollen  Manne"  streuen,  „dem  in  dieser  An- 
gelegenheit die  hervorragendste,  glänzendste  und  sympathischste  Rolle 
gebührt,  der  einen  glänzenden  Sieg  errungen  und  die  Gemüter  in 
Frankreich  aufgeklärt  und  ernüchtert  hat".  Dem  „Swjet"  scheint  sehr 
viel  daran  zu  liegen,  daß  die  alte  Feindschaft  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  fortbestehen  möge;  denn  er  ist  hocherfreut  darüber, 
daß  das  Meeting,  welches  Deroulede  veranstaltete,  und  der  Eidschwur, 
den  die  tausendköpfige  Menge  leistete,  gerade  ä  propos  gekommen 
seien,  um  den  Mut  des  heutigen  Frankreichs  wieder  zu  heben  und 
zu  stählen. 

Die  „Moskowski  Wjedomosti"  erblicken  in  dem  abschlägigen 
Bescheid  der  französischen  Künstler  nur  „die  Bestätigung  edelsten, 
patriotischen  Gefühls",  welches  erweckt  zu  haben  den  energischen 
Vertretern  desselben,  in  erster  Linie  Herrn  Deroulede  zum  Ruhme 
gereiche. 

So  hat  sich  nicht  nur  die  russische  Presse  in  dieser  Angelegen- 
heit wieder  einmal  in  seltener  Einmütigkeit  auf  die  Seite  unserer 
Gegner  gestellt,  sondern  auch  die  Mehrzahl  der  Russen,  mit  denen 
ich  darüber  zu  sprechen  Gelegenheit  hatte,  konnte  ihre  Schadenfreude 
über  „diesen  Mißerfolg  Deutschlands"  und  dessen  vereiteltes  Bemühen, 
Frankreich  von  Rußland  zu  trennen,  nur  schwer  verhehlen.  Zu  der 
Klärung  im  Westen,  die  für  uns  dieser  Zwischenfall  herbeigeführt,, 
tritt  auf  diese  Weise  auch  noch  die  im  Osten  hinzu  2, 

Aber  derselbe  hat  auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin 
aufklärend  gewirkt,  indem  er  ein  scharfes  Schlaglicht  auf  die  dunkeln, 
unberechenbaren  Zustände  in  Frankreich  geworfen,  die  man  hier  teils 
nicht  sehen,  teils  nicht  zugeben  wollte.  Die  völlig  haltlose  Schwäche, 
mit  der  die  große  Majorität  und  vor  allen  die  Regierung  in  Frank- 
reich dem  Treiben  eines  Deroulede,  Laur  u.  a.  ruhig  zugesehen  haben, 
anstatt  mit  einem  energischen  quos  ego  dazwischen  zu  fahren,  und 
die  Folgerung  daraus,  daß  heut  wie  vor  20  Jahren  die  Entschlüsse 
der  grande  nation  nicht  durch  patriotische  Einsicht  und  Besonnen- 
heit geleitet  werden,  sondern  von  jenem  als  Chauvinismus  bezeichneten 
Zerrbild  wahrhafter  Vaterlandsliebe,  welches  1870  die  Massen  in  den 

198 


Ruf  „ä  Berlin"  ausbrechen  ließ  und  heut  den  Versuch  einer  An- 
näherung auf  neutralem,  geistigem  Gebiete  durch  wüsten  Terrorismus 
vereitelt  hat  — ,  diese  Erkenntnis  hat  die  vernünftig  denkenden  Leute 
und  die  Anhänger  des  Friedens  auch  hier  stutzig  gemacht.  Die  un- 
bestreitbare Beruhigung  der  Gemüter,  welche  in  der  letzten  Zeit  hier 
Platz  gegriffen  hatte,  ebenso  wie  das  Vertrauen  in  die  Zukunft  sind 
erschüttert,  weil  Frankreich  unter  der  Herrschaft  des  aufs  neue  er- 
wachten verhängnisvollen  Chauvinismus  jetzt  auch  den  Russen  als 
ein  unberechenbarer  Faktor  erscheint,  der  über  Nacht  Europa  in  einen 
Krieg  stürzen  kann. 

Die  energische,  deutliche  Antwort  Deutschlands  in  der  Form  einer 
schärferen  Handhabung  der  Paßvorschriften  an  der  französischen 
Grenze  und  die  Einmütigkeit,  mit  der  sich  bei  dieser  Gelegenheit 
die  Deutschen  um  Kaiser  und  Reich  scharten,  haben  hier  ebenfalls 
Eindruck  gemacht,  gleichzeitig  aber  die  Besorgnis  hervorgerufen,  daß 
die  schnöde  Zurückweisung  des  deutschen  Entgegenkommens  vielleicht 
noch  weitere,  den  Frieden  gefährdende  Folgen  haben  könne.  Während 
daher  gestern  noch  die  französischen  Patrioten  belobt  und  ermutigt 
wurden,  wiegelt  man  heut  schon  wieder  ab;  einerseits  wirft  man  der 
französischen  Regierung  Mangel  an  Entschlossenheit  und  Selbstver- 
trauen vor  und  rät  dem  französischen  Publikum  sowie  der  Presse, 
den  aufreizenden  Gegenmaßregeln  der  Deutschen  gegenüber  die  Ruhe 
zu  bewahren,  andererseits  hält  man  uns  vor,  daß  die  „naiven  Mani- 
festationen" eines  Deroulede  und  Genossen  ja  nicht  die  Mehrheit 
des  französischen  Volkes  hinter  sich  hätten  und  daher  nicht  wert 
wären,  die  Beruhigung  der  Gemüter  zu  beeinträchtigen  3. 

So  tut  auch  das  offiziöse  „Journal  de  St.  Petersbourg"  „des  ärger- 
lichen Zwischenfalls,  der  soeben  einen  leichten  Schatten  auf  die  Be- 
ziehungen zwischen  Deutschland  und  Frankreich  geworfen",  in  sehr 
zarter,  sanft  abgetönter  Weise  Erwähnung  und  gibt  der  Hoffnung 
Ausdruck,  daß  man  auf  beiden  Seiten  der  Vogesen  sich  Mühe  geben 
werde,  diese  leichte  Wolke  zu  zerstreuen. 

Zu  dieser  allerdings  nur  scheinbaren  Umstimmung  zu  unseren 
Gunsten  hat  außer  dem  beunruhigenden  Gefühl,  welches  die  Wider- 
standsunfähigkeit der  französischen  Regierung  den  chauvinistischen 
Agitationen  gegenüber  einflößt,  auch  die  Erkenntnis  mitgewirkt,  daß 
die  französische  Unversöhnlichkeit  doch  die  größte  Kriegsgefahr  in 
Europa  bildet.  Im  allgemeinen  sieht  man  daher  jetzt  mit  mehr  Be- 
sorgnis als  bisher  in  die  Zukunft,  in  der  entweder  ein  plötzlicher 
Ausbruch  des  Chauvinismus  in  Frankreich  oder  das  Ende  der  Lang- 
mut und  Geduld  in  Deutschland  zwischen  den  beiden  Ländern 
ernstere  Verwicklungen  eher  herbeiführen  könne,  als  man  es  hier 
wünscht. 

Denn  es  gibt  zurzeit  keine  kriegerisch  gesinnte  Partei  in  Ruß- 
land, und  teils  offen,  teils  versteckt  grollt  man  dem  stillen  Verbündeten, 

199 


daß  er  es  war,  der  Europa  plötzlich  aus  dem  Friedensschlummer  auf- 
gerüttelt hat,  in  den  man  dasselbe  von  hier  aus  seit  mehr  als  Jahres- 
frist einzulullen  bemüht  gewesen  ist.  Außerdem  will  man  sich  aber 
auch  nicht  von  dort  die  Stunde  der  Demaskierung  vorschreiben  lassen, 
sondern  dieselbe  hier  an  der  Newa  bestimmen,  wenn  man  alle  seine 
Vorbereitungen  beendet  hat*. 

Daß  diese  Interessengemeinschaft  zwischen  Rußland  und  Frank- 
reich sich  auch  bei  dieser  Gelegenheit  wieder  betätigt  hat,  darin  liegt 
ein  weiterer  Vorteil  der  Klärung  der  Situation,  die  wir  diesem  Zwischen- 
fall verdanken.  (gez.)  von  Villaum  e 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Freycinets  Ansicht  auch! 
2  ja 

'  !  demnach  war  es  aber  mit  der  vorher  betonten  Niederlage  nichtsi 
*  richtig 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Sehr  klar  und   richtig. 


Nr.  1494 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  72  Paris,  den  6.  April  1891 

Die  Verleihung  des  russischen  St.  Andreas-Ordens  an  den  Präsiden- 
ten Carnot,  die  feierliche  Audienz,  bei  der  der  Botschafter  Mohren- 
heim diese  hohe  Dekoration  überreichte*,  sowie  die  Verleihung  des 
Großkreuzes  der  Ehrenlegion  an  den  Baron  von  Mohrenheim  haben 
hier   ein   gewisses   Aufsehen   erregt. 

Die  hiesige  Presse  aller  Parteien  ist  bemüht  gewesen,  dieser  russi- 
schen Demonstration  die  größte  Wichtigkeit  beizulegen,  und  viele 
klug  redende  kleinere  Diplomaten  wollen  darin  ein  untrügliches 
Zeichen  einer  wirklich  abgeschlossenen  russisch-französischen  Allianz^ 
erblicken. 

Wenn  einesteils  die  Bedeutung  des  Andreas-Ordens  selbst  über- 
trieben wurde,  da  der  Kaiser  von  Rußland,  wenn  er  überhaupt  den 
Staatschef  der  Republik  dekorieren  wollte,  ihm  doch  seinen  höchsten 
Orden  geben  mußte,  so  ist  allerdings  die  Verleihung  des  Ordens 
selbst  insofern  von  großer  Bedeutung,  als  sie  zeigt,  daß  die  Abneigung 
des  Kaisers  gegen  die  Republikaner  nicht  so  groß  ist,  als  angenommen 
wurde,  und  diese  Abneigung  des  Zaren  nicht  mehr  als  ein  unüber- 
windliches  Hindernis   einer  Verständigung  angesehen   werden   darf. 

♦  Sie  fand  am  25.  März  statt 

200 


Dagegen  habe  ich  noch  keine  bestimmten  Anzeichen  dafür,  daß 
durch  den  Abschluß  eines  wirkHchen  Allianzvertrags  das  Verhältnis 
Rußlands  zu  Frankreich  eine  Änderung  erfahren  habe.  Daß  im  Falle 
eines  Krieges  beide  Mächte  aufeinander  rechnen,  ist  nicht  zu  be- 
zweifeln; ebenso  bin  ich  davon  überzeugt,  daß  für  den  Fall  eines 
Krieges  auf  militärischem  Gebiete  Verabredungen  getroffen  worden 
sind.  Sollte,  was  ich  bis  jetzt  nicht  annehme,  zwischen  beiden  Re- 
gierungen ein  wirklicher  Allianzvertrag  abgeschlossen  worden  sein, 
so  würde  ich  das  nicht  für  gefährlicher  und  wichtiger  halten  als  den 
bisherigen  Zustand. 

Ich  gebe  überhaupt  sehr  wenig  auf  Verträge  der  Art:  oft  liegt 
in  ihnen  selbst  ein  Keim  des  Zwistes,  und  dann  halten  sie  nur  so 
lange,  als  die  eine  oder  andere  Macht  darin  noch  einen  Vorteil  sieht 
und  der  anderen  Macht  auch  in  gefährlichen  Zeiten  Vertrauen  schenken 
kann.  Trotz  aller  Russenfreundlichkeit,  die  bei  den  meisten  lebenden 
Franzosen  doch  nur  ein  Produkt  des  Hasses  gegen  uns  ist,  herrscht 
doch  gegen  den  Herrscher  Rußlands  und  das  ganze  russische  Re- 
gierungssystem das  größte  Mißtrauen,  und  dies  ist  größer,  als  die 
Franzosen,  die  sich  in  Europa  ganz  isoliert  fühlen,  zugestehen  wollen. 

Daß  in  letzter  Zeit  von  beiden  Seiten  alles  geschieht,  um  die 
guten  Beziehungen  zu  pflegen,  und  daß  von  russischer  Seite  alles 
geschehen  ist,  um  die  Annäherung  Frankreichs  an  uns  zu  erschweren, 
haben  wir  ja  noch  kürzlich  erfahren. 

Die  französische  Ausstellung  in  Moskau  wird  zur  Verbrüderung 
und  Liebeserklärungen  zwischen  Russen  und  Franzosen  sehr  aus- 
gebeutet  werden. 

Vorläufig  scheint  das  noch  alles  platonisch  bleiben  zu  sollen,  pp. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  noch  nicht 

Nr.  1495 
Bericht  des  Militärattaches  in  Paris  Rittmeisters  von  Funcke* 

Abschrift 
Nr.  16  Paris,  den  13.  April  18Q1 

Geheim 

pp.  Über  die  politische  Lage  zwischen  Frankreich  und  Deutsch- 
land hat  General  Gallifet  sich  gleichfalls  dem  General  von  Loe  sehr 

*  Der  Bericht  betrifft  „Mitteilungen  des  Generals  Gallifet  an  den  General  der  Ka- 
vallerie und  Kommandierenden  General  des  8.  Armeekorps  Freiherrn  von  Loe 
gelegentlich  seiner  kürzlichen  Anwesenheit  in  Paris  und  Besuches  beim  General 
Gallifet".  Hier  interessieren  nur  die  Mitteilungen  über  die  politische  Lage.  Über 
die  Beziehungen  Freiherrn  von  Loes  zu  Gallifet  vgl.  L.  v.  Schlözer,  General- 
feldmarschall  Freiherr  von   Loe  (1914),  S.  26ff.,  209  f. 

201 


offen  und  klar  ausgesprochen.  „In  beiden  Nationen  wünsche  niemand 
den  Krieg,  aber  alle  vernünftigen  Leute  seien  der  Ansicht,  daß  er 
wegen  Elsaß-Lothringen  unvermeidhch  sei^.  Gewiß  werde  Frankreich, 
wenn  nicht  ungewöhnliche  und  unerwartete  Zwischenfälle  einträten, 
den  Krieg  nicht  beginnen.  Wenn  aber  Rußland  den  Krieg  gegen 
Deutschland  begänne,  so  sei  keine  Regierung  imstande,  Frankreich 
zurückzuhalten  2.  Eines  Vertrages  zwischen  Frankreich  und  Rußland 
bedürfe  es  dazu  nicht.  Der  Vertrag  läge  in  der  Interessengemein- 
schaft 3,  und  es  würde  nur  eines  Zwischenfalles  auf  dem  Balkan  be- 
dürfen, um  den  friedlichen  Kaiser  von  Rußland  zu  zwingen,  den  Krieg 
gegen  Österreich  zu  beginnen*.'* 

(gez.)  von  Funcke 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

*  richtig 
3  stimmt 

*  sehr  wahr! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

London,  Wien,  Rom  mitth[eilen]  sehr  interessant 


Nr.  1496 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz 

Konzept  von  der   Hand  des  Vortragenden   Rats  Grafen  von   Pourtales 

Nr.  136  Berlin,  den  14.  April  1891 

Geheim  [abgegangen  am  15.  April] 

Ganz  vertraulich 

Vor  kurzem  hat  ein  auf  der  Durchreise  begriffener  russischer 
Zivilbeamter  den  Prinzen  Albert  von  Sachsen-Altenburg*  hier  auf- 
gesucht und  demselben  über  die  Lage  in  Rußland  Enthüllungen  ge- 
macht, über  welche  der  Prinz  dem  Herrn  Reichskanzler  nachstehendes 
mitgeteilt  hat: 

„Bisher  sei  der  Ausbruch  eines  Krieges  Rußlands  und  Frank- 
reichs gegen  uns  nur  durch  den  Zaren  verhindert  worden.  Die  Pan- 
slawistenführer  seien  indessen  überzeugt,  daß  es  ihnen  gelingen  werde, 
den  Zaren  mit  sich  fortzureißen,  sobald  sie  den  Moment  für  ge- 
kommen hielten.  Dieser  Moment  sei  der  nächste  Herbst.  So  gut 
der  Zar  sich   jetzt  habe   dazu   bringen   lassen,   dem    Präsidenten   der 

*  Kommandeur    der    3.  Garde-Kavallerie-Brigade,    ehemals    Kaiserlich    Russischer 
General.Tiajor. 

202 


französischen  Republik  den  Andreas-Orden  zu  verleihen,  werde  er  sich 
auch  zum  Kriege  bringen  lassen.  Man  wähle  den  nächsten  Herbst, 
weil  dies  ein  militärisch  günstiger  Zeitpunkt  sei.  An  sich  sei  der 
Winter  immer  den  Russen  günstiger  als  uns;  bis  zum  nächsten  würde 
aber  die  russische  Infanterie  das  neue  Gewehr  haben,  und  die  den 
Krieg  vorbereitende  Dislokation  vollendet  sein.  Zu  diesem  Behuf  würde 
jetzt  die  22.  Division  nach  Polen  verlegt.  Alle  einflußreichen  Stellen 
in  der  Armee  seien  mit  Männern  besetzt,  die  in  panslawistischen 
Ideen   lebten." 

Prinz  Albert  von  Sachsen-Altenburg  versichert,  daß  sein  Gewährs- 
mann, den  er  aus  der  Petersburger  Gesellschaft  oberflächlich  kannte, 
dessen  Namen  er  sich  aber  durch  Ehrenwort  verpflichtet  hat  nicht 
zu  nennen,  einen  durchaus  zuverlässigen  Eindruck  gemacht  habe,  auch 
habe  derselbe  Personen  und  Verhältnisse,  welche  Seiner  Durchlaucht 
bekannt  genug  seien,  um  eine  Kontrolle  zu  gestatten,  mit  photographi- 
scher Treue  geschildert. 

Wiewohl  ich  Bedenken  trage,  obigen  Mitteilungen  großen  Wert 
beizumessen,  zumal  dieselben  in  militärischer  Hinsicht  mit  dem  bisher 
hier  bekannt  Gewordenen  keineswegs  übereinstimmen,  so  habe  ich 
doch  nicht  unterlassen  wollen,  Ew.  pp.  davon  zu  Ihrer  ganz  vertrau- 
lichen persönlichen  Information  in  Kenntnis  zu  setzen,  zumal  Prinz 
Albert  von  Sachsen-Altenburg  auch  Seine  Majestät  den  Kaiser  von 
den  ihm  gemachten  Eröffnungen  informiert  hat. 

Ich  stelle  ergebenst  anheim,  diesen  Erlaß  nach  Kenntnisnahme 
zu  vernichten. 

Marschall 


Nr.  1497 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  111  St.  Petersburg,  den  17.  April  1891 

Geheim 

Den  hohen  geheimen  Erlaß  vom  14.  d.  Mts.  Nr.  136*  habe  ich 
die  Ehre  gehabt  zu  erhalten,  nach  Kenntnisnahme  ist  er  vernichtet 
worden. 

Euer  Exzellenz  werden  aus  den  Berichten,  welche  ich  unter  dem 
Eindrucke  der  Dekorierung  Monsieur  Carnots  schrieb,  geneigtest  er- 
sehen haben,  daß  ich  dieser  Äußerlichkeit  große  Bedeutung  beilege; 
sie  beweist  nämlich,  daß  der  Zar  auf  dem  Wege  zur  Intimität  mit 


*  Siehe  Nr.  1496. 

203 


der   Republik   jetzt   zu   Schritten    bewogen    werden   kann,    welche    er 
vor  einem  Jahre  nicht  getan  haben  würde. 

Dies  ist  nun,  obwohl  die  Abneigung  Alexanders  III.  gegen  die 
Greuel  und  die  Unbequemlichkeiten  eines  Krieges  die  alte  bleibt,  von 
schwerwiegenden  Folgen,  denn  die  weitverbreiteten  und  berechtigten 
Zweifel,  ob  der  Kaiser  sich  entschließen  könne,  mit  dem  republikani- 
schen Frankreich  zusammenzugehen,  sind  geschwunden,  sowohl  dort, 
als  auch  im  übrigen  Europa  und  namentlich  hier. 

Die  Wirkungen  dieser  Tatsache  zeigen  sich  schon  jetzt  oft  und 
deutlich;  man  sucht  zwar  noch  nicht  nach  einem  Kriegsfalle,  aber 
on  a  le  verbe  plus  haut,  und  andere  Staaten  regeln  ihre  Haltung  nach 
den  offenkundig  enger  gewordenen  Beziehungen  zwischen  dem  Zaren 
und  der  Republik. 

Nach  den  Euerer  Exzellenz  bekannten  Vorgängen  vom  ^0.  bis 
22.  März  v.  Js.*  konnte  es  uns  nicht  überraschen,  daß  Rußland  mehr 
Anlehnung  an  Frankreich  suchte  als  zuvor;  hierzu  war  es  nicht  nur 
berechtigt,  sondern  sogar  gezwungen;  aber  die  persönliche  Beteiligung 
des  Zaren  am  Austausche  demonstrativer  Artigkeiten  war  nicht  not- 
wendig; durch  diese  wird  eine  Veränderung  der  Lage  konstatiert, 
wenn  man  auch  gern  zugibt,  daß  es  nur  durch  den  Appell  an  die 
väterlichen  Gefühle  gelang,  den  Kaiser  zur  Verleihung  des  Andreas- 
Ordens  an  den  Präsidenten  zu  bestimmen,  der  seinen  Söhnen  große 
Aufmerksamkeiten  erwies. 

Einen  wachsenden  Einfluß  des  Panslawismus  kann  ich  nicht  wahr- 
nehmen; im  Gegenteil:  Ich  wage  zu  behaupten,  daß  er  der  groß- 
russischen Partei  das  Feld  geräumt  hat;  dies  ist  ungünstig  für  uns, 
denn  ersterer  richtet  seine  Aspirationen  nach  Süd  und  Südwest,  letztere 
aber  gegen  Westen.  Die  Panslawisten  blicken  nach  den  slawischen 
Provinzen  Österreich-Ungarns  und  nach  den  Balkanstaaten,  die  Pan- 
russen  wollen  Deutschland  demütigen;  hiernach  fällt  ihnen,  wie  sie 
glauben,  alles  übrige  von  selbst  zu. 

In  dem  systematischen  Aufmarsche  der  russischen  Armee  im 
Westen  des  Reiches  ist,  so  wie  mir  bekannt,  weder  eine  unvorher- 
gesehene Änderung  noch  eine  Beschleunigung  eingetreten;  ein  Grund, 
unser  Volk  mit  Befürchtungen  eines  nahen  Krieges  gegen  Rußland 
zu  erfüllen,  liegt  also  nicht  vor;  für  unsere  militärische  und  diplo- 
matische Tätigkeit  ist  es  aber  nach  meinem  ehrerbietigen  Dafürhalten 
notwendig,  in  Rechnung  zu  ziehen,  daß  die  Garantie,  welche  wir  in 
der  Persönlichkeit  des  Zaren  fanden,  weniger  zuverlässig  ist,  als  sie 
war. 

V.  Schweinitz 


*  Gemeint    ist    wohl    die    mit    der    Entlassung    Bismarcks    (20.  März    1890)    ent- 
schiedene Nichterneuerung  des  Rückversicherungsvertrages. 

204 


1 


Nr.  1498 
Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

jsjr  57  Ausfertigung 

Vertraulich  Bukarest,  den  2.  Mai  1891 

Seine  Majestät  der  König  Karl  teilte  mir  vertraulich  den  Inhalt 
eines  Berichtes  mit,  welchen  er  von  seinem  Gesandten  in  St.  Peters- 
burg, Herrn  Emil  Ghika,  über  eine  Unterredung  desselben  mit  Herrn 
von  Giers  erhalten  hat.  pp. 

Über  die  europäische  Gesamtsituation  habe  Herr  von  Giers  be- 
merkt, daß  von  französischer  Seite  neuerdings  große  Anstrengungen 
gemacht  worden  wären,  um  einen  Allianzvertrag  mit  Rußland  zu- 
stande zu  bringen;  ,,La  France  a  tout  fait  pour  avoir  un  traite;  mais 
malgre  les  instances  les  plus  vives  eile  ne  l'a  point  obtenu.''  Seine 
Majestät  der  Kaiser  Alexander  wolle  sich  mit  Frankreich  auf  kein 
festes  Vertragsverhältnis  einlassen,  weil  die  republikanische  Regierungs- 
form ihm  unsympathisch  sei,  und  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Häufig- 
keit der  Ministerwechsel  in  Frankreich.  Dies  schließe  nicht  aus,  daß 
Rußland  sich  die  Zuneigung  der  Franzosen  gern  gefallen  lasse.  „La 
France  est  ä  nos  pieds,  nous  aurions  mauvaise  gräce  ä  nous  en 
plaindre."  Auch  wäre  es  natürlich,  wenn  die  zwischen  den  beiden 
Staaten  bestehenden  freundschaftlichen  Beziehungen  gelegentlich  in 
gegenseitigen  kleinen  Aufmerksamkeiten  ihren  Ausdruck  fänden.  „Les 
petits  cadeaux  entretiennent  l'amitie.*'  Die  Verleihung  des  Andreas- 
Ordens  an  Herrn  Carnot  falle  unter  diesen  Gesichtspunkt.  Dieselbe 
sei  nur  eine  höfliche  Anerkennung  einerseits  für  die  zwei  russischen 
Großfürsten  auf  französischem  Boden  erwiesene  Gastfreundschaft, 
andrerseits  für  gewisse  Gefälligkeiten,  welche  die  französische  Re- 
gierung auf  militärischem  Gebiete  für  Rußland  gehabt  habe.  Mehr 
bedeute  dieser  Orden  nicht,  denn  Rußland  wünsche  sich  nicht  zu 
binden.  Rußland  sei  gegenwärtig  überhaupt  mehr  mit  inneren,  als 
mit  auswärtigen  Angelegenheiten  beschäftigt,  pp. 

B.  von  Bülow 

Nr.  1499 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 

an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  von  Pourtales 

Nr.  169 

Ganz  vertraulich  Berlin,  den  14.  Mai  1891 

Ein  nichtdeutscher  Diplomat  hat  auf  Grund  von  Informationen 
aus  sehr  guter  Pariser  Quelle  folgendes  ganz  vertraulich  hier  mit- 
geteilt. 

205 


Als  der  Zwischenfall  der  Kaiserin  Friedrich  ein  bedrohliches  Aus- 
sehen annahm,  hätte  die  französische  Regierung  ihren  Botschafter  in 
St.  Petersburg  beauftragt  zu  fragen,  ob  Frankreich  im  Kriegsfälle  auf 
russische  Kooperation  rechnen  könne.  Die  Antwort  habe  ablehnend 
gelautet  und  der  französischen  Regierung  die  Überzeugung  gegeben, 
daß  der  Zar  keine  Lust  zum   Kriege  habe. 

Diese  Nachricht,  welche  zwar  mit  den  neuesten  Symptomen  einer 
russisch-französischen  Annäherung  schwer  in  Einklang  zu  bringen  ist*, 
würde  an  sich  als  friedliches  Anzeichen  gedeutet  werden  können. 

Ew.  pp.  sind  vielleicht  in  der  Lage,  etwas  Positives  über  die  Sache 
in   Erfahrung  zu  bringen. 

Marschall 


Nr.  1500 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  153  St.  Petersburg,  den  24.  Mai  1891 

Ganz  vertraulich 

Den  hohen  Erlaß  Nr.  169  vom  14.  d.  Mts.**,  betreffend  die  von 
der  französischen  Regierung  an  die  russische  gerichtete  Anfrage,  ob 
sie  im  Kriegsfalle  auf  deren  Kooperation  rechnen  könne,  habe  ich 
unter  Nr.  137  vom  16.  d.  Mts.  nur  vorläufig  beantwortet.  Ich  kann 
diese  Antwort  nunmehr  einigermaßen  vervollständigen,  indem  ich  von 
zuverlässiger  Seite  gehört  habe,  daß  Herr  de  Laboulaye,  als  er  vor 
seiner  Abreise  im  April  Gelegenheit  hatte,  den  Kaiser  Alexander  zu 
sehen,  wahrscheinlich  also  bei  der  Audienz,  in  welcher  der  Botschafter 
den  Dank  des  Herrn  Carnot  für  den  Andreas-Orden  abstattete.  Seiner 
Majestät  nahegelegt  hat,  daß  seine  Regierung  das  Bedürfnis  emp- 
finde zu  wissen,  ob  sie  im  Kriegsfalle  auf  Rußlands  Mitwirkung 
zählen  könne. 

Der  Zar  hat,  wie  meine  auf  französischer  Mitteilung  beruhende 
Information  sagt,  dem  Botschafter  Veranlassung  gegeben,  das  Ge- 
spräch auf  einen  anderen  Gegenstand  zu  lenken,  pp. 

V.  Schweinitz 


*  Nach  einem  Erlaß  Minister  Ribots  an  den  französischen  Botschafter  in  Petersburg 
de  Laboulaye  vom  9.  März  1S91  hatte  der  Zwischenfall  immerhin  dazu  geführt, 
das  französisch-russische  Einvernehmen,  das  Mohrenheim  eben  damals  „solide 
comme  du  granit"  nannte,  zu  bekräftigen.  Troisieme  Livre  Jaune  Fran^ais. 
L'AIhance  Franco-Russe  (1918),  p.  8. 
**  Siehe  Nr.  1499. 

206 


^  Nr.  1501 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Entzifferungf 

Nr.  162  St.  Petersburg,  den  27.  Mai  1891 

Ganz  vertraulich 

Baron  von  Marochetti*  ist  aus  Paris  und  Rom  zurückgekehrt. 
Der  Botschafter  bestätigt,  daß  die  französische  Regierung  mißlungene 
Versuche  gemacht  hat,  um  vom  Zaren  die  Zusicherung  der  Kooperation 
im  Kriegsfalle  zu  erlangen  i.  pp. 

von  Schweinitz 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Out!  gut! 

Nr.  1502 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Alfred  von  Bülow 
an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  237  St.  Petersburg,  den  30.  JuH  1891 

Vertraulich 

Unter  dem  Eindruck  der  herrschenden  landwirtschaftlichen  Not- 
stände und  der  politischen  Isolierung  Rußlands  infolge  der  Erneue- 
rung des  Dreibundes**  sowie  der  Annäherung  Englands  an  die  Friedens- 
mächte war  die  hiesige  Stimmung  eine  entschieden  niedergeschlagene, 
besorgte,  teilweise  auch  gereizte  geworden. 

Doch  in  der  letzten  Woche  ist  das  politische  Wetterglas  sicht- 
lich wieder  gestiegen. 

Dieser  Umschwung  von  Besorgnis  zu  gehobener  Zuversicht  ist 
in  erster  Linie  durch  das  Eintreffen  des  französischen  Geschwaders*** 
herbeigeführt  worden.  Der  Admiral  Gervais  und  seine  Offiziere  haben 
es  bisher  in  byzantinischer,  aber  recht  geschickter  Weise  verstanden, 
das  russische  Selbstbewußtsein  bei  jeder  sich  darbietenden  Gelegen- 
heit   zu    wecken.     Sie    gerieren    sich    als    weihrauchspendende    Ab- 

*  Italienischer  Botschafter  in  Petersburg. 
**  Sie  hatte  am  6.  Mai  stattgefunden;  vgl.  Kap.  XLV. 

***  Am  23.  Juli  war  ein  französisches  Geschwader  unter  Führung  des  Admirals 
Gervais  in  Kronstadt  angelangt.  Siehe  auch  Kap.  XLVIII,  Nr.  1573.  Über  den 
äußeren  Verlauf  der  Festlichkeiten,  die  sich  an  den  Besuch  der  französischen  Flotte 
schlössen,  den  Wortlaut  der  zwischen  Kaiser  Alexander  und  Präsident  Carnot  ge- 
wechselten Telegramme  usw.  vgl,  Schultheß'  Europäischer  Geschichtskalender 
Jahrg.  1891,  S.  274  ff. 

207 


gesandte  eines  Rußland  schwärmerisch  verehrenden  Volkes  und  staunen 
die  Wunder  der  Zarenresidenz  als  etwas  ganz  Unerwartetes  an. 
Alles,  was  die  französischen  Herren  sehen  und  hören,  wird  als  un- 
übertrefflich und  meisterhaft  bezeichnet,  und  können  sie  nicht  genug 
reden   von   der  Machtfülle   und   Großartigkeit   des   Kaiserreichs. 

Aber  nicht  nur  die  Huldigungen  des  französischen  Geschwaders 
steigern  das  Selbstgefühl  hiesiger  politischer  Kreise.  Man  wiegt  sich 
auch  in  der  angenehmen  und  festen  Zuversicht,  daß  der  russische 
Einfluß  an  der  unteren  Donau  w^ieder  einen  guten  Schritt  vorwärts 
getan  hat,  und  diese  beiden  Tatsachen  zusammen  betrachtet  man  als 
einen  wichtigen  Faktor,  der  dem  erneuerten  Dreibund  gegenüber  schwer 
in  die  Wagschale  falle. 

„Gleicht  nicht  die  Herreise  des  jungen  Königs  Alexander  von 
Serbien*  der  Wallfahrt  eines  Pilgers  in  ein  gelobtes  Land,"  meinte 
gestern  ein  russischer  Offizier,  mit  dem  ich  nach  Zarskoe  Selo  fuhr. 
„Überall,  wo  slawische  Erinnerungsstätten  sind,  hält  der  jugendliche 
Monarch  sich  auf  und  betet  in  Kiew  und  Moskau  an  den  uns  heiligen 
Stätten,  bis  es  ihm  dann  vergönnt  sein  wird,  den  Zarbefreier  zu  sehen."  — 
Und  wie  man  die  glänzende  Aufnahme  des  französischen  Geschwaders 
als  einen  ernsten  Fingerzeig  nach  Deutschland  hin  ansieht,  so  freut 
man  sich  über  den  Eindruck,  den  der  serbische  Besuch  in  Wien 
machen  müsse,  wo  man  nun  nicht  mehr  daran  zweifeln  werde,  daß 
Serbien  nach  Herz,  Verstand,  Blut  und  Glauben  nur  russisch  gesinnt 
sein  könne.  In  Österreich,  so  betont  man,  werde  König  Alexander 
nur  den  kleinen  Umweg  nach  Ischl  machen,  während  er  in  Rußland 
langsam  von  Stadt  zu  Stadt  reise.  Dazu  kommt,  daß  man  sich  hier 
der  immer  bestimmteren  Hoffnung  hingibt,  die  Tage  der  Hohenzollern- 
dynastie  in  Rumänien  seien  nunmehr  gezählt.  Man  spricht  mit  einem 
gewissen  Behagen  von  der  Liebesaffäre  Vacarescu  und  allerhand  damit 
zusammenhängenden  Skandalgeschichten.  Man  meint,  daß  die  ergötz- 
liche Herzensgeschichte  unter  allen  Umständen  das  Ansehen  der  rumäni- 
schen Majestäten  ernstlich  beeinträchtigen  werde,  und  bedauert  nur, 
daß  der  Thronfolger  allem  Anschein  nach  auf  seine  Liebe  verzichtet 
habe. 

Auch  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  unerwähnt  lassen, 
daß  der  gastliche  Empfang,  der  dem  französischen  Geschwader  in 
Stockholm  zuteil  wurde,  an  hiesiger  maßgebender  Stelle  sympathisch 
berührt  hat.  Insbesondere  erblickt  Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander 
darin  eine  indirekt  der  Kaiserlich  russischen  Regierung  erwiesene  Auf- 
merksamkeit. 

Den  Beweis  für  die  zuversichtlichere,  ich  möchte  sagen  „üppigere** 


*  Er  traf  am  2.  August  in  Begleitung  des  Regenten  Ristitsch  in  Petersburg  ein. 
208 


Stimmung  hiesiger  politischer  Kreise  liefert  eine  Unterhaltung,  welche 
mein  österreichisch-ungarischer  Kollege  kürzlich  mit  einem  höheren 
Beamten  des  hiesigen  Ministeriums  des  Äußern  hatte.  Es  kam  die 
Rede  auf  die  Erneuerung  der  Tripelallianz,  und  meinte  der  betreffende 
Herr,  man  sei  ja  im  auswärtigen  Ministerium  auf  die  Fortdauer  des 
Dreibundes  gefaßt  gewesen.  Aber  man  müsse  doch  zugestehen,  daß 
der  letztere  mit  den  maritimen  und  finanziellen  Kräften  Großbritanniens 
im  Hintergrund  ein  für  Rußland  viel  bedrohlicheres  Aussehen  ge- 
winne. In  Berhn  und  Wien  vertraue  man  auf  die  Friedensliebe  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  Alexander.  Man  möge  sich  aber  dort  nicht  ein- 
bilden i,  daß  dieselbe  unerschütterlich  wäre.  Es  könne  der  Augenblick 
kommen,  wo  die  Neigung  zum  Frieden  sich  mit  der  Würde  Rußlands 
nicht  mehr  vereinbaren  lasse  und  auch  der  beste  Wille  des  Monarchen 
den  Ausbruch  des  großen  Krieges  nicht  mehr  zu  verhindern  imstande 
sein  werde  2.  Österreich-Ungarn  möge  sich  noch  zu  rechter  Zeit  be- 
denken, was  auf  dem  Spiele  stehe.  Die  Habsburgische  Monarchie 
würde  bei  entscheidender  Niederlage  zerstückelt  werden,  während  Ruß- 
land, auch  wenn  es  geschlagen  worden  sei  und  vielleicht  Polen  und 
die  Ostseeprovinzen  eingebüßt  habe,  immerhin  noch  ein  fanatischer, 
für  den  österreichisch-ungarischen  Nachbar  gefährlicher  Gegner  bleiben 
werde  3. 

Baron  Aehrenthal*  hat  dieser  warnenden  Stimme  gegenüber  ein- 
fach betont,  die  Mächte  des  Dreibundes  bezweckten  auch  nach  der 
Erneuerung  desselben  einzig  und  allein  die  Aufrechterhaltung  des 
Friedens  auf  der  Basis  des  Frankfurter  und  des  Berliner  Vertrages, 
und  daran  würden  diese  Mächte  treu  festhalten.  Von  einem  bedroh- 
lichen, die  anerkannte  Friedensliebe  Seiner  Majestät  des  Kaisers  Alexan- 
der erschütternden  Charakter  der  Tripelallianz  könne  daher  nicht  die 
Rede  sein. 

Die  vorstehende  Unterhaltung,  deren  Inhalt  mir  Baron  Aehren- 
thal im  strengsten  Vertrauen  mitteilte,  gibt  vielleicht  nicht*  die  an 
hiesiger  maßgebender  Stelle  herrschende  Auffassung  der  politischen 
Lage  wieder,  immerhin  aber  eine  Beurteilung  derselben,  wie  sie  sich 
an  die  entscheidende  Stelle  mehr  und  mehr  herandrängt. 

Für  Seine  Majestät  den  Kaiser  Alexander  ist  und  bleibt,  wie 
mir  wiederholt  versichert  wird,  „Bulgarien"**  der  wunde  Punkt.  Der 
Monarch  ist  überzeugt,  daß  man  von  Wien  aus  unter  der  Hand  die 
vertragswidrigen  Zustände  in  Sofia,  wenn  auch  nicht  der  Form,  so 
doch  der  Sache  nach  protegiert,  und  daß  Graf  Kälnoky  in  unver- 
antwortlicher Weise  mit  dem  Feuer  spielt.  Auch  die  rumänischen 
Verhältnisse  erfreuen  Seine  Majestät  noch  lange  nicht.  Die  Unter- 
haltung, welche  höchstderselbe  bei  Gelegenheit  der  Abschiedsaudienz 


*  Österreich-ungarischer  Botschaftsrat  in  Petersburg. 

^*  Ober  die  Bulgarische  Frage  seit  1890  siehe  Bd.  IX,  Kap.  LV. 

14    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  209 


des  neuernannten  Gesandten  in  Bukarest  Herrn  von  Fonton  mit 
letzterem  hatte,  schloß  in  bezug  auf  Rumänien  mit  den  Worten:  „Armes 
Land,  trauriges  Land." 

A.  V.  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  iL: 

1  Hat  sich  auch  keiner  eingebildet 

2  ganz  richtig;  ich  freue  mich,  durch  einen  Russen  bestätigt  zu  sehn,  was  ich  seit 
6  Jahren  gepredigt  habe. 

'  aber  als  Republik! 
4  doch! 


Nr.  1503 

Der  Unterstaatssekretär  im  Auswärtigen  Amt  Freiherr  von  Rotenhan 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Raschdau 

Nr.  268  Berlin,  den  7.  August  1891 

Geheim  [abgegangen  am  11.  August] 

pp.  Der  Gedanke,  den  Zaren  auf  die  Gefahren,  welche  die  Ver- 
bindung seines  Landes  mit  der  französischen  Republik  für  die  dynasti- 
schen Interessen  bietet,  aufmerksam  zu  machen*,  hat,  wie  Ew. pp. 
bekannt,  wiederholt  den  Gegenstand  der  Korrespondenz  zwischen  dem 
Auswärtigen  Amt  und  der  Kaiserlichen  Botschaft  gebildet.  Wo  das 
Gespräch  auf  diese  Verhältnisse  kam,  hat  der  Zar,  so  insbesondere 
noch  bei  seiner  Unterhaltung  mit  Seiner  Majestät,  unserem  allergnädig- 
sten  Herrn,  in  Peterhof,  die  Bedeutung  jener  Verhältnisse  nicht  ver- 
kannt und  sich  über  den  Wert,  welchen  die  französische  Regierungs- 
form in  seinen  Augen  genießt,  in  nicht  mißzuverstehender  Weise  aus- 
gelassen. Das  hat  nicht  gehindert,  daß  der  Siegesgesang  der  fran- 
zösischen Revolution  jetzt  in  Petersburg  und  Moskau  hoffähig  ge- 
worden ist,  und  die  von  Kaiser  Alexander  und  den  Großfürsten  aus- 
gebrachten Toaste  und  die  mit  Paris  gewechselten  Depeschen  be- 
weisen, daß  auch  an  erster  Stelle  die  Republik  keine  prinzipielle 
Gegnerschaft  mehr  in  Rußland  findet.  Entweder  war  der  Einfluß  der 
Umgebung  und  ihrer  Vorstellungen,  daß  dem  mitteleuropäischen 
Bündnis  die  französisch-russische  Entente  entgegengesetzt  werden  und 
diese  Tatsache  in  unverkennbarer  Weise  zum  Ausdruck  kommen  müsse, 
so  stark,  daß  auch  der  Zar  sich  ihm  nicht  verschließen  konnte,  oder 
es  herrscht  bei  ihm  vielleicht  auch  die  Überzeugung  vor,  daß  er  und 
sein  Reich  von  dem  Einflüsse  der  radikalen  Republik  und  ihrer  Propa- 
ganda nichts  zu  befürchten  haben.  Bei  dieser  Sachlage  möchte  ich  es 
fast  bezweifeln,  daß  derartige  Vorstellungen,  wie  sie  sich  der  in  der 

*  Er  war  von  einem  ehemaligen  russischen,  in  Paris  lebenden  Offizier  Baron  von 
der  Osten-Sacken  angeregt  worden. 

210 


Anlage  genannte  russische  Offizier  denkt,  von  erheblicher  Wirkung 
auf  die  Entschließungen  des  Kaisers  Alexander  sein  würden.  Jeden- 
falls müßten  sie,  um  diesen  Zweck  zu  erreichen,  von  einer  Seite 
kommen,  bei  der  der  Zar  nicht  interessierte  Nebenabsichten  vermutet, 
und  sie  müßten  mit  einer  gewissen  beharrlichen  Konsequenz  angebracht 
werden.  Dem  Gewicht  der  Überzeugungsgründe,  die  ihm  von  deut- 
scher Seite  vorgetragen  werden,  wird  sich  der  russische  Kaiser  viel- 
leicht nicht  ganz  verschließen,  aber  daß  sie  sein  Handeln  wesentlich 
beeinflussen  könnten,  ist  unter  den  obwaltenden  Verhältnissen  kaum 
anzunehmen. 

Rotenhan 


Nr.  1504 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  248  St.  Petersburg,  den  5.  August  1891 

Bei  meiner  am  1.  August  erfolgten  Rückkehr  nach  St.  Petersburg 
fand  ich  alle  meine  russischen  und  diplomatischen  Bekannten  unter 
dem  überwältigenden  Eindruck,  den  die  Begeisterung  der  Volksmassen 
bei  der  Einfahrt  der  französischen  Schiffe  in  die  Newa  und  beim  Emp- 
fang ihrer  Offiziere  im  Stadthause  hervorgebracht  hatte.  Ruhige  und 
erfahrene  Beobachter  versichern,  in  keinem  Lande  eine  so  leidenschaft- 
liche und  dabei  so  naiv-herzliche  Massendemonstration  gesehen  zu 
haben,  und  die  Russen  geben  zu,  daß  selbst  in  den  feierlichsten  Mo- 
menten patriotischer  Begeisterung,  zum  Beispiel,  als  der  Zar  nach  der 
Krönung  auf  die  rote  Treppe  im  Kreml  trat,  sich  kein  größerer 
Enthusiasmus  gezeigt  hat,  als  wenn  die  französischen  Seeleute  sich 
auf  dem  Balkon  der  Duma  zeigten.  Bisher  war  es  russischen  Volks- 
haufen noch  niemals  gestattet  worden,  für  andere  Zwecke  als  für 
kirchliche  Feiern  oder  loyale  Huldigungen  die  Straßen  stundenlang 
zu  füllen  oder  gar  von  ihrem  Geschrei  widerhallen  zu  lassen;  hiermit 
ist  jetzt  der  Anfang  gemacht,  und  die  Muschiks  haben  sich  überzeugen 
können,  daß  es  in  ihrer  Macht  steht,  die  zahlreiche  und  gefürchtete 
Polizei   in   eine   Lage   völliger  Ohnmacht  zu  versetzen. 

Es  war  wohl  nicht  weise  von  der  russischen  Regierung,  aus  übler 
Laune  gegen  den  Dreibund  Demonstrationen  zu  gestatten  und  sogar 
zu  provozieren,  durch  welche  die  Massen  lernen,  ihr  Schwergewicht 
zur  Geltung  zu  bringen  i;  wenngleich  hiervon  für  den  Augenblick  keine 
üblen  Folgen  zu  erwarten  sind,  so  darf  man  sich  doch  darüber  keiner 
Täuschung  hingeben,  daß  der  Zar  heute  weniger  frei  in  seiner  Ent- 
schließung über  Krieg  und  Frieden  ist,  als  wie  er  es  vor  vierzehn 
Tagen  war  2. 

«4'  211 


Die  Verleihung  des  Andreas-Ordens  an  den  Präsidenten  Carnot 
bezeichnet  die  erste  Stufe,  die  Marseillaise  an  der  Hoftafel  in  Peter- 
hof die  zweite,  die  Entfesselung  der  Volkshaufen  die  dritte  3. 

Je  größer  die  Raserei  der  Massen  war,  um  so  sicherer  konnte 
man  erkennen,  wie  fern  ihnen  alle  Kriegslust  Hegt;  der  frenetische 
Jubel  entsprang  nicht  aus  dem  Wunsche,  gemeinsam  mit  den  fran- 
zösischen Freunden  zum  Kampfe  auszuziehen,  sondern  aus  der  Be- 
freiung von  der  Furcht,  von  den  Deutschen  und  von  den  Bundes- 
genossen des  deutschen  Kaisers  überfallen  zu  werden.  Die  Zeitungen 
und  namentlich  der  von  den  niederen  Klassen  vielgelesene  ,,Swet" 
haben  es  wirklich  dahin  gebracht,  daß  das  russische  Volk  sich  von 
uns  bedroht  glaubt  und  sich  jetzt  durch  die  Freundschaft  mit  den 
Franzosen  sicher  fühlt. 

Die  Gäste  haben  im  ganzen  eine  gute  Haltung  bewahrt;  sie  haben 
sich  weder  durch  die  ihnen  aufgezwungenen  Libationen  noch  durch 
die  fast  erdrückenden  Ovationen  zu  politischen,  hochmütigen  oder  für 
die  Deutschen  verletzenden  Äußerungen  hinreißen  lassen;  in  den  Tisch- 
reden und  in  den  zahlreichen  Antworten,  zu  welchen  Admiral  Gervais 
oder  Offiziere  des  Geschwaders  durch  russische  Ansprachen  genötigt 
wurden,  ist  keine  chauvinistische  oder  gehässige  Anspielung  zu  ent- 
decken. Die  Zudringlichkeiten  des  Petersburger  Pressekomitees  unter 
Führung  des  Herrn  Komarow  vom  „Swet"  wurden  taktvoll  zurück- 
gewiesen. Aber  auch  von  russischer  Seite  sind  trotz  lächerHcher  Über- 
schwenglichkeit und  weinseliger  Zärtlichkeit  keine  groben  Verstöße 
begangen  worden;  die  einzige  Rede,  in  welcher  Hindeutungen  auf 
gemeinsame  Gegner  vorkommen,  war  diejenige,  mit  welcher  der  ehe- 
malige Bürgermeister  von  Kronstadt  Staatsrat  Wolkow  die  Ankommen- 
den in  russischer  Sprache  begrüßte;  der  französische  Admiral,  dem 
sie  verdolmetscht  wurde,  antwortete  höflich,  aber  kurz  und  taktvoll 
abweisend;    Herr   Wolkow    aber   ist   nach    Petersburg   zitiert   worden. 

Buchstäblich  ist  also  der  Befehl  des  Zaren,  daß  die  Freundschaft 
mit  Frankreich  offen,  feierlich  und  demonstrativ  zu  glänzendem  Aus- 
drucke komme  ohne  Beleidigung  oder  Herausforderung  anderer  Mächte, 
befolgt  worden.  Tatsächlich  aber  haben  diese  Demonstrationen  dem 
Volke  gelehrt,  daß  es  politische  Regungen  mit  imposanter  Massen- 
wirkung zum  Ausdruck  bringen  kann. 

Auf  die  inneren  Zustände  Rußlands  dürfte  der  französische  Besuch 
eine  stärkere  Wirkung  ausüben  als  auf  die  internationalen  Beziehun- 
gen, abgesehen  von  dem  unberechenbaren  Effekt  auf  die  Revanche- 
partei*; er  hat  der  Welt  nichts  Neues  gezeigt,  indem  er  vielen  lärmen- 
den Beweisen  gegenseitiger  Zuneigung  einen  neuen,  freilich  den 
lautesten  hinzufügte,  aber  er  hat  der  Volksmasse  und  ihren  Führern, 
welche  zum  Kriege  drängen,  um  das  autokratische  System  zu  stürzen, 
ihre  Macht  erkennen  lassen.  Diesen  Eindruck  werden  die  französi- 
schen Gäste  mit  in  ihre  Heimat  nehmen  und  dort  berichten,  daß  auf 

212 


die  Entschlüsse  des  Zaren  ein  gewaltiger  Druck  ausgeübt  werden 
könnte*. 

Am  3.  August/22.  Juli  abends,  am  Schluß  des  glänzenden  Festes 
in  Peterhof,  verabschiedeten  sich  die  französischen  Marineoffiziere  von 
den  russischen  Majestäten  mit  dem  stürmischen  Rufe:  „Vive  l'Empereur, 
vive  rimperatrice!"  Diese  Szene  wird  mir  vom  dänischen  Gesandten 
als  sehr  gelungen  und  eindrucksvoll  geschildert;  er  fügt  hinzu,  es 
habe  so  ausgesehen,  als  wenn  die  französischen  Herren  noch  auf  ein 
Abschiedswort  des  Zaren  gewartet  hätten;  es  blieb  aber  bei  huldreicher 
Verneigung  der  Majestäten. 

Am  folgenden  Morgen  verließ  die  Eskader  die  Reede  von  Kron- 
stadt, um  in  Björkoe  an  der  finnländischen  Küste  Kohlen  einzunehmen. 
Der  „Regierungsbote"  begleitet  ihre  Abfahrt  mit  nachstehenden  Be- 
trachtungen: 

„Tout  le  monde  sait  qu'au  banquet  donne  au  palais  de  Peterhof 
le  16  juillet  Sa  Majeste  l'Empereur,  levant  son  verre,  a  prononce 
ces  paroles  hautement  significatives: 

,A  la  sante  de  Monsieur  Carnot,  president  de  la  republique,  ä 
la  prosperite  de  la  flotte  frangaise  et  particulierement  ä  l'escadre 
de  l'amiral  Gervais.* 

A  titre  de  commentaire  de  ces  augustes  paroles  les  douze  journees 
du  sejour  fait  chez  nous  par  les  representants  de  la  flotte  frangaise  ont 
ete  une  serie  de  manifestations  sympathiques  sans  exemple  et  d'une 
profonde  portee. 

Si  Jamals  il  fut  donne  ä  quelqu'un  de  cons  tater  de  visu  quelles 
proportions  prend  en  Russie  chaque  parole  de  Tauguste  Souverain 
c'est  bien  aux  marins  de  la  glorieuse  flotte  frangaise  qui  viennent 
de  nous  quitter.  Elle  est  longue  la  liste  des  grandioses  demonstra- 
tions  des  ardentes  et  sinceres  sympathies  que  le  peuple  russe  nourrit 
pour  le  peuple  frangais  et  cependant  aucun  ecart  accidentel,  aucune 
allusion  desagreable  pour  qui  que  ce  soit  n'ont  assombri  ces  douze 
journees  de  festivites  memorables,  ces  manifestations,  dans  le  sens 
des  paroles  du  Monarque,  de  la  puissance  silencieuse,  mais  reelle, 
de  son  peuple  fidele." 

Erst  als  alles  vorbei  war,  sah  ich  Herrn  von  Giers;  er  hatte  sich 
während  des  größten  Teiles  der  zwölftägigen  Saturnalien  ferngehalten  3 
und  nur  dem  Galadiner  beim  Empfang  der  Franzosen  in  Peterhof 
und  den  Festen  des  Namenstages  Ihrer  Majestät  beigewohnt;  in  der 
Zwischenzeit  ist  er  in  Finnland  gewesen. 

Der  Minister  war  sehr  unwohl;  nach  den  Anstrengungen,  welche 
ihm  der  Empfang  des  Königs  von  Serbien  und  das  Namensfest  der 
Kaiserin  auferlegten,  war  er  von  einem  akuten  Blasenleiden  befallen 
worden,  welches  eine  schleunige  Operation  nötig  machte;  er  hatte 
kaum   das   Bett  verlassen,   als   er  mich   empfing  und  nicht  ohne  Er- 

213 


mattung,  aber  mit  großer  Offenheit  über  das  Nächstliegende,  nämlich 
den   französischen   Besuch,   sprach: 

„Sie  können  sich  kaum  vorstellen,''  sagte  Herr  von  Qiers,  „in 
welcher  Weise  man  auf  mich  einstürmte,  als  die  Nachricht  von  der 
Verlängerung  des  Dreibundes  unter  Umständen  ^  verkündet  wurde, 
welche  Beunruhigung,  ja  sogar  Befürchtungen  zu  erregen  geeignet 
waren;  im  Publikum,  und  nicht  nur  in  demjenigen,  welches  sich  sein 
Urteil  durch  die  Zeitung  diktieren  läßt,  sondern  auch  in  staatsmänni- 
schen Kreisen*  glaubte  man,  daß  die  Tripelallianz  aus  einer  defensiven 
zu  einer  offensiven  sich  umgestaltet  habe;  ernste  Männer  wendeten 
sich  an  mich  mit  der  Frage:  ,Sind  wir  wirklich  bedroht?',  in  Briefen 
aus  dem  Innern  des  Reiches,  auch  in  anonymen  Zuschriften  wurde 
mir  dieselbe  Besorgnis  ausgesprochen.  Mein  hoher  Gebieter  blieb 
dabei  ziemlich  ruhig;  es  war  ihm  wohl  unangenehm,  daß  die  Sache 
soviel  Aufsehen  machte  und  so  scharf  gegen  uns  zugespitzt  wurde  *5, 
aber  diese  Stimmung  dauerte  nicht  lange,  und  die  Berichte  unserer 
Botschafter  trugen  viel  dazu  bei,  die  Beunruhigung  zu  mildern;  Graf 
Schuwalow  und  Fürst  Lobanow  stellten  bald  die  Tatsachen  in  das 
richtige  Licht." 

In  den  Äußerungen  des  Herrn  Ministers  finde  ich  die  Bestätigung 
derjenigen  Eindrücke,  welche  ich  vor  meiner  Unterredung  mit  Seiner 
Exzellenz  im  Verkehr  mit  Leuten  aus  allen  Schichten  der  Petersburger 
Bevölkerung  empfangen  hatte:  man  fühlte  sich  hier  nicht  nur  isoUert, 
sondern  bedroht,  und  man  erkannte  als  notwendig,  den  sensationellen 
Erscheinungen"^,  unter  welchen  die  Erneuerung  des  Dreibundes  zutage 
trat,    eine   sensationelle   Manifestation   gegenüberzustellen. 

Im  ferneren  Verlaufe  unseres  Gespräches  erzählte  mir  Herr 
von  Giers  einiges  aus  den  beiden  Unterhaltungen,  welche  er  mit 
dem  Konteradmiral  Gervais  an  der  kaiserlichen  Tafel  gehabt  hat. 
Der  französische  Seemann  hat  von  vornherein  versichert,  daß  seine 
Aufgabe  keine  politische  sei,  sondern  darin  bestehe,  die  Sympathien 
Frankreichs  für  Rußland  und  dessen  Herrscher  zum  Ausdruck  zu 
bringen;  späterhin  hat  er  seine  Freude  über  den  glücklichen  Erfolg 
und  seinen  Dank  für  die  ihm  zuteil  gewordene  Aufnahme  ausge- 
sprochen, und  Herr  von  Giers  hat  dem  Admiral  zugestimmt,  als 
dieser  sagte  ,,qu'il  est  bon  de  montrer  qu'on  a  des  amis". 

Zum  Schlüsse  beehre  ich  mich,  zur  Vervollständigung  der  früheren 
Berichte  einige  Zeitungsausschnitte  beizufügen,  in  welchen  die  letzten 

*  Es  scheint,  daß  zu  diesen  „staatsmännischen  Kreisen"  Minister  von  Giers  selbst 
gehörte;  jedenfalls  ist  er  seinerseits  im  Hinblick  auf  die  Erneuerung  des  Drei- 
bundes in  der  zweiten  Hälfte  Juli,  nahezu  gleichzeitig  mit  der  Ankunft  des  fran- 
zösischen Geschwaders  in  Kronstadt,  an  den  französischen  Botschafter  de  Laboulaye 
mit  Eröffnungen  herangetreten,  die  die  Verstärkung  des  französisch-russischen  Ein- 
vernehmens bezweckten.  Eben  damals  (23.  Juli)  wurde  von  Ribot  der  erste  Ent- 
wurf zu  einem  französisch-russischen  Abkommen  nach  Petersburg  gesandt.  Siehe 
das  französische  Gelbbuch   L'Alliance   Franco-Russe   (191S),   Nr.  4  ff. 

214 


Festlichkeiten  geschildert  werden,  die  man  für  die  vergötterten  Gäste 
veranstaltet  hat,  sowie  das  etwas  theatralische  Benehmen  der  letzteren, 
besonders   bei   ihrem    Besuche   im    Alexander-Newski-Kloster. 

V.  Seh  wein  itz 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Stimmt     2  richtig     ^  gut     *  ja     s  Umstände  So?!  welche?     e  ??!      ^  welche? 

Nr.  1505 

Der  Gesandte  in  Bukarest  Bernhard  von  Bülow,  z.  Z.  in  Sinaia, 

an  den  Reichskanzler  von  Caprivi* 

Ausfertigung 

Nr.  QO  Sinaia,  den  4.  August  1891 

Ganz  vertraulich 

pp.  Auf  die  allgemeine  Lage  der  Dinge  in  Europa  übergehend, 
bemerkte  Graf  Kälnoky,  daß  die  Erneuerung  der  Dreibundsverträge 
für  seinen  Geschmack  etwas  zu  sehr  „mit  Pauken  und  Trompeten" 
Europa  angekündigt  worden  sei.  Es  wäre  dies  aber  nicht  anders 
möglich  gewesen,  da  Herr  von  Rudini  es  im  Interesse  der  Befestigung 
seiner  vielfach  angegriffenen  Stellung  gewünscht  habe**.  Die  Nach- 
richt von  der  Fortdauer  des  Dreibunds  habe  die  Franzosen  in  hohem 
Grade  irritiert.  „Irritiert,  nicht  decouragiert,"  wiederholte  der  Mini- 
ster, „die  Franzosen  fühlen  sich  militärisch  jetzt  zu  stark,  als  daß  sie 
sich  decouragieren  ließen  i."  Sogar  der  sonst  maßvolle  französische 
Botschafter  in  Wien,  Herr  Decrais  habe  nach  dem  Bekanntwerden 
der  Aufrechterhaltung  der  Tripelallianz  über  die  „Isolierung"  Frank- 
reichs geklagt  und  gereizt  ausgerufen:  „Ainsi,  nous  restons  seuls  et 
tout  le  monde  nous  tourne  le  dos,  excepte  la  Russie^."  Der  Ärger 
der  Franzosen  und  Russen  über  das  Fehlschlagen  ihrer  Hoffnungen 
hinsichtlich  Italiens  ^  mache  sich  jetzt  in  Kronstadt  Luft.  Vielleicht  sei 
dies  kein  Unglück,  sondern  werde  eher  als  Derivatif  wirken.  Jeden- 
falls würden  die  Kronstädter  Vorgänge  die  europäische  Situation  nicht 
wesentlich  verändern.  In  Kronstadt  sei  ein  Feuerwerk  abgebrannt 
worden,  nach  dessen  Verpuffen  die  Gegend  die  gleiche  bleibe  wie 
zuvor.  Man  könne  aber  darauf  neugierig  sein,  welche  Rückwirkung 
auf  die  inneren  Verhältnisse  Rußlands  das  Abspielen  der  „Marseillaise" 
ausüben  werde.  Vielleicht  sei  das  ein  für  die  innere  Geschichte  Ruß- 
lands ebenso  bedeutsames  Ereignis  wie  seinerzeit  die  Freisprechung 
der  Vera  Sassulitsch.  Auf  ein  förmliches  Bündnis  mit  Frankreich  werde 

*  Den  hier  übergangenen  Teil  des  Bülowschen  Berichts  über  Unterredungen,  die 
er  auf  der  Durchreise  in  Wien  am  1.  August  mit  Graf  Kalnoky  gehabt  hatte,  siehe 
in  Kap.  XLVI,  Nr.  1471,  und  in  Bd.  IX,  Kap.  LV,  Nr.  2112. 

**  Vgl.  Kap.  XLV,  Nr.  1429.  Deutscherseits  hat  man  mit  Grund  in  Abrede  ge- 
stellt, einen  besonderen  Eklat  bei  der  Erneuerung  des  Dreibundes  angewandt  zu 
haben.    Kap.  XLIX,  Nr.  1621   und  1622. 

215 


sich  Kaiser  Alexander  auch  jetzt  nicht  einlassen,  wenigstens  nicht  auf 
ein  Offensivbündnis.  Eine  sehr  intime  Entente  habe  ja  auch  schon 
vor  Kronstadt  zwischen  Russen  und  Franzosen  bestanden.  Beide 
Mächte  seien  so  fest  gewillt,  Hand  in  Hand  zu  gehen,  daß  gegenüber 
diesem  Entschlüsse  sogar  der  an  und  für  sich  eigentlich  unüberbrück- 
bare Gegensatz  zwischen  Frankreich,  der  fille  aimee  de  l'Eglise,  und 
dem  schismatischen  Rußland  in  den  Hintergrund  trete.  Rußland  sei 
sogar  großmütig  —  oder  klug  —  genug,  Frankreich  gewisse  Rück- 
sichten gegenüber  seiner  clientele  cathoHque  im  Orient  zu  erlauben, 
schon  damit  diese  Klientel  nicht  das  österreichische  Protektorat  auf- 
sucht. Übrigens  stehe  jetzt  Rußland  eine  Hungersnot  bevor,  die  nach 
der  Ansicht  des  Grafen  Wolkenstein  kalmierend  auf  die  dortigen  Ultras 
einwirken  werde.  Ich  verschwieg  dem  Grafen  Kälnoky  nicht,  daß 
nach  meiner  Kenntnis  russischer  Zustände  weder  Hungers-  noch  Finanz- 
not eine  russische  Regierung  vom  Vorgehen  abhalten  würden,  sofern 
dieselbe  ein  solches  aus  anderen  Gründen  für  indiziert  erachten  sollte; 
es  möchte  sich  auch  angesichts  wirtschaftlicher  Kalamitäten  in  Ruß- 
land für  Österreich-Ungarn  empfehlen,  militärisch  möglichst  stark  zu 
bleiben  und  immer  mehr  zu  werden.  Graf  Kälnoky  stimmte  dieser 
Auffassung  bei,  indem  er  hierbei  bemerkte,  daß  es  freilich  geboten  sei, 
sein  Pulver  trocken  zu  halten.  Wenn  der  Krieg  zurzeit  nicht  wahr- 
scheinlich sei,  so  wäre  andrerseits  die  Fortdauer  der  gegenwärtigen 
Spaltung  Europas  in  zwei  feindliche  Lager  auch  ziemlich  gewiß  und 
lasse  unliebsamen  Eventualitäten  die  Türe  offen.  Auch  Fürst  Lobanow 
glaube,  daß  der  gegenwärtige  Zustand  der  Dinge  in  Europa  und  spe- 
ziell der  Antagonismus  zwischen  Rußland-Frankreich  auf  der  einen 
und  dem  Dreibund  auf  der  anderen  Seite  noch  lange  anhalten 
werde*,  pp.  B.  von  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Richtig 
'^  oui 
^  gut 

*  Der  Europäische  Friede  ist  wie  ein  Herzleidender.    Er  kann  lange,  sehr  lange 
leben.    Aber  er  kann  plötzlich  auf  das  Unerwartetste  todt  sein. 

Nr.  1506 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marscliall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats   Raschdau 

Nr.  287  Berlin,  den  19.  August  18Q1 

Ew.  pp.   tun    in    dem    Bericht   Nr.  248*    der  „sensationellen    Er- 
scheinungen" Erwähnung,  unter  denen  die  Erneuerung  des  Dreibundes 

•  Siehe  Nr.  1504. 
216 


zutage  getreten  sei.  In  ähnlicher  Weise  äußerte  sich  Herr  von  Giers 
zu  Ew.  pp.  Es  wird  mir  von  Interesse  sein  zu  erfahren,  welche  spe- 
ziellen Erscheinungen  Ew.  pp.  und  Herr  von  Giers  dabei  im  Auge 
hatten.  Marschall 

Nr.  1507 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  272  St.  Petersburg,  den  22.  August  1891 

Antwort   auf   Erlaß    Nr.  287   vom    19.  d.  Mts. 

Wenn  Herr  von  Giers  und  Leute  aus  verschiedenen  gesellschaft- 
lichen Kreisen  von  sensationellen  Erscheinungen  sprachen,  unter  denen 
der  erneuerte  Dreibund  zutage  trat,  so  meinten  sie  damit  die  Be- 
suche, welche  der  Kaiser  von  Österreich-Ungarn  und  der  König  von 
Italien  dem  englisrhen  Geschwader  in  Fiume*,  beziehungsweise  in 
Venedig**  machten,  und  vor  allem  die  großartige  Huldigung,  welche 
die  britische  Nation  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  König  dar- 
brachte *'''*. 

An  den  Dreibund  hatten  sich  die  Russen  allmählich,  wenn  auch 
mürrisch  gewöhnt;  nach  Crispis  Sturz  glaubten  sie,  ihn  zerfallen  zu 
sehen;  als  er  dennoch  erneuert  wurde,  waren  sie  verstimmt;  als  aber 
die  englische  Regierung  sich  anzuschließen  schien,  und  das  englische 
Volk  seine  Befriedigung  demonstrativ  zu  erkennen  gabf,  da  waren 
sie  bestürzt  und  fühlten  sich  bedroht.  Schweinitz 

Nr.  1508 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  252  St.  Petersburg,  den  8.  August  1891 

Obwohl  die  Nachricht  der  „Times",  betreffend  den  Abschluß  eines 
Vertrages   zwischen   dem    Konteradmiral   Gervais   und   den   russischen 

*  23.  Juni. 
**  6.-8.  Juli. 

***  Vgl.  Bd.  VIII,  Kap.  LH,  Nr.  1726,  Fußnote  **. 

•f  Auch  in  dem  französisch-russischen  Schriftwechsel  über  die  Anfänge  des  Zwei- 
bundes ist  immer  wieder  die  Rede  von  den  „circonstances  qui  ont  caracterise  le 
renouvellement  de  la  Triple  AUiance"  als  der  causa  movens  für  den  französisch- 
russischen Akkord.  Unter  diesen  „circonstances"  steht  an  erster  Stelle  „l'adhesion 
plus  ou  moins  probable  de  la  Grande-Bretagne  aux  visees  politiques  que  cette 
alliance  poursuit."  Troisieme  Livre  jaune  Fran^ais.  L'AlIiance  Franco-Russe  (1918), 
Nr.  4,  5,  10,  17,  18. 

217 


Ministern  des  Äußern,  des  Krieges  und  der  Marine,  nicht  ernst  ge- 
nommen zu  werden  verdient,  so  will  ich  doch  nicht  unterlassen,  sie 
ausdrücklich   als   unbegründet   zu   bezeichnen. 

Es  ist  allerdings  als  gewiß  anzunehmen,  daß  eine  Verständigung 
über  strategisches  und  nautisches  Zusammenwirken  zwischen  den 
beiderseitigen  Autoritäten  in  der  Kriegs-  und  Marineverwaltung  längst 
getroffen  ist,  und  daß  General  Obrutschew,  der  sich  auch  in  diesem 
Sommer  in  Frankreich  aufhält,  und  zwar  noch  länger  als  gewöhnlich, 
mit  den  Generalen  Miribel*  und  Boisdeffre**  in  stetiger  und  enger 
Verbindung   steht. 

Daß  aber  Admiral  Gervais  mit  Herrn  von  Giers,  General  Wan- 
nowski  und  Admiral  Tschichatschew  Konferenzen  gehabt  habe,  ist 
nicht  richtig,  wie  sich  aus  räumUchen  und  zeitHchen  Angaben  nach- 
weisen ließe. 

Sowohl  Herr  von  Giers  als  auch  Herr  de  Laboulaye  sprachen 
mit  mir  über  die  „Times^-Nachricht;  beide  konnten  sich  dabei  sarkasti- 
scher Anspielungen  auf  die  Art,  wie  die  Zeit  des  französischen  Admirals 
hier  durch  Ovationen  ausgefüllt  wurde,   kaum   enthalten. 

V.  Schweinitz 

Nr.  1509 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  1Q6  Paris,  den  20.  August  1891 

Die  Freude  der  Franzosen  über  die  Besiegelung  der  russischen 
Freundschaft  hat  die  Hitzköpfe  zu  einem  derartigen  Übermaß  von 
Kundgebungen  der  Russenverehrung  verführt,  daß  sie  damit  auf  dem 
besten  Wege  waren,  die  Errungenschaften,  die  sie  feierten,  aufs  Spiel 
zu  setzen.  Sie  waren  nahe  daran,  eine  ernste  Sache  zum  Mißfallen 
der  neuen  Freunde  mit  dem  Fluch  des  Lächerlichen  zu  beladen  i,  und 
noch  näher  daran,  der  Verbindung  der  Republik  mit  der  Autokratie 
eine  Bedeutung  unterzuschieben,  welche  mit  den  beiderseitigen  Ver- 
sicherungen friedfertiger  Absichten  unvereinbar  scheint. 

Die  französische  Regierung  hat  diese  Gefahren  schon  voraus- 
gesehen, als  in  Kronstadt,  St.  Petersburg  und  Moskau  die  Wogen 
der  Begeisterung  höher  gingen,  als  man  erwartet  hatte  und  es  an 
höchster  russischer  Stelle  genehm  sein  mochte,  und  sie  hat  sich  be- 
eilt, in  der  ihr  nahestehenden  Presse  dringend  zu  mahnen,  bei  er- 
widernden russophilen  Kundgebungen  Maß  und  Ziel  zu  halten.  Zu- 
gleich hat  sie   Anordnungen   getroffen,   daß   Demonstrationen,  welche 

*  Chef  des  Generalstabes  der  französischen  Armee. 
**  Souschef  des  Generalstabes. 

218 


t 


einen  feindseligen  Anstrich  gegenüber  anderen  Nationen  haben  sollten, 
nach  Kräften  vorgebeugt  und  entgegengetreten  werde,  eine  Vorsorge, 
welche  nicht  nutzlos  war,  wie  unter  anderm  das  Gebaren  einer  Pa- 
triotenschar beweist,  welche,  nachdem  sie  vor  der  Wohnung  des  Groß- 
fürsten Alexis  demonstriert  und  in  dem  benachbarten  Tuileriengarten 
die  russische  Hymne  verlangt  und  stürmisch  bejubelt  hatte,  diesen 
Huldigungen  einen  Kommentar  durch  Kundgebungen  vor  dem  Straß- 
burgstandbild geben  wollte,  wie  ferner  der  Verlauf  einer  von  ehe- 
maligen Boulangisten  arrangierten  Volksversammlung  zeigt,  wo  un- 
aufhörlich die  russische  Hymne,  die  Marseillaise  und  die  Rufe  „Vive 
la    France,    vive    la    Russie,    vive   I'Alsace-Lorraine"    ertönten. 

Den  offiziösen  Warnungen  hat  sich  allmählich  der  größere  Teil 
der  unabhängigen  Presse  anzuschließen  für  angezeigt  gehalten.  Nament- 
lich dann,  als  die  dem  Großfürsten  Alexis  in  Paris  und  Vichy  dar- 
gebrachten Huldigungen  zu  einer  unerträglichen  Belästigung  des  hohen 
Herrn  ausarteten,  und  als  ein  von  der  russischen  Botschaft  ausgehen- 
der Wink  sagte,  daß  übertriebene  Verherrlichungen,  wie  nicht  minder 
chauvinistische  Auslegungen  der  russisch-französischen  Verbindung 
durchaus  nicht  dem  Sinne  derselben  entsprächen  2  und  in  St.  Peters- 
burg gewiß  mißfällig  bemerkt  werden  dürften,  haben  dieselben  Zei- 
tungen, welche  noch  kurz  vorher  selbst  vom  Taumel  ergriffen  waren, 
nicht  ernst  genug  zur  Bewahrung  der  Ruhe,  des  Taktes,  der  Würde 
auffordern  können. 

Die  Presse  hat  denn  auch  eine  gewisse  Mäßigung  der  Freuden- 
ausbrüche erreicht,  weniger  vielleicht  mit  schulmeisterlichen  Ermahnun- 
gen als  mit  gelegentlicher  satirischer  Geißelung  der  zur  Karikatur 
verzerrten  Russophilie.  Immerhin  ist  die  Erregung  der  Gemüter  noch 
nicht  geschwunden,  und  wenn  auch  in  Paris  der  Begeisterungsrausch 
einer  ruhigeren  und  tieferen  Betrachtung  gewichen  ist,  so  scheint 
die  Bevölkerung  der  Provinz  noch  immer  das  unbefriedigte  Bedürfnis 
zu  haben,  in  lärmenden  und  stillen  Kundgebungen  der  mannigfachsten 
Art  ihren  Gefühlen  der  Freude  und  des  Dankes  Ausdruck  zu  geben. 

Wenn  es  bei  allen  diesen  Demonstrationen  nicht  in  häufigeren 
Fällen  und  größerem  Umfange  wie  oben  erwähnt  zur  Offenbarung 
feindseliger  Gedanken  in  bezug  auf  Deutschland,  nicht  zu  bedenk- 
licherem Auflodern  des  Revanchefeuers  gekommen  ist,  so  mag  dies 
weniger  der  mahnenden  Vorsicht  von  Regierung  und  Presse  als  der 
in  die  Massen  eingedrungenen  Ahnung  zu  danken  sein,  daß  es  immer- 
hin fraglich  erscheint,  ob  das,  was  in  Kronstadt  und  St.  Petersburg 
sich  vollzogen,  dahin  zu  deuten  sei,  daß  Frankreich  in  allem  und 
jedem  Falle  auf  genügende  russische  Hülfe  zu  rechnen  habe.  Es 
scheint  das  dunkle  Gefühl  zu  bestehen  3,  daß  trotz  aller  freundschaft- 
lichen Gesinnung  das  kaiserliche  Wort  nicht  zu  bestimmten  Zielen 
oder  wenigstens  nicht  zur  Unterstützung  französischer  aggressiver  Ab- 
sichten  verpfändet   sei.    Zv/ar  hat   man   sich   bereits   daran   gewöhnt, 

219 


schlechtweg  von  einem  russisch-französischen  „Bündnis"  zu  sprechen, 
und  nahezu  die  gesamte  Presse  und  in  derselben  namhafte  Politiker 
bedienen  sich  geläufig  dieses  Ausdruckes  in  dem  Tone,  als  ob  sie 
von  einer  offenbaren  Tatsache  redeten.  Aber  keine  einzige  Zeitung 
hat  bisher  die  so  naheliegende  Frage  zu  lösen  vermocht  oder  auch 
nur  zu  lösen  versucht,  ob  und  wieweit  die  gegenseitigen  Verbindlich- 
keiten festgelegt  sind.  Die  Presse  hat  allerdings  guten  Grund,  der 
Erörterung  dieser  Frage  aus  dem  Wege  zu  gehen,  müßte  sie  doch 
andernfalls  zur  Erkenntnis  gelangen,  daß  es  der  Politik  Rußlands  nach 
wie  vor  nicht  entspricht,  sich  die  Hände  zu  binden,  und  daß  es  dem 
Kaiser  nach  wie  vor  widerstrebt,  eine  Verbindung  einzugehen,  welche 
ihn  in  die  Lage  bringen  kann,  einem  Staate  von  so  rev'olutionärer 
Vergangenheit  und  Tendenz  wie  Frankreich  Dank  zu  schulden*.  Die 
französische  Presse  geht  daher  entweder  vorsichtig  schweigend  oder 
mit  der  anmaßenden  und  bedenklichen  Versicherung  über  diese  Schwie- 
rigkeiten hinweg,  daß  eine  auf  so  tiefen  Sympathien  der  beiden  Völker 
gegründete  Verbindung  keiner  diplomatischen  Ratifizierung  bedürfe*. 
Ist  auch  zu  befürchten,  daß  die  Presse  mit  derartigen  gewagten  Aus- 
legungen sich  selbst  und  die  Nation  in  die  Hoffnung  wiegt,  daß  im 
kritischen  Moment  die  elementare  Gewalt  des  Volkswillens  der  einzig 
ausschlaggebende  Faktor  sein  werde,  so  scheinen  doch  vorerst  noch 
die  Geister  vor  dem  Gedanken,  die  russische  Hülfsbereitschaft  durch 
eine  Herausforderung  Deutschlands  auf  die  Probe  zu  stellen,  zurück- 
zuscheuen.  Denn  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  französische  Nation 
im  großen  und  ganzen  friedensbedürftiger  und  friedliebender  ist  und 
weniger  die  Gedanken  unablässig  auf  die  Wiedergewinnung  Elsaß- 
Lothringens  gerichtet  hat,  als  der  Lärm  berufsmäßiger  Patrioten  und 
die  üblen  Gewohnheiten  der  Presse  es  glauben  machen.  Vor  allem 
aber  will  sie,  soll  es  einmal  zur  Entzündung  eines  furchtbaren  Krieges 
kommen,  nicht  als  diejenige  erscheinen,  welche  die  Fackel  in  den  Brenn- 
stoff geschleudert  hat,  und  selbst  von  denen,  welche  stets  sich  in 
Deklamationen  über  zu  sühnendes  Unrecht  ergehen,  sind  nicht  wenige, 
welche  eine  Lösung  der  elsaß-lothringischen  Frage  auf  friedlichem 
Wege  in   den   Bereich  der  Möglichkeit  ziehen. 


*  Der  Optimismus  der  deutschen  Botschaft  in  Paris,  der  auch  in  den  Berichten 
des  Grafen  Münster  wiederholt  anklingt,  war  keineswegs  gerechtfertigt.  Nahezu 
gleichzeitig  mit  Schoens  Bericht  vom  20.  August  ging  jener  Austausch  von 
Schreiben  zwischen  Giers  und  Ribot  (vom  21.  bzw.  27.  August)  vor  sich,  der 
nach  dem  Bericht  des  Grafen  de  Montebello  vom  16.  Juli  1892  einem  Bündnis 
gleichkam.  Französisches  Gelbbuch.  L'Alliance  Franco-Russe,  Nr.  17,  .\nnexe, 
Nr.  18,  Nr.  42.  Die  charakteristischen  Worte  Graf  Montebellos  lauten:  „En  resume, 
les  lettres  echangees  au  mois  d'aoüt  dernier  constituent  un  engagement  tellement 
formel  qu'il  equivaut  ä  un  traite.  C'est  ainsi  que  les  Russes  l'envisagent.  L'em- 
pereur,  en  prenant  cet  engagement,  en  a  compris  toute  la  portee.  Si  la  guerre 
eclatait  demain,  il  se  considererait  comme  engage  ä  unir  ses  forces  aux  notres 
en  vue  d'une  action  commune." 

220 


Aus  der  Besorgnis,  die  russisch-französische  Verbindung  auf  eine 
zu  scharfe  oder  eine  vorzeitige  Probe  zu  stellen,  dürfte  es  sich  auch 
erklären,  daß  die  Presse  —  mit  verschwindenden  Ausnahmen  —  bei 
den  Erörterungen  der  russisch-französischen  Freundschaft  es  geradezu 
ängstlich  vermieden  hat,  die  sonst  so  geläufige  elsaß-lothringische 
Frage  hereinzuziehen^.  Mag  auch  in  vielen,  wenn  nicht  in  den  meisten 
Seelen  durch  die  Kronstädter  Ereignisse  der  Wunsch  nach  Auswetzung 
der  Scharte  von  1870—71  in  einer  oder  der  anderen  Art  neu  belebt 
worden  und  die  Hoffnung  auf  Erfüllung  dieses  Wunsches  das  Grund- 
gefühl der  jetzigen  freudigen  Erregung  sein,  so  ist  doch  das,  was  in 
den  publizistischen  Lobpreisungen  der  russischen  Freundschaft  und 
in  den  mannigfachen  russophilen  Kundgebungen  des  Volkes  offen  zum 
Ausdruck  kommt,  zunächst  weniger  ungestümes  Drängen  nach  kriegeri- 
schen Lorbeern,  Revanche  und  Eroberungen  als  vielmehr  die  freudige 
Genugtuung,  nach  jahrzehntelanger  Erniedrigung  und  politischer  Isolie- 
rung dank  der  Gunst  eines  mächtigen  Freundes  und  der  eigenen 
Kraft  die  Stellung  einer  allseitig  geachteten,  vielseitig  gefürchteten 
Macht  wiedererlangt,  die  Fähigkeit  gewonnen  zu  haben,  den  Frieden, 
den  man  bisher  grollend  geduldet,  nunmehr  stolz  zu  gewähren  <5.  Je 
mehr  und  je  tiefer  die  Presse  sich  mit  der  Bedeutung  der  russisch- 
französischen Verbindung  beschäftigt,  desto  mehr  tritt  dieses  Gefühl 
stolzer  Genugtuung,  der  Befreiung  von  einem  Alp,  der  Sicherheit 
gegen  jede  Gefahr  als  leitender  Gedanke  zutage,  und  es  tut  demselben 
im  ganzen  keinen  Eintrag,  wenn  einzelne  ihrer  Phantasie  etwas  freien 
Flug  lassen  und  Frankreich  bereits  als  den  Magnet  sehen,  welcher 
wie  ehedem  die  zivilisierte  Welt  anzieht  und  den  Mittelpunkt  einer 
neuen  Staatengruppierung  bildet,  gegenüber  welcher  der  Dreibund 
zur  Ohnmacht  verurteilt  ist. 

Der  gleiche  Ton  stolzen,  aber  nicht  herausfordernden  Selbst- 
bewußtseins'^ klingt  auch  aus  den  Äußerungen  hervor,  mit  welchen 
in  den  jüngsten  Tagen  namhafte  Staatsmänner  wie  Meline,  Ferry,  die 
Minister  Barbey*  und  Rouvier  und  viele  andere  Politiker  und  höhere 
Beamte  aus  verschiedenen  Anlässen,  meist  gelegentlich  der  Eröffnung 
der  Sitzungen  der  Generalräte,  an  die  Öffentlichkeit  getreten  sind. 

Freilich  dürfte  es  zu  weit  gegangen  sein,  aus  allen  diesen  An- 
zeichen und  Beteuerungen  friedfertigen  Selbstgefühls  den  Schluß  zu 
ziehen,  daß  Frankreich  nun  der  neuen  Errungenschaften  in  beschau- 
licher Ruhe  sich  freuen  und  genügen  werde,  daß  eine  Störung  des 
Friedens  von  ihm  nicht  zu  fürchten  sei.  Es  bleibt  immer  möglich, 
wenn  nicht  wahrscheinlich,  daß  der  Ehrgeiz  der  Nation  oder  auch 
nur  einzelner  der  Versuchung  nicht  widerstehen  wird,  an  einer  weiteren 
Verschiebung  des  Bestehenden  zugunsten  Frankreichs  zu  arbeiten,  eine 
Versuchung,    welcher   gerade    das    Dunkel,    das    über   dem    Maß    der 


Der  Marineminister. 

221 


russisch-französischen  Verbindlichkeiten  schwebt,  mehr  Vorschub  leisten 
dürfte  als  ein  offenkundiges  Bündnis,  in  welchem  der  beiderseitige 
Tatendrang  durch  scharf  gezogene  Grenzen  eingedämmt  wird.  So- 
dann aber  —  und  hier  liegt  die  größere  Gefahr  —  bleibt  nach  der 
nunmehrigen  Stärkung  des  französischen  Machtgefühls  mehr  wie  je^ 
mit  unberechenbaren  Ausbrüchen  des  Chauvinismus  zu  rechnen,  der 
jetzt  sich  einigermaßen  beherrscht,  durch  an  sich  geringfügige  Vor- 
gänge aber,  welche  den  französischen  Stolz  verletzen,  plötzlich  unheil- 
voll entfacht  werden  kann.  Klingt  doch  schon  in  diesen  Tagen,  wenn 
auch  gedämpft,  ein  Ton  aus  der  Presse,  welcher  zu  sagen  scheint, 
daß  man  Kränkungen  nicht  mehr  geduldig  hinnehmen  werde. 

Daß  die  französische  Regierung  ihrerseits  zurzeit  den  guten 
und  festen  Willen  hat,  verhängnisvolle  Aufwallungen  des  chauvinisti- 
schen Geistes  zu  hindern  und  zu  meistern,  ist  wohl  nicht  zweifelhaft. 
Fraglich  aber  ist  es,  ob  und  wie  lange  das  Maß  ihres  Könnens  dem- 
jenigen des  WoUens  entspricht  9,  und  fraglich  ferner,  ob  der  gute  Wille 
in  gewissen  Momenten  und  unter  gewissen  Bedingungen,  eigener 
oder  fremder  Eingebung  folgend,  nicht  gleichfalls  erlahmt. 

Nicht  minder  bedeutsam  ist  die  Steigerung  des  französischen 
Machtgefühls,  welches  durch  die  Rückwirkung  der  äußeren  Erfolge 
der  Republik  auf  die  Gestaltung  der  Dinge  im  Innern  erzeugt  wird. 

Mehr  wie  irgendein  anderes  Ereignis  ist  die  ausdrückliche  und 
feierliche  Anerkennung  der  französischen  Republik  als  bündnisfähige 
Macht  seitens  des  Beherrschers  des  autokratischsten  europäischen 
Staates  geeignet,  die  Erstarkung  der  Republik  im  Innern  zu  vollenden, 
den  Widerstand  der  Feinde  des  gegenwärtigen  Regimes  endgültig  zu 
brechen.  War  doch  von  jeher  eines  der  Hauptargumente,  mit  welchem 
die  Monarchisten  die  republikanische  Staatsform  bekämpften,  der  Vor- 
wurf, daß  sie  die  Verbündung  mit  einem  autokratischen  Staate  un- 
möglich mache.  Stets  wurde  der  Abschluß  eines  russisch-französischen 
Bündnisses  als  eine  Rettung  Frankreichs  aus  unerträglicher  Lage  hin- 
gestellt, welche  nur  von  einem  monarchischen  Regime  zu  erwarten  sei. 
Angesichts  der  Kronstädter  Vorgänge,  in  Verbindung  mit  der  An- 
näherung des  Vatikans  an  die  Republik  müssen  nun  die  Monarchisten 
gestehen,  daß  diese  durch  weise  Politik  es  verstanden  hat,  sich  auch 
bei  den  grundsätzlichsten  Feinden  ihrer  Form  und  ihres  Wesens  Ver- 
trauen, Achtung  und  Freundschaft  zu  erwerben,  und  sie  sind  patriotisch 
oder  klug  genug,  die  Republik  zu  diesen  Errungenschaften  warm  zu 
beglückwünschen.  Bereits  hat  der  „Soleil",  das  Organ  der  Orleanisten, 
den  Beginn  mit  der  Anerkennung  und  Lobpreisung  der  Republik  und 
ihrer  jetzigen  Leiter  gemacht,  ohne  bei  anderen  monarchistischen 
Blättern  beachtenswerten  Widerspruch  zu  finden.  Auch  aus  dem 
bonapartistischen  Lager  hat  der  sonst  so  streitbare  Cuneo  d'Ornano 
friedliche  Gesinnungen  erkennen  lassen. 

Mögen  diese  anerkennenden  Kundgebungen  von  monarchistischer 

222 


Seite  aufrichtig  sein  oder  etwa  auf  dem  Gedanken  basieren,  daß  die 
Verwickelungen,  welche  die  russisch-französische  Verbindung  herauf- 
beschwören kann,  schließlich  der  republikanischen  Staatsform  verhängnis- 
voll werden  dürften,  so  sind  doch  die  Repubhkaner  berechtigt,  in  denselben 
eine  Waffenstreckung  der  Monarchisten  zu  erkennen,  welche,  nachdem 
die  Kirche  sie  bereits  verlassen,  zurzeit  jeder  äußeren  Stütze  entbehren, 
an  welcher  sie  sich  aus  ihrer  Ohnmacht  emporrichten  könnten.  Wie  weit 
und  unter  welchen  Bedingungen  die  Monarchisten  nun  in  das  republi- 
kanische Lager  übergehen,  muß  die  parlamentarische  Zukunft  lehren. 
Schon  jetzt  aber  machen  sich  einzelne  Desertionen  und  bei  manchen 
der  in  diesen  Tagen  zusammengetretenen  Generalräte  eine  Verschiebung 
von  rechts  nach  links  bemerkbar.  An  den  Republikanern  wird  es  mehr 
wie  je  sein,  den  geschlagenen  Feinden  annehmbare  Friedensbedingun- 
gen zu  stellen  und  sie  wenn  auch  nicht  zu  aufrichtigen,  so  doch  zu 
nützlichen  Freunden  zu  machen.  Herr  Constans  hat  bereits  vor  den 
jüngsten  monarchistischen  Friedenserklärungen  den  Ton  angegeben, 
indem  er  in  einer  gelegentlichen  Rede  erklärte,  daß  die  Republik 
jedem  guten  Willen  versöhnlich  die  Arme  öffne. 

Noch  eine  weitere  Folge  dürfte  die  russisch-französische  Ver- 
bindung haben,  das  ist  die  Stärkung  der  jetzigen  Regierung  und  der 
ministeriellen  Stabilität  überhaupt.  Die  Nation  und  das  Parlament 
werden  es  der  Regierung,  welche  es  verstanden  hat,  das  Vertrauen 
des  Zaren  und  des  Papstes  zu  gewinnen,  dem  Lande  den  Innern 
Frieden  zu  geben,  Frankreich  zu  der  so  lange  ersehnten  Höhe  der 
Macht  und  des  Ansehens  zu  heben,  dauernd  Dank  wissen,  sie  williger 
wie  je  unterstützen  und  sich  vor  Spaltungen  und  Schwankungen  be- 
wahren, welche  bedenkliche  Wechsel  herbeiführen,  der  Welt  wieder 
das  Schauspiel  maßloser  Zerrissenheit  und  Unbeständigkeit  geben  und 
das  wertvolle  Vertrauen  der  neuen  Freunde  erschüttern  müßten. 

Alles  in  allem  genommen,  darf  wohl  gesagt  werden,  daß  die 
Summe  der  neuerlichen  äußeren  und  inneren  Erfolge  der  Republik 
bei  der  Nation  ein  Gefühl  der  Kraft  erzeugt  hat,  von  dem  es  angesichts 
des  nationalen  Temperaments  fraglich  ist,  ob  es  sich  lange  damit 
begnügen   wird,    sich    friedlich   zu   betätigen  lo. 

V.  S  c  h  o  e  n 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  Sie  haben  es  auch  gethan 

2  weil  sie  noch  zu  früh  seien! 

ä  beim  Volk  gewiß  nicht,  aber  im  kleinen  Kreise  ruhig  und  objektiv  denkender 

Politiker. 
*  es  liegt  aber  doch  ein  Körnchen  Wahrheit  drin. 

5  ist  nicht  richtig  siehe  den  Leitar[tikel]  des  Figaro  „Apres  Cronstadt",  da  steht 
wörtUch,  Russland  und  Frankreich  werden  zusammen  für  eine  richtige  Ver- 
theilung  der  Gränzen  in  Europa  sorgen  und  Elsaß-Lothringen  käme  dabei 
wieder  an  Frankreich 

6  eventuell  ihn  auch  flott  zu  brechen 

223 


'  Herr  v.  Schoen  haben  die  Rosabrille  aufgehabt  wie  mir  scheint 

8  ja 

9  ja 

1°  richtig 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Da   letztres  sehr  unwahrscheinlich   ist   so  müssen   wir  uns   nach   Kräften  be- 
mühen möglich  gestärkt  und  fertig  zu  sein  wenn  der  Sturm  ausbricht 


Nr.  1510 
Bericht  des  Militärattaches  in  Paris  Rittmeisters  von  Funcke 

Auszug.  Abschrift 

Nr.  176  Paris,  den  30.  August  1891 

Bei  dem  seit  dem  Besuche  des  französischen  Geschwaders  in 
Kronstadt  in  ganz  Frankreich  entflammten  Enthusiasmus  für  Ruß- 
land ist  es  mit  Bestimmtheit  anzunehmen,  daß  im  bevorstehenden 
Manöver  die  Rufe  „Vive  la  Russie''  überall  erschallen  werden,  wo 
sich  der  russische  Militärattache  zeigen  wird,  und  dazu  wird  um  so 
mehr  Gelegenheit  sein,  als  er  als  ältester  der  Militärattaches  immer 
an  deren  Spitze  erscheinen  wird.  Die  Ovationen  für  Rußland  werden 
dadurch  immer  neue  Nahrung  erhalten. 

General  Baron  Fredericks  hat  schon  seit  Jahren  die  russisch- 
französische  Allianz  und  Freundschaft  geschürt.  Es  sieht  ihm  ganz 
ähnlich  und  ist  bisher  auch  nicht  widerrufen,  daß  er  dem  „Temps" 
zufolge  nach  der  Revue  im  Jahre  1888  in  Ronen  dem  dortigen  Präfek- 
ten  und  Senator  M.  Cordier  gesagt  haben  soll:  „Avec  une  pareille 
armee,  qu'attendez-vous  donc?  Faites  un  pas  en  avant  et  nous  vous 
ouvrirons   les   bras." 

Im  März  d.  Js.  gelegentlich  der  Einweihung  des  Denkmals  des 
Generals  Chanzy  soll  er  gleichfalls  der  Möglichkeit  und  Hoffnung 
einer  „entente"  zwischen  Frankreich  und  Rußland  Ausdruck  gegeben 
haben. 

Wo  immer  sich  nur  der  geringste  Anlaß  bietet,  wird  jetzt  in  ganz 
Frankreich  der  Enthusiasmus  für  Rußland  und  die  russische  Freund- 
schaft öffentlich  gezeigt. 

In  der  Tat  scheint  dieselbe  immer  populärer  zu  werden,  und  die 
russischen  Sympathien  auch  immer  mehr  in  die  französische  Armee 
einzudringen.  Kein  Militärkonzert  ist  denkbar  ohne  die  russische 
Nationalhymne  und  Marseillaise  hinterher.  Es  wird  dann  applaudiert, 
„Vive  la  Russie"  gerufen  und  immer  wieder  die  russische  National- 
hymne verlangt.  Erscheint  ein  russischer  General  in  Frankreich,  wird 
er  von  dem  französischen  Offizierkorps  des  Ortes,  den  er  besucht, 
gefeiert. 

224 


Bei  Regimentsfestessen  in  Frankreicli  wird  stets  der  russischen 
Armee  gedaclit  und  ihr  Ovationen  gebracht.  Aus  dem  Manöverterrain 
liest  man,  daß  die  Häuser  mit  russischen  und  französischen  Fahnen 
geschmückt  sind.  Kurz,  alles  deutet  darauf  hin,  daß  von  den  maß- 
gebenden Stellen  alles  getan  oder  wenigstens  nichts  verhindert  wird, 
um  die  Sympathien  für  Rußland  immer  mehr  zu  verbreiten  und  die 
Interessen   der   beiden   Armeen   solidarisch   zu   gestalten. 

In  dem  Maße,  wie  die  Sympathien  und  der  Enthusiasmus  für  Ruß- 
land zunehmen,  wird  in  Frankreich  auch  der  Mut  zunehmen,  die  Anti- 
pathien und  den  Haß  gegen  Deutschland  öffentlich  zu  erkennen  zu 
geben.  Von  den  Hunderttausenden  von  Franzosen,  die  in  den  letzten 
Wochen  „Vive  la  Russie'^  gerufen,  hat  die  allergrößte  Anzahl  „ä  bas 
l'Allemagne"  damit  gemeint,  nur  daß  das  Volk  noch  nicht  den  Mut 
hat,  es  öffentlich  auszusprechen, 

(gez.)  von  Funcke 


Nr.  1511 
Bericht  des  Militärattaches  in  Wien  Oberstleutnants  von  Deines 

Eigenhändige  Ausfertigung 

Nr.  69  Wien,  den  4.  November  1891 

Ganz  vertraulich 

Der  Herr  Chef  des  k.  u.  k.  Generalstabes  hat  dieser  Tage  den 
russischen  Militärattache  interpelliert  wegen  der  weitern  Truppenvor- 
schiebungen  und  mir  darüber  folgendes  gesagt. 

Oberst  von  Zujew  hat  sofort  zugegeben,  daß  eine  weitere  Kosaken- 
division und  zwei  Armeekorps  in  den  nächsten  Monaten  an  die  West- 
grenze vorgeschoben  werden  sollen  i,  daß  aber  gegen  Österreich  nur 
ein  Armeekorps  und  die  Kosakendivision  bestimmt  sei,  das  andere 
Korps   gegen   die   deutsche   Grenze. 

Als  Exzellenz  Beck  dem  Obersten  entgegnete,  dies  bedeute  unter 
den  obwaltenden  Umständen  eigentlich  keinen  Unterschied,  zuckte  Herr 
von  Zujew  die  Achseln  und  sagte  ziemlich  wörtlich:  „Wenn  Deutsch- 
land mit  Frankreich  Händel  bekommt,  schlagen  wir  sofort  los,  und 
zwar  gegen  die  Deutschen  mit  Passion ;  da  Sie  gezwungen  sind,  den 
Deutschen  zu  helfen,  natürlich  auch  gegen  Sie  2,"  Rußland  könne 
es  nicht  darauf  ankommen  lassen,  daß  Frankreich  nochmals  ge- 
schlagen und   Deutschland  dann  noch  mächtiger  werde. 

Der  Feldzeugmeister  hat  sich  demgegenüber  auf  die  Bemerkung 
beschränkt,  wenn  die  Sache  wirklich  so  liege,  dann  hänge  die  Er- 
haltung des  Friedens  allerdings  unter  Umständen  vom  Pariser  Mob 
ab,  nicht  aber  vom  Zaren  3. 

Mein   russischer   Kollege   hat   darauf   nichts   entgegnet. 

15    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  225 


Derselbe  ist  ein  zweifellos  sehr  befähigter  Kopf,  plaudert  aber 
zuweilen  mit  slawischer  Kindlichkeit  seine  innersten  Gedanken  aus. 
Er  ist  ein  Schützling  der  Obrutschew  und  Dragomirow;  seine  An- 
sichten dürften  denjenigen  dieser  Generale  nahestehen.  Es  ist  aber 
auch  möglich,  daß  die  Offenherzigkeit  des  Obersten  von  Zujew  nicht 
ganz  unabsichtlich  war;  die  Russen  trachten  seit  Kronstadt  dahin, 
den  Österreichern  bange  zu  machen  wegen  ihres  Bündnisses  mit  uns 
und  sie  durch  die  ungeheuere  Macht  des  mit  Frankreich  verbündeten 
Rußlands  einzuschüchtern. 

Feldzeugmeister  von  Beck  hatte  denselben  Eindruck  und  bat  um 
vertrauliche    Behandlung   seiner    Mitteilungen.  v.  Deines 

Randbemericungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Vorläufig  wegen  der  Hungersnoth  unterblieben 

2  das  ist  doch  wenigstens  offenl 
'  sehr  gut  und  wahr 

Nr.  1512 
Der  Botschaf  (er  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärlige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  158  Paris,  den  23.  November  1891 

Herr  von  Giers*  hat  hier  abkühlend  und  beruhigend  gewirkt 
und  die  Chauvinisten  enttäuscht.  Von  schriftlichen  Abmachungen  ist 
allen  Anzeichen  nach  keine  Rede  gewesen.  Herr  von  Giers  hat  nur 
von  Erhaltung  des  status  quo  gesprochen  und  hat  das  mehr  betont, 
als  selbst  den  Ministern  lieb  war,  wie  ich  namentlich  aus  Äußerungen 
des  Herrn   Freycinet  entnehmen  konnte. 

Münster 

Nr.  1513 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  24.  November  1891 
Herr  von  Giers**  sagt,  er  sei  mit  einem  besorglichen  Gefühl  nach 
Paris   gegangen,    er   sei   aber   auf   das   angenehmste   enttäuscht.    Die 


*  Er  war,  nachdem  mit  dem  Austausch  der  Schreiben  vom  August  (vgl.  Nr,  1509, 
S.  220,  Fußnote)  die  erste  Etappe  des  russisch-französischen  Bündnisses  erreicht 
war,  am  19.  November  zu  Besprechungen  mit  den  französischen  Staatsmännern 
in  Paris  eingetroffen.  In  diesen  Besprechungen,  über  deren  Verlauf  wir  durch 
ausführliche  Aufzeichnungen  des  französischen  Außenministers  unterrichtet  sind 
(Oelbbuch  L'Alliance  Franco-Russe  Nr.  20,  21),  war  allerdings  auch  von  schrift- 
lichen Abmachungen  eingehend  die  Rede. 

**  Er  war  am  23.  November  von  Paris  kommend  für  zwei  Tage  in  Berlin  ein- 
getroffen, wo  er  von  Kaiser  und  Reichskanzler  empfangen  wurde. 

226 


Bevölkerung  sei  rücksichtsvoll  gewesen,  man  habe  ihn  gegrüßt,  aber 
kein  Schrei,  keine  Marseillaise.  Er  habe  in  den  Ministern,  vorzüglich 
Ribot,  und  in  Herrn  Carnot  sehr  verständige  Leute  gefunden  und 
hätte  nirgends  Ansichten  gefunden,  die  von  den  seinigen  abwichen. 
Die  Regierung  wolle  durchaus  nicht  den  Krieg,  und  sie  glaube  stark 
genug  zu  sein,  um  Zwischenfälle  unschädlich  zu  machen.  Das  Wort 
„Alsace'*  sei  nicht  einmal  ausgesprochen  worden. 

V.  Caprivi    •• 


Nr.  1514 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig' 

Berlin,  den  25.  November  1891 
Herr  von  Giers,  von  mir  darauf  angeredet,  daß  hier  verlaute, 
dem  Zaren  sei  in  Kopenhagen  gesagt.  Seine  Majestät  unser  Kaiser 
habe  sich  abfällig  über  Seine  Majestät  den  Kaiser  von  Rußland  ge- 
äußert, erwiderte,  er  wisse  nichts  davon,  glaube  nicht,  daß  seinem  Herrn 
dergleichen  zu  Ohren  gekommen,  werde  sich  aber  zu  informieren 
suchen  und  dem  Grafen  Schuwalow  darüber  schreiben.  Es  sei  dem 
Zaren  nicht  angenehm  gewesen,  daß  man  die  Erneuerung  des  Drei- 
bundes so  laut  verkündet  habe.  Daß  der  Zar  nicht  über  Berlin  ge- 
kommen, sei  bei  seiner  Natur  verständlich*.  Er  sei  zu  Höflichkeits- 
akten schwer  zu  bewegen;  beispielsweise  selbst  der  Königin  Olga 
gegenüber.  Er  begreife  nicht,  daß  man  Wert  auf  solche  Formen 
lege  und  pflege  dann  zu  sagen:  „Qu'est  ce  que  cela  lui  peut  faire?"  — 
Die  Kronstädter  Entrevue  habe  sich  aus  den  gegebenen  Verhält- 
nissen natürlich  entwickelt.  Wegen  der  Marseillaise  habe  Herr  von  Giers 
den  Kaiser  vorher  gefragt.  Sie  sei  in  Kopenhagen  und  Stockholm 
gespielt  worden,  und  der  Zar  habe  gesagt:  ,,Peux-je  inventer  un 
autre  hymne?"  Überdies  sei  es  nur  die  Melodie  und  nicht  der  Text 
gewesen,  die  Sache  habe  jetzt  auch  eine  andere  Bedeutung  wie  vor 
100  Jahren.  Herr  von  Giers  erzählte  dann  die  bekannte  Geschichte, 
wie  der  Zar  bei  dem  Diner  nach  den  ersten  Takten  gerufen:  „Assez.'* 
Der  Zar  sei  nach  wie  vor  Archi-Monarchist.  Er  sei  durchaus  fried- 
lich und  werde  nie  zu  einem  Kriege  schreiten,  es  sei  denn,  daß  ein 
allgemeiner  europäischer  Krieg  ihn  zur  Teilnahme  zwinge.  Die  Hungers- 
not beschäftige  den  Zaren  sehr  und  wäre  an  sich  ein  Gegengewicht 
gegen    jede    kriegerische    Tendenz. 

Herr  von  Giers  habe  seinen  Kaiser  gefragt,  ob  er  nach  Paris 
gehen  solle  und  die  Antwort  erhalten,  er  möge  das  selbst  entscheiden. 
Er  habe  für  gut  gehalten,  die  Bekanntschaft  der  jetzigen  Machthaber 


*  Vgl.  Kap.  XLIX,  Nr.  1622,  nebst  Fußnote,  S.  373. 

15'  227 


in  Frankreich  zu  machen.  Es  sei  ihm  lieb,  das  getan  zu  haben.  Er 
halte  dieselben  für  Leute,  die  den  Krieg  nicht  suchen.  Er  habe  ihnen 
gesagt,  daß  sie  nicht  vergessen  mögen,  Deutschland  sei  nicht  nur 
der  Nachbar  Rußlands,  sondern  nahe  verwandtschaftHche  Bande  ver- 
bänden die  Herrscherfamilien.  Man  habe  ihm  geantwortet,  man  begriffe 
das  vollkommen*.  Herr  von  Giers  v^^ünscht,  daß  die  gegenwärtige  Re- 
gierung sich  behauptet.  Zu  einer  anderen,  z.  B.  Herrn  Clemenceau, 
würden  die  Beziehungen  Rußlands  andere  werden,  mit  ihr  würde 
das  gute   Einvernehmen   nicht  fortbestehen. 

Die  Nihilisten  seien  jetzt  still;  auch  in  Paris  seien  sie  nicht  zu 
spüren;  sie  seien  aber  ihrer  Energie  und  ihres  Todesmutes  wegen 
nach  wie  vor  gefährlich.  Wir  hätten  in  der  konstitutionellen  Regierung 
ein  Ventil  für  überspannte  Kräfte,  der  Zar  müsse  bisweilen  auch 
nach  einer  soupape  suchen  und  die  öffentliche  Meinung  zum  Aus- 
druck kommen  lassen.  Der  Kaiser  liebe  es,  die  nationale  Note  an- 
zuschlagen, pp.** 

V.  Caprivi 


Nr.  1515 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  25.  November  1891 
pp.  Als  Herr  von  Giers  sodann***  von  den  friedlichen  Eindrücken 
sprach,  die  er  in  Paris  empfangen,  und  von  der  neuen  Friedens- 
garantie, welche  durch  den  mäßigenden  Einfluß  Rußlands  auf  Frank- 
reich gegeben  werde,  entgegnete  ich,  daß  für  die  deutsche  Regierung 
die  französisch-russische  Annäherung  um  so  weniger  einen  Gegen- 
stand der  Befürchtung  bilde,  als  wir  in  der  Entrevue  von  Kronstadt 
vornehmlich  eine  äußere  Bekundung  bereits  bestehender  Beziehungen 
erblickten.  Dagegen  könne  ich  nicht  verhehlen,  daß  unsere  öffent- 
liche Meinung  diese  Auffassung  nicht  teile,  vielmehr  die  Ereignisse 
der  letzten  Monate  einen  tiefen  Eindruck  auf  dieselbe  gemacht  hätten. 
Seit  20   Jahren   sei   man   darauf  gefaßt,   daß   Frankreich   eines   Tages 


*  Davon  steht  begreiflicherweise  in  dem  Resume  des  französischen  Ministers  Ribot 
über  seine  Unterredungen  mit  Giers  (Französisches  Gelbbuch  L'Alliance  Franco- 
Russe  Nr.  20,  21)  nichts.  Dagegen  heißt  es  dort:  „La  pensee  de  M.  de  Giers  est 
qu'on  peut  retarder  la  guerre,  mais  il  parait  ne  pas  croire  qu'on  puisse  y  echapper 
un  jour  ou  l'autre.  C'est  en  ce  sens  qu'il  a  parle  ä  l'Empcreur.  Pour  le  moment 
il  s'applique  a  maintenir  avec  TAllemagne  des  rapports  tolerables." 
**  Den  Schluß  der  Aufzeichnung  siehe  in  Bd.  IX,  Kap.  LV,  A,  Nr.  2118,  Fußnote. 
♦**  Den  Anfang  des  Schriftstückes,  der  von  den  handelspolitischen  Beziehungen 
zwischen  Deutschland  und  Rußland  handelt,  siehe  in  Kap.  XLIX,  Nr.  1633. 

228 


Deutschland  angreife,  um  revanche  zu  üben;  es  sei  daher  begreiflich, 
daß  unsere  öffentliche  Meinung  in  der  Annäherung  einer  Großmacht 
an  Frankreich  eine  Stärkung  jener  Gelüste  erblicke,  —  Herr  von  Giers 
unterbrach  mich  hier  mit  der  Bemerkung,  daß  die  Frage  einer  revanche 
für  Rußland  nicht  existiere  und  auch  bei  seiner  jüngsten  Anwesen- 
heit in  Paris  weder  dieses  noch  ein  ähnliches  Wort,  insbesondere 
auch  nicht  die  Worte  Alsace  oder  Lorraine  gefallen  seien.  —  Diese 
Anschauung  weiterer  Volkskreise  —  fuhr  ich  fort  —  sei  in  der  schärfsten 
Weise  bei  Gelegenheit  des  letzten  russischen  Anlehens*  zum  Aus- 
druck gekommen;  die  Presse  aller  Parteien  habe  darin  überein- 
gestimmt, daß  es  eine  Art  „haute  trahison"  sei,  Rußland  irgendwelche 
wirtschaftliche  Vorteile  zuzuwenden  oder  auch  nur  einen  Sou  für 
russische  Anlehen  zu  zeichnen.  Diese  Stimmung  sei  zur  Geltung  ge- 
langt, obgleich  die  deutsche  Regierung  in  der  Anlehensfrage  strikte 
Neutralität  beobachtet  habe.  Es  würde  daher  ein  Irrtum  sein,  wenn 
man  annehme,  daß  die  gegenwärtige  Baisse  der  russischen  Werte 
etwa  auf  Machinationen  deutscher  Bankiers  zurückzuführen  sei,  die 
selbst  durch  die  Entschiedenheit  der  öffentlichen  Meinung  überrascht 
worden  seien. 

Herr  von  Giers  suchte  die  Erklärung  für  diese  Erscheinung  in 
dem  Umstände,  daß  in  der  letzten  Zeit  gar  viele  Ereignisse  zu- 
sammengetroffen seien,  um  die  öffentliche  Meinung  bezüglich  Ruß- 
lands zu  beeinflussen;  die  Judenfrage,  welche  für  viele  österreichische 
und  deutsche  Blätter  bei  Beurteilung  russischer  Verhältnisse  maß- 
gebend sei,  die  Entrevue  von  Kronstadt,  die  Hungersnot  samt  den 
Ausfuhrverboten  usw.;  er  hoffe,  daß  bald  eine  beruhigtere  Stimmung 
eintreten  werde.  Herr  von  Giers  erging  sich  dann  in  einer  lebhaften 
Schilderung  seiner  Pariser  Eindrücke.  Er  sei  lediglich  aus  Familien- 
rücksichten dort  gewesen,  habe  aber  allerdings  mit  maßgebenden  Per- 
sönlichkeiten politische  Pourparlers  geführt  und  daraus  entnommen, 
daß  die  gegenwärtigen  Leiter  Frankreichs  nicht  nur  außerordentlich 
friedlich  gesinnt  seien,  sondern  geradezu  die  Erhaltung  des  Friedens 
als  eine  Existenzbedingung  einer  konservativen  Republik  erachteten; 
diese  Auffassung  entspreche  derjenigen  der  großen  Mehrheit  des  fran- 
zösischen Volkes;  nur  eine  kleine  Minorität  von  „braillards"  wünsche 
den  Krieg,  aber  M.  Constans  mit  seiner  starken  Faust  werde  die- 
selbe im  Zaume  halten.  Die  jetzige  Regierung  wünsche  mit  Deutsch- 
land in  guten  Verhältnissen  zu  leben  und  erkenne  an,  daß  Deutschland 
in   seinen    Beziehungen   zu   Frankreich   aufrichtig   und   loyal   verfahre. 

*  Am  25.  September  war  eine  russische  3o/oige  Anleihe  im  Betrage  von  500  Mil- 
lionen Franken  ausgeschrieben,  die  von  einem  Konsortium  von  Banken  in  allen 
Ländern,  u.  a.  in  Berlin  von  den  Bankhäusern  Warschauer  und  Mendelssohn,  auf- 
gelegt werden  sollte.  Diese  beiden  traten  aber  unter  dem  Druck  der  erregten 
öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  wieder  zurück.  In  Frankreich  wurde  die 
russische  Anleihe  zwar  TVamal  gezeichnet;  jedoch  zeigte  sich  bald,  daß  nur  ein 
Teil  der  Zeichner  bereit  war,  die  Stücke  abzunehmen. 

229 


Mit  Genugtuung  habe  er  gesehen,  daß  auch  die  Stimmung  gegen 
Italien  sich  gebessert  habe.  Während  man,  solange  Crispi  am  Ruder 
war,  sich  fortwährend  gegenseitig  Absichten  auf  Tripolis  vorgeworfen 
habe  und  aus  jedem  Anlaß  erbitterter  Streit  entstanden  sei,  habe  er 
in  Paris  kein  hartes  Wort  über  Italien  gehört.  Nur  weise  man  dort 
die  Insinuation  entschieden  zurück,  die  von  italienischer  Seite  er- 
hoben werde,  als  ob  Frankreich  Absichten  auf  Wiederherstellung  der 
weltlichen  Macht  des  Papstes  habe.  Die  Sache  sei  einfach  die,  daß 
Kardinal  Lavigerie  sich  für  die  Erhaltung  einer  konservativen  Republik 
in  Frankreich  interessiere  und  von  der  Einwirkung  des  Vatikans  den 
Anschluß  der  französischen  Konservativen  an  die  Republik  erhoffe,  pp. 

Herr  von  Giers  kam  dann  auf  das  „rapprochement"  zwischen 
Rußland  und  Frankreich  zurück,  das  er  als  eine  Folge  der  Wieder- 
erneuerung der  Tripelallianz  darstellte*.  Auf  meine  Bemerkung,  daß 
diese  Allianz  schon  seit  1887  bestehe  und  dieselbe  sich  bis  heute 
niemals  von  der  Linie  einer  rein  defensiven  Politik  entfernt  habe, 
entgegnete  Herr  von  Giers,  dies  sei  richtig,  allein  die  Wiederemeue- 
rung  sei  mit  soviel  „fracas"  in  Szene  gesetzt  worden,  daß  das  Be- 
dürfnis der  Annäherung  beider  Staaten  sich  ergeben  habe,  worauf  ich 
darauf  hinwies,  daß  in  heutiger  Zeit  politische  Ereignisse  naturgemäß 
in  der  Presse  aufgebauscht  würden  und  die  Kronstadter  Entrevue 
diesem  Schicksal  ja  auch  nicht  entgangen  sei. 

Der  Minister  kehrte  sodann  in  seinen  Betrachtungen  wieder  nach 
Paris  zurück,  um  nochmals  die  friedlichen  Eindrücke  zu  schildern, 
die  er  dort  erhalten  habe;  die  surexcitation,  die  früher  geherrscht, 
habe  sich  kalmiert,  er  selbst  sei  in  keiner  Weise  behelligt  worden. 
Man  habe  dort  das  Bewußtsein,  wieder  eine  würdige  Stellung  in 
Europa  einzunehmen,  und  das  befriedige.  Besonders  interessant  sei 
ihm  die  Wahrnehmung  gewesen,  daß  man  in  Paris  eine  territoriale 
Ausdehnung  der  republikanischen  Staatsform  nicht  wünsche;  im  Gegen- 
teile glaube  man,  daß,  wenn  Portugal,  Spanien  und  etwa  gar  Italien 
zu  derselben  Staatsform  übergingen,  aus  den  turbulenten  Elementen 
jener  Staaten,  die  dann  voraussichtlich  zur  Herrschaft  gelangen  würden, 
der  französischen  Republik  Schaden  entstehen  würde.  Im  übrigen  habe 
€r  wiederholt  sich  gefragt,  ob  nicht  eine  konservative  Republik  in 
Frankreich  für  den  Frieden  günstiger  sei  als  eine  Monarchie,  deren 
Träger  geneigt  sein  werde,  sich  durch  kriegerische  Taten  zu  be- 
festigen. 

Ich  bemerkte  dem  Minister,  daß  wir  die  friedliche  Gesinnung 
der  jetzigen  Machthaber  in  Frankreich  nicht  bezweifeln  wollten,  aber 
auch  die  gegenwärtige  Regierung,  die  man  eine  starke  nenne,  habe 
nicht  den  Mut,  sich  offen  von  dem  Revanchegedanken  loszusagen. 
Wir  müßten  also  Frankreich  gegenüber  stets  auf  der  Hut  sein.    Wir 


•  Vgl.  Nr.  1507,  Fußnote  f. 
230 


wollten  von  ihm  gar  nichts  anderes,  als  daß  man  uns  in  Ruhe  lasse: 
Wenn  Rußland  in  diesem  Sinne  auf  die  Franzosen  einwirke,  so  könne 
uns  dies  nur  lieb  sein.  pp.  Marschall 

Nr.  1516 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  12  Paris,  den  11.  Januar  18Q2 

Die  Fieberhitze  der  russischen  Krankheit,  an  der  die  französische 
Nation  diesen  Sommer  gelitten  hatte,  ist  etwas  abgekühlt,  und  ist  sie 
mehr  chronisch  und  latent  geworden. 

Es  sind  verschiedene  Gründe,  welche  diese  kühlere  Temperatur 
bedingen. 

Je  weiter  die  Aussichten  auf  Krieg  hinausgerückt  werden,  je 
weniger  tritt  die  Notwendigkeit  der  Allianz  hervor. 

Bei  mehreren  Gelegenheiten  haben,  wie  noch  kürzlich  in  Bul- 
garien, die  Russen  Herrn  Ribot  nicht  folgen  wollen.  Die  Hungersnot 
in  Rußland  und  die  inneren  Zustände  infolge  derselben  werden  doch 
allgemein  auch  hier  so  aufgefaßt,  als  werde  Rußland  zum  Kriege 
weniger  geneigt   sein,   als   hier   allgemein   angenommen   wurde. 

Dazu  kommen  die  finanziellen  Verhältnisse  Rußlands.  Die  fran- 
zösischen Finanzkreise  sehen  doch  auch  ein,  daß  in  Geldsachen  der 
übertriebene  Patriotismus  seine  Grenzen  hat,  daß  der  französische 
Geldmarkt  mit  russischen  Werten  sehr  stark,  wenn  nicht  schon  zu 
stark  versorgt  ist.  Die  letzte  Anleihe  hat  das  bewiesen;  und  nach 
allem,  was  ich  höre,  ist  eine  neue  russische  Anleihe  hier  vor  der  Hand 
nicht  unterzubringen,   pp. 

Die  russische  Regierung  scheint  darauf  es  aufgegeben  zu  haben, 
hier  über  eine  Anleihe  zu  verhandeln,  und  sucht  sie  durch  das  Syndikat 
der  letzten  Anleihe  die  200  Millionen,  welche  sie  zurücknehmen  mußte, 
nach  und  nach  auf  dem  hiesigen  Markt  unterzubringen,  eine  Operation, 
bei   der   die   Rothschilds   jede   Mitwirkung   verweigert  haben. 

Münster 

Nr.  1517 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  96  Paris,  den  14.  April  1892 

Die  französische  Russenliebe  ist,  wie  ich  kürzlich  bereits  bericht- 
lich und  mündlich  zu  erwähnen  die  Ehre  gehabt,  in  neuerer  Zeit 
erheblich  erkaltet.  Die  Erkenntnis  dieses  Wechsels  ist  auch  den  offenen 
und    stillen    Förderern    der    russisch-französischen    Freundschaft    nicht 

231 


entgangen,  und  sie  geben  sich  jetzt  um  so  mehr  Mühe,  die  gesunkene 
Temperatur  zum  Steigen  zu  bringen  und  in  Rußland  den  Glauben 
an  die  unwandelbare  Ergebenheit  der  Franzosen  zu  erhalten.  So  haben 
unter  anderem  die  Mitglieder  der  seinerzeit  behördlich  nicht  anerkann- 
ten „Societe  des  amis  de  la  Russie"  beschlossen,  dem  Zaren  als 
Zeichen  der  hingebenden  Verehrung  der  französischen  Nation  ein  Ge- 
schenk darzubieten,  das  in  einer  künstlerisch  gearbeiteten  silbernen, 
mit  Gold  und  Edelsteinen  ausgelegten  Tafel  besteht,  welche  den  Stamm- 
baum der  kaiserlichen  Familie  darstellt.  An  der  Spitze  jener  Russen- 
freunde steht  der  bekannte  Fery  d'Esclands,  der  auch  das  Geschenk 
in  Petersburg  überreichen  soll.  Derselbe  hat  nun  auch  den  sonst  so 
zurückhaltenden  Präsidenten  Carnot  zu  bewegen  gewußt,  dieser  Hul- 
digung eine  gewisse  Sanktion  und  besondere  Bedeutung  zu  geben, 
indem  er  ihn  zu  einer  feierlichen  Besichtigung  des  Kunstwerkes  und 
vorher  zu  einem  Besuche  des  Wachsfigurenmuseums  Grevin  veranlaßt 
hat,  um  dort  die  Darstellung  der  „entrevue  de  Cronstadt*'  zu  betrachten. 

Einer  offiziösen  Notiz  zufolge  hat  der  Präsident,  als  ihm  gesagt 
wurde,  daß  der  Kaiser  von  Rußland  die  Gabe,  den  sonstigen  Ge- 
bräuchen entgegen,  anzunehmen  geruht  habe,  geäußert:  „Ce  n'est 
pas  seulement  un  grand  honneur  que  nous  fait  Sa  Majeste,  c'est  une 
marque  d'amitie   qu'elle  nous  donne." 

Auch  der  ehemalige  Minister  Flourens,  bekanntlich  einer  der  eifrig- 
sten Vorkämpfer  der  russisch-französischen  Allianz,  ist  wieder  auf 
dem  Wege  nach  St.  Petersburg,  um  durch  Überbringung  einer  Gedenk- 
münze der  Moskauer  Ausstellung  wieder  Gelegenheit  zu  haben, 
huldigend  vor  den  Zaren  zu  treten. 

Die  hier  mannigfach  versuchten  Wohltätigkeitsunternehmungen  zu- 
gunsten der  notleidenden  Russen  dagegen  haben  wenig  Anklang  ge- 
funden, und  für  eine  demnächst  unter  der  Ägide  der  russischen  Bot- 
schaft stattfindende  Vorstellung  bedarf  es  schon  jetzt  eines  großen 
Aufwands  an   Reklame,   pp. 

Münster 

Nr.  1518 
Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Alfred  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  221  St.  Petersburg,  den  21.  Juh  1892 

Der  kürzlich  erschienene,  die  Abschließung  eines  schriftUchen 
Bündnisvertrages  zwischen  Rußland  und  Frankreich  verlangende  Ar- 
tikel des  „Figaro"*  wird  hier  nicht  nur  bei  Hofe,  sondern  auch  in 
anderen  politischen  und  gesellschaftlichen  Kreisen  in  sarkastischer  und 

•Der  berühmte  Artikel  des  „Figaro"  vom  14.  Juli  „Alliance  ou  flirt?",  dessen 
Sinn  der  russische  „Qrashdanin"  vom  IQ.  Juli  kurz  und  bündig  dahin  umschrieb: 
„Genug  der  Worte,  in  die  wir  keinen  festen  Glauben  setzen,  her  mit  dem  for- 

232 


ablehnender  Weise  besprochen,  obwohl  von  mancher  Seite  eingeräumt 
wird,  daß  die  in  dem  Artikel  enthaltene  Schilderung  russischer  Zu- 
stände nicht   ganz  unrichtig  sei. 

Auffällig  ist,  daß  nicht  nur  in  den  erwähnten  Qesellschaftssphären 
die  Idee  eines  mit  Frankreich  abzuschließenden  schriftlichen  Vertrages 
von  der  Hand  gewiesen  wird,  sondern  daß  auch  —  wie  Euere  Ex- 
zellenz aus  den  ganz  gehorsamst  beigefügten  Zeitungsübersetzungen 
bzw.  -ausschnitten  hochgeneigtest  entnehmen  wollen  —  die  hiesigen 
namhafteren  Preßorgane  trotz  aller  Sympathien  für  die  Annäherung 
beider  Staaten  von  einem  eigentlichen  Allianzvertrag  nichts  wissen 
wollen. 

Es  ist  dies  ein  bemerkenswerter  Umschlag  der  öffentlichen  Mei- 
nung, ein  Beweis  für  die  beginnende  Abnahme  der  franzosenfreund- 
lichen Stimmung  in  Rußland.  Denn  nach  den  Tagen  von  Kronstadt, 
bis  in  den  vergangenen  Winter  hinein  verlangte  die  russische 
Presse  in  dringlicher  Weise,  daß  das  französisch-russische  rapproche- 
ment  durch  einen  schriftlichen  Vertrag  besiegelt  werde. 

Eine  alleinige  Ausnahme  machte  damals  das  Hofblatt  „Grashdanin", 
welches  auch  jetzt  wieder  —  wie  aus  den  Anlagen  ersichtlich  — 
den   Franzosen    derb   die   Wahrheit   sagt. 

Schließlich  möchte  ich  ehrerbietigst  bemerken,  daß  der  hiesige 
französische  Botschafter  Graf  Montebello  von  dem  Erscheinen  des 
betreffenden  „Figaro"-Artikels  recht  peinlich  berührt  ist. 

A.  V.  Bülow 

Nr.  1519 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  175  Paris,  den  2.  August  1892 

Euere  Exzellenz  haben  mit  hohem  Erlaß  Nr.  180  vom  26,  v.  Mts. 
Aufschluß  darüber  erfordert,  ob  der  französische  General  de  Boisdeffre 


mellen  Bündnisvertrage!"  wurde  von  Graf  Münster  im  Berichte  vom  22.  Juli  als 
eins  der  vielen  Symptome  dafür  bewertet,  daß  die  Russenliebe  in  Frankreich 
wieder  erkalte  und  mit  ihr  das  Vertrauen  auf  russische  Hilfe.  In  Wirklichkeit 
war  der  Artikel,  der  zeitlich  mit  der  Rückkehr  des  Zaren  von  Kopenhagen  nach 
Rußland  zusammenfiel,  ein  wohlberechneter  französischer  Vorstoß  in  der  Rich- 
tung des  schon  früher  in  Aussicht  genommenen  Abschlusses  einer  französisch- 
russischen  Militärkonvention.  Tatsächlich  ließ  der  Zar  unmittelbar  nach  seinem 
Wiedereintreffen  in  der  russischen  Hauptstadt  alsbald  den  französischen  General 
Boisdeffre  im  Hinblick  auf  die  geplanten  Verhandlungen  zu  den  Augustmanövem 
einladen,  und  tatsächlich  wurden  bei  dieser  Gelegenheit  die  Verhandlungen  über  die 
Militärkonvention  bis  zu  ihrer  Unterzeichnung  von  den  beiderseitigen  militärischen 
Unterhändlern  geführt.  Der  formelle  und  definitive  Abschluß  erfolgte  bekanntlich 
erst  Ende  1893.    Siehe  Gelbbuch   L'AUiance   Franco-Russe,  Nr.  43  ss. 


tatsächlich    russischerseits    eine    Einladung   zu    militärischen    Übungen 
erhalten  hat. 

Meine  Beantwortung  dieser  Frage  ist  inzwischen  durch  die  Preß- 
meldung überholt,  daß  General  Boisdeffre  bereits  in  St.  Petersburg 
eingetroffen  ist.  Ob  die  Initiative  zu  seiner  Mission  von  Seiner  Majestät 
dem  Kaiser  Alexander,  von  anderer  russischer  oder  aber  von  fran- 
zösischer Seite  ausgegangen  ist,  habe  ich  noch  nicht  zu  ermitteln 
vermocht*. 

Bemerkenswert  ist,  daß  General  Boisdeffre  kürzlich  ungewöhn- 
lich rasch  zum  Divisionsgeneral  befördert  wurde.  In  militärischen 
Kreisen  ist  diese  Rangerhöhung  damit  erklärt  worden,  daß  es  der 
französischen  Regierung  darum  zu  tun  gewesen  sei,  ihrem  militäri- 
schen Abgesandten  die  Einräumung  eines  Platzes  zu  sichern,  welcher 
der  Bedeutung  der  französischen  Armee  und  den  Beziehungen  zwi- 
schen den  beiden  Staaten  entspreche.  In  dieser  Beziehung,  so  wird 
hinzugefügt,  sei  bisher  manches  versäumt  worden. 

Die  Beförderung  Boisdeffres  läßt  darauf  schließen,  daß  seiner 
Mission  eine  persönliche  Einladung  zugrunde  liegt  i,  da  man  anderer- 
seits  wohl   einen    rangälteren   General   hätte   wählen   können. 

v.  Schoen 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Glaube  ich  auch. 


Nr.  1520 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  207  Paris,  den  7.  September  1892 

Präsident  Carnot  hat  mit  großem  Gefolge,  d.h.  mit  einigen  Mini- 
stern, seiner  maison  militaire  und  einem  Schwärm  von  Journalisten 
eine  zweitägige  Reise  nach  Chambery  unternommen,  um  der  dortigen 
Jahrhundertfeier  des  ersten  Anschlusses  von  Savoyen  an  Frankreich 
beizuwohnen,   pp. 

Einen  kurzen  Aufenthalt  in  dem  bekannten  savoyischen  Badeort 
Aix-les-Bains  benutzte  der  Präsident,  um  mit  dem  dort  weilenden 
König  von  Griechenland  Höflichkeitsbesuche  auszutauschen,  einen 
kurzen  Besuch  des  Herzogs  von  Leuchtenberg  zu  empfangen  und  den 
Minister   von    Giers    von    Ribot    und    Freycinet   begrüßen    zu    lassen. 


*  Aus  Petersburg  hatte  der  Geschäftsträger  A.  von  Bülow  bereits  am   2\.  Juli  be- 
richtet, daß  die  Einladung  Boisdeffres  von  Kaiser  Alexander  selbst  ausgegangen  sei. 

234 


Aix  war  überdies  der  Schauplatz  einer  seltsamen  Episode,  darin  be- 
stehend, daß  der  Präsident  einen  kleinen  Schuljungen,  der  in  russi- 
schem Anzug  vor  ihn  trat  und  einige  naive  Knittelverse  über  russisch- 
französische Freundschaft  vortrug,  mit  den  emphatischen  Worten 
„J'embrasse  la  Russie"  unter  dem  Jubel  der  Menge  küßte.  Über- 
haupt war  der  sonst  so  zurückhaltende  Präsident  bei  seiner  jetzigen 
Reise  mit  derartigen  Expansionen  gar  freigebig,  indem  er  sich  nicht 
mit  dem  üblichen  Kuß  auf  die  errötenden  Wangen  der  Ehrenjungfrauen 
begnügte,  sondern  auch  bärtige  Männer  und  Greise  wiederholt  gerührt 
an  Brust  und  Lippen  drückte. 

Man  hat  hier  dem  Umstände  gewisse  Beachtung  geschenkt,  daß 
der  Präsident  u.  a.  vom  Minister  des  Äußern  begleitet  war,  während 
mehr  der  Minister  des  Innern  am  Platze  gewesen  wäre,  und  man 
hat  mit  dieser  Tatsache  die  andere  in  Verbindung  gebracht,  daß 
Herr  von  Oiers  in  Aix  weilte  und  auch  Baron  Mohrenheim  sich  da- 
selbst eingefunden  hatte.  Gewisse  Politiker  meinten,  daß  es  sich  da 
um  große  Dinge  handle.  Demgegenüber  ist  zu  bemerken,  daß  Herr 
von  Giers  tatsächlich  recht  krank  ist  und  die  Minister  Ribot  und 
Frcycinet  nur  ganz  kurz  empfangen  konnte*.  Wenn  auch  F^ibot  den 
Wunsch  gehabt  haben  mag,  sich  mit  dem  russischen  Minister  zu 
begegnen,  so  erklärt  sich  seine  Anwesenheit  in  der  Umgebung  des 
Präsidenten  auch  damit,  daß  ihm  nach  der  Etikette  der  Republik  die 
Rolle  zufiel,  den  König  von  Griechenland  namens  der  Regierung  zu 
begrüßen.  Daß  Baron  Mohrenheim  sich  die  Gelegenheit  nicht  hat 
entgehen  lassen,  einen  Besuch  bei  seinem  kranken  Chef  mit  einer 
Aufwartung  beim  Präsidenten  zu  verbinden,  ist  weiter  nicht  auffällig. 

Übrigens  beklagt  es  der  „Soir",  eine  Zeitung,  die  schon  seit  den 
Tagen  von  Kronstadt  den  Piatonismus  der  russischen  Liebe  hervor- 
hebt, daß  das  Zusammentreffen  russischer  und  französischer  Staats- 
männer in  Aix  den  Abschluß  eines  Bündnisvertrages  nicht  näher- 
gerückt habe.  Solange  das  jetzige  unbestimmte  Verhältnis  dauere, 
könne  Rußland  bei  einem  Kriege  wohl  auf  das  gleichzeitige  Los- 
schlagen Frankreichs  rechnen,  nicht  aber  Frankreich  unter  allen  Um- 
ständen auf  die   Hülfe   Rußlands  i. 

V.  Schoen 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Wollen  es  hoffen. 


*  Tatsächlich  hat  Ribot,  wie  aus  seinem  Schreiben  an  den  Grafen  de  Montebello 
vom  7.  September  (Französisches  Oelbbuch  L'Alliance  Franco-Russe  Nr.  79)  her- 
vorgeht, bei  seinem  Aufenthalt  in  Aix-les-Bains  sehr  eingehend  mit  Giers  über  das 
russisch-französische  „Arrangement"  und  speziell  über  die  formell  noch  nicht 
zum  Abschluß  gelangte,  aber  auf  beiden  Seiten  „comme  etant  accomplie"  be- 
Irachtete  Militärkonvention  und  ihre  endgültige  Unterzeichnung  verhandelt 


235 


Nr.  1521 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  217  Paris,  den  20.  September  1892 

Vertraulich 

Aus  Anlaß  des  kürzliclien  Zusammentreffens  französischer  und 
russischer  Staatsmänner  in  Aix-les-Bains  sind  in  hiesigen  Zeitungen 
wieder  hie  und  da  Gerüchte  von  dem  Abschlüsse  eines  förmlichen 
russisch-französischen    Bündnisses*  aufgetaucht. 

Der  hiesige  englische  Botschafter  hat  den  ifalienischen,  wie  dieser 
mir  anvertraut,  gefragt,  ob  diesen  Gerüchten  Wert  beizumessen  sein 
möchte,  und  eine  verneinende  Antwort  erhalten.  Herr  Reßmann  seiner- 
seits hat  mir  die  Ehre  erwiesen,  mich  um  meine  Informationen  und 
Eindrücke   zu   befragen. 

Ich  habe  dem  Botschafter  erwidert,  mir  schienen  keinerlei  An- 
zeichen dafür  vorzuliegen,  daß  Rußland  neuerdings  Veranlassung  ge- 
nommen habe,  von  seinem  bekannten  Programm  der  freien  Hand 
abzuweichen  und  sich  mit  Frankreich  auf  bestimmte  EventuaUtäten 
einzuschwören.  Rußland  sei  auch  ohne  Vertrag  der  französischen  Hülfe 
so  ziemlich  unter  allen  Umständen  sicher,  das  Interesse  an  geschriebenen 
Verpfhchtungen  bestehe  daher  nur  auf  französischer  Seite.  Es  sei 
nicht  anzunehmen,  daß  der  Kaiser  von  Rußland  neuerdings  mehr 
Neigung  erhalten  habe,  sich  in  ein  Verhältnis  mit  der  französischen 
Regierung  zu  setzen,  das  unter  Umständen  eine  Art  Abhängigkeits- 
verhältnis werden  könnte.  Ein  Defensivbündnis  habe  überdies  kein 
rechtes  Objekt,  da  man  in  Rußland  wie  in  Frankreich  doch  nach- 
gerade davon  überzeugt  sein  müsse,  daß  niemand  sie  anzugreifen 
denkt.  Aus  dem  gleichen  Grunde  könnte  uns,  den  Dreibundmächten, 
ein  russisch-französisches  Defensivbündnis,  falls  es  zustande  kommen 
sollte,  eher  zur  Beruhigung  als  zur  Besorgnis  gereichen.  Was  ein 
Aggressivbündnis  betreffe,  so  sei  das  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
ein  so  monströses  Dingi,  daß  der  verblendete  Gedanke  an  den  Ab- 
schluß eines  solchen  weder  einem  russischen  noch  einem  französischen 
leitenden  Staatsmanne  zugetraut  werden  könne  2.  Anders  Hege  die  Frage, 
ob  nicht  militärische  Vereinbarungen  bezüglich  einer  gewissen  gemein- 
schaftlichen Politik  auf  der  Balkanhalbinsel,  im  Orient,  in  Ostasien 
und  anderen  Gebieten  beständen  oder  bevorständen  3.  Aber  solche  Ab- 
machungen könne  man  bei  der  Wandelbarkeit  der  Fälle  schwerlich 
vertragUch  festlegen.  Alle  Anzeichen  sprächen  nach  wie  vor  dafür, 
daß  zwischen  Rußland  und  Frankreich  nichts  anderes  bestehe  als 
ein  unbestimmtes  Freundschaftsverhältnis. 


♦  Vgl.  Nr.  1520,  S.235,  Fußnote. 
236 


Herr  Reßmann  pflichtete  meinen  Anschauungen  bei  und  bemerkte, 
ihm  sei  auch  deshalb  nicht  glaublich,  daß  es  neuerdings  zu  vertrag- 
lichen Festsetzungen  zwischen  Frankreich  und  Rußland  gekommen 
sei,  weil  die  französische  Regierung  nicht  einen  Augenblick  gezögert 
haben  würde,  der  Nation  ein  solches  Ereignis  zu  verkünden 'i,  das  wie 
kein  anderes  geeignet  wäre,  die  Stellung  von  Präsident  Carnot  und 
den  jetzigen  Ministern  zu  einer  unerschütterlichen  zu  machen^. 

V.  Schoen 

Randbemericungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Warum? 

2  im  Gegentheil;  bei  beiden  Sorten  ist  so  was  wohl  möglich 

*  bestimmt  ja 

*  !  NaivI  das  würden  die  Russen  hübsch  verhüten 

^  das  außerdem  immer  noch  mal  sich  ereignen  [kann] 


Nr.  1522 

Der  Botschalter  io  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  238  Paris,  den  13.  Oktober  1892 

Wenn  auch  die  Stellung  des  russischen  Botschafters  durch  seine 
Gespräche  mit  dem  Marquis  Mores  und  die  Korrespondenz  mit 
Clemenceau  gelitten  hat  und  er  immer  mehr  zur  lächerlichen  Person 
wird,  der  Pariser  sich  auch  über  den  Russenkultus  lustig  macht, 
so  scheinen  trotzdem  die  Beziehungen  zwischen  beiden  Regierungen 
wieder  intimer  geworden  zu  sein. 

Wenn  ich  bis  jetzt  auch  immer  angenommen  habe,  daß  sich 
Seine  Majestät  der  Kaiser  von  Rußland  der  demokratischen  Republik 
gegenüber  niemals  binden  und  sich  nicht  auf  einen  Allianzvertrag 
einlassen  würde,  so  bin  ich  doch  jetzt  nicht  mehr  ganz  sicher,  ob 
nicht  gewisse  Abmachungen  vereinbart  wurden. 

Die  Rothschilds,  welche  bisher  stets  behaupteten,  daß  nichts  der 
Art  existiere,  stellen  dieses  nicht  mehr  so  in  Abrede,  haben  ganz 
plötzlich  ihre  abwehrende  Haltung  Rußland  gegenüber  geändert  und 
verhandeln  über  eine  500-Millionen-Anleihe. 

Rothschilds,  die  bisher  Royalisten  w^aren,  haben  sich  der  Republik 
genähert,  gehen  jetzt  Hand  in  Hand  mit  der  Regierung,  da  sie  da- 
durch hier  wieder  Einfluß  erlangen.  Die  Aussicht  auf  Gewinn  und, 
wie  Alphonse  Rothschild  behauptet,  die  Hoffnung,  für  die  Juden  in 
Rußland  bessere  Bedingungen  zu  erreichen,  haben  das  hiesige  Haus 
veranlaßt,   auf   die   Anleiheverhandlungen   einzugehen. 

237 


Daß  das  Londoner  Haus  nichts  mit  dieser  Anleihe  zu  tun  haben 
will,  zeigt,  wie  schlau  diese  großen  Juden  sind,  und  wie  sie  sich 
immer  eine   Hintertür  offen  halten. 

Es  ist  übrigens  noch  nicht  ganz  sicher,  ob  die  Rothschilds  die 
Garantien  erhalten,  welche  sie  von  der  russischen  Regierung  für  die 
zukünftige   Stellung   der   Israeliten   in    Rußland   verlangen. 

Wie  ich  gestern  schon  meldete,  liegt  noch  eine  Schwierigkeit 
für  die  Übernahme  der  Anleihe  auch  darin,  daß  das  Haus  Rothschild 
mit  Recht  entschieden  verlangt  zu  wissen,  wie  und  wieviel  von  den 
200  Millionen  Franks,  welche  von  der  vorigen  500-Millioncn-Anleihe 
nicht  untergebracht  werden  konnten*,  wirklich  vergeben  ist.  Es  sollen 
die  Manipulationen,  die  dabei  vorgenommen  wurden,  nicht  recht  das 
Licht  vertragen   können. 

Die  näheren  Bedingungen  und  namentlich  der  Kurs  der  neuen 
Anleihe  wird  bis  zur  Emission  geheim  gehalten. 

Wenn  wirklich  diese  finanziellen  Verhandlungen  die  Folge  politi- 
scher Abmachungen  sind,  so  mag  das  mit  der  Krankheit  des  Ministers 
Giers,  der  ja  niemals  fest  sich  Frankreich  gegenüber  binden  wollte**, 
zusammenhängen.  Sein  jetziger  Vertreter***  wird  zu  allen  Konzessionen 
Frankreich  gegenüber  geneigt  sein,  wenn  er  dadurch  glaubt,  an  die 
Stelle  von  Giers  gelangen  zu  können. 

Daß  die  Frau  des  neuen  Finanzministers  Witte f,  die  mir  von 
hiesigen  Russinnen  als  eine  kluge,  sehr  intrigante  Jüdin  geschildert 
wird,  viel  zur  Verständigung-  mit  den  jüdischen  Bankiers  beiträgt, 
halte   ich   auch   nicht  für   unmöglich. 

Daß  übrigens  eine  4o/oige  russische  Anleihe,  von  Rothschilds  aus- 
gebracht, hier  genommen  werden  wird,  hat  die  Haltung  der  Börse 
in  den  letzten  Tagen  gezeigt.  Um  sich  Klarheit  über  die  Stimmung 
der  hiesigen  Börse  zu  verschaffen,  hatten  Rothschilds  unter  der  Hand 
mitgeteilt,    daß    sie    eine   Anleihe    jetzt    übernehmen   würden. 

In  Frankreich  ist  die  Spekulation  wie  tot,  alle  industriellen  Unter- 
nehmungen sind  gelähmt,  die  Kapitalisten  wissen  nicht  ihr  Geld  unter- 
zubringen, die  Furcht  vor  einem  baldigen  Kriege  hat  sehr  abgenommen, 
und  das  wird  auch  zum  Erfolg  der  Anleihe  beitragen,  die  als  Kriegs- 
anleihe nicht  anzusehen  ist. 

Daß  Rußland  infolge  der  Hungersnot  Geld  braucht,  war  schon 
lange  bekannt.  In  Berlin  war  für  den  Augenblick  keine  Anleihe  an- 
zubringen. Die  hiesige  Regierung  war  besorgt,  daß  die  Tarifverhand- 
lungen zwischen  uns  und  St.  Petersburg  doch  gelingen  könnten  f"]-,  die 

*  Vgl.  Nr,  1516. 

**  Sic! 

***  Ministergehilfe  Schischkin, 

t  Seit   Anfang  September   Nachfo'ger  des   Ministers  WyschnegradskL 

tt  Vgl.  Kap,  L,  B,  Nr,  1661,  Fußnote. 

238 


Pariser  Börse  fürchtet,  durch  die  Berliner  überflügelt  zu  werden,  die 
großen  Juden  glauben,  daß,  wenn  sie  Geld  verdienen,  sie  den  kleinen 
Juden  am  besten  helfen  können,  und  so  geben  die  Franzosen,  trotzdem 
daß  der  französische  Markt  mit  russischen  Werten  übersättigt  ist, 
gute  Franken  für  schlechte  Rubel. 

Sollte  wirklich  ein  Allianzvertrag  existieren,  kommt  hier  die  russi- 
sche Anleihe  zustande,  so  ändert  das  nichts  an  der  poUtischen  Situation, 
wie  sie  faktisch  seit  Jahren  besteht. 

Münster 


Nr.  1523 

Der  Botschafter  in  Paris  Gral  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  284  Paris,  den  8.  Dezember  1892 

Das  Ministerium  Loubet-Ribot,  welches  in  den  Panamakanal*  fiel, 
ist  als  Ministerium  Ribot-Loubet  wieder  auferstanden. 

Es  hat  sich,  aus  ganz  verschiedenen  Gründen,  zweier  seiner  Mit- 
glieder entledigt:  des  Justizministers  Ricard,  der  es  zu  Falle  brachte, 
und  des  Ministers  für  Handel  Jules  Roche,  der  wahrscheinlich  über  den 
Schweizer  Handelsvertrag  gefallen  wäre  und  dann  den  Minister  Ribot, 
der  den   Vertrag  unterzeichnete,   hätte   mitziehen   können,  pp. 

Die  Erklärung  dafür,  daß  der  Präsident  nicht  sich  an  Freycinet, 
sondern  an  Ribot  wandte,  liegt  darin,  daß  Carnot  Freycinet  für  einen 
Präsidentschaftskandidaten   hält    und   ihm    nicht   traut. 

Was  aber  vor  allem  für  Ribot  den  Ausschlag  gab,  ist  die  Rück- 
sicht auf  Rußland. 

Ob  Ribot  wirklich  eine  geschriebene  Abmachung  mit  Rußland  hat, 
oder  ob  nur  mündliche  Versprechungen  ihm  und  von  ihm  gegeben 
sind,  habe  ich  noch  nicht  ermitteln  können,  er  gibt  sich  aber  den 
Anschein,  als  sei  es  geschehen. 

Von  zwei  Seiten  ist  mir  gesagt  worden,  daß  er  geäußert  habe, 
er  habe  Verdienste  um  Frankreich,  mit  denen  er  sich  noch  nicht 
rühmen  dürfe,  und  die  ihm  das  Recht  geben,  Ministerpräsident  zu 
werden.    Was   könnte  das  anderes  sein? 

Für  mich  spricht  dagegen,  daß,  wenn  er  wirklich  einen  Allianz- 
vertrag in  der  Tasche  hätte,  er  nicht  würde  widerstehen  können,  es 
bekanntzumachen.     Steht    die    Sache    nicht    fest,    so    würde    er  ein 


*  über  den  Panamaskandal,  der  den  schlechtesten  Eindruck  bei  der  russischen  Re- 
gierung und  namentlich  auch  bei  Kaiser  Alexander  III.  machte,  siehe  Kap.  XLVIII, 
Nr.  1590  nebst  Fußnote  *. 

239 


dementi   von    Rußland   erwarten   können,    denn    das   unbedingte    Ver- 
trauen  zum   russischen   Kaiser  ist  nicht   mehr  vorhanden. 

Sind,  wie  ich  glaube,  nur  mündliche  Versprechungen  gegeben, 
so  würde  von  russischer  Seite  jede  Indiskretion  sehr  übelgenommen 
werden. 

Darin  glaube  ich  nicht  zu  irren,  daß  Ribot  das  geschickt  benutzt 
hat  und  russisch-französischer  Ministerpräsident  geworden  ist.  pp. 

Münster 


Nr.  1524 

Der  Gesandte  in  Kopenhagen  Freiherr  von  den  Brincken  an  den 
Voriragenden  Rat  im  Auswärtigen  Amt  Grafen  von  Pourtales 

Privatbrief.  Ausfertigung 

Vertraulich  Kopenhagen,  den  12.  Dezember  1892 

Aus  zuverlässiger  Quelle  gehen  mir  die  nachstehenden  Notizen 
vom   hiesigen   Hofe   zu: 

Am  9.  Dezember  hat  zu  Ehren  des  von  hier  scheidenden  englischen 
Gesandten  Sir  Hugh  Mac  Doneil  im  Schlosse  zu  Amalienborg  ein 
Hofdiner  stattgefunden,  pp. 

Auf  dem  Diner  selbst  ist  dann  unter  anderen  von  der  Verlobung 
des  Herzogs  von  York  mit  der  Prinzessin  May  von  Teck  als  von 
einem  wahrscheinlich  demnächst  eintretenden  Ereignis  die  Rede  ge- 
wesen. Als  Sir  Hugh  Mac  Donell  bei  diesem  Anlaß  bemerkte,  daß 
von  dieser  Verlobung  allerdings  mehrfach  in  den  englischen  Zeitungen 
gesprochen  werde,  hat  die  Königin  Luise  an  diese  Bemerkung  an- 
knüpfend   etwa   folgende    Äußerung   getan: 

„Ach  gehen  Sie  mir  mit  den  Zeitungen,  Ihre  englischen  Zeitungen 
mögen  vielleicht  noch  die  besten  oder  die  am  wenigsten  schlimmen 
sein.  Die  Zeitungen  richten  aber  sehr  viel  Unheil  an.  Sehen  Sie  nur 
z.  B.,  wie  diese  nichtswürdigen  und  abscheulichen  französischen  Blätter 
unausgesetzt  bestrebt  sind  und  mit  allen  Mitteln  dahin  arbeiten,  die 
Beziehungen  zwischen  Rußland  und  Deutschland  so  feindlich  wie  nur 
irgend  möglich  zu  gestalten.  Gottlob  ist  aber  in  neuerer  Zeit  das 
Verhältnis  zwischen  den  beiden  Kaiserreichen  wieder  viel  besser  als 
früher  geworden.  Sie  hätten  nur  meinen  Schwiegersohn  (Kaiser  Alexan- 
der) sehen  sollen,  in  welchen  Unwillen  und  in  welchen  Zorn  er  immer 
geriet,  sobald  in  den  Zeitungen  von  dem  förmlichen  Abschluß  einer 
franco-russischen   Allianz   die   Rede   war." 

Noch  vor  Jahresfrist  würde  Königin  Luise  wohl  kaum  in  dieser 
Weise  gesprochen  haben.  Die  zwischen  Kaiser  Wilhelm  und  König 
Christian  bestehende   Freundschaft  scheint  sonach  selbst  auf  eine  so 

240 


große  Gegnerin  Preußens  und  Deutschlands,  wie  Königin  Luise  es 
bisher  noch  immer  gewesen  ist,  nicht  ohne  einen  gewissen  Einfluß 
zu  bleiben. 

Ein  derartiger  Stimmungswechsel,  namentlich  wenn  er  anhalten 
sollte,  verdient  immerhin  Beachtung,  weil  derselbe  ganz  naturgemäß 
durch  die  eventuelle  Vermittelung  der  Kaiserin  von  Rußland  leicht 
auch  auf  den  Zaren  selbst  seine  Wirkung  auszuüben  geeignet  sein  kann. 

Brincken 


Nr.  1525 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Alfred  von  Bülow  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  365  St.  Petersburg,  den  28.  Dezember  1892 

Der  französische  Botschafter  Graf  Montebello  ist  kürzlich  von 
dreimonatlichem  Urlaube  nach  St.  Petersburg  zurückgekehrt  und  be- 
findet sich,  wie  mir  verschiedene  seiner  näheren  Bekannten  versichern, 
in  gedrückter  Stimmung.  Daran  sind  einerseits  die  trüben  Eindrücke, 
die  der  Graf  aus  Paris  mitbringt,  andererseits  die  Abschwächung  fran- 
zösischen Einflusses  schuld,  die  der  Botschafter  an  hiesiger  maß- 
gebender Stelle  bei   seiner  Rückkehr  vorgefunden  hat^. 

Dieser  Umschwung  zu  Ungunsten  Frankreichs  ist  in  erster  Linie 
direkt  auf  Seine  Majestät  den  Kaiser  Alexander  zurückzuführen. 

Ich  darf  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  unterlassen,  ehrerbietigst 
hervorzuheben,  was  ich  im  Sommer  v.  Js.  wiederholt  zu  melden  die 
Ehre  hatte,  daß  nämlich  der  Zar  die  ostensible  Annäherung  Rußlands 
an  Frankreich 2  nicht  etwa  aus  Sympathie  für  genanntes  Land,  sondern 
hauptsächlich  deshalb  genehmigte,  weil  höchstderselbe  sich  durch  den 
erneuerten    Dreibund    bedroht    glaubte. 

Diese  Befürchtung  des  Monarchen  wurde  von  verschiedenen 
deutschfeindlichen  Persönlichkeiten  durch  allerhand  falsche  Nachrichten 
und  erlogene  Erzählungen  genährt,  und  erst  im  Frühjahr  d.  Js.  brach 
sich  im  Herzen  des  hohen  Herrn  mehr  und  mehr  die  Überzeugung 
Bahn,  daß  sein  Mißtrauen  nicht  gerechtfertigt  sei. 

Mehrere  Umstände  trugen  dazu  bei,  das  Vertrauen  des  Monarchen 
zu  Deutschland   wesentlich   zu   stärken. 

Zu  denselben  rechne  ich  den  guten  Einfluß,  welchen  Seine  Majestät 
der  König  von  Dänemark  auf  seinen  kaiserlichen  Schwiegersohn  aus- 
übte*, den  günstigen  Verlauf  der  Kieler  Entrevue**  sowie  die  den 
Monarchen    tief    verstimmenden    Vorgänge   in    Frankreich. 


*  Vgl.  Nr.  1524 

**  Siehe  Kap.  L,  Nr.  1636. 

!6    Die  Große  Poliük.    7.  Bd.  241 


Von  gut  unterrichteter  Seite  wurde  mir  versichert,  sowohl  die 
atheistische  Haltung  der  französischen  Regierung  als  ihre  Schwäche 
den  sozialistischen  Elementen  gegenüber  hätten  auf  den  Zaren  in 
repulsiver  Weise  gewirkt.  Die  renommierende  Nachricht  französischer 
Blätter,  im  Herbst  d.  Js.  solle  das  französisch-russische  Schutz-  und 
Trutzbündnis  definitiv  abgeschlossen  werden,  ärgerte  Seine  Majestät. 
Allgemein  fiel  es  auf,  daß  der  durch  seinen  Kampf  gegen  die  fran- 
zösischen republikanischen  Zustände  bekannte  Fürst  Meschtscherski,  Re- 
dakteur des  „Grashdanin",  in  längerer  Audienz  empfangen  wurde. 
Während  der  eingehenden  Unterhaltung  über  die  französischen  Zu- 
stände soll  der  Monarch  lobend  hervorgehoben  haben,  daß  sich  der 
„Grashdanin"  französischen  Lobhudeleien  und  anderen  verdächtigen 
Einflüssen  gegenüber  unabhängig  gezeigt  habe.  Auch  wurde  in  Seiner 
Majestät  mehr  und  mehr  der  Verdacht  rege,  daß  republikanische  Kor- 
ruption auf  die  Gewinnsucht  russischer  Beamten  in  bedenklicherer 
Weise  einzuwirken  anfange.  Die  Ungnade,  welche  den  Abgang  des 
vom  Zaren  ehemals  geschätzten  Finanzministers  Wyschnegradski  be- 
gleitete, war  auf  die  nicht  unbegründete  Mutmaßung  zurückzuführen, 
daß  dieser  Staatsmann  sich  bei  Gelegenheit  der  französischen  An- 
leihen  in   beträchtlicher  Weise  bereichert   habe. 

Es  kann  nach  alledem  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  aus  den 
vorerwähnten  und  ähnlichen  ernsten  Erwägungen  der  Wunsch  des 
Monarchen  nach  einem  deutschen  Vertreter  an  höchstseinem  Hoflager 
entsprang,  welchen  er  besonders  schätzt  und  deshalb  für  vorzüglich 
geeignet  hält,  vertrauensvolle  Beziehungen  zu  unserem  allergnädigsten 
Herrn  aufrechtzuerhalten*. 

Meiner  unmaßgeblichen  Meinung  nach  wird  diese  zurzeit  an 
höchster  Stelle  bestehende  Tendenz,  mit  uns  in  freundlichen  Beziehun- 
gen zu  stehen,  um  so  intensiver  werden,  je  bedenkhcher  die  gegen- 
wärtige in  Frankreich  akute  Krisis  sich  gestaltet,  und  je  mehr  die 
dortigen  extrem  radikalen  und  atheistischen  Elemente  zur  Herrschaft 
gelangen. 

Inwieweit  die  beim  russischen  Monarchen  verschärfte  antifranzösi- 
sche Stimmung  auf  die  hiesige  öffentliche  Meinung  Einfluß  gewinnen 
wird,  läßt  sich  noch  nicht  mit  Bestimmtheit  beurteilen,  pp. 

A.  V.  Bülow 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Schon! 

2  das  Experiment  könnte  ihm  seine  Krone  kosten 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

!  Gut. 


♦  Vgl.  Kap.  L,  Nr.  1639. 
242 


Nr.  1526 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  25.  Januar   1893 

Seine  Majestät  teilte  mir  heute  über  ein  Gespräch,  das  er  gestern 
abend  mit  dem  Großfürsten  Thronfolger*  hatte,  nachstehendes  mit: 

Die  Sprache  sei  zunächst  auf  Frankreich  gekommen,  wobei  sich 
der  Großfürst  über  die  dortigen  Zustände  auf  das  abfälligste  geäußert 
und  erzählt  hat,  daß  der  Zar  über  die  Nachricht,  daß  auch  Herr  von 
Mohrenheim  in  die  Panamasache  verwickelt**,  außer  sich  gewesen  sei 
und  a  terrible  scene  aus  diesem  Anlaß  stattgefunden  habe.  Mohren- 
heim sei  fertig  und  werde  demnächst  abberufen  werden.  Von  Seiner 
Majestät  über  die  in  Petersburg  bezüglich  der  Zukunft  Frankreichs 
bestehenden  Anschauungen  befragt,  habe  der  Großfürst  geäußert,  daß 
eine  Militärdiktatur  als  das  Wahrscheinhchste  erachtet  werde,  die  bald 
zum  Kriege  führen  werde.  Auf  die  Frage,  welche  Haltung  in  einem 
solchen  Kriege  Rußland  einnehmen  werde,  habe  der  Großfürst  erklärt, 
daß  dann  eine  Koalition  wie  in  den  Jahren  1813 — 15  eintreten  müßte, 
um  Frankreich  zu  bekämpfen.  Seine  Majestät  entgegnete,  daß  die- 
selbe Idee  dem  Dreibunde  zugrunde  liege,  und  entwickelte  den  Zweck 
dieser  Gruppierung  dahin:  Gegenseitige  Garantierung  des  territorialen 
Besitzstandes,  Wahrung  der  monarchischen  Interessen  gegenüber  dem 
Radikalismus,  Sozialismus,  Nihilismus  u.  dgl.,  Schaffung  gemeinsamer 
materieller  Interessen  durch  handelspolitische  Annäherung,  um  das 
Interesse  an  der  Friedenserhaltung  mehr  und  mehr  allgemein 
zu  gestalten.  Auf  die  Frage  des  Großfürsten,  ob  dem  Dreibunde 
keine  Rußland  feindliche  Tendenz  zugrunde  hege,  bemerkte  Seine 
Majestät,  dies  sei  absolut  nicht  der  Fall,  denn  wir  hätten  von  einem 
Kriege  mit  Rußland  keinerlei  Vorteile  zu  erwarten,  —  im  Gegenteil, 
was  der  Dreibund  anstrebe,  decke  sich  mit  dem  Interesse  Rußlands, 
indem  derselbe  die  SoUdarität  der  europäischen  Monarchien  zum  Aus- 
druck bringe,  um  die  umstürzenden  Tendenzen,  für  die  von  Frankreich 
aus  Propaganda  gemacht  werde,  zu  bekämpfen ;  dies  sei  der  politische 
Zweck  des  Dreibundes  —  seine  wirtschaftliche  Tendenz  gehe 
dahin,  die  europäischen  Staaten  durch  Handelsverträge  sich  zu  nähern, 
um  gemeinsam  die  panamerikanischen  Bestrebungen  der  Vereinigten 
Staaten  zu  bekämpfen,  welche  wichtige  europäische  Absatzgebiete  be- 
drohten. Der  Dreibund  könne  ebenso  Vierbund  usw.  genannt  werden, 
da  für  alle  Staaten,  welche  den  gleichen  Tendenzen  huldigen,  Raum  sei. 


*  Er  weilte  anläßlich  der  Vermählung  der  Prinzessin  Margarete  von  Preußen  vom 
24.  bis  28.  Januar  am  Kaiserhot  in  Berlin. 
**  Vgl.  Kap.  XLVIII,  Nr.  1590. 

16»  243 


Der  Großfürst  habe  die  Richtigkeit  dieser  Gedanken  zugegeben 
und  bemerkt,  daß  bisher  weder  seinem  Vater  noch  ihm  die  Frage 
von  diesem  Gesichtspunkte  dargelegt  worden  sei;  mit  Genehmigung 
Seiner  Majestät  werde  er  dem  Zaren  darüber  Mitteilung  machen.  Seine 
Majestät  gab  hierzu  seine  ausdrückliche  Zustimmung, 

Marschall 


Nr.  1527 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  von  Pourtal&s 

Nr.  50  Berlin,   den   30.  Januar   1893 

[abgegangen  am  31.  Januar] 

Euerer  pp.  beehre  ich  mich  im  Anschluß  an  meinen  Erlaß  Nr.  4Q 
vom  28.  d.  Mts.*  zu  Ihrer  Information  beifolgende  Abschrift  einer  Auf- 
zeichnung zu  übersenden,  welche  Seine  Majestät  der  Kaiser  dem  Groß- 
fürsten Thronfolger  mitgegeben  hat.  In  dieser  Aufzeichnung  findet 
sich  dasjenige  zusammengefaßt,  was  unser  allergnädigster  Herr  Seiner 
Kaiserlichen  Hoheit  über  die  Ziele  des  Dreibundes  gesagt  hat. 

Marschall 

Aufzeichnung 

La  triple  alliance  loin  d'avoir  des  tendances  agressives  a  au  con- 
traire  un  but  eminemment  defensif  et  pacifique;  eile  a  ete  dictee  par 
l'instinct  de  conservation  des  puissances  signataires. 

Avant  de  former  cette  union  les  trois  puissances  se  sont  rendu 
compte  des  graves  dangers  qui  menacent  aujourd'hui  les  monarchies 
de  la  part  de  la  Republique  Frangaise  et  des  partisans  de  la  doctrine 
revolutionnaire  disseminee  un  peu  partout  sous  des  noms  divers.  Cette 
communaute  des  interets  monarchiques  formant  une  des  bases  princi- 
pales  de  l'alliance,  toute  puissance  ayant  des  interets  identiques  pour- 
rait  s'y  joindre. 

Le  terrain  politique  toutefois  n'est  pas  le  seul  oü  se  rencontrent 
les  interets  des  puissances  alliees.  II  s'agit  aussi  de  creer  par  des  Con- 
ventions d'ordre  economique  une  communaute  sur  le  terrain  des  interets 
materiels  dans  le  double  but  de  diminuer  en  Europe  les  chances  de 
conflit  arme  et  de  faire  face  aux  tendances  de  la  grande  Republique 
d'outre  mer  qui  visent  l'exclusion  complete  du  commerce  europeen 
dans  l'Amerique  entiere. 


*  Der   Erlaß   Nr.  49   betrifft  die   aus   dem  voraufgehenden   Schriftstück   bekannte 
Unterredung  des  Kaisers  mit  dem  russischen  Thronfolger. 

244 


Nr.  1528 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi* 

Ausfertigung 

Nr.  110  St.  Petersburg,  den  30.  April  1893 

pp.  Auf  Frankreich  zurückkommend  sagte  Herr  von  Qiers,  es  be- 
stände keine  Allianz  mit  diesem  Lande;  nach  Bildung  des  Dreibunds 
hätte  Rußland  sich  aber  doch  für  eventuelle  Fälle  nach  einem  Ver- 
bündeten umsehen  müssen,  Frankreich  aber  würde  nie  einen  Angrifi 
auf  Deutschland  wagen,  ohne  der  Unterstützung  Rußlands  sicher  zu  sein, 
und  die  würde  ihm'*'*  nie  durch  den  so  friedliebenden  Kaiser  Alexan- 
der zuteil  werden,  welcher  durchaus  den  Frieden  wolle***.  Lebte  der 
hochselige  Kaiser  noch,  so  könnte  man  dieses  nicht  mit  solcher  Be- 
stimmtheit behaupten.    Diese  Ansicht  habe  auch  ich  immer  verfochten. 

Naturgemäß  kam  nun  der  Minister  auf  die  stete  Vermehrung  der 
stehenden  Heere  zu  sprechen  und  stellte  die  Frage  auf,  ob  die  Staaten 
bei  den  eminenten  Friedensaussichten  nicht  einen  Vertrag  schließen 
könnten,  durch  welchen  die  Heeresmacht  eines  jeden  Staates  festgestellt 
würde  1. 

Natürlich   eine  sehr  gut  gemeinte,  aber  ganz  unpraktische  Idee. 

Herr  von  Schischkin,  welcher  mich  gestern  besuchte,  wiederholte 
mir,  ohne  dazu  aufgefordert  zu  sein,  die  Bedingungen  für  einen  langen 
Frieden  lägen  jetzt  so  außerordentlich  günstig 2. 

Der  Minister  und  sein  Gehülfe  teilen  also  in  erfreulicher  Weise  die 
Ansicht  über  die  Friedensaussichten 3.  v. Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Aber  Giers! 

2  daß  man  ordentlich  ängstlich  werden  kann. 

3  so  lange  es  ihm  paßt 

Nr.  1529 

Der  Botschalter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  219  Paris,  den  28.  September  1893 

Täuschen  mich  meine  Beobachtungen  nicht,  so  würde  die  fran- 
zösische   Regierung   viel    darum    geben,    wenn    die   russische    Flotten- 

*  Der  Bericht  wird  vollständig  abgedruckt  in  Kap.  L,  Nr.  1655;  der  Schluß  ist  hier 
des  Zusammenhangs  wegen  aufgenommen. 

•*  Im  Texte  steht  „ihnen",  was  wohl  nur  ein  Schreibfehler  ist. 
***  Ganz  ähnlich  hatte   sich    Herr  von  Giers  kurz  zuvor  gegen   den    österreich- 
ungarischen Minister  Grafen  Kälnoky  geäußert.    Vgl.  Kap.  L,  Nr.  1656. 

245 


demonstration*  unterblieben  wäre^.  Durch  sie  werden  die  Beziehungen 
zu  Rußland  nicht  verbessert,  die  hiesige  Regierung  kommt  in  eine 
sehr  schwierige  Lage,  und  wenn  irgendetwas  Herrn  von  Mohrenheim 
den  Hals  hier  brechen  könnte,  so  ist  sein  jetziges  taktloses  Benehmen 
ganz  dazu  angetan.  Er  hat  erst  eine  großartige  Feier  in  Szene  gesetzt, 
hat  von  dieser  als  von  einem  welterschütternden  Ereignis  gesprochen 
und  wird  von  Petersburg  nun  gezwungen,  den  Eifer,  den  er  hervor- 
gerufen, zu  mäßigen.  Es  zeigt  sich  immer  mehr,  daß  der  ganze  Russen- 
kultus chauvinistische  Straßenpolitik  ist,  welche  die  Russen  so  lange 
geschehen  lassen  und  gern  sehen,  bis  von  ihnen  Gegenleistungen  in 
Form  schriftlicher  Abmachungen  verlangt  werden.  Die  Franzosen  fangen 
an,  das  zu  begreifen,  und  sagen  sich:  Die  Tripelallianz  beruht  auf 
Verträgen,  wo  ist  unser  Vertrag  mit   Rußland? 

Drumont  in  seiner  „Libre  parole''  gab  dieser  Idee  Ausdruck,  indem 
er  sagte,  die  Verlobungsfeierlichkeiten  hätten  lange  genug  gedauert, 
es  sei   endlich   Zeit,   die   Ehe   zu  vollziehen. 

Das   ist   der   wunde   Punkt   für   die   Regierung. 

Ich  habe  schon  äußern  hören,  daß  sie  kürzlich  wieder  den  Versuch 
gemacht  habe,  schriftliche  Erklärungen  von  Rußland  zu  erlangen**, 
und  daß  sehr  ausweichend,  aber  doch  ablehnend  geantv^ortet  worden 
sei.  Ob  dies  so  ist,  habe  ich  noch  nicht  konstatieren  können,  halte 
es  aber  nicht  für  unmöglich  und  glaube,  daß  Graf  Montebello,  mit 
dem  man  nicht  sehr  zufrieden  sein  soll,  deshalb  herbeordert  wurde,  pp. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Das  glaube  auch   ich 


*  Gemeint  ist  der  von  dem  französischen  Botschafter  in  Petersburg  Grafen  Monte- 
bello seit  längerem  betriebene  Besuch  der  russischen  Flotte  in  Toulon,  im  Hin- 
blick auf  den,  obwohl  er  erst  für  den  13.  Oktober  angesetzt  war,  schon  seit  Mitte 
September  ganz  außerordentliche  Festvorbereitungen  getroffen  wurden.  Über  den 
Verlauf  der  Festtage  in  Toulon  und  Paris,  wohin  der  führende  russische  Admiral 
mit  50  Offizieren  und  30  Seeleuten  für  acht  Tage  (17.— 25.  Oktober)  kam,  siehe 
Kap.  XLVIII.  Vgl.  Schultheß'  Europäischer  Geschichtskalender  Jg.  1893,  S.  239  ff. 
**  In  der  Tat  hatte  eben  damals  die  französische  Regierung  einen  neuen  Anlauf 
genommen,  um  zum  endgültigen  Abschluß  der  schon  im  August  1892  vereinbarten 
Militärkonvention  zu  gelangen.  Doch  dauerte  es  noch  bis  zum  Ende  des  Jahres, 
ehe  sie  ihr  Ziel  erreichte.  Immerhin  konnte  Botschafter  Graf  de  Montebello  am 
7.  September  1893  an  den  Nachfolger  Ribots,  Develle  schreiben:  „Nous  avan^ons 
ainsi  doucement  peut-etre  mais  sürement  au  but."  Von  Interesse  ist  auch  Monte- 
bellos  Bemerkung:  „L'Empereur  a  toujours  agi,  depuis  un  an,  en  vue  de  I'exe- 
cution  de  cette  Convention.  Le  travail  de  concentration  de  ses  forces  militaires 
vers  les  froiitieres  d'AUemagne  et  d'Autriche  s'est  poursuivi  avec  une  regulajite 
qui  ne  s'est  pas  un  instant  dementee;  les  armements  continuent;  il  est  question, 
pour  compenser  l'augmentation  des  forces  allemandes  d'augmenter  aussi  l'effectif 
russe."  Oelbbuch  L'Alliance  Franco-Russe  p.  187.  Ob  freilich  die  Äußerungen 
des  französischen  Botschafters  gerade  in  bezug  auf  den  Zaren  vollkommen  zu- 
treffen, muß  dahingestellt  bleiben.  Im  ganzen  gewinnt  man  doch,  obwohl  die 
erste   Anregung   zu  dem  „accord  diplomatique"   im  Sommer   1891   von  Rußland 

246 


Nr.  1530 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi,  z.  Z.  in  Karlsbad,  an  den  Staats- 
sekretär des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Privatbrief.  Eigenhändig* 

Karlsbad,  den  24.  September  18Q3 

pp.  Diesen  Tagen**  sehe  ich  mit  Spannung  entgegen.  Es  gehört 
nicht  viel  dazu,  um  die  ernstesten  Folgen  heraufzubeschwören.  Es 
scheint  mir  richtig,  daß  Graf  Münster  an  den  Tagen  in  Paris  ist. 
Wir  sind  in  einer  andern  Lage  als  Fürst  Bismarck  im  Schnaebele- 
Fall***;  wir  können  uns  nicht  soviel  bieten  lassen.  Ich  würde  wünschen, 
daß,  wenn  der  Dreibund  in  irgendeiner  Form  beleidigt  wird,  wir 
Italien  den  Vortritt  ließen,  um  dessen  sicher  zu  bleiben  und  dadurch 
auch  eher  ein  Bindeglied  zu  England  hin  zu  finden.  Ich  weiß  nicht, 
ob  Graf  Münster  den  Dreibundsvertrag  kennt,  ob  er  weiß,  daß  auch 
Österreich  gebunden  ist,  Italien  zu  helfen,  wenn  es  angegriffen  wird? 
Sollte  man  Graf  Münster  noch  Anhaltspunkte  geben?    pp. 

V.  Caprivi 


Nr.  1531 

Der  Gesandte  in  Kopenhagen  Freiherr  von  den  Brincken  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  Q7  Kopenhagen,  den  13.  Oktober  1S93 

Vertraulich 

Der  Kaiser  von  Rußland  hat  heute,  Freitag,  den  13.  Oktober, 
dem  Festtage  von  Toulon,  das  hier  vor  Anker  liegende  französische 
Kriegsschiff  „Isly"  in  Begleitung  des  Großfürst-Thronfolgers  und  des 
Großfürsten   Michael   mit   seinem    Besuche   beehrt. 

Meinem  gehorsamsten  Dafürhalten  nach  würde  es  über  den  Rahmen 
der  von  hier  aus  zu  erstattenden  ehrerbietigen  Berichte  hinausgelien, 
wenn  ich  versuchen  wollte,  die  ganze  großpolitische  Bedeutung  und 
Tragweite  dieses  Vorganges  von  den  verschiedenen  dabei  in  Betracht 
kommenden  Gesichtspunkten  aus  einer  allgemeinen  und  eingehenden 
Erörterung  zu   unterziehen. 


ausgegangen  zu  sein  scheint,  aus  dem  französischen  Gelbbuch  L'Alliance  Franco- 

Russe   wie   aus  den  deutschen   Akten  den  gleichen   Eindruck,   daß  in   bezug  auf 

den  Zweibund  Frankreich  das  treibende,  Rußland,  zumindest  der  Zar  und  Oiers, 

hin  und  wieder  das  retardierende  Element  gewesen  seien. 

*  Den  ersten  Teil  des  Briefes  siehe  in  Kap.  L,  Nr.  1664. 

**  Gemeint  sind  die  Tage  des  russischen  Flottenbesuchs  in  Toulon. 

***  Vgl.  Bd.  VI,  Nr.  1237  ff. 

247 


Ich  glaube  sonach  mich  darauf  beschränken  zu  dürfen,  Euerer  Ex- 
zellenz gegenüber  nur  kurz  hervorzuheben,  daß,  abgesehen  von  den 
jetzt  etwas  verspätet  und  ängsthch  von  offizieller  dänischer  Seite  zu- 
tage tretenden  Äußerungen  zur  Sache,  mir  hier  in  dänischen  und  diplo- 
matischen Kreisen  die  Anschauung  Boden  gefaßt  zu  haben  scheint, 
daß  in  der  Hierherkunft  der  französischen  Kriegsschiffe  und  in  dem 
heutigen  Besuch  des  Zaren  an  Bord  des  „Isly"  ein  hochv/ichtiges 
Ereignis  erblickt  werden  müsse,  welches  den  eigentlichen  Schwer- 
punkt der  französisch-russischen  Verbrüderung  sozusagen  von  Toulon 
nach   Kopenhagen   verlege. 

Daneben  begegne  ich  auch  noch  der  Ansicht,  daß  es  für  die  un- 
beteiligte Beurteilung  immer  nur  schwer  verständlich  bleiben  werde, 
aus  welchem  Beweggrunde  der  Kaiser  Alexander,  möge  die  Anwesen- 
heit der  französischen  Kriegsschiffe  in  Kopenhagen  nun  auf  seine 
Initiative  oder  ledigUch  auf  seine  Duldung  zurückgeführt  werden,  gerade 
den  gegenwärtigen  Augenblick  gewählt  habe,  um  hier  persönlich  für 
die  französisch-russische  Entente  in  ostensibler  Weise  einzutreten,  ohne 
dabei  zu  erwägen,  daß  dieses  in  Berlin  ganz  naturgemäß  verstimmen  i 
müsse,  wo  Rußland  doch  auch  besonders  jetzt  die  für  seine  Inter- 
essen anscheinend  dringend  gebotene  Annäherung  an  Deutschland  auf 
handelspolitischem   Gebiet*   zu   suchen   genötigt   sei. 

Bei  Erörterung  der  Frage,  wie  weit  Dänemark  in  dieser  ganzen 
Sache  mitbeteiligt  ist,  bzw.  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird,  scheint 
mir  allerdings  der  Umstand  nicht  unwesentlich  ins  Gewicht  zu  fallen, 
daß  der  vorgedachte  Verbrüderungsakt,  welcher  durch  den  Kaiser 
Alexander  auf  der  Reede  von  Kopenhagen  und  damit  unter  den  Augen 
des  dänischen  Hofes  und  der  dänischen  Regierung  heute  vollzogen 
ist,  als  durchaus  geeignet  erscheinen  muß,  um  die  Konnivenz  dieser 
letzteren  vor  der  Welt  zu  etablieren 2.  pp.  Brincken 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  O  nein!  das  sind  wir  schon  gewohnt. 

2  ja  besonders  der  Königin 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Vollkommen    einverstanden   sehr  guter    Bericht,   der  leider   nur   meine    Wahr- 
nehmungen bestätigt 

Nr.  1532 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  231  Paris,  den  17.  Oktober  1893 

Am    14.    kehrte    ich   nach    einem   kurzen    Aufenthalt   in    Biarritz, 
Arcachon  und  Bordeaux  hierher  zurück. 
*  Siehe  darüber  Kap.  L. 

248 


In  Bordeaux  fand  ich  schon,  daß  wegen  der  an  dem  Tage  er- 
folgenden Ankunft  der  russischen  Flotte  in  Toulon  die  ganze  Stadt 
mit  französischen  und  russischen  Fahnen  geschmückt  war,  dabei  Fest- 
vorstellung  mit    Prolog    und    Festgedichten. 

Die  Bordeauxer  Zeitungen  nahmen  aber  die  Sache  ruhiger,  und 
man  merkte,  daß  es  nur  der  Präfekt  gewesen,  welcher  die  ganze 
Demonstration   veranlaßt   hatte. 

Auf  allen  Stationen  zwischen  Bordeaux  und  Paris  wehten  russi- 
sche und  französische  Fahnen.  In  Paris  ist  der  Fahnenschmuck  bis 
zur  Lächerlichkeit  übertrieben:  Omnibusse  und  Droschken  fahren  mit 
großen    Fahnen    umher. 

In  Biarritz  dagegen  fand  ich  bei  dem  Großfürsten  Alexis  selbst, 
seiner  Umgebung  und  einigen  Russen,  die  ich  kenne,  eine  gewisse 
Geringschätzung  der  Franzosen  wegen  ihrer  jetzigen  Kriecherei.  Der 
Großfürst  war  in  seinen  Äußerungen  vorsichtiger  als  seine  Umgebung, 
er  meinte  aber  doch,  es  würde  ihm  lieber  gewesen  sein,  wenn  die 
feierliche  Begrüßung  und  Bewirtung  der  Offiziere  in  Toulon  und  nicht 
in  Paris  stattgefunden  hätte.  Die  anderen  Russen  sagten  geradezu, 
es  sei  der  ganze  Unfug  in  Paris  auf  Mohrenheim  zurückzuführen,  und 
es  sei  empörend,  daß  die  russischen  Offiziere  wie  Pfingstochsen  durch 
den  sozialistischen  Stadtrat  in  Paris  herumgeführt  und  im  Jardin  d'accli- 
mation,  dem  Orte,  wo  alle  wilden  Völkerschaften  ausgestellt  werden, 
bewirtet  werden  sollten. 

Als  ich  fragte,  warum  der  Admiral  Komarow,  der  die  Flotten- 
abteilung in  Amerika  führte,  nicht  nach  Toulon  gekommen  sei,  wurde 
mir  erwidert:  Admiral  Gervais  sei  vor  Kronstadt  nur  Konteradmiral 
gewesen,  Komarow  sei  Vizeadmiral  und  sei  außerdem  zu  sehr  homme 
du  monde  und  spreche  zu  gut  und  zu  gern  französisch.  Man  habe 
einen  einfachen  russischen  Seemann  haben  wollen.  Ein  solcher  sei 
Admiral  Avellane.  Er  spreche  eigentlich  kein  Französisch  und  könne 
daher  nur  das  sagen,  was  ihm  vorgeschrieben  wäre,  und  sich  durch 
den   Fluß   der  Rede  nicht  hinreißen  lassen. 

Der  Großfürst  sagte  mir,  es  sei  ihm  langweilig,  in  Biarritz  bleiben 
zu  müssen,  er  werde  aber  nicht  eher  nach  Paris  kommen,  als  bis  die 
Flottenabteilung  Toulon   verlassen  habe.  pp. 

Eine  Äußerung  eines  Adjutanten  des  Großfürsten  war  mir  inter- 
essant. Er  sagte:  „Die  Franzosen  wollen  Versprechungen  von  unserm 
Kaiser  erlangen,  schriftlich  gibt  aber  der  Kaiser  ihnen  nichts,  erlaubt 
auch  nicht,  daß  seine  Minister  sich  darauf  einlassen.  Das  hat  der  Kaiser 
seinen  Brüdern  bestimmt  erklärt,  und  was  unser  Kaiser  auf  solche 
Weise   sagt,   hält    er   ganz   sicher." 

„Alles,  was  die   Franzosen  jetzt  tun,   ist  verlorene  Mühe.** 

Ich  hoffe  und  glaube,  daß  dem   so  sein  möge. 

Alles  Übertreiben  straft  sich  selbst,  und  nach  dem  Rausche  folgt 
Unwohlsein. 

249 


über  die  Feste  und  den  Unfug  selbst  —  anders  läßt  sich  das,  was 
hier  geschieht,  nicht  bezeichnen  —  behalte  ich  mir  spätere  Bericht- 
erstattung vor.  pp. 

Münster 

Nr.  1533 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  246  Paris,  den  30.  Oktober  1893 

Kein  besiegtes  Volk  hat  sich  jemals  vor  dem  Sieger  so  ge- 
demütigt, als  wie  es  die  Franzosen  den  Russen  gegenüber  in  der 
vorigen  Woche  getan  i.  Die  russische  Flottenabteilung  verließ  endlich 
gestern  Toulon,  reich  beladen  mit  Geschenken,  welche  von  allen  Seiten 
Frankreichs,  selbst  von  den  französischen  Kolonien  zuströmten.  Die 
Geschenke  für  den  Admiral  allein  werden  auf  eine  halbe  Million  Franks 
geschätzt. 

Der  Präsident  dieser  Republik,  der  zu  groß  und  zu  stolz  war, 
um  dem  früheren  Präsidenten  und  tapfern  Soldaten  Mac  Mahon  die 
letzte  Ehre  zu  erweisen*,  kehrte  von  Toulon  zurück,  wohin  er  ging, 
um  sich  vor  dem  Herrscher  aller  Russen  in  den  Staub  zu  legend. 

Das  Telegramm  des  Zaren  an  den  Präsidenten  Carnot  wurde 
in  ganz  Frankreich  jubelnd  begrüßt  und  wird  angesehen  als  eine 
Sanktion  der  Allianz  durch  den  Kaiser.  In  der  Absicht  und  in  den 
Worten  selbst  liegt  das  gewiß  nicht. 

Nach  dem  ersten  Telegramm  des  Kaisers,  welches  aus  Versehen 
veröffentlicht  sein  soll,  herrschte  hier  eine  solche  Verstimmung,  daß 
Präsident  Carnot  die  Reise  nach  Toulon  aufgeben  wollte.  Mohren- 
heim, außer  sich  darüber,  erlangte  das  Versprechen,  daß  Seine  Majestät 
an  den  Präsidenten  der  Republik  nach  Toulon  ein  freundlicheres  Tele- 
gramm richten  würde.  Carnot  ging  darauf  nach  Toulon,  das  Tele- 
gramm, welches  er  durch  Mohrenheim  wahrscheinlich  schon  kannte, 
kam  versprochenermaßen.  Die  Komödie  war  gespielt,  und  die  Fran- 
zosen glauben  an  die  Allianz,  was  ihnen  fürs  erste  genügt. 

Ich  beehre  mich,  die  beiden  Telegramme  des  Zaren,  das  ver- 
stimmende und  das  beruhigende,  beizulegen,  ebenso  wie  das  Antwort- 
telegramm des  Präsidenten  Carnot  und  ein  Telegramm  des  Herrn 
von   Giers   an   Herrn  von  Mohrenheim**. 


*  In  seinem  Berichte  vom  25.  Oktober  (vgl.  Kap.  XLVIII,  Nr.  1603)  hatte  Graf 
Münster  erwähnt,  es  habe  einen  sehr  schlechten  Eindruck  gemacht,  daß  Präsident 
Carnot  an  der  Leichenfeier  für  den  früheren  Präsidenten  Marschall  Mac  Mahon 
(22.  Oktober),  bei  der  Graf  Münster  im  Auftrage  Kaiser  Wilhelms  II.  einen 
Kranz  niederlegte,  sich  überhaupt  nicht  beteiligte. 

**  Siehe  den  Wortlaut  der  Telegramme  (in  deutscher  Obersetzung)  in  Schultheß' 
Europäischer  Geschichtskalender  Jg.   1893,  S.  239  f.,  241  f. 

250 


Ich  muß  oft  an  den  Ausspruch  des  ersten  Napoleon  denken, 
wenn  er  sagte:  „Au  siecle  prochain  l'Europe  sera  repubUcaine  ou 
cosaque!" 

Die  verblendeten  Franzosen  tun  alles  dazu,  um  diesen  Ausspruch 
wahr  zu  machen. 

Als  Napoleon  das  sagte,  sah  er  nicht  voraus,  daß  aus  dem  zer- 
stückelten Deutschland  ein  mächtiges  Reich  entstehen  würde,  dessen 
große  welthistorische  Aufgabe  es  ist,  ein  Damm  gegen  die  Invasion 
der  östlichen  Barbaren  und  ein  Hort  für  die  Monarchie  zu  sein. 
Von  zwei  Seiten  wird  es  bedroht,  von  außen  durch  die  Koalition 
der  östlichen  und  westlichen  Barbarei,  von  innen  durch  die  staats- 
gefährliche Partei,  welche  unter  dem  Deckmantel  des  Sozialismus  nichts 
anderes   will  als   den   Untergang  der  Monarchie  2. 

Den  äußeren  Feinden  gegenüber  müssen  wir  unser  Pulver  trocken 
halten.  Was  die  Feinde  der  Monarchie  betrifft,  so  müssen  wir  unsere 
Augen  weit  öffnen  und  uns  den  Blick  durch  philanthropische  Theorien 
nicht  trüben  lassen^. 

Wir  müssen  vor  allem  klar  darüber  sein,  was  unsere  Feinde 
wollen. 

Das  herabgekommene  Frankreich  träumt  noch  von  der  früheren 
Machtstellung,  die  Deutschland  zerstörte  und  für  sich  erkämpfte.  Es 
glaubt,  diese  nur  mit  Rußlands  Hülfe  wiedererlangen  zu  können. 

Einen  baldigen  Krieg  will  Frankreich  nicht,  will  ihn  aber  vor- 
bereiten, Deutschland  erst  schwächen  und  den  Dreibund  nach  und 
nach  beseitigen.  Der  Anfang  wird  mit  Italien  gemacht,  die  Fran- 
zosen hoffen,  dieses  nicht  reiche  Land  finanziell  zu  ruinieren  und  auf 
diese  Weise  in  ihre  Arme  zu  treiben.  Das  werden  sie  nicht  so  leicht 
erreichen,  als  sie  glauben,  zum  Verzvveiflungskriege  könnten  sie  es 
aber  treiben. 

Was  Österreich  betrifft,  so  rechnen  Frankreichs  Staatsmänner  vor 
allem  auf  die  Slawen  in  Österreich  und  hoffen,  daß  das  mächtigere 
Rußland  sie  an  sich  ziehen  und  der  österreichischen  Monarchie  ab- 
trünnig machen  wird.  Glücklicherweise  geht  das  alles  nicht  so  leicht, 
als  die  französischen  Politiker  sich  das  denken:  sie  vergessen,  daß 
sie  schließlich   doch   Italien  in   die  Arme  Englands  treiben. 

England  wird  durch  sie  selbst  gezwungen  werden,  Italien  zu  helfen, 
wenn  Rußland  im  Mittelländischen  Meere  sich  festsetzen  will.  Die 
Anwesenheit  der  englischen  Flotte  in  diesem  Augenblicke  in  den 
italienischen  Häfen  und  die  Art,  wie  sie  aufgenommen  wurde,  sollte 
ihnen  das  klarmachen. 

Sie  fangen   an,   das  zu  sehen,  und  sind  darüber  sehr  verstimmt. 

Vor  allem  überschätzen  sie  Rußlands  Macht  und  sehen  nicht, 
daß  sie  durch  ihre  republikanische  Propaganda  doch  schließlich  den 
Zaren   selbst  bedrohen. 

251 


Außerdem  rechne  ich  darauf,  daß  sie  über  kurz  oder  lang  die 
wirkHchen  Absichten  Rußlands  erkennen  und  einsehen  werden,  welche 
unwürdige  Rolle  sie  spielen. 

Wenn  französische  Blätter  es  schon  zu  sagen  wagen,  es  sei  gut, 
daß  Frankreich  wieder  einen  Herrscher  habe,  der  wirklich  Herr  Frank- 
reichs sei,  Alexander  III.,  so  muß  doch  der  bessere  Teil  der  Nation 
schamrot  werden.  Diejenigen,  die  das  noch  nicht  richtig  fühlen,  werden 
sich  doch  mit  der  Zeit  fragen  müssen,  was  Rußland  ihnen  für  alle 
ihre  Liebe  bietet.  Sie  werden  doch  eines  Tages  fühlen,  daß  die 
Russen  lieber  Geschenke  annehmen  als  geben,  und  daß,  wenn  sie 
Geschenke   geben,    diese    gewöhnlich   nichts   wert   sind. 

Der  Trost,  der  jetzt  überall  durch  die  offizielle  Presse  und  sonstige 
Äußerungen  durchklingt,  ein  wirklicher  Allianzvertrag,  ein  formelles 
Versprechen  Rußlands  sei  nicht  nötig,  die  beste  Allianz  läge  in  der 
Verbrüderung  der  Herzen  der  beiden  Völker,  wird  auf  die  Länge 
nicht  vorhalten.   — 

Am  14.  sollen  die  Kammern  zusammentreten,  und  es  wird  inter- 
essant sein  zu  sehen,  ob  und  wie  vom  Verhältnisse  Rußlands  zu 
Frankreich   die   Rede   sein   wird. 

Der  frühere  Ministerpräsident  und  Minister  der  auswärtigen  An- 
gelegenheiten Rene  Goblet,  der  sich  als  Sozialradikaler  hat  v^^ählen 
lassen  und  der  jetzigen  Regierung  heftige  Opposition  machen  will, 
hat  es  schon  angekündigt,  daß  er  von  der  Regierung  eine  bestimmte 
Erklärung  darüber  verlange,  ob  sie  wirklich  Versicherungen  von  Ruß- 
land in  bindender  Form  erlangt  habe.  Ich  kann  mir  kaum  denken, 
daß  er  unvorsichtig  genug  sein  wird,  um  das  sogleich  zu  tun.  Der 
Russenrausch  steckt  noch  zu  sehr  in  den  französischen  Köpfen,  und 
die  Regierung  würde  deshalb  jetzt  leichteres  Spiel  haben,  als  wenn 
er   mit   dieser    Frage   später   hervortritt. 

Was  Frankreich  will,  wissen  wir,  was  aber  Rußland  will*,  ist 
nicht  so  durchsichtig.  Die  russische  Diplomatie  ist  klüger  und  ver- 
steht es  von  jeher  musterhaft,  ihr  Spiel  zu  verdecken  und  zu  warten. 

Die  Geldfrage  spielt  zwar  eine  Rolle,  das  ist  aber  nicht  der 
wahre  Zweck  Rußlands.  Der  ist  die  Aufhebung  der  alten  Verträge, 
die  Unterjochung  der  Türkei,  die  Verbindung  des  Schwarzen  Meeres 
mit  dem  Mittelmeer.  Daß  das  so  auf  einmal  nicht  zu  erreichen  ist, 
wissen  die  schlauen  Russen  ganz  gut.  Sie  hoffen  und  glauben,  daß 
Frankreich,  durch  Haß  gegen  England,  Italien  und  gegen  uns  und 
durch  nationale  Eitelkeit  verblendet,  nicht  sehen  wird,  wohin  das 
führen  muß,  wenn  die  Russen  sich  im  Mittelländischen  Meere  fest- 
setzten und  als  die  überwiegende  Macht  im  Westen  europäische  Zivili- 
sation mit  Füßen  treten  und  ersticken  würden  i. 

Vorsichtiger  würde  es  von  russischer  Seite  gewesen  sein,  wenn  die 
Flottendemonstration  in  Cherbourg  in  Szene  gesetzt  worden  wäre; 
von  dort  aus  konnten  die  Schiffe  auch  in  das   Mittelmeer  gehen.    Die 

252 


Demonstration  in  Toulon  zeigt  zu  sehr,  was  ihr  Zweck  ist,  und  selbst 
viele  Franzosen  fangen  an  zu  fühlen,  wohin  das  alles  führen  kann. 

Die  Regierung  und  ihre  Organe  hatten  früher  zugegeben,  daß  Ruß- 
land einen  französischen  Hafen  als  Kohlen-  und  Überwinterungsstation 
zu  erhalten  wünsche  und  Besprechungen  darüber  eingeleitet  habe.  Es 
wird  das  mit  gewisser  Ostentation  geleugnet.  Die  Russen  werden  diese 
Absicht  nicht  aufgeben,  aber  sie  vorsichtiger  betreiben. 

Das  Geschwader  geht  erst  nach  Hyeres  auf  einige  Tage,  dann  nach 
Ajaccio,  wo  der  Admiral  weitere  Befehle  erhalten  soll.  Ich  vermute, 
daß  das  Geschwader  nicht  ganz  zusammenbleibt  und  einzelne  Schiffe 
in  die  griechischen  Gewässer,  eins  derselben  nach  Tunis  gehen,  und 
daß  eins  in  Villefranche   einen  Teil   des  Winters  zubringen   wird. 

Die  russisch-französische  Allianzfrage  wird  für  den  Augenblick 
wohl  ruhen.  Die  Franzosen  glauben  daran,  die  Russen  lassen  ihnen 
den  Glauben,  bis  der  Moment  kommt,  wo  die  Franzosen  nicht  mehr 
blind  alles  tun  werden,  was  die  Russen  wollen,  und  sie  einsehen, 
daß  sie  von  ihnen  auf  handelspolitischem  Gebiet  und  sonst  nichts 
erreichen  und  schließlich  die  Düpierten  sind 5. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Richtig 

2  im  Bunde  mit  dem  Vatikan 

3  richtig 

*  Constantinopel 

^  wer  zuletzt  lacht  lacht  am  besten 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Es  waren  die  Feste  eine  Illustration  zu  einer  Bemerkung,  die  Großfürst  Alexis 
im  vorigen  Jahre  gemacht:  Ces  imbeciles  de  Frangais  sont  toujours  prets  ä 
croire  tout  ce  que  l'on  veut  leur  faire  croire. 


Nr.  1534 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  283  St.  Petersburg,  den  27.  November  1 893 

Graf  Rex  hat  in  seinem  gehorsamsten  Bericht  vom  27.  v.  Mts. 
—  Nr.  262  —  Euerer  Exzellenz  bereits  angezeigt,  daß  die  Aufnahme 
der  russischen  Seeleute  seitens  der  Franzosen  in  Rußland  einen  großen 
Eindruck  gemacht  hat*. 


•  Das  wird  durch  den  Bericht  des  französischen  Geschäftsträgers  de  Vauvineux 
vom  23.  September  (Französisches  Gelbbuch  L'Alliance  Franco-Russe  Nr.  8Q)  be- 
stätigt. 

253 


Das,  was  ich  seit  meiner  Rückkehr  hier  sehe  und  höre,  bestätigt 
obige  Auffassung  und  nötigt  mich,  den  Erfolg,  den  die  Franzosen 
durch  diesen  Empfang  bei  den  Russen  erzielt  haben,  nochmals  hervor- 
zuheben. 

Es  unteriiegt  keinem  Zweifel,  daß  die  deutsch -französische 
„Entente"  in  ein  innigeres  Stadium  getreten  ist.  Man  betont  hier,  die 
Franzosen  hätten  gezeigt,  daß  sie,  wenn  erforderlich,  vernünftig  sein 
können,  somit  ist  die  Angst  vor  diesen  aufgeregten,  undisziplinierten 
französischen  Volksmassen  geschwunden;  ein  gewisses  Zutrauen  in 
den  französischen  Volksgeist  macht  sich  geltend.  Die  Russen  glauben 
den  Franzosen  für  den  großartigen  Empfang  Dank  schuldig  zu  sein, 
und  in  diesem  Gefühl  hat  der  Adel  des  Gouvernements  St.  Petersburg 
beschlossen,  dem  hiesigen  französischen  Botschafter  zu  Ehren  ein  Diner 
zu  geben,  welches  unter  Beteiligung  von  vielen  Adelsmarschällen  des 
Landes  in  der  Mitte  nächsten  Monats  stattfinden  soll. 

Ferner  ist  gestern  abend  seitens  des  unter  dem  Protektorate  der 
kaiserlichen  Majestäten  stehenden  Wohltätigkeitsinstituts  der  Kaiserin 
Marie  ein  „franko -russischer"  Maskenball  im  hiesigen  Adelssaal  ab- 
gehalten worden. 

Wie  ich  die  Situation  ansehe,  kann  ich  der  Behauptung  der  franko- 
russischen Presse,  daß  der  Friede  nunmehr  endgültig  gesichert  sei, 
nicht  zustimmen;  ganz  im  Gegenteil,  ich  sehe  in  dieser  innigen  Ver- 
brüderung eher  eine  Gefahr  für  den  Frieden  i.  Angesichts  der  Charaktere 
der  Franzosen  und  der  Russen  steht  zu  befürchten,  daß  sie  sich  bei 
etwaigen  politischen  Komplikationen  im  Vollgefühle  ihrer  vereinten 
Kräfte  zu  Schritten  hinreißen  lassen  werden,  welche  ernste  Folgen 
haben  könnten  2, 

Wohl  steht  einer  solchen  Eventualität  russischerseits  die  bekannte 
FriedensUebe  des  Kaisers  Alexander  entgegen;  es  fragt  sich  jedoch, 
ob  er  dann  den  Verhältnissen  noch  gewachsen  sein  wird  3.  Dadurch, 
daß  allerhöchstderselbe  den  franko-russischen  Verbrüderungsfesten 
freien  Lauf  gestattete,  hat  er  eine  Bewegung  in  seinem  Lande  ent- 
stehen lassen,  die  aufzuhalten  ihm  später  schwerfallen  dürfte. 

Ich  bin  der  Überzeugung,  daß,  solange  Herr  von  Giers  der  Berater 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  Alexander  in  auswärtigen  Angelegenheiten 
ist,  nichts  von  hier  aus  geschehen  wird,  was  den  Keim  zu  politischen 
Verwickelungen  legen  könnte;  wer  weiß  aber,  ob  sein  Nachfolger 
dieselbe   Vorsicht   und   Überlegung  besitzen   wird. 

Nicht  unerwähnt  möchte  ich  lassen,  daß  diese  Neigung  der  Russen 
für  Frankreich  für  mich  nichts  Überraschendes  hat.  Während  des  Krieges 
im  Jahre  1870/71  war  es  meiner  Ansicht  nach  einzig  und  allein  dem 
Kaiser  Alexander  zu  danken,  daß  jede  Intervention  zugunsten  Frank- 
reichs  unterblieb.  v.  Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Richtig  2  j^  3  sehr  richtig 

254 


Nr.  1535 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  305  St.  Petersburg,  den  26.  Dezember  1893 

Als  ich  neulich  bei  Herrn  von  Giers  war,  kam  im  Laufe  der 
Unterhaltung  auch  wieder  die  Rede  auf  die  nicht  endenwollcnden 
Ovationen,  welche  die   Russen   den   Franzosen  bereiten. 

Bälle,  Bazars,  Konzerte  usw.,  alles  segelt  unter  franko-russischer 
Flagge,   was  allerdings  sehr  oft  nur  zu  Reklamezwecken  dient. 

So  nannte  sich  z.  B.  ein  Wohltätigkeitsbazar,  an  dessen  Spitze 
viele  vornehme  Damen  der  hiesigen  Gesellschaft  standen,  franko-russi- 
scher Bazar,  und  warum?  Weil  die  Franzosen  sich  im  Falle  solcher 
Benennung  erboten  hatten,  sämtliche  Ausstattungskosten  für  denselben 
zu  tragen. 

Herr  von  Giers  tadelte  diese  Ovationen  auf  das  entschiedenste 
und  betonte  wieder,  wie  er  das  sehr  gern  tut,  daß  weder  er  noch 
irgendein  Mitglied  des  auswärtigen  Ministeriums  an  dem  Diner  für 
den  Grafen   Montebello   teilgenommen  habe. 

Ganz  besonders  aber  tadelte  er  die  Manifestationen  der  Offiziere 
und  erzählte  mir  einige  eklatante  Beispiele.  Unter  anderem  hat  auch 
der  bekannte  General  Kaulbars,  Chef  des  Generalstabes  des  finn- 
ländischen  Arrondissements,  sich  bemüßigt  gefunden,  hervorzutreten 
und  den  Franzosen  in  einem,  wie  Herr  von  Giers  sagt,  von  Eitelkeit 
und   Eingenommenheit   strotzenden    Briefe   zu   huldigen. 

Vielleicht  ist  es  auch  er  gewesen,  welcher  die  Gräfin  Olga  Heyden, 
Tochter  des  Generalgouverneurs  von  Finnland,  verführt  hat,  an  Madame 
Adam  ein  Huldigungsschreiben  zu  richten.  Ihr  Brief  und  die  für  die 
Russen  gar  nicht  besonders  schmeichelhafte  Antwort  ist  dann  ohne  ihr 
Wissen  in  den  Zeitungen  abgedruckt,  und  nun  ist  sie  außer  sich. 

Wunderbar  erscheint  es  aber,  daß  die  Tochter  des  Oeneral- 
gouverneurs  Grafen  Heyden  und  sein  Chef  des  Stabes  sich  gleichzeitig 
in  dieser  Weise  bemerkbar  gemacht  haben;  das  kann  doch  unmöglich 
ohne  sein  Wissen  und  Willen  geschehen  sein. 

Sonst  hat  sich  keine  vornehme  Dame  weder  durch  Briefe  noch 
durch  Teilnahme  an  Subskriptionen  für  ein  Geschenk  an  die  Madame 
Adam,  deren  schlechter  Ruf  nur  zu  bekannt  ist,  beteiligt. 

Herr  von  Giers  sagte  mir,  er  würde  Seine  Majestät  den  Kaiser 
Alexander  auf  die  Manifestationen  der  Offiziere  aufmerksam  machen  i, 
was  allerdings  schon  längst  hätte  geschehen  sollen;  ich  bestärkte  ihn 
darin  nach  besten  Kräften. 

Der  Erfolg,  man  kann  ja  jetzt  nur  sagen,  für  derartige  zukünftige 
Verhältnisse  ist  mir  sehr  zweifelhaft;  soweit  ich  die  Natur  des  aller- 

255 


höchsten  Herrn  kenne,  wird  sich  in  der  Sache  nichts  ändern.  Seine 
Majestät  übersehen  oft  die  Tragweite  der  Vorgänge  nicht  2,  wie  sich 
dies  z.  B.  bei  den  vor  mehreren  Jahren  so  in  Mode  gekommenen 
poHtischen  Reden  von  Generalen  zeigte. 

Ich  benutzte  die  Gelegenheit,  Herrn  von  Giers  zu  fragen,  ob  er 
Kenntnis  von  einem  Vorfall  habe,  welcher  in  dieses  Gebiet  schlüge, 
und  welcher  sich  gelegentlich  der  Jubiläumsfeier  des  Generals  Leer* 
bei  der  Beglückwünschung  desselben  durch  die  Militärattaches  ereignet 
hätte.  Da  er  es  verneinte,  erzählte  ich  ihm,  was  der  Hauptmann  Lauen- 
stein** in  seinem  Bericht  vom  17.  d.  Mts.  —  Nr.  88  —  Euerer  Ex- 
zellenz darüber  berichtet  hat. 

Ich  fügte  hinzu,  daß  er  sich  wohl  denken  könne,  wie  das  Ver- 
halten der  russischen  Offiziere  peinlich  für  die  fremden  Offiziere  ge- 
wesen wäre,  und  daß  er  es  wohl  begreiflich  finden  würde,  wenn  ich 
den  Hauptmann  Lauenstein  veranlaßte,  sich  nicht  wieder  an  militäri- 
schen Demonstrationen  zu  beteiligen,  ohne  die  Garantie  zu  haben, 
daß   dergleichen   nicht   wieder   vorkäme. 

Herr   von   Giers   stimmte   mir   vollkommen   bei. 

V.  Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Umsonst. 

-  richtig 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Das  thut  er  stets!    Er  wird  auch  fortfahren  Alles  unangenehme  zu  tadeln,  seine 
Hände  in  Unschuld  zu  waschen  und  nichts  zu  thun.   Und  Alles  wird  beim  Alten 
bleiben. 


Nr.  1536 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  18  Paris,  den  29.  Januar  1894 

Wenn  mich  meine  Beobachtungen  nicht  täuschen,  so  ist  die  hiesige 
öffentliche  Meinung  Rußland  gegenüber  entschieden  viel  kühler  ge- 
worden. Wie  weit  die  Regierung  selbst  ernüchtert  ist***,  läßt  sich 
noch    nicht    erkennen,    aber   auch    sie    muß    mit    der    Zeit    sich    doch 


*  Direktor  der  Nikolaus-Generalstabs-Akademie. 

*'  Nach  dem  Bericht  des  Hauptmanns  Lauenstein,  des  deutschen  Militärattaches  in 

Petersburg,  wäre  die   beglückwünschende   Rede  des  französischen  Militärattaches 

von  der  Versammlung  mit  ostentativem  Beifall  aufgenommen  worden. 

***  Sie  hatte  durchaus  keinen  Grund  ernüchtert  zu  sein,  da  um  die  Jahreswende 

1893/94  endlich  der  formelle  Abschluß  der  französisch-russischen  Militärkonvention 

erzielt  war.   Siehe  den  Text  im  Gelbbuch  L'AUiance  Franco-Russe  (1918),  p.  144  s. 

256 


sagen,  daß  die  Russen  gern  alle  Ovationen  entgegennehmen,  aber 
eine  praktische  Gegenleistung  nicht  aufzuweisen  ist.  Der  Russe  nimmt 
lieber,  als  er  gibt. 

Daß  der  übertriebene  Enthusiasmus  erkalten  würde,  habe  ich  er- 
wartet.   Wenn  Wasser  den  Siedepunkt  erreicht,  verdampft  es,    pp. 

Was  außerdem  abkühlend  wirkt,  sind  die  Verhandlungen  wegen 
des  deutsch-russischen  Handelsvertrags*.  Wenn  ich  gefragt  werde, 
ob  derselbe  zustandekomme  —  und  diese  Frage  tut  fast  jeder  Fran- 
zose, der  mich  sieht  — ,  so  antworte  ich  ganz  ruhig,  das  betrachtete 
ich  als  selbstverständlich  1,  und  ich  merke  deutlich,  daß  diese  Antwort 
keinen  angenehmen  Eindruck  macht.  Die  französischen  Kaufleute  und 
Industriellen  wünschen  es  zwar,  weil  durch  die  Frankfurter  Stipulation 
sie  für  gewisse  Artikel  der  Ausfuhr  denselben  Nutzen  haben  werden 
als  unsere  Industrie.  Die  französischen  Politiker  wissen  aber,  daß  aus 
einem  Zollkriege  unter  zwei  so  mächtigen  Nachbarstaaten  doch  schließ- 
lich ein  ernster  Krieg  entstehen  könnte,  und  sie  fürchten,  daß  der  Ab- 
schluß des  Handelsvertrages  unsere  Beziehungen  verbessern  müsse. 

Auf  der  hiesigen  Börse  soll  die  Stimmung  auch  für  Rußland  un- 
günstiger geworden  sein.  Es  ist  von  mancher  Seite  unter  der  Hand, 
auch  vom  Finanzministerium  aus,  gegen  den  Ankauf  russischer  Werte 
gewirkt  worden,  weil  man  befürchtete,  es  könne  dadurch  die  hiesige 
Konversion  der  ,4V2^/oigen  Rente  erschwert  werden. 

Besonders  unangenehm  hat  es  aber  berührt,  daß  die  hiesige  Eisen- 
industrie, welche  gehofft  hatte,  in  Rußland  ganz  festen  Fuß  zu  fassen, 
erfahren  hat,  daß  die  russische  Regierung  mit  deutschen  Fabriken  wegen 
sehr  großer  Lieferungen  von  Eisenbahnmaterial  verhandelt. 

Überschätzen  dürfen  wir  alle  diese  Anzeichen  nicht,  denn  auf  lange 
Zeit  noch  wird  das  französische  Kabinett,  uneingedenk  der  wahren 
Interessen  Frankreichs  im  Orient  und  im  Mittelmeer,  mit  Rußland 
liebäugeln,   pp.  Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Gut 

Nr.  1537 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  57  Paris,  den  17.  März  1894 

pp.   Was  die  politische  Lage  Frankreichs  nach  außen  betrifft,  so 

ist  sie  auch  nicht  glänzend. 

Seit  den  letzten   10  Jahren   ist  die  ganze  Politik  allein   auf  eine 

Allianz  mit  Rußland  und  auf  das  Zusammengehen  der  beiden  Nationen, 

*  Vgl.  Kap.  L,  Nr.  1666. 

17    Die  Große  Politik,   7.  3d.  257 


die  nichts  Gemeinsames  haben  als  den  Haß  gegen  Deutschland,  basiert 
worden.  Man  hat  von  beiden  Seiten  den  Nationen  vorgeschwindelt, 
daß  ein  Einverständnis,  eine  AUianz  bestehe.  Durch  die  Vorgänge  in 
Kopenhagen*,  durch  den  Abschluß  unseres  Handelsvertrages  mit  Ruß- 
land**  ist   der  Schleier   zerrissen,    manche   Illusion   zerstört. 

Frankreich  beginnt  wieder  zu  fühlen,  daß  es  politisch  allein  steht, 
und  die  Schuld  dafür  wird  ungerechterweise  dem  Präsidenten  Carnot 
und  den  jetzigen  Machthabern  zugeschoben  werden. 

Der  Abschluß  unseres  Handelsvertrages  hat  einen  tiefen  Eindruck 
gemacht. 

Die  Geschäftswelt,  welche  hofft,  aus  diesem  Vertrage  Nutzen  zu 
ziehen,  außerdem  darin  eine  Garantie  für  den  Frieden  erblickt,  ist 
sehr  zufrieden,  wagt  aber  nicht,  es  zu  sagen.  Die  Politiker  aber,  die 
sogenannten  Patrioten  und  Revanchehelden  sind  natürlicherweise  ver- 
stimmt. Sie  verstehen  die  Bedeutung  besser  als  viele  unserer  Parla- 
mentarier i. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
^  Jawohl!  besonders  von  Rechts! 


Nr.  1538 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Füisten  von  Hohenlohe 

Ausfertigung 

Nr.  286  Paris,  den  27.  November  1894 

Das  ganze  republikanische  Frankreich  hat,  dem  Beispiele  von 
Paris  folgend,  den  verewigten  Kaiser  Alexander  III.  als  Friedens- 
fürsten und  Erretter  Frankreichs  betrauert  und  so  gefeiert,  wie  es 
einen  eigenen  beliebten  Monarchen  nicht  hätte  mehr  feiern  können. 
Dabei  ist  ganz  vergessen,  wie  derselbe  Kaiser  noch  vor  wenigen 
Jahren  von  den  Republikanern  als  Autokrat  und  despotischer  Tyrann 
mit  Abscheu  genannt  wurde. 

Wenn  auch  bei  diesem  so  leicht  erregbaren  Volke  solche  Auf- 
wallungen vorübergehen  und  oft  ganz  umschlagen,  so  ist  doch  die 
politische  Tragweite  dieser  Kundgebungen  durchaus  nicht  zu  unter- 
schätzen. 

Die  Regierung,  ihre  Organe  und  fast  die  ganze  Presse  haben  diese 
Demonstrationen  hervorgerufen  und  mit  allen  Mitteln  begünstigt.  Sie 
wollen   der  Welt  zeigen  und  in   Frankreich  selbst  den   Glauben   ver- 


•  Vgl.  dazu  Schultheß'    Europäischer  Geschichtskalender  Jg.   1S94,  S.  262. 
**  Er  war  am  9.  Februar  189-i  erfolgt    Vgl.  Kap.  L,  Nr.  1667. 

253 


breiten  und  befestigen,  daß  Frankreich  mit  Rußland  eng  verbunden, 
nicht  mehr  isoliert  und  wieder  die  mächtige  Grande  Nation  ist,  — 

Unsicher  fühlen  sich  die  französischen  Staatsmänner  dem  Kaiser 
Nikolaus  II.  gegenüber,  und  je  weniger  sie  ihm  trauen,  je  mehr  buhlen 
sie  um  seine  Gunst, 

Bis  jetzt  scheinen  die  französischen  Liebkosungen  in  St,  Peters- 
burg ganz  gern  gesehen  zu  werden. 

Zuerst  trieb  Furcht  vor  einem  neuen  Kriege  mit  uns  die  Fran- 
zosen in  die  Arme  Rußlands:  sie  gaben  sich  ganz  hin,  ohne  die  wirk- 
liche Ehe,  die  Allianz,  abzuwarten.  Krieg  will  Frankreich  entschieden 
nicht  und  denkt  schon  an  die  Ausstellung  von  1900,  Rußland  will 
ihn  auch  nicht.  Die  beiden  Nationen  wollen  sich  aber  gegenseitig 
politisch    ausnützen;   dabei    wird   der    Löwenanteil    Rußland    zufallen. 


PP.* 


Münster 


♦  Den  Schluß  des  Berichts  siehe  in  Bd.  IX,  Nr.  2164. 


250 


i 


Kapitel  XLVIII 

Deutsch -Französische  Beziehungen 
1890-1894 


I 


Nr.  1539 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  15  Paris,  den  12.  Februar  1890 

Antwort  auf  Erlaß  Nr.  42*. 

Habe  Auftrag  gestern  abend  ausgeführt.  Herr  Spuller**  war  voller 
Bewunderung  über  die  edlen  Absichten  Seiner  Majestät  und  nannte 
es  ein  beachtenswertes  Zeichen  der  Zeit,  daß  eine  solche  Initiative 
vom  mächtigsten  Monarchen  ausgehe.  Über  die  Frage  selbst  wolle  er 
sich  erst  äußern,  nachdem  sie  im  Ministerrat  beraten,  und  stellte  er 
mir  Antwort  auf  Ende  der  Woche  in  Aussicht.  Münster 

Nr.  1540 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Fürsten  von  Bismarck 

Ausfertigung 
Nr.  66  Paris,  den  6.  März  1890 

Soeben  vor  Abgang  des  Beamten,  den  ich  nach  Köln  sende,  kehre 
ich  aus  der  Kammer***  zurück. 

Der  Deputierte  Laur,  Boulangist  und  früher  Bergwerksbeamter 
des  Grafen  Guido  Henckel,  griff  auf  heftige  Weise  die  Regierung  an 
und   stellte   die    Elsaß-Lothringer   Frage   in   den   Vordergrund. 

Er  fand  keinerlei  Anklang  in  der  Kammer. 

Herr  Spuller  dagegen  hielt  eine  sehr  ruhige,  vorzügliche  Rede, 
in  der  er  sehr  geschickt  das  Vorgehen  der  Regierung  motivierte  und 
nachwies,  daß  das  demokratische  Frankreich  sich  nicht  da  ausschließen 
könne,  wo  über  das  Wohl  der  Arbeiter  verhandelt  werden  solle. 

Es  wurde  seine  Rede  vortrefflich  aufgenommen,  und  beim  Ver- 
lassen der  Tribüne  zollten  gut  zwei  Drittel  der  Deputierten  ihm  stürmi- 
schen Beifall. 

*  Durch  Erlaß  Nr.  42  vom  8.  Februar  1890  hatte  Graf  Münster  den  Auftrag  er- 
halten, die  französische  Regierung  zur  Teilnahme  an  der  geplanten  internationalen 
Arbeiterschutzkonferenz  einzuladen.  Siehe:  Das  Staatsarchiv  Bd.  51,  S.  212. 
■**  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  Tirard  (Februar  1889  bis  März  1890). 
♦**  Die  Annahme  der  Einladung  zur  Arbeiterschutzkonferenz,  die  die  französische 
Regierung  am  27.  Februar  im  Prinzip,  endgültig  aber  erst  am  7.  März  aussprach 
(vgl.:  Das  Staatsarchiv  Bd.  51,  S.  220),  hatte  eine  Interpellation  in  der  franzö- 
sischen Kammer  zur  Folge,  der  Minister  Spuller  nach  einem  Berichte  Münsters  vom 
5.  März  mit  großer  Besorgnis  entgegensah. 

263 


Darauf  hielt  der  Boulangfist  Milleroi  eine  heftige  Rede  und  wollte 
auf  die  allgemeine  auswärtige  Politik  übergehen,  wurde  aber  wieder- 
holt vom   Präsidenten  zur  Sache  gerufen. 

Darauf  wurde  der  Schluß  der  Debatte  verlangt,  wobei  Cassagnac 
das  Wort  erhielt  und  unter  dem  lauten  Beifall  des  ganzen  Hauses 
erklärte,  daß  nichts  schädlicher  und  unpatriotischer  sein  könne,  als 
allgemeine  Debatten  über  die  auswärtige  PoUtik  zu  verlangen. 

Sowie  es  sich  um  auswärtige  Fragen  handle,  verlange  es  der 
Patriotismus,  daß  der  Regierung  allein  die  Verantwortung  überlassen 
werde. 

Darauf  beantragte  Herr  Spuller  die  einfache  Tagesordnung  und 
bat  das   Haus   um   ein  einstimmiges  Votum. 

Von  484  Stimmen  stimmten  480  für  und  nur  4  gegen  den  Vor- 
schlag des  Ministers. 

Einen  solchen  Erfolg  hat  niemand,  am  wenigsten  Herr  Spuller 
erwartet,  und  schien  er  wahrhaft  erfreut  darüber.  Münster 


Nr.  1541 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Ausfertigung 
Nr.  88  Paris,  den  1.  April  18Q0 

Ich  bin  hier  seitens  des  Präsidenten  und  der  Minister*,  die  ich 
sah,  auf  das  allerfreundlichste  und  liebenswürdigste  aufgenommen 
worden.  Es  war  hier  das  Gerücht  verbreitet  gewesen,  daß  ich  nicht 
zurückkehren  würde. 

Bald  nach  meiner  Rückkehr  am  Sonntage  besuchte  mich  Herr 
von  Freycinet.  Er  sagte,  daß  der  Rücktritt  des  Fürsten  Bismarck 
hier  größeres  Aufsehen  als  anscheinend  in  Berlin  und  eine  gewisse 
Beunruhigung  hervorgerufen  habe.  Man  habe  ihn  für  den  Erhalter 
des  Friedens  gehalten  und  habe  einen  Augenblick  gefürchtet,  daß 
es  jetzt  anders  werden  könne. 

Er  selbst  habe  diese  Befürchtungen  nicht  geteilt  und  habe  das 
größte  Vertrauen  zu  unserm  Kaiser,  da  alle  Maßregeln,  alle  Kund- 
gebungen bewiesen,  daß  Seine  Majestät  nur  das  Wohlergehen  seiner 
Untertanen  aller  Klassen  wolle,  und  das  mit  kriegerischen  Tendenzen 
unvereinbar  sei. 

Ich  konnte  das  nur  in  jeder  Hinsicht  bestätigen  und  habe  gesucht, 
seine  Ansichten  zu  bestärken. 

Gestern  war  ich  beim  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten, 
Herrn  Ribot,  der  mich  auch  Sonntag  besucht,  aber  verfehlt  hatte. 

Der  Minister  sprach  seine  große  Befriedigung  über  das  aus,  was 

*  Inzwischen   war  an   die  Stelle   des   Kabinetts  Tirard   um  die   Mitte   März  das 
Kabinett  de  Freycinet  mit  Ribot  als  Außenminister  getreten. 

264 


der  Botschafter  Herbette  über  die  Äußerungen  Seiner  Majestät  unseres 
Kaisers  berichtet  habe. 

Auch  sagte  Herr  Ribot,  daß  Herr  Jules  Simon*  ihn  soeben  ver- 
lassen und  sich  sehr  befriedigt  über  die  Aufnahme,  die  ihm  und  der 
französischen  Deputation  zuteil  geworden  sei,  sowie  über  das  Resultat 
der  Konferenz  geäußert  habe.  Er  meinte:  „II  est  revenu  tout  ä  fait 
AUemandV 

Darauf  sagte  Herr  Ribot,  er  hoffe  aufrichtig,  daß  die  Beziehungen 
zwischen  unseren  beiden   Nationen   sich  stetig  bessern   werden 2. 

Wesentlich  dazu  beitragen  würde  vor  allem  die  Aufhebung  des 
Paßzwanges  für  Elsaß-Lothringen** 3.  Diese  Maßregel  habe  von  Anfang 
an  viel  böses  Blut  gemacht  und  sehr  schmerzlich  berührt,  sie  habe 
wesentlich  dazu  beigetragen,  die  Stimmung  gegen  Deutschland  zu  verbittern 

Es  ist  dieses  das  erstemal,  daß  mir  gegenüber  ein  französischer 
Minister  über  die  Pässe  gesprochen  hat.  Alle  Minister  hatten  es  bisher 
ängstlich    vermieden. 

Ich  erwiderte  darauf,  daß  diese  Maßregel  durch  die  Agitation 
veranlaßt  wurde,  die  von  hier  aus  ganz  systematisch  betrieben  und 
genährt  worden   sei. 

Solle  überhaupt  von  Aufhebung  des  Paßzwanges  die  Rede  sein*, 
so  müssen  wir  erst  die  Überzeugung  gewinnen,  daß  die  französische 
Regierung  solche  Agitationen  mißbillige  und  uns  helfen  werde,  uns 
davor  zu  schützen. 

Herr  Ribot  erwiderte  darauf,  daß  die  Bekämpfung  des  Boulangis- 
mus  und  die  Maßregeln  gegen  Deroulede  und  die  Ligue  des  Pa- 
triotes***  bewiesen,  daß  die  jetzigen  Machthaber  Frankreichs^  eine 
solche  Agitation  nicht  mehr  wollten  und  mißbilligten.  — 

*  Senator  Jules  Simon  war  der  Führer  der  französischen  Delegation  zur  Arbeiter- 
schutzkonferenz gewesen,  die  vom  15.  bis  2Q.  März  1890  in  Berlin  tagte.  Kaiser 
Wilhelm  hatte  zu  der  Ankündigung  der  Wahl  Simons  bemerkt,  „freue  mich  sehr, 
ihn  zu  sehen",  und  ihn  dann  in  Berlin  mit  besonderer  Auszeichnung  behandelt, 
ihm  sogar  die  neuerschienene  Ausgabe  der  musikalischen  Werke  Friedrichs  des 
Großen  nebst  einem  Handschreiben  übersandt.  Seinerseits  hat  sich  Jules  Simon  in  den 
Aufsätzen,  die  er  nach  seiner  Rückkehr  nach  Paris  in  der  von  ihm  herausgegebenen 
„Revue  de  Familie"  über  die  Berliner  Konferenz  veröffentlichte,  sehr  anerkennend 
über  den  Kaiser  geäußert,  dem  er  ganz  wesentlich  das  Verdienst  für  das  Gelingen 
der  Konferenz  zuschreibt:  „C'etait  son  oeuvre  personnelle,  et  certainement  l'un 
des  evenements  importants  du  debut  de  son  regne.  J'ai  eu  l'honneur  de  m'entre- 
tenir  avec  lui  ä  plusieurs  reprises.  Je  ne  citerai  de  ces  conversations  qu'une  seule 
phrase:  »J'ai  reflechi  que,  dans  ma  position,  il  vaut  mieux  faire  du  bien  aux 
hommes  que  de  leur  faire  peur.«  Oui,  Majeste,  cela  vaut  mieux  devant  Dieu  et 
devant  l'Histoire."  Revue  de  Familie,  Livraison  du  1.  Mai  ISQO. 
**  Vgl.  dazu  Bd.  VI,   Kap.  XL,   Nr.  1284. 

♦**  Sie  war  am  28.  Februar  1889  aufgelöst  worden,  aber  nidit  wegen  ihrer  Deutschen- 
hetze, sondern  wegen  ihres  Auftretens  zugunsten  des  sogenannten  freien  Kosaken 
Aschinow,  den  die  französische  Regierung  mit  Gewalt  an  der  Gründung  einer 
russischen  Kolonie  in  der  französischen  Einflußsphäre  am  Roten  Meer  gehindert 
hatte. 

265 


Später  besuchte  ich  den  Präsidenten  Carnot,  der  mich  sehr  freund- 
lich bewillkommnete. 

Ich  sagte  dem  Präsidenten,  wie  Seine  Majestät  der  Kaiser  mich 
beauftragt  habe,  dem  Präsidenten  Grüße  zu  überbringen  und  zu  sagen, 
daß  Seine  Majestät  hoffe,  die  guten  Beziehungen  zu  Frankreich  er- 
halten  zu   sehen. 

Der  Präsident,  sichtlich  befriedigt,  erwiderte,  daß  er  sehr  dankbar 
sei  und  auch  nichts  aufrichtiger  wünsche  als  ein  nachbarliches  Ein- 
vernehmen mit  Deutschland.  Er  sprach  auch  über  die  so  äußerst 
zuvorkommende  Aufnahme,  welche  die  französische  Deputation  zur 
Arbeiterkonferenz  bei  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  auch  überhaupt 
in  Berlin  gefunden  habe.  Dabei  brachte  der  Präsident  die  Rede  auf 
die  von  den  Sozialisten  beabsichtigte  Demonstration  am  1.  Mai.  Er 
und  seine  Regierung  seien  fest  dazu  entschlossen,  dieser  Demon- 
stration energisch  entgegenzutreten  und  sie  nicht  zu  dulden^,  und  er 
hoffe,  daß  das  auch  in  allen  anderen  Ländern  geschehen  werde  ^. 

Am  15.  April  begibt  sich  der  Präsident  nach  dem  Süden  Frank- 
reichs und  wird  bei  der  Gelegenheit  die  Flotte  bei  Toulon  sehen. 

Die    Kammern    sind   bis   zum    6.  Mai    vertagt. 

Der  Telegraphenkongreß  soll  hier  in  Paris  am  15.  Mai  zusammen- 
treten. Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

'  Erfreulich 

ä  ja  fangt  ihr  auch  an! 

3  ach  So!    Leider  unmöglich 

*  So  soll  erst  einmal  das  loi  d'espionnage  von  Boulanger  aufgehoben  werden 

*  aber  die  Früheren  und  späteren?? 
«  gut 

^  na  ob! 

Nr.  1542 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  Q6  Berlin,  den  12.  April  1890 

[abgegangen  am  13.  April] 
Da  eine  Abänderung  der  reichsländischen  Paßkontrolle  nicht  be- 
absichtigt ist*,  so  wird  es  erwünscht  sein,  wenn  Ew.  bei  geeignetem 
Anlaß  den  bezüglichen  Gerüchten  in  ruhiger  Weise  entgegentreten. 

Marschall 


*  über  die  Gründe,  weshalb  die  deutsche  Regierung  vorerst  von  einer  Abänderung 
der  Paßkontrolle  Abstand  nahm,  unterrichtet  die  Aufzeichnung  Hohenlohes  über 
sein  Gespräch  mit  Caprivi  vom  22.  März  1890:  „Im  Verlauf  des  Gesprächs  fragte 
er  mich  nach  dem  Paßzwang.    Ich  sagte  offen  meine  Meinung:  Nicht  Aufhebung 

266 


Nr.  1543 

Der  Vortragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Kiderlen  an  den 
preußischen  Gesandten  in  Oldenburg  Grafen  zu  Eulen  bürg 

Privatbrief.  Reinkonzept 

Berlin,  den  16.  April  1890 
[abgegangen  am  18.  April] 

Anbei  sende  ich  Ihnen  mit  höherer  Autorisation  Abschrift  von 
einem  Bericht  aus  Kairo.  Erschrecken  Sie  nicht,  wenn  derselbe  mit 
der  Ihnen  wahrscheinlich  höchst  gleichgültigen  Frage  der  Konversion 
der  ägyptischen  Schuld*  beginnt.  Der  interessante  Teil  des  Berichts, 
den  ich  rot  angestrichen  habe,  steht  auf  Seite  2  ff.,  wo  die  Symptome 
einer  englisch-französischen  Annäherung  in  Ägypten  aufgezählt  werden. 
Um  Ihnen  die  Bedeutung  der  Nachgiebigkeit  Englands  in  der  Kon- 
versionsfrage noch  mehr  vor  Augen  zu  führen,  erlaube  ich  mir,  hier 
auch  noch  einen  Auszug  aus  einer  Aufzeichnung  mitzuschicken,  die 
ich  seinerzeit  über  die  Frage  angefertigt  habe.  An  die  Symptome  in 
Ägypten  reiht  sich  noch  ein  Vorgang  in  Marokko.  Dort  wirken  wir  schon 
lange  —  allerdings  bis  jetzt  ohne  Erfolg  —  für  unsern  Freund,  den 
Sultan  in  Konstantinopel  auf  Anknüpfung  direkter  Beziehungen  zwi- 
schen Türkei  und  Marokko  hin.  England  hat  bisher  dies  auch  als 
seinen   Interessen    entsprechend   angesehen;   nur   die   Franzosen   intri- 


des  Paßzwangs,  aber  vernünftige  Handhabung  und  Abschaffung  der  Jagdkarten- 
verordnung. Das  leuchtete  ihm  ein,  doch  meinte  er,  es  würde  gut  sein,  noch 
einige  Monate  zu  warten,  damit  man  nicht  meine,  es  solle  jetzt  alles  neu  ge- 
macht und  umgestürzt  werden."  Denkwürdigkeiten  des  Fürsten  Chlodwig  zu 
Hohenlohe-Schillingsfürst   II,   463. 

An  der  Ansicht,  mit  Erleichterungen  hinsichtlich  der  Handhabung  der  Paß- 
kontrolle zu  warten,  hielt  Reichskanzler  von  Caprivi  auch  noch  Mitte  Mai  18Q0 
laut  eines  Marginals  vom  14.  Mai  fest.  Gelegentlich  einer  Interpellation  des  Ab- 
geordneten Richter  über  die  Paßpflicht  und  die  Aufenthaltsbeschränkungen  für 
Elsaß-Lothringen  stellte  Caprivi  am  10.  Juni  18Q0  im  Reichstage  eine  mildere 
Handhabung  der  Paßverordnung  in  Aussicht,  erklärte  aber  ausdrücklich,  daß  an 
eine  Aufhebung  nicht  gedacht  werde. 

*  Der  von  der  ägyptischen  Regierung  im  Einverständnis  mit  England  seit  längerer 
Zeit  betriebene  Plan  einer  Konversion  der  fünfprozentigen  ägyptischen  Schuld  in 
eine  vierprozentige  war  18S9  an  der  Weigerung  des  französischen  Kabinetts 
Tirard  gescheitert.  Indessen  lenkte  das  im  März  1S90  zur  Regierung  gelangte 
Kabinett  Freycinet  in  der  ägyptischen  Frage  ein,  und  es  schien,  da  auch  England 
in  der  Konversionsfrage  Entgegenkommen  bewies,  einen  Augenblick,  als  ob  sich 
nach  dem  langjährigen  Hader  ein  französisch-englisches  Einvernehmen  in  der 
ägyptischen  Frage  anbahnen  werde.  Über  Symptome  einer  solchen  gegenseitigen 
Annäherung  berichtete  der  deutsche  Generalkonsul  in  Kairo  von  Brauer  in  seinem 
von  Kiderlen  angezogenen  Berichte  vom  4.  April.  Schon  vor  dem  Eingang  dieses 
Berichts  hatte  Kiderlen  in  einer  Aufzeichnung  vom  5.  April  die  Frage  erörtert, 
ob  sich  in  Englands  neuerlicher  Haltung  ein  politisches  Bedürfnis  zu  einer  An- 
lehnung an   Frankreich  ausdrücke.    Vgl.   Bd.  VIII,   Kap.  LIll,   A,   Nr.  1777. 

267 


gierten  dagegen.  Noch  vor  kurzem  waren  die  Engländer  mit  unserem 
Vorgehen  einverstanden  und  wollten  uns  unterstützen.  Jetzt  auf  einmal 
fangen  sie  an  zu  sagen,  es  ginge  doch  nicht,  die  Franzosen  würden 
das  doch  nie  zulassen,  man  müßte  diese  nicht  reizen  usw. 

Daß  die  Italiener  den  Franzosen  gegenüber  plötzlich  mildere  Saiten 
aufziehen  und  mit  Paris  Hebäugeln,  dafür  spricht  allerlei,  das  eklatanteste 
Beispiel  ist  die  Entsendung  der  Flotte  zur  Begrüßung  des  Präsidenten*. 

Dieser  Umschwung  kann  nur  auf  eins  zurückgeführt  werden: 
beide  Länder  sehen  oder  glauben  zu  sehen,  daß  wir  mit  Frankreich 
kokettieren,  und  glauben  nun  natürlich  auf  Frankreich  allerlei  Rück- 
sicht nehmen  zu  müssen.  Die  französische  Presse  war  in  letzter  Zeit 
—  offenbar  auf  ein  mot  d'ordre  —  voll  unseres  Lobes,  weil  wir  so 
entgegenkommend  seien.  Woher  das  kommt,  weiß  ich  nicht,  ebenso- 
wenig, ob  es  von  Herbette  ausgeht,  der  bei  dem  Fürsten  Bismarck 
zwei  Audienzen  kurz  hintereinander  nach  der  Krisis  hatte.  Wie  dem 
auch  sei,  die  Franzosen  tun,  als  stünden  sie  besser  als  bisher  mit  uns, 
und  die  Wirkung  läßt  sich  in  Rom  und  London  bereits  verspüren. 
Unsere  Presse  hat  ja  das  Thema  einer  Annäherung  an  Frankreich 
genügend  variiert.  Sie  erinnern  sich  wohl  des  ersten  charakteristischen 
Artikels  in  der  Sache;  ich  lege  ihn  in  rei  memoriam  bei**. 

Was  sind  nun  die  Folgen  einer  solchen  wirklichen  oder  vermeint- 
lichen  Annäherung   an    Frankreich? 

1.  Sie  wissen  so  gut  oder  besser  wie  ich,  daß  Italien  nicht  pour 
nos  beaux  yeux,  noch  weniger  für  die  Österreichs  den  Bund  mit 
uns  eingegangen  ist.  Erst  als  Frankreich  sich  Tunis  bemächtigt  hatte 
(eines  der  letzten  Meisterstücke  von  Seiner  Durchlaucht)***,  fiel  es 
uns  als  reife  Frucht  in  den  Schoß.  Italien  sucht  bei  uns  gegen  Frank- 
reich, das  es  zwischen  Toulon  und  Biserta  (Tunis)  eingeklammert 
hält,  Schutz  in  politischer  und  wirtschaftlicher  Beziehung.  Lieb- 
äugeln wir  mit  Frankreich  in  einer  dieser  beiden  Beziehungen,  so  tritt 
Italien  sofort  den  Eilmarsch  nach  Paris-Kanossa  an  und  verständigt 
sich  mit  Frankreich  schon  aus  reiner  Furcht.  Auf  Italien  muß  eine 
deutsche  Annäherung  an  Frankreich  noch  viel  intensiver  wirken  als 
auf  Österreich  eine  deutsche  Annäherung  an  Rußland. 

2.  Bezüglich  Englands  verhält  es  sich  ähnlich  wie  mit  Italien. 
Graf  Hatzfeldt,  dessen  feines  politisches  Gefühl  nie  bestritten  worden 
ist,   sagt  darüber  in  einem   Bericht: 

„Ich  habe  seit  Jahren  Lord  Salisbury  gegenüber  betont,  daß  unser 
Verhältnis  zu  Frankreich  den  besten  Schutz  für  England  nach  dieser 
Seite  sei  und  dafür  volles  Verständnis  gefunden.  Sollte  sich  diese  Hoff- 


*  Am   17.  April  begrüßte   eine   Eskadron  der  italienische  Flotte  den  Präsidenten 

Carnot  in  Toulon. 

**  Nicht  bei  den  Akten. 

♦**  Vgl.  Bd.  in,  Nr.  655  ff. 

268 


nung  hier  (in  London)  verringern,  so  würde  allerdings  wohl  gleichzeitig 
das  Bedürfnis  auftauchen,  sich  gegen  von  Frankreich  drohende  Even- 
tualitäten auf  andere  Weise,  möglicherweise  durch  Versuch  direkter 
freundschaftlicher  Verständigung  mit  dem  Nachbarlande  zu  schützen. 

Eine  solche  Verständigung  könnte  in  zwei  Fällen  eintreten:  ein- 
mal, wenn  man  hier  glaubte,  zu  der  Überzeugung  gelangt  zu  sein, 
daß  eine  politische  Verständigung  zwischen  uns  und  Frankreich  zu 
erwarten  sei,  zweitens,  wenn  Gladstone  mit  den  Radikalen  ans  Ruder 
käme." 

Ein  bedenklicher  Anfang  einer  englisch-französischen  Annähenmg 
scheint  sich  in  Ägypten  vorzubereiten.  Auf  Marokko  würde  ich  weniger 
geben.  Aber  wenn  sich  England  und  Frankreich  anfangen  über 
Ägypten  zu  verständigen,  dann  hat  der  die  Verständigung  suchende 
Teil  —  und  das  ist  in  diesem  Moment  England  —  seine  gewichtigen 
Gründe  dazu.  Denn  sonst  ist  ja  Ägypten  der  klassische  Zankapfel 
zwischen  Franzosen  und  Engländern. 

Die  Franzosen  wissen  recht  gut,  wie  ihre  Annäherung  an  uns  in 
Italien  und  England  wirken  würde;  deshalb  gebärdet  sich  ihre  Presse 
so  freundhch  gegen  uns  mit  einem  Schlage,  spricht  von  Aufhebung 
der  Paßkontrolle  in  Elsaß  usw.  Soviel  wir  wissen,  hat  Seine  Majestät 
den  französischen  Botschafter,  der  ihn  auf  die  Paßfrage  anredete, 
gründlich  ablaufen  lassen.  Das  verschweigt  aber  M.  Herbette  be- 
zeichnenderweise sorgfältigst. 

3.  Jedes  Entgegenkommen  unsererseits,  das  die  obenerwähnten 
Nachteile  hat,  kann  uns  keinerlei  Vorteil  bieten  im  kritischen  Moment, 
wenn  es  losgeht.  In  politischer  Beziehung  können  wir  Frankreich 
nichts  bieten  als  ein  freundliches  Lächeln.  Unsere  Gegner,  wer  sie 
seien,  Rußland,  eventuell  ein  feindliches  Italien,  England,  können  ihnen 
monts  et  merveilles  versprechen:  Elsaß-Lothringen,  die  Rheingrenze, 
die  Herstellung  der  Zustände  vor  66;  das  alles  kostet  ja  die  andern 
nichts.  Dagegen  kann  kein  von  uns  ausgehendes  Kajolieren  ohne 
materiellen   Hintergrund   etwas  nützen. 

Ergo  wir  müssen  uns  die  Freunde  erhalten,  die  eine  gemeinsame 
Gegnerschaft  gegen  Frankreich  uns  zuführt.  Die  verlieren  wir  durch 
Kokettieren  mit  Frankreich,  ohne  eine  Verständigung  zwischen  diesem 
und  unsern  Feinden  verhindern  zu  können. 

Fast  noch  utopistischer  ist  eine  wirtschaftliche  Verständigung 
mit  Frankreich,  die  in  der  Presse  neuerdings  recht  unnötigerweise 
ventiliert  worden  ist.  Damit  machen  wir  ebenfalls  Italien  kopfscheu 
und  erreichen  doch  nichts.  Man  braucht  ja  nur  die  schutzzöUnerische 
Richtung  anzusehen,  die  drei  Viertel  der  französischen  Kammer  be- 
herrscht, und  die  systematische  allmähliche  Kündigung  aller  Handels- 
verträge. 

Seine  Majestät  wird  jetzt,  wo  Sie  wieder  schwimmenderweise  ihn 

269 


begleiten  werden*,  jedenfalls  politica  mit  Ihnen  reden.  Es  ergeht 
nun  an  Sie  die  Bitte  —  nicht  von  mir  aus,  ich  schreibe  alles  dies 
autorisiert  — ,  Seiner  Majestät  die  vorstehend  entwickelten  Gesichts- 
punkte vorzutragen  —  falls  Sie  sich  dieselben  aneignen  können,  woran 
ich  bei  ihrer  Kenntnis  unserer  politischen  Verhältnisse  nicht  zweifle. 
Seine  Majestät  kennt  zwar  den  Bericht  aus  Kairo,  der  hier  beiliegt. 
Vielleicht  bringen  Sie  denselben  aber  Seiner  Majestät  noch  einmal  mit 
einigen  Bemerkungen  in  obigem  Sinne  unter  die  Augen,  wenn  er 
dann  die  Frage  auf  einsamer  Meerfahrt  innerlich  in  sich  verarbeitet, 
wird  sein  scharfer  Blick  schon  das  Richtige  finden,  etc. 

Kiderlen 

Nr.  1544 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  1  Paris,  den  4.  Januar  1891 

Der  Neujahrsempfang  beim  Präsidenten  der  Republik  verlief  wie 
alle  Jahre.  Das  diplomatische  Korps  war  ganz  vollzählig  vertreten. 
Es  fehlte  nur  der  amerikanische  Gesandte,  Mr.  Whitelaw  Reid,  der 
sich  von  seinen  Verhandlungen  über  die  Mac  Kinley  Bill  und  dem 
Kummer  darüber,  daß  den  amerikanischen  Schweinen  der  Zutritt  zu 
Frankreich  noch  versperrt  ist,  auf  einer  zweimonatUchen  Orientreise 
erholen  will  und  erst  im   Februar  zurückkehrt. 

Die  Antwort  des  Präsidenten  auf  die  etwas  sehr  devote  Anrede 
des  Nuntius  lege  ich  gehorsamst  bei. 

Sie  ist  von  denen  der  Vorjahre  sehr  verschieden  und  zeigt  eine 
gewisse  Sicherheit.  Dies  tritt  immer  mehr  hervor  und  kann  leicht 
zur  Überhebung  führen  i. 

Wenn  ich  im  allgemeinen  solchen  Reden,  die  ja  immer  auf  den 
inneren  Konsum  berechnet  sind,  keinen  zu  großen  Wert  beilege,  so 
sind   dieselben   deshalb   immer   ein   gewisses   Zeichen   der   Stimmung. 

Die  Wahlrede  des  Kriegsministers  von  Freycinet  an  die  Wahl- 
männer des  Senates  ist  auch  von  einem  Teil  der  deutschen  Presse 
als  eine  chauvinistische,  deutschfeindliche  aufgefaßt  worden.  Bei  Wahl- 
reden muß  auch  selbst  ein  Minister,  wenn  er  von  einer  ganz  radikalen 
Körperschaft,  wie  es  die  Pariser  Wähler  sind,  gewählt  werden  will, 
die  Farben  stärker  auftragen  wie  im  Parlamente  selbst,  und  daß  der 
jetzige  Kriegsminister  auf  seine  Tätigkeit  während  der  Defense  natio- 
nale einen   Rückblick  warf,  war  ganz  natürlich. 

*  Graf  Eulenburg  war  ausersehen,  bei  der  bevorstehenden  Reise  des  Kaisers  nach 
Bremen  zur  Grundsteinlegung  eines  Denkmals  für  Kaiser  Wilhelm  I.  (21.  April), 
an  di.;  sich  Seefahrten  in  die  Nordsee  schließen  sollten,  zum  kaiserlichen  Gefolge 
zu  treten. 

270 


An  meiner  Ansicht,  daß  von  französischer  Seite  ein  Kriege  noch^ 
nicht  gewünscht,  nicht  beabsichtigt  und  von  hier  nicht  ausgehen  wird, 
halte  ich   noch   unverändert  fest. 

Steigt  aber  der  Hochmut  der  Grande  Nation  noch  mehr,  wie  er 
im  Jahre  1890  schon  gewachsen  ist,  so  kann  bei  Komplikationen  von 
anderer  Seite  Frankreich  jetzt  mehr  geneigt  sein,  mit  einzugreifen, 
als  es  bisher  der  Fall  war 3. 

Ich  sehe  deshalb  noch  durchaus  nicht  schwarz,  werde  aber  alles, 
was  hier  geschieht,  aufmerksam  beobachten,  pp.* 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ja 

2  da  liegt  der  Hase 
8  ja 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Gut. 

Nr.  1545 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster** 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  26  Berlin,  den  17.  Februar  1891 

Ew.  bitte  ich  um  fortlaufende  Sammlung  und  Einreichung  der  be- 
merkenswertesten unter  den  Preßstimmen,  welche  eine  versöhnlichere 
Haltung  gegen  Deutschland  befürworten.  Da,  wo  ein  offiziöser  Ur- 
sprung zu  vermuten  ist,  wird  der  Umstand  besonders  zu  erwähnen  sein. 

Marschall 

Nr.  1546 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  33  Paris,  den  19.  Februar  18Q1 

Bereits  im  Laufe  des  vorigen  Jahres  habe  ich  in  meiner  Bericht- 
erstattung wiederholt  zu  bemerken  die  Ehre  gehabt,  daß  die  lang- 
gewöhnte französische  Gehässigkeit  gegen  alles,  was  deutsch  ist,  er- 

*  Die  Fortsetzung  des  Berichts,  die  von  den  russisch-französischen  Beziehungen 
handelt,  siehe  in  Kap.  XLVII,  Nr.  1492. 

**  Das  obige  Schriftstück  findet  sich  unter  den  Akten  über  die  Anwesenheit  der 
Kaiserin  Friedrich  in  Paris  vom  18.— 27.  Februar  18Q1  und  beweist,  welche  Be- 
deutung diesem  Besuch  auch  von  seiten  des  Auswärtigen  Amts  im  Hinblick  auf 
die  deutsch-französischen  Beziehungen  beigelegt  wurde.  Der  Besuch  sollte  offen- 
bar die  Probe  auf  das  Exempel  sein,  ob  auf  eine  „versöhnlichere  Haltung  gegen 
Deutschland"  gerechnet  werden  könne. 

271 


heblich  im  Abnehmen  begriffen  sei,  daß  namentlich  in  der  Presse 
ein  ruhigerer  und  anständigerer  Ton  sich  einbürgere. 

Dieser  Übergang  zu  besserer  Stimmung  hat,  wie  ich  mit  Genug- 
tuung feststellen  kann,  gerade  in  jüngster  Zeit  wieder  große  Fort- 
schritte gemacht.  Die  verleumderische  Verketzerung  der  deutschen 
Politik,  die  Angriffe  auf  Seine  Majestät  den  Kaiser  und  König,  die 
Verfolgung  der  in  Frankreich  wohnenden  Deutschen,  die  Klagen  über 
die  „Knechtung"  der  Elsaß-Lothringer,  das  alles  ist,  wenn  auch  noch 
nicht  ganz  verschwunden,  so  doch  bedeutend  gemindert  und  gemäßigt. 
Die  Hetzereien  gegen  Deutschland  ziehen  sich  täglich  mehr  in  den 
dunkeln  Winkel  einiger  Schmutzblätter  zurück  und  finden  keinen  An- 
klang und  keine  Verbreitung.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  ein  Zug 
der  Versöhnung,  ein  Bedürfnis  nach  achtungsvoller  Annäherung  an 
das  so  lange  mit  unschönen  Waffen  bekämpfte  Deutschland  durch 
die  Presse  geht,  eine  Stimmung,  welche  sich  freilich  bis  jetzt  mehr 
in  der  Einstellung  von  Feindseligkeiten  kundgibt  wie  in  freimütigen 
Worten  der  Aussöhnung.  Der  Bann  des  Chauvinismus,  die  Furcht, 
von  den  berufsmäßigen  Lärmmachern  der  Ketzerei,  des  Verrats  ge- 
ziehen zu  werden,  läßt  die  anständige  Presse  nicht  den  Mut  ihrer 
Meinung  finden,  der  Meinung,  daß  es  im  Grunde  der  Würde  und  den 
Interessen  Frankreichs  mehr  entspreche,  mit  Deutschland  gute  Nachbar- 
schaft zu  halten,  in  reger  Wechselbeziehung  mit  demselben  der  Pflege 
der  Zivilisation  sich  hinzugeben,  als  im  Jagen  nach  dem  Phantom 
der  Revanche  sich  und  andere  aufzureiben.  Das  ist  —  die  Botschaft 
findet  dafür  täglich  neue  Bestätigungen  —  im  großen  ganzen  die  Mei- 
nung des  gebildeten  französischen  Publikums.  Solange  diese  in  der 
Presse  nicht  offen  bekannt  und  erörtert  wird,  ist  es  immerhin  be- 
friedigend, daß  sie  bei  der  Meldung  und  Besprechung  einzelner  Er- 
eignisse durchschimmert,  welchen  die  Presse  und  die  öffentliche  Mei- 
nung  besondere   Aufmerksamkeit   widmet. 

Ereignisse  solcher  Art  sind  in  jüngster  Zeit  das  Essen  in  der 
französischen  Botschaft  in  Berlin*,  der  Besuch  Seiner  Majestät  des 
Kaisers  und  Königs  bei  Frau  Herbette  i,  ganz  besonders  aber  die 
Beileidskundgebung  Seiner  Majestät  aus  Anlaß  des  Todes  Meisson- 
niers**  gewesen.  Hat  sich  die  Presse  auch  nicht  aus  den  erwähnten 
Gründen  auf  längere  Erörterungen  eingelassen,  so  zeigen  doch  die 
Fassung  der  Meldung,  der  Platz,  der  ihnen  eingeräumt  wird,  die 
kurzen  Bemerkungen,  mit  welchen  dieselben  begleitet  werden,  wie 
wohltuend  hier  diese  Aufmerksamkeiten  gewirkt  haben,  wie  sehr  der 
Nationalstolz  der  Franzosen  sich  durch  dieselben  geschmeichelt  fühlt. 


*  Am  12.  Februar  hatte  der  Kaiser  an  einem  auf  der  französischen  Botschaft  ver- 
anstalteten Essen  teilgenommen. 

**  Kaiser  Wilhelm  II.  ließ  der  französischen  Akademie  anläßlich  des  Todes  des 
französischen  Historienmalers  (31.  Januar  1891)  am  4.  Februar  sein  Beileid  aus- 
sprechen. 

272 


Deutsche  Zeitungen,  welche  mir  zu  Gesicht  gekommen,  gehen  zu 
weit,  wenn  sie  sagen,  daß  die  Beileidsi<undgebung  Seiner  Majestät 
von  der  französischen  Presse  nicht  gewürdigt  worden  sei.  Zu  Leit- 
artikeln haben  sich  zwar  meiner  Kenntnis  nach  bisher  nur  zwei  nicht 
sehr  verbreitete  Blätter,  „La  Paix^*  und  „Le  Petit  Moniteur  Uni- 
versell, veranlaßt  gesehen  —  die  Artikel  liegen  hier  bei  — ,  aber 
einige  sympathische  Worte  finden  sich  nahezu  in  allen  Zeitungen,  selbst 
in  durchaus  chauvinistischen.  Solche  kurzen  Bemerkungen  aber  geben 
hier  weit  richtiger  die  Stimmung  wieder  und  wirken  besser  als  lange 
Artikel,  die  nur  wenige  lesen,  ganz  abgesehen  von  der  guten  Wirkung, 
welche  die  Tatsachen  an  sich  ausüben.  Auch  ist  zu  beachten,  daß 
die  verständnisvolle  Anerkennung  der  kaiserlichen  Courtoisieakte  mehr 
in  dem  Sinne  und  dem  Ton  zu  finden  ist,  in  welchem  die  Organe 
der  öffentlichen  Meinung  andere  naheliegende  Fragen  besprechen.  Eine 
solche  Frage  ist  die  Beteiligung  der  französischen  Künstler  an  der 
diesjährigen  Ausstellung  zu  Berlin*,  eine  Frage,  welche  gerade  in 
diesen  Tagen,  nicht  zum  mindesten  unter  dem  Eindruck  der  Beileids- 
äußerung Seiner  Majestät  zur  öffentlichen  Erörterung  gekommen  ist. 
Ich  darf  mir  gehorsamst  vorbehalten,  demnächst  darüber  zu  berichten, 
welche  Schwierigkeiten  politischer  und  materieller  Art  dem  Zustande- 
kommen einer  französischen  Ausstellungsabteilung  entgegengestanden, 
und  wie  die  Hindemisse  umgangen  und  beseitigt  wurden.  Heute  darf 
ich  aber  schon  melden,  daß  die  Opposition,  welche  die  Beteiligung 
der  französischen  Künstler  an  der  Berliner  Ausstellung  in  den  Kreisen 
der  Künstler  selbst  und  in  der  hiesigen  Presse  gefunden  hat,  anfänglich 
zwar  nicht  gering  schien,  nun  aber  nahezu  verschwunden  ist.  Neben 
der  sehr  verständigen  Auffassung,  zu  welcher  sich  einige  herv'orragende 
Künstler  wie  Detaille,  Bouguereau  und  andere  öffentlich  bekannt  haben, 
ist  es  sicherlich  auch  die  hochherzige  Beileidskundgebung  Seiner 
Majestät  des  Kaisers,  welche  bei  den  französischen  Künstlern  manche 
Bedenken  überwunden  und  günstig  auf  die  Auffassung  der  Sache 
seitens   der   Presse   gewirkt  hat. 

Ich  beehre  mich,  einige  charakteristische  Zeitungsartikel,  welche 
die  Teilnahme  der  französischen  Künstler  an  der  Berliner  Ausstellung 
besprechen  und  dabei  auch  die  allgemeinen  deutsch-französischen  Be- 
ziehungen berühren,  hier  gehorsamst  beizufügen.  Sie  sprechen  sich 
alle  für  die  Beschickung  der  Ausstellung  aus,  meist  unter  Zugrunde- 
legung des  Gedankens,  daß  Frankreich  sich  auf  dem  Gebiete  der 
Kunst  eine  Revanche  holen  könne.    Selbst  die  „France",  das  Spezial- 

♦  Der  „Verein  Berliner  Künstler"  plante  zur  Feier  seines  fünfzigjährigen  Bestehens, 
seiner  sommerlichen  Kunstausstelhing  unter  dem  Protektorat  der  Kaiserin  Fried- 
rich einen  besonders  glanzvollen  internationalen  Anstrich  zu  geben,  und  nahm  zu 
diesem  Zweck  die  Hilfe  des  Auswärtigen  Amts  in  Anspruch.  Das  Auswärtige 
Amt  hielt  indessen  nach  einer  Randbemerkung  Holsteins  zu  einem  Berichte 
Münsters  vom  20.  Dezember  1890  ein  direktes  Eingreifen  des  Botschafters  für  un- 
tunlich. 

18    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  273 


blatt  für  Deutschenhetze,  macht  keine  Opposition.  Nur  Paul  Cassagnac 
in   seiner   „Autorite"   bleibt   unverbesserlich. 

Nicht  unerwähnt  darf  ich  lassen,  daß  der  Besuch,  mit  welchem  Ihre 
Majestät  die  Kaiserin  und  Königin  Friedrich  mein  Haus  zu  beehren 
die  Gnade  hat*,  hier  allgemein  als  eine  neue  Bestätigung  des  an 
allerhöchster  Stelle  gehegten  aufrichtigen  Wunsches  aufgefaßt  wird, 
die  Beziehungen  jeder  Art  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  immer 
friedlicher  und  wohlwollender  zu  gestalten.  Längere  publizistische  Aus- 
führungen liegen  in  diesem  Sinne  noch  nicht  vor,  doch  enthalten  die 
beigelegten  Artikel,  wenn  auch  hier  und  da  der  Besuch  Ihrer  Majestät 
in  ungeschickter  Weise  mit  der  Berliner  Ausstellung  in  Verbindung 
gebracht  wird,   manche   charakteristische   Äußerungen. 

Als  Zeichen  der  Stimmung  darf  auch  schließlich  die  mehr  wie 
wohlwollende  Aufnahme  gelten,  welche  deutsche  Musik  neuerdings 
hier  findet.  Wagners  „Lohengrin",  der  vor  vier  Jahren  hier  wegen 
deutschfeindlicher  Manifestationen  nicht  weiter  gegeben  werden  konnte, 
hat  in  Ronen  trotz  mangelhafter  Aufführung  großen  Erfolg  gehabt  und 
wird  voraussichtlich  in  diesem  Herbst,  dem  ziemlich  allgemeinen  Ver- 
langen von  Publikum  und  Presse  entsprechend,  in  der  Großen  Oper 
in  Szene  gesetzt  werden.  In  den  berühmten  Konzerten  von  Lamoureux 
hat  die  bekannte  Berliner  Sängerin  Ulli  Lehmann  mit  Gesangsvorträgen 
in  deutscher  Sprache  geradezu  frenetischen  Beifall  geerntet,  eine 
Kundgebung,  welche  sicherlich  nicht  allein  eine  Anerkennung  der  voll- 
endeten Kunstleitung  sondern  auch  einen  Protest  gegen  die  bisherige 
Anfeindung  deutscher,  insbesondere  Wagnerscher  Musik  bedeutet. 

Ich  werde  es  mir  angelegen  sein  lassen,  weitere  Symptome  der 
sich  vollziehenden  Annäherung  an  Deutschland  sorgsam  zu  beachten 
und  darüber  gehorsamst  zu  berichten.  Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Beides  im  vorigen  Jahre  auch  geschehen. 

Nr.  1547 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  18  Berlin,  den  26.  Februar  1891 

Ew.  ersuche  ich,  die  heftigeren  und  bemerkenswerteren  unter  den 
deutschfeindlichen  Preßerzeugnissen  ebenso  wie  vor  kurzem  die  fried- 
lichen Äußerungen  zu  sammeln  und  einzureichen. 

Marschall 

*  Kaiserin  Friedrich  war  mit  ihrer  Tochter,  der  Prinzessin  Margarete,  am  18.  Fe- 
bruar auf  einer  Reise  nach  England  in  Paris  inkognito  eingetroffen  und  hatte  beim 
Botschafter  Grafen  Münster  Wohnung  genommen. 

274 


Nr.  1548 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  17  Paris,  den  26.  Februar  1891 

Ihre  Majestät  Kaiserin  Friedrich  verläßt  morgen  früh  Paris,  um 
sich  in  Calais  einzuschiffen.    Ich  begleite  Ihre  Majestät  bis  dahin. 

Der  Aufenthalt,  vom  herrlichsten  Wetter  begünstigt,  hat  Ihrer 
Majestät  viel  Freude  bereitet. 

Der  Verlauf  wäre  noch  besser  gewesen,  wenn  der  Besuch  nicht 
zu  lange  gedauert  hätte.  Ich  konnte  als  Wirt  das  nicht  sagen,  auch 
wollte  Königin  Viktoria  die  Kaiserin  nicht  vor  dem  27.  empfangen. 
Die  Regierung  hat  sich  korrekt  benommen  und  das  Inkognito  streng 
respektiert,  weshalb  der  Präsident  sich  entfernt  hielt. 

Bis  Sonntag  ging  alles  sehr  gut,  und  wäre  die  Kaiserin  am  Montag 
abgereist,  so  würde  es  ein  großer  Erfolg  gewesen  sein.  Dann  fingen 
die  feindlichen  Mächte  an  zu  agitieren  und  mißbrauchten  die  Be- 
teiligung der  Künstler  an  der  Berliner  Ausstellung  als  Agitationsmittel. 
Die  russische  hiesige  Presse  begann.  Vier  Faktoren  haben  die  Stim- 
mung gegen  Deutschland  erregt:  Russische  Intrigen  vor  allem i,  dann 
die  Patriotenliga  gegen  uns,  die  Radikalen  gegen  das  Kabinett  und  die 
Elsässer  wegen  des  Paßzwanges.  Die  Künstler  haben  sich  einschüchtern 
lassen  und  ziehen  zurück  2.  Die  Regierung  hat  sich  in  der  Aussteilungs- 
frage  neutral  verhalten,  ist  aber  der  Agitation  gegenüber  schwach. 

Die  Orleans  haben  versucht,  Ihre  Majestät  zu  sehen.  Herzog  und 
Herzogin  von  Chartres  waren  nicht  in  Cannes,  wie  beabsichtigt,  sondern 
hier,  die  Kaiserin  hat  aber  auf  meinen  Rat  kein  Mitglied  der  Familie 
Orleans  gesehen  3,  keinen  Besuch  bei  ihnen  gemacht  und  alles  sorg- 
fältig vermieden,   was   Anstoß   hätte   erregen   können. 

Überall,  wo  sich  Ihre  Majestät  zeigte,  ist  sie  mit  großem  Respekt 
behandelt,  und  auf  der  Straße  ist  nicht  der  geringste  Mißton  bemerkt  worden. 

Bericht  folgt  Sonnabend.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.  auf  einer  Abschrift: 

1  Die  7te  Großmacht  der  Rubel 

2  habe  das  erwartet,  weil  ich  dem  ganzen  Enthusiasmus  nicht  geglaubt  habe 

3  gut 

Nr.  1549 
Der  Botschafter  inParis  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  39  Paris,  den  27.  Februar  1891 

Die  Frage  der  Annäherung  zwischen  Deutschland  und  Frankreich, 
worüber  ich  am  19.  und  am  21.  d.  Mts.  (Nr.  33*  und  37)  zu  be- 
richten die  Ehre  gehabt,  ist  inzwischen  von  der  Presse  —  immer  in 
*  Siehe  Nr.  1546.    Der  Bericht  Nr.  37  vom  21.  Februar  enthielt  nur  Pressenotizen. 

•8-  275 


dem  engeren  Rahmen  der  Beschickung  der  Berliner  Kunstausstellung  — 
in  wachsendem  Umfange  und  mit  steigender  Erregung  erörtert  worden. 

Während  ich  vor  acht  Tagen  noch  zu  berichten  in  der  Lage  war, 
daß  die  Teilnahme  der  französischen  Künstler  an  der  Ausstellung  geringe 
Opposition  fände,  muß  ich  heute  einen  bedauerlichen  Umschwung 
melden*,  pp. 

Der  Aufenthalt  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  und  Königin,  so  sehr 
derselbe  anfänglich  zugunsten  einer  freundschaftlichen  Annäherung  auf 
nichtpolitischem  Gebiete  zu  wirken  schien  und  sicherlich  gewirkt  hätte, 
wenn  er  nicht  zu  lange  ausgedehnt  worden,  hat  die  Geduld  der 
Chauvinisten  auf  eine  zu  harte  Probe  gesetzt.  Sehr  wohl  fühlend, 
wie  große  Fortschritte  die  versöhnliche  Stimmung  im  allgemeinen 
und  diejenige  der  Künstler  im  besondern  machte,  haben  sie  den  Kampf 
hiergegen  in  Presse  und  Versammlungen  mit  allen  jenen  bekannten 
vergifteten  Waffen  auf  das  heftigste  wieder  entfacht,  die  eben  im 
Vernarben  begriffenen  Wunden  mit  frevelnder  Hand  wieder  aufgerissen. 
Obwohl  die  Reise  Ihrer  Majestät  von  der  hiesigen  Presse  bereits  vor 
der  Ankunft  mit  der  Ausstellung  in  Verbindung  gebracht,  vorsichtige 
Neutralität  daher  angezeigt  und  von  mir  empfohlen  war,  hat  Ihre 
Majestät  in  dem  Vertrauen,  daß  der  gesunde  Sinn  jene  Mißdeutungen 
beseitigen  werde,  ihren  künstlerischen  Neigungen  keine  zu  engen 
Grenzen  ziehen  zu  müssen  geglaubt  und  neben  den  Museen,  Privat- 
galerien und  Sammlungen  auch  einige  Ateliers  hervorragender  fran- 
zösischer Künstler  besucht.  Bei  der  Zudringlichkeit,  mit  welcher  die 
Reporters  ungeachtet  aller  meiner  Anstrengungen  Ihre  Majestät  auf 
Schritt  und  Tritt  verfolgten,  sind  diese  Besuche  sofort  bekannt  ge- 
worden, die  Legende,  daß  die  Reise  der  hohen  Frau  der  Erwirkung 
der  französischen  Beteiligung  an  der  Ausstellung  gelte,  wurde  damit 
zur  Überzeugung,  und  die  erhabene  Person  Ihrer  Majestät  in  den  Preß- 
kampf hineingezogen.  Daneben  haben  diese  Atelierbesuche,  bei  welchen 
übrigens  Ihre  Majestät  jede  Erwähnung  der  Ausstellung  peinlich  ver- 
mieden hat,  neidische  Reibereien  in  der  Welt  der  Künstler  und  Opposi- 
tion gegen  die  Ausstellung  hervorgerufen. 

Zu  alledem  kam  noch  folgender  Vorfall:  Einige  Patrioten  hatten 
unter  Derouledes  Führung  ihrem  Protest  gegen  Beschickung  der  Ber- 
liner Ausstellung  unter  anderem  damit  Ausdruck  gegeben,  daß  sie 
einen  mächtigen  Kranz  auf  das  in  der  Pariser  Kunstschule  befindliche 
Denkmal  eines  während  der  Belagerung  von  Paris  als  Soldat  gefallenen 
Künstlers,  Regnault,  niederlegten.  Tags  darauf  war  der  Kranz  ver- 
schwunden, und  zwar,  wie  die  Patrioten  sogleich  verkündeten,  auf 
Anordnung  der  Regierung**,  welche  den  Besuch  der  Kaiserin   in  der 

*  Es  folgen  Auszüge  aus  der  französischen  Presse. 

**  Nach  den  Denkwürdigkeiten  des  Fürsten  Chlodwig  zu  Hohenlohe-Schillingsfürst 
(Bd.  II,  S.  479)  wäre  die  Entfernung  durch  den  Direktor  der  Ecole  des  beaux  arts 
angeordnet  worden,  „parce  que  cela  pourrait  faire  une  mauvalse  Impression". 

276 


Kunstschule  erwartete.  Darob  nun  großer  Lärm  in  der  Presse  und 
selbst  in  den  Couloirs  der  Kammer,  wo  eine  Interpellation  Derouledes 
nur  mühsam  durch  das  feierliche  Versprechen  der  Regierung  ver- 
mieden wurde,  jenen  Kranz  sogleich  wieder  an  Ort  und  Stelle  bringen 
zu  lassen.  Ob  der  Kranz  tatsächlich  von  der  Regierung  entfernt  worden 
war,  ist  noch  nicht  aufgeklärt,  aber  wahrscheinlich.  Jedenfalls  aber 
hat  sie  den  Kranz  wieder  hinlegen  lassen  und  damit,  wenn  auch  in 
der  guten  Absicht,  einen  Skandal  zu  vermeiden,  vor  der  rechtlich 
nicht  mehr  anerkannten  Patriotenliga  kapituliert.  Übrigens  war  der 
Besuch  Ihrer  Majestät  in  der  Kunstschule  nie  beabsichtigt  und  hat 
nicht   stattgefunden. 

Dieser  Vorfall  hat  die  öffentliche  Meinung  von  neuem  in  Wallung 
gebracht  und  den  Preßkampf  immer  heftiger  gegen  diejenigen  Künstler 
entbrennen  lassen,  welche  die  Absicht  kundgegeben  hatten,  nach  Berlin 
zu  gehen.  Deroulede  und  andere  „Patrioten"  hielten  neue  Versamm- 
lungen ab,  in  welchen  gegen  die  Künstler,  gegen  die  Anwesenheit  Ihrer 
Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  und  das  „bevorstehende"  Hierher- 
kommen Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  Protest  erhoben 
wurde.  Daß  die  Witwe  Meissonniers,  offenbar  auf  chauvinistisches 
Anstiften,  mit  einer  flegelhaften  schriftlichen  Erklärung  in  den  Kampf 
eingegriffen  hat,  ist  dieser  ungebildeten  Frau,  die  bis  vor  kurzem  nur 
des  Malers  Köchin  und  Maitresse  gewesen,  weiter  nicht  zu  verübeln. 
Daß  aber  die  Presse  fast  ohne  Ausnahme  sich  ein  Vergnügen  daraus 
macht,  diese  niederträchtige  Erwiderung  auf  die  hochherzige  Beileids- 
kundgebung Seiner  Majestät  des  Kaisers  dem  Publikum  zu  unter- 
breiten, zeigt,  auf  welche  Stufe  hier  das  Gefühl  des  internationalen 
Anstandes  gesunken  ist. 

Haben  alle  diese  Dinge  auch  glücklicherweise  nicht  die  öffent- 
liche Meinung  so  weit  zur  Verirrung  gebracht,  daß  Ihrer  Majestät 
bei  ihren  Fahrten  und  Gängen  in  der  Stadt  die  geringste  Belästigung 
—  abgesehen  von  der  Zudringlichkeit  der  Reporters  —  zuteil  ge- 
worden wäre,  so  hat  doch  der  Kampf  der  Chauvinisten  gegen  die  Be- 
schickung der  Berliner  Ausstellung  einen  siegreichen  Ausgang  gehabt. 
Die  Künstler,  voran  der  sonst  so  verständige  und  mutige  Detaille, 
der  überdies  durch  Schmäh-  und  Drohbriefe  eingeschüchtert  worden 
sein  soll,  haben  nun  erklärt,  daß  sie  angesichts  des  Umschwunges 
der  öffentlichen  Meinung  ihre  Absicht,  nach  Berlin  zu  gehen,  auf- 
geben. Selbst  die  wenigen,  welche  standhaft  zu  bleiben  wagten,  dar- 
unter der  bekannte  Porträtmaler  Bonnat,  welcher  neben  Detaille, 
Bouguereau  und  anderen  durch  einen  Besuch  Ihrer  Majestät  beehrt 
worden  war,  scheinen  ihre  Überzeugung  opfern  zu  wollen,  um  wenig- 
stens dem  Auslande  nicht  das  Schauspiel  der  Uneinigkeit  zu  geben. 

Ich  sehe  damit  die  Beteiligung  der  französischen  Künstler  an 
der  Berliner  Ausstellung,  ein[em]  Werk,  an  welchem  die  Kaiserliche  Bot- 
schaft,  ohne    aus    der   gebotenen    Reserve,    ohne   gleichsam    aus    der 

277 


Kulisse  herauszutreten,  mit  hingebender  Sorgfalt  und,  ich  darf  sagen 
bis  vor  kurzem  mit  dem  erfreulichsten  Erfolg,  gearbeitet  hatte,  zu- 
sammenbrechen, aber  ich  sehe  dabei  leider  auch  unsere  so  aufrichtigen 
Bemühungen  um  die  Herstellung  und  die  Pflege  freundnachbariicher 
Beziehungen  zwischen  den  beiden  Nationen  auf  nichtpolitischem  Ge- 
biete vorläufig  gescheitert  1.  Ich  will  zur  Ehre  der  Künstler  annehmen, 
daß  sie  sich  hauptsächlich  deshalb  zurückgezogen  haben,  um  dem 
Preßkampf,  der  durch  die  Hereinziehung  der  erhabenen  Person  Ihrer 
Majestät  einen  besonders  unschönen  Charakter  angenommen  hatte, 
ein  rasches  Ende  zu  machen,  ich  kann  es  verstehen,  daß  sie  den  An- 
griffen einer  anstandslosen  Presse  zu  entrinnen  trachteten,  und  ich 
kann  es  ihnen  nicht  verargen,  daß  sie  der  verantwortlichen  politischen 
Rolle  sich  zu  entziehen  suchten,  welche  man  ihnen  aufdrängte.  Ich 
will  und  kann  die  Künstler  nicht  anklagen,  die  ihnen  von  deutscher 
Seite  dargebotene  Hand  zurückgewiesen  zu  haben,  ich  weiß  zu  wohl, 
daß  sie  —  mit  verschiedenen  Ausnahmen  —  vom  besten  Willen 
beseelt  und  vom  erfreulichsten  Verständnis  für  die  Sache  erfüllt  waren. 
Aber  die  Regierung  kann  ich  von  der  Anklage  nicht  freimachen, 
den  Mut  und  den  Willen  nicht  gefunden  zu  haben,  den  Künstlern 
den  Kompaß  zu  geben,  dessen  sie  in  dem  Sturm  bedurften.  Nicht 
genug,  daß  sie  sich  von  vornherein  in  der  Frage  der  Ausstellung 
in  schweigsame  Neutralität  hüllte,  eine  Haltung,  welche,  wie  ich  zu 
wissen  glaube,  weniger  dem  Bedürfnis  politischer  Vorsicht  wie  dem 
Gefühl  der  Bitterkeit  entsprang,  das  aus  der  schroffen  Zurückweisung 
zurückgeblieben,  welche  seinerzeit  die  wiederholte  französische  Ein- 
ladung zur  künstlerischen  Beteiligung  an  der  Pariser  Weltausstellung 
zu  Berlin  gefunden*,  nicht  genug  dieser  eisigen  Indifferenz,  aus 
welcher  die  Regierung  auch  dann  nicht  zu  treten  wagte,  als  die  rege 
Beteiligung  der  französischen  Künstler  gesichert  schien,  ist  sie  zuerst 
es  gewesen,  welche  in  der  Frage  des  Kranzes  schwächlich  und  schmäh- 
lich vor  Deroulede  und  seinen  Genossen  die  Waffen  gestreckt  hat. 

Der  ganze  Vorgang,  die  Wendung,  welche  die  Frage  der  Aus- 
stellung in  Verbindung  mit  der  Anwesenheit  der  erlauchten  Mutter 
unseres  allergnädigsten  Kaisers  und  Königs  genommen,  bestätigt  leider 
wieder  die  alte  Wahrheit,  daß  die  Franzosen  in  Dingen,  welche  auch 
nur  einigermaßen  die  Politik  berühren,  unberechenbar  sind,  daß  das 
laute  und  das  stille  Wirken  einiger  berufsmäßiger  Störenfriede  genügt, 
um  Regierung  und  öffentliche  Meinung  zur  Verwirrung  und  Veriri-ung 
zu  bringen,  die  Stimme  der  Vernunft  und  bessere  Regungen  zu  er- 
sticken. 

Es  ist  dabei  ein  schwacher  Trost,  daß  solche  Emballements,  wie 
jetzt  eines  vorliegt,  rasch  vorübergehen,  und  daß  einzelne  Köpfe  Klar- 
heit und  Nüchternheit  bewahren,  wie  die  beiliegenden  Artikel  des 
„Figaro"  von  gestern  und  heute  beweisen,  wo  „un  Fran^ais"  die 
•  Vgl.  Bd.  III,  Kap.  XX,  Nr.  650  ff.  und  Bd.  VI,  Kap.  XL,  Nr.  1282. 
278 


Bedenken  gegen  Beteiligung  an  der  Berliner  Ausstellung  sehr  ver- 
ständig widerlegt,  und  wo  ein  anderer  unter  dem  Pseudonym  „Ca- 
liban"  den  Maler  Puvis  de  Chavannes,  das  Haupt  der  Opposition, 
geschickt  ad  absurdum   führt. 

Ich  darf  Euerer  Exzellenz  gehorsamst  anheimstellen,  den  Präsiden- 
ten des  Berliner  Ausstellungskomitees  Direktor  von  Werner  von  der 
veränderten  Sachlage  in   Kenntnis  setzen   zu  wollen.  Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Jal 

Nr.  1550 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  19  Berlin,  den  28.  Februar  1891 

Antwort   auf   Telegramm   Nr.  17*. 

Ew.  ersuche  ich,  Ihrerseits  keine  Iniative  für  Besprechung  der 
durch  die  Reise  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  veranlaßten 
Kundgebungen  zu  nehmen. 

Falls  Sie  darauf  angeredet  werden,  wollen  Sie  die  Anschauung 
der  Regierung  Seiner  Majestät  des  Kaisers  dahin  zusammenfassen,  daß 
wir  der  Regierung  der  Republik  keinen  Vorwurf  machen,  vielmehr 
glauben,  daß  sie  zur  Wahrung  des  Gastrechts  ihr  möglichstes  getan 
hat,   soweit  ihre  Mittel  reichten.  Marschall 

Nr.  1551 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  40  Paris,  den  28.  Februar  1891 

Ich  bin  diese  Nacht  von  Calais  zurückgekehrt,  wohin  ich  Ihre 
Majestät  die  Kaiserin  Friedrich  begleitet  hatte.  Ich  kann  nicht  leugnen, 
daß,  so  angenehm  mir  der  Besuch  Ihrer  Majestät  war,  der  zu  meiner 
Freude  die  hohe  Frau  sehr  zu  befriedigen  schien,  mir  ein  Stein 
vom  Herzen  war,  als  wir  das  englische  Schiff  in  Calais  bestiegen. 
Der  Artikel  der  „Kölnischen  Zeitung****,  der   besonders    deshalb 


♦  Siehe  Nr.  1548. 

**  Am  26.  Februar  hatte  die  „Kölnische  Zeitung"  einen  —  nicht  offiziösen  —  sehr 
scharfen  Artil<el  unter  der  Oberschrift  „Ein  ernster  Zwischenfall"  gebracht,  der 
nach  „ausreichender  Genugtuung"  wegen  der  „bubenhaften  Verunglimpfungen"  der 
Kaiserin  Friedrich  rief. 

279 


so  sehr  taktlos  war,  weil  er  während  der  Anwesenheit  Ihrer  Majestät 
erschien,  hatte  hier  eine  solche  Aufregung  auf  der  Börse  und  in 
der  Presse  hervorgebracht,  daß  die  hiesige  Polizei  sehr  besorgt  war, 
daß  bei   der  Abreise  irgendeine   Demonstration   möglich  sein  könnte. 

Die  Direktion  der  Nordbahn  schlug  mir  im  Einverständnis  mit 
der  Polizeibehörde  vor,  ich  möge  die  ursprünglich  beabsichtigte  Abfahrt- 
zeit von  111/2  Uhr  für  die  Leute  und  Gepäck  Ihrer  Majestät  beibehalten 
und  die  Kaiserin  selbst  um  10  Uhr  mit  dem  Zuge  nach  Boulogne  ab- 
fahren lassen;  von  Boulogne  nach  Calais  wurde  ein  Sonderzug  gestellt. 

Die  Polizei  hatte  auf  dem  ganzen  Wege  Polizeimannschaften  auf- 
gestellt. Es  war  nicht  viel  Publikum  auf  den  Straßen,  mehr  aber  vor 
dem  Bahnhofe.  Dort  grüßte  das  Publikum  sehr  ehrerbietig,  und  ist 
nicht  das  Geringste,  nicht  ein  Ruf  vorgekommen. 

Ihre  Majestät  die  Königin  Victoria  hatte  ein  Schiff  der  Chatham 
Dover  Company,  Calais — Douvres,  zu  Ihrer  Majestät  Disposition  ge- 
stellt, und  General   Duplat  empfing  in  Calais  die  Kaiserin. 

Gleich  am  ersten  Morgen  sagte  ich  der  Kaiserin,  ich  bäte  dringend 
um  die  größte   Vorsicht  nach   zwei   Richtungen  hin. 

„Die  Klippen,  an  denen  Ihre  Reise  und  unsere  guten  Beziehungen 
zu  Frankreich  scheitern  können,  sind  die  Orleans  und  die  Künstler, 
Von  den  Orleans  dürfen  Euere  Majestät  niemanden  sehen,  und  von 
der  Berliner  Ausstellung  dürfen  Euere  Majestät  hier  womöglich  gar 
nicht  sprechen." 

Die  Kaiserin  versprach  mir  beides.  Was  die  Orleans  betrifft,  so 
hat  die  Kaiserin  ihr  Versprechen,  so  schwer  es  ihr  wurde,  sehr  gut 
und  mit  dem  größten  Takte  gehalten,  trotzdem  daß  jene  wiederholt 
Versuche  machten,  die  Kaiserin  zu  sehen. 

Der  Herzog  und  die  Herzogin  von  Chartres  hatten  nach  Cannes 
gehen  wollen,  waren  aber  noch  hier  geblieben,  und  schrieb  gleich  am 
ersten  Morgen  die  Herzogin,  sie  stelle  sich  ganz  zur  Disposition  der 
Kaiserin  und  bitte,  ihr  eine  Stunde  zu  bestimmen.  Ihre  Majestät  er- 
widerte, daß  die  Herzogin  und  ihre  Familie  einsehen  würden,  daß, 
so  sehr  die  Kaiserin  es  auch  bedauere,  sie  die  Mitglieder  der  Familie 
Orleans  auf  der  deutschen  Botschaft  nicht  empfangen  könne  und  sie 
in  England  zu  sehen  hoffe.  Sie  stellte  einen  Besuch  vor  ihrer  Abreise 
in  Aussicht,  aber  auch  der  ist  unterblieben,  sodaß  über  die  Orleans 
die  Presse  geschwiegen  hat. 

Die  Künstlerateliers  besuchte  die  hohe  Frau  erst  heimlich  vor  mir, 
war  zwar  vorsichtig,  sprach  kein  Wort  über  die  Berliner  Ausstellung. 
Diese  Besuche  wurden  aber  sofort  durch  die  eitlen  Künstler  selbst 
bekannt.  Der  „Figaro"  hatte  taktloserweise  gesagt,  Ihre  Majestät 
komme  nur  nach  Paris,  um  für  die  Berliner  Ausstellung  zu  werben. 
Die  Besuche  bei  allen  namhaften  Künstlern  und  bei  allen  Kunst- 
sammlern bestärkten  diese  Ansicht,  und  so  wurde  die  Ausstellungs- 

280 


frage   von   allen   uns  feindlichen   Parteien   als   ein   willkommener  Vor- 
wand   zur   Agitation   benutzt. 

In  der  Presse  begann  die  Agitation  gegen  die  Kaiserin  und  die 
Ausstellung  mit  einem  Artikel  des  ,,Matin",  von  dem  ich  ganz  sicher 
annehme,  daß  er  aus  russischer  Quelle  stammt.  Es  ist  mir  schon  früher 
mitgeteilt,  daß  auf  der  dritten  Seite  des  „Matin"  oben  ein  zweiter 
kurzer  Leitartikel  steht.  Diese  halbe  Kolonne  der  Zeitung  ist  im 
voraus  von  den  russischen  Preßagenten  bezahlt,  und  diese  haben 
diesen  Artikel  gewiß  geschrieben. 

Gleichzeitig   änderte    die    Regierung   ihre    Haltung. 

Es  hatten  sich  gleich  am  ersten  Tage  die  Generale  Gallifet, 
Miribel  und  viele  offizielle  und  nicht  offizielle  Personen  eingeschrieben, 
und  der  Präsident  Camot  hatte  im  vertraulichen  Kreise  geäußert,  daß 
er  sich  freuen  werde,  Ihrer  Majestät  seinen  Dank  für  die  so  äußerst 
zuvorkommende  Haltung  der  deutschen  Militär-  und  sonstigen  Behörden 
bei  der  Transferierung  der  Leiche  seines  Großvaters  von  Magdeburg 
auszusprechen. 

Am  Sonnabend  kam  der  hiesige  Zeremonienmeister  zu  mir,  und 
abends  vorher  war  der  taktvollste  Adjutant  des  Präsidenten  Carnot, 
Oberst  Lichtenstein,  bei  mir  gewesen,  und  beide  sagten  mir,  sie 
wünschten  sehr,  daß  der  Präsident  Ihrer  Majestät  einen  Besuch  ab- 
stattete, und  Graf  d'Ormesson  bat  mich  im  Namen  des  Ministers  Ribot, 
ob  ich  am  Sonntagmorgen  zu  ihm  kommen  wolle,  um  das  Weitere  zu 
besprechen. 

Ich  erwiderte,  daß  ich  gern  dazu  bereit  sei,  daß  ich  aber  bei  dem 
Inkognito  der  Kaiserin  keine  Initiative  ergreifen  wolle  und  deshalb 
ihm  kein  Wort  gesagt  habe. 

Als  ich  am  andern  Morgen  zu  Herrn  Ribot  kam,  fand  ich  ihn 
sehr  verlegen  und  nicht  recht  wissend,  was  er  mir  sagen  solle. 

Er  sagte  mir  auf  sehr  ungeschickte  Weise,  ich  hätte  geäußert, 
die  Kaiserin  wolle  inkognito  sein,  und  so  hätte  der  Präsident  Carnot 
auf  den  Rat  des  Ministerpräsidenten  Freycinet  und  des  Ministers 
Constans  beschlossen,  das  Inkognito  streng  zu  respektieren.  Dazu 
käme,  daß  die  sämtlichen  Parteien  eine  Agitation  begönnen.  Sollte 
ich  aber  den  Wunsch  aussprechen,  so  würde  Herr  Carnot  sehr  gern 
Ihrer   Majestät   seinen    Respekt   bezeugen. 

Ich  erwiderte  dem  Minister,  daß  nach  der  Einleitung  seines  Ge- 
sprächs davon  keine  Rede  sein  könne  und  ich  im  Gegenteil  um 
strenge  Einhaltung  des  Inkognito  bitten  müsse. 

Herr  Ribot  erwiderte,  daß  die  Regierung  die  Haltung  der  Presse 
außerordentlich  bedauere.  Herr  Constans  behaupte,  daß  in  der  Kammer 
große  Aufregung  zu  bemerken  sei  und  Interpellationen  zu  erwarten 
seien.    Diese  werde  er  nicht  annehmen. 

Herr  Ribot  schien  über  meine  sehr  bestimmte  Haltung  —  ich  war 
so  streng  und  wenig  höflich  als  möglich  —  etwas  erschreckt  zu  sein 

281 


und  sagte,  er  habe  ebenso  wie  Herr  von  Freycinet  sich  nicht  ein- 
geschrieben bei  Ihrer  Majestät,  um  das  Inkognito  zu  respektieren. 
Es  wäre   aber  doch  wohl   richtiger. 

Ich   erwiderte,    dazu   könne   ich   nichts   sagen. 

Eine  Stunde  darauf  haben  beide  Minister  aber  sich  eingeschrieben. 

Erwähnen  muß  ich  noch,  daß  Herr  Ribot  mir  beim  Weggehen 
sagte,  daß,  falls,  wie  er  vermute,  Ihre  Majestät  Versailles  und  die 
Kunstschätze  dort  besuchen  wolle,  Montag  der  beste  Tag  sei,  weil 
an  dem  Tage  der  Besuch  dem  Publikum  nicht  gestattet  sei.  Er  werde 
in  Versailles  Befehle  geben  lassen,  um  alles  zu  öffnen,  was  etwa  Ihre 
Majestät  zu   sehen   wünschen   würde. 

Aus  der  Haltung  Herrn  Ribots  und  vielen  anderen  Anzeichen  ist 
es  mir  ganz  klar  geworden,  daß  innere  Gründe  die  Schwäche  der 
Regierung  der  Agitation  gegenüber  zur  Folge  gehabt  haben.  Freycinet 
contra  Carnot,  Constans  contra  Ribot.  Freycinet  will  den  Präsidenten 
Carnot  ersetzen,  Constans  will  Ministerpräsident  und  Minister  des 
Auswärtigen    werden. 

Alles  ist  hier  Intrige,  das  kann  auch  nicht  anders  sein  bei  einer 
Regierung  von  Emporkömmlingen,  die  nicht  zum  Regieren  geboren 
und  erzogen  sind. 

Leute,  die  zu  Pferde  steigen,  ohne  reiten  zu  können,  sind  gefähr- 
lich für  sich,  das  Pferd  und  andere:  so  geht  es  den  hiesigen  Macht- 
habern. 

Münster 


Nr.  1552 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VIL  Reuß  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  56  Wien,  den  26.  Februar  1891 

Der  Besuch  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  in  der  fran- 
zösischen Hauptstadt  ist  hier  seit  dem  Bekanntwerden  der  Absicht 
desselben  Gegenstand  des  allgemeinen  Interesses  gewesen  und  hat 
namentlich  auch  die  gesamte  Presse  fortgesetzt  beschäftigt.  Lange 
telegraphische  Berichte  gaben  die  Einzelheiten  des  Aufenthaltes  der 
hohen  Frau  bekannt  und  verzeichneten  die  Stimmung  der  Pariser  Be- 
völkerung, soweit  sie  in  öffentlichen  Kundgebungen  oder  in  den  Tages- 
blättern zum  Ausdruck  gelangte.  Heute  bringen  auch  Organe  der 
verschiedensten  Richtung  bezügliche  Leitartikel;  ohne  eine  ernstliche 
Friedensstörung  infolge  des  ungalanten  Verhaltens  der  Franzosen  zu 
besorgen,  konstatieren  sie  doch  übereinstimmend  das  Scheitern  des 
deutsch-französischen    Annäherungsversuches    und    sagen    eine    Ver- 

282 


schlechterung  der   Beziehungen   zwischen   den   beiden  Nachbarreichen 
als  unvermeidlich  voraus. 

Graf  Kälnoky,  sobald  er  von  der  projektierten  Reise  Ihrer  Majestät 
gehört  hatte,  sprach  mir  sofort  seine  Besorgnis  aus,  daß  die  Sache 
kein  gutes  Ende  nehmen  würde.  Er  sagte  mir  damals,  er  gäbe  gar 
nichts  auf  alle  die  kleinen  Höflichkeiten,  die  uns  die  Franzosen  in 
jüngster  Zeit  gemacht  hätten.  Der  Eindruck,  den  das  Schreiben  wegen 
Meissonnier  gemacht,  sei  allerdings  ein  großer  gewesen;  aber  das 
wolle  bei  diesen  leicht  erregbaren  Leuten  gar  nichts  sagen.  Solange 
die  Franzosen  den  Frankfurter  Frieden  nicht  ohne  Hinterhalt  anerkennen 
würden,  solange  gäbe  er  nichts  auf  ihre  Freundschaftsbezeugungen 
Deutschland  gegenüber. 

Heute  sagte  mir  der  Minister,  seine  Prophezeiung  habe  sich  leider 
bewahrheitet.  Es  nütze  nichts,  den  Franzosen  Avancen  zu  machen, 
denn  wenn  dieselben  mißglückten,  so  sei  das  Verhältnis  nachher 
schlechter  als  vorher.  Wenn  auch  alle  anständigen  Leute  in  Frank- 
reich die  Unhöflichkeit  einiger  Pariser  Schreier  aufrichtig  beklagten, 
so  sei  es  eine  alte  Erfahrung,  daß  diese  Bande  ganz  Frankreich 
tyrannisierte.  Die  große  Masse  des  französischen  Volkes  wolle  den 
Frieden,  aber  sobald  das  Wörtchen  „Revanche"  öffentlich  ertöne,  so 
hätte  niemand  den  Mut,  sich  dagegen  zu  erheben.  Bei  seiner  letzten 
Reise  nach  Frankreich  habe  er  sich  von  der  Wahrheit  dieser  Be- 
hauptungen überzeugen  können,  und  der,  welcher  glauben  würde, 
daß  die  Wunde  von  1870  vernarbt  sei,  würde  sich  einer  argen  Täu- 
schung hingeben. 

H.  VIL  P.  Reuß 


Nr.  1553 

Der  Botschalter  in  London  Graf  von  Hatzfeldt  an  den  Reichs- 
kanzler von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  112  London,  den  27.  Februar  1891 

Der  heutige  „Standard"  bespricht  in  einem  Leitartikel  den  Besuch 
Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  in  Paris  und  verurteilt  auf  das 
schärfste  das  Verhalten  eines  Teiles  der  französischen  Presse  bei  dieser 
Gelegenheit.  Bei  diesem  Besuche  habe  nichts  stattgefunden,  was  das 
französische  Nationalgefühl  vernünftigerweise  hätte  in  Aufregung 
bringen  dürfen.  Wenn  dies  dennoch  durch  die  Presse  kurz  vor  Ab- 
reise Ihrer  Majestät  versucht  worden,  so  sei  dies  lediglich  ein  Beweis 
dafür,  daß  es  mit  der  französischen  Höflichkeit  nicht  so  weit  her  sei, 
als  die  Franzosen  sich  dies  selbst  vorzuspiegeln  beliebten.  Im  übrigen 
habe  die   Kritik   der  französischen   Presse  nur  dazu   beigetragen,   die 

283 


Situation  zu  klären  und  der  Welt  von  neuem  zu  zeigen,  daß  das  fran- 
zösische Revanchegefühl  nicht  verschwunden  sei,  sondern  immer  noch 
denselben  bedenklichen  und  den  Frieden  bedrohenden  Charakter  habe. 
In  ähnlichem  Sinne  spricht  sich  der  „Daily  Telegraph"  aus. 

P.  Hatzfeldt 

Nr.  1554 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  20  Berlin,  den  2.  März  1891 

Der  französische  Botschafter  hat  mich  heute  aufgesucht  und  mir 
im  Auftrage  seiner  Regierung  folgende  Mitteilung  gemacht:  Die  Re- 
gierung der  französischen  Republik  glaube  mit  gutem  Gewissen  sagen 
zu  können,  daß  sie  alles  getan  habe,  um  gelegentlich  des  Besuches 
der  Kaiserin  Friedrich  jeden  Zwischenfall  hintanzuhalten  und  der  hohen 
Frau  überall  eine  würdige  und  respektvolle  Aufnahme  seitens  der  Be- 
völkerung zu  sichern.  Wenn  in  einem  Teil  der  Presse  und  in  Ver- 
sammlungen in  bedauerlicher  Weise  verletzende  Äußerungen  gegen 
Deutschland  gefallen,  so  sei  es  unrecht,  die  Regierung  dafür  verant- 
wortlich zu  machen,  da  die  große  Mehrheit  der  Pariser  Bevölkerung 
keinen  Augenblick  aufgehört  habe,  der  hohen  Reisenden  gegenüber 
eine  ruhige  und  würdige  Haltung  zu  bewahren.  Die  französische  Re- 
gierung hoffe  daher,  daß  die  Beziehungen  zwischen  „beiden  Ländern" 
durch  die  jüngsten  Vorgänge  nicht  würden  geändert  werden  und 
zwischen  beiden  Regierungen  das  gute  Einvernehmen  und  die  Auf- 
richtigkeit der  Politik  wie  bisher  bestehen  bleibe. 

Ich  dankte  dem  Herrn  Botschafter  für  seine  Mitteilung  und  be- 
merkte ihm  folgendes:  Wir  machten  der  französischen  Regierung  wegen 
der  jüngsten  Vorgänge  keinen  Vorwurf,  erkennten  vielmehr  an,  daß 
sie  „innerhalb  der  Grenzen  ihrer  Macht"  das  Mögliche  getan  habe, 
um  das  Gastrecht  gegenüber  der  Kaiserin  Friedrich  zu  wahren.  In 
diesem  Sinne  sei  auch  Graf  Münster  für  den  Fall  instruiert,  daß  die 
Angelegenheit  bei  ihm  amtlich  angeregt  werde.  Hiernach  teilte  ich  die 
Erwartung  des  Herrn  Botschafters,  daß  die  jüngsten  Zwischenfälle 
in  den  Beziehungen  von  Regierung  zu  Regierung  eine  Änderung  nicht 
herbeiführen  würden.  Hinsichtlich  der  Beziehungen  zwischen  „beiden 
Ländern"  vermöchte  ich  zu  meinem  Bedauern  nicht  dasselbe  zu  sagen. 
Wir  hätten  von  neuem  die  Erfahrung  gemacht,  daß  in  Frankreich  das 
Revanchegefühl,  das  heißt  der  Wunsch,  Deutschland  mit  Krieg  zu 
überziehen,  um  ihm  Elsaß-Lothringen  zu  entreißen,  so  intensiv  vor- 
handen sei,  daß  sogar  Männer  wie  Deroulede  und  Laur,  die  längst 
jede  Achtung  verloren  hätten,  imstande  seien,  durch  einen  Appell  an 

284 


den  Haß  gegen  uns  die  große  Mehrheit  der  verständigen  Franzosen 
teils  mit  fortzureißen,  teils  dermaßen  einzuschüchtern,  daß  jeder  Versuch 
des  Widerstands  unterbleibe.  Diese  Tatsache  könne  nicht  aus  der 
Welt  geschafft  werden,  sie  bleibe  bestehen  und  zwinge  uns,  auf  der 
Hut  zu  sein  und  uns  für  die  Zukunft  vorzusehen. 

M.  Herbette  frug  mich  dann  vertraulich,  ob  die  Zeitungsnachricht 
wahr  sei,  daß  Graf  Münster  abberufen  werden  solle.  Ich  verneinte 
dies*,  worauf  der  Herr  Botschafter  mir  sagte,  daß  er  mich  deshalb 
hierüber  befragt  habe,  weil  er  bejahendenfalls  entschlossen  gewesen 
sei,  seine  Entlassung  einzureichen.  Ich  erklärte  darauf  Herrn  Herbette, 
wir  erwarteten,  daß  auch  bezüglich  seiner  Person  keine  Änderung 
beabsichtigt  sei,  da  wir  einen  derartigen  Wechsel  als  in  Widerspruch 
mit  den  heutigen  Erklärungen  der  französischen  Regierung  stehend 
betrachten   müßten. 

Marschall 

Nr.  1555 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  24  Paris,  den  3.  März  1891 

Telegramm  Nr,  20**  mit  vielem  Interesse  und  Dank  erhalten.  Heil- 
same Reaktion  bricht  hier  durch.  Öffentliche  Meinung  macht  die 
chauvinistischen  Aufwiegler  für  Störung  der  Beziehungen  und  Paß- 
zwang*** verantwortlich.  Habe  über  Handhabung  der  Pässe  bisher 
nur  Weisungen  aus  Straßburg,  die  viel  strenger  sind  als  je  vorher, 

*  Vgl.  Nr.  1565. 
**  Siehe  Nr.  1554. 

***  Am  28.  Februar  meldete  der  „ReichsanzeFger":  „Der  Reichskanzler  hat  den 
Kaiserlichen  Statthalter  in  Elsaß-Lothringen  ersucht,  bis  auf  weiteres  von  jeder 
Milderung  in  der  praktischen  Handhabung  des  bestehenden  Paßzwanges  abzusehen 
und  bezügHch  der  den  französischen  Grenzgemeinden  auf  Grund  der  Paßverord- 
nung eingeräumten  Verkehrserleichterungen  keinerlei  Erweiterung  eintreten  zu 
lassen."  Gleichzeitig  wurde  durch  Verordnung  des  Kaiserlichen  Ministeriums  für 
Elsaß-Lothringen  in  Straßburg  vom  28.  Februar  vom  3.  März  an  die  strengere 
Paßkontrolle  für  die  Reichslande  wieder  eingeführt  gemäß  der  Verordnung  vom 
22.  Mai  1888.  Vgl  Bd.  VI,  Kap.  XL:  Französisch-deutsche  Kriegsgefahr  und  ihre 
Nachwiricungen  1886—1890,  Nr.  1284.  Daran  änderte  auch  die  Deputation  nichts, 
die  der  Elsaß-Lothringische  Landesausschuß  im  März  nach  Berlin  sandte;  Kaiser 
Wilhelm  II.  selbst  erklärte  bei  dem  feierlichen  Empfang  der  Deputation  am  14.  März, 
daß  für  jetzt  die  Wünsche  auf  Aufhebung  des  Paßzwanges  nicht  erfüllt  werden 
könnten;  doch  hoffe  er,  daß  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  die  Verhältnisse  es  ge- 
statten möchten,  im  Verkehr  an  der  Westgrenze  wiederum  Erleichterungen  ein- 
treten zu  lassen.  Tatsächlich  zeigte  sich  Reichskanzler  von  Caprivi  schon  am  22.  Mai 
geneigt,  wieder  eine  mildere  Praxis  eintreten  zu  lassen.  Vgl.  Denkwürdigkeiten 
des  Fürsten  Chlodwig  zu  Hohenlohe-Schillingsfürst  Bd.  II,  S.  475  f.,  478.  Vgl. 
jedoch  Nr.  1572. 

285 


was  mir  nicht  ganz  unbedenklich  und  schwer  durchführbar  erscheint; 
dies  gilt  namentlich  von  den  dringenden  Fällen  und  Durchgangsvisa, 
für  welche  ausnahmslos  Anfrage  in  Straßburg  verlangt  wird. 

Münster 


Nr.  1556 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  21  Berlin,  den  4.  März  1891 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  23*. 

Die  Beschickung  der  Berliner  Ausstellung  durch  französische 
Künstler  würde  nach  den  letzten  Vorgängen  für  uns  einen  Werl 
nicht  mehr  haben.  Ich  ersuche  Sie  daher,  in  dieser  Frage  fernerhin 
sich  gänzlich  reserviert  und,  soweit  Ihre  Vermittelung  in  Frage  kommt, 
ablehnend  zu   verhalten. 

Marschall 

Nr.  1557 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.    Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  22  Berlin,  den  4.  März  1891 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  24**. 

Wenn  wirklich  die  zeitweilig  strengere  Paßkontrolle  „nicht  un- 
bedenklich" sein  sollte,  so  träfe  die  Verantwortung  nicht  uns,  sondern 
diejenigen,  welche  Deutschland  in  den  Zustand  politischer  Notwehr 
versetzt  haben.  Die  Paßmaßregel,  welche  nebenbei  auch  beweist,  daß 
wir  nicht  gewillt  sind,  um  jeden  Preis  den  Folgen  einer  französischen 
Aufwallung  auszuweichen,  wird  den  vernünftigen  und  friedlichen  Ele- 
menten in  Frankreich  eine  Mahnung  sein,  der  Regierung,  welche 
diesesmal  übergerannt  wurde,  künftig  besser  den  Rücken  zu  stärken. 
Daß  die  Aufwiegler,  wie  Ew.  melden,  für  die  Störung  der  Beziehungen 
und  für  den  Paßzwang  verantwortlich  gemacht  werden,  zeigt  schon 
einen  Anfang   richtiger   Erkenntnis. 

*  Im   Telegramm  Nr.  23  vom   3.  März  hatte  Graf  Monster  gemeldet,   daß   nam- 
hafte französische  Künstler  an  der  Absicht  der  Beschickung  der  Berliner  Ausstellung 
festhielten    und    versuchen    wollten,   die    französische    Beteiligung   im    stillen    zu 
reorganisieren. 
♦*  Siehe  Nr.  1555. 

286  : 


Zu  Ew.  Information  bemerke  ich,  daß,  falls  die  Regierung  der 
Republik  versuchen  sollte,  durch  Ausweisung  unbeteiligter  deutscher 
Zeitungskorrespondenten  den  Schwerpunkt  der  Verantwortung  zu  ver- 
schieben, wir  eventuell  durch  Gegenmaßnahmen  antworten  werden. 
Wir  sind  es  dem  empörten  deutschen  Nationalgefühl  schuldig,  den 
Franzosen   in   diesem   Falle  nicht   das  letzte  Wort  zu  lassen. 

Marschall 

Nr.  155S 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  46  Paris,  den  5.  März  1891 

Gestern  sah  ich   am   Mittwochsempfang  Herrn   Ribot. 

Der  Minister  sagte  mir,  der  Botschafter  Herbette  habe  über  sein 
Gespräch  mit  dem  Herrn  Staatssekretär  von  Marschall  berichtet,  und 
bemerkte  dabei,  daß  er  sehr  dankbar  sei,  daß  die  Kaiserliche  Re- 
gierung die  Vorgänge  beim  Besuche  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Fried- 
rich auf  eine  so  gerechte  und  für  die  französische  Regierung  rück- 
sichtsvolle Weise  aufgefaßt  habe.  Er  hoffe  und  rechne  darauf,  daß 
unsere  internationalen  Beziehungen  dadurch  nicht  affiziert  und  gestört 
werden  könnten  i. 

Er  sprach  wiederholt  sein  Bedauern  über  die  Haltung  der  Presse 
und  der  Künstler,  die  sich  haben  terrorisieren  lassen,  aus.  Namentlich 
tadelte  er  in  den  schärfsten  Worten  das  Benehmen  des  Malers  Detaille, 
der  erst  der  wärmste  Anhänger  der  Berliner  Ausstellung  gewesen  und 
dann,  durch  Drohungen  erschreckt,  eine  so  elende  Rolle  gespielt  habe. 

Bei  alledem  müsse  ich  aber  doch  anerkennen,  daß  Ihre  Majestät 
überall  mit  dem  größten  Respekt  von  selten  der  Bevölkerung  und 
Regierung  behandelt  worden  sei,  was  auch  Ihre  Majestät  selbst  sehr 
anerkannt  habe^. 

Ich  erwiderte  darauf,  das  sei  bis  auf  die  unerhörte  Haltung  der 
Presse  und  die  Chauvinisten^  richtig.  Hier  sei  man  leider  schon 
gegen  die  Injurien  der  Presse  abgestumpft,  bei  uns  sei  das  Gott  sei 
Dank   noch   nicht   der   Fall. 

Ich  erinnerte  Herrn  Ribot  daran,  daß  ich,  sowie  ich  am  Sonnabend 
abend  erfahren  hätte,  daß  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  Friedrich  am 
Mittwoch  herkommen  wolle,  gleich  Sonntag  morgen  zu  ihm  gekommen 
und  nachher  den  Ministerpräsidenten  Freycinet  aufgesucht,  ihnen  beiden 
die  Absicht  Ihrer  Majestät  mitgeteilt  habe  und  sie  mir  die  bestimmte 
Versicherung  gegeben  hätten,  daß  Ihre  Majestät  auf  die  beste  Auf- 
nahme werde  rechnen  können,  und  daß  dieser  Besuch  hier  sehr  will- 
kommen sei.   Ich  hätte  also  gar  nichts  anders  annehmen  können  und 

287 


hätte  glauben  müssen,  daß  die  beiden  Minister  die  öffentliche  Stim- 
mung wirklich  kennten*. 

Herr  Ribot  erwiderte  mit  sichtlicher  Verlegenheit,  was  ich  sage, 
sei  eigentlich  ganz  richtig,  es  würde  aber  alles  auch  sehr  gut  ver- 
laufen und  sogar  äußerst  nützlich  gewesen  sein,  wenn  der  Besuch 
nicht  etwas  sehr  ausgedehnt  worden  wäre.  Das  hätte  der  Minister 
mir  aber  nicht,  und  selbst  ich  Ihrer  Majestät  als  Wirt  im  Hause  nicht 
sagen  können. 

Gefährlicher  und  unangenehmer  sei  die  Sache  erst  durch  den 
Artikel  der  „Kölnischen  Zeitung"  geworden,  weil  dieser  noch  während 
der  Anwesenheit  Ihrer  Majestät  erschienen  sei. 

Aber  auch  da  habe  die  Regierung  ihre  Pflicht  getan,  und  die  Be- 
völkerung gezeigt,  daß  sie  sich  nicht  aufregen  lasse,  was  ja  auch 
richtig  ist. 

Am  Schlüsse  sagte  er  mir  nochmals,  er  bedauere  die  Vorfälle, 
auch  werde  ich  mich  davon  überzeugen,  daß  dieses  Bedauern  von 
allen  rechtlichen  Menschen  in  Paris  geteilt  werde  ^  und  in  der  Presse 
ein  ganz  anderer  Ton  beginne.  Er  sei  deshalb  überzeugt  und  hoffe, 
daß   unsere   Beziehungen   durchaus  nicht  darunter  leiden  würden. 

Über  die  Verschärfung  der  Paßvorschriften  haben  weder  der  Mi- 
nister noch  viele  andere  offizielle  Persönlichkeiten,  die  ich  bei  einem 
großen  diplomatischen  Diner  beim  Präsidenten  des  Senates,  Herrn 
Royer,  sah,  kein  Wort  gesprochen,  obgleich  diese  Maßregel  hier  viel 
Aufsehen  gemacht  und  sehr  abschreckend  und  abkühlend  gewirkt  hat. 

Der  Präsident  Royer  und  viele  anwesende  Senatoren,  namentlich 
die  Herren  Jules  Ferry  und  J.  Simon  sprachen  ihr  Bedauern  über 
die  letzten  Vorfälle  aus  und  tadelten  nicht  allein  die  Haltung  der  Presse 
und  der  Künstler,  sondern  auch  in  sehr  offener  Weise  die  Schwäche 
der  hiesigen  Regierung,  die  sie  selbst  sehr  streng  verurteilten  und  ver- 
antwortlich machten. 

Die  beiden  Generale  Billot  und  Davoust  (Herzog  von  Auerstedt), 
die  als  Senatoren  anwesend  waren,  sprachen  in  sehr  militärischen, 
kräftigen  Ausdrücken  ihren  Tadel  aus  und  schonten  dabei  ihren  Kriegs- 
minister nicht,  von  dem  sie  sagten,  daß  es  ganz  unwürdig  sei,  daß 
er  als  Ministerpräsident  und  namentlich  als  Kriegsminister  mit  einem 
Manne  wie  Deroulede  bei  einer  solchen  Gelegenheit  sich  in  Ver- 
handlungen eingelassen  habe^. 

Dasselbe  tut  auch,  wo  ich  ihn  sehe,  General  Gallifet  und  alle 
Offiziere,   denen   ich   zufällig  begegne. 

Auch  die  Art,  wie  sie  den  Rittmeister  von  Funcke*  bei  seinen 
Besuchen  aufgenommen  haben,  zeigt  ein  sehr  richtiges,  anständiges 
Gefühl. 

Trotzalledem   bleibt  die   Tatsache  bestehen,   daß   die   Regierung 

•  Militärattache  bei  der  Pariser  Botschaft. 
288 


schwächer  ist,  als  sie  schien,  und  daß  elende  Aufwiegler  und  kleine 
Minoritäten   viel   Unheil   anrichten   können. 

Die  jetzige  Reaktion  zeigt  aber  —  und  das  ist  eine  gute  Seite 
der  Sache  — ,  daß  die  Majorität  des  französischen  Volkes  das  selbst  zu 
fühlen  beginnt  und  die  Aufwiegler  wie  Deroulede  und  Konsorten"^ 
erkannt  sind  und  hoffenthch  sehr  an  Einfluß  hier  und  im  Elsaß  ver- 
lieren  werden. 

Die  Boulangisten  haben  gehofft,  dabei  wieder  an  Einfluß  zu  ge- 
winnen, haben  aber  nicht  ihre  Rechnung  dabei  gefunden  und  sich 
mehr  geschadet  als  genutzt. 

Wenn  ich  gleich  anfangs  andeutete,  daß  der  russische  Rubel 
auf  Reisen  den  Anstoß  zu  dieser  elenden  Preßkampagne  gegeben 
habe,  so  wird  mir  diese  Ansicht  von  den  verschiedensten  Seiten  be- 
stätigt. Fühlen  läßt  sich  das,  nicht  beweisen,  weil  diese  Rubel  streng 
inkognito  reisen*,  pp.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 
i  Oho! 

*  unglaublich!  was  ist  da  anzuerkennen,  das  sollte  sich  doch  in  der  Grande  Nation 
von  selbst  verstehn! 

3  Freycinisten! 

*  aber  Freycinet  nicht 

^  die  aber  nie  die   Energie  haben  so  etwas  zu  verhindern 

ß  also  direkt  eingestanden  daß  man  Beziehungen  gehabt!    Ei!  Ei! 

'  und  Freycinet 

Nr.  1559 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Entzifferung 
Nr.  64  Paris,  den  23.  iUärz  1891 

Herr  von  Freycinet  sagte  mir,  daß  die  Gerüchte  über  die  Ab- 
berufung Herbettes  völlig  unbegründet  seien  i,  die  Regierung  habe  die- 
selbe niemals  in  Erwägung  gezogen,  und  den  Angriffen  gegen  Herbette 
habe  sie  gar  keine  Beachtung  geschenkt.  Die  Regierung  lege  auf  die 
guten  Beziehungen  mit  Deutschland  den  größten  Wert  und  wisse,  daß 
Herbette  bei  uns  persona  grata  sei.  Bei  dieser  Gelegenheit  sprach 
der  Minister  in  den  stärksten  Ausdrücken  seine  Mißbilligung  aus  über 
die  Haltung  der  Presse  während  des  Aufenthalts  der  Kaiserin  Fried- 
richs, Die  Maler,  die  sich  durch  die  Patriotenliga  haben  einschüchtern 
lassen,  hätten  selbst  den  wohlverdienten  Schaden.  Zu  seiner  Freude 
habe  aber  die  Pariser  Bevölkerung  selbst  dieses  Vorgehen  mißbilligt, 
und  sei  doch  überall  Ihrer  Majestät  der  ihr  gebührende  Respekt  bewiesen. 

*  Vgl.  den  charakteristischen  Bericht  des  Militärbevollmächtigten  in  Petersburg 
General  von  Villaume  vom  5.  März  1891  über  den  Widerhall  der  Pariser  Vorgänge 
beim  Besuch  der  Kaiserin  Friedrich  in  der  russischen  Presse.  Kap.  XLVII,  Nr.  1493. 

19    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  289 


Die  Regierung  wolle  jetzt  energisch  die  Patriotenliga,  die,  ob- 
gleich schon  früher  verboten,  im  geheimen  noch  zu  bestehen  scheine^ 
beseitigen  und  ihre  Auflösung  mit  allen  ihr  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  durchsetzen.  Dem  Unfug,  der  mit  dem  Verkauf  von  Karikaturen 
getrieben  werde,  solle  gesteuert  werden,  und  bereite  die  Regierung 
eine  Gesetzesvorlage  zu  dem  Zweck  vor 3.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Das  glaube  ich  nicht 

2  im   Privatgespräch  aber  warum  nicht  offen  in  seiner  Presse! 

3  moutardc  apres  dinerl 

Nr.  1560 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Holstein 

Eigenhändig 

Berlin,  den  30.  März  1891 

Angesichts  der  fortschreitenden  russischen  Rüstungen  scheint  es 
angezeigt,  den  Generalstab  um  Auskunft  über  die  für  den  Herbst  in 
Aussicht  genommenen  französischen  Manöver  an  der  Ostgrenze 
zu  ersuchen. 

Die  zweite  Frage,  ob  die  zur  Verwendung  kommenden  Streit- 
kräfte Vorsichtsmaßregeln  von  unsrer  Seite  nötig  machen,  könnte 
entweder  gleich  oder  nach  erfolgter  Beantwortung  der  ersten  Frage 
dem  Generalstabe  gestellt  werden.  Die  Gegenmaßnahmen  würden  un- 
zweifelhaft eine  Erhöhung  der  Kriegsgefahr  in  sich  schließen.  Es 
bleibt  daher,  falls  dieselben  als  unvermeidlich  erkannt  werden  sollten, 
zu  erwägen,  ob  man  nicht  die  französische  Regierung  von  dieser  Even- 
tualität in  Kenntnis  setzt,  solange  sie  es  vielleicht  noch  in  der  Hand 
hat,  den  Manövern  ihren  bedrohlichen  Charakter  zu  nehmen.  Andrer- 
seits würden  wir,  wenn  Frankreich  auf  unsre  Warnung  ausweichend 
oder  mit  non  possumus  antwortet,  in  der  Lage  sein,  uns  ein  Urteil 
darüber  zu  bilden,  ob  die  französische  Regierung  es  auf  den  Krieg 
ankommen  lassen  will.  Holstein 

Nr.  1561 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  71  Berlin,  den  31.  März  1891 

Die  Zeitungen  haben  in  neuerer  Zeit  wiederholt  gemeldet,  daß  in 
Frankreich  Probemobilmachungen  in  größerem  Maßstabe  beabsichtigt 
werden. 

290 


Ew.  wollen  den  Herrn  Militärattache  ersuchen,  über  das,  was  er 
bezüglich  solcher  Absichten,  namentlich  betreffs  Mobilmachungen  in 
den  östlichen  Departements  in  Erfahrung  bringt,  zu  berichten;  des- 
gleichen über  die  ungefähre  Truppenzahl,  welche  für  die  diesjährigen 
Manöver  in  der  Nähe  der  Ostgrenze  zusammengezogen  werden  sollen. 

Marschall 

Nr.  1562 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  35  Paris,  den  4.  April  18Q1 

Antwort  auf  Erlaß  Nr.  71  *. 

Nach  von  Rittmeister  von  Funcke  an  maßgebender  Stelle  ein- 
gezogenen zuverlässigen  Nachrichten,  die  mir  auch  von  anderer  Seite 
bestätigt  wurden,  sind  Gerüchte  über  in  Frankreich  beabsichtigte  Probe- 
mobilmachungen im  größeren  Maßstabe  gänzlich  unbegründet.  Bericht 
des  Rittmeisters  von  Funcke  folgt  anfangs  der  Woche  durch  Feldjäger. 

Münster 

Nr.  1563 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Csprivi 

Ausfertigung 

Nr.  71  Paris,  den  6.  April  18Q1 

Ich  habe  die  Ehre,  einliegend  den  Bericht**  des  Rittmeisters 
von  Funcke  über  die  Gerüchte  beabsichtigter  partieller  Mobilisations- 
versuche  gehorsamst  zu  übersenden. 

Ich  hatte  Gelegenheit,  mit  dem  Kriegsminister  von  Freycinet  dar- 
über zu  sprechen. 

Der  Minister  sagte,  die  Presse  übertreibe  die  Bedeutung  militäri- 
scher Maßregeln  teils  aus  Unkenntnis,  noch  öfters  aber  aus  bösem 
Willen,  und  es  schiene  jetzt  vielfach,  als  sei  die  Presse  bemüht,  in 
einer  solchen  Maßregel  aggressive  Tendenzen  und  die  Vorbereitungen 
zu  einem  bald  zu  erwartenden  Kriege  zu  erblicken. 

Er  habe  mir  schon  öfters  gesagt,  daß  er  allerdings  es  für  seine 
Pflicht  halte,  die  französische  Armee  möglichst  stark  und  kriegsbereit 
zu  machen.  Er  freue  sich  aber,  wiederholt  versichern  zu  können  i, 
daß  dieses  in  der  friedlichsten  Absicht  geschehe.    Er  gestehe  zu,  daß 

*  Siehe  Nr.  1561. 

**  Nicht  bei  den  Akten. 

19«  291 


darin  ein  gewisser  Widerspruch  zu  liegen  scheine,  und  dennoch  sei 
es  wirklich  der  Fall.  Je  mehr  Frankreich  sich  stark  fühle,  je  ruhiger 
werde  die  Nation. 

Die  Unruhe,  die  sich  nach  dem  Kriege  oft  gezeigt  habe,  die 
chauvinistische  Agitation  2  sei  vor  allem  dadurch  entstanden  und  genährt 
worden,  daß  das  Vertrauen  zu  der  Armee  ein  zu  geringes  war,  daß 
die  französische  Nation  das  Gefühl  gehabt  habe,  sie  könne  sich  gegen 
Angriffe  von  außen  nicht  wehren  und  habe  eine  isolierte,  der  Größe 
und  wirklichen   Kraft  der  Nation  unwürdige  Stellung. 

Jetzt,  wo  die  Überzeugung  sich  überall  mehr  Bahn  breche,  daß 
Frankreich  eine  wirklich  imposante,  in  jeder  Hinsicht  kriegstüchtige 
Armee  besitzt,  beruhige  sich  das  französische  Volk  3,  welches  immer 
friedfertiger  werde  und   entschieden  den  Krieg  nicht  wolle. 

Was  die  in  der  letzten  Zeit  öfters  besprochenen  partiellen  Mobil- 
machungen betreffe,  so  sei  schon  von  vornherein  der  Ausdruck  falsch. 
Es  seien  nicht,  wie  die  Zeitungen  es  nannten,  „des  mobilisations  par- 
tielles", sondern  „des  alertes".  Es  seien  Alarmierungen,  wie  sie  Seine 
Majestät  unser   Kaiser  öfters  befehle. 

Die  Korpsgenerale  müßten  sich  von  dem  Zustande  und  der  Kriegs- 
bereitschaft ihrer  Korps  überzeugen,  und  es  sei  ihnen  überlassen,  solche 
„alertes"  zu  befehlen,  wenn  sie  es  für  notwendig  hielten. 

Mobilmachung  sei  ganz  etwas  anderes.  Es  könne  keine  Kompagnie 
mobil  gemacht  werden,  ohne  ein  Spezialgesetz,  ohne  Einwilligung  der 
Kammern*. 

Um  die  größeren  Mobilmachungsversuche  des  Generals  Feron  zu 
ermöglichen,  habe  es  eines  besonderen  Gesetzes  und  einer  besonderen 
Bewilligung  der  Kammern  bedurft. 

Jetzt  sei  aber  keine  Mobilmachung  beabsichtigt;  auch  rückten 
die  Truppen  zum  Manöver  in  der  Friedensstärke  aus:  es  würden  nur 
wenige  Reservisten  dazu  eingezogen,  und  von  Beteiligung  der  Armee 
territoriale  sei  keine  Rede.  Die  Truppen  hätten  keine  scharfe  Munition 
bei  sich,  sollten  auch  beim  Gebrauche  des  rauchlosen  Pulvers  sehr 
sparsam  sein,  weil  dieses  die  Gewehre  und  namentlich  die  Geschütze, 
wenn  sie  nicht  scharf  geladen  seien,  sehr  angreife  5. 

Die  Manöver  erschienen  dieses  Jahr  um  deshalb  bedeutender  und 
großartiger,  weil  die  Korps  nicht  einzeln,  sondern  im  Zusammenhange 
erst  von  zwei  und  dann  von  vier  Korps  manövrieren  sollten,  was  den 
Zweck  habe,  die  Generale  an  die  Handhabung  von  größeren  Truppen- 
massen zu  gewöhnen. 

Ein  Grund  zur  Beruhigung  liege  also  weder  in  den  ,, alertes" 
noch  in  den  beabsichtigten  Manövern,  und  es  sei  ihm  sehr  erwünscht 
gewesen,  so  offen  sich  mir  gegenüber  haben  aussprechen  zu  können  6. 

Dabei  bemerkte  der  Minister,  er  habe  sich  gefreut,  die  Bekannt- 
schaft des   Rittmeisters  von   Funcke   zu   machen,   und   er   bitte   mich, 

292 


ihm  zu  sagen,  daß  er  und  die  Offiziere  seines  Kriegsministeriums 
stets  gern  bereit  sein  würden,  ihn  zu  empfangen  und  ihm  jede  Aus- 
kunft zu  geben,  die  er  nur  wünschen  könne''. 

Münster 


Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Dann  ist  es  bestimmt  gelogen 

"  sie  ist  jetzt  ins  Volk  übergegangen 

3  das  hat  es  ja  eben  gezeigt!!! 

*  die  kann  man  nachher  einholen  und  wird  in  Frankreich  der  Einwilligung  sicher 

sein 
^  Unsinn!! 

'''  die  alte  Freycinetsche  Phrase!  wer  so  dumm  ist  auf  die  hineinzufallen 
''  Phrase! 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Die  ganze  Geschichte  ist  nur  hohles  Phrasengedresch  ohne  ernsten  Hintergrund. 


Nr.  1564 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  96  Paris,  den  4.  Mai  1891 

Die  poHtische  Situation  sieht  von  hier  aus  gesehen  ruhig  aus 
und  läßt  für  diesen  Sommer  keine  ernsteren  KompHkationen  erwarten  i. 
Präsident  Carnot  will  gern  ruhig  im  Elysee  leben,  Madame  Carnot  be- 
trachtet sich  als  eine  Art  Königin.  Die  Minister  wollen  nicht  gern 
anderen  ihre  Stellung  überlassen,  und  so  wird  alles  vermieden,  was 
im  In-  oder  Auslande  zu  Krisen  führen  könnte. 

Mit  Rußland  wird  nach  wie  vor  geliebäugelt,  die  Liebe  wird  aber 
hoffentlich  noch  lange  platonisch  bleiben. 

Mit  Italien  wünscht  man  jetzt  auch  hier  auf  besseren  Fuß  2  zu 
kommen,  und  was  uns  betrifft,  so  zeigt  sich  überall  das  Bestreben, 
die  unangenehmen  Eindrücke  des  Besuches  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin 
Friedrich  zu  verwischen,  namentlich  zeigt  das  Herr  von  Freycinet  bei 
jeder  Gelegenheit. 

Daß  Herrn  von  Freycinet  nicht  zu  trauen  ist,  weiß  ich  sehr  wohl, 
ich  weiß  aber  auch,  daß  er  vor  allem  an  sich  und  seine  eigene  Stel- 
lung denkt  und  die  Hoffnung  noch  nicht  aufgegeben  hat,  sein  Leben 
als  Präsident  der  Republik  zu  beschließen.  Er  hat  es  sich  zur  Auf- 
gabe gestellt,  die  französische  Armee  so  stark  und  kriegstüchtig  als 
möglich  zu  machen,  damit  die  Nation  sich  stark  fühle.    Daß   ihn   das 

293 


populär  macht,  hat  schon  seine  Wahl  zum  Senator  in  Paris  gezeigt. 
Weiter,  bis  zum  Kriege  will  er  es  entschieden  nicht  treiben  3,  denn  er 
weiß  sehr  wohl,  welch  gefährliches  Spiel  der  Krieg  ist,  daß  ein  sieg- 
reicher General  ihn  rasch  beseitigen  und  jeder  Mißerfolg  auf  seine 
Rechnung  kommen  würde. 

Was  die  politischen  Parteien  betrifft,  so  sucht  er  es  mit  den  Ra- 
dikalen nicht  zu  verderben  und,  soviel  er  kann,  die  Republikaner  zu- 
sammenzuhalten. Es  wird  ihm  das  dadurch  erleichtert,  daß  die  Bou- 
langisten  und  Chauvinisten  sich  mit  den  Radikalen,  die  keinen  Krieg 
wollen,  und  das  ist  die  Mehrheit  derselben,  entzweit  haben. 

Deshalb  hat  es  die  Regierung  auch  gewagt,  gegen  die  Ligue  des 
Patriotes  vorzugehen,  und  wird  die  Untersuchung  gegen  dieselbe  weiter- 
geführt. 

An  eine  Ministerkrisis,  von  der  noch  ab  und  zu  die  Rede  ist, 
glaube  ich  vorderhand  nicht.  Präsident  Carnot  tut,  was  er  kann, 
um  die  Minister  untereinander  zusammenzuhalten  und  Zwistigkeiten, 
die  häufig  entstanden  sind,  auszugleichen. 

Zwischen  den  Herrn  Constans  und  Bourgeois,  dem  Kultusminister, 
war  das  Verhältnis  ein  so  schlechtes,  daß  allgemein  angenommen  wurde, 
der  eine  werde  dem  andern  weichen  müssen.  Herr  Bourgeois  hat  aber 
vor  einigen  Tagen  ein  ministerielles  Versöhnungsfrühstück  gegeben, 
bei  dem  auch  gegen  Erwarten  Herr  Constans  erschien. 

Was  das  Verhältnis  der  hiesigen  Regierung  zu  uns  betrifft,  so 
muß  ich  bei  dieser  Gelegenheit  bemerken,  daß  Rittmeister  von  Funcke 
sowohl  bei  dem  Kriegsminister  als  bei  allen  Offizieren,  mit  denen 
er  zusammen  kam,  die  allerbeste  und  zuvorkommendste  Aufnahme 
gefunden  hat. 

Herr  von  Funcke  hatte  einem  Offizier  des  Kriegsministeriums 
gegenüber  den  Wunsch  zu  erkennen  gegeben,  die  Reitschule  in  Saumur 
besuchen  zu  dürfen.  Es  ist  ihm  seitens  des  Kriegsministers  die  offizielle 
Erlaubnis  erteilt,  und  ist  von  hiesigen  Offizieren  an  Kameraden  in 
Saumur  geschrieben  worden,  daß  sie  den  Rittmeister  von  Funcke  gut 
empfangen  und  ihm  Wohnung  verschaffen  möchten*.  Herr  von  Funcke 
wird   nächstens   von   dieser   Erlaubnis   Gebrauch    machen. 

Den  hiesigen  Militärklub  hatten  die  deutschen  Militärattaches  nicht 
benutzt.  Sie  haben  eine  Einladung  erhalten.  Der  Vizepräsident  des 
Klubs  General  Rothweiler  hat  ihnen  selbst  den  Klub  gezeigt  und  hat, 
was  eine  besondere  Artigkeit  ist,  ihnen  gestattet,  Gäste  mitzubringen. 

Herr  von  Freycinet  sagte  mir,  gleich  nachdem  Rittmeister  von 
Funcke  ihm  vorgestellt  war,  daß  derselbe,  wenn  er  irgendwie  Wünsche 
"habe,  direkt  zu  ihm  kommen  möge^  Bei  Gelegenheit  von  kürzlich 
erfolgten  Torpedoversuchen,  die  eine  Privatgesellschaft  auf  einer  Werft 
von  Hävre  vornahm,  bei  denen  unsere  Militärattaches  keine  Einladungen 
erhielten,  hat  auf  meinen  Rat  Herr  von  Funcke  von  dieser  Erlaubnis 

2Q4 


Gebrauch  gemacht,  und  aus  dem  beiliegenden  Militärberichte  werden 
Euere  Exzellenz  ersehen,  welche  richtige  Stellung  Herr  von  Freycinet 
dazu  genommen  hat.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

*  !   Ich  danke   Optimismus  in  optima  forma!    Hat  wahrscheinlich   Freycinet  ihm 
gesagt. 

*  siehe  casus  Rothschild!* 

*  hat  er  wohl  wieder  gesagt 

*  und  das  soll  das  Verhältniß  der  Regierungen  zueinander  charakterisiren    Naiv! 

*  kindlich. 


Nr.  1565 
Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  Darmstadt,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Darmstadt,  den  9.  Mai  1S91 

Im  Lauf  eines  Gesprächs  mit  dem  Großherzog  von  Baden  brachte 
ich  auch  die  vertrauliche  Nachricht  vor,  weiche  Euere  Exzellenz  mir 
vor  zwei  Tagen  zukommen  ließen,  betreffend  den  Bestechungsversuch 
des  Hauses  Rothschild-Paris  bei  dem  Ministerpräsidenten  Rudini**.  Der 
Großherzog  bemerkte  darauf,  daß  wohl  die  Angelegenheit  eine  tiefer- 
gehende Bedeutung  habe.  Sie  bestätigte  ja  außerdem  seine  Ansicht, 
welche  er  sich  in  der  letzten  Zeit  gebildet  habe,  daß  nämlich  Frank- 
reich auch  seinerseits  jetzt  nicht  mehr  scheuen  werde,  zu  einem  ihm 
geeigneten  Zeitpunkt  selbst  die  Offensive  zu  ergreifen.  Aus  dem  Ge- 
spräch mit  meinem  Ohm  entnehme  ich,  daß  er  im  allgemeinen  meine 
Ansichten  über  den  Ernst  der  europäischen  Situation  vollkommen  teilt. 
Der  letzte  an  Naivität  und  kindlichem  Vertrauen  alles  übersteigende 
Bericht  Münsters  aus  Paris  verbrämt  mit  Funckes  Auslassungen  hat 
mich  endgültig  davon  überzeugt,  daß  er  nicht  mehr  am  Platz;  er  gleicht 
fast  wörtlich  dem  Bericht  Herrn  Huebeners  vor  dem  Neujahrsempfang 
bei  Napoleon  1859.  Um  ganz  sicher  zu  gehen,  habe  ich  Major  von 
Huene***  zitiert  und  ihn  über  die  Situation  ausgefragt.  Er  zeigte  sich 
ebensogut  orientiert  wie  bisher  und  wußte  entschieden  viel  mehr  als 
die  ganze  augenblickliche  Botschaft  zusammengenommen.  Er  hätte 
seinerseits  soviel  gravierende  Nachrichten  aus  seinen  absolut  zuver- 
lässigen Quellen  aus  Paris  erhalten,  daß  er  im  Begriff  war,  mir  einen 
Bericht  darüber  zu  erstatten.    Der  Gesamteindruck,  den  er  hatte,  läßt 


*  Siehe   Kap.  XLV,  Nr.  1418.    Vgl.  auch  die  ebendort  geschilderten  Bemühungen 
Frankreichs,  Italien  vom  Dreibund  abzusprengen,  die  ein  helles  Licht  auf  Frank- 
reichs innere  Gesinnung  gegen  Deutschland  werfen. 
**  Siehe  Kap.  XLV,  Nr.  1418. 

***  Bisher   Militärattache  in   P^ris,   jetzt  Generalstabsoffizier  der  29.  Division   in 
Freiburg. 

295 


sich  dahin  zusammenfassen,  daß  es  nicht  unwahrscheinUch  sei,  daß 
die  Franzosen  in  diesem  Sommer  die  Initiative  ergreifen  würden;  alles, 
was  er  erfahren  habe,  trifft  zu  seinem  größten  Schmerz  genau  so  ein, 
wie  er  es  vorausgesagt  habe,  und  reihe  sich  Quittung  an  Quittung! 
für  seine  Beobachtungen.  Ich  teilte  ihm  darauf  die  uns  aus  Rußland 
vor  vier  Wochen  zugegangene  Warnung  des  bewußten  Privatmanns 
vor  einem  Überfall  der  Russen  über  die  Österreicher  Ende  dieses 
Sommers*  mit,  welche  ein  nicht  uninteressantes  Gegenstück  zu  seinen 
französischen  Nachrichten  bot.  Major  von  Huene  ist  ebenso  wie 
ich  der  Ansicht,  daß  geeignetenfalls  die  Franzosen  nicht  auf  die  Russen 
warten  werden  bei  ihrem  augenblicklichen  ins  Unendliche  gesteigerten 
Selbstgefühl.  Ja,  es  liege  sogar  der  Schluß  nahe,  daß  zwischen  den 
beiden  Ländern  Verständigungen  dahin  zielten,  die  Franzosen  sollten 
durch  ihren  Angriff  die  Hauptkräfte  Deutschlands  auf  sich  ziehen, 
während  Rußland  —  da  seine  Mobilmachung  und  Aufmarsch  so  gut 
wie  fertig  seien  —  für  den  Augenblick  stillsitzen  würde,  in  der  Hoff- 
nung, dadurch  Deutschland  zu  veranlassen,  die  meisten  Kräfte  nach 
Westen  zu  engagieren.  Dann  werde  Rußland  über  das  seiner  Hoff- 
nung nach  ungenügend  unterstützte  Österreich  mit  Aussicht  auf  Er- 
folg herfallen.  Fürst  Hohenlohe,  den  ich  heute  morgen  sprach,  sieht 
die  Situation  im  Westen  ebenso  ernst  an  und  bemerkte,  wenn  Freycinet 
sich  diesen  Sommer  halte,  wäre  es  sehr  gefährlich.  Hieraus  geht 
hervor,  daß  alle  oben  angeführten  Herren  übereinstimmend  der  An- 
sicht sind,  daß  in  Frankreich  die  Möglichkeit  der  Offensive,  auch  allein, 
bedeutend  vorgerückt  sei.  Ich  bitte  daher,  daß  Euere  Exzellenz  unserer 
neulichen  Verabredung  gemäß  dem  Grafen  zu  Münster  die  Eröffnung 
machen,  daß  auf  seine  Botschafterdienste  nicht  mehr  gerechnet  werde, 
und  den  Grafen  von  Wedel**  dazu  berufen.  Ebenso  bitte  ich,  die 
Schiebung  Schwarzhoff-Süßkind  mit  dem  Militärkabinett  vornehmen  zu 
wollen. 

Wilhelm  I.  R. 


Nr.  1566 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

Raschdau 

Eigenhändig 

Berlin,  den  10.  Mai  1891 
1.  Die  Möglichkeit,  daß  Frankreich  uns  bei  erster  Gelegenheit  mit 
Krieg  überzieht,  ist  an  sich,  und  soweit  man  Rußlands  dort  sicher  ist, 


*  Vgl.  Kap.  XLVn,  Nr.  1496. 

**  General  und  Generaladjutant  Graf  von  Wedel,  früher  Militärattache  in  Wien. 

296 


insofern  eine  wachsende,  als  mit  den  zunehmenden  Rüstungen  im 
Osten  und  Westen  das  Selbstvertrauen  wächst.  Dieser  Zustand  be- 
steht aber  seit  Jahren.  Außergewöhnliches  in  dieser  Entwicklung  ist 
hier  im  Amte  in  letzter  Zeit  nicht  bekannt  geworden. 

2.  Liegen  aber  tatsächhch  (hier  zurzeit  nicht  bekannte)  Zeichen  vor, 
daß  Frankreich  uns  mit  einem  plötzlichen  Überfall  in  nächster  Zeit 
bedroht,  so  könnte  uns  dies  nur  zu  höchster  Wachsamkeit  und  tun- 
lichster Bereitstellung  auffordern.  Den  Spieß  umdrehen,  dem  Feinde 
zuvorzukommen  durch  plötzlichen  Angriff  oder  Verhalten,  das  provo- 
zieren würde,  etwa  gleich  Friedrich  II.  im  Jahre  1756,  scheint  heute, 
seitdem  man  seit  Jahren  die  Kriegsabsichten  kennt,  mit  Rücksicht  auf 
die  europäische  Gesamtkonstellation  vom  politischen  Gesichtspunkte 
ausgeschlossen.  Wir  müssen  für  den  nächsten  Krieg  damit  rechnen, 
wie  sich  die  öffentliche  Meinung  dazu  stellt,  bei  uns  wie  im  Auslande. 
Dort  wie  hier  würde  man  es  nicht  verstehen,  warum  man  jetzt  plötz- 
lich (ohne  bestimmte  offenkundige  Beweise)  den  Frieden  für  so  faul 
hält,  daß  man  den  Krieg  vorzieht.  Die  Haltung  Englands  könnte  mög- 
licherweise durch  eine  unser  Verhalten  verurteilende  öffentliche  Mei- 
nung zu  unseren  Ungunsten  bestimmt  werden,  und  die  Wirkung  einer 
solchen  Apathie  (um  nicht  zu  sagen  Antipathie)  auf  Italien  ist  nicht 
zu  unterschätzen.  Müssen  wir  es  aber  vermeiden,  ohne  evidenten  Anlaß 
den  Angreifer  zu  spielen  (worüber  man  in  Deutschland  ziemlich  all- 
gemein einig  ist),  so  müssen  wir  auch  das  vermeiden,  was  dem  Gegner 
einen  ihn  nach  außen  rechtfertigenden  Anlaß  zum  Friedensbruch  geben 
könnte. 

3.  Die  Ernennung  eines  deutschen  Generals  zum  Botschafter  ist 
an  sich  nichts  Ungewöhnliches.  In  Paris  ist  es  seit  langer  Zeit  nicht 
vorgekommen,  und  die  Erwägung,  die  Behandlung  zahlreicher  delikater 
Dinge  nicht  in  die  Hände  eines  Vertreters  der  siegreichen  Armee  zu 
legen,  hat  dabei  ohne  Zweifel  mitgewirkt.  (Wir  haben  sogar  bei  Be- 
setzung von  Konsulaten  in  Frankreich  den  Umstand,  daß  ein  Kandidat 
bisher  den  Offizierstitel  führte,  als  mißlich  befunden.)  Spitzen  sich 
unter  einem  Militär  als  Botschafter  die  Verhältnisse  zu,  so  wird  man 
den  schärferen  Ton  in  einer  uns  unerwünschten  Weise  interpretieren, 
ja  man  wird  die  bloße  Ernennung  überall  als  ein  Zeichen  deuten 
wollen,  daß  wir  mit  Frankreich  ernster  zu  reden  beabsichtigen.  Man 
wird  sagen  „wir  haben  angefangen",  und  das  ist  eben   zu   vermeiden. 

4.  Bisher  hat  man  in  Paris  behauptet,  daß  man  Herbette  nur, 
wenn  er  es  selbst  wünsche,  zurückberufen  werde.  Wir  haben  unter 
der  Hand  mit  dem  Wechsel  Münsters  gedroht.  Ohne  bestimmte  Gründe, 
anders  zu  handeln,  wäre  es  nicht  zu  empfehlen,  nunmehr  unsererseits 
den  ersten  Anstoß  zu  geben. 

5.  Sollte  die  Stimmung  in  Frankreich  die  gewöhnlich  uns  gegen- 
über herrschende,  der  augenblicldiche  Pessimismus  also  nicht  begründet 

297 


sein,  dann  wäre  es  unter  den  jetzt  obwaltenden  Verhältnissen  doppelt 
bedenklich,  auf  unserer  Seite  Mißmut  zu  zeigen.  Die  Ablehnung  der 
russischen  Anleihe  von  500  Millionen  Franks  durch  den  französischen 
Markt*  ist  geeignet,  in  Rußland  böse  Stimmung  zu  machen.  Es  ist  in 
der  langen  glänzenden  Wyschnegradskischen  Finanzleitung  der  erste 
Unfall.  Die  Operation  unterbleibt,  nachdem  der  Zar  seinen  Namen 
unter  das  betreffende  Dekret  gesetzt.  Daß  der  Fall  ohne  Wirkung  auf 
das  gegenseitige  Verhältnis  zwischen  Rußland  und  Frankreich  bleiben 
sollte,  ist  kaum  glaublich.  Jedenfalls  sollten  wir,  die  wir  allen  Grund 
haben,  der  tertius  gaudens  zu  sein,  uns  in  dieser  Minute  vor  einem 
Eingreifen  hüten,  das  die  Schmollenden  sofort  zusammenführen  würde**. 

Raschdau 


*  Der  Rücktritt  des  Bankhauses  Rothschild  von  dem  bereits  perfekten  Kontrakt, 
der  im  Hinblick  auf  die  Übersättigung  des  französischen  Markts  mit  russischen 
Anleihen  auch  von  dem  französischen  Finanzminister  Rouvier  gebilligt  sein  soll 
(Aufzeichnung  Holsteins  vom  H.  Mai  1891),  erfolgte  bekanntlich  wegen  der  russi- 
schen Judenverfolgungen. 

**  Auch  von  Holstein  liegt  eine  längere  Aufzeichnung  vom  11.  Mai  vor,  in  der 
er,  ähnlich  wie  Raschdau,  aus  dem  Verhalten  der  französischen  Regierung  in  der 
Anleihefragc  den  Schluß  zieht,  daß  „die  französische  Regierung  in  naher  Zeit 
nicht  in  die  Lage  zu  kommen  glaubt,  Rußlands  zu  bedürfen",  und  folglich  einen 
nahen  Krieg  nicht  wolle.  Gleich  Raschdau  rät  Holstein,  von  der  vom  Kaiser  an- 
geregten Abberufung  Münsters  von  seinem  Pariser  Posten  unter  allen  Umständen 
Abstand  zu  nehmen:  „Angenommen  die  vorstehende  Ausführung  ruhte  auf  un- 
richtigen Grundlagen,  und  wir  hätten  wirklich  Anlaß,  uns  auf  einen  nahen  Krieg 
noch  mehr  vorzubereiten,  als  wir  es  ohnehin  schon  getan  haben  —  so  wäre  eine 
Veränderung  im  Botschaftspersonal,  namentlich  in  der  Person  des  Botschafters 
dann  erst  recht  zu  vermeiden,  weil  sie  keinen  wesentlichen  Nutzen,  dafür  aber 
einen  wesentlichen  Nachteil  haben  würde.  Keinen  Nutzen,  denn  ein  neuer 
Botschafter  braucht  Zeit,  um  sich  zu  orientieren  über  die  Eigenart  und  über  das 
relative  Gewicht  der  Dinge  und  der  Menschen,  mit  denen  er  in  Berührung  kommt. 
Wesentlichen  Nachteil,  weil  ein  General  aus  der  Umgebung  Seiner  Majestät 
des  Kaisers  Wilhelm  II.  allgemein  im  In-  und  Auslande  als  ein  Werkzeug  für  die 
Verwirklichung  kriegerischer  Plane  angesehen  werden  würde.  Dieses  Ergebnis 
wäre  gleichbedeutend  mit  einer  politischen  Niederlage,  da  es  lähmend  auf  die 
Sympathie  und  Unterstützung  wirken  würde,  ohne  welche  die  Gefahren  eines 
Krieges  sich  wesentlich  steigern.  Die  Aussicht  auf  englische  Mitwirkung  z.  B.  wäre 
verloren  in  dem  Augenblick,  wo  sich  Anhaltspunkte  für  den  Verdacht  anführen 
lassen,  daß  wir  den  Kriegsausbruch  diplomatisch  gefördert  haben. 

Wenn  der  Major  von  Huene  nicht  nur  allgemeine  Redensarten  vorgebracht 
und  alte  Angaben  aufgewärmt,  sondern  neue  Angaben  positiver  Natur  gemacht 
hat  über  Vorbereitungen  kriegerischer  Aktion,  so  müssen  diese  Angaben  auf  ihren 
Wert  geprüft  werden.  Das  kann  aber  weder  ein  neuer  Botschafter  noch  ein  neuer 
Militärattache.  Das  kann  nur  der  Generahtab  durch  ein  gut  organisiertes,  von 
einer  geeigneten  Persönlichkeit  geleitetes  Nachrichtenwesen.  Es  dürfte  sich  emp- 
fehlen, daß  der  Herr  Reichskanzler  bei  dieser  Gelegenheit  eingehend  prüft  —  da 
auf  ihm  doch  die  Verantwortung  für  das  Ganze  ruht  — ,  ob  bei  dem  Nachrichten- 
bureau die  Vorbedingungen  zweckentsprechender  Wirksamkeit  vorhanden  sind." 


298 


Nr.  1567 

Der  Major  im  Oeneralstabe  der  29.  Division  in  Freiburg  Freiherr 
von  lioioingen  genannt  Huene  an  das  Auswärtige  Amt 

Eigenhändig 
Bericht  über  einige  aus  Frankreich  erhaltene  Nachrichten* 

Freiburg  in  Baden,  den  15.  Mai  1891 

1.  Ein  mit  dem  französischen  Kriegsministerium  bzw.  mit  den 
technischen  französischen  Artilleriebehörden  seit  Jahren  in  Geschäfts- 
beziehung stehender  nordamerikanischer  Großindustrieller  und  ein  mir 
seit  längerer  Zeit  bekannter  nordamerikanischer  Offizier,  welcher  in 
Frankreich  und  speziell  in  der  französischen  Marine  vielfache  Beziehun- 
gen hat,  äußerten  mir  gegenüber  kürzlich  gesprächsweise,  wie  in  den 
Kreisen  der  französischen  Armee-  und  Marineleitung  in  letzter  Zeit 
wieder  mehr  wie  in  den  letzten  Jahren  von  der  Möglichkeit  bzw.  auch 
Wahrscheinlichkeit  eines  baldigen  Krieges  mit  Deutschland  gesprochen 
werde. 

Auf  meine  Bemerkung,  ich  hätte  in  Frankreich  vielfach  beobachtet, 
wie  derartige  Redereien  ohne  speziellen  Untergrund  periodisch  wieder- 
zukehren pflegten  und  dann  wieder  verschwänden,  äußerten  genannte 
Herrn,  diese  Erfahrung  sei  ihnen  ebenfalls  nicht  fremd;  die  gegen- 
wärtigen Redereien  schienen  ihnen  jedoch  deshalb  beachtenswert,  weil 
bei  denselben  nicht  mehr,  wie  bisher  stets  der  Fall,  „l'annee  prochaine" 
d.h.  ein  allgemeiner  Termin  als  Zeitpunkt  des  Krieges  genannt 
werde,  sondern  weil  die  Äußerungen  mit  Bestimmtheit  auf  „den 
Herbst"  lauteten,  auch  auf  „die  Zeit  der  großen  Manöver". 

Erstgenannte  Beobachtung,  das  Bezeichnen  eines  allgemeinen, 
nie  eines  bestimmten  Termins,  ist  nach  meiner  Erfahrung  zu- 
treffend. 

Es  dürfte  die  Nennung  „des  Herbst"  um  so  auffallender  sein,  als 
es  im  Interesse  der  französischen  Heeresleitung  liegen  muß,  —  wenn 
dieselbe  in  der  Lage  ist,  sich  einen  Zeitpunkt  zum  Kriege  wählen  zu 
können  —  mit  Rücksicht  auf  die  Weiterausnutzung  des  Wehrgesetzes 
vom  Jahr  1889  wie  aus  allgemeinen  militärischen  Gründen  eher 
das  nächste  Frühjahr  wie  den  kommenden  Herbst  als  Termin  zu 
wählen. 

Der  zu  Anfang  bezeichnete  amerikanische  Offizier,  welcher  mir 
als  ein  guter  Beobachter  bekannt  ist,  sagte  außerdem,  die  betreffenden 
während  eines  kürzlich  beendigten  längeren  Aufenthalts  in  Frankreich 

*  Der  Bericht  erfolgte  auf  Grund  eines  kaiserlichen  Befehls  vom  12.  Mai,  daß 
Major  von  Huene  dasjenige,  was  über  Frankreich  bei  der  letzten  Anwesenheit 
Seiner  Majestät  in  Karlsruhe  von  gedachtem  Offizier  mündlich  geäußert  worden 
sei,  schriftlich  unter  Angabe  der  Quellen,  auf  denen  seine  Angaben  beruhen,  dar- 
legen solle  (Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Chef  des  Militärkabinetts  General- 
leutnant von  Hahnke,  12.  Mai  1891). 

299 


gehörten  Äußerungen  hätten  ihm  den  Eindruck  erweckt,  als  ob  den- 
selben eine  zum  Herbst  von  Rußland  aus  zu  erwartende  Maßnahme ^ 
zugrunde  liege,  welche  zum  Kriege  führen  würde,  bzw.  daß  Frankreich 
durch  irgendeine  von  Rußland  ausgehende  Maßnahme  Gelegenheit 
finden  würde,  zu  Felde  zu  ziehen. 

Die  amerikanischen  Herrn  fügten  hinzu,  Äußerungen,  welche 
diesen  Gedanken  variierten,  seien  ihnen  in  letzter  Zeit  so  vielfach  ent- 
gegengetreten, daß  sie  den  Eindruck  hätten,  es  müsse  denselben  min- 
destens  ein  bestimmtes  Gerücht  zugrunde  liegen. 

2.  Ein  mir  seit  etwa  zehn  Jahren  bekannter  höherer  italienischer 
Offizier,  welcher  sich  mehrere  Jahre  in  Paris  in  dienstlicher  Stellung 
befand  und  die  daselbst  vielfach  auftauchenden  Sensationsgerüchte 
je  nach  ihrem  Untergrund  zu  sondieren  versteht,  will  aus  Kreisen  der 
Pariser  haute  finance,  mit  welcher  er  verwandtschaftliche  Beziehungen 
hat,  Nachrichten  über  ähnliche  Gerüchte  betreffend  einen  eventuellen 
Krieg  zum  Herbst  haben.  Derselbe  sagte  gesprächsweise,  in  genannten 
Kreisen  werde  in  letzter  Zeit  geäußert,  die  französische  Regierung 
verspreche  sich  für  einen  Krieg  im  Herbst  von  den  für  genannte 
Zeit  angesetzten  großen  Truppenzusammenziehungen  gewisse  Vorteile, 
bzw.  würden  letztere  zu  einer  eventuellen  bezüglichen  Ausnutzung 
veranlagt. 

Worauf  diese  Gerüchte  zurückzuführen  seien,  habe  er  nicht  zu 
ergründen  vermocht,  die  Art  des  Auftretens  derselben  scheine  ihm 
jedoch  bemerkenswert. 

Freiherrvon  Hoiningen 
gt.  H  u  e  n  e 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Stimmt  mit  der  gestrigen  Meldung  von  Yorck,  daß  Russen  im  Herbst  größere 
Truppenverschiebungen  vornehmen  werden.      W. 


Nr.  1568 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  122  Paris,  den  27.  Mai   1891 

Geheim 

Euerer  Exzellenz  bin  ich  sehr  dankbar  für  die  Übersendung  des 
Berichts  des  Freiherrn  von  Huene*,  die  Aufforderung  mich  zu  äußern, 
und  beehre  mich  folgendes  auf  den  hohen  Erlaß  vom  23.  d.  Mts.  Nr.  111 
zu  erwidern. 

•  Siehe  Nr.  1567. 
300 


Als  ich  von  den  Alarmnachrichten,  die  nicht  allein  an  allerhöchster 
Stelle,  sondern  auch  sonst  durch  diesen  Offizier  verbreitet  wurden, 
hörte,  glaubte  ich,  daß  dieselben  auf  einigermaßen  zuverlässige  Quellen 
zurückzuführen  sein  müßten,  und  daß  er  in  der  Lage  sein  würde,  zu- 
verlässige Gewährsmänner  und  Tatsachen  vorzuführen,  die  ihn  einiger- 
maßen dazu  hätten  veranlassen  können,  in  seiner  jetzigen  Stellung  auf 
so  unberechtigte  und  unverantwortHche  Weise  die  Alarmglocke  zu 
läuten. 

Freiherr  von  Huene  tat  das  aber  auf  Grund  oberflächUcher  Ge- 
spräche mit  amerikanischen  Erfindern  und  Waffenlieferanten,  die  ein 
Interesse  haben,  ihre  Erfindungen  und  Waffen  an  den  Mann  zu  bringen, 
und  auf  Äußerungen  eines  Italieners,  der  Verbindungen  mit  der 
Börse  hat. 

•  Major  von  Huene  gibt  selbst  zu,  daß  er  solche  Gespräche  und 
Nachrichten  hier  in  Paris  beständig  gehört  habe,  glaubt  aber,  daß  sie 
deshalb  wichtig  seien,  weil  ein  bestimmter  Termin  —  „nach  oder  während 
der  Manöver"  —  angegeben  sei. 

Major  von  Huene  ist  ein  viel  zu  guter  Offizier,  um  nicht  zu  wissen, 
daß  der  Zeitpunkt  der  Manöver  der  schlechteste  wäre,  den  die  franzö- 
sische Kriegsverwaltung  würde  wählen  können,  und  daß  es  ebenso 
lächerlich  ist  zu  glauben,  daß  die  Franzosen  uns  mit  vier  nicht  mobilen 
Korps  überfallen  wollen,  als  es  die  Befürchtung  sein  würde,  die  Fran- 
zosen wollten  mit  der  Flottenabteilung,  die  sie  nach  Kronstadt  schicken, 
unsere  Schiffe  und  Küstenplätze  in  der  Ostsee  angreifen. 

Solange  ich  die  Ehre  habe,  der  Botschafter  Seiner  Majestät  des 
Kaisers  hier  auf  diesem  verantwortlichen  Posten  zu  sein,  ist  es  nicht 
allein  meine  Pflicht,  aber  auch  die  Pflicht  der  mir  beigegebenen  Be- 
amten und  Offiziere,  auf  alles  sorgfältig  zu  achten,  was  hier  auf  politi- 
schem und  militärischem  Gebiete  vorgeht. 

Diese  Pflicht  geht  vor  allem  dahin,  die  Kriegsgefahr  beizeiten 
richtig  zu  erkennen,  aber  auch  dafür  zu  sorgen,  daß  unbegründete 
Alarmnachrichten  auf  das  richtige  Maß  zurückgeführt  werden. 

Meine  Berichterstattung  während  fast  sechs  Jahren  zeigt,  daß  ich 
in  den  schwierigsten,  gefährlichsten  Zeiten  —  ich  verweise  dabei  auf 
die  Zeit  des  General  Boulanger  —  stets  richtig  gesehen  und  die  Tat- 
sachen meinen  Voraussagungen  stets  recht  gegeben  haben. 

Ich  glaube,  die  hiesigen  Verhältnisse  und  die  Franzosen  gut  zu 
kennen,  und  auf  die  Gefahr  hin,  als  Optimist  zu  gelten,  behaupte  ich, 
daß  trotz  der  großen  Fortschritte  der  französischen  Armee  die  wirk- 
liche Stimmung  des  Volkes,  der  Kammer  und  der  Regierung,  solange 
ich  hier  bin,  noch  nicht  friedlicher  und  ruhiger  gewesen  ist  als  in 
diesem  Augenblicke,  und  jetzt  Krieg  ausrufen,  ist  weiter  nichts  als 
absichtlich  den  Kriegsteufel  an  die  Wand  malen. 

Glaubte  Major  von  Huene  selbst  an  seine  Alarmnachrichten,  dann 

301 


würde   er,   der  sehr  gut  schreiben    kann,  anders   geschrieben    haben, 
als  dieser  seinen  Fähigkeiten  nach  ganz  elende  Bericht  es  zeigt. 

Es  wäre,  wenn  dieser  Offizier  glaubte,  solche  Nachrichten  bis  an 
die  allerhöchste  Stelle  gelangen  lassen  zu  dürfen,  wohl  seine  Pflicht 
gewesen,  bei  mir,  der  ich  ihn  während  seiner  Zeit  nur  zu  gut  behandelt 
habe,  anzufragen,  ob  ich  solche  Gerüchte  für  begründet  halte,  und  da- 
durch auch  seinen  Kameraden,  seinem  Nachfolger  und  dem  Haupt- 
mann von  Süßkind,  Gelegenheit  zu  geben,  diesen  Nachrichten  nach- 
zuforschen und  aufmerksam  darauf  zu  werden. 

Das  Verbreiten  solcher  Nachrichten  hinter  dem  Rücken  seines 
früheren  Botschafters  und  seines  an  seine  Stelle  kommandierten  Nach- 
folgers ist  ein  Benehmen,  welches  ich  nicht  näher  qualifizieren   will. 

Ich  behalte  mir  vor,  mich  noch  näher  nach  den  Gewährsmännern 
des  Majors  von  Huene  zu  erkundigen  und  dann  auf  diese  Sache 
zurückzukommen. 

Münster 


Nr.  1569 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  142  Paris,  den  21.  Juni  1891 

Die  Kriegsgerüchte  verstummen  mehr  und  mehr.  Präsident  Carnot 
und  seine  Ratgeber  haben  nicht  die  Absicht  gehabt,  einen  Krieg  zu 
provozieren.  Das  Spiel  würde  für  sie  selbst  und  die  Republik,  die  sie 
verkörpern,  zu  gefährlich  sein.  Sie  wissen,  daß  ein  siegreicher  General 
nolens  volens  Imperator  werden  müßte,  und  daß  eine  verlorene  Schlacht 
wie  ein  Blitz  im  Elysee  einschlagen  und  alles,  was  drum  und  dran 
hängt,  wegfegen  würde.  Hätten  Herr  Carnot  und  seine  Minister  wirk- 
lich Krieg  gewollt,  so  muß  die  jetzige  politische  Lage  ihnen  solche 
Gedanken  vertreiben.  Daß  die  Tripleallianz  fortbestehen  wird,  weiß 
man  hier,  daß  England  unter  Umständen  mitwirken  würde,  bezweifelt 
man  nicht;  wie  bisher  auf  Rußland  unter  allen  Umständen  zu  rechnen, 
scheint  nicht  mehr  ganz  sicher. 

Wollen  die  Franzosen  keinen  Krieg,  wozu  dann  die  ganzen  über- 
triebenen Rüstungen?  Diese  Frage  liegt  nahe,  meine  Antwort  darauf 
ist  folgende. 

Der  Vorwand  zu  diesen  Rüstungen  ist  Elsaß-Lothringen,  der  an- 
gebliche Zweck  Wiedereroberung  dieser  Provinzen.  Dieses  Mittel  zieht 
in  der  Kammer  und  vor  dem  Volke  und  verschafft  mit  Leichtigkeit 
die  Geldmittel  für  die  Armee.  Der  Versuch  der  Wiedereroberung  wäre 
doch  gefährlich,  daher  begnügt  der  gern  renommierende  Franzose  sich 

302 


mit  diesem  Gedanken  i;  der  Kriegsminister  muß  den  Revanchegedanl<en 
lebendig  erhalten,  sonst  droht  die  Quelle  zu  versiegen,  aus  der  er 
so  reichlich  schöpft.  Folgendes  sind  für  die  Republik  die  Motive  für 
die  übertrieben  starke  Armee: 

Das  französische  Volk  wird  niemals  ruhig  sein,  wenn  es  sich 
nicht  für  die  grande  nation  und  zwar  für  la  plus  grande  nation  hält. 
Nach  unseren  Siegen  ging  das  nicht,  daher  die  Unzufriedenheit  und 
die  Wut  gegen  uns,  die  Sieger.  Die  Nation  fühlt  sich  gedemütigt 
und  die  Besorgnis,  daß  Deutschland  das  geschwächte  Frankreich  jeden 
Tag  überfallen  könnte,  wurde  in  Frankreich  selbst  und  von  Anfang 
an  von  Rußland  aus  stets  künstlich  genährt. 

Die  Unruhe,  welche  dieser  Gedanke  erzeugte,  war  gefährlich  nach 
innen  wie  nach  außen. 

Wollte  Frankreich  wirklich  gerüstet  sein,  so  mußte  die  Nation 
das  Opfer  der  allgemeinen  Wehrpflicht  bringen  und  ein  Drittel  der 
ganzen  Staatseinnahmen  auf  Heer  und  Flotte  verwenden.  Das  Selbst- 
vertrauen der  Nation  ist  durch  diese  übertriebenen  Anstrengungen 
sehr  gewachsen,  der  kriegerische  Sinn  der  Nation  aber  nicht.  Die 
allgemeine  Wehrpfücht  hat,  Gott  sei  es  gedankt,  ganz  anders  gewirkt 
als  bei  uns. 

Das  Selbstvertrauen  der  Franzosen  ist  jetzt  da.  Die  Franzosen 
freuen  sich  darüber,  daß  sie  sich  wieder  stark  fühlen  können,  haben 
aber  noch  gar  keine  Lust,  ihre  Kraft  auf  die  Probe  zu  stellen.  Nach 
außen  will  die  Republik  stark  erscheinen,  nach  innen  ist  die  Armee 
der  einzige  Faktor,  auf  den  die  Republik  re-chnen  kann.  Wie  in  einem 
monarchischen  Staat  das  monarchische  Gefühl  vor  allem  in  der  Armee 
wurzelt  und  durch  die  allgemeine  Wehrpflicht  im  Volke  stets  von 
neuem  belebt  wird,  so  ist  es,  freilich  in  geringerem  Grade,  in  der 
Republik  der  Fall.  Die  republikanischen  Ideen  werden  in  der  Armee 
und  durch  die  Armee  immer  mehr  verbreitet.  Solange  die  Republik 
wie  jetzt  auf  diese  Armee  rechnen  kann,  ist  sie  gesichert,  das  weiß 
sie,  sie  weiß  aber  auch,  daß  mit  dem  ersten  Tage  des  Kriegs  diese 
Sicherheit  gefährdet  werden  könnte. 

Die  Republik  befestigt  sich,  die  Monarchisten  verlieren  täglich 
Anhänger.  Die  Prätendenten  und  ihre  Häuser  werden  kaum  noch 
beachtet,  und  was  das  Wichtigste  ist,  Rom  versöhnt  sich  mit  der 
Republik.  Hätten  die  Bonapartisten  noch  denselben  Einfluß  wie  zur 
Zeit  des  Boulangismus,  so  würde  die  Kaiserin  Eugenie  und  die  Fa- 
milie Bonaparte  nicht  ruhig  hier  im  Hotel  sein  und  sich  überall 
zeigen  können. 

Der  Boulangismus  war  das  letzte  Aufflackern  der  monarchischen 
Idee.  Der  Klerus  glaubte  noch  an  die  Möglichkeit  einer  monarchischen 
Restauration,  jetzt  sieht  er,  daß  er  sich  irrte.  Der  Papst  will  die 
Republik  gebrauchen 2,  sonst  würde  Kardinal  Rotelli  im  Elysee  nicht 

303 


so  gesprochen  haben*,  und  ein  Artikel  im  „Osservatore  Romano"  sagt 
deutlich,  daß  seine  Worte  gebilligt  wurden.  Rede  und  Artikel  folgen 
besonders. 

Die  Annäherung  des  Papstes  an  die  demokratische  Republik  ist 
gefährlich,  vor  allem  für  Italien  3,  und  mein  italienischer  Kollege  und 
seine  Regierung  blicken  mit  Sorge  auf  diese  Kundgebungen. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Glaube  ich  nicht,    wenn  der  Russe  hilft  versucht  er  es  doch. 

2  gegen  das  Protestantische  Deutschland! 

3  ja  auch  für  uns 

Nr.  1570 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Statthalter  in  Elsaß- 
Lothringen  Fürsten  von  Hoheplohe 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rat-- Raschdau 

Nr.  15  Berhn,  den  21.  Juli  1891 

Vertraulich 

Wie  Euerer  Durchlaucht  bekannt,  wird  die  Lage  Frankreichs  wie 
kaum  ähnlich  in  einem  anderen  Staate  von  plötzlichen,  teils  wahren, 
teils  erkünstelten  Erregungen  der  öffentlichen  Meinung  beherrscht, 
deren  Einfluß  die  leitende  Gewalt  sich  nur  mit  Mühe  entziehen  kann. 
Soweit  Deutschland  dabei  in  Frage  kommt,  nimmt  diese  Erregung  fast 
ausnahmslos  ihren  Ausgang  von  Vorgängen  im  Reichslande,  die  dann 
in  Frankreich  von  einer  in  der  Wahl  ihrer  Mittel  rücksichtslosen  Presse 
in  übertriebener  und  verzerrter  Weise  dargestellt  und  in  aufhetzendem 
Sinne  ausgebeutet  werden.  Auf  diese  Art  erlangen  aii  sich  vielleicht 
nicht  besonders  wichtige  Vorkommnisse  im  Reichslande  für  unsere 
auswärtigen  Beziehungen  eine  Bedeutung  wie  in  keinem  anderen  Ge- 
biet Deutschlands.  Es  ist  hier  nun  bei  verschiedenen  Anlässen  als  ein 
besonderer  Nachteil  empfunden  worden,  daß  die  Leitung  der  auswär- 
tigen Politik  des  Reichs  über  solche  Vorgänge  überhaupt  nicht  oder 
doch  nicht  rechtzeitig  und  nicht  ausreichend  unterrichtet  war.  Die 
Mitteilungen  der  Presse,  selbst  wenn  sie  den  Ereignissen  schnell  folgen, 
sind  keine  genügende  Informationsquelle,  um  daraufhin  Entschlüsse 
von  Tragweite  fassen  zu  können.  Als  der  zurzeit  mit  der  Leitung 
der  auswärtigen  Beziehungen  des  Reichs  betraute  Ratgeber  Seiner 
Majestät  halte  ich  es  daher  für  dringend  wünschenswert,  über  Vor- 
gänge im  Reichslande,  die  für  den  Gang  unserer  auswärtigen  Politik 
von   Einfluß  sein  können,  rechtzeitig  amtlich  unterrichtet   zu    werden. 

*  Kardinal  Rotelli  hatte  bei  der  Feier  der  Überreichung  des  Kardinalshutes  am 
10.  Juni  eine  Ansprache  an  Präsident  Carnot  gehalten,  in  der  die  unauflösliche 
Verbindung  „des  destinees  de  la  papaute  et  de  la  France"  betont  wurde. 

304 


Ich  glaube  kaum  im  einzelnen  näher  erörtern  zu  sollen,  welcher  Art 
diese  Vorkommnisse  sein  können.  Wo  bei  Maßregeln  gegen  die  Frem- 
den oder  bei  dem  Grenzverkehr  französische  Interessen  direkt  im 
Spiel  sind,  oder  wo  wie  bei  den  politischen  Wahlen  im  Lande  sich  die 
Gefühle  der  Bevölkerung  des  Reichslandes  Frankreich  gegenüber  doku- 
mentieren, oder  wo  im  Vereinsleben,  in  Schule  und  Kirche  usw.  sich 
stärker  bemerklich  machende  Einwirkungen  einer  nach  der  Fremde 
zielenden  Agitation  zeigen,  muß  die  nähere  Kenntnis  der  Verhältnisse 
für  die  allgemeine  Politik  des  Reichs  von  Wert  sein.  Ich  brauche  in 
dieser  Beziehung  nur  an  die  letzten  elsaß-lothringischen  Gemeinde- 
ratswahlen zu  erinnern,  die  in  den  deutschen  Zeitungen  zwar  eingehend, 
aber  doch  wesentlich  vom  Parteistandpunkte  besprochen  worden  sind, 
sodaß  deren  Informationen  für  die  diesseitige  Beurteilung  nicht  aus- 
reichendes Material  lieferten.  Ich  darf  hier  auch  der  Nachricht  von 
der  Entdeckung  einer  zur  Wiedergewinnung  der  Grenzgebiete  gegrün- 
deten geheimen  Gesellschaft  in  Nancy  Erwähnung  tun.  Wäre  diese 
durch  die  „Frankfurter  Zeitung"  gebrachte  Nachricht  rechtzeitig  direkt 
zur  Kenntnis  des  Auswärtigen  Amts  gelangt,  so  hätte  vielleicht  durch 
geeignete  Instruierung  des  Kaiserlichen  Botschafters  in  Paris  erreicht 
werden  können,  daß  den  die  öffentliche  Meinung  in  Europa  mißleiten- 
den Verdächtigungen  des  Interpellanten  Laur  von  vornherein  die  Spitze 
abgebrochen  und  die  Verhandlung  am  ersten  Tage  zum  Abschluß 
gebracht  worden  wäre*.  Euere  Durchlaucht  werden  bei  Ihren  lang- 
jährigen Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  der  französischen  Politik  am 
besten  in  der  Lage  sein  zu  beurteilen,  welche  Vorgänge  in  der  an- 
gedeuteten Richtung  hier  von  Interesse  sein  können.  Bei  den  eigen- 
tümlichen staatsrechtlichen  Verhältnissen  des  Reichslandes  fehlt  es  mir 
als  Leiter  der  auswärtigen  Politik  des  Reichs  und  Preußens  an  einem 
besonderen  Organe,  das  in  gleicher  Weise,  wie  dies  seitens  der  preußi- 
schen Vertreter  in  den  deutschen  Bundesstaaten  geschieht,  mich  über 
die  wichtigeren  Vorgänge  informieren  könnte.  Es  liegt  aber  kein 
Hindernis  vor,  diesem  Mangel  durch  direkte  Mitteilungen  der  dortigen 
Landesregierung  abzuhelfen,  und  ich  würde  Euerer  pp.  zu  Dank  ver- 
pflichtet sein,  wenn  Hochdieselben  geneigtest  Veranlassung  treffen 
wollten,  daß  ich  von  dort  aus  über  alle  wichtigeren  Vorgänge,  die  für 
unsere  auswärtigen  Beziehungen  von  Einfluß  sind  oder  voraussicht- 
lich werden  könnten,  rechtzeitig  informiert  werde. 

Ich  würde  mich  freuen,  wenn   Euere  pp.  die  Geneigtheit    haben    * 
wollten,  mich  baldgefälligst  Ihres  Einverständnisses    zu    versichern. 

v.  Caprivi 

*  Am  16.  Juli  hatte  der  Abgeordnete  Laur  in  der  französischen  Kammer  eine  Inter- 
pellation über  die  Handhabung  des  Paßwesens  in  Elsaß-Lothringen  eingebracht, 
deren  Beratung  trotz  des  Widerspruchs  des  Ministers  Ribot  beschlossen  wurde. 
Erst  am  17.  wurde  die  weitere  Beratung  durch  einen  Kammerbeschluß  inhibiert, 
nachdem  Ribot  die  Kabinettsfrage  gestellt  hatte. 

20    Die  Große  Politik.   7  Bd.  -  305 


Nr.  1571 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  180  Paris,  den  29.  Juli  1891 

Minister  Ribot  brachte,  als  ich  ihn  heute  an  seinem  Empfangstage 
besuchte,  in  freundschaftlichem  Tone  und,  wie  er  nachdrücklich  betonte^ 
in  ganz  vertraulicher  Weise  die  Rede  auf  den  Paßzwang  „cette  question 
malheureusement  tres-irritante".  Es  liege  ihm  fern,  sagte  er,  die  Paß- 
maßregel selbst  diskutieren  zu  wollen,  ebensowenig  wie  er  sich  bei- 
spielsweise auf  die  Erörterung  einer  Ausweisung  würde  einlassen 
können;  er  wolle  mir  nur  sagen,  wie  peinlich  es  ihm  sei,  täglich 
mehr  mit  Reklamationen  von  Personen  überhäuft  zu  werden,  denen 
das  Visa  aus  nicht  ersichtlichem  Grunde  verweigert  worden.  Die  chau- 
vinistische Agitation  habe  sich  nunmehr  der  Paßmaßregel  bemächtigt 
und  finde  damit  bei  der  öffentlichen  Meinung  fruchtbaren  Boden;  die 
Zeitungen,  selbst  gemäßigte,  begännen  die  einzelnen  Abweisungen  in 
erschreckend  zunehmender  Zahl  zu  registrieren  und  zu  besprechen, 
kurz,  er  müsse  befürchten,  daß  die  Erregung  eine  solche  Höhe  er- 
reichen werde,  daß  die  Regierung  schließHch  doch,  so  ungern  sie 
sich  auch  dazu  entschließen  würde,  gezwungen  werde,  Gegenmaßregeln 
in  Erwägung  zu  ziehen. 

Der  Minister  wünschte  ganz  freundschaftlich  Auskunft  darüber, 
ob  denn  neuerdings  Verschärfungen  in  der  Handhabung  der  Paßmaß- 
regeln eingetreten  seien,  und  wie  etwa  die  Zahl  der  Abweisungen  zur 
Gesamtzahl  der  Anträge  sich  verhalte. 

Ich  habe  Herrn  Ribot  gesagt,  ich  könnte  auch  meinerseits  auf 
eine  Erörterung  der  Paßmaßregel  an  sich  nicht  eingehen,  bezüglich 
deren  ihm  ja  überdies  unsere  Auffassung  hinlänglich  bekannt  sein 
dürfte.  Was  die  augenblickliche  Handhabung  derselben  betreffe,  so 
sei  mir  von  einer  neuerlichen  grundsätzlichen  Verschärfung  nichts 
bekannt.  Die  Anträge  überstiegen  jetzt  während  der  Reise-  und 
Ferienzeit  sehr  erheblich  das  gewöhnliche  Maß,  daher  erschienen  jetzt 
auch  die  Abweisungen  zahlreicher  und  machten  um  so  mehr  Eindruck, 
als  die  Presse,  die  sich  damit  beschäftigt,  sich  wohl  hüte,  neben  den 
verneinenden  Antworten  auch  die  bejahenden  aufzuzählen.  Im  übrigen 
vermied  ich  es,  dem  Minister  das  ziffermäßige  Verhältnis  zwischen 
Anträgen  und  Abweisungen  anzugeben,  bemerkte  jedoch,  daß  die  von 
dem  Abgeordneten  Laur  beigebrachten  Zahlen  und  Einzelheiten  unseres 
Paßgeschäfts  ebenso  irrig  seien  wie  die  meisten  in  den  Zeitungen 
erscheinenden  ähnlichen  Behauptungen.  Die  Handhabung  des  Paß- 
zwanges geschähe  mit  derjenigen  Strenge,  zu  welcher  wir  uns  zu 
unserem  eigenen  lebhaften  Bedauern  veranlaßt  sähen,   Härten   jedoch 

306 


suchten  die  heimischen  Behörden  sowohl  wie  die  Kaiserliche  Botschaft 
nach  Tunlichkeit  zu  vermeiden. 

Als  der  Minister  schließlich  noch  der  Hoffnung  Ausdruck  gab, 
daß  der  Paßzwang  in  nicht  zu  ferner  Zeit  gemildert  oder  beseitigt 
werde,  konnte  ich  es  mir  nicht  versagen,  ihn  daran  zu  erinnern,  daß 
derselbe  bereits  einmal  dem  Erlöschen  nahe  war,  daß  wir  aber  leider 
durch  die  Erfahrungen,  welche  uns  die  Vorgänge  anläßlich  des  Be- 
suches Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  gebracht  haben,  zur 
Wiederaufnahme  veranlaßt  wurden.  Herr  Ribot  hat  darauf  nichts  er- 
widert. 

Daß  die  Handhabung  des  Paßzwangs  in  neuerer  Zeit  wieder  an 
Schärfe  zugenommen  hat,  ist  in  dem  Berichte  des  Herrn  Botschafters 
vom  24.  d.  Mts.  Nr.  176  bereits  erwähnt.  Abgesehen  davon,  daß  die 
Verhältniszahl  der  Abweisungen  erheblich  zugenommen  hat,  pflegt  der 
Herr  Statthalter  in  Elsaß-Lothringen  in  den  meisten  Fällen  der  Visa- 
bewilligung die  Berechtigung  zum  Aufenthalt  auf  kurze  Zeit  zu  be- 
schränken. Wie  peinlich  diese  Strenge  hier  empfunden  wird,  hat  die 
Kaiserliche  Botschaft  reichlich  Gelegenheit,  aus  den  Reklamationen  und 
Bitten  um  nochmalige  Verwendung  zu  erfahren,  mit  welchen  sie  in 
geradezu  erdrückender  ^Weise  bestürmt  wird. 

V.  Schoen 


Nr.  1572 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Geschäftsträger  in  Paris 

von  Schoen 

Telegramm.    Konzept  von   der   Hand  des  Vortragenden   Rats   Raschdau 

Nr.  70  Berlin,  den  4.  August  1891 

Mit  Bezug  auf  Bericht  Nr.  180*. 

Bezüglich  Paßzwang  war  schon  Milderung  im  Gange,  als  Bevölke- 
rung Frankreichs  uns  durch  ihr  zeitweiliges  Verhalten  an  weiterem 
Entgegenkommen  hinderte.  So  die  beleidigenden  Demonstrationen  in 
Paris  bei  Besuch  der  Kaiserin  Friedrich  und  neuerlich  Angriffe  in 
Deputiertenkammer**.  Auch  haben  wir  kürzlich  genaue  Kenntnis  von 
einer  Ligue  de  la  Revanche  in  Nancy,  aus  etwa  400  Mitgliedern  be- 
stehend, erhalten,  die  sich  die  Abtrennung  der  Reichslande  von  Deutsch- 
land zur  Aufgabe  gemacht.  Es  ist  nur  natürlich,  wenn  unter  solchen 
Umständen  unsere  Grenzbehörden  bei  der  Zulassung  Fremder  im 
Reichslande  mit  doppelter  Vorsicht  handeln.  Des  ungeachtet  wünschen 
wir   lebhaft   eine   Milderung  der   Paßvorschriften    und   hoffen,    solche 


*  Siehe  Nr.  1571. 

**  Vgl.  Nr.  1570,  S.  305,  Fußnote. 

20«  307 


in  nicht  ferner  Zeit  eintreten  lassen  zu  können,  wenn  wir  wirksames 
Entgegenkommen  der  französischen  Regierung  gegenüber  derartigen 
uns  feindsehgen  Bestrebungen  auf  französischem  Boden  finden. 

Ist  es  nötig,  Herrn  Ribot  gegenüber  auf  die  Sache  zurückzukom- 
men, so  äußern  Sie  sich  in  diesem  Sinne. 

Zu  Ihrer  persönlichen  Information  gereiche,  daß  Statthalter  zu 
vorsichtigem  Vorgehen  aufgefordert  ist,  daß  wir  aber  auch  der  emp- 
findlichen öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  Rücksichten  schulden 
und  Eindruck  des  Schwankens  vermeiden  müssen*. 

V.  Caprivi 


Nr.  1573 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  7.  August  1891 

Im  Lauf  einer  Unterhaltung  äußerte  Herr  Herbette  heut  mir 
gegenüber,  er  glaube  nicht,  daß  der  Lärm  der  grosses  caisses,  der 
jetzt  von  Kronstadt  nach  Frankreich  klinge**,  die  öffentliche  Meinung 
in  letzterem  Lande  fortreißen  würde.  Man  würde  in  einiger  Zeit  sich 
um  so  eher  beruhigen,  als  —  wie  er  sich  persönlich  überzeugt  habe  — 
sein  Gouvernement  durchaus  friedliche  Absichten  habe.  Er  könne  das 
insbesondere  von  Monsieur  de  Freycinet  versichern.  Er  wolle  per- 
sönlich und  akademisch  hierbei  eine  Frage  berühren,  die  ihn  schon 
lange  beschäftigte,  und  die  ein  Mittel  bieten  könnte,  seinem  Gouverne- 
ment die  versöhnliche  Haltung  zu  erleichtern,  das  sei  die  Paßfrage. 
Er  habe  schon  vor  Jahren  seine  Regierung  gebeten,  über  diese  Frage 
mal  hier  sprechen  zu  dürfen,  diese  Bitte  sei  ihm  aber  wiederholt  ab- 
geschlagen. Unsere  Paßverordnung  sei  eine  unglückliche  Maßregel, 
sie  gebe  Stoff,  um  die  Gemüter  zu  erregen,  und  ihre  Legalität  sei 
im  Hinblick  auf  Artikel  11  des  Frankfurter  Friedens  bestreitbar.  Sie 
richte  sich  zwar  nicht  allein  gegen  Franzosen,  aber  doch  nur  gegen 
die  französische  Grenze,  und  wirke  deshalb  im  wesentlichen  ebenso, 
wie  wenn  sie  ausspräche,  daß  Franzosen  im  Elsaß  anders  behandelt 
werden  sollten,  wie  andere.  Er  begreife,  daß  im  gegenwärtigen  Augen- 
blick jene  Verordnung  nicht  aufgehoben  werden  könne,  aber    er   sei 


*  Auf  Caprivis  Hinneigung  zu  einem  Abbau  des  Paßzvvanges  scheinen  die  Vor- 
stellungen nicht  ohne  Einfluß  geblieben  zu  sein,  die  der  damalige  Generalkonsul 
in  Marseille  Julius  von  Eckardt  bei  einem  Besuch  im  Auswärtigen  Amt  im  August 
1891  vorbrachte.  Vgl.  J.  v.  Eckardt,  Aus  den  Tagen  von  Bismarcks  Kampf  gegen 
Caprivi  (1920),  S.  8  ff. 

**  Vom  23.  Juli  bis  8.  August  hatte  der  Besuch  der  französischen  Flotte  in  Kron- 
stadt stattgefunden.    Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1502. 

303 


überzeugt,  die  Stimmung  in  Frankreich  würde  sich  bald  beruhigen, 
und  er  behielte  sich  vor,  dann  mal  wieder  auf  die  Sache  zurückzukom- 
men. Er  sei,  auch  wenn  er  sich  auf  den  Standpunkt  unseres  Gou- 
vernements in  Elsaß-Lothringen  stelle,  überzeugt,  daß  man  mit  den 
Meldekarten,  deren  Einführung  ihm  deshalb  eine  glückliche  Maßregel 
geschienen  habe,  dasselbe  erreichen  könnte,  was  wir  mit  dem  Paß- 
zwang erreichen  wollten.  —  Er  sei  zufrieden,  in  Berlin  geblieben  zu 
sein,  er  fasse  seine  Aufgabe  hier  als  eine  mission  de  conciliation  auf, 
er  würde  sich  glücklich  schätzen,  wenn  er  an  der  Paßfrage  seinen 
Landsleuten  mal  zeigen  könnte,  daß  man  mit  einer  versöhnlichen  Hal- 
tung in  Berlin  eher  Erfolge  hätte,  wie  mit  einer  feindseligen. 

Ich  habe  ihm  geantwortet,  was  letztlich  über  den  gleichen  Gegen- 
stand an  Herrn  von  Schoen  geschrieben  ist,  daß  wir  in  bezug  auf 
die  Legalität  unserer  Auffassung  gegenüber  Artikel  11  des  Frankfurter 
Friedens  anderer  Ansicht  wären,  und  daß  ich  mich  des  Tages  freuen 
würde,  an  dem  die  Paßverordnung  aufgehoben  werden  könne,  und 
das  doppelt,  wenn  ich  Herrn  Herbette  dadurch  die  Fortführung  seiner 
versöhnlichen  Mission  erleichtern  könnte. 

V.   Caprivi 

Nr.  1574 

Der  Reichskanzler  von  Caprivi  an  den  Statthalter  in  Elsaß- 
Lothringen  Fürsten  von  Hohenlohe 

Abschrift 

Geheim  Berlin,  den  2.  September  1891 

Euere  Durchlaucht  beehre  ich  mich  ganz  ergebenst  davon  in  Kennt- 
nis zu  setzen,  daß  ich  Mitte  dieses  Monats  der  Frage  näher  zu  treten 
gedenke,  ob  und  wie  der  Paßzwang  in  Elsaß-Lothringen  durch  andere 
Maßregeln  (etwa  Ausbildung  des  Meldekartenwesens)  zu  ersetzen  sein 
möchte.  Euerer  Durchlaucht  Einverständnis  vorausgesetzt,  würde  ich 
dann  bitten,  den  Unterstaatssekretär  von  Koller,  mit  den  nötigen  In- 
struktionen versehen,  hierher  zu  senden,  um  hier,  vielleicht  unter  Zu- 
ziehung eines  Mitgliedes  der  Botschaft  in  Paris,  die  Einzelnheiten  zu 
beraten.  Zunächst  würde  ich  für  eine  Mitteilung  darüber,  ob  diese 
Idee  Euerer  Durchlaucht  Zustimmung  findet,  dankbar    sein*. 

(gez.)  Caprivi 

*  Vgl.  dazu  Denkwürdigkeiten  des  Fürsten  Chlodwig  zu  Hohenlohe-Schillingsfürst 
Bd.  II,  48  ff.  Fürst  Hohenlohe  entsandte  nicht  nur  den  Unterstaatssekretär  von 
Koller,  sondern  reiste  auch  selbst  zu  den  Verhandlungen  über  die  Frage  des  Paß- 
zwanges nach  Berlin  (14.  September),  die  bis  zum  19.  zum  Abschluß  kamen.  Am 
21.  erfolgte,  von  Straßburg  aus,  eine  Verordnung  betreffend  die  Milderung  des 
Paßzwanges,  wonach  die  Paßpflicht  nach  Maßgabe  der  Verordnung  vom  22.  Mai 
1888   auf   aktive   Militärpersonen,   ehemalige   aktive   Offiziere  sowie  die  Zöglinge 

309 


Nr.  1575 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  18.  September  1891 
Herr  Herbette  fragte  mich  nach  China*.  Ich  habe  ihm  gesagt,  wir 
hätten  nicht  die  Absicht,  uns  dort  von  dem  Vorgehen  der  Franzosen 
zu  trennen,  wir  würden  antworten,  sobald  wir  näher  informiert  wären, 
die  Schwierigkeit  läge  für  uns  darin,  daß  wir  nur  geringe  exekutive 
Mittel  in  China  hätten,  unser  Kreuzergeschwader  sei  in  Chile  noch 
festgehalten. 

In  bezug  auf  den  Paßzwang  übergab  er  mir,  ohne  einen  Antrag 
zu  stellen,  anliegendes  Verzeichnis  von  Personen,  die  wegen  Paß- 
verweigerung vorstellig  geworden  wären.  Ich  würde  raten,  diese  Liste 
schleunigst  zu  prüfen  und  die  davon  unschädlich  Befundenen  bald  mit 
einem  Paß  zu  versehen  und  Herrn  Herbette  Anzeige  davon  zu  machen, 
so  daß  es  als  eine  Rücksicht  auf  seine  Person  erscheint. 

Das  um  so  mehr,  als  er  heut  seinen  früheren  Wunsch:  ihm  den  Paß- 
zwang zu  opfern,  fallen  ließ,  sagte:  „Je  m'efface  completement"  und 
selbst  vorschlug,  die  Initiative  von  Elsaß-Lothringen  ausgehen  zu  lassen. 
Am  16.  Oktober  träten  die  französischen  Kammern  zusammen,  er  hielte 
für  höchst  wünschenswert  im  Interesse  der  Beruhigung,  daß  bis  dahin 
irgend  etwas  geschehen  sei,  und  wenn  es  auch  nur  das  Aufheben  der 
Bezahlung  für  die  Pässe  wäre.  v.  Caprivi 

Nr.  1576 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  234  Paris,  den  24.  September  1891 

Die  Aufhebung  des  allgemeinen  Paßzwanges  für  Elsaß-Lothringen 
ist  im  großen  und  ganzen  von  der  hiesigen  Presse  mit  großer  Be- 
friedigung begrüßt  worden. 

militärisch  organisierter  Schulen  des  Auslandes  beschränkt,  im  übrigen  aber  auf 
eine  bloße  Meldepflicht  reduziert  wurde.  Das  Paßvisum  sollte  hinfort  kostenlos  er- 
teilt werden. 

♦  Die  seil  längerem  eingewurzelte  fremdenfeindliche  Bewegung  in  China  hatte  seit 
dem  Sommer  1891  zu  ernsteren  Unruhen  geführt,  die  ein  gemeinsames  Vorschreiten 
der  europäischen  Mächte  nahelegten.  In  dieser  Richtung  schien,  während  Eng- 
land und  Rußland  sich  der  Anwendung  der  ultima  ratio  abgeneigt  zeigten,  Frank- 
reich die  Initiative  ergreifen  zu  wollen.  Schon  am  15.  September  fragte  Bot- 
schafter Herbette  im  Auftrage  Ribots  in  Berlin  an,  was  Deutschland  zu  tun  ge- 
denke. 

310 


Einzelne  Blätter  erklären  unumwunden,  daß  in  dieser  Maßregel 
„ein  Akt  der  Weisheit  und  der  guten  Politik",  ein  Beweis  zu  erblicken 
sei,  daß  Deutschland  nach  wie  vor  das  Bedürfnis  habe,  mit  Frankreich 
in  Frieden  zu  leben,  und  durch  die  jüngsten  Wandlungen  der  politischen 
Lage  sich  nicht  beunruhigt  fühle. 

„Temps"  sagt,  er  wolle  nicht  die  Beweggründe  untersuchen,  die 
den  Kaiser  veranlaßten,  seine  Verordnung  zu  erlassen.  Man  müsse  bei 
solchen  Dingen  nicht  zurück,  sondern  vorwärts  blicken.  Ein  Stein  des 
Anstoßes  sei  aus  dem  Wege  geräumt.  Deutschland  erachte  die  Lage 
für  hinlänglich  stetig,  um  den  Anfang  zu  einer  Besserung  zu  machen 
und  das  zu  zerstören,  was  man  früher  in  Berlin  als  wirksame  Garantien 
bezeichnet  habe.  Ein  solches  Anzeichen  habe  immerhin  seinen  Wert, 
der  noch  vermehrt  werde  durch  die  entschieden  friedliche  Tragweite 
einer  in  diesem  Sinne  aufgefaßten  Maßregel,  welche  in  Elsaß-Lothringen 
mit  außerordentlicher  Erleichterung  begrüßt  werden  müsse  und  in 
Frankreich  eine  dem  Sinne,  in  welchem  sie  erlassen  wurde,  ent- 
sprechende Aufnahme  finden  werde.  Überhaupt  seien  keinerlei  Gründe 
vorhanden,  ein  so  wesentliches  Nachlassen  der  Spannung  in  den  Be- 
ziehungen zweier  großen  Völker  nicht  freudig  zu  verzeichnen.  Ähnlich 
wie  „Temps"  sprechen  sich  nahezu  alle  tonangebenden  Zeitungen  aus. 

Daß  die  patriotischen  Hetzblätter  die  Bedeutung  der  Maßregel 
abzuschwächen  suchen,  um  zu  verhindern,  daß  dadurch  eine  Beruhigung 
der  öffentlichen  Meinung  eintritt,  ist  nahezu  selbstverständlich;  sie 
sagen,  die  Abschaffung  des  Paßzwangs  sei  ihnen  angenehm,  weil  dadurch 
für  die  elsässischen  und  lothringischen  „Brüder"  eine  Erleichterung 
ihres  traurigen  Schicksals  herbeigeführt  werde,  man  schulde  aber  da- 
für Deutschland  nicht  die  geringste  Dankbarkeit,  und  es  könne  gar 
nicht  davon  die  Rede  sein,  daß  dadurch  an  den  Beziehungen  Frankreichs 
zu  Deutschland  irgend  etwas  geändert  werde,  pp. 

Trotz  dieser  Entstellungen  von  chauvinistischer  Seite  ist  die  An- 
sicht vorherrschend,  daß  die  Aufhebung  des  Paßzwanges  lediglich  dem 
aufrichtigen  Bedürfnis  Deutschlands  entspringt,  ein  Hindernis  guter 
Beziehungen  mit  Frankreich  aus  dem  Wege  zu  räumen. 

Die  Annahme,  daß  die  Maßregel  Gefühle  der  Schwäche  offenbare, 
tritt  nirgends  zutage. 

Daß  die  Nachricht  von  der  Aufhebung  des  Paßzwanges  auch  bei 
der  französischen  Regierung  die  höchste  Befriedigung  erregt  hat,  be- 
darf kaum  der  Erwähnung.  Herr  Ribot  kam  bei  meinem  gestrigen 
Besuche  auf  die  Sache  zu  sprechen  und  verhehlte  nicht  seine  freudige 
Genugtuung  darüber,  daß  nunmehr  ein  Element,  aus  welchem  fort- 
während bedenkliche  Zwischenfälle  entstehen  konnten,  beseitigt  sei. 

V.  S  c  h  o  e  n 


311 


Nr.  1577 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  241  Paris,  den  2.  Oktober  1891 

Die  hiesige  Regierung  hat  in  der  letzten  Zeit  Glück  gehabt,  und 
Herrn  Ribot  habe  ich  noch  niemals  so  guter  Laune  gesehen  als  jetzt. 
Mit  dem  Zusammentreten  der  Kammer  am  15,  werden  die  Sorgen  für 
Herrn  Ribot  und  seine  Kollegen  wohl  wiederkehren.  Die  Republik  und 
die  jetzige  Regierung  haben  aber  doch  im  allgemeinen  an  Kraft  ge- 
wonnen. 

Die  Frage  der  Handelsverträge  und  Tarifreform  und  der  Interessen- 
kampf, der  stets  die  Folge  des  Schutzzollsystems  sein  muß,  wird  ein 
heftiger  sein. 

Wenn  nun  auch  die  bedeutenden  Mitglieder  des  Kabinetts  mehr 
der  freihändlerischen  Richtung  angehören,  so  werden  sie  doch  kaum 
versuchen,  den  Schutzzöllnern  ernstlich  Widerstand  zu  leisten.  — 

Auf  politischem  Gebiete  sind  den  Radikalen  und  Chauvinisten  die 
gefährlichsten  Waffen  genommen.  Die  Aufregung,  die  durch  den  Kron- 
städter Flottenunfug,  durch  das  Kriegsspiel  der  großen  Manöver  künst- 
lich erzeugt  wurde,  hätte  gefährlicher  werden  können,  wenn  zu  der 
Zeit  die  Kammer  hier  in  Paris  versammelt  gewesen  wäre.  Jetzt  hat 
sich  die  Stimmung  wesentlich  beruhigt,  und  das  Vertrauen  auf  die 
russische  Freundschaft,  auf  den  russischen  Kaiser,  der  hier  plötzlich 
der  populärste  Monarch  geworden  ist,  das  Vertrauen  auf  die  eigene 
Armee  und  das  Gefühl,  wieder  die  Grande  Nation  zu  sein,  befriedigt 
die  Franzosen  für  den  Augenblick. 

Die  Aufführung  der  Oper  Lohengrin  im  großen  Opernhause*  war 
eine  Falle,  die  der  schlaue  und  energische  Constans  den  Chauvinisten 
und  Boulangisten  gelegt  hatte.  Sie  sind  in  die  Falle  gefallen  und 
gründlich  durchgeprügelt  worden.  Durch  das  energische,  brutale  Ein- 
schreiten der  Polizei  ist  denen,  die  Lust  haben  könnten,  auf  der 
Straße  zu  demonstrieren,  gezeigt  worden,  daß  die  Regierung  die  Mittel 
hat,  Ordnung  zu  halten  und  Aufwiegler  zu  züchtigen. 

Die  neue  Taktik  der  hiesigen  Polizei,  sie  so  stark  auf  gewissen 
Punkten  zu  konzentrieren,  daß  sie  ohne  Anwendung  von  Waffen  durch 
Prügeln  und  Fußtritte  die  Aufwiegler  und  dumme  Neugierige  behan- 
delt, wirkt  sehr  gut. 

Durch  die  Aufhebung  des  Paßzwanges  an  der  elsaß-lothringischen 
Grenze  ist  der  Regierung   ein  sehr  großer   Dienst  geleistet    und    ist 


*  Sie  hatte  am  16.  September  stattgefunden;  versuclite  Straßendemonstrationen  der 
Chauvinisten  wurden  von  der  Polizei,  die  an  die  3000  Personen  verhaftete,  vereitelt. 

312 


den  radikalen  Chauvinisten  eine  Waffe  genommen,  auf  welche  sie  für 
die  Kammerdebatten  und  Presse  sehr  rechnen  konnten:  es  war  ein 
sehr  gefährHches  Agitationsmittel,  welches  nicht  sowohl  gegen  uns 
als  gegen  die  eigene  Regierung  benutzt  werden  sollte. 

Herr  Ribot  empfing  mich  gleich  damit,  daß  er  mir  sagte,  daß  durch 
die  Aufhebung  des  Paßzwanges  der  hiesigen  Regierung  ein  großer 
Dienst  geleistet  und  große  Verlegenheiten  erspart  seien,  und  nichts 
mehr  zur  Beruhigung  der  Gemüter  hier  beitragen  könnte. 

So  viel,  als  Seine  Majestät  unser  Kaiser  jetzt  gewährt  habe,  sei 
kaum  erwartet  worden,  aber  eben  deshalb  sei  die  Wirkung  eine  so 
erwünschte. 

Ich  benutzte  gleich  die  Gelegenheit,  um  Herrn  Ribot  zu  sagen, 
daß  ich  sehr  hoffte,  daß  wir  darauf  rechnen  können,  die  Regierung 
werde  gegen  die  Ligue  des  Patriotes  und  die  elsasser  Aufwiegler 
energischer  auftreten,  als  das  bisher  geschehen  sei. 

Herr  Ribot  erwiderte,  er  hoffe,  die  Agitation  werde  sich  sehr 
legen,  und  komme  jetzt  der  Selbstmord  des  Generals  Boulanger*  zu 
gelegener  Zeit.  „Boulanger  n'etait  plus  un  danger,  mais  il  pouvait 
toujours  devenir  un  embarras!"  Die  Partei  der  Boulangisten  sei  klein, 
aber  doch  sehr  aggressiv  gewesen,  und  es  sei  gut,  daß  sie  ihre  Fahne 
verloren  habe. 

Was  die  äußere  politische  Lage  betrifft,  so  sei  sie,  wie  Herr  Ribot 
wiederholt  betonte,  seit  längerer  Zeit  nicht  so  friedlich  gewesen  als 
jetzt,  und  er  habe  es  für  ein  sehr  glückliches  Zusammentreffen  ge- 
halten, daß  Euere  Exzellenz  in  Osnabrück  und  er  hier  an  demselben 
Tage  und  fast  mit  denselben  Worten  die  friedliche  Lage^  geschildert 
hätten** 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Nur  nicht  zu  optimistisch  der  Herzfehler  bleibt  darum  doch. 


*  t  30.  September  in  Brüssel. 

**  Am  27.  September  18Q1  hatte  Reichskanzler  von  Caprivi  gelegentlich  der  25jährigen 
Jubelfeier  seines  Regiments  eine  Ansprache  gehalten,  in  der  er  trotz  der  in  Kron- 
stadt manifestierten  französisch-russischen  Annäherung  (vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1502) 
sich  sehr  optimistisch  über  die  Erhaltung  des  Friedens  ausließ:  Keine  der  euro- 
päischen Regierungen  habe  den  Wunsch,  einen  Krieg  hervorzurufen.  Auch  die 
Annäherungen  der  Staaten  in  der  neuesten  Zeit  gäben  keinen  Grund  zu  Befürch- 
tungen; sie  seien  nur  der  Ausdruck  schon  vorhandener  Verhältnisse,  vielleicht 
seien  sie  nichts  anderes  als  die  Feststellung  eines  europäischen  Gleichgewichts, 
wie  es  früher  bestanden  habe.  Zu  den  Caprivischen  Äußerungen  stand  die  Rede, 
die  der  französische  Minister  Ribot  am  gleichen  Tage  bei  der  Enthüllung  eines 
Denkmals  für  den  General  Faidherbe  in  Bapaume  hielt,  insofern  doch  in  einem 
Gegensatz,  als  Ribot  kein  Hehl  daraus  machte,  daß  durch  die  französisch-mssische 
Annäherung  eine  neue  Lage  für  Frankreich  entstanden  sei,  von  der  man  die 
günstigsten  Auswirkungen  erwarten  könne.  Allerdings  setzte  er  hinzu,  daß  man 
in  dem  Augenblicke,  wo  die  bisherige  Politik  einen  solchen  Umschwung  zuwege 

313 


Nr.  1578 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  243  Paris,  den  5.  Oktober  18Q1 

Gestern  abend  besuchte  ich  Herrn  von  Freycinet  und  hatte  mit 
ihm  ein  sehr  langes,  ganz  interessantes  Gespräch. 

Der  Ministerpräsident  begrüßte  mich  auf  das  freundschaftlichste 
und  empfing  mich  gleich  damit,  daß  er  sagte,  die  politische  Lage  in 
Europa  sei  nach  seiner  Ansicht  seit  Jahren  nicht  eine  so  friedliche 
gewesen,  als  sie  ihm  in  diesem  Augenblick  erscheine. 

Zu  seiner  Freude  und  Genugtuung  könne  er  auch  konstatieren, 
daß  die  Republik  an  Kraft  und  Ansehen  im  Innern  sehr  gewonnen 
habe.  Daß  Finanzen,  das  Budget  und  Tarifreform  und  namentlich  die 
Vorlage  wegen  der  Versicherung  der  Arbeiter  unangenehme  Debatten 
in  der  Kammer  verursachen  und  ihm  und  seinen  Kollegen  viel  Arbeit 
und  viel  Schwierigkeiten  bereiten  würden,  erwarte  er.  Auf  eine  ernst- 
liche Ministerkrisis  rechne  er  aber  nicht. 

Die  Beunruhigung,  welche  überall,  auch  namentlich  in  Deutschland, 
während  dieses  Sommers  fühlbar  gewesen  wäre,  sei  durch  die  schlechte 
Presse,  an  der  alle  Länder,  und  dieses  Land  am  meisten,  litten,  künst- 
lich hervorgerufen. 

Woher  solle  der  Krieg  kommen?  Kein  Staatsmann,  der  ein  Ge- 
wissen habe,  werde  die  Verantwortung  dafür  übernehmen  wollen.  Ein 
europäischer  Krieg  bedeute  ganz  etwas  anderes  als  bisher,  es  werde 
nicht  mehr  ein  Krieg  der  Armeen,  sondern  der  Krieg  der  Nationen 
sein  und  die  ganze  europäische  Zivilisation  laufe  Gefahr,  auf  Jahr- 
hunderte zerstört  zu  werdend 

Die  jetzige  französische  Regierung  wolle  entschieden  den  Frieden, 
und  die  Partei,  welche  eine  kriegerische,  gegen  andere  Staaten  aggres- 
sive Politik  und  gar  zum  Kriege  treiben  wolle,  sei  numerisch  viel  zu 
schwach  2.  Die  französische  Bevölkerung,  welche  Frieden  wolle,  werde 
den  radikalen  Aufwieglern  und  den  unsinnigen  Chauvinisten  ä  la  Derou- 
lede  kein  Gehör  schenkend 

Seine  Majestät  unser  Kaiser  wolle,  davon  sei  man  jetzt  in  Frank- 
reich überzeugt,  keinen  Krieg,  wolle  das  Beste  seines  Landes  und  sei 
sich  seiner  großen  Aufgaben  voll  bewußt.    Die  Aufhebung   des    Paß- 


gebracht habe,  sich  nicht  einer  neuen  Politik  anzupassen  habe.  „In  dem  Augen- 
blick, wo  wir  mit  der  größten  Würde  in  Frieden  leben  l<önnen,  werden  wir  uns 
nicht  dem  aussetzen,  den  Frieden  zu  gefährden,"  Frankreich  im  Bewußtsein 
seiner  Stärke,  voll  Vertrauen  auf  die  Zukunft,  werde  fortfahren,  die  Klugheit  und 
das  kalte  Blut  zu  zeigen,  die  ihm  die  Achtung  der  Völker  verschaffen  und  dazu 
beitragen,  ihm  den  Rang  wiederzugeben,  den  es  in  der  Welt  einnehmen  müsse. 

314 


Zwanges  an  der  elsaß-lothringischen  Grenze  habe  ebenso  wie  die  Rede 
Euerer  Exzellenz  den  allerbesten  Eindruck  hervorgebracht,  und  die 
friedlichen  Elemente  Frankreichs  seien  dadurch  sehr  gestärkt  worden. 

Er  wisse  sehr  wohl,  daß  der  Kaiser  von  Rußland  als  der  zukünftige 
Friedensstörer  angesehen  und  in  der  Annäherung  Frankreichs  an  Ruß- 
land eine  Gefahr  erblickt  werde.  Das  sei  ganz  falsch.  Frankreich  habe 
sich  der  Tripleallianz  gegenüber  isoliert  gefühlt:  daher  die  Annäherung 
an  Rußland,  welche  hier  nur  beruhigend  wirke.  — 

Wenn  ich  auch  glaube,  daß  Herr  von  Freycinet  aufrichtig  ge- 
sprochen hat  und  die  ganze  politische  Lage  eine  so  friedliche  ist,  wie 
das  in  dem  bewaffneten  Lager  —  denn  das  ist  jetzt  Europa  —  über- 
haupt noch  möglich  ist,  so  wären  wir  leichtsinnig,  wenn  wir  nicht  die 
Augen  offen  hielten  und  uns  nicht  sagten,  daß  wir  auch  im  glücklichsten 
Falle  lange  Jahre*  hindurch  Frankreich  gegenüber  voll  gerüstet^  sein 
müssen. 

Durch  die  Kronstädter  Demonstration,  durch  den  Glauben,  der  in 
der  Nation  dadurch  verbreitet  wurde,  der  mehr  in  die  unkundigen 
Massen  gedrungen  ist,  daß  Frankreich  sicher  auf  Rußland  rechnen 
könne,  durch  das  größere,  künstlich  erweckte  Vertrauen  zur  eigenen 
Armee  ist  das  Selbstgefühl  der  französischen  Nation,  welches  durch 
den  unglücklichen  Krieg  fast  verschwunden  war,  von  neuem  erwacht, 
und  dieses  Gefühl  befriedigt  die  Grande  Nation  und  beruhigt^  für  einige 
Zeit.  Auf  wie  lange,  ist  aber  die  Frage. 

Die  jetzige  Republik  und  deren  Machthaber  müssen  für  ihre  eigene 
Erhaltung  den  Frieden  wollen,  man  kann  aber  bei  dem  Parteitreiben 
und  bei  einer  Regierung,  die  schließlich  dem  allgemeinen  Stimmrecht 
ihre  Existenz  allein  verdankt,  nicht  sicher  auf  sie  rechnen'^. 

Wer  kann  dafür  stehen,  daß  nicht  unvernünftigere  Staatsmänner 
als  die  jetzigen  an  das  Ruder  kommen,  wer  steht  uns  dafür,  daß,  falls 
der  Radikalismus  die  Oberhand  gewönne,  nicht  ein  fähigerer  und 
wirklich  energischerer  General  als  Boulanger  die  Macht  an  sich  reißt 
und  dann  sein  Heil  im  Kriege  versuchen  würde I^ 

Das  sind  Gefahren,  die  eintreten  können,  gegen  die  wir  gerüstet 
sein  müssen,  die  aber,  davon  bin  ich  überzeugt,  so  bald  nicht  eintreten 
werden. 

Die  Gefahr  für  den  Frieden  liegt  im  Osten,  und  die  Kronstädter 
Salutschüsse,  deren  Echo  bis  hierher  gedrungen  ist,  haben  in  Frank- 
reich gefährliche  Hoffnungen  erweckt.  Übertriebene  Hoffnungen,  die 
nicht  bald  realisiert  werden,  führen  oft  Enttäuschungen  herbei,  und 
darauf  rechne  ich   auch  in  diesem  Falle.  — 

Nachdem  Herr  von  Freycinet  die  politische  Lage  geschildert  hatte, 
brachte  er  das  Gespräch  auf  die  großen  Manöver,  lobte  vor  allem  die 
Haltung  der  Truppen  und  der  Bevölkerung,  welche  dieses  Mal  viel 
ruhiger  gewesen  sei   als   während   der   Manöver  des   vorigen   Jahres 

315 


und  alle  Demonstrationen  vermieden  habe.   Dieses  bestätigten  auch  die 
fremden  Offiziere. 

Der  Kriegsminister  sprach  darauf  seine  volle  Befriedigung  hinsicht- 
lich der  Infanterie  aus,  die  durch  ihre  Marschfähigkeit  alle  Erwartungen 
bei  weitem  übertroffen  habe. 

Mit  einer  Offenheit,  die  mich  überraschte 9,  sprach  er  aber  über 
die  Kavallerie.  Diese  habe  viel  weniger  geleistet,  als  hätte  erwartet 
werden  müssen.  Einzelne  Regimenter  hätten  zwar  übertrieben  große 
Märsche,  bis  zu  90  km  an  einem  Tage,  gemacht,  das  sei  aber  auf 
Kosten  des  Pferdematerials  geschehen,  und  der  Prozentsatz  der  lahmen 
und  gedrückten  Pferde  sei  viel  zu  groß  gewesen. 

Überraschend  günstig  sei  der  Gesundheitszustand  der  Truppen 
gewesen.  Trotz  der  tropischen  Hitze  seien  nur  fünf  Mann  am  Sonnen- 
stich und  im  ganzen  nur  neun  Mann  gestorben,  was  bei  100000  Mann 
allerdings,  namentlich  bei  der  Hitze,  ein  merkwürdig  günstiges  Re- 
sultat ist.  pp. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Das  wissen  wir  allein  und  ist  nichts  Neues 

2  qui  vivera  verra 
^  abwarten 

^  50  mindestens 

^  noch  mehr 

s  nein!  dies  Selbstgefühl  wird  bald  sich  bethätigen  wollen,  erst  in  Artikeln,  und 

dann   in  Thaten 
^  richtig 

8  ja 

9  da  ist  nichts  Ueberraschendes,  da  er  doch  weiß,  wie  die  Militfär]  Attaches  be- 
richtet haben.  Da  sagt  er  eben  dasselbe  und  giebt  sich  den  Schein  biedrer 
Offenheit 


Nr.  1579 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 

von  Csprivi 

Ausfertigung 

Nr.  251  Paris,  den  14.  Oktober  1891 

Präsident  Carnot  ist  von  Fontainebleau  wieder  in  die  Stadt  ge- 
zogen und  hat  mich  vor  einigen  Tagen  im  Elysee  empfangen. 

Ich  habe  den  Präsidenten  noch  niemals  zufriedener  aussehend 
und  geradezu  aufgeweckt  gefunden  als  dieses  Mal. 

Er  empfing  mich  damit,  daß  er  mir  sagte,  er  freue  sich  sehr,  mich 
hier  wieder  zu  begrüßen,  und  er  hoffe,  daß  meine  Eindrücke  angenehme 
und  friedliche  sein  würden. 

316 


Der  Präsident  äußerte  darauf,  er  wisse,  daß  in  Deutschland  wäh- 
rend des  Sommers  der  Ausbruch  eines  Krieges  befürchtet,  ja  fast 
erwartet  worden  wäre^.  Er  begreife  diese  Beunruhigung  nicht  recht. 
Frankreich  wolle  den  Frieden,  bedürfe  denselben,  und  je  mehr  sich 
die  Republik  befestige,  je  kräftiger  deren  Regierung  werde,  je  mehr 
werde  dieser  gesichert. 

Der  Kaiser  von  Rußland  wolle  den  Frieden  auch  und  werde,  da- 
von sei  er,  der  Präsident,  überzeugt,  keine  Komplikationen  wollen 
und  werde  solche  auch  auf  der  Balkanhalbinsel  nicht  wachrufen  2. 

Der  Kaiser  sei  wirklich  friedlich  gesinnt,  und  seine  Armee  sei 
durchaus  nicht  ganz 3  kriegsbereit. 

Diese  letztere  Äußerung  überraschte  mich. 

Wenn  der  Präsident  auch  nicht  direkt  von  Kronstadt  sprach,  so 
deutete  er  an,  daß  das  gute  Verhältnis  zu  Rußland  nicht  nur  nach 
außen  sondern  für  die  Stärkung  und  Sicherung  der  Republik  von 
großer  Wichtigkeit  sei. 

Er  sagte:  „Bei  meinen  Reisen  bin  ich  namentlich  in  letzter  Zeit 
(d.h.  nach  Kronstadt)  in  mehreren  Departements  und  an  Orten,  die 
bisher  durchaus  monarchisch  gesinnt  waren,  mit  einem  Enthusiasmus 
empfangen  und  von  Mitgliedern  des  Adels  empfangen  worden,  die 
bisher  sich  mit  Ostentation  bei  solchen   Gelegenheiten  fern   hielten.'' 

Der  Präsident  hat  ganz  recht  das  zu  betonen.  Die  Idee,  welche 
aus  seinem  ganzen  Gespräch  hervorging,  daß  in  Beziehung  auf  die 
äußere  Politik  nicht  viel  geändert  und  die  Kriegsgefahr  nicht  größer 
geworden  sei,  daß  aber  durch  die  erfolgte  Anerkennung  der  Republik 
durch  den  mächtigen  Kaiser,  der  bisher  für  den  Beschützer  des  legi- 
timen   Prinzips   galt,   diese   befestigt   wurde,   ist   richtig*. 

Der  Zar  in  seiner  panslawistischen  Verblendung  ist  sich  wohl 
nicht  ganz  klar  darüber  gewesen,  wohin  dieses  Aufgeben  früherer 
Prinzipien,  dieses  Buhlen  mit  der  Neuzeit  führen  muß.  In  der  Um- 
armung des  Kosaken  mit  der  Republik  liegt  aber  eine  Gefahr  für  die 
europäische  Zivilisation^,  welche  hoffentlich  die  monarchischen  Staaten 
Europas  erkennen,  und  die  sie  zum  festen  Zusammenhalten  führen  wird. 

Die  meisten  Monarchisten  Frankreichs  sehen  jetzt  ihre  Sache  für 
verloren  an  6. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1   !  Wer  hat  ihm  denn  den  Unsinn  aufgebunden?! 

-  braucht  er  auch  nicht  denn  sie  sind  schon  da 
3  I 

*  ja 
5  ja 

*  ich  nicht 


317 


Nr.  1580 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi  an  den  Botschafter  in  Paris 

Grafen  Münster 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  40  Berlin,  den  25.  Mai  18Q2 

Bei  Gelegenheit  des  Festes  in  Nancy*  soll  Exkursion  in  die 
Vogesen  über  Gerardmer  bis  unmittelbar  an  unsere  Grenze  geplant 
sein.  Möglichkeit  der  Verletzung  unserer  dortigen  Hoheitszeichen  oder 
dergleichen  durch  Teilnehmer,  worunter  vielleicht  auch  Tschechen  i, 
naheliegend.  Fragen  Sie  an,  ob  französische  Regierung  dort  Sorge  für 
Respektierung  unserer  Grenze  übernehmen  will.  Zu  Ihrer  Information 
bemerke  ich  vertraulich,  daß  wir  am  liebsten  sehen  würden,  diese 
Exkursion  unterbliebe  ganz.  Findet  sie  aber  statt,  so  ziehen  wir  vor, 
die  französische  Regierung  verpflichtet  sich,  Ausschreitungen  zu  ver- 
hüten, und  enthebt  uns  dadurch  der  Erwägung,  ob  wir  nicht  selbst 
bewaffnetes  Personal  an  der  Stelle  zu  stationieren  haben  würden,  wo- 
von Konsequenzen  weitgehend  sein  können. 

v.   Caprivi 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Ja 

Schlußbemericung  des  Kaisers: 
Sehr  gut 

Nr.  1581 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  126  Paris,  den  25.  Mai  1892 

Der  Präsident  der  Republik  wird  am  Nachmittag  des  5.  Juni  in 
Begleitung  des  Konseilpräsidenten  und  des  Unterrichtsministers  sowie 
der  militärischen  Suite  in  Nancy  eintreffen.  Dem  Turnfest  selbst  widmet 
der  Präsident  nur  1 1/2  Stunden  am  6.  Juni,  wo  er  dem  Vorbeimarsch 

*  Für  den  5.  Juni  war  das  Bundesfest  der  französischen  Turner  nach  Nancy  aus- 
geschrieben. Die  Studentenschaft  der  Universität  Nancy  trug  sich  mit  dem  Plan, 
mit  diesem  Feste  eine  große  internationale  studentische  Feier  zu  verbinden,  und  lud 
dazu  alle  ausländischen  Universitäten  mit  alleiniger  Ausnahme  der  deutschen  ein. 
Der  dadurch  dem  Feste  von  vornherein  aufgeprägte  Charakter  der  Deutschfeind- 
lichkeit wurde  noch  durch  die  in  der  Presse  laut  angekündigte  Teilnahme  tsche- 
chischer Deputationen  erhöht,  die  laut  eines  Berichts  von  Reuß  aus  Wien  vom 
23.  Mai  mit  der  ausgesprochenen  Absicht  nach  Nancy  gingen,  „um  dort  in  pan- 
slawistischem  und  franzosenfreundlichem  Sinne  gegen  den  Dreibund  zu  demon- 
strieren". 

318 


der  Turnvereine  und  der  Preisverteilung  beiwohnt.  Im  übrigen  wird 
der  Aufenthalt  des  Präsidenten  in  Nancy  durch  Empfänge  der  Behör- 
den, Festessen,  eine  Parade,  Besuche  von  Hospitälern  und  andern 
Veranstaltungen  ausgefüllt,  welche  mit  dem  Turn-  und  Studentenfest 
nichts  zu  tun  haben.  Am  T.Juni  reist  der  Präsident  nach  Luneville 
und  Toul  und  nach  Paris  zurück. 

Von  auswärtigen  Gästen  sind,  soviel  verlautet,  einige  belgische, 
luxemburgische  und  schweizerische  Turnvereine  angemeldet.  Eine  her- 
vorragende Rolle  werden  die  Sokols,  tschechische  Turner,  spielen,  von 
denen  einige  vierzig  erwartet  werden  und  als  bekannte  Deutschenhasser 
eine  besonders  warme  Aufnahme  finden  sollen.  Herr  Loubet  soll 
übrigens  einem  Interviewer  gesagt  haben,  von  diesen  Sokols  seien 
nur  einige  wenige  des  Französischen  mächtig,  chauvinistische  Kund- 
gebungen derselben  daher  nicht  besonders  zu  befürchten.  Was  sie  in 
unverständlicher  Sprache  etwa  schreien  würden,  sei  gleichgültig. 

Die  Nanziger  Studenten  verzeichnen  bis  jetzt  nur  magere  Zusagen. 
Von  auswärtigen  Hochschulen  wollen  Cambridge,  Lüttich,  Brüssel,  Lau- 
sanne und  Neufchätel  Delegierte  schicken. 

Inzwischen  ist  nun  das  Fest  in  Nancy  infolge  der  Erörterungen 
der  deutschen  und  der  französischen  Presse  zu  einem  Ereignis  ge- 
worden, auf  welches  die  öffentliche  Meinung  mit  einer  gewissen  Ängst- 
lichkeit achtet.  Die  deutsche  Presse,  so  berechtigt  sie  auch  gewesen 
ist,  auf  das  chauvinistische  Treiben  der  Turner  und  Studenten  und  die 
feierliche  Weihe,  welche  dasselbe  durch  den  Besuch  des  Präsidenten 
zu  erhalten  scheint,  hinzuweisen,  ist  doch  vielleicht  in  der  Beurtei- 
lung der  ganzen  Sache  etwas  zu  weit  gegangen  i.  Es  ist  nicht  aus  dem 
Auge  zu  verlieren,  daß  ein  Besuch  des  Präsidenten  in  den  Ostdeparte- 
ments schon  seit  Jahren  geplant  war,  und  wenn  es  auch  vom  Stand- 
punkt der  deutsch-französischen  Beziehungen  aus  nicht  unbedenklich 
erscheinen  mochte,  denselben  mit  dem  Turnfest  zusammenfallen  zu 
lassen,  so  läßt  sich  doch  vom  praktischen  Standpunkt  der  Bevölkerung 
aus  erklären,  daß  ihr  das  Zusammenfassen  mehrerer  festlicher  Ver- 
anlassungen erwünscht  war.  Auch  mag  der  Regierung  der  Gedanke 
vorgeschwebt  haben,  daß  die  Anwesenheit  des  Staatsoberhauptes 
manchen  chauvinistischen  Neigungen  die  Spitze  abbrechen  und  die 
Feststimmung  in  neutraler  Weise  ablenken  würde. 

Die  etwas  scharfen  Bemerkungen  einiger  deutscher  Blätter  haben 
das  Unangenehme  gehabt,  daß  die  französische  Presse  dieselben  noch 
weit  schärfer  erwidert.  Dieselbe  braust  gegen  diese  „Einmischung  in 
innere  französische  Dinge"  gewaltig  auf  und  beschuldigt  die  deutsche 
Presse  des  Suchens  nach  einer  Störung  der  seit  einiger  Zeit  eingetrete- 
nen ruhigeren  Beziehungen.  Sie  führt  dabei,  wie  so  häufig,  einen  un- 
ehrlichen Kampf,  indem  sie  gegen  Behauptungen  auftritt,  die  nicht 
aufgestellt  wurden,  oder  indem  sie  die  Tatsachen  entstellt  und  ver- 
dreht.   So  übergeht  sie  die   chauvinistischen   Treibereien    der    Turner 

319 


und  Studenten  mit  glattem  Schweigen  und  läßt  nur  die  Reise  des 
Präsidenten  an  die  Ostgrenze  als  den  Punkt  erscheinen,  auf  den  sich 
die  deutschen  Angriffe  richteten.  Daran  schließen  sich  dann  Ver- 
gleiche zwischen  dem  Auftreten  des  Präsidenten  Carnot  und  den  er- 
folgten und  bevorstehenden  Besuchen  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
in  den  Reichslanden  2,  das  Brüsten  mit  eigener  vornehmer  Ruhe,  mit 
verächtlicher  Zurückweisung  der  „deutschen  Herausforderungen"  und 
dergleichen.  Die  erbitterte  Sprache  der  hiesigen  Presse,  worin  aller- 
dings die  ernstere  nicht  eingestimmt  hat,  scheint  hauptsächlich  durch 
das  Gerücht  verursacht  gewesen  zu  sein,  daß  an  Wiedereinführung 
des  Paßzwanges  gedacht  werde.  Seitdem  dieses  Gerücht  als  unbe- 
gründet erkannt  ist,  hat  sich  der  Ärger  etwas  gelegt,  der  übrigens 
auch  der  Aufdeckung  und  Durchkreuzung  der  eigenen  Zirkel  entsprun- 
gen sein  mag.  Vie. leicht  ist  es  auch  der  Presse  darum  zu  tun,  schon 
jetzt  Stimmung  gegen  die  Reise  Seiner  Majestät  des  Kaisers  in  die 
Reichslande  zu  machen  oder  auch  großen  Lärm  zu  machen,  um  hinter- 
her sagen  zu  können:  „Seht,  so  ruhig  haben  sich  trotz  der  deutschen 
Aufreizungen  die  Feste  in  Nancy  vollzogen,  so  würdig  und  friedlich 
hat  der  Präsident  gesprochen." 

Das  Gute  hat  die  Preßfehde  immerhin  gehabt,  daß  sie  die  öffent- 
liche Meinung  und  die  öffentlichen  Gewalten  einigermaßen  darüber 
belehrt  hat,  was  man  bei  uns  über  das  Fest  in  Nancy  denkt,  und 
sie  veranlaßt  hat,  auf  Dämpfung  der  chauvinistischen  Wallungen  sorg- 
sam bedacht  zu  sein.  In  dieser  Beziehung  scheint  die  Regierung  Ver- 
säumtes nachgeholt  und  die  Turner  und  Studenten  zu  ruhiger  Haltung 
angewiesen  zu  haben.  In  dem  bereits  erwähnten  Interview,  das  bis 
jetzt  kein  Dementi  erfahren,  und  das  ich  in  einem  Zeitungsausschnitt 
hier  gehorsamst  beifüge,  hat  der  Konseilpräsident  das  bekannte  Rund- 
schreiben der  Studenten  vorsichtig  getadelt  und  sich  für  ruhigen  Ver- 
lauf der  Festtage  verbürgt.  Sehr  unglücklich  jedoch  ist  die  Äußerung 
des  Herrn  Loubet,  daß  peinliche  Zwischenfälle  infolge  Anwesenheit 
deutscher  Offiziere  in  Nancy  nicht  zu  befürchten  seien,  da  die  Trup- 
pen  in    Elsaß-Lothringen   während   der   Festtage   konsigniert    seien. 

Mir  gegenüber  hat  noch  keine  hiesige  politische  Persönlichkeit 
das  Fest  in  Nancy  und  die  damit  zusammenhängende  Preßerregung 
berührt,  und  meinerseits  vermeide  ich  es  gleichfalls,  die  Rede  auf 
dieses  Thema  zu  bringen,  um  so  mehr,  als  mir  in  der  hiesigen  Presse 
bereits  Remonstrationen  angedichtet  worden  sind.  Münster 

Nachschrift 

Paris,  den  25.  Mai  1892 
Herr  Ribot,  den  ich  soeben  an  seinem   Empfangstage    besuchte, 
hat  dabei  zum  ersten  Male  die  Rede  auf  das  Turnfest  in  Nancy  ge- 
bracht.  Er  bedauerte  lebhaft  die  erregte  Preßkampagne  und  sagte  mir, 

320 


daß  die  Regierung  bemüht  sei,  beruhigend  auf  die  hiesige  Presse  zu 
wirken,  und  dankbar  wäre,  wenn  bei  uns  das  auch  geschähe  3.  Er  gab 
mir  die  Versicherung,  daß  die  Regierung  sich  für  einen  durchaus 
ruhigen  Verlauf  der  Feste  in  Nancy  verbürge,  sie  habe  in  dieser 
Beziehung  die  strengsten  Weisungen  an  die  dortigen  Behörden  er- 
gehen lassen.  Es  sei  ein  bedauerlicher  Umstand,  daß  das  Rundschreiben 
der  Studenten,  das  nur  an  Private  in  Frankreich  versandt  worden  sei, 
durch  eine  Indiskretion  bekannt  geworden  sei. 

Meinem  österreichischen  Kollegen  gegenüber  hatte  sich  Herr  Ribot 
kurz  zuvor  ähnlich  ausgesprochen.  Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
i  Das  hat  wohl  Freycinet  gesagt!! 

2  aber!  bin  ja  gar  nicht  dagewesen!* 

3  bei  uns  ist  keine  Erregung. 

Nr.  1582 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  67  Paris,  den  26.  Mai  1892 

Antwort  auf  Telegramm  Nr.  40**. 

Herr  Ribot  erkannte  an,  daß  es  besser  sein  würde,  wenn  die 
Exkursion  nach  Gerardmer  unterbleibe,  und  wolle  er  deshalb  mit 
seinen  Kollegen  Rücksprache  nehmen.  Finde  sie  aber  statt,  so  würde 
französische  Regierung  alle  Maßregeln  treffen,  um  jeden  Unfug  oder 
Konflikt  an  der  Grenze  energisch  zu  verhindern.  Die  Anwesenheit  der 
Tschechen  ist  der  hiesigen  Regierung  selbst  sehr  unangenehm. 

Münster 

Nr.  1583 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  70  Paris  den  26.  Mai  1892 

Soeben  suchte  mich  Herr  Freycinet  auf  und  sagte  mir,  daß  er  es 
bedaure,  daß  der  Reise  des  Präsidenten  nach  Nancy  von  der  Presse 
eine  Bedeutung  beigelegt  werde,  welche  sie  nicht  habe;  sie  sei  schon 
voriges  Jahr  geplant  worden.  Er  habe  durch  die  Ostbahndirektion 
gehört,  daß  ein  Ausflug  an  unsere  Grenze  beabsichtigt  sei,  er  werde 
einen  anderen  von   unserer  Grenze  abliegenden   Ausflug  vorschlagen. 

*  In  der  Tat  war  Kaiser  Wilhelm  II.  seit  seinem  Besuch  in  Straßburg  am  21.  August 
1889,  der  erst  anläßlich  der  Kaisermanöver  im  September  1893  wiederholt  wurde, 
nicht  in  den  Reichslanden  gewesen. 
•**  Siehe  Nr.  1580. 

21    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  321 


Alles,  was  von  militärischen  Maßregeln  gesagt  werde,  sei  vollständig 
unbegründet,  und  um  das  zu  zeigen,  habe  er  es  abgelehnt,  den  Präsi- 
denten zu  begleiten.  Münster 

Nr.  1584 

Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  Grafen  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  25.  Mai  1892 
Das  Auswärtige  Amt  ersuche  ich,  mir  baldigst  eine  Denkschrift 
darüber  vorzuhgen,  welche  Mittel  uns  zur  Verfügung  stehn,  um,  falls 
in  Nancy  Ausschreitungen  stattfinden,  welche  wir  nicht  ruhig  hin- 
nehmen können,  Frankreich  unser  Mißfallen  zum  Bewußtsein  zu  bringen, 
ohne  den  Krieg  zu  erklären.  Von  denjenigen  Mitteln,  welche  in  Elsaß- 
Lothringen  anwendbar  sind,  ist  abzusehen.  Auch  bitte  ich  um  Aus- 
kunft darüber,  welches  die  letzten  Fälle  von  Abberufung  deutscher 
oder  preußischer  Gesandter  gewesen  sind  und  aus  welchen  Anlässen. 

V.  Caprivi 

Nr.  1585 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift* 

Berlin,  den  26.  Mai  1892 
Ausschreitungen  bei  Gelegenheit  des  Nancyer  Turnfests,  welche 
wir  nicht  ruhig  hinnehmen  können,  würden  meo  voto  nur  solche  sein, 
bei  denen  die  Regierung  oder  Beamte  und  Olfiziere  direkt  beteiligt 
sind,  bzw.  solche,  welche  letztere  stillschweigend  geschehen  lassen, 
obwohl  sie  sie  hätten  unschwer  hindern  können.  Im  letzteren  Falle 
wird  man  nicht  zu  streng  sein  dürfen,  weil  der  Nachweis,  die  Regie- 
rung hätte  die  Ausschreitung  hindern  können,  schwer  zu  führen  sein 
wird.  In  Frankreich  und  in  Rußland  sind  Ausschreitungen  genug  vor- 
gefallen, ohne  daß  sie  weitere  Konsequenzen  gehabt  hätten.  Man 
wird  die  Ausdehnung  und  die  Folgen  in  Rechnung  ziehen  müssen,  wenn 
man  irgendwelche  Reklamationen  an  solche  chauvinistische  (stillschwei- 
gend geduldete)  Ausschreitungen  knüpfen  will. 

Anders,  wo  eine  tatsächliche  Beteiligung  oder  ganz  offenbare 
Konnivenz  amtlicher  Organe  vorliegt.  Hiergegen  würden  je  nach  dem 
Grade  der  Ausschreitung,  der  Bedeutung  der  Beteiligten  und  der 
sonstigen  Haltung  der  maßgebendsten  französischen  Behörden  folgende 
Mittel,  Frankreich  unser  Mißfallen  zu  bezeugen,  zu  Gebote  stehen: 

*  Nach  einem  Entwurf  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Raschdau. 
322 


1.  Amtliche  Besprechung  der  Sache  durch  den  Kaiserlichen  Bot- 
schafter mit  verschiedenartiger  Einleitung,  sei  es  durch  einfachen  Hin- 
weis auf  den  Vorfall,  sei  es  durch  eine  Anfrage,  ob  derselbe  tatsächlich 
so  liege,  wie  berichtet,  sei  es  durch  eine  bestimmte  Reklamation  gegen 
die  Schuldigen.  Je  nach  der  Form  kann  schon  die  Anfrage,  ob  der 
Fall  so  liege,  zu  bedenklichen  Weiterungen  führen,  insbesondere  von 
der  öffentlichen  Meinung  sehr  ernst  aufgefaßt  werden.  Je  nach  der 
Schwere  des  Falls  kann  hier  die  ganze  Tonleiter  diplomatischer  Mittel 
in  Frage  kommen. 

2.  Führen  diese  zu  keinem  Erfolge,  so  würde  zu  erwägen  sein, 
ob  unser  Mißfallen  sich  in  einer  Beurlaubung  des  Botschafters  (über 
deren  Grund  kein  Zweifel  bestehen  würde)  aussprechen  solle.  Hier- 
mit könnte  je  nach  Umständen  Hand  in  Hand  gehen  ein  „Schneiden" 
des  hiesigen  französischen  Botschafters.  Man  würde  sich  auf  die  lau- 
fenden Geschäfte  durch  den  ältesten  Beamten  der  Botschaft  beschränken 
können.  So  war  z.  B.  während  des  Karolinenstreits  vom  Fürsten  Bis- 
marck  in  Aussicht  genommen,  als  die  Sprache  der  Presse  eine  immer 
maßlosere  geworden,  daß  Graf  Solms  in  Madrid  um  Urlaub  telegra- 
phisch einkommen  solle. 

3.  Eine  weitere,  wegen  ihrer  äußeren  Formen  aber  erheblich 
schärfere  Maßregel  wäre  die  Abberufung  des  Botschafters  oder  deren 
Androhung.  Die  öffentliche  Meinung  faßt  einen  solchen  Schritt  als 
den  Vorläufer  einer  Kriegserklärung  auf,  und  die  Wirkung  auf  die 
Gemüter  wird  demgemäß  in  Rechnung  zu  ziehen  sein,  auch  v/enn 
keine  Kriegsabsichten  bestehen.  Die  Maßregel  oder  deren  Androhung 
wird  dann  den  gewünschten  Zweck  erreichen,  wenn  dem  anderen 
Teil  vor  den  letzten  Konsequenzen  bangt.  Als  im  Jahre  1888  im  deut- 
schen Paßburcau  in  Paris  von  einem  Franzosen  Schüsse  abgefeuert 
wurden*,  drohte  Fürst  Bismarck  mit  der  Abberufung  der  Botschaft 
und  erreichte  damit,  daß  Herr  Goblet,  der  zuerst  allerhand  Ausflüchte 
machte,  und  Herr  Herbette  hier  die  verlangte  Satisfaktion  gewährten. 

Andere  Fälle  von  Androhungen  der  Abberufung  der  deutschen 
diplomatischen  Vertretung  aus  neuster  Zeit  (mit  friedlichem  Ausgange) 
sind  mir  nicht  gegenwärtig. 

Die  Abberufung  des  Botschafters  in  Konstantinopel  im  Jahre  1877 

*  Vgl.  über  diesen  Vorfall  die  „Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung"  vom  5.  Sep- 
tember 1888.  Der  Fall,  der  von  Bismarck  zunächst  sehr  ernst  genommen  wurde 
und  zu  der  Weisung  nach  Paris  Veranlassung  gab,  daß  „die  Botschaft  ihre  Ge- 
schäfte würde  einstellen  müssen,  wenn  ihr  weder  Satisfaktion  noch  Sicherheit 
würde",  fand  dadurch  Erledigung,  daß  der  Täter  Gasnier,  der  durch  das  Attentat 
einen  Kriegsfall  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  provozieren  zu  wollen  er- 
klärt hatte,  für  verrückt  erklärt  und  in  ein  Irrenhaus  gesperrt  wurde. 
Darauf,  und  nachdem  der  Botschafter  Herbette  am  8.  Oktober  noch  einmal  das 
Bedauern  seiner  Regierung  ausgesprochen  hatte,  ließ  Bismarck  am  9.  Oktober  das 
Auswärtige  Amt  dahin  anweisen,  „daß  der  Fall  Gasnier  nicht  weiter  urgiert, 
sondern  einfach  fallen  gelassen  werde". 

21-  323 


und  die  Entfernung  des  Gesandten  in  Athen  in  den  achtziger  Jahren 
gehören  nicht  wohl  hierher.  Es  handelte  sich  damals  darum,  gewisse 
gemeinschaftliche  Beschlüsse  der  Mächte  gegenüber  der  Halsstarrig- 
keit der  Pforte  und  Griechenlands  durchzusetzen,  und  wir  operierten 
dabei  im  Konzert  der  Mächte.  Marschall 

Randbemerkung  des  Grafen  von  Caprivi: 
Bitte  um  Auskunft,  was  auf  Seite  3  mit  „der  ganzen  Tonleiter  diplomatischer 
Mittel"  gemeint  ist.    Es  war  gerade  mein  Wunsch,  diese  Mittel  kennenzulernen; 
ich  finde  aber  statt  einer  ganzen  Tonleiter  hier  nur  zwei:  Beurlaubung  und  Ab- 
berufung des  Botschafters.  v.  Caprivi  30/5. 


Nr.  1586 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi  an  Kaiser  Wilhelm  IL, 
z.  Z.  in  Prökelwitz 

Ausfertigung 

Berlin,  den  27.  Mai  1892 

Euerer  Kaiserlichen  und  Königlichen  Majestät  beehre  ich  mich 
bezüglich  des  demnächst  in  Nancy  veranstalteten  Turnfestes  allerunter- 
tänigst  folgendes  vorzutragen: 

Die  Absicht,  in  der  ersten  Hälfte  des  Juni  in  Nancy  ein  großes 
Turnfest  zu  feiern,  war  bereits  seit  längerer  Zeit  bekannt,  ohne  in 
Deutschland  besonders  bemerkt  zu  werden.  Nur  in  Elsaß-Lothringen 
wurde  dem  Vorgange  wegen  seiner  Rückwirkung  auf  gewisse  unruhige 
Elemente  eine  größere  Bedeutung  beigelegt.  Vor  vierzehn  Tagen  aber 
wurde  ein  Zirkular  von  Studenten  der  Nancyer  Universität  bekannt,  in 
welchem  zu  Beiträgen  für  die  Festkosten  aufgefordert  wurde  und  dem 
Feste  eine  „nationale"  und  spezifisch  „elsaß-lothringische"  Bedeutung 
vindiziert  wurde.  Ausdrücklich  wurde  dabei  hervorgehoben,  daß  alle 
Universitäten  „mit  Ausnahme  der  deutschen"  eingeladen  würden.  Seit- 
dem wurde  die  Angelegenheit  in  der  deutschen  Presse  lebhafter  be- 
sprochen und  angegriffen,  worauf  in  den  französischen  Blättern  chau- 
vinistischer Richtung  sehr  heftig,  in  den  gemäßigteren  und  der  Re- 
gierung nahestehenden  mit  dem  Bestreben,  dem  Feste  seine  anti- 
deutsche Tendenz  abzustreiten,  erwidert  wurde.  Jedenfalls  war  es 
den  Nancyer  Komitees  geglückt,  der  Frage  eine  politische  Bedeutung 
zu  verleihen  und  den  in  letzter  Zeit  in  Frankreich  weniger  hervor- 
tretenden Revancheideen  neue  Nahrung  zuzuführend  Die  Zusage  einiger 
tschechischer,  belgischer  und  luxemburger  Turnvereine,  das  Fest  zu 
besuchen,  verfehlte  nicht,  den  jugendlichen  Enthusiasmus  in  Nancy 
weiter  zu  schüren. 

In  das  Festprogramm  war  unter  anderem  eine  Exkursion  der 
Turner  nach  Gerardmer,  einer  in  der  Richtung  des  Münstertales    am 

324 


jenseitigen  Abhänge  der  Vogesen  gelegenen  Örtlichkeit  in  unmittel- 
barer Nähe  der  deutschen  Grenze,  aufgenommen.  Euerer  Majestät 
Statthalter  in  Elsaß-Lothringen  ließ  die  Frage  anregen,  ob  es  geratener 
scheine,  polizeiliche  oder  militärische  Vorkehrungen  diesseits  der  hier 
über  einen  hohen  Berg  und  Aussichtspunkt,  den  Hohneck,  führenden 
Grenze  zu  treffen  oder  ruhig  abzuwarten,  wie  die  Sache  verlaufen 
werde.  Touristen  verkehren  auf  diesem  Berge  oft,  es  laufen  Fußwege 
neben  der  Grenze  her,  Wohnungen  sind  auf  deutscher  Seite  nicht  in 
der  Nähe.  Reeller  Schaden  kann  schwerlich  geschehen,  und  wäre 
eventuell  von  Regierung  zu  Regierung  hierüber  zu  verhandeln,  immer- 
hin aber  kann  es  zu  Exzessen  kommen.  Ich  habe  infolge  davon  den 
Grafen  Münster  ersucht,  die  Angelegenheit  bei  der  französischen  Re- 
gierung zur  Sprache  zu  bringen  und  sie  zu  fragen,  ob  sie  die  Sorge 
für  die  Respektierung  unserer  Grenze  übernehmen  wolle.  Das  be- 
bezügliche Telegramm*  gestatte  ich  mir  zu  Euerer  Majestät  allergnä- 
digster  Kenntnisnahme  beizufügen,  ebenso  wie  die  beiden  hierauf  ein- 
gegangenen Meldungen  des  Grafen  Münster**.  Es  geht  aus  letzteren 
hervor,  daß  die  französische  Regierung  sich  verbindlich  macht,  jeden 
Unfug  oder  Konflikt  an  der  Grenze  energisch  zu  verhindern,  falls  es 
etwa  —  gegen  ihren  Willen  und  ihre  Bemühungen  —  doch  noch  zu 
dem  geplanten  Ausfluge  kommen  sollte.  Angesichts  dieser  formellen 
Zusage  erscheint  es  angezeigt,  von  außergewöhnlichen  Vorkehrungen 
an  der  Grenze,  welche  geeignet  sein  könnten,  den  Exzedenten  ein 
willkommenes  Objekt  zu  schaffen,  was  ohnedem  wahrscheinlich  fehlen 
würde,  diesseits  Abstand  zu  nehmen  2,  und  ich  glaube  Euerer  Majestät 
allergnädigster  Zustimmung  sicher  zu  sein,  wenn  ich  den  Fürsten 
Hohenlohe  dementsprechend  mit  Mitteilung  versehen  habe. 

G.  v.  Caprivi 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 
1  Das  wird  die  Hauptsache  gewesen  sein 
*  ja 


Nr.  1587 

Der  Geschäftsträger  in  Paris  von  Schoen  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Entzifferung 

Nr.  131  Paris,  den  30.  Mai  1892 

Die  Erregung  der  Presse  aus  Anlaß  der  Feste  in  Nancy  hat  sich 
gelegt,   nachdem   man   sich   nicht   weiter   der   Erkenntnis   verschließen 


•  Siehe  Nr.  1580. 

**  Siehe  Nr.  1582  und  1583. 


325 


kann,  daß  die  Klagen  über  deutsche  Herausforderung  und  unbefugte 
Einmischung  in  innere  französische  Dinge  sich  nicht  begründen  lassen. 
Wenn  die  Presse  ihren  Rückzug  mit  der  kühnen  Behauptung  zu  ver- 
decken sucht,  daß  die  deutschen  Angriffe  an  der  würdigen  Haltung 
auf  französischer  Seite  kläglich  gescheitert  seien,  und  dem  französischen 
Zeitungsleser  nun  doch  die  Meinung  bleibt,  daß  der  Deutsche  Händel 
gesucht  habe,  so  können  wir  das  wohl  mit  Gleichmut  hinnehmen. 

Auch  die  Turner,  Studierenden  und  Einwohner  von  Nancy  verwah- 
ren sich  jetzt  in  mannigfachen  Preßmitteilungen  dagegen,  jemals  an 
deutschfeindliche  Kundgebungen  gedacht  zu  haben,  kurz  es  kommt 
allgemein  das  Gefühl  zur  Geltung,  daß  vorsichtige  Zurückhaltung  am 
Platze  sei. 

Bei  dieser  Stimmung  ist  auch  bis  jetzt  die  Nachricht,  daß  die 
österreichische  Regierung  den  Sokol  die  korporative  Teilnahme  an 
den  Festen  in  Nancy  untersagt  habe,  mit  stiller  Resignation  aufgenom- 
men worden. 

Vereinzelte  Hetzblätter  versuchen  es,  das  erlöschende  Feuer  wie- 
der anzufachen,  indem  sie  die  Regierung  wegen  ihrer  angeblich  demü- 
tigenden Rücksichtnahme  auf  deutsche  Empfindlichkeiten  angreifen.  So 
wird  dieselbe  heute  beschuldigt,  aus  Erwägungen  der  äußeren  Politik 
die  Parade  in  Nancy  abbestellt  zu  haben.  Was  an  der  Sache  ist,  läßt 
sich  noch  nicht  erkennen,  vorläufig  scheint  es  jedoch,  daß  es  sich 
lediglich  um  eine  rein  praktisch  begründete  lokale  Verlegung  der 
Truppenschau  handele. 

v.  Schoen 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

Das  kalte  Wasser  hat  genützt!  doch  das  Eis  aus   Kiel  wird  noch  besser  ab- 
kühlen. 


Nr.  1588 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  141  Paris,  den  S.Juni  1892 

Der  Präsident  Carnot  ist  gestern  abend  von  seiner  Reise  nach 
Nancy  und  den  östlichen  Provinzen,  wie  ich  höre,  sehr  befriedigt 
zurückgekehrt. 

Der  Franzose  hat  eine  Leidenschaft  für  solche  öffentliche  Feier- 
lichkeiten, liebt  es,  eine  hochstehende  Persönlichkeit  zu  feiern,  und 
begeistert  sich  für  den  Pseudomonarchen  ebenso,  als  ob  es  ein  wirk- 
licher wäre. 

326 


Herr  Carnot  selbst  beginnt,  es  zu  lernen,  den  Monarchen  zu 
spielen. 

Alle  diese  Feierlichkeiten  so  nahe  an  unserer  Grenze  hätten  leicht 
zu  unangenehmen  Demonstrationen  führen  können,  und  waren  sie 
deshalb  nicht  ganz  ungefährlich.  Der  Präsident  Carnot  selbst  und  auch 
die  Minister  fühlten  das,  und  von  ihrer  Seite  ist  auch  alles  geschehen, 
um  jede  Unannehmlichkeiten  mit  uns  zu  vermeiden. 

Sowie  ich  darauf  aufmerksam  machte,  daß  die  projektierte  Turner- 
fahrt bis  hart  an  unsere  Grenze  unerwünscht  sei,  wurde  sie  sofort 
inhibiert  und  mehr  nach  dem  Innern  verlegt. 

Wenn  auch  die  Presse  zu  hetzen  versuchte,  so  hat  der  gegenüber 
die  Regierung  allen  ihren  geringen  Einfluß  angewandt,  um  sie  zu 
mäßigen. 

Die  Anreden  an  den  Präsidenten  und  seine  Antworten  waren 
vorher  sorgfältig  vorbereitet  worden  und  sind  auch  so  ruhig  gehalten 
als  nur  zu  erwarten  war. 

Es  wurde  sogar  unter  der  Hand  der  mäßige  Gebrauch  russischer 
Fahnen  anempfohlen. 

Ob  es  wahr  ist,  daß  der  Großherzog  von  Luxemburg  wirklich 
hat  nach  Nancy  gehen  wollen,  und  daß  auch  in  Brüssel  Schritte  getan 
sind,  um  die  Absendung  einer  Mission  nach  Nancy  zu  verhindern, 
habe  ich  nicht  feststellen  können:  die  offiziöse  Presse  behauptet    es. 

Alles  würde  sehr  ruhig  und  ohne  jede  Demonstration  verlaufen 
sein,  wenn  nicht  durch  den  ebenso  unerwarteten  als  taktlosen  Besuch 
des  Großfürsten  Konstantin  die  Gemüter  in  Aufregung  gebracht  wor- 
den wären. 

Nach  meiner  Überzeugung  ist  der  Präsident  Carnot  wirklich  durch 
diesen  Besuch  überrascht  worden  i,  und  es  steht  sogar  fest,  daß  er 
versucht  hat,  denselben  zu  verhindern,  indem  er  auf  das  erste  Tele- 
gramm des  Großfürsten,  welches  er  ganz  unerwartet  um  zehn  Uhr 
morgens  erhielt,  ihm  antwortete,  daß  er  ihm  die  lange  Eisenbahnfahrt 
—  es  ist  eine  Fahrt  von  3^2  Stunden  —  nicht  zumuten  wolle,  den 
Großfürsten  bitte,  sich  nicht  zu  bemühen,  ihn  aber,  wenn  er  darauf 
bestehe,  um  4^/^  Uhr  empfangen  werde. 

Um  zwei  Uhr  traf  eine  Depesche  ein,  welche  die  Ankunft  des 
Großfürsten  auf  3  1/2  ankündigte.  Durch  Indiskretion  der  Telegraphen- 
beamten wurde  es  bekannt,  und  sofort  sammelte  sich  ein  großer  Volks- 
haufe und  viele  Studenten  vor  dem  Bahnhofe,  und  wurde  eine  ziemlich 
wilde  Demonstration  improvisiert,  russische  Fahnen,  Fahnen  mit„Alsace- 
Lorraine''  wurden  geschwenkt  und  vor  dem  Großfürsten  vorgetragen 
und  aus  vollem  Halse  „Vive  la  Russie!"  „Vive  l'Alsace-Lorrainel" 
geschrien. 

Der  Großfürst  konnte  nur  mit  Mühe  auf  die  Präfektur  gelangen. 

Präsident  Carnot,   der  sein   Programm   ausführte   und  sich    nicht 

^  327 


stören  ließ,  war  nicht  dort,  und  mußte  der  Großfürst  ^4  Stunden 
auf  ihn  warten. 

Die  Demonstration,  welche  der  Großfürst  hervorrief,  war  die 
einzige  wirklich  deutschfeindliche  auf  der  ganzen   Reise. 

Die  böhmischen  Sokols  haben  nicht  den  Effekt  gemacht,  den  sie 
erwarteten,  haben  einige  dumme  Reden  gehalten  und  veranlaßt,  sind 
aber  im  ganzen  ziemlich  unbemerkt  geblieben. 

Die  gesamte  französische  Presse  sieht  in  dem  Besuch  des  Groß- 
fürsten ein  zweites  Kronstadt  und  sucht  darin  Trost  für  den  Besuch 
in  Kiel  und  nimmt  allgemein  an,  daß  dieser  Besuch  auf  ausdrücklichen 
Befehl  des  Zaren  unternommen  worden  sei. 

So  unwahrscheinlich  es  auch  scheinen  mag,  daß  der  Großfürst 
ohne  Einwilligung*  oder  Befehl  seines  Kaisers  nach  Nancy  gegangen 
ist,  so  bin  ich  doch  sehr  geneigt,  es  anzunehmen  i. 

Den  Kaiser  von  Rußland  halte  ich  einer  solchen  Taktlosigkeit  in 
dem  Augenblicke,  wo  er  nach  Kiel  unterwegs  war,  nicht  für  fähig^. 

Die  Großfürsten  sind,  wenn  sie  in  Frankreich  losgelassen  worden, 
immer  les  enfants  terribles,  und  das  gefährlichste  Kind  der  Art  ist 
Mohrenheim,  der  eigentlich  kein  Kind  mehr  sein  sollte. 

Ich  führte  gestern  abend  bei  einem  großen  offiziellen  Diner  bei 
Lord  Dufferin  Frau  von  Mohrenheim  zu  Tisch  und  habe  aus  ihren 
Äußerungen  entnehmen  können,  daß  ihr  Mann  sehr  erfreut  und  stolz 
über  den  Coup  ist,  den  er  ausgeführt  hat  3. 

Er  hat  geglaubt,  die  sehr  abgeblaßten  Erinnerungen  von  Kronstadt 
wieder  neu  beleben  und  auch  seinen  sinkenden  Kredit  wieder  heben 
zu  sollen*. 

Gestern  sah  ich  mehrere  der  französischen  Minister,  die  mir  alle 
sagten,  daß,  wie  sie  es  mir  vorher  gesagt  hätten,  alles  auf  der  Prä- 
sidentenreise gut  und  ohne  Zwischenfall  verlaufen  sei. 

Einer  der  Minister  ging  sogar  weiter  und  sagte:  „Le  seul  incident 
un  peu  regrettable  a  ete  la  visite  du  Grand-Duc  Constantion  ä  laquelle 
ni  le  President  ni  un  ministre  ne  s'attendaient  et  qui  a  donne  lieu  ä 
des  demonstrations  que  nous  ne  voulions  certes  pas,  mais  les  Grands- 
Ducs  ont  la  passion  de  fourrer  leur  nez  lä  oü  ils  n'ont  rien  ä  faire  ^Z* 

Um  seine  Franzosenliebe  noch  mehr  zu  zeigen,  ist  der  Großfürst 
Konstantin  am  anderen  Tage  nach  Domremy  gefahren,  wo  Jeanne 
d'Arc  gefeiert  wird,  und  ließ  sogar  seinen  Adjutanten  an  einer  Pro- 
zession teilnehmen. 

Uns  kann  das  alles  schon  recht  sein,  denn  die  Franzosen  lächeln 
schon  selbst,  und  viele  fühlen,  daß  sie  mit  Sicherheit  doch  nicht   auf 


*  Die  Einwilligung  des  Zaren  war  allerdings  eingeholt  und  erteilt  worden.    Vgl. 
Kap.  L,  Nr.  1636,  S.  409,  Fußnote  *♦, 

328 


die   Russen   rechnen   können.    Je  weiter   der   Krieg  hinausgeschoben 
wird,  je  mehr  wird  dieses  Mißtrauen  wachsen  6. 

Münster 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ja 

2  Nein 

3  da  haben  wir  die  Bestätigung 
*  Hauptsache  für  ihn 

5  bravo!  das  muß  in  diskreter  Manier  Schweinitz  in  Petersburg  verwenden 

6  ja 


Nr.  1589 

Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  Grafen  von  Caprivi* 

Eigenhändig 

Berlin,  den   19.  September  1892 
,  Wenn  die  Kolonialabteilung,  ohne  Mehrforderungen  zu  stellen,  die 
Mittel  zur  Entsendung  des  Dr.  Preuß  hat,  so  habe  ich  nichts  dagegen ; 
ut  quid  fiat,  ohne  mir  aber  einen  nennenswerten  Erfolg  davon  zu  ver- 
sprechen. 

Einen  förmlichen  Protest  bei  der  französischen  Regierung  zu  er- 
heben, halte  ich  nicht  für  rätlich,  wünsche  aber,  daß  unsere  Auffassung 
Frankreich  gegenüber  gelegentlich   zum   Ausdruck   gelangt. 

Solange  wir  die  Abrechnung  über  Elsaß-Lothringen  noch  vor  uns 
haben,  werden  wir  gut  tun,  Situationen  zu  vermeiden,  die,  um  frag- 
würdigen kolonialen  Besitzes  wegen,  zu  Verwickelungen  mit  Frank- 
reich führen  können,  bei  denen  die  Stellung  unserer  Bundesgenossen 
und  vollends  Englands  mindestens  ungewiß  wäre.  Kommt  es  zum 
Kriege  am  Rhein,  so  entscheidet  dessen  Erfolg  über  die  Kolonien 
mit;  siegen  wir,  so  werden  wir  die  Auswahl  haben,  werden  wir  ge- 
schlagen, so  ist  es  mit  unserer  Kolonialpolitik  überhaupt  zu  Ende.  Sehr 
viel  wird  bei  dem  Zukunftskriege  auf  die  mise  en  scene  ankommen, 
ich  wüßte  aber  kaum  eine  unglücklichere,  wie  wenn  der  Schauplatz 
des  ersten  Aktes  Adamaua  wäre.  Daraus  folgere  ich,  daß  es  auch 
im  vorliegenden  Fall  gut  sein  wird,  Händel  mit  Frankreich  zu  ver- 
meiden, auf  die  letzten  Mittel  der  großen  Politik  nicht  zu  rechnen 
und  unsere  Ziele  mit  unseren  zurzeit  verfügbaren  kolonialen  Mitteln 
in  Einklang  zu  halten. 

*  Mitte  September  1892  legte  die  Kolonialabteilung  des  Auswärtigen  Amtes  dem 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi  eine  „Denkschrift  betreffend  die  Frage  der 
Sicherung  des  Hinterlandes  von  Kamerun"  gegenüber  neuerdings  von  französischer 
Seite  erhobenen  Ansprüchen  vor.  Es  wurde  darin  angeregt,  gegen  das  französische 
Vorgehen  in  aller  Form  zu  protestieren,  die  deutschen  Ansprüche  aber  durch  Ent- 
sendung einer  deutschen  Expedition  etwa  unter  Führung  des  Botanikers  Dr.  Preuß 
zu  stützen. 

329 


Ich  bitte  also,  unsere  Ansprüche  in  Afrika  Frankreich  gegenüber 
auf  diplomatischem  Wege  so  gut  zu  wahren,  als  es  ohne  einen  Kon- 
flikt zu  provozieren,  möglich  sein  wird. 

V.  Caprivi 

Nr.  1590 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  29  Paris,  den  18.  Januar  1893 

Die  Presse  fährt  fort,  die  Vertreter  der  Tripelallianz  zu  beschul- 
digen, daß  die  Angriffe  gegen  Baron  von  Mohrenhüim  in  der  Panama- 
sache von  ihnen  ausgingen*.  Heute  wird  Graf  Hoyos**  sogar  aus- 
drücklich genannt  und  wegen  seiner  Beziehungen  zu  dem  ausgewiese- 
nen ungarischen  Korrespondenten  angegriffen.  Ich  werde  Herrn  De- 
velle***  darauf  aufmerksam  machen,  daß  diese  Angriffe  auf  die  Ver- 
treter der  Tripelallianz  unmöglich  geduldet  werden  können,  und  daß, 
sollten  irgend  Anspielungen  auf  meine  Person  dabei  vorkommen,  ich 
die  Sache  sehr  ernst  nehmen  würde. 

Münster 

Nr.  1591 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Paris  Grafen  Münster 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 
Nr.  9  Berlin,  den   19.  Januar  1893 

Antwort   auf  Bericht   Nr,  10   und   Telegramm   Nr.  29  t. 
Euer  pp.  sind  ermächtigt,  in  dem  Augenblicke,  der  Ihnen  geeignet 
erscheint,  zu  erklären,  daß  die  monarchischen  Kabinette  zu  erwägen 


*  Seit  Mitte  November  1892  hielt  die  Panama-Affäre  ganz  Frankreich  in  Atem. 
Der  innerpolitische  Skandal,  in  dessen  Rückwirkung  das  Ministerium  Loubet-Ribot 
Anfang  Dezember  in  ein  Ministerium  Ribot-Loubet,  und  dieses  wieder  Mitte  Januar 
1893  in  ein  Ministerium  Ribot-Develle  umgewandelt  wurde,  drohte  dadurch  eine 
außenpolitische  Wendung  zu  nehmen,  daß  seit  Mitte  Januar  in  den  französischen 
Blättern  Andeutungen  erschienen,  als  ob  der  russische  Botschafter  von  Mohrenheim 
in  die  Affäre  verwickelt  sei.  Durch  die  von  der  französischen  Regierung  verfügte 
Ausweisung  eines  ungarischen  Korrespondenten  Szekely  und  eines  deutschen 
Journalisten  von  Wedel,  welche  die  Andeutungen  der  französischen  Zeitungen 
weitergegeben  hatten,  wurde  die  französische  Presse  zu  Angriffen  gegen  die  Ver- 
treter des  Dreibundes  verleitet,  als  ob  diese  die  Verdächtigungen  gegen  Mohren- 
heim inszeniert  hätten. 

**  Österreich-ungarischer  Botschafter  in  Paris. 
***  Minister  des  Äußern  im  Kabinett  Ribot-Develle. 
t  Siehe  Nr.  1590. 

330 


haben  werden,  ob  Botschafter  als  Vertreter  der  Person  des  Sou- 
veräns in  einem  Lande  verbleiben  können,  in  welchem  sie  Angriffen 
auf  ihre  Ehre  und  Geschäftsführung  schutzlos  preisgegeben  sind. 

Euer  pp.  Ermessen   überlasse  ich,   Ihren  Kollegen   Kenntnis  von 
diesem  Telegramm  zu  geben. 

*    Marschall 


Nr.  1592 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 
Nr.  33  Paris,  den  IQ.  Januar  1893 

Habe,  bevor  Telegramm  Nr.  9*  eingegangen,  durch  Herrn  von 
Schoen,  da  selbst  noch  nicht  ausgehen  kann,  dem  Ministerium  des  Aus- 
wärtigen Erklärungen  im  Sinne  meines  Telegramms  Nr.  29  geben  lassen. 
Develle  bedauert  lebhaft  die  ganz  ungerechtfertigten  Preßangriffe  gegen 
Tripelallianz  und  Verdächtigungen  gegen  Botschafter,  die  nicht  zu 
dulden  seien,  Regierung  hoffe,  bald  durch  Novelle  zum  Preßgesetz 
Waffe  gegen  derartige  Ausschreitungen  zu  erlangen.  Inzwischen  werde 
sie  andere  Maßregeln  erwägen,  um  Preßorgane  gegen  Dreibund  zum 
Stillstand  zu  bringen.  Die  für  offiziös  gehaltene  Note  des  „Temps" 
von  Montag  über  Ausweisung  von  Journalisten  des  Dreibundes  sei 
nicht  im  Sinne  der  Regierung  redigiert  und  von  ihr  getadelt. 

Develle  will  mich  heute  oder  spätestens  morgen  besuchen.  Je 
nach  seinem  Verhalten  werde  von  der  Ermächtigung  in  Telegramm 
Nr.  9  Gebrauch  machen. 

Münster 


Nr.  1593 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  36  Paris,  den  22.  Januar  1893 

Minister  Develle  war  längere  Zeit  bei  mir.  Er  wiederholte  sein 
Bedauern  wegen  der  schamlosen  Angriffe  auf  die  Botschafter  der 
Tripelallianz.  Er  erkannte  an,  daß  es  die  Pflicht  der  Regierung  sei, 
sie  gegen  solche  Angriffe  zu  schützen  und  versprach,  es  mit  aller 
Energie  tun  zu  wollen.  Spätestens  morgen  solle. eine  offiziöse  Erklä- 
rung der  Regierung  im  „Temps"   erscheinen.    Er  sei  überzeugt,    daß 


Siehe  Nr.  1591. 

331 


keine  Angriffe  weiter  erfolgen  würden.  Die  Novelle  zum  Preßgesetz 
werde  in  einigen  Tagen  in  der  Deputiertenkammer  beraten,  und  die 
Regierung  betrachte  deren  Annahme  als  gesichert. 

Münster 


Nr.  1594 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  37  Paris,  den  22.  Januar  1893 

„Temps"  enthält  in  Form  von  Telegramm  aus  Wien  Desavouierung 
der  Preßangriffe  gegen  Dreibundbotschafter.  Wie  Develle  vertraulich 
Graf  Hoyos  vorbereitet  hatte,  geht  diese  Entgegnung  nicht  weit  genug, 
Regierung  könne  augenblicklich  eine  direkte  offizielle  Note  durch 
Agence  Havas  nicht  geben,  ohne  sofort  peinliche  Interpellation  hervor- 
zurufen. Sie  werde  aber  bei  Debatte  über  Preßgesetznovelle  weit- 
gehende befriedigende  Erklärungen  abgeben.  Text  der  „Temps"-Note 
folgt  telegraphisch  en  clair. 

Münster 

Nr.  1595 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Entzifferung 
Nr.  15  Paris,  den  23.  Januar  1893 

pp.  Die  Furcht  vor  einer  Interpellation  rücksichtlich  der  Angriffe 
auf  die  Tripelallianz  hat  Herrn  Ribot  verhindert,  gleich  die  Erklärung 
durch  die  Agence  Havas  zu  veröffentlichen,  die  Graf  Kälnoky  ver- 
langte, weil  eine  solche  zu  neuen  Angriffen  in  der  Presse  und  zu 
einer  nicht  zu  vermeidenden  Interpellation  geführt  haben  würde. 

Wenn  auch  die  Erklärung,  die  gestern  der  „Temps"  brachte,  un- 
genügend ist,  so  wird  es  jetzt  sehr  darauf  ankommen,  welche  Erklärun- 
gen bei  der  Debatte  über  die  Preßnovelle  abgegeben  werden,  und  ob 
dieselbe  angenommen  wird. 

Die  hiesige  Regierung  hat  gesehen,  wie  ernst  dieser  Zwischenfall 
hätte  werden  können,  und  wird  jetzt  sehr  vorsichtig  sein. 

Wir  alle  drei  Botschafter  haben  ihr  sehr  bestimmt  erklärt,  daß 
wir  solche  Angriffe  nicht  leiden,  und  ich  würde  der  allgemeinen  Lage 
wegen  nicht  für  rätlich  halten,  die  Sache  weiterzutreiben. 

Übrigens  muß  ich  konstatieren,  daß  bei  allen  Angriffen  gegen 
meine  Kollegen  gegen  mich  kein  Wort  gesagt  worden  ist. 

Ich  habe  viel  darüber  nachgedacht,  woher  der  Panamaangriff  gegen 

332 


den  Botschafter  Baron  von  Mohrenheim,  den  ich  für  ganz  unbegründet 
halte,  weil  er  der  Panamagesellschaft  nicht  hätte  nützen  können,  ge- 
kommen sein  kann.  Meiner  Überzeugung  nach  sind  es  die  hiesigen 
Russen,  sowohl  die  der  ersten  Gesellschaft  als  auch  der  anarchisti- 
schen Kreise,  welche  Baron  von  Mohrenheim  hassen,  seine  Geld- 
verlegenheiten kennen,  welche  solche  Gerüchte  verbreiten.  Die  hie- 
sigen Zeitungsschreiber  konnten  dann  nicht  widerstehen,  sie  zu  ver- 
breiten. 

Die  Angriffe  auf  die  Tripelallianz  und  auf  Lord  Dufferin,  der  per- 
sönlich am  stärksten  angegriffen  wurde,  führe  ich  auf  Baron  Mohren- 
heims Geschwätz  zurück.  Er  hat  schon  seit  längerer  Zeit  ein  ganzes 
Arsenal  von  Phrasen  gegen  die  Tripelallianz  und  gegen  Lord  Dufferin 
und  das  englische  Geld,  welches  die  französische  Presse  korrumpiert, 
losgelassen,  und  daß  er  jetzt  diese  benutzt  haben  wird,  um  sich 
gegen  die  schändlichen  Insinuationen  und  Verdächtigungen  zu  ent- 
schuldigen, liegt  auf  der  Hand. 

Daß  solche  Insinuationen  bei  Herrn  Ribot,  der  immer  fürchtet, 
sein  Kartenhaus  der  russisch-französischen  Allianz  zusammenfallen  zu 
sehen,  dankbaren  Boden  fand,  ist  erklärlich. 

Develle  ist  ein  sehr  verständiger,  ruhiger  Mann,  der  aber  noch 
ganz  von  Herrn  Ribot  abhängt.  Ich  hoffe  aber,  daß  er  sich  bald  in 
die  Geschäfte  hereinarbeitet  und  dann  selbständiger  werden  wird. 

Münster 


Nr.  1596 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 
von  Kiderlen  für  den  Staatssekretär  Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  26.  Januar  1893 

Der  österreichische  Botschafter,  welcher  Euere  Exzellenz  heute 
im  Amte  aufsuchen  wollte,  aber  nicht  antraf,  hat  mich  gebeten.  Euerer 
Exzellenz  mitzuteilen,  daß  Graf  Hoyos  nach  sehr  ernsten  Vorstellungen 
bei  Herrn  Ribot  vom  Minister  Develle  den  Entwurf  eines  offiziellen 
Dementis  wegen  der  gegen  Graf  Hoyos  gerichteten  Preßangriffe  er- 
halten habe.  Graf  Hoyos  habe  den  Entwurf  ad  referendum  genommen 
und  telegraphisch  nach  Wien  berichtet.  Graf  Kälnoky  habe  sich  da- 
mit einverstanden  und  den  Zwischenfall  für  erledigt  erklärt,  —  auch 
um  dem  französischen  Ministerium  nicht  zu  große  Schwierigkeiten  zu 
bereiten,  da  man  nicht  wissen  könne,  was  sonst  in  Frankreich  passiere. 

Kiderlen 


333 


Nr.  1597 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung' 

Nr.6Q  Paris,   den   5.  April   1893 

Kein  Minister  ist  nach  seinem  Falle  von  der  Presse  schlechter 
behandelt  und  härter  beurteilt  worden  als  Herr  Ribot*.  Er  verdiente 
es  in  vollem  Maße. 

Euere  Exzellenz  mögen  vielleicht  geglaubt  haben,  daß  ich  diesen 
Minister,  als  er  die  auswärtigen  Angelegenheiten  führte,  zu  schaH 
beurteilte  und  gegen  ihn  eingenommen  sei.  Er  war  ein  schlechter, 
demoralisierender  Minister  für  Frankreich,  weil  ihm  jedes  Mittel  recht 
war,  um  seine  politische  Rolle  zu  spielen,  gefährlich  für  das  Ausland, 
weil  er,  ohne  jede  Vorbildung  und  Kenntnis  der  auswärtigen  Politik, 
keinen  andern  Gedanken  fassen  konnte,  als  den  der  alleinseligmachen- 
den russischen  Alhanz,  und  er  gegen  uns  und  England  einen  blinden 
Haß  besaß,  und  er  alles   Üble  stets  auf  den   Dreibund    zurückführte. 

Unkenntnis  und  dieser  Haß  konnten  bei  einem  Manne  wie  Ribot 
gefährlich  werden,  weil  er  die  Tragweite  seiner  Ungeschicklichkeiten 
nicht  übersah. 

Wo  er  nur  irgend  konnte,  hat  er  gegen  uns  intrigiert,  und  alle 
Schwierigkeiten,  die  ich  hier  hatte,  waren  immer  auf  ihn  zurück- 
zuführen, wenn  er  auch  noch  so  liebenswürdig  gegen  mich  erscheinen 
wollte. 

Bei  dem  Besuche  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  Friedrich  hat  er, 
davon  bin  ich  überzeugt,  gehetzt.  Die  Ausweisung  des  Korrespondenten 
von  Wedel**,  die  Beschuldigung  der  Tripelallianzbotschafter  sowie  die 
Ausweisung  Brandes'***  und  die  gehässige  Ausbeutung  dieser  Aus- 
weisungen sind  allein  auf  Ribot  zurückzuführen. 

Euere  Exzellenz  glauben  nicht,  welche  Mühe  es  gekostet  hat, 
den  Botschafter  Herbette  zu  halten.  Ribot  wollte  jetzt  wieder  die 
Panamaangelegenheit  dazu  benutzen,  fand  aber  bei  Develle,  den  ich 
darauf  vorsichtig  vorbereitet  hatte,  Widerstand. 


*  Am  30.  März  war  das  Kabinett  Ribot  zu  Fall  gekommen;  an  seine  Stelle  war 
das  Kabinett  Dupuy  getreten,  in  dem  Develle  von  neuem  das  Äußere  übernahm. 
♦♦  Vgl.  Nr.  1590,  Fußnote  *. 

***  Ende  März  1893  war  auch  der  Korrespondent  des  „Berliner  Tageblatts"  Brandes 
von  der  französischen  Regierung  ausgewiesen  worden.  Bei  seiner  Abreise  wurde 
er  in  Asnieres  von  einem  Volkshaufen  beschimpft  und  mit  Steinen  beworfen. 
Vgl.  den  scharfen  Artikel  der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung",  der  die  an- 
läßlich der  Ausweisung  der  beiden  deutschen  Korrespondenten  v.  Wedel  und 
Brandes  wieder  zutage  getretene  landläufige  französische  Deutschenhetze  brand- 
markte. 

334 


Er  fühlte  zuletzt  selbst,  daß  er  sich  doch  nicht  länger  halten  könne, 
und  so  benutzte  er  den  Konflikt  zwischen  Deputiertenkammer  und 
Senat,  um  eine  Kabinettsfrage  aus  einer  Sache  zu  machen,  die  es 
an  sich  nicht  war.  pp.  Münster 


Nr.  1598 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  französischen  Botschafter  in  Berlin  Herbette* 

Konzept  von  der  Hand  des  Dirigenten  der  Kolonialabteilung  Kayser 

Berlin,  den  15.  Juli  1893 
[abgegangen  am  20.  Juü] 
Die   Verhandlungen    über    eine   Abgrenzung   der    deutschen    und 
französischen  Interessensphäre  in  Westafrika  sind  im  Jahre  1890  ohne 
Ergebnis  verlaufen.    Inzwischen  haben  deutsche  und   französische   Ex- 
peditionen jene  Länderstrecken  durchzogen  und  dadurch  die  Aufmerk- 

*  Hier  abgedruckt,  weil  es  von  Interesse  ist,  festzustellen,  was  übrigens  auch  von 
französischer  Seite  anerkannt  wird  (vgl.  Rapport  de  la  Commission  d'Enquete 
sur  les  faits  de  la  Guerre  Vol.  I  [1919],  p.  250),  daß  die  Anregung  zu  einer  Ver- 
ständigung zwischen  Deutschland  und  Frankreich  über  die  Interessensphären  von 
Deutsch-Kamerun  und  Französisch-Kongo  von  deutscher  Seite  ausgegangen  ist. 
Einen  eigentlich  politischen  Hintergrund  hatten  die  Verhandlungen  zunächst  nicht 
gehabt.  Die  Notwendigkeit  einer  Verständigung  ergab  sich  schon  daraus,  daß  das 
frühere  Abkommen  vom  24.  Dezember  1385  (siehe  dasselbe  in:  Das  Staatsarchiv 
Bd.  46  [1886],  S.  243  ff.)  deutscherseits  so  aufgefaßt  wurde,  als  ob  damit  die 
deutsche  Interessensphäre  im  Osten  von  Kamerun  ein  für  allemal  bis  zum 
15.  Längengrade,  und  zwar  in  der  ganzen  Ausdehnung  von  der  im  Süden  verein- 
barten Grenzlinie  bis  nördlich  zum  Tschad-See  festgelegt  sei,  während  die  Fran- 
zosen dem  Abkommen  eine  so  weite  Auslegung  keineswegs  zuerkennen  wollten. 
Nun  konnte  sich  Deutschland  allerdings  für  seine  Absicht,  das  Hinterland  von 
Kamerun  nordöstlich  bis  zum  Tschad-See  auszudehnen,  auf  das  deutsch-englische 
Abkommen  vom  15.  November  1893  stützen,  doch  war  von  Paris  her  gegen 
dieses  Abkommen,  das  übrigens  auch  engiischerseits  nicht  als  eine  Anerkennung 
der  deutschen  Hinterlandstheorie  gemeint  war,  sondern  dem  realen  Bestreben  ent- 
sprang, den  französischen  Expansionsgelüsten  an  einer  für  England  besonders 
empfindlichen  Stelle  einen  Riegel  vorzuschieben,  sofort  Protest  eingelegt  worden. 
Bei  den  durch  die  oben  abgedruckte  deutsche  Note  vom  15.  Juli  1893  angeregten 
Verhandlungen,  die  durch  die  Entsendung  des  Direktors  der  französischen  Kolonial- 
abteilung Haußmann  und  des  Kommandanten  iVlonteil  nach  Berlin  im  Dezember 
1893  in  Fluß  kamen,  vermochte  denn  auch  die  deutsche  Regierung  ihre  Ansprüche 
keineswegs  durchzudrücken,  sondern  mußte  sich  im  Abkommen  vom  15.  März  1894 
(siehe  dasselbe  in:  Das  Staatsarchiv  Bd.  57,  S.  61  ff.)  mit  einem  Ergebnis  be- 
gnügen, das  zwar  im  Süden  das  Gebiet  des  Sanga-FIusses  jenseits  des  15.  Längen- 
grades für  Deutschland  erschloß,  dafür  aber  im  Norden  die  deutschen  Ansprüche 
im  Gebiet  des  Tschad-Sees  auf  den  Schari-Lauf  zurückschraubte. 

Daß  Deutschland,  indem  es,  ungern  genug,  Frankreich  mit  dem  Gebiet  öst- 
lich des  Schari  die  Straße  zum  Bahr  el  Ghazal  und  nach  Faschoda  freigab,  die 
Absicht  verfolgt  habe,  Konfliktsmöglichkeiten  zwischen  England  und  Frankreich 
heraufzubeschwören,  wie  George  Pages  im  Rapport  de  la  Commission  d'Enquete 
sur  les  faits  de  la  Guerre  p.  251  mutmaßt,  findet  in  den  Akten  des  Auswärtigen 

335 


samkeit  der  öffentlichen  Meinung  in  der  Heimat  zu  erregen  gesucht. 
Eine  Fortsetzung  dieser  Forschungsreisen,  bei  welchen  jeder  Teil  be- 
müht ist,  den  anderen  auszuschließen,  würde  mit  der  Zeit  einen  Wett- 
bewerb herbeiführen,  welcher  geeignet  ist,  eine  unerfreuliche  Einwir- 
kung auf  die  gegenseitigen  Beziehungen  beider  Regierungen  auszuüben. 
Es  dürfte  sich  deshalb  fragen,  ob  es  nicht  angezeigt  ist,  die  im  Sommer 
1890  unterbrochenen  Verhandlungen   wiederaufzunehmen. 

Ich  beehre  mich,  Ew.  pp.  in  der  Anlage  eine  Denkschrift  zu  über- 
senden, welche  die  deutschen  Forderungen  näher  entwickelt*  und 
gleichzeitig  zum  Ausdruck  bringt,  inwieweit  die  Kaiserliche  Regierung 
bereit  ist,  ihr  Entgegenkommen  zu  bezeugen,  falls  die  Regierung  der 
Französischen  Republik  mit  ihr  eine  Beseitigung  der  bestehenden  Streit- 
fragen wünscht.  Marschall 

Nr.  1599 
Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  Hubertusstock,  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Hubertusstock,  den  17.  Oktober  1893 

Erfahre  soeben,  daß  Marschall  Mac  Mahon  verstorben  ist**.  Da 
derselbe  außerordentlicher  Botschafter  des  Kaisers  Napoleon  bei  der 
Krönung  meines  Großvaters  war  und  von  der  Zeit  an  mit  demselben 
in  guten  Beziehungen  gestanden  hat,  er  auch  während  meines  Inkognito- 
aufenthalts in  Paris  im  Jahre  1878***  als  Präsident  der  Republik  alles 


Amts  keinerlei  Stütze.  Im  Gegenteil  ergibt  sich  aus  ihnen,  daß  die  englische  Re- 
gierung das  ihr  sehr  unsympathische  Abkommen  vom  15.  März  1894  wiederholt 
zum  Anlaß  nahm,  um  der  deutschen  Regierimg  ein  gemeinschaftliches  Vorgehen 
gegen  Frankreich  in  In.ierafrika  vorzuschlagen:  eine  Anregung,  die  deutscherseits 
abgelehnt  wurde.    Vgl.   Bd.  VIII,  Kap.  LIV,   B,  Nr.  2022,  2023,  2025. 

Näheres   über  die   zu  dem   Abkommen   vom   15.  März  1894  führenden   Ver- 
handlungen,  die   hier   nicht   verfolgt   werden   können,  findet  sich   in  der  „Denk- 
schrift zum  Abkommen  vom  15.  März  1894":  Das  Staatsarchiv  Bd.  57,  S.  66ff. 
*  Hier  nicht  aufgenommen,   weil  von  nur  kolonialpolitischem  Interesse. 
**  t  am  17.  Oktober  auf  Schloß  La  Forest  bei  Montargis. 

***  Über  den  Inkognitoaufenthalt  des  damaligen  Prinzen  Wilhelm  in  Paris  im  Jahre 
1878,  der  sicherlich  dem  Besuch  der  französischen  Weltausstellung  gegolten  hat, 
geben  die  Akten  des  Auswärtigen  Amts  keine  Auskunft.  Bismarck  hatte  damals 
auf  die  vertrauliche  Anregung  des  neuernannten  französischen  Botschafters  Grafen 
St.  Vallier,  „daß  möglichst  viel  höchste  Herrschaften  aus  Deutschland  zur  Besich- 
tigung der  Weltausstellung  nach  Paris  kommen  möchten",  erklärt,  die  Verantwort- 
lichkeit dafür  nicht  wohl  übernehmen  zu  können  (vgl.  Bd.  III,  Nr.  650  nebst  Fuß- 
note). Auf  eine  erneute  vertrauliche  Anregung  des  Botschafters  im  Mai  erging 
laut  Notat  des  Auswärtigen  Amts  vom  14.  Mai  die  Antwort,  „daß  französischer- 
seits  auf  einen  Besuch  der  Pariser  Ausstellung  durch  Seine  Königliche  Hoheit  den 
Kronprinzen  und  die  Frau  Kronprinzessin  nicht  gerechnet  werden  könne".  Etwas 
Authentisches  über  den  Aufenthalt  des  Prinzen  Wilhelm  in  Paris  ist  bisher  über- 
haupt nicht  bekannt  geworden. 

336 


I 


getan  hat,  um  mir  mein  Inkognito  zu  erleichtern,  so  halte  ich  es  für 
angemessen,  daß  Graf  Münster  in  meinem  Namen  einen  Kranz  auf 
seinem  Grabe  niederlegt.  Er  war  ein  tapferer  Soldat  von  untadelhafter 
Führung  und  vornehmer  Gesinnung,  ein  Ehrenmann  durch  und  durch. 
Die  Kranzniederlegung  geschieht  am  besten  in  La  Forest. 

Wilhelm  LR. 

Nr.  1600 

Der  Vortragende  Rat  im  Auswärtigen  Amt  von  Holstein  an  den 
Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall, 

z.  Z.  in  Bremen 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Berlin,  den  17.  Oktober  1893 

Seine  Majestät  hat  telegraphiert,  daß  und  aus  welchen  Gründen 
er  für  angemessen  erachtet,  daß  Graf  Münster  auf  dem  Grabe  Mac 
Mahons  im  Namen  Seiner  Majestät  einen  Kranz  niederlege. 

Ich  habe  das  Telegramm  vollständig  weitergegeben  mit  dem  Hin- 
zufügen, daß  der  Botschafter  etwaige,  aus  der  jetzigen  abnormen  Er- 
regung der  Franzosen*  sich  ergebende  Bedenken  Eurer  Exzellenz  direkt 
telegraphieren  möge. 

Mir  schwebte  dabei  vor,  daß  dem  Könige  von  Italien,  welcher  sich 
telegraphisch  nach  dem  Befinden  des  Waffengefährten  von  König 
Viktor  Emanuel  erkundigt  hatte,  seitens  der  französischen  Presse  die 
ärgsten  Injurien  und  Verdächtigungen  seiner  Motive  zugeschleudert 
worden  sind. 

Falls  der  kaltblütige  Graf  Münster  von  einem  Schritt,  der  bei  all- 
täglicher Stimmung  jedenfalls  günstig  wirken  müßte,  jetzt  abraten 
sollte,  dann  wäre  auf  das  Vorhandensein  ernster  Bedenken  mit  Sicher- 
heit zu  schließen. 

Holstein 

Nr.  1601 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Abschrift 

Nr.  260  Paris,  den  18.  Oktober  1893 

Habe  folgendes  Telegramm  an  Marschallin  Mac  Mahon  gerichtet, 
da  Ort  und  Zeit  der  Beisetzung  noch  nicht  bekannt:  Duchesse  de  Ma- 
genta,   Chäteau   la   Forest.    Sa   Majeste   l'Empereur  d'Allemagne    des 

*  Vom  13.  bis  29.  Oktober  1SQ3  fand  in  Erwiderung  des  Kronstadter  Besuchs  vom 
Jahre  1S91  der  Besuch  eines  russischen  Geschwaders  in  Toulon  statt,  was  Anlaß 
zu  rauschenden  Festlichkeiten  und  zu  hoher  nationaler  Erregung  der  französischen 
Bevölkerung   Anlaß  gab.    Siehe   Kap.  XLVII,   Nr.  1532  und   1533. 

22    Die  Große  Politik.  7.  Bi  337 


qu'elle  a  eu  connaissance  de  la  perte  cruelle  que  vous  venez  de  faire 
m'a  Charge  dans  une  pensee  de  profonde  Sympathie  de  deposer  en  son 
nom  une  couronne  sur  le  cercueil  du  vaillant  et  noble  marechal.  En 
vous  exprimant,  Madame  la  Duchesse,  mes  sentiments  personnels  de 
plus  sincere  condoleance  je  vous  prie  de  bien  vouloir  me  faire  connaitre 
le  jour  et  l'endroit  oü  je  pourrai  avoir  l'honneur  de  m'acquitter  de 
cette  haute  mission.    Comte  de  Münster  Ambassadeur  d'Allemagne. 

(gez.)  Münster 

Nr.  1602 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  262  Paris,  den  20.  Oktober  1893 

Die  Russenfeste  verlaufen  programmäßig  unter  lebhafter  Beteili- 
gung der  unteren  Volksklassen.  Regierung  und  auch  der  größte 
Teil  der  Presse  tut  alles,  um  den  Chauvinismus,  der  doch  der  ganzen 
Sache  zugrunde  liegt,  zu  bemänteln  und  das  Friedenshorn  zu  blasen. 
Die  kühle  Antwort  des  Kaisers  Alexander  auf  das  Telegramm  des 
Präsidenten  Carnot*  hat  hier  sehr  unangenehm  berührt  und  ernüch- 
ternd gewirkt. 

Die  Kundgebung  unseres  allergnädigsten  Herrn  für  den  Marschall 
Mac  Mahon  ist  hier  sehr  gut  aufgenommen  worden. 

Einen  Artikel  des  „Matin"  darüber  schicke  ich  durch  die  Post. 
Bezeichnend  dabei  ist,  daß  dieser  nicht  allein  die  Befriedigung  Frank- 
reichs, aber  auch  die  des  Kaisers  Alexander  betont. 

Münster 

Nr.  1603 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzhr 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  237  Paris,  den  25.  Oktober  1893 

Der  hochherzige  Gedanke  Seiner  Majestät,  den  verstorbenen  Mar- 
schall Mac  Mahon  durch  eine  Beileidskundgebung  zu  ehren,  hat  hier 
einen  ganz  vorzüglichen  Eindruck  hervorgebracht,  der  gerade  im 
gegenwärtigen  Augenblick,  wo  das  ganze  Volk  von  einem  Taumel 
der  Freude  und  eingebildeten  Hoffnungen  ergriffen  ist,  besondere  Be- 
achtung verdient**,  pp.  Münster 

*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1533. 

♦*  Es  folgen  sehr  ausführliche  Mitteilungen  über  das  Leichenbegängnis  am  22.  Ok- 
tober, die  hier  übergangen  werden  können. 

338 


Nr.  1604 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  35  Paris,  den  12.  Februar  1S94 

Daß  der  Konseilpräsident  Casimir  Perier*  als  solcher  sehr  an 
seinem  Platze  ist,  habe  ich  in  einem  gestrigen  Berichte  zu  begründen 
versucht.  Daß  er  als  auswärtiger  Minister  ebenso  tüchtig  sein  wird, 
nehme  ich  an.  Der  persönliche  und  geschäftliche  Verkehr  mit  ihm  ist 
viel  angenehmer  als  mit  allen  seinen  Vorgängern. 

Beide  Ämter,  Konseilpräsident  und  Minister  des  Äußern,  sind  für 
einen  Mann  aber  zu  viel,  namentlich  wenn,  wie  es  Herr  Casimir  Perier 
tut,  er  die  Leitung  der  Regierung  ganz  in  die  Hand  nimmt. 

Die  politische  Lage  Frankreichs  ist  doch  eine  solche,  daß  der 
Leiter  der  Politik  seine  ganze  Zeit  darauf  verwenden  sollte. 

Gerade  jetzt  ändert  sich  diese  Lage. 

Vor  der  russischen  Sonne,  welche  die  Vorgänger  im  Amte  be- 
schien, steigen  Wolken  auf.  Unser  Handelsvertrag  mit  Rußland** 
kommt  für  uns  zur  rechten  Zeit,  und  zur  Erhöhung  der  Oetreidezölle 
konnte  Frankreich  für  sich  keinen  schlechteren  Augenblick  wählen***. 

Wenn  auch  ein  Teil  der  französischen  Industriellen  Gewinn  aus 
unserem  Vertrage  zu  ziehen  hofft,  so  versteht  doch  die  große  Mehr- 
zahl der  Franzosen  die  politische  Tragweite,  übersieht  die  Folgen 
besser  als  anscheinend  unsere  Agrarier.  Die  Franzosen  verstehen,  daß 
unser  Handelsvertrag  eine  schlechte  Antwort  auf  Kronstadt  und  Toulon 
ist,  und  alle  Phrasen  Mohrenheims  —  wenn  er  zurückkehren  sollte  — 
werden  das  Mißtrauen  nicht  verwischen,  welches  hier  sich  zu  zeigen 
beginnt. 

Daß  ein  besseres  Verhältnis  zwischen  den  beiden  großen  Nach- 
barländern eintreten  wird,  erwartet  man  hier,  und  daß  diese  Über- 
zeugung den  Wind  aus  den  Segeln  der  chauvinistischen  Russenfreunde 
nimmt,  liegt  auf  der  Hand. 

Die  Haltung  eines  Teils  der  russischen  Presse  und  die  Schaden- 
freude der  englischen  Presse,  die  auch  versteht,  was  die  Folgen  unseres 
Handelsvertrages  sein  werden,  verstimmen  hier  sehr.  pp. 

Unsere  Beziehungen  zu  Frankreich  werden  besser,  sowie  auf  Ruß- 
land nicht  mehr  sicher  gerechnet  wird  und  die  Beziehungen  zu  Eng- 
land und  anderen  Staaten  schlechter  werden. 

Daß  eine  wirkliche  Verständigung  mit  Frankreich  noch  lange  nicht 
zu  erwarten  ist,  weiß  ich  und  mache  mir  darüber  keine  Illusion.  Meine 

♦  Das  Kabinett  Casimir  Perier  hatte  Anfang  Dezember  1893  das  Kabinett  Dupuy 

abgelöst. 

*♦  Vgl.  Kap.  L,  B.,  Nr.  1666. 

»**  Vgl.  dazu  Schultheß'  Europäischer  Oeschichtskalender  Jg.  1894,  S.  262. 

22-  339 


Aufgabe  war  von  jeher  eine  schwierige:  sie  bestand  und  besteht  noch 
darin,  die  Winkel  abzustumpfen  und  abzurunden.  Durch  die  Presse 
und  zur  Bismarckschen  Zeit  wurden  auch  durch  die  Regierungen  gelbst 
diese  Winkel  oft  bedenklich  zugespitzt^:  sie  sind  in  letzter  Zeit  stumpfer 
geworden. 

Wenn  wir  es  dahin  bringen  könnten,  daß  die  Presse  beider  Länder 
mäßiger  würde,  so  könnte  wenigstens  der  Kriegszustand  im  Frieden 
aufhören.  Die  Aussichten  für  den  wirklichen  Krieg  werden  geringer. 
Wenn  Rußland  den  Krieg  nicht  will,  beginnt  ihn  Frankreich  nicht. 
Die  Republik  befestigt  sich.  Die  gemäßigten  Elemente  scheinen  Ein- 
fluß zu  gewinnen.  Die  Furcht  vor  der  Anarchie  und  dem  Sozialismus 
hilft  dazu.  Die  eigentliche  Kriegs-  und  Revanchepartei  hat  entschieden 
an  Intensität  und  Einfluß  verloren.  Ohne  Rußland,  das  immer  mehr  im 
nordischen  Nebel  verschwindet,  ist  Frankreich  isoliert,  führt  außerdem 
mit  Ausnahme  von  uns  Zollkrieg  mit  allen  Ländern. 

Die  Vorgänge  in  Afrika  sind  zur  Erhaltung  des  Friedens  günstig, 
und  gut  ist  es,  daß  wir  dort  zu  einer  Verständigung  gelangt  sind*. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
*■  Richtig 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Völlig  einverstanden 

Nr.  1605 
Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  Kiel,  an  den  Botschafter  in  Paris 

Grafen  Münster 

Telegramm.    Entzifferung  des  vom  kaiserlichen  Chiffreur  an  das  Auswärtige  Amt 

gesandten  Duplikats 

Kiel,  den  30.  Juni  1894 
Wenn  Sie  morgen  bei  Gelegenheit  der  Leichenfeier  für  Carnot** 
meinen  Kranz  niedergelegt  haben,  sprechen  Sie  dem  neuerwählten 
Präsidenten  nochmals  meine  Teilnahme  an  dem  Schmerz  Frankreichs 
aus.  Zugleich  haben  Sie  demselben  zu  eröffnen,  daß  ich  zum  Zeichen 
meines  besonderen  Wohlwollens  ihm  und  seiner  neuen  Regierung 
gegenüber  Befehl  gegeben  habe,  beide  französische  Spione***,  welche 
in  Kiel  vor  einem  Jahr  gefaßt  wurden,  am  Beisetzungstage  Carnots 
wieder  freizulassen.  Seine  Exzellenz  der  Reichskanzler  ist  damit  ein- 
verstanden. Wilhelm   I.  R. 

*  Gemeint  ist  das  seit  Anfang  1893  vorbereitete  deutsch-französische  Abkommen 
über  Kamerun   und  Kongo  vom   15.  März   1894.    Vgl.   Nr.  1598,   Fußnote. 
**  Am  24.  Juni  war  Präsident  Carnot  in  Lyon  von  einem  italienischen  Anarchisten 
ermordet  worden.    Zu  seinem   Nachfolger  wurde  am  27.  Juni  Casimir  Perier  er- 
wählt. 

***  Es  handelte  sich  um  die  beiden  französischen  Marineoffiziere  Degouy  und 
Delguey-Malavas,  die  im  Dezember  1893  vom  Reichsgericht  zu  6  bzw.  4  Jahren 
Festungshaft  verurteilt  und  seither  in  Glatz  interniert  waren. 

340 


Nr.  1605 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  150  Paris,  den  I.Juli  1894 

Folgendes  habe  ich  an  Seine  Majestät  den  Kaiser  nach  Kiel  tele- 
graphiert: 

Bei  der  Leichenfeier  im  Elysee  hat  mich  der  Präsident  der  Re- 
publik, dem  ich  hatte  sagen  lassen,  daß  ich  ihn  im  Auftrage  Seiner 
Majestät  zu  sprechen  wünsche,  empfangen  in  Gegenwart  des  ganzen 
Kabinetts.  Nachdem  ich  nochmals  das  Beileid  Euerer  Majestät  aus- 
gesprochen hatte,  teilte  ich  dem  Präsidenten  die  erfreuliche  Nachricht 
von  der  auf  so  gnädige  Weise  befohlenen  Freilassung  der  beiden 
Spione  mit. 

Der  Präsident  gab  mir  tiefbewegt  die  Hand  und  sagte: 
„Dites  ä  Sa  Majeste  que  cet  acte  de  gräce  va  droit  au  coeur  de  la 
nation  fran^aise.** 

Darauf  dankte  mir  der  Ministerpräsident  im  Namen  des  Kabinetts,^ 
der  Kriegsminister  im  Namen  der  Armee,  der  Marineminister  im  Namen 
der  Marine.  Der  Minister  des  Äußern  sagte: 

„Cet  acte  genereux  a  une  grande  portee  politique." 
Er  bat  mich  im  Namen  des  Präsidenten,  dem  Leichenzug  nicht  zu 
Fuß  zu  folgen,  denn  die  Hitze  ist  erstickend.    Ich  fahre  daher  in   die 
Notre-Dame-Kirche.  Münster 

Nr.  1607 
Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  das  Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  151  Paris,  den  1.  Juli  1894 

Für  Seine  Majestät  den  Kaiser. 

Die  Feier  ist  bei  erdrückender  Hitze  ohne  Zwischenfall  gut  ver- 
laufen. Die  Begnadigung  der  beiden  Offiziere  und  die  Art  und  Weise, 
wie  sie  an  diesem  Tage  geschah,  hat  einen  noch  größeren  Eindruck 
gemacht,  eine  noch  größere  wirklich  aufrichtige  Anerkennung  gefunden, 
als  ich  selbst  erwartete.  Wie  ich  meldete,  haben  der  Präsident  der 
Republik,  der  Konseilpräsident  im  Namen  des  Kabinetts,  der  Kriegs- 
minister im  Namen  der  Armee,  der  Marineminister  im  Namen  der 
Marine  mich  gebeten,  Euerer  Majestät  den  tiefgefühlten  Dank  aus- 
zusprechen. 

Während  der  Feier  im  Dom  kam  der  Präsident  des  Senats*  zu 
mir  und  bat  mich  in  seinem  Namen  und  in  dem  der  versammelten  Se- 
natoren  Eurer  Majestät  ihren  wärmsten   Dank  zu  übermitteln. 

*  Challemel-Lacour. 

341 


Den  Kranz  Euerer  Majestät  hatte  ich  schon  gestern  abend  auf 
Wunsch  der  Madame  Carnot  in  der  Capelle  Ardente  niedergelegt. 
Madame  Carnot  ließ  mir  sagen,  daß  von  allen  Beileidsbezeugungen 
und  Telegrammen  die  Worte  Euerer  Majestät  sie  am  tiefsten  gerührt 
haben.  Münster 

Nr.  1608 

Der  Botschafter  in  Paris  Graf  Münster  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  135  Paris,  den  S.Juli  1894 

Die  vielen  Beweise  der  Teilnahme  und  der  Entrüstung,  welche 
von  allen  Seiten  und  von  allen  Souveränen  hier  einliefen,  haben  hier 
sehr  erfreut.  Es  haben  diese  Kundgebungen  dem  so  eminent  eitlen 
Volke  sehr  geschmeichelt.  Von  den  Republikanern  wird  das  als  eine 
Anerkennung  und  Sanktionierung  der  Republik  angesehen. 

Daß  die  Telegramme  unsers  allergnädigsten  Herrn  und  die  Frei- 
lassung der  französischen  Olfiziere  so  ganz  im  rechten  Augenblick 
einen  guten  Eindruck  machen  würden,  erwartete  ich.  Meine  Erwartung 
ist  bei  weitem  übertroffen,  und  wenn  der  „Figaro"  sagte,  daß  am 
Sonntag  abend  unser  Kaiser  der  populärste  Mann  in  Paris  gewesen 
sei,  so  ist  das  richtig. 

Meine  persönliche  Stellung  hat  auch  dabei  sehr  gewonnen. 

Daß  unsere  Beziehungen  in  letzter  Zeit  überhaupt  viel  besser  ge- 
worden sind,  als  die  Presse  und  die  durch  sie  sehr  irre  geleitete 
öffentliche  Meinung  in  Deutschland  glauben  wollen,  ist  sicher.  Den- 
noch weiß  ich,  daß  solche  Stimmungen  umschlagen  können.  Von  Seiten 
beider  Regierungen  muß  aber  alles  getan  werden,  damit  dieses  nicht 
geschieht. 

Die  Zeit  gleicht  am  besten  Gegensätze  aus.  So  geht  es  auch  mit 
unsern  Beziehungen  zu  Frankreich. 

Elsaß-Lothringen  wird  nach  und  nach  vergessen  werden,  und,  ist 
diese  Frage  nicht  mehr  so  brennend,  kühlt  sich,  wie  das  schon  sehr 
zu  bemerken  ist,  der  Chauvinismus  ab,  so  werden  die  Franzosen 
doch  immer  mehr  einsehen,  daß  unsere  sonstigen  Interessen  in  vieler 
Beziehung  den  französischen  weniger  widersprechen  als  die  russischen. 

Je  mehr  die  Aussicht  auf  Krieg  abnimmt,  je  mehr  fällt  der  Grund 
für  die  absurde  Russenliebe  der  Franzosen  fort. 

Eine  ernste  Ehe  war  es  nie,  und  wenn  bei  Liebhabern  der  Rausch 
der  Liebe  aufhört,  und  sie  erst  anfangen  zu  streiten,  so  werden  sie 
gewöhnlich  die  bittersten  Feinde. 

Als  im  vorigen  Herbste  ganz  Paris  auf  dem  Kopfe  stand,  und  der 
russische  Admiral  der  Held  des  Tages  war,  wurde  ich  oft  von  hiesigen 

342 


Bekannten  mit  einem  Anfluge  von  Hohn  gefragt,  ob  mir  das  nicht 
sehr  unangenehm  sei.  Ich  erwiderte  ruhig:  „Nein,  im  Gegenteil,  denn 
ich  habe  die  Überzeugung,  daß,  wenn,  wie  ich  sehr  hoffte,  der  Friede 
erhalten  bleibe,  die  Russen  in  Paris  in  drei  bis  höchstens  fünf  Jahren 
Gefahr  liefen,  mit  faulen  Eiern  und  Äpfeln  beworfen  zu  werden  i." 

Dieses  klang  und  war  auch  etwas  übertrieben.  Dennoch  muß 
jeder,  der  hier  beobachten  kann,  sehen,  daß  die  Beziehungen  zu  Ruß- 
land nicht  dieselben  sind  als  früher. 

Als  der  Botschafter  Mohrenheim  zur  Leichenfeier  in  das  Elysee 
über  den  Place  de  la  Concorde  fuhr,  und  die  Durchfahrt  durch  Wagen 
und  Bänke  gesperrt  war,  sein  Kutscher  aber  versuchte  durchzufahren, 
wurde  er  geradezu  beschimpft  und  kam  ganz  außer  sich  ins  Elysee. 
Das  wäre  vor  einem  Jahre  unmöglich  gewesen.  Mir  gegenüber  sprach 
mein  russischer  Kollege  mit  Geringschätzung  von  der  Botschaft  des 
Präsidenten*  und  nannte  sie  nichtssagend. 

Es  ist,  wie  ich  glaube,  diese  Kritik  dadurch  veranlaßt,  daß  nicht, 
wie  bisher  stets  geschah,  die  Beziehungen  zu  Rußland  erwähnt  wur- 
den. Der  Satz,  der  ihm  besonders  mißfallen  haben  wird,  ist  der,  der  so 
beginnt: 

„Sure  d'elle  meme,  confiante  en  son  armee  et  en  sa  marine,  la 
France  peut,  la  tete  haute,  affirmer  son  amour  de  la  paix." 

Was  hier  sehr  verstimmt  hat,  war  das  sehr  verspätete  und  sehr 
kalte  Telegramm  Seiner  Majestät  des  Kaisers  von  Rußland.  Außerdem 
erwartete  man  wenigstens  von  Rußland  die  Absendung  einer  beson- 
dern Mission. 

Mit  England  sind  die  Beziehungen  zum  englischen  Hofe  die  besten, 
und  hat  Ihre  Majestät  die  Königin  es  durch  ihre  Teilnahme  sehr  ver- 
standen, die  Herzen  hier  zu  gewinnen. 

Dagegen  sind  die  Beziehungen  zur  englischen  Regierung  entschie- 
den nicht  als  gute  zu  bezeichnen. 

Italien  ist  noch  ein  wunder  Punkt,  darüber  beehre  ich  mich  aber 
besonders  zu  berichten.  Die  Besorgnis,  daß  die  Aufregung  über  den 
durch  einen  Italiener  verübten  Mord  ernste  Folgen  haben  konnte,  hat 
ßehr  abgenommen. 

Herr  Casimir  Perier  und  sein  auswärtiger  Minister**  wollen  beide 
keine  äußeren  Komplikationen  und  wollen  vor  allem  Ordnung  im 
Innern  und  eine  feste  Regierung  zu  ermöglichen  suchen.  Auf  Kriegs- 
abenteuer werden  sich  beide  nicht  einlassen. 

Münster 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  H.: 
i  Richtig. 


*  Siehe  den  Wortlaut  aus  der  Botschaft  vom  3.  Juli  in  Schultheß'   Europäischer 
Geschichtskalender  Jg.  1894,  S.  268  f. 
**  Hanotaux. 

343 


Kapitel  XLIX 

Der  Draht  nach  Rußland  ISQO— 1S92 
A.  Äußere  Politik 


Nr.  1609 
Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt  Raschdau 

Reinschrift.   Unsigniert* 
Notizen  zu  der  russischen  Reise 

Berlin,  den  18.  Juli  1890 

1.  Den  verwandtschaftlichen  Charakter  des  Besuchs  hervorkehren; 
zu  politischen  Gesprächen  —  insbesondere  bezüglich  orientalischer  Ver- 
hältnisse —  nicht  die  Initiative  ergreifen. 

2.  Auf  das  Thema  der  Solidarität  der  Monarchien  und  die  Bedeu- 
tung der  sozialen  Frage  für  letztere  gegenüber  den  überall  hervor- 
tretenden Umsturzbestrebungen  gern  eingehen. 

3.  Werden  politische  Fragen  berührt,  so  lehnen  wir  es  ab,  die 
Rolle  des  ehrlichen  Maklers  von  neuem  zu  übernehmen.  Unsere 
schlechten  Erfahrungen  —  besonders  nach  Berliner  Kongreß  —  hervor- 
heben. 

4.  In  bezug  auf  Herzog  von  Cumberland**  formal:  Wir  lehnen 
Zwischenpersonen  ab;  sachlich:  Gesetz  allegieren,  das  in  der  Ver- 
mögensfrage jede  Entscheidung  von  gesetzgebenden  Körpern  mit  ab- 
hängig macht;  außerdem  auf  Intrigen  der  Weifenpartei,  die  noch  bei 
letzten  Wahlen  ihre  reichsfeindlichen  Bestrebungen  bekundet,  hinweisen. 
Ohne  Garantien  keine  Konzessionen. 

5.  Wir  können  Verträge  mit  Rußland  nicht  schließen,  da  sie  zur 
Erregung  von  Mißtrauen  im  In-  und  Auslande  gegen  uns  ausgebeutet 
würden  1.  Hervorheben,  wie  unsere  bisherigen  Verträge  trotz  weit- 
gehender Zugeständnisse  nicht  vermocht  hätten  2,  feindselige  Stim- 
mung in  Rußland  gegen  uns  zu  mäßigen.  Aber  auch  ohne  Ver- 
träge werde  unsere  Haltung  gegen  Rußland  stets  eine  friedliche,  loyale 
und  entgegenkommende  sein. 

6.  Wir  haben  kein  Interesse  in  Bulgarien***,  während  wir  russisches 
gern  anerkennen.  Wenn  ohne  Störung  des  Weltfriedens  dort  legaler 
Zustand  nach  Maßgabe  Berliner  Vertrages  hergestellt  werden  könnte, 
whrcn  wir  bereit,  jeden  dazu  führenden  Schritt  zu  unterstützen.    Bei 

*  Auf  dem  eigenhändigen  Konzept  Raschdaus  befindet  sich  eine  Randverfügung 
Caprivis:  „Bitte  hiervon  zu  fertigen  je  eine  deutsche  Kopie  und  eine  französische 
Übersetzung,  beides  auf  gebrochenem  Bogen  für  Seine  Majestät  und  für  mich. 
Ersteres  will  ich  in  Wilhelmshaven  überreichen."  Man  sieht,  wie  sorgfältig  und 
von  langer  Hand  her  der  für  Mitte  August  geplante  Kaiserbesuch  am  russischen 
Hofe  politisch  vorbereitet  wurde. 
**  Vgl.  dazu  Bd.  VI. 
***  Über  die  bulgarische  Frage  seit  1890  vgl.  Bd.  IX,  Kap.  LV. 

347 


Verschiedenartigkeit  der  dort  gegenüberstehenden  europäischen  Inter- 
essen aber  sei  nach  aller  Voraussicht  jedes  Einschreiten  für  europäi- 
schen Frieden  bedrohlich. 

7.  Prinz  Ferdinand  sei  nicht  legal  gewählt,  da  nicht  alle  Mächte 
beigestimmt.  Wer  aber  würde  —  nach  russischer  Ansicht  —  die  all- 
gemeine Zustimmung  finden?  .Man  käme  also  aus  einem  illegalen 
Zustand  in  den  andern. 

8.  Die  Meerengenfrage*  tunlichst  vermeiden;  wir  würden  auch  in 
dieser  Frage  uns  an  die  bestehenden  Verträge  von  1856  und  71  loyal 
halten. 

9.  Wird  Serbien  berührt,  nach  wie  vor  erwähnen,  daß  unseres 
Wissens  die  Österreicher  nicht  daran  dächten,  dort  gewaltsam  ein- 
zuschreiten. Auch  dort  würden  die  Ereignisse  am  besten  sich  selbst 
überlassen. 

Randbemerkungen  des  Reichskanzlers  von  Caprivi: 

*  Wir  müssen  auf  die  öffentliche  Meinung  viel  mehr  Rücksicht  nehmen  als  zu  Fürst 
Bismarcks  Zeit 

'  Politik,  die  auf  Willen  eines  Einzigen  beruht,  kann  zu  leicht  umgestimmt  wer- 
den. Gortschakow  bekam  es  fertig,  das  gute  Verhältnis  zwischen  Wilhelm  I. 
und  Alexander  II.  zu  stören 


Nr.  1610 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  205  St.  Petersburg,  den  30.  Juli  1890 

Geheim 

Herr  von  Giers  benutzte  eine  sich  ihm  bietende  Gelegenheit,  um 
mir  vertrauliche  Eröffnungen  über  dasjenige  zu  machen,  was  er  mit 
Euerer  Exzellenz  bei  der  bevorstehenden  Begegnung  zu  besprechen  be- 
absichtigt. 

„Der  Kaiser",  so  ungefähr  erzählte  der  Herr  Minister,  „hat  mir 
auf  meine  Frage,  wie  ich  mich  bei  der  bevorstehenden  Ankunft  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  Wilhelm  zu  benehmen  habe,  geantwortet,  ich 
solle  nicht  nach  Narwa  kommen,  sondern  mich  erst  in  Peterhof  vor- 
stellen." 

„Der  Kaiser",  so  fuhr  Herr  von  Giers  fort,  „hat  mir  ferner  gesagt: 
Da  die  Initiative  zu  dem  Abbruche  der  beim  Ausscheiden  des  Fürsten 
Bismarck  dem  Abschlüsse  nahen  Verhandlungen  vom  General  von  Ca- 
privi ausgegangen  sei,  so  solle  ich  bei  demselben  nicht  mehr  auf  diese 


•  über  die  Meerengenfrage  seit  1890  siehe  Bd.  IX,  Kap.  LV. 

348 


Sache  zurückkommen  und  überhaupt  jede  Rekrimination  vermeiden*. 
Ich  werde  also  dem  Herrn  Reichskanzler  gegenüber  nur  erwähnen, 
daß  Sie  von  ihm  beauftragt  gewesen  sind,  hier  zu  erklären,  daß  Deutsch- 
land seine  guten  Beziehungen  zu  uns  erhalten  und  pflegen  und  an  der 
bisherigen  Richtung  seiner  Politik  Rußland  gegenüber  nichts  ändern 
will." 

„Als  Herr  Stambulow  im  vergangenen  Juni  seine  bekannte  Note 
nach  Konstantinopel  richtete,  habe  ich  den  Grafen  Schuwalow  an- 
gewiesen, mit  Herrn  General  von  Caprivi  über  diesen,  die  Ruhe  auf 
der  Balkanhalbinsel  gefährdenden  Schritt  der  illegalen  Regierung  in 
Sofia  zu  sprechen;  der  Herr  Reichskanzler  hat  die  befriedigende  Ant- 
wort erteilt,  daß  die  deutsche  Regierung  die  Zustände  in  Bulgarien 
nach  wie  vor  als  nicht  normale  betrachte**." 

„Ich  will  mit  Herrn  von  Caprivi  hierüber,  aber  auch  noch  über 
einen  zweiten  Punkt  sprechen,  nämlich  über  die  Meerengen.  Sie  er- 
innern sich,  daß  zur  Zeit  des  Gefechtes  am  Kuschk  und  des  Pandscheh- 
streites***  England  den  Verträgen  über  die  Meerengen  eine  Auslegung 
gab,  welche  ersteren  nicht  entspricht  und  für  uns  nachteilig  ist;  über 
diese  Frage  möchte  ich  mich  mit  dem  Herrn  Reichskanzler  ver- 
ständigen." 

Diese  Äußerungen  des  Herrn  Ministers  erwiderte  ich  in  demselben 
freundschaftlichen  Tone,  in  welchem  Seine  Exzellenz  sie  tat,  indem  ich 
sagte,  es  sei  gut,  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  auf  die  Ver- 
handlungen vom  März  dieses  Jahres  nicht  zurückkommen  wolle,  und 
es  sei  richtig,  daß  ich  beauftragt  gewesen  bin,  hier  zu  erklären: 
Deutschland  wolle  seine  guten  Beziehungen  zu  Rußland  erhalten  und 
pflegen  und  weder  an  seiner  auswärtigen  Politik  im  allgemeinen  noch 
speziell  Rußland  gegenüber  etwas  ändern. 

Was  nun  die  Meerengenfrage  betrifft,  welche,  wenn  ich  nicht  irre, 
bei  den  bevorstehenden  Besprechungen  Euerer  Exzellenz  mit  Herrn 
von  Giers  in  den  Vordergrund  treten  dürfte,  so  beschränkte  ich  mich 
darauf,  den  russischen  Minister  daran  zu  erinnern,  daß,  soviel  mir  be- 
kannt, der  Londoner  Vertrag  vom  13.  März  1871  f  die  Schließung  und 
Öffnung   der   Dardanellen    und    des    Bosporus   geregelt   habe   und   in 

•  Vgl  Kap.  XLIV. 

**  Die  Auslassungen  Minister  Giers'  sind  nicht  ganz  korrekt.  Die  bulgarische 
Note  vom  16.  Juni,  die  bei  der  Türkei  von  neuem  die  Anerkennung  des  Prinzen 
Ferdinand,  sowie  die  Zulassung  bulgarischer  Bischöfe  in  der  Türkei  usw.  in 
Anregung  brachte,  rührt  noch  von  dem  Vorgänger  Stambulows,  Stranski,  her, 
der  am  17.  aus  dem  Ministerium  schied.  Auch  hat  Graf  Schuwalow  nicht  mit 
dem  Reichskanzler  von  Caprivi,  sondern  mit  dem  Staatssekretär  von  Marschali 
am  25.  Juni  über  die  Angelegenheit  gesprochen  und  von  diesem  die  Antwort  er- 
halten, daß  nach  Auffassung  der  deutschen  Regierung  der  gegenwärtige  Zustand 
in  Bulgarien  im  Widerspruche  mit  dem  Berliner  Vertrage  stehe  und  daher  als 
illegal  zu  betrachten  sei. 
***  Vgl.  Bd.  IV,  Kap.  XXII. 
t  Siehe  Bd.  II,  Kap.  IX. 

349 


voller  Gültigkeit  fortbestehe;  Herr  von  Giers  sagte,  er  wolle  sich  den 
Text  dieses  Vertrages  wieder  vorlegen  lassen. 

Im  ferneren  Verlaufe  unseres  Gespräches  kam  der  Minister  noch- 
mals au?  die  Besorgnisse  zurück,  welche  ihm  die  Balkanpolitik  des 
Wiener  Kabinetts  und  der  magyarischen  Kreise  einflöße;  er  brachte 
hierbei  wenig  Neues  vor,  erinnerte  vielmehr  an  seine  Unterredung 
mit  dem  Staatssekretär  Grafen  Bismarck  vom  Juli  1888*,  in  welcher 
er  die  Möglichkeit  des  Einrückens  der  Österreicher  in  Serbien  als  ernste 
Komplikation  bezeichnet  habe,  und  ließ  hierbei  die  Bemerkung  fallen, 
daß  die  Serben  bei  einem  neuen  Konflikt  mit  den  Bulgaren  noch  gründ- 
licher geschlagen  werden  würden  als  vor  fünf  Jahren. 

Da  ich  aus  den  ängstlichen  Hindeutungen  auf  vermeintliche  von 
Österreich-Ungarn  her  drohende  Kriegsgefahr  darauf  schließen  durfte, 
daß  die  mit  der  Giersschen  Politik  nicht  einverstandenen  militärischen 
Ratgeber  Seiner  Majestät  des  Kaisers  Alexander  höchstdenselben  neuer- 
dings durch  Berichte  über  Rüstungen  in  Galizien,  neue  Befestigungen 
bei  Prczemysl  und  dergleichen  beunruhigt  haben,  so  sagte  ich  dem 
Herrn  Minister  ungefähr  folgendes: 

„In  einigen  Wochen  wird  in  Wolhynien,  dicht  an  der  österreichi- 
schen Grenze,  eine  Anhäufung  von  Truppen  stattfinden,  wie  die  Ge- 
schichte keine  ähnliche  in  Friedenszeiten  aufzuweisen  hat;  zwei  russi- 
sche Generale,  deren  Gesinnungen  durch  ihre  Reden  und  andere 
Kundgebungen  als  kriegerisch  bekannt  sind,  Dragomirow  und  Gurko, 
werden  dort  mehr  als  150  000  Mann  versammeln,  und  der  Kaiser  von 
Österreich  sagt  kein  Wort  dagegen;  können  Sie  einen  stärkeren  Beweis 
von  seinem  Vertrauen  zu  Kaiser  Alexander  verlangen,  und  verdient  er 
nicht  mindestens  das  gleiche?  Der  Kaiser  Franz  Joseph  findet  jetzt 
den  Trost  für  das  Unglück  seiner  Jugend  in  der  Erwerbung  und  Ent- 
wickelung  zweier  Provinzen,  welche  Sie  ihm  in  Reichstadt  und  durch 
den  Pester  Vertrag  zugebilligt  haben ;  wenn  er  hierin  nicht  gestört  wird, 
so  können  Sie  sich  darauf  verlassen,  daß  er  weder  auf  einen  Krieg 
sinnt  noch  nach  Saloniki  hinstrebt." 

Herr  von  Giers  machte  gegen  diese  Auffassung  keine  Einwendun- 
gen, ging  aber  auf  das  Verhalten  Österreichs  in  Sofia  und  Konstanti- 
nopel über  und  berührte  dabei  die  Tagesfrage  der  bulgarischen  Bis- 
tümer**, ohne  jedoch  näher  auf  dieselbe  einzugehen,  wozu  auch  für  mich 
keine  Veranlassung  vorlag;  Herrn  Nelidows  Meldung  lautete,  alle 
Mächte  hätten  sich  für  die  Berats-Erteilungi  bei  der  Pforte  verwendet; 
dieser  Punkt  blieb  aber  zwischen  Herrn  von  Giers  und  mir  unerörtert. 

Im  Hinblick  auf  die  Besprechung  der  Meerengenfrage,  welche  der 
russische  Herr  Minister  bei  der  Begegnung  mit  Euerer  Exzellenz  herbei- 

•  Siehe  Bd.  VI,  Kap.  XLUI,  Nr.  1345. 

**  Vgl.  dazu  IJulius  von  Eckardtl  Berlin— Wien— Rom.  Betrachtungen  über  den 
neuen  Kurs  und  die  neue  europäische  Lage  (1892),  Anhang:  Die  orthodoxe  Kirche 
und   der  griechisch-bulgarische   Kirchenstreit  S.  268  ff. 

350 


zuführen  beabsichtigt,  beehre  ich  mich  einiges  hierauf  bezügliche  aus 
den  Erinnerungen  meiner  hiesigen  amtlichen  Tätigkeit  zusammenzu- 
stellen und  in  der  Anlage  Euerer  Exzellenz  ehrerbietig  zu  unter- 
breiten *.  V.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 


Randbemerkung  des   Reichskanzlers  von  Caprivi: 

1  Hat  mit  den  Verträgen  nichts  zu  tun.  Haben  uns  auf  Befragen  geäußert  türkisches 
Internum.  Lag  im  Sinne  der  Erhaltung  des  Friedens,  weil  dadurch  die  Aner- 
kennungsfrage aus  der  Welt  kam.  Rußland  hat  sich  früher  aufs  lebhafteste  für 
diese  Bistümer  interessiert. 


Nr.  1611 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  229  St.  Petersburg,  den  25.  August  1890 

Ganz  vertraulich 

Unmittelbar  nach  der  Abfahrt  Seiner  Majestät  des  Kaisers  und 
Königs  von  Peterhof  **  haben  beide  russische  Majestäten  Herrn  von  Giers 
die  große  Befriedigung  ausgesprochen,  mit  welcher  sie  der  Kaiserliche 
Besuch  erfüllt  hat.  Der  Zar  hat  geäußert,  er  sei  jetzt  vollständig  be- 
ruhigt, und  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  hat  dem  Minister  gesagt,  daß 
der  diesmalige  Besuch  unseres  allergnädigsten  Kaisers  und  Herrn  noch 
weit  besser  verlaufen  sei  als  derjenige  von  1888. 

Dieser  überaus  günstige  Eindruck  ist,  wie  mir  Herr  von  Giers 
mitteilte,  nicht  bloß  bei  den  russischen  Majestäten,  sondern  auch  bei 
den  andern  hohen  Mitgliedern  des  Kaiserlichen  Hofes,  welche  am 
Landungsplatz  Abschied  genommen  hatten,  bemerkbar  gewesen.  Der 
Zar  hat  außerdem  noch  vorgestern  abend  dem  Herrn  Minister  kurz 
erzählt,  daß  er  mit  Euerer  Exzellenz  eine  höchstihn  sehr  befriedigende 
Unterredung  gehabt  hat.  Herr  von  Giers  will  nun  morgen  bei  dem 
Dienstags-Immediatvortrage  seinem  erhabenen  Souverän  berichten,  was 
er  mit  Euerer  Exzellenz  besprochen  hat,  und  sich  von  Seiner  Majestät 
ausführlichere  Mitteilungen  über  das  Gespräch  höchstdesselben  mit 
Euerer  Exzellenz  erbitten.  Der  Herr  Minister  wird  dann  den  wesent- 
lichen Inhalt  beider  Unterredungen  schriftlich  zusammenfassen  und  dem 
Kaiserlich  russischen  Geschäftsträger  in  Berlin  diese  „Fixierung" 
des  zwischen  den  hohen  Monarchen  und  deren  Ministern  erfolgten 
Gedankenaustausches  zusenden,  damit  Graf  Murawiew  dieses  Schrift- 

*  Näheres  über  die  Meerengenfrage  siehe  in  Bd.  IX,  Kap.  LV. 
**  Am  17.  August  war  Kaiser  Wilhelm  II.  zum  Besuche  des  Zaren  in  Narwa  ein- 
getroffen.   An  der  Zusammenkunft  des  Herrscherpaars  nahmen  u.  a.  auch  Reichs- 
kanzler Caprivi  und  Botschafter  von  Schweinitz  teil.   Am  22.  August  begaben  sich 
beide   Kaiser  nach    Peterhof.    Am   23,   erfolgte  die  Abreise   Kaiser  Wilhelms   II. 

351 


stück   Euerer  Exzellenz  vorlese  und  die   Bemerkungen,  welche  Euere 
Exzellenz  dazu  machen  werden,  entgegennehme. 

Herr  von  Giers  drückte  mit  großer  Wärme  die  Befriedigung  aus, 
mit  der  ihn  das  Ergebnis  der  Monarchenbegegnung  und  der  Besprechun- 
gen mit  Euerer  Exzellenz  erfüllt  hat,  eines  Ergebnisses,  welches  vor 
allem  andern  in  der  Befestigung  rückhaltlosen  gegenseitigen  Ver- 
trauens besteht  i.  v.  S  c  h  w  e  i  n  i  t  z 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Dann    soll   er   nun    mal   auch   öffentlich  das   in   der   Russischen    Presse 
sagen,  und  einheimischen   und  französischen  Blättern  damit  das  Maul  stopfen! 


Nr.  1612 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivi 

Eigenhändig 

Berlin,  den  8.  September  18Q0 

Graf  Murawiew  war  heut  bei  mir,  um  mir  die  von  Herrn 
von  Schweinitz  in  Aussicht  gestellte  „Fixierung"  der  Unterredungen, 
die  mir  der  Zar  in  Peterhof  und  Herr  von  Giers  in  Petersburg  ge- 
stellt hatten,  vorzulesen. 

Das  Schriftstück  konstatierte,  daß  ich  ausgesprochen,  die  Regie- 
rung Seiner  Majestät  Wilhelm  II.  habe  durchaus  friedliche  Tendenzen, 
sie  stehe  vor  sehr  schweren  inneren  Aufgaben,  und  wir  wären  der 
Meinung,  daß  in  bezug  auf  letztere  alle  monarchischen  Staaten  gleiche 
Interessen  hätten. 

Russischerseits  wurde  dem  zugestimmt  und  die  gleiche  Versiche- 
rung friedlicher  Tendenzen  ausgesprochen. 

Zwei  Detailfragen  seien  erwähnt  worden :  Bulgarien  und  die  Meer- 
engenfrage. Rußland  habe  in  bezug  auf  Bulgarien  die  Ansicht,  gestützt 
auf  die  Verträge,  daß  der  gegenwärtige  Zustand  illoyal  sei  und  von 
Seiten  Rußlands,  das  soviel  Opfer  für  Bulgarien  gebracht,  nie  anerkannt 
werden  könne. 

In  bezug  auf  die  Meerengen  halte  Rußland  an  den  Verträgen  von 
1841,  1856,  1871  und  den  Schuwalowschen  Erklärungen  auf  dem  Ber- 
liner Vertrage  fest 

Meinerseits  sei  erwidert  worden,  daß  wir  ebenfalls  gesonnen  seien, 
an  den  Verträgen  festzuhalten,  und  daß  auch  wir  den  Zustand  in  Bul- 
garien für  illoyal  hielten. 

Die  vom  Zaren  getanen  Äußerungen  in  bezug  auf  das  Wünschens- 
werte der  Herstellung  der  Monarchie  in  Frankreich  waren  in  dem 
Schriftstück,  das  Graf  Murawiew  vorlas,  nicht  erwähnt. 

Graf  Murawiew  fügte  als  eine  von  ihm  selbst  kommende  Bitte 
hinzu,  ich  möge  schriftlich  bescheinigen,  daß  er  mir  das  Schriftstück 

352 


vorgelesen,  und  sein  Inhalt  von  mir  anerkannt  sei.  Obschon  ich  letztres 
mit  gutem  Gewissen  gekonnt  hätte,  habe  ich  es  mit  dem  Bemerken, 
Herr  von  Giers  werde  sich  auch  mit  einer  mündlichen  Äußerung  meiner- 
seits begnügen,  abgelehnt,  um  nichts  Schriftliches  zu  geben*. 

v.  Caprivi 

Nr.  1613 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Graf  von  Pourtales  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  231  St.  Petersburg,  den  7.  September  1890 

Obwohl  viele  Lügen  auch  von  hier  aus  über  die  Narwaer  Kaiser- 
zusammenkunft in  die  Welt  geschickt  worden  sind  und,  wie  zu  er- 
warten war,  es  in  der  hiesigen  Presse  nicht  an  Stimmen  gefehlt  hat, 
welche  die  Bedeutung  dieses  Ereignisses  herabzusetzen  bestrebt  waren**, 
so  kann  doch  der  Gesamteindruck,  welchen  der  jüngste  Besuch  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  hier  hinterlassen  hat,  im  allgemeinen  als  ein  gün- 
stiger bezeichnet  werden. 

Personen  aus  der  Umgebung  des  Zaren  bestätigen,  daß  beide 
russische  Majestäten  von  den  Tagen  ihres  Zusammenseins  mit  ihrem 
erlauchten  Gaste  die  angenehmsten  Erinnerungen  behalten  und  dies 
auch  wiederholt  ausgesprochen  hätten.  „Kaiser  Alexander",  so  wurde 
mir  noch  vor  einigen  Tagen  von  jemandem  gesagt,  der  den  Charakter 
des  Zaren  aus  nächster  Nähe  zu  beobachten  Gelegenheit  hat,  „ver- 
steht es  nicht,  seine  Gefühle  und  Stimmungen  zu  verbergen;  wenn  er 
während  der  Tage  in  Narwa  und  Peterhof  eine  gleichmäßige,  ja  sich 
steigernde  heitere  Stimmung  gezeigt  hat,  so  ist  dies  der  beste  Beweis 
dafür,  daß  ihn  der  herzhche  ungezwungene  Verkehr  mit  Kaiser  Wilhelm 
angenehm  berührte  und  ihm  wohltat."  Auch  Herr  von  Giers 
äußert  sich  sehr  befriedigt  über  den  Verlauf  des  Besuches  und  hat  dies, 
wie  ich  wiederholt  zu  konstatieren  Gelegenheit  hatte,  den  anderen 
auswärtigen  Vertretern  i  gegenüber  ausgesprochen. 

Bei  den  Betrachtungen,  welche  hier  an  den  zweiten  Besuch  unseres 
Kaisers  bei  dem  hiesigen  Hofe  geknüpft  werden,  tritt  ein  Moment  be- 

*  Vgl.  dazu  die  auf  dem  russischen  Aktenmaterial  fußenden  Mitteilungen  bei 
Goriainow,  The  End  of  the  Alliance  of  the  Emperors.  The  American  Historical 
Review  Vol.  XXIII,  Nr.  2,  p.  347  s. 

**  Auch  in  der  deutschen  und  österreichischen  Presse  war  vielfach  zum  Ausdruck 
gelangt,  daß  die  Zusammenkunft  der  beiden  Kaiser  im  ganzen  oder  doch  in  den 
letzten  Tagen  einen  kühlen  und  formellen  Charakter  getragen  habe.  Vgl.  dazu 
den  Aufsatz  „Der  Kaiserbesuch  in  Rußland"  im  Septemberheft  1890  der  „Preu- 
ßischen Jahrbücher",  der  die  Verantwortung  für  den  mißglückten  und  überhaupt 
nicht  angebrachten  Besuch  auf  den  Fürsten  Bismarck  schieben  möchte,  wogegen 
sich  dieser  in  den  „Hamburger  Nachrichten"  (Hofmann,  Fürst  Bismarck  1890 
bis  1898  Bd.  I   [1913],  S.  291  f.)  verwahrt  hat. 

23    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  353 


sonders  in  den  Vordergrund,  welches  auch  in  den  zahllosen  Ergüssen 
der  Presse  immer  wieder  zum  Ausdruck  gelangt,  nämlich,  daß  bei  der 
diesjährigen  entrevue  nicht  mehr,  wie  der  „Grashdanin"  sich  aus- 
drückt, unsichtbar  eine  dritte  Person  in  Gestalt  des  Fürsten  Bismarck 
zwischen  beiden  Monarchen  gestanden  habe.  Man  habe  daher  nur 
noch  mit  der  aufrichtigen  und  geraden  Politik  Kaiser  Wilhelms  zu 
rechnen,  während  man  früher  nie  sicher  gewesen  wäre,  wie  weit  sich 
„die  hinterlistigen  Pläne"  des  früheren  Reichskanzlers  mit  dieser  Po- 
litik gedeckt  hätten.  Man  sieht  hieraus,  wie  selbst  bis  in  die  neueste 
Zeit  das  Mißtrauen  gegen  den  Fürsten  hier  nie  geschwunden  ist,  er 
vielmehr  für  den  eigentlichen  Feind  Rußlands  gehalten  wurde  2*. 

Diese  Betonung  des  Vertrauens  in  die  jetzige  deutsche  Politik 
könnte  man  gewiß  nur  mit  Freuden  begrüßen,  sie  könnte  sogar  zu 
sanguinischen  Hoffnungen  3  hinsichtlich  der  nunmehrigen  Gestaltung 
der  Beziehungen  zwischen  uns  und  Rußland  berechtigen,  wenn  nicht 
durch  die  Seiner  Majestät,  unserem  allergnädigsten  Herrn,  gespendeten 
Lobeserhebungen  nur  zu  deutlich  die  Erwartungen  hindurchschimmer- 
ten, welche  an  die  von  der  Bevormundung  des  Fürsten  Bismarck  be- 
freite neue  Richtung  unserer  Politik  geknüpft  werden.  Diese  Er- 
wartungen laufen  auf  nichts  anderes  hinaus,  als  daß  Seine  Majestät 
der  Kaiser  seine  freundschaftlichen  Gesinnungen  gegen  Rußland  be- 
weisen möge,  indem  er  „den  österreichischen  Intrigen  auf  der  Balkan- 
halbinsel" entgegentrete  und  womöglich  sich  von  dem  den  Russen  so 
verhaßten  Dreibunde  lossage.  Weisen  doch  schon  jetzt  einige  Blätter 
darauf  hin,  daß  sich  unserem  allergnädigsten  Herrn  sehr  bald  Gelegen- 
heit bieten  werde,  im  russischen  Sinne  auf  den  Kaiser  Franz  Joseph 
zu  wirken*. 

Die  Befürchtung  liegt  nur  zu  nahe,  daß  die  Enttäuschungen,  welche 
man  sich  russischerseits  auf  solche  Weise  bereitet,  auch  wieder  zu  einer 
Abkühlung  der  im  gegenwärtigen  AugenbHck  verhältnismäßig  freund- 
lichen Stimmung  gegen  uns  führen  wird.  Diejenigen  russischen  Kreise 
aber,  die  das  Vertrauen  in  den  deutsch-russischen  Beziehungen  nicht 
aufkommen  lassen  wollen,  tun  natürlich  das  ihrige,  um  die  Erwartungen, 
die  man  an  die  angebliche  Schwenkung  der  Politik  unseres  Kaisers  im 
russenfreundlichen  Sinne  zu  knüpfen  berechtigt  sei,  möglichst  hoch  zu 
schrauben  5,  damit  nachher  die  Enttäuschung  eine  um  so  gründlichere 
und  das  Mißtrauen  ein  um  so  nachhaltigeres  werde. 

F.  Pourtales 

Randbemerkungen   Kaiser   Wilhelms  II.: 

1  Audi  den   Franzosen? 

2  darüber  hat  er  sich  bis  heute  den  größten  Illusionen  hingegeben 

3  bei   mir   nicht! 

*  werde  mich  hüten 
*  wie  die  Französische  Presse  vor  meinem  Besuch  in  Rußland. 


•  Vgl.  dazu  jedoch  Bd.  VI,  Nr.  1365,  S.  374  nebst  Fußnote 
354 


1 


Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Rußland  will,  wir  sollen  ihm  auf  der  Balkanhalbinsel  durch  irgend  eine  noch 
so  unscheinbare  Einmischung  Gelegenheit  geben,  sich  über  uns  zu  beschweren, 
und  mit  einem  Schein  von  Berechtigung  dann  über  uns  Friedensstörer  und  heim- 
tückische Verräter  herfallen;  indem  es  sich  noch  dazu  mit  der  Gloriole  moralischen 
Rechtes  und  gekränkten  Vertrauens  umgeben  will. 

Nr.  1614 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Graf  von  Pourtal^s  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  243  •      St.  Petersburg,  den  24.  September  1890 

Geheim 

Bei  dem  Besuche,  den  ich  heute  Herrn  von  Giers  machte,  sagte 
mir  der  Herr  Minister,  es  liege  ihm  daran,  sich  über  eine  Angelegen- 
heit offen  mir  gegenüber  auszusprechen,  um  dadurch  ein  mögliches 
Mißverständnis  zu  verhüten. 

Wie  er  dem  Kaiserlichen  Herrn  Botschafter  vor  dessen  Abreise 
bereits  angekündigt,  habe  er  über  die  Unterredung,  die  er  hier  mit 
Euerer  Exzellenz  gehabt  habe,  eine  Aufzeichnung  an  den  Grafen  Mu- 
rawiew  mit  dem  Auftrage  geschickt,  dieselbe  Euerer  Exzellenz  vor- 
zulesen. Seine  Absicht  sei  dabei  einmal  gewesen,  der  russischen  Bot- 
schaft in  Berlin  von  dem  anläßlich  des  jüngsten  Besuches  Seiner  Majestät, 
unseres  allergnädigsten  Herrn,  bei  dem  hiesigen  Hofe  stattgehabten 
Gedankenaustausch  Kenntnis  zu  geben,  andererseits  Euere  Exzellenz 
in  die  Lage  zu  setzen,  etwaige  Ungenauigkeiten  in  der  Wiedergabe 
jener  Unterredung  richtigzustellen. 

Nunmehr  ersehe  der  Minister  aus  dem  inzwischen  eingegangenen 
Berichte  des  russischen  Geschäftsträgers  in  Berlin  mit  größter  Be- 
friedigung, daß  Euere  Exzellenz  seine  Aufzeichnung  als  genau  mit  der 
stattgehabten  Unterredung  übereinstimmend  bezeichnet  hätten;  er  ent- 
nehme aber  aus  dem  Bericht  zugleich,  daß  Graf  Murawiew  sich  „par 
exces  de  zele"i  habe  verleiten  lassen,  von  Euerer  Exzellenz  eine  schrift- 
liche Gegenäußerung  zu  erbitten»  eine  Bitte,  welche  Euere  Exzellenz 
unter  Hinweis  auf  den  Charakter  gegenseitigen  Vertrauens,  den  der  Ge- 
dankenaustausch mit  Herrn  von  Giers  getragen  habe,  abgelehnt  hätten. 

Der  Minister  lej^t  nun,  damit,  wie  er  sagte,  auch  nicht  der  Schatten 
eines  Mißverständnisses  auf  das  überaus  befriedigende  Ergebnis  seiner 
ersten  Begegnung  mit  Euerer  Exzellenz  falle,  Wert  darauf,  Hoch- 
dieselben davon  zu  überzeugen,  daß  der  russische  Geschäftsträger  bei 
dem  an  Euere  Exzellenz  gestellten  Ansinnen  ganz  ohne  Instruktion  ge- 
handelt habe.  Der  sonst  so  gewandte  Graf  Murawiew  habe  hier  eine 
Ungeschicklichkeit  begangen ;  offenbar  habe  er  den  Wunsch  gehabt, 
daß  die  ihm  von  Euerer  Exzellenz  gegebene  Erklärung  durch  schrift- 
liche  Formulierung   eine   noch  größere   Bedeutung   erlange.    Dies   sei 

23*  355 


jedoch  nach  des  Ministers  Auffassung  gar  nicht  nötig  gewesen;  die 
Mitteilung  seiner  Aufzeichnung  an  Euere  Exzellenz  sei:  „une  com- 
munication  de  galant  homme  ä  galant  homme"  gewesen,  welche  nicht 
„wie   bei  dem   Verkehr  zwischen   Bankiers   einer  Quittung  bedurfte". 

Um  mir  zu  beweisen,  daß  es  ihm  gänzlich  fem  gelegen  habe,  von 
Euerer  Exzellenz  irgendeine  schriftliche  Äußerung  extrahieren  zu  wollen, 
las  mir  Herr  von  Giers  sodann  die  ganze  Aufzeichnung  vor  und  be- 
tonte besonders  die  Stellen,  in  welchen  dargelegt  wird,  daß  er  die 
Gründe,  welche  Euere  Exzellenz  bewogen  hätten,  die  geheimen  Ab- 
machungen mit  Rußland  nicht  zu  erneuern,  vollständig  zu  würdigen 
wisse,  und  daß  es  im  Hinblick  auf  die  in  Narwa  und  Peterhof  in  so 
erfreulicher  Weise  zum  Ausdruck  gelangten  vertrauensvollen  Beziehun- 
gen zwischen  unseren  beiden  Herrschern  sowie  auf  die  in  der  offenen 
Aussprache  zwischen  Euerer  Exzellenz  und  ihm  hinsichthch  gewisser 
Punkte  zutage  getretenen  Übereinstimmung  der  Ansichten  eines  Schrift- 
stückes nicht  bedürfe,  es  sich  vielmehr  ledigHch  darum  handele,  „d'etablir 
un  courant  de  confiance  mutuelle". 

Wenn  somit  Graf  Murawiew,  allerdings  in  bester  Absicht,  gewisser- 
maßen eine  Quittung  auf  die  Mitteilung  dieser  Aufzeichnung  verlangt 
habe,  so  habe  er  hierin  ganz  auf  eigene  Faust  gehandelt.  „Sie  sehen 
selbst",  so  schloß  der  Minister,  „daß  ich,  bei  den  aufrichtigen  loyalen 
Beziehungen,  die  zwischen  uns  jetzt  bestehen,  auf  ein  Schriftstück 
nicht  den  geringsten  Wert  lege." 

Ich  möchte  dahingestellt  lassen,  ob  nicht  doch  vielleicht  der  De- 
marche des  russischen  Geschäftsträgers  der  Wunsch  des  Herrn  von  Giers 
zugrunde  gelegen  hat  2,  noch  einen  letzten  Versuch  zu  machen,  um 
von  Euerer  Exzellenz  „ein  Blatt  Papier"  zu  erlangen,  und  nunmehr, 
wo  dieser  Versuch  mißlungen  ist,  Graf  Murawiew  desavouiert  wird. 

F.  Pourtales 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 
^  Sollte  er  nicht  dazu  instruiert  worden  sein? 
2  natürlich  sicher 
Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Die  Trauben  waren  zu  sauer! 

Nr.  1615 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi* 

Nr.  272  St.  Petersburg,  den  9-  November  1890 

Ganz  vertraulich 

Es  ist  mir  noch  in  frischer  Erinnerung,  wie  an  dem  Tage,  an 
welchem  der  Zarewitsch  geboren  wurde,  eine  Hofdame  der  erlauchten 

*  Bei  der  Bedeutung,  die  die  Persönlichkeit  des  letzten  russischen  Herrschers  für 
die  Entwicklung  der  deutsch-russischen  Beziehungen  gewonnen  hat,  mag  der  aus- 

356 


Mutter  mir  erzählte,  diese  habe,  mitten  in  der  vollen  Freude,  einen 
Sohn  zu  besitzen,  besorgt  ausgerufen:  „Wem  werde  ich  seine  Er- 
ziehung anvertrauen  können?"  Diese  Frage  war  wohl  berechtigt  am 
Hofe  Alexanders  II.,  und  noch  mehr  wäre  sie  es  heute;  sie  ist  auch 
nie  beantwortet  worden,  denn  Nikolaus  Alexandrowitsch  hat  nie  einen 
Erzieher  in  dem  an  Höfen  geltenden  Sinne  gehabt;  er  ist  aufgewachsen 
zwischen  Vater  und  Mutter  in  einem  durch  innige  Zuneigung  eng 
verbundenen  Familienkreise,  dessen  Frohsinn  weder  durch  die  ihn 
bedrohenden  Gefahren,  noch  durch  die  zum  Schutze  notwendige  Ab- 
geschlossenheit getrübt  worden  ist. 

An  Lehrern  hat  es  dem  Thronfolger  natürlich  nicht  gefehlt,  aber 
keiner  von  ihnen,  auch  Herr  Pobedonoszew  nicht,  ebensowenig  wie 
sein  nomineller  Gouverneur,  General  Danilowitsch,  hat  Einfluß  auf 
ihn  gewonnen;  dieser  Offizier  war  seinerzeit  vom  Kriegsminister  Mi- 
Ijutin  zu  der  verantwortungsvollen  Aufgabe,  den  Thronerben  zu  erziehen, 
berufen  worden;  er  war,  dem  Geiste  seines  Meisters  entsprechend, 
ein  radikaler  und  nationaler  Doktrinär,  ehrlich  und  gewissenhaft;  näher 
als  dieser  MiHtär  stand  dem  Prinzen  ein  Zivilist,  ein  Engländer,  Mr. 
Heath,  welcher  mehr  mit  gymnastischem  als  mit  wissenschaftlichem 
Unterricht  betraut  war  und  sich  die  Zuneigung  der  kaiserlichen  Kinder 
zu  erwerben  wußte;  mit  vielen  guten  Eigenschaften  verbindet  er  ein 
hübsches  Talent  für  Aquarellmalerei.  Gouverneurs  und  Gouvernanten 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  gibt  es  am  Kaiserhofe  nicht;  eine 
dänische  Dame,  Frau  von  Flothow  geborene  von  Greschau,  nimmt  eine 
Vertrauensstellung  in  dem  hohen  Hause  ein,  hat  aber  mit  der  Erziehung 
nichts  zu  tun. 

Die  ersten  tiefen  Eindrücke,  welche  der  damals  neunjährige  Prinz 
empfing,  wurden  durch  die  Teilnahme  seines  erlauchten  Vaters  am 
Türkenkriege  und  durch  das  Elend,  welches  letzterer  mit  sich  brachte, 
erzeugt;  als  der  Großfürst  13  Jahre  zählte,  warfen  die  furchtbaren 
Ereignisse,  welche  mit  der  Ermordung  des  Großvaters  ihren  Abschluß 
fanden,  dunkle  Schatten  auf  alles,  was  ihn  umgab;  mit  18  Jahren  ent- 
ging er  nur  durch  die  im  letzten  Augenblicke  erfolgte  Entdeckung  des 
Attentats  vom  13./1.  März  1887  den  Bomben,  welche  den  Wagen,  in 
dem  er  mit  seinen  Eltern  saß,  zerschmettern  sollten ;  im  darauffolgenden 
Jahre  sah  er  sich  mit  Eltern  und  Geschwistern  durch  ein  Wunder 
gerettet  zwischen  Toten  und  Sterbenden  unter  den  Trümmern  eines 
Bahnzuges. 

Die  Wirkungen  solcher  erschütternder  Ereignisse  auf  das  Gemüt 
des  Knaben  werden  vielleicht  zu  erkennen  sein,  wenn  er  zum  Manne 


führliche  Bericht  Schweinitz'  über  die  Einflüsse,  denen  er  als  Thronfolger  aus- 
gesetzt gewesen  ist,  und  über  seine  Reise  nach  dem  fernen  Osten  unverkürzt 
zum  Ausdruck  gelangen,  obgleich  er  etwas  aus  dem  Rahmen  des  Kapitels  herausfällt. 

357 


herangereift  ist;  die  glückliche  Jugendzeit  haben  sie  nur  momentan 
getrübt;  länger  als  bei  den  meisten,  viel  länger  als  bei  andern  Hoch- 
stehenden, dauerte  sie  dem  russischen  Prinzen;  weder  durch  vorzeitige 
Teilnahme  an  Vergnügungen  junger  Männer,  noch  durch  militärische 
Spielereien  wurde  sie  gestört,  und  übermäßiges  Lernen  hat  die  Wangen 
des  zwar  kleinen,  aber  regelmäßig  entwickelten  Jünglings  nicht  ge- 
bleicht; auch  die  Umgebungen,  in  deren  Mitte  er  aufwuchs,  die  Herren 
und  Damen  des  kleinen  Hofes  von  Oatschina,  sind  „nicht  von  des 
Gedankens  Blässe  angekränkelt";  ich  wüßte  unter  ihnen  allen  nicht 
einen  zu  nennen,  der  durch  Gespräche  anregend  oder  durch  sein  Bei- 
spiel anfeuernd  auf  den  Zarewitsch  hätte  wirken  können;  sie  haben 
indessen  auch  nichts  verdorben;  hiergegen  gewährte  das  innige  Ver- 
hältnis zwischen  dem  Sohne  und  den  liebevollen  Eltern  genügenden 
Schutz. 

So  wenig  nun  auch  die  Personen,  die  den  Ring  von  Gatschina 
bilden,  durch  Intelligenz  und  Bildung  hervorragen,  so  sind  sie  doch 
klug  genug,  um  alle,  die  klüger  sind  als  sie,  fernzuhalten ;  ihr  Be- 
streben, nur  Mittelmäßigkeiten  in  die  Nähe  der  Machtquelle  gelangen 
zu  lassen,  ist  selten  von  glänzenderem  Erfolge  gekrönt  worden  als 
jetzt  bei  der  Wahl  der  zur  Reisebegleitung  des  Thronerben  berufenen 
Personen. 

Ein  bemerkenswerter  Zug  im  Charakter  der  meisten  Mitglieder 
des  russischen  Kaiserhauses  ist  die  große  Beständigkeit  in  ihren  Zu- 
neigungen; an  drei  oder  vier  hohen  und  traurigen  Beispielen  läßt  sich 
nachweisen,  daß  großes  Unheil  nicht  durch  flatterhaften  Leichtsinn, 
sondern  durch  zu  feste  Anhänglichkeit  an  eine  und  dieselbe  Person 
herbeigeführt  wurde.  Ebenso  beständig  sind  diese  hohen  Herren  in 
dem  Vertrauen  und  in  der  Freundschaft,  die  sie  Männern  schenken: 
die  jungen  Leute,  welche  Alexander  IL  bei  der  Reise,  die  er  als  Thron- 
folger zur  Brautschau  unternahm,  begleiteten,  sind  bis  an  sein  Lebens- 
ende in  seiner  Nähe  geblieben  und  von  ihm  begünstigt,  befördert  oder, 
wenn  sie  durch  eigene  Schuld  tief  sanken,  unterstützt  worden;  sie  ge- 
nossen das  wertvolle  Privilegium,  bei  ihm  einzutreten,  wenn  er  sich 
rasierte;  mancher  von  ihnen  hat  in  meinem  Zimmer  im  Palais  von 
Zarskoe  Selo,  morgens  gegen  8  Uhr,  diesen  kostbaren  Moment  ab- 
gewartet 

Nicht  viel  anders  ist  es  bei  dem  jetzigen  Kaiser:  außer  dem  Fürsten 
Peter  Wolkonsky,  der  es  als  Stallmeister  gar  zu  arg  trieb,  hat  Alexan- 
der III.  fast  alle  Begleiter  seiner  Jugendzeit  noch  heute  um  sich.  Nach 
solchen  Erfahrungen  kam  es  den  Interessierten  darauf  an,  bei  der  be- 
vorstehenden zehnmonatlichen  Reise  des  künftigen  Herrschers  keine 
Leute  in  seine  Nähe  zu  bringen,  die  später  gefährliche  Konkurrenten 
werden  könnten;  nur  hierdurch  ist  es  zu  erklären,  daß  Fürst  Baria- 
tinsky  auf  eine  Stelle  berufen  wurde,  die  nur  durch  einen  Mann  aus- 

358 


1 


gefüllt  werden   kann,   welcher  Takt,   Erfahrung,   Kenntnisse  mit  welt- 
männischer Bildung  vereint. 

Der  Generalmajor  Fürst  Wladimir  Anatolowitsch  Bariatinsky  war, 
als  ich  ihn  vor  25  Jahren  kennenlernte,  ein  bildhübscher  junger  Mensch, 
herzensgut,  wenig  begabt,  und  gehörte  zum  intimen  Freundeskreise 
des  damaligen  Thronfolgers ;  er  trank  ziemHch  viel,  war  aber  sonst  nicht 
besonders  ausschweifend;  als  er  sich  in  die  Hofdame  Schukowski,  die 
spätere  Geliebte,  ja  sogar  angetraute  Gemahlin  des  Großfürsten  Alexis 
verliebte,  wurde  er  von  seiner  Mutter,  der  Fürstin  Olympia,  nach  Tasch- 
kent expediert,  wo  er  einen  Feldzug  mitmachte;  nach  seiner  Rückkehr 
heiratete  er  eine  sehr  reiche  Gräfin  Steinbock,  mit  deren  Gelde  er 
die  Schulden  seiner  Eltern  tilgte;  beim  Regierungsantritt  des  jetzigen 
Kaisers  wurde  er  Oberjägermeister,  mußte  aber  dieses  Amt  nieder- 
legen, weil  er  schon  mehrere  Schlaganfälle  gehabt  hat;  von  ihm  ist 
also  für  eine  ferne  Zukunft  keine  Rivalität  zu  besorgen. 

Die  jüngeren  Begleiter  des  Zarewitsch  sind:  der  Flügeladjutant, 
Leutnant  Fürst  Obolensky,  bisher  Regimentsadjutant  bei  der  Garde  zu 
Pferde;  er  ist  ein  Vetter  des  Hofmarschalls  gleichen  Namens  und  ein 
Bruder  des  Fürsten  Obolensky,  welcher  mit  einer  Tochter  des  Herrn 
Polowtsow  verheiratet  ist;  seine  Aussichten  für  die  Zukunft  sind  also 
die  günstigsten ;  ferner  zwei  Stabsrittmeister,  von  den  Gardehusaren 
Wolkow  und  Fürst  Kotschubey  von  der  Chevaliergarde. 

Es  würde  unbegreiflich  erscheinen,  daß  man  den  jungen  Prinzen 
unter  dieser  Obhut  eine  solche  Reise  antreten  läßt,  wenn  nicht  der 
Konteradmiral  Bassargin,  welcher  die  „Pamjat-Asowa"  befehligt,  das 
volle  Vertrauen  beider  Majestäten  genösse,  denen  er  als  Flaggenkapitän 
der  kaiserlichen  Eskadre  genau  bekannt  ist.  Der  Admiral  kann  aber 
die  schwere  auf  ihm  ruhende  Verantwortung  doch  nur  auf  dem  Wasser 
tragen,  und  noch  mehr  als  an  Bord  bedarf  Telemach  auf  dem  Fest- 
lande eines  Mentors;  dies  scheint  man  erst  kurz  vor  dem  Antritt  der 
morgenländischen  Reise  erkannt  zu  haben;  der  russische  Gesandte  in 
Athen  wurde  also  hierher  berufen  und  beauftragt.  Seine  Kaiserliche 
Hoheit  zu  begleiten;  ob  nur  bis  Suez  oder  bis  Indien,  ist  noch  un- 
bestimmt. Herr  Onou,  ein  Levantiner,  hat  sich  durch  seine  Geschick- 
lichkeit als  Dragoman  der  russischen  Botschaft  in  Konstantinopel  und 
durch  seine  Heirat  mit  der  Pflegetochter  des  verstorbenen  Baron  Jomini 
aus  der  Subalternlaufbahn  zum  Gesandten  aufgeschwungen;  er  ist  tief 
eingeweiht  in  alle  Gänge,  welche  die  russische  Orientpolitik  sowohl  zur 
Zeit  Ignatiews  als  nach  dem  Kriege  verfolgte;  auch  seine  archäo- 
logischen Kenntnisse  werden  gerühmt,  aber  da  er  gar  keine  echt- 
russischen Verbindungen  hat  und  kein  homme  du  monde,  kein  Kavalier 
ist,  so  glauben  diejenigen,  welche  ihn  jetzt  zu  dem  Vertrauensposten 
vorschlugen,  nicht  befürchten  zu  müssen,  in  ihm  einen  Minister  der 
auswärtigen  Angelegenheiten  in  Zukunft  erstehen  zu  sehen. 

Jedenfalls  ist  Herr  Onou  wohl  befähigt,  in  Griechenland  und  in 

359 


Ägypten  «dem  hohen  Reisenden  gute  Ratschläge  und  belehrende  Aus- 
kunft zu  erteilen  und  die  Korrespondenz  mit  den  fremden  Autoritäten 
zu  führen;  zu  letzterem  Zwecke  hat  sich  übrigens  Fürst  Bariatinsky 
noch  kurz  vor  der  Abreise  einen  sprachkundigen  und  weitgereisten 
jungen  Beamten,  den  Fürsten  Uchtomsky,  attachieren  lassen. 

Der  Aufenthalt  in  Indien  soll  49  Tage  währen;  auf  meine  Frage, 
warum  eine  so  lange  Dauer  für  eine  Reise  in  Aussicht  genommen  sei, 
deren  Nutzen  in  keinem  richtigen  Verhältnis  zu  dem  Werte  der  Zeit 
und  der  Gesundheit  des  Thronfolgers  stehe,  wurde  mir  geantwortet, 
der  Hafen  von  Wladiwostok  werde  nicht  vor  dem  1.  Mai  eisfrei,  und 
diese  5  Monate  müsse  man  also  auszufüllen  suchen.  Warum  aber  dann 
die  Abreise  nicht  hinausgeschoben  wurde,  wußte  mir  niemand  zu  sagen, 
ebensowenig  wie  man  mir  die  Frage  beantworten  konnte,  wer  denn 
eigentlich  der  geistige  Urheber  des  Reiseplanes  sei  und  wer  die  Einzeln- 
heiten desselben  in  geographischer,  wissenschaftlicher,  sanitärer  und 
politischer  Beziehung  ausgearbeitet  habe. 

Den  nautischen  Teil  dieser  so  wichtigen  Vorstudien  hat  Admiral 
Bassargin  übernommen,  im  übrigen  aber  scheint  wenig  vorgearbeitet 
worden  zu  sein,  außer  vom  Zarewitsch  selbst,  dessen  persönlichen  Wün- 
schen von  seinem  erlauchten  Vater  gern  entsprochen  wird,  denn  Kaiser 
Alexander  betrachtet  ihn  jetzt  als  erwachsen  und  zu  selbständigem 
Denken  und  Handeln  reif. 

Was  nun  den  langen  Aufenthalt  In  Britisch-Indien  anbetrifft,  so  ist 
wohl  anzunehmen,  daß  sich  der  Großfürst,  welcher  englisch  wie  seine 
Muttersprache  redet,  ganz  der  englischen  Führung  überlassen  wird;  ob 
Sir  Mackenzie  Wallace,  der  ehemalige  Sekretär  Lord  Dufferins,  der 
Aufforderung,  über  welche  ich  unlängst  zu  berichten  mich  beehrte, 
Folge  leisten  wird,  ist  noch  nicht  bekannt  geworden;  neuerdings  aber 
habe  ich  gehört,  daß  Mr.  Hardinge,  Botschaftssekretär  in  Konstanti- 
nopel, der  mehrere  Jahre  als  Sir  Robert  Moriers  nützlichster  Arbeiter 
hier  war  und  sehr  unterrichtet,  gewandt  und  tätig  ist,  berufen  wurde, 
den  russischen  Gästen,  deren  Sprache  er  kennt,  in  Indien  zur  Seite 
zu  stehen. 

Dem  hiesigen  holländischen  Gesandten  ist  amtlich  gesagt  worden, 
daß  Seine  Kaiserliche  Hoheit  Ende  Februar,  ich  glaube  am  24.,  in 
Batavia  einzutreffen  und  einige  Tage  dort  zu  verweilen  gedenkt. 

Die  Mitteilung,  welche  mir  der  chinesische  Geschäftsträger  vor 
einigen  Monaten  machte,  wonach  der  Hauptstadt  Chinas  ein  offizieller 
Besuch  zugedacht  sei,  wird  sich  nicht  bestätigen;  wohl  aber  dürfte  dem 
japanischen  Hofe  diese  Auszeichnung  widerfahren;  die  russische  Re- 
gierung läßt  ja  überhaupt  keine  Gelegenheit,  sich  Japan  zu  verpflichten, 
ungenutzt  vorübergehen. 

Der  wichtigste  Abschnitt  der  Reise  des  Thronerben,  der  be- 
lehrendste für  ihn,  der  fruchtbringende  für  sein  Vaterland,  beginnt  dort, 
wo  er  den  Fuß  auf  russischen  Boden  setzen  wird,  in  Wladiwostok. 

360 


Selbst  wenn  der  zweite  Teil  des  weitreichenden  Reiseprogramms 
nicht  vollständig  zur  Ausführung  kommen  sollte,  so  würde  schon  die 
Erwartung,  daß  der  Zarewitsch  quer  durch  Sibirien  fahren  will,  große 
Fortschritte  zur  Folge  haben;  man  darf  annehmen,  daß  schon  heute 
viele  Tausende  geschäftiger  Hände  Straßen  und  Brücken  ausbessern, 
Gefängnisse  reinigen,  Spitäler  in  Stand  setzen  und  zu  beiden  Seiten  des 
8000  Werst  langen  Weges  Potemkinsche  Dörfer  bauen,  aus  denen, 
ebenso  wie  in  Südrußland,  im  Laufe  eines  halben  Jahrhunderts  blühende 
Städte  werden  können. 

Herr  von  Oom,  vortragender  Privatsekretär  Ihrer  Majestät  der 
Kaiserin,  welcher  ebenso  wie  General  von  Richter  vom  verstorbenen 
Thronfolger  in  den  Dienst  des  Kaiserpaares  übertrat  und  trotz  mancher 
Anfeindungen  in  seiner  Vertrauensstellung  blieb,  hat,  wie  er  mir  streng 
vertraulich  erzählte,  den  General  Danilowitsch  gefragt,  ob  er  denn 
den  Zarewitsch  einigermaßen  auf  dasjenige  vorbereitet  habe,  was  er  in 
Sibirien  zu  sehen  bekommen  werde,  und  worauf  er  seine  Aufmerksam- 
keit richten  solle.  Herr  von  Oom  hat  hierbei  besonders  auf  das  De- 
portationssystem hingewiesen,  auf  welches  durch  das  Kennansche  Buch 
die  Aufmerksamkeit  Amerikas  und  Europas  neuerdings  gelenkt  wurde. 
Der  Erzieher  hat  erwidert,  dies  sei  nicht  geschehen  und  sei  auch  nicht 
nötig;  jene  Orte  lägen  weit  ab  vom  Wege  des  Großfürsten.  An  diesen 
hat  sich  nun  der  biedere  Geheimrat  Oom  direkt  g^ewendet,  und  Seine 
Kaiserliche  Hoheit  hat  ihm  geantwortet:  „Lassen  Sie  den  Alten  nur 
reden,  ich  werde  doch  alles  sehen,  was  ich  sehen  wilL" 

Nach  meiner  unmaßgeblichen  Ansicht  ist  der  Reiseplan  des  Zare- 
witsch nicht  genügend  durchdacht;  unter  anderem  scheint  mir  die 
Wagenfahrt  durch  das  Land  zwischen  dem  Amur  und  dem  Baikalsee 
Ende  Mai  oder  Anfang  Juni  sehr  schwierig.  Wenn  man  das  Pro- 
gramm, so  wie  es  jetzt  besteht,  einhält,  so  würde  der  Großfürst  erst 
im  August  hierher  zurückkehren,  um  bald  nachher  seine  erlauchten 
Eltern  nach  Kopenhagen  zu  begleiten  und  dann,  heute  übers  Jahr, 
am  9.  November  1891  ihre  silberne  Hochzeit  in  St.  Petersburg  mit 
ihnen  zu  feiern. 

Es  ist  wohl  eine  merkwürdige  Erscheinung,  daß  der  russische 
Thronerbe  aus  eigenem  Antriebe  seinen  ersten  freien  Flug  nicht  dorthin 
nimmt,  wo  sich  Genüsse  jeder  Art  einem  zweiundzwanzigjährigen 
Prinzen  bieten,  sondern  nach  dem  fernen  Osten,  wohin  Rußland  zum 
eigenen  und  zu  unserem  Besten  mehr  und  mehr  seine  Blicke  richtet; 
der  Reihe  hierauf  deutender  Anzeichen,  dem  Bau  der  transkaspischen 
Bahn,  der  Reise  des  Finanzministers  nach  Merw  und  Turkestan  und 
den  Entwürfen  sibirischer  Schienenwege  schließt  sich  die  Reise  des 
Zarewitsch  bedeutungsvoll  an. 

v.Schweinitz 


361 


Nr.  1616 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Wien  Prinzen  Heinrich  VII.  Reuß 

Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  von  Holstein 

Nr.  39  Berlin,  den  30.  Januar  1891 

Geheim  [abgegangen  am  2,  Februar] 

Gestern  abend  brachte  Graf  Schuwalow,  unbefangen  und  sehr 
heiter,  das  Gespräch  auf  die  deutsch-russischen  Beziehungen.  Er  be- 
urteilte dieselben  als  günstig,  beklagte  aber  den  Mangel  jedes  vertrags- 
mäßigen Bandes.  Wir  hätten  doch  ein  solches  mit  Österreich.  Aller- 
dings habe  dieses  Abkommen  einen  defensiven  Charakter.  Aber  was 
wir  z.  B.  tun  würden,  wenn  Rußland  nach  Bulgarien  hineingehe?  Nicht, 
daß  man  im  geringsten  diese  Absicht  habe,  aber  die  Möglichkeit  sei 
doch  gegeben.  Der  Botschafter  hob  dabei  hervor,  daß  der  vom  Fürsten 
Bismarck  so  eifrig  vertretene  Gedanke  einer  geographischen  Teilung 
der  balkanischen  Interessensphären  zwischen  Rußland  und  Österreich 
gänzlich  undurchführbar  sei. 

Die  Form  der  Äußerungen  war  halb  scherzhaft,  halb  akademisch. 
Nur  der  Umstand,  daß  Graf  Schuwalow  mit  den  verschiedenartigsten 
Windungen  mehrfach  auf  dieselben  Punkte  zurückkam,  gestattet  die 
Annahme,  daß  es  sich  vielleicht  um  eine  Rekognoszierung  handelte. 

Ich  hielt  mich  an  die  Form  und  vermied  eingehende  Erörterungen, 
indem  ich  auf  den  allmähUch  bekannt  gewordenen  Inhalt  (ier  Ab- 
machungen verwies. 

Dies  zu  Euer  pp.  persönlichen  Information. 

Marschall 


Nr.  1617 
Der  Konsul  in  Kiew  Raffauf  an  den  Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  1000  Kiew,  den  23.  März  1891 

Die  mannigfachen  Ereignisse,  welche  die  europäische  Politik  in 
neuester  Zeit  brachte,  haben  hier  nur  wenig  Eindruck  gemacht.  Was 
speziell  Deutschland  angeht,  so  verhält  sich  die  russische  Presse 
höhnisch,  und  das  Publikum  vermag  nicht  im  entferntesten  sich  ein 
Bild  von  den  dortigen  Vorgängen  zu  machen.  Es  behilft  sich  mit  der 
Annahme,  daß  immer  mehr  in  Deutschland  alles  drunter  und  drüber 
gehe.  „Neuer  Kurs''  bedeutet  für  die  Leute  so  viel,  daß  das  deutsche 
Reich  der  Auflösung  entgegentreibt. 

Das  Verständnis  für  deutsche  Verhältnisse,  daß  in  gewisser  Be- 
ziehung ebenso  wie  das  Interesse  früher  unzweifelhalft  vorhanden  war, 

362 


1 


ist  in  den  letzten  Jahren  verwirrt  worden.  Über  diesen  Punkt  sind  mir 
von  verschiedenen  Seiten  schon  des  öfteren  Bemerkungen  gemacht 
worden.  Neuerdings  hat  sich  hierüber  ein  angesehener  und  hoch- 
gebildeter Russe  folgendermaßen  ausgesprochen* 

„Wie  sollten  wir  uns  wohl  hier  eine  Meinung  über  Deutschland 
bilden  können!  Niemand  liest  eine  deutsche  Zeitung.  Wer  eine  solche 
halten  wollte,  würde  sie  ja  doch  nur  geschwärzt  und  somit  verstümmelt 
in  die  Hand  bekommen.  Kann  man  es  uns  also  verargen,  wenn  wir  uns 
mit  unseren  russischen  Zeitungen  begnügen?  Wir  sind  seit  Jahren  ge- 
wöhnt, unausgesetzt  Anschuldigungen  der  schlimmsten  Art  gegen 
Deutschland  in  unseren  Blättern  zu  lesen.  Wir  sehen  und  hören  aber 
fast  nie  etwas  von  Widerlegung  dieser  Anschuldigungen.  Kann  man 
sich  da  wundern,  wenn  der  Deutschenhaß  immer  mehr  bei  uns  Fort- 
schritte macht?  Und  eigentlich  war  es  anfangs  nur  eine  Handvoll 
Schreier,  die  gegen  Deutschland  zu  Felde  zog.  Habt  Ihr  irgend  etwas 
getan,  um  gegen  diese  Schreier  einen  Wall  zu  errichten?  Kein  be- 
rufener Verteidiger  ließ  sich  vernehmen  gegenüber  jenen  Angriffen*. 
So  wuchs  der  Chor,  und  die  russische  Gesellschaft  leistete  allmählich 
Heeresfolge,  bis  es  schließhch  zum  guten  Ton  geworden  ist,  deutsch- 
feindlich zu  sein." 

TatsächHch  steigt  der  Deutschenhaß  herab  in  immer  breitere  Volks- 
kreise. Die  „Erziehung  durch  die  Presse"  tut  eben  unbehindert  ihre 
Dienste.  Auch  in  der  Klasse  der  Gewerbetreibenden,  bei  denen  noch 
vor  drei  Jahren  garnichts  von  Feindseligkeiten  gegen  den  „Nemetz" 
zu  merken  war,  gewinnt  der  Haß  gegen  Deutschland  immer  mehr 
Boden. 

Schien  an  einer  Stelle  sich  eine  Besserung  zu  zeigen,  nämlich  in 
der  Beurteilung  der  Persönlichkeit  Seiner  Majestät  unseres  Kaisers,  so 
haben  die  allerneuesten  Ereignisse  in  Deutschland  diesen  Fortschritt  wie- 
der hinweggeschwemmt.  Jetzt  ist  die  Auffassung  zurückgekehrt,  die  man 
sich  früher  entworfen,  vielleicht  noch  in  verstärktem  Maße.  Vor  allem 
konstatiert  man  —  und  das  mit  sichtlicher  Genugtuung  — ,  daß  der 
deutsche  Kaiser  seinem  ganzen  Charakter  nach  wohl  imstande  wäre, 
sich  eines  Tages  zu  einem  Kriege  gegen  Rußland  fortreißen  zu  lassen. 
Und  das  wäre  es  grade,  was  die  meisten  hier  wünschen.  Zu  diesem 
engeren  Thema  gehört  die  Schadenfreude,  mit  der  man  die  neuesten 
Ereignisse  in  Deutschland  begrüßt.  Bei  jedem  neuen  Vorgang  glaubt 
man  nach  einem  Grunde  zur  Freude  in  Rußland  suchen  zu  müssen,  pp. 

Raffauf 


*  Anmerkung  im  Berichte  Raffaufs:  Es  mag  hier  daran  erinnert  werden,  daß  der 
„Kiewljanin",  mit  dem  das  Konsulat  in  Fühlung  getreten,  durch  sein  Eintreten 
ifür  die  deutschen  Kolonisten  doch  manches  erreicht  hat.  Wenigstens  wagen  es  die 
kleinen  Kläffer,  wie  der  „Wolhynetz"  und  der  .,\Veltzin",  nicht  mehr  so  leicht- 
hin, Artikel  gegen  den  „Nemetz"  zu  bringen,  aus  Furcht,  daß  ihnen  ein  größerer, 
der  „Kiewljanin",  in  den  Nacken  kommt. 

363 


Nr.  1618 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  195  St.  Petersburg,  den  18.  Juni  1891 

Ganz  vertraulich 

Das  russische  Ministerium  der  auswärtigen  Angelegenheiten  macht 
seinen  Jahresabschluß  altem  Gebrauche  gemäß  zu  Ostern,  und  um 
diese  Zeit  legt  der  Minister  seinem  Souverän  eine  Übersicht  über  die 
politische  Gesamtlage  vor;  dies  hat  sich  im  laufenden  Jahre  wegen 
wiederholter  Trauerfälle  und  wegen  der  Moskauer  Reise  Seiner  Maje- 
stät verzögert  und  ist  erst  vorgestern  geschehen. 

Herr  von  Giers  erzählte  mir,  sein  Jahresbericht  sei  im  ganzen 
recht  befriedigend  ausgefallen  und  er  habe  sich  dabei  überzeugen 
können,  daß  der  Kaiser  Alexander  fester  als  je  sei  in  den  Grundsätzen 
und  Überzeugungen,  welche  die  bisher  befolgte  friedfertige  Politik  auch 
für  die  Zukunft  sicherstellen. 

„Der  Kaiser",  so  sagte  der  Minister  unter  anderem,  „ist  so  ent- 
schieden abgeneigt,  kriegerische  Machtmittel  anzuwenden,  daß  er  auch 
„nach  der  anderen  Seite  hin",  nämlich  gegen  Persien,  nicht  drohen  will, 
obgleich  man  uns  dort  fortwährend  Schwierigkeiten  an  der  Grenze 
macht." 

„Im  allgemeinen",  so  fuhr  Herr  von  Giers  fort,  „ist  die  Lage  gut 
mit  Ausnahme  der  einen  Stelle,  wo  die  schmerzende  Wunde  noch 
immer  nicht  geheilt  ist,  nämlich  in  Bulgarien,  aber  auch  dort  ist  Seine 
Majestät  fest  entschlossen,  nichts  zu  tun,  sondern  dieselbe  abwartende 
Haltung  zu  bewahren  wie  bisher." 

Bei  flüchtiger  Musterung  des  Gesamtbildes,  welches  die  diplo- 
matische Situation  bietet,  sagte  Herr  von  Giers,  diese  sei  ruhiger  ge- 
worden, seit  Herr  Crispi  nicht  mehr  im  Amte  sei*;  „einen  solchen  Mann 
in  die  gute  Gesellschaft  aufzunehmen,  war  kein  glücklicher  Griff  des 
Fürsten  Bismarck;  aber  freilich  war  der  Fürst  damals  von  hier  aus 
gar  zu  sehr  provoziert  worden"  i;  diese  Bemerkung  führte  den  Herrn 
Minister  zurück  in  die  Erinnerung  an  jene  schweren  Zeiten,  in  denen 
er  den  entscheidenden  Kampf  gegen  Katkow  siegreich  bestand. 

„Sie  erinnern  sich",  sagte  Herr  von  Giers,  „daß  Seine  Majestät 
damals  Katkow  befahl,  zu  mir  zu  gehen,  und  daß  ich  ihn  nicht  empfing; 
als  mich  der  Kaiser  dann  fragte,  warum  ich  mich  geweigert  habe, 
Katkows  Erklärungen  anzuhören,  antwortete  ich:  „Euere  Majestät 
würden  aufgehört  haben,  mich  zu  achten  2,  wenn  ich  es  getan  hätte." 
Der  Kaiser  hat  mir  später  recht  gegeben  und  die  Erfahrungen  jener 
Zeit  sind  ihm  von  großem  Nutzen  gewesen." 

*  Er  hatte  am  31.  Januar  seine  Entlassung  genommen. 
364 


Ich  versicherte  Herrn  von  Oiers,  daß  ich  ihm  zu  seinem  gün- 
stigen Jahresabschluß  aus  voller  Überzeugung  Glück  wünschen  könne; 
das  Ansehen  Rußlands  und  das  Vertrauen  in  die  guten  Absichten  und 
den  edlen  Charakter  seines  Kaisers  habe  bei  Fürsten  und  Völkern  zu- 
genommen; „aber",  so  fügte  ich  hinzu,  „dabei  marschiert  ein  Ba- 
taillon, ein  Regiment,  eine  Division  nach  der  anderen  von  Norden, 
Osten  und  Süden  nach  dem  Westen"  3.  ^^SoUte  dies  wirklich  wahr 
sein?"  entgegnete  er*;  „ja",  sagte  ich,  „hierüber  ist  kein  Zweifel  mög- 
lich, und  wenn  Sie  es  wünschen,  kann  ich  es  Ihnen  einzeln  aufzählen." 
Hierauf  antwortete  Herr  von  Giers:  „Man  sagt  mir  immer ^  (hiermit 
meinte  er  die  Generale),  Österreich  wolle  Krieg  mit  uns;  natürlich  nicht 
allein,  sondern  mit  Ihrer  Hülfe."  Ich  erwiderte,  daß  er  dies  doch  un- 
möglich glauben  könne;  wenn  Österreich  für  seine  bedrohte  Sicher- 
heit sorge,  so  sei  dies  nur  zu  berechtigt,  pp. 

V.  Schweinitz 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  ? 

2  bravo! 
s  richtig 

*  Aber!!  das  ist   stark. 

*  Matte  Ausrede!  „Man  sagt"!  geht  ihn  doch  nichts  an;  sehe  er  doch  mit  eignen 
Augen 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 

Wir  werden  sehn.    Im  übrigen,  they  go  on  drifting  as  before. 


Nr.  1619 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Alfred  von  Bülow  an  den 
Reichskanzler  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  366  St.  Petersburg,  den  25.  November  1891 

Vertraulich 

Der  Kaiserliche  Botschafter,  welchem  die  langsam  fortschreitende 
Besserung  gestattet,  täglich  nur  einen  oder  zwei  seiner  nächsten  Be- 
kannten im  Krankenzimmer  zu  empfangen,  hat  gestern  für  Herrn  Pobe- 
donoszew  eine  Ausnahme  gemacht,  weil  es  Seiner  Exzellenz  nützlich 
erschien,  die  Anschauungen  des  Oberprokurators  des  heiligen  Synods 
gleich  nach  Rückkehr  desselben  aus  der  Krim  kennenzulernen. 

Der  Herr  Botschafter  hat  mit  Herrn  Pobedonoszew  ein  längeres 
Gespräch  gehabt.  Der  Oberprokurator  des  heiligen  Synods  ändert 
seine  Ansichten  bekanntlich  nie.  Alle  Argumente,  welche  gegen  die- 
selben vorgebracht  werden  können,  kennt  er,  will  sie  aber  nicht  gelten 
lassen,  sondern  verfolgt  sein  Ziel,  Einheit  in  Religion,  Sprache  und 
Nationalität  in  Rußland  herzusiellen,  in  rücksichtslosester  .Weise. 

365 


Diejenigen  Äußerungen  des  Herrn  Pobedonoszew,  welche,  ohne 
wesentlich  Neues  zu  bringen,  besonderes  Interesse  bieten  und  ein  cha- 
rakteristisches Licht  auf  hier  verbreitete  irrige  Anschauungen  werfen, 
hat  der  Herr  General  aufgezeichnet  und  mir  zu  vertrauHcher  dienst- 
licher Verwertung  übergeben. 

Euerer  Exzellenz  verfehle  ich  nicht,  diese  Aufzeichnung*  ehr- 
furchtsvoll zu  überreichen. 

A.  von  Bülow 

Anlage 

Aufzeichnung  Seiner  Exzellenz  des   Herrn  Botschafters, 
eine  Unterhaltung  mit  Herrn  Pobedonoszew  betreffend. 

Nachdem  Herr  Pobedonoszew  über  den  Notstand  und  über  die 
Schwierigkeiten  gesprochen  hatte,  welche  die  Ausdehnung  der  be- 
troffenen Gebiete,  der  Charakter  des  Landvolks,  der  Mangel  an  ge- 
eigneten Organen  usw.  der  Regierung  bereite,  erwähnte  er  mit  Teil- 
nahme der  vielen  Krankheits-  und  Todesfälle,  durch  welche  der  russische 
Hof  heimgesucht  wurde,  und  gab  seiner  tiefen  Betrübnis  über  das  Hin- 
scheiden der  Großfürstin  Paul**  Ausdruck.  Gerade  diese  Ehe,  die  ein- 
zige, welche  zwischen  einem  jüngeren  Großfürsten  und  einer  wirklich 
orthodox  geborenen  Prinzessin  bestanden,  lag  dem  Oberprokurator  des 
heiligen  Synods  ganz  besonders  am  Herzen.  Am  Schlüsse  seiner  trüben 
Betrachtungen  sagte  Herr  Pobedonoszew:  „und  bei  allem  diesem  die 
schreckliche   Ungewißheit!    Die   fürchterliche   Gefahr   eines   Krieges!" 

„Was  für  einen  Krieg  meinen  Sie  denn?"  fragte  ich  (Herr 
von  Schweinitz).  „Ich  sehe  keine  neue  Kriegsgefahr  als  diejenige, 
welche  der  Kaiser  von  Rußland  durch  seine  Behandlung  der  Franzosen 
und  deren  hierdurch  gesteigerten  Übermut  geschaffen  hat." 

Es  war  hier  und  im  Auslande  die  Meinung  verbreitet,  daß  Herr 
Pobedonoszew  die  Verbrüderung  mit  der  gottlosen  Nation  gemißbilligt 
habe.  Die  Antwort  des  Oberprokurators  des  heiligen  Synods  belehrte 
mich  eines  anderen.  Er  gab  zwar  zu,  daß  besonnene  Männer  die  Über- 
treibungen tadelten,  zu  denen  der  Kronstädter  Besuch***  geführt  habe. 
Doch  stellte  sich  Herr  Pobedonoszew  nichtsdestoweniger  sehr  ent- 
schieden auf  jenen  Standpunkt,  welchen  Herr  von  Giers  einnimmt,  wenn 
er  hervorhebt,  daß  Rußland  durch  die  Tatsachen  und  die  Art  der  Er- 
neuerung des  Dreibundes  sowie  durch  die  Aufnahme  unseres  alier- 
gnädigsten  Herrn  in  England  bedroht  wurde  und  nicht  länger  allein 
bleiben  durfte. 

Herr  Pobedonoszew  sagte  weiter,   Rußland  habe  überall,   außer 


*  Siehe  Anlage. 

**  t  24.  September  1891. 

*♦*  Über  den  Besuch  der  französischen  Flotte  in  Kronstadt  (23.  Juli  bis  8.  August) 

und  dessen  Rückwirkung  auf  die  deutsch-russischen  Beziehungen  siehe  Kap.  XLVII. 

366 


eben  in  Frankreich,  nur  Feinde.  Diese  seine  Behauptung  ist  nicht  ganz 
unrichtig,  insofern  das  System  Pobedonoszews  in  direi<tem  Widerspruch 
mit  allen  heiligen  und  auch  mit  allen  materiellen  Interessen  der  Mensch- 
heit steht. 

Ich  will  aus  der  Darlegung  des  Genannten  noch  zwei  Sätze  an- 
führen; „Beobachten  Sie  das  schnelle  Heranwachsen  der  deutschen 
Sozialdemokratie,"  so  sagte  der  Oberprokurator,  „lesen  Sie  Bebeis 
Reden!  Jene  mit  erschreckender  Schnelligkeit  an  Macht  gewinnende 
Partei,  welche  den  Krieg  im  allgemeinen  verwirft,  fordert  ihn  gegen 
uns,  nur  ^gegen  uns." 

Dann  sprach  Herr  Pobedonoszew  über  den  Haß  Englands  gegen 
Rußland.  Der  Oberprokurator  des  heiligen  Synods  ist  in  ungewöhn- 
lichem Maße  mit  der  englischen  und  nordamerikanischen  Literatur  ver- 
traut, vorzugsweise  mit  der  theologischen  und  soziologischen.  Er  liest 
viele  reviews,  korrespondiert  auch  mit  hohen  Mitgliedern  der  angli- 
kanischen Kirche,  kurz:  er  hat  einen  weiten  Überblick  über  das  un- 
geheure Gebiet  von  politischen  Interessen  und  Kulturbestrebungen,  auf 
welchem  sich  die  anglosächsische  und  die  russische  Welt  schroff  gegen- 
überstehen. Nun  ist  Herrn  Pobedonoszew  nicht  entgangen,  daß  die 
Zahl  seiner  anglikanischen  Freunde  abnimmt,  während  die  .\ngriffe 
gegen  ihn  sich  mehren.  Er  klagt  über  die  vielen  Lügen,  welche  von 
England  aus  über  Rußland  und  speziell  über  ihn  verbreitet  werden, 
wie  z.  B.  jetzt  über  Studentenunruhen  in  Moskau,  Verhaftungen,  sowie 
Verschickung  von  armenischen  Bischöfen,  Stundisten,  Molokanen  und 
anderen  Sektierern.    An  alledem  sei  kein  wahres  Wort. 

Als  Herr  Pobedonoszew  nochmals  auf  die  Unsicherheit  der  gegen- 
wärtigen Lage  zurückkam  und  uns  alle  Schuld  daran  zuschob,  konnte 
die  Truppenanhäufung  im  Westgebiet  nicht  unerwähnt  bleiben.  Der 
Oberprokurator  des  heiligen  Synods  sieht  darin  nichts,  als  die  unabweis- 
liche  Deckung  gegen  überraschende  Angriffe.  Ich  sagte,  „wir  hätten 
nichts  dagegen,  daß  Rußland  auf  einem  Gebiet,  welches  so  groß  wie 
Deutschland  sei,  ebenso  viele  Truppen  aufstelle,  wie  wir  in  Friedens- 
zeiten überhaupt  haben;  das  Herausfordernde  und  Bedrohliche  liege 
darin,  daß  Massen  von  marschbereiter  Kavallerie  und  vollständig  be- 
spannter Artillerie  unmittelbar  an  der  Grenze  lägen". 

Der  Oberprokurator,  welcher  sich  weder  mit  militärischen  noch 
mit  diplomatischen  Fragen  befaßt,  entgegnete  mir,  „Rußland  müsse 
jeden  Augenblick  gewärtig  sein,  von  uns  angegriffen  zu  werden,  und 
zwar  ohne  Kriegserklärung.  Von  Seiner  Majestät  Kaiser  Wilhelm  sei 
dergleichen  wohl  zu  erwarten"!  „Haben  Sie  wirklich",  so  unterbrach 
ich  Herrn  Pobedonoszew,  „schon  jemanden  begegnet,  der  so  etwas 
glaubt?"  „Gewiß,"  lautete  die  Antwort  Pobedonoszews,  „alle  halten 
es  für  möglich,  und  wenn  man  so  manches  in  Betracht  zieht,  so  kann 
man  nicht  anders,  als  an  eine  solche  Gefahr  glauben.  Bei  uns  sagen 
daher  alle:  ,Gott  behüte  uns  vor  dem  Kriege!'" 

367 


Nr.  1620 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  40  ,Wien,  den  9.  Ftbruar  1892 

Als  wir  gestern  über  die  serbischen  Angelegenheiten*  und  über  die 
Haltung  Rußlands  redeten,  knüpfte  Graf  Kälnoky  daran  einige  all- 
gemeine Betrachtungen  über  die  politische  Lage. 

Es  sei  auffallend,  so  äußerte  er,  daß,  wie  er  mir  schon  neulich  ein- 
mal gesagt,  in  St.  Petersburg  das  Bewußtsein  der  bedenklichen  inneren 
Lage  noch  so  wenig  zum  Durchbruch  gekommen  zu  sein  scheine.  Fürst 
Lobanow  habe  ihm  selbst  eingestanden,  daß  von  militärischer  Seite 
zum  Kriege  gehetzt  würde.  Auch  sei  nicht  zu  bemerken,  daß  irgendein 
Stillstand  in  den  militärischen  Vorbereitungen  an  unseren  Grenzen  ein- 
getreten sei.  Wenn  es  auch  begreiflich  wäre,  daß  man  die  ungeheuren 
Mundvorräte  in  den  polnischen  Magazinen  als  eisernen  Bestand  kon- 
servieren wolle,  so  wäre  es  doch  wohl  natürlich  gewesen,  wenn  man 
den  für  den  Kriegsfall  aufgespeicherten  Überfluß  für  die  hungerleidenden 
Provinzen  verwendet  haben  würde  i.  Es  hätte  fast  den  Anschein,  als 
wenn  die  Kriegspartei,  die  sich  doch  wohl  klar  sein  müßte,  daß  Ruß- 
lands Kraft  auf  Jahre  hinaus  lahm  gelegt  sein  werde,  die  augenblick- 
lich noch  bestehende  Kriegsbereitschaft  benutzen  und  im  Frühjahr  einen 
coup  de  tete  machen  wolle. 

Trotz  dieser  bedenklichen  Anzeichen  glaube  er  aber  nicht  an  eine 
drohende  Kriegsgefahr.  Inwieweit  der  Zar  von  dem  Zustande  seines 
Reiches  unterrichtet  sei,  könne  man  nicht  wissen ;  aber  obgleich  man 
ihm  sicherlich  vieles  verberge,  so  scheine  es  doch  in  seinem  Kopfe 
aufzudämmern.  Die  plötzliche  Entlassung  des  Verkehrsministers**  deutete 
darauf  hin,  wie  er  doch  zu  merken  anfange,  daß  nicht  alles  mit  rechten 
Dingen  zuginge.  Auch  spräche  man  von  der  Entfernung  des  unfähigen 
Ministers  des  Innern***,  Die  sprunghaft  angeordneten  Maßnahmen  zur 
Bekämpfung  der  Hungersnot  deuten  außerdem  auf  ein  gewisses  Un- 
behagen in   den  höchsten   Kreisen   Rußlands  hin. 

Jedenfalls  bestehe  dies  Gefühl  des  Unbehagens,  und  es  sei  eine 
alte  psychologische  Beobachtung,  daß  man  in  diesem  Zustande,  wenn 
noch  die  Selbstverschuldung  hinzutritt,  besonders  empfindlich  sei.  Eine 
solche  Empfindlichkeit  treibe  aber  nur  zu  leicht  zu  unüberlegten 
Schritten. 

Wir  hätten  in  der  Hungersnot  einen  unerwarteten  Bundesgenossen 
gefunden;  er  sei  aber  der  Ansicht,  daß  man  gerade  deshalb  noch  viel 
vorsichtiger  in  der   Behandlung  Rußlands  sein   müsse,  als  dies  über- 

•  Vgl.  Bd.  IX,  Kap,  LV. 
**  A.  T.  Hübbenet. 
•**  J.  D,  Durnowo. 

368 


J 


haupt  schon  geboten  sei.  Würde  man  dort  den  Verdacht  schöpfen, 
daß  Österreich,  auf  diesen  Bundesgenossen  zählend,  sich  etwa  etwas 
ungeniertere  Bewegungen  in  seiner  Orientpolitik  aneignen  sollte,  so 
würde  dies  die  russische  Empfindlichkeit  nur  steigern.  Fänden  wir  und 
Österreich  mit  Recht,  daß  die  militärischen  Vorbereitungen  Rußlands 
etwas  gar  zu  ungeniert  betrieben  würden,  so  würde  es  ratsam  sein, 
sich  nicht  merken  zu  lassen,  daß  man  dies  nicht  gerade  als  Freundlich- 
keit auffasse.  Kühl,  höflich  und  abwartend,  in  keinem  Fall  heraus- 
fordernd 2,  das  sei  seine  Devise.  Dem  Gifte,  welches  in  das  innerste 
Mark  des  russischen  Kolosses  eingedrungen  sei,  müsse  man  sein  Zer- 
störungswerk überlassen.  Was  daraus  entstehen  werde,  sei  nicht  ab- 
zusehen; für  jeden  Fall  könnten  wir  aber  mit  einiger  Bestimmtheit 
darauf  rechnen,  daß  Rußland  uns  während  einiger  Jahre  in  Ruhe  lassen 
werde,  wenn  es  nicht  provoziert  würde. 

Hierzu  gehöre  eine  größtmöglichste  Entfaltung  einer  prononcier- 
ten  österreichischen  Politik  in  den  Balkanländern;  mit  mehr  Sorgfalt 
als  je,  würde  er,  Graf  Kälnoky,  sich  derselben  enthalten,  und  sich 
namentlich   nicht  in   die  bulgarischen   Angelegenheiten   mischen. 

Fürst  Bismarck  habe  ihm  seinerzeit  öfter  sein  System  auseinander- 
gesetzt, was  darauf  hinauslief:  Rußland  den  Krieg  zu  machen,  sei  eine 
mißliche  Sache,  weil  weder  Deutschland  noch  Österreich  im  glücklich- 
sten Falle  dabei  gewinnen  könnten.  Deshalb  müsse  man  lavieren,  um 
einem  Bruche  vorzubeugen.  Der  Fürst  habe,  ohne  mit  Sicherheit  be- 
zeichnen zu  können,  was  kommen  würde,  immer  mit  Bestimmtheit 
vorausgesagt,  daß  etwas  kommen  würde,  was  den  morschen  russi- 
schen Staatsorganismus  unterminieren  und  dieses,  heut  so  gefährliche 
Reich,   für  seine   Nachbarn   unschädlich   machen  würde. 

Er,  Graf  Kälnoky,  habe  sich  dieser  Ansicht  auf  Grund  seiner 
Kenntnis  Rußlands  immer  angeschlossen.  Dieses  Etwas  scheine  nun- 
mehr gekommen  zu  sein,  man  müsse  demselben  seinen  Lauf  lassen. 

Als  sehr  bemerkenswert  und  für  die  allgemeine  Lage  wichtig, 
bezeichnet  der  Minister  die  Erscheinungen  in  Frankreich.  Auch  hier 
scheine  man  die  Augen  offen  zu  halten  und  zu  bemerken,  daß  es  mit 
den  großen,  auf  die  russische  Allianz  gebauten  Hoffnungen  nicht  so 
glänzend  aussähe,  wie  man  dies  französischerseits  im  letzten  Sommer 
gern  annehmen  wollte*.  Der  Rausch  von  Kronstadt  sei  schon  sehr  ver- 
flogen, und  die  russische  Presse  selbst  habe  dazu  beio^etragen,  die 
französischen  Hoffnungen  zu  ernüchtern.  In  Frankreich  aber,  wo  man 
noch  im  letzten  Frühjahr  und  Sommer  sehr  übermütig  zu  werden  und 
sich  militärisch  bereits  für  unbesiegbar  zu  halten  anfing,  sei  man  jetzt 
bedeutend  bescheidener  geworden.  Die  trüben  Erfahrungen,  die  die 
Regierung  bei  den  großen  Manövern  des  letzten  Herbstes  über  die 
Schlagfertigkeit  der  Armee,  namentlich  aber  über  die  Fähigkeit  ihrer 
Führer  gemacht,  hätten  sehr  niederschlagend  gewirkt. 

•  Vgl.  darüber  Kap.  XLVII. 

24    Die  Qr«Be  Politik.  7.  Bd.  369 


Dazu  käme  die  Finanzfrage.  Am  besten  kennzeichne  die  Ent- 
täuschung, die  Frankreich  mit  Beziehung  auf  Rußland  erlebe,  der  ent- 
schiedene Widerwillen,  diesem  Reiche  Geld  zu  leihen*.  Graf  Kälnoky 
erzählte  mir,  daß  selbst  mein  französischer  Kollege  ihm  neulich  gesagt 
habe,  er  glaube  kaum,  daß  es  noch  möglich  sein  werde,  irgendwelchen 
französischen  Kapitalisten  zu  bewegen,  sein  Geld  in  einer  russischen 
Anleihe  anzulegen. 

Daß  diese  französischen  Stimmungen  der  Erhaltung  des  Friedens 
zuträglich  sind,  hält  der  Minister  für  unzweifelhaft. 

Mir  ist  es  schon  längst  bekannt  gewesen,  daß  Graf  Kälnoky  sich 
nicht  auf  eine  abenteuerliche  Politik  einlassen  will;  seine  Äußerungen, 
welche  ich  im  Vorstehenden  zu  resümieren  bemüht  gewesen  bin, 
zeigen  mir  aufs  neue,  wie  aufrichtig  er  dies  meint,  und  wie  sehr  er 
bestrebt  ist,  durch  eine  vorsichtige  Haltung  jeden  Vorwand  zu  be- 
seitigen, daß  andere  mit  Österreich-Ungarn  Händel  anfangen  könnten. 

H.  VII.  P.  Reuß 

Randbemerkungen   Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ist  zum  Teil  versucht  worden;  gelang  aber  nicht,  da  die  Magazine  leer  waren 

2  d.  h.  nur  keine  Gegenmaßregeln  treffen 

Nr.  1621 

Der  preußische  Gesandte  in  Dresden  Graf  Carl  von  Dönhoff  an  den 

preußischen  Minister  der  Auswärtigen  Angelegenheiten 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  37  Dresden,  den  11.  Februar  189,2 

Ganz  vertraulich 

Seine  Majestät  der  König  von  Sachsen  beehrte  mich  gestern  abend 
mit  einer  längeren  Ansprache,  wobei  er  unter  anderen  auch  die  russi- 
schen Verhältnisse  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  zog.  Anlaß  hierzu 
gaben  höchstihm  einige  vertrauliche  Mitteilungen  des  unmittelbar  aus 
Rußland  hier  eingetroffenen  schwedischen  Kronprinzen.  Aus  diesen 
Mitteilungen,  sagte  mir  Seine  Majestät,  entnähme  er,  daß  sehr  bedenk- 
liche Zustände  in  Rußland  herrschen  müßten :  Verwirrung  in  allen 
Zweigen  der  Verwaltung,  Ratlosigkeit,  Gleichgültigkeit  oder  Unzuver- 
lässigkeit  der  Beamten  und  Unstetigkeit  im  Gange  der  Regierungs- 
maschine, hervorgerufen  durch  steten  Wechsel  der  leitenden  Persönlich- 
keiten. Der  Kaiser,  der  anscheinend  ganz  unter  dem  Einflüsse  des 
Fanatikers  Pobedonoszew  stände,  schiene  „das  Heft  gänzlich  aus  den 
Händen  verloren  zu  haben",  und  glaube  außerdem  weder  an  die  Ver- 
wirrung in  den  inneren  Zuständen  noch  an  den  Notstand,  der  sich  in 

*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1516. 
370 


manchen  Gegenden  in  erschreckender  Weise  fühlbar  mache.  In  dieser 
.Weise  könnten  die  Dinge  in  Rußland  nicht  lange  mehr  fortgehen,  sonst 
sei  der  Eintritt  einer  Katastrophe  über  kurz  oder  lang  zu  befürchten. 
Dabei  soll,  so  fuhr  der  König  fort,  der  Kaiser  immer  noch  von  Miß- 
trauen und  wenig  wohlwollender  Gesinnung  gegen  die  Regierung  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs  erfüllt  sein.  Besonders  soll  Kaiser 
Alexander  in  diesem  Sommer  durch  eine  angebliche  öffentliche  Äuße- 
rung Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  vor  der  allerhöchsten 
Reise  nach  England  bei  Gelegenheit  einer  Festlichkeit  des  Norddeut- 
schen Lloyd  in  Bremen  i,  wodurch  allerhöchstderselbe  die  damals 
grade  erfolgte  Erneuerung  des  Dreibundes  verkündet  habe,  verstimmt 
worden  sein.  Er  habe  hierauf  mit  der  demonstrativ  freundlichen  Auf- 
nahme der  französischen  Flotte  in  Kronstadt  geantwortet  2. 

Ich  erinnerte  mich  bei  dieser  Äußerung  des  Königs  sogleich  der 
von  mir  Anfang  November  v.  Js.  gemeldeten  vertraulichen  Mitteilung 
des  hiesigen  russischen  Ministerresidenten*  über  eine  ähnliche  Äuße- 
des  Herrn  von  Giers,  wonach  Kaiser  Alexander  über  eine  Rede  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs  in  Kiel  nach  allerhöchstdessen  Rück- 
kehr von  England  verstimmt  gewesen  wäre.  Beide  Äußerungen  dürften 
in  Zusammenhang  stehen,  und  es  erscheint  die  Annahme  nicht  aus- 
geschlossen, daß  entweder  Herr  von  Giers  oder  Baron  Mengden  sich 
damals  ungenau  ausgedrückt  und  die  angeblichen  Worte  Seiner  Majestät 
in  Bremen  über  die  Erneuerung  des  Dreibundes  im  Sinne  gehabt  haben, 
da  Seine  Majestät  der  Kaiser  und  König  nach  allerhöchst  seiner  Rück- 
kehr von  England  tatsächlich  in  Kiel  nicht  öffentlich  zu  sprechen 
geruht  hat  3, 

Der  König  fuhr  fort:  Diese  Auslegung  des  demonstrativen  Emp- 
fanges der  französischen  Gäste  in  Kronstadt  habe  ihn  überrascht,  da 
er  ihn  bisher  als  die  russische  Antwort  auf  den  Seiner  Majestät  dem 
Kaiser  und  Könige  in  England  bereiteten  warmen  und  herzlichen  Emp- 
fang** angesehen  habe.  Vielleicht  interessiere  diese  Begründung  auch 
in  Berlin*.  Er  ermächtige  mich  daher  ausdrücklich,  sie  Euerer  Ex- 
zellenz zu  melden. 

Ich  verfehlte  nicht,  Seiner  Majestät  für  diese  Ermächtigung  ehr- 
erbietigst zu  danken. 

Graf  Carl  Dönhoff 

Randbemerkungen   Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  Da  bin  ich  überhaupt  gar  nicht  gewesen*** 

2  er  ist  eben  auf  eine  Lüge  hereingefallen,  und  hat  sich  unendlich  viel  Schade 

getan 
'  richtig 

*  mir  war  sie  schon  lange  bekannt 

*  Baron  Mengden. 

**  Vgl.  Bd.  VIII,  Nr.  1726,  Fußnote  **. 

***  Es  liegt  wohl  eine  Verwechselung  mit  der  Fahrt  Wilhelms  II.  von  Hamburg 

nach  Helgoland  (29.  Juni)  vor,  auf  der  der  Kaiser  dem  Direktor  der  Paketfahrt, 

24*  371 


Nr.  1622 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  12.  Februar  1892 

Seine  Königliche  Hoheit  der  Kronprinz  von  Schweden  erwies  mir 
heute  die  Ehre  eines  längeren  Besuchs.  Er  kam  sofort  auf  seine  Ein- 
drücke in  St.  Petersburg  zu  sprechen  und  sagte  mir  in  dieser  Beziehung 
folgendes:  die  Stimmung  in  der  russischen  Hauptstadt  sei  eine  sehr 
trübe  und  gedrückte,  und  wenn  auch  Gespräche  über  den  gegenwärtigen 
Notstand  vermieden  würden,  so  trete  einem  doch  überall  das  Gefühl 
entgegen,  daß  das  gegenwärtige  System  abgewirtschaftet  habe  und  man 
einer  Katastrophe  entgegengehe.  Am  schärfsten  habe  die  Großfürstin 
Maria  Pawlowna  diesem  Gefühle  mit  den  Worten  Ausdruck  gegeben : 
„wir  stehen  vor  einem  Krach,  von  einem  Tage  zum  andern  können 
wir  gewärtigen,  davongejagt  zu  werden".  Die  interessanteste  Er- 
scheinung sei  die  weitverbreitete  Furcht  vor  einem  deutschen  Angriff; 
die  Überzeugung  von  der  derzeitigen  Schwäche,  ja  Ohnmacht  Ruß- 
lands trete  in  diesen  Befürchtungen  deutlich  zutage.  Auf  meine  Frage, 
wie  es  denn  möglich  sei,  daß  verständige  Männer  an  einen  deutschen 
Angriff  glaubten,  da  Rußland  uns  gar  nichts  zu  bieten  vermöchte,  was 
für  uns  ein  begehrenswerter  Siegespreis  wäre,  erwiderte  der  Kronprinz, 
daß  Männer,  wie  Herr  von  Giers,  von  der  Grundlosigkeit  jener  Befürch- 
tungen überzeugt  seien,  daß  das  Ohr  des  Kaisers  aber  nicht  diesem 
Staatsmanne,  sondern  in  erster  Linie  Herrn  von  Pobedonoszew  und 
ferner  dem  Grafen  Woronzow-Daschkow  gehöre,  der  ebenfalls  einen 
schlechten  Einfluß  auf  den  Monarchen  ausübe.  Der  Zar  sei  offenbar 
durch  zwei  Dinge  gegen  Deutschland  eingenommen  worden,  einmal 
durch  einzelne  Manöverreden  Kaiser  Wilhelms,  die  man  ihm  als 
kriegerisch  und  provozierend  geschildert  habe,  und  sodann  durch  den 
Eklat,  den  man  bei  der  Verkündung  der  Erneuerung  des  Dreibunds 
gemacht  habe.  Ich  bemerkte,  daß  in  beiden  Beziehungen  der  Zar  offen- 
bar falsch  unterrichtet  worden  sei,  da  Seine  Majestät  der  Kaiser  nie- 
mals eine  kriegerische  oder  provozierende  Rede  gehalten  habe  und 
ein  besonderer  Eklat  bei  der  Erneuerung  des  Dreibunds  überhaupt 
nicht  angewendet  worden  sei*.  Daß  in  unsrer  öffentlichen  Meinung 
sich  eine  Entfremdung  gegenüber  Rußland  kundgebe,  rühre  von  den 
Vorgängen  in  Kronstadt  sowie  davon  her,  daß  der  Zar  zweimal  deut- 


Nissen,  Mitteilung  von  der  erfolgten  Verlängerung  des  Dreibundes  gemacht  hatte. 
Über  die  Verstimmung,   die  der  Abschluß   des  neuen   Dreibundvertrages   (6.  Mai 
1891)  bei  Kaiser  Alexander  zurückgelassen  hatte,  siehe  Kap.  XLVII,  Nr.  1502. 
*  Vgl.  Nr.  1621;  ferner  Kap.  XLV,  Nr.  1428,  Fußnote,  und  Kap.  XLVII. 

372 


sches  Gebiet  berührt  habe*,  ohne  unserm  Kaiser  seinen  Besuch  zu 
machen.  Der  Kronprinz  entgegnete,  daß  die  Kronstadter  Feste  dem 
Zaren  über  den  Kopf  gewachsen  seien;  die  Anhörung  der  Marseillaise 
sei  schließlich  nichts  Absonderliches,  da  jenes  Lied  nun  einmal  die  Na- 
tionalhymne der  französischen  Republik  sei.  Dagegen  beruhe  allerdings 
der  unterlassene  Besuch  am  preußischen  Hofe  nicht  in  der  Bequem- 
lichkeit des  Zaren  oder  in  seiner  zahlreichen  Reisegesellschaft,  sondern 
in  seinem  bestimmten  Willen,  unserm  Kaiser  die  Unzufriedenheit  über 
dessen  Politik  kundzutun.  —  Die  Annahme  des  deutschen  Kaisers,  daß 
die  Königin  von  Dänemark  den  Zaren  zur  Unterlassung  des  Besuchs 
bestimmt  habe,  sei  unzutreffend.  Die  Königin  sei  sehr  gescheit,  intrigant 
und  antideutsch  gesinnt,  er  glaube  jedoch  nicht,  daß  sie  den  Zaren  in 
dieser  Beziehung  beeinflußt  habe;  allerdings  werde  sie  ihm  auch  nicht 
zugeredet  haben,  seinen  Besuch  zu  machen.  Auf  meine  Bemerkung, 
daß  der  Zar  voraussichtlich,  wie  schon  früher,  durch  entstellte  und 
falsche  Mitteilungen  über  unsere  Politik  und  speziell  einzelne  Aus- 
sprüche des  Kaisers  zu  seinem  Entschluß  gebracht  worden  sei,  sagte 
der  Kronprinz,  er  würde  es  für  sehr  wünschenswert  halten,  wenn  die 
beiden  hohen  Herren  sich  einmal  offen  und  gründlich  aussprechen 
könnten,  und  glaube  er,  daß  hierzu  eine  Begegnung  an  einem  neutralen 
Orte  der  geeignete  Weg  sei.  Er  habe  an  eine  Zusammenkunft  in  Däne- 
mark aus  Anlaß  der  goldenen  Hochzeit  in  diesem  Frühjahr  gedacht, 
allein  Seine  Majestät  der  Kaiser  habe  ihm  gestern  bestimmt  gesagt, 
daß   er  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  nach   Dänemark  gehen  werde. 

Ich  sagte  dem  Kronprinzen,  daß  eine  offene  Aussprache  der  beiden 
Monarchen  gewiß  nützlich  sein  werde,  eine  Begegnung  an  einem  neu- 
tralen Orte  würde  ich  jedoch  nicht  befürworten  können;  nachdem  der 
Zar  entgegen  den  bestehenden  Regeln  der  Courtoisie  zweimal  durch 
Deutschland  gereist,  ohne  unsern  Kaiser  zu  sehen,  würde  unsere  öffent- 
liche Meinung  nicht  verstehen,  wenn  unser  Kaiser  mit  dem  Zaren  an 
einem  andern  Orte  zusammentreffe  als  hier  in  Berlin;  zudem  böte  an 
einem  neutralen  Orte  die  Etikettenfrage  so  große  Schwierigkeiten,  daß 
auch  aus  diesem  Grunde  dieser  Weg  nicht  wohl  gangbar  sei.  Der  Kron- 
prinz kam  dann  auf  die  finanzielle  Lage  Rußlands  und  glaubte  dieselbe 


*  Am  25.  September  1891  hatte  das  russische  Kaiserpaar,  von  Kopenhagen  kom- 
mend, Berlin  passiert;  am  31.  Oktober  landete  es  wieder,  von  der  dänischen  Haupt- 
stadt zurückkehrend,  in  Danzig,  um  die  Reise  ohne  Aufenthalt  zu  Lande  fort- 
zusetzen. Am  Berliner  Hofe  berührte  es  peinlich,  daß  weder  die  eine  noch  die 
andere  Gelegenheit  zu  einer  Enviderung  des  kaiserlichen  Besuchs  in  Narwa- 
Peterhof  ausgenutzt  wurde.  Vgl.  die  entschuldigenden  Äußerungen  Giers'  zu 
Reichskanzler  von  Caprivi  vom  25.  November  1891.  Kap.  XLVH,  Nr.  1514.  Ganz 
anders  freilich  äußerte  sich  Giers  am  21.  November  zu  dem  französischen  Minister 
Ribot,  laut  dessen  Aufzeichnung:  „L'Empereur  n'a  pas  voulu  s'arreter  ä  Bedin 
parcequ'il  lui  est  impossible  de  prendre  un  »visage  composex.  II  ^tait  trop  irrite 
contre  TAIlemagne  pour  pyouvoir  faire  des  politesses  ä  l'Empereur."  Troisieme 
Livre  Jaune  Frangais.    L'AUiance  Franco-Russe,  p.  35. 

373 


auf  Grund  seiner  Informationen  in  Petersburg  als  sehr  schlecht  be- 
zeichnen zu  sollen.  Ich  sagte  ihm,  daß  bei  uns  die  Regierung  [sich]  in 
der  Frage  etwaiger  neuer  russischer  Anleihen  neutral  halte,  die  öffent- 
liche Meinung  dagegen  —  zumal,  nachdem  Frankreich  ebenfalls  den 
Abschluß  neuer  Anleihen  verweigere  —  gegen  jeden  Versuch  deutscher 
Bankiers,  deutsches  Kapital  nach  Rußland  zu  bringen,  entschieden  Stel- 
lung nehme,  pp. 

Marschall 


Nr.  1623 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  55  St.  Petersburg,  den  12.  Februar  1892 

Ganz  vertraulich 

Die  hohen  Erlasse  Nr.  57  vom  4.  und  Nr.  65  vom  9.  d.  Mts.*  habe 
ich  zu  erhalten  die  Ehre  gehabt,  und  verbinde  nun  mit  ehrerbietigem 
Danke  für  diese  hochgeneigten  Mitteilungen,  welche  sich  auf  die  Unter- 
redung des  Grafen  Kälnoky  mit  dem  Fürsten  Lobanow  bezogen,  den 
Versuch,  die  hieran  geknüpften  Fragen  zu  beantworten. 

Dem  Berichte  des  Prinzen  Reuß  vom  30.  v.  Mts.  zufolge  hat  der 
russische  Botschafter  in  Wien  die  Aufregung,  welche  Herr  von  Giers 
unlängst  zeigte,  durch  Hetzereien  hiesiger  Militärs,  die  den  Krieg 
wollten,  zu  erklären  gesucht;  Fürst  Lobanow  hat  recht,  wenn  er  an- 
nimmt, daß  die  Aufgabe  des  russischen  Ministers  durch  Generale  er- 
schwert wird,  welche  nicht  müde  werden,  das  Mißtrauen  des  Zaren 
gegen  Österreich-Ungarn  zu  nähren ;  daß  aber  diese  Generale  jetzt 
den  Krieg  wollen,  ist  höchst  unwahrscheinHch;  doch  selbst  wenn  einige 
hervorragende  und  ehrgeizige  Militärs,  auf  Frankreich  rechnend,  auch 
jetzt  unter  ungünstigen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  und  vor  Vollendung 
der  Neubewaffnung  zum  Kriege  drängen  sollten,  so  sind  sie  vereinzelt. 
Wenn  unter  „Partei"  eine  größere  Anzahl  von  Personen  zu  verstehen  ist, 
welche  zur  Erreichung  eines  gemeinsamen  Zweckes  im  Einverständnis 
untereinander  zusammenwirken,  so  gibt  es  in  Rußland  keine  Kriegs- 
partei, und  hat  auch,  seit  ich  hier  bin,  keine  gegeben. 

Angesichts  der  alles  Maß  übersteigenden  Rüstungen,  der  Sprache 
der  Zeitungen  und  der  feindlichen  Demonstrationen  aller  Art  muß 
diese  Behauptung  näher  begründet  werden.  Zunächst  ist  oft  Gesagtes 
zu  wiederholen,  nämlich,  daß  viele  gebildete  Russen  den  Krieg  wün- 
schen, weil  sie  mit  Sicherheit  darauf  rechnen,  daß  er  zum  Sturze  des 


•  Siehe  Bd.  IX,  Kap.  LV,  Nr.  2125. 
374 


herrschenden  Systems  führen  werde.  Die  Zahl  der  Unzufriedenen, 
welche  diese  Anschauung  teilen,  ist  sehr  groß;  viele  von  ihnen  hoffen 
jetzt,  daß  die  Übelstände,  welche  die  Mißernte  zutage  fördert,  diejenige 
Wirkung  haben  mögen,  welche  sie  von  kriegerischen  Mißerfolgen  er- 
warteten. Den  unteren  Schichten  der  Gesellschaft  und  den  großen 
Massen  des  Landvolkes  ist  alle  Kriegslust  fremd,  wenn  auch  die  un- 
ausgesetzte Aufstachelung  durch  die  Presse  den  Wunsch,  daß  die 
Deutschen  und  die  Österreicher  einmal  tüchtig  geschlagen  werden 
möchten,  im  ganzen  Lande  angeregt  hat;  dies  ist  auch  der  Lieblings- 
gedanke, mit  welchem  in  hohen  Kreisen  gespielt  wird,  ohne  den  Willen, 
auf  eigene  Gefahr  seine  Verwirklichung  zu  unternehmen.  Weder  am 
Hofe  noch  in  der  hohen  Beamtenwelt,  noch  im  Reichrat  und  am 
wenigsten  im  ganzen  Bestände  des  Ministeriums  des  Äußern  wüßte 
ich  eine  Persönlichkeit  zu  bezeichnen,  von  welcher  sich  sagen  ließe, 
daß   sie   mit   Bewußtsein   zum   Kriege   treibe. 

Tiefer  eingehende  Prüfung  erfordert  der  Geist  des  Heeres;  um  ihn 
zu  schildern,  muß  ich  in  die  Zeit  zurückgreifen,  in  welcher  die  jetzige 
Armee,  die  Schöpfung  Dimitri  Miljutins,  aus  den  alten  Truppenkörpern 
mit  25  jähriger  Dienstzeit  neu  erstanden   ist. 

Nach  dem  Krimkriege  wurde  während  sechs  Jahren  nicht  rekru- 
tiert; der  Kaukasus  war  1859  pazifiziert;  Schamyl  gefangen  worden,  und 
der  Generalstabschef  des  siegreichen  Fürsten  Bariatinski,  General  Mi- 
Ijutin,  wurde  Kriegsminister.  Die  Bauernbefreiung  erfolgte  1861,  der 
polnische  Aufstand  1862  und  63;  ganz  Europa,  außer  Preußen,  nahm 
Partei  für  die  Polen,  allerdings  nur  mit  gemeinsamem  Notensturm 
gegen  Rußland;  dies  war  der  Augenblick,  in  welchem  Katkow  die 
von  Alexander  Herzen  beherrschte,  im  europäischen  Sinne  revolu- 
tionäre Stimmung  der  russischen  Gesellschaft  in  die  jetzt  so  hoch 
gesteigerte  nationalrussische  wie  mit  einem  Zauberschlage  umwandelte. 

Während  unter  dieser  mächtigen  Bewegung  die  übereilten  alexan- 
drinischen  Reformen  sich  überstürzten,  begründete  der  Kriegsminister 
Miljutin  sein  wohldurchdachtes  System,  welches  während  voller  zwanzig 
Jahre  mit  eiserner  Konsequenz  durchzuführen  ihm  vergönnt  war. 

Die  wunderbare  Art,  in  welcher  sich  der  Übergang  aus  dem  Alten 
in  völlig  Neues  vollzog,  zu  schildern,  ist  hier  nicht  der  Platz;  ich  will 
nur  erwähnen,  daß  zur  Zeit,  als  ich  hierher  kam  (1865),  drei  Jahr- 
gänge alter,  länger  als  12  Jahre  dienender  Soldaten,  und  zwei  Jahr- 
gänge junger,  von  der  Leibeigenschaft  befreiter  Leute,  bei  den  Fahnen 
waren.  Die  Prügelstrafe  war  abgeschafft,  die  Behandlung  eine  über- 
aus milde,  die  Verpflegung  eine  bessere  geworden,  und  nirgends 
wurde   die   so   plötzlich   eintretende   Erleichterung  gemißbraucht. 

Nun  schritt  Miljutin  sofort  zu  dem  Werke,  welches  sein  größtes 
werden  sollte,  und  mit  dessen  Resultaten  wir  es  jetzt  zu  tun  haben: 
er  gründete  zwei  Kriegsschulen,  viele  Junkerschulen  und  Militärgymna- 
sien und  nährte  in  allen  russischen  Geist  und  Eifer  zum  Lernen;  die 

375 


modernen  Anschauungen,  die  Vorliebe  für  die  exakten  und  Naturwissen- 
schaften kamen  zur  Geltung,  die  nationalen  Gesinnungen  wurden  mehr 
gepflegt  als  die  ritterlichen  und  monarchischen;  der  größte  Teil  aller 
jetzt  dienenden  russischen  Offiziere  bis  zu  den  Regimentskommandeuren 
und  jüngeren  Generalen  hinauf  ist  aus  Miljutins  Erziehungsanstalten 
hervorgegangen;  am  deutlichsten  aber  tragen  die  Mitglieder  des  General- 
stabes den  Stempel  seiner  Geistesrichtung.  Miljutin  war  mehr  Erzieher 
als  Soldat;  was  ihm  an  den  Eigenschaften  des  letzteren  fehlte,  besitzt 
General  Wannowski  in  hohem  Grade  und  hat  es  während  seiner  jetzt 
schon  zehnjährigen  Amtsführung  betätigt;  dies  hat  viel  dazu  beigetragen, 
daß  die  russische  Armee  die  hohe  Stufe,  auf  welcher  sie  jetzt  steht, 
erreichen  konnte,  während  so  vieles  andere  im  Reiche  zurück- 
gegangen ist. 

Während  mehr  als  dreißig  Jahren  hat  sich  im  Kriegsministerium 
nur  einmal,  während  siebenundsiebzig  Jahren  im  Ministerium  des 
Äußern  nur  zweimal  ein  Personenwechsel  vollzogen. 

Zu  spät  erkannte  der  Feldmarschall  Fürst  Bariatinski  die  Ziele, 
nach  denen  sein  ehemaliger  Stabschef  strebte,  und  doch  hätte  er  vor- 
aussehen können,  daß  dieser  ähnliche  demokratische  oder  richtiger 
gesagt  allem  Vornehmen  feindliche  Tendenzen  verfolgen  werde,  wie 
sein  hochbegabter  Bruder  Nikolai  Miljutin,  mit  welchem  der  andere 
Feldmarschall,  Graf  Berg  in  Warschau,  zu  rechnen  hatte.  Es  gab  da- 
mals noch  vornehme  Herren  in  der  russischen  Armee,  wirkliche  Grand- 
seigneurs,  unter  denen  die  beiden  genannten  Marschälle,  die  Brüder 
Stroganow  und  Fürst  Simon  Woronzow,  hervorragten;  Fürst  Baria- 
tinski, vom  Grafen  Berg  unterstützt,  und  mit  Hülfe  des  jungen,  vom 
Zaren  und  vom  Thronfolger  verzogenen  Grafen  Woronzow-Daschkow, 
machte  einen  vergeblichen  Versuch,  den  Kriegsminister  zu  stürzen;  er 
bediente  sich  hierbei  der  Feder  des  gewandten,  aber  gesinnungslosen 
Generals  Fadejew.  Dieser,  jetzt  fast  in  Vergessenheit  geratene  Mann, 
aus  dessen  Schriften  ich  damals  Auszüge  machte  und  Seiner  Majestät 
dem  Könige  einreichte,  ist  der  eigentliche  Schöpfer  oder  wenigstens 
Kodifikator  des  russischen  Generalstabschauvinismus;  das  bekannte 
Schlagwort:  „der  Weg  nach  Konstantinopel  führt  über  Wien",  rührt 
von  Fadejew  her.  Gleichzeitig  trat  Obrutschew  als  Militärschriftsteller 
auf  und  Dragomirow  als  Taktiker.  Dies  waren  die  bedeutendsten  unter 
den  Professoren  an  der  Generalstabsakademie,  der  eigentlichen  Pflanz- 
schule für  Miljutinsche  Ideen.  Dragomirow,  mit  welchem  ich  viel  ver- 
kehrte, und  der  erst,  nachdem  er  im  böhmischen  Feldzuge  bei  uns  viel 
Freundlichkeiten  genossen  hatte,  Preußenhasser  wurde,  sprach  schon 
damals  die  österreichfeindlichen  Absichten  aus,  die  er  heute  noch  ver- 
tritt; auf  der  Landkarte  suchte  er  mir  zu  beweisen,  daß  Rußland 
Galizien  bis  zu  den  Karpathen  besitzen  müsse;  in  solchen  Gesprächen 
sagte  er  wohl  auch  gelegentlich,  es  sei  eine  Anomalie,  daß  der  Njemen, 
dessen  ganzer  Lauf  in   Rußland  liege,  gerade  dort,   wo  ihn  die  An- 

376 


vvohner  „Russ"  nennen,  aufhöre,  ein  russischer  Strom  zu  sein.  Ein 
junger  Offizier  von  den  Grodnohusaren,  Skobelew,  zählte  damals  zu 
den  begabtesten  und  fleißigsten  Schülern  der  Akademie;  dies  war  der 
Mann,  welcher  fünfzehn  Jahre  später  eine  Kriegspartei  bilden  wollte 
und  der  alle  hierzu  nötigen  Eigenschaften  besaß;  es  würde  ihm  wahr- 
scheinlich gelungen  sein,  wenn  ihn  die  Vorsehung  nicht  abberufen  hätte; 
an  Nachahmern  hat  es  ihm  nicht  gefehlt,  aber  keiner  hat  Erfolg  gehabt. 

Der  Krimkrieg,  und  mehr  noch  der  polnische  Aufstand,  welcher 
der  kurzen  in  Stuttgart  geschlossenen  Freundschaft  mit  Frankreich  ein 
Ende  machte,  hatten  den  Beweis  geliefert,  daß  eine  Koalition  aller 
europäischen  Mächte  gegen  Rußland  nicht  unmöglich  sei;  General 
Miljutin  stellte  sich  die  Aufgabe,  sein  Vaterland  gegen  eine  solche  Ge- 
fahr zu  sichern;  er  hat  mir  dies  damals  selbst  gesagt,  und  alles,  was 
er  seitdem  getan  hat,  spricht  dafür:  da  Preußen  durch  den  böhmischen 
Krieg  mächtig  und  von  Rußland  unabhängig  geworden  war,  so  richtete 
er  vor  allem  anderen  seine  Sicherungsmaßregeln  gegen  uns;  er  ließ 
das  russische  Bahnnetz  in  der  Weise  vervollständigen,  welche  als  die 
vorteilhafteste  angesehen  werden  muß,  um  die  Heeresmacht  gegen  die 
preußischen  Grenzen  hin  zu  konzentrieren;  die  ersten  strategischen 
Linien,  welche  er  bauen  ließ,  waren  nicht  auf  einen  Krieg  gegen  Öster- 
reich und  noch  weniger  auf  einen  Türkenkrieg  berechnet;  wenn  es 
nicht  ohnehin  bekannt  wäre,  daß  er  letzteren  nicht  wollte,  so  würde  es 
aus  seiner  Eisenbahnpolitik  sich  ergeben;  er  bestand  auf  dem  Ausbau 
der  in  Brest-Litowsk  konvergierenden  Linien  und  verhinderte  die  von 
uns  gewünschten  polnischen  Bahnanschlüsse.  Als  nach  dem  französi- 
schen Kriege  aus  Norddeutschland  ein  Deutsches  Reich  geworden  war, 
verdoppelte  Miljutin  seine  Augmentationen  und  beschleunigte  die  Aus- 
führung seines  Programms  der  Truppenmassierung  im  westlichen  Ge- 
biete. Die  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  im  Jahre  1874,  die 
Verkürzung  der  Dienstzeit,  die  Vermehrung  der  Kavallerie  und  Ar- 
tillerie und  die  Bildung  von  24  Reserve-Infanterie-Divisionen  sowie  die 
Anlage  großer  Befestigungen,  dieses  alles  gehört  noch  in  Miljutins  Pro- 
gramm, dessen  folgerichtige  Ausführung  und  Erweiterung  wir  jetzt  vor 
Augen  haben. 

Der  sowohl  Alexander  IL  wie  seinem  Kriegsminister  unwillkommene 
Türkenkrieg  unterbrach  das  systematische  Vorgehen  des  letzteren; gleich 
nach  dem  Frieden  ging  er  aber  mit  erhöhter  Energie  ans  Werk;  fast 
die  ganze  Kavallerie  wurde  aus  den  futterreichen  Gouvernements  in 
unwirtliche  Quartiere  nahe  an  der  preußischen  Grenze  verlegt. 

Als  nach  dem  Berliner  Kongreß  die  deutsch-russischen  Beziehun- 
gen schlecht  wurden,  wuchs  die  Bedeutung  so  umfassender  kriegerischer 
Vorbereitungen;  unsere  Aufmerksamkeit  war  schon  seit  1876  und  auch 
noch  früher  auf  letztere  gerichtet;  auch  sind  sie,  und  namentlich  die 
Anhäufung  der  Reiterei  und  bespannter  Batterien  in  den  Grenzbezirken, 
mehrfach   Gegenstand  von    Unterredungen   zwischen   dem   verewigten 

377 


Zaren  und  mir  gewesen,  wobei  Seine  Majestät  sehr  reizbar  wurde  und 
schließlich  erklärte,  nicht  mehr  darüber  sprechen  zu  wollen. 

Dennoch  drückte  ich  in  meiner  Berichterstattung  unter  anderem 
in  einer  eingehenden  Abhandlung  vom  22.  März  1879  die  Überzeugung 
aus,  daß  die  unausgesetzte  Vermehrung  der  Streitkräfte  nicht  durch 
kriegersiche  Absichten  der  maßgebenden  Personen  veranlaßt  werde, 
und  daß  solche  Pläne  beim  russischen  Volke  keiner  Ermutigung,  sondern 
dem  Widerstände  der  Trägheit  begegnen  würden ;  ich  fügte  aber  damals 
hinzu  und  wiederhole  jetzt,  daß  unter  der  Masse  von  Offizieren  und 
inmitten  eines  sich  überhebenden  Generalstabes  unter  dem  Einfluß 
einer  national  überreizten  Presse  chauvinistische  Ideen  nicht  ausbleiben 
können. 

Zwei  von  den  maßgebenden  Persönlichkeiten,  welche  ich  damals 
ins  Auge  fassen  mußte,  sind  vom  Schauplatze  abgetreten;  Alexander II. 
würde,  wie  ich  aus  genauer  Kenntnis  seiner  ganzen  Natur  annehmen 
durfte,  aus  Pietät  für  das  Andenken  seiner  Mutter  nur  gezwungen 
zum  Kriege  gegen  uns  geschritten  sein;  General  Miljutin  aber  erblickte 
in  der  Armee  weniger  ein  Instrument  zur  Vermehrung  äußerer  Macht 
als  ein  Institut  zur  Volksbildung  in  seinem  auf  freiheitliche  Entwickelung 
im  Innern  gerichteten  Sinne.  Aber  der  dritte  unter  den  Begründern 
des  strategischen  Systems  steht  noch  in  voller  Wirksamkeit,  und  zwar 
der  geistige  Träger  desselben:  daß  General  Obrutschew  den  Krieg 
wünscht,  kann  ich  weder  behaupten  noch  bestreiten;  es  wäre  fast  un- 
natürlich, wenn  er  es  nicht  täte;  ein  General,  der  seiner  Begabung  und 
Überlegenheit  bewußt,  sein  ganzes  Leben  dazu  verwendet  hat,  die 
Kräfte  eines  Volkes  von  hundert  Millionen  für  eine  einzige  ungeheure 
Anstrengung  zu  sammeln,  muß  wünschen,  die  Kraftprobe  zu  machen, 
ehe  er  zu  alt  dazu  ist.  Dennoch  halte  ich  ihn  für  zu  bedachtsam,  als  daß 
er  jetzt  zum  Kriege  treiben  sollte,  aber  selbst  wenn  er  es  täte,  so  würde 
ich  ihn  doch  nicht  als  das  Haupt  einer  Kriegspartei  bezeichnen  können; 
ein  Parteiführer  ist  General  Obrutschew  nicht.  Nun  ist  aber  bei  Unter- 
suchung der  so  wichtigen  Frage,  ob  wir  es  hier  mit  einer  Kriegspartei 
zu  tun  haben,  noch  ein  anderer  bedeutender  Faktor  in  Betracht  zu 
ziehen,  nämlich  der  Kriegsminister  als  solcher  und  als  maßgebender 
Mitleiter  der  zentralasiatischen  Politik.  General  Wannowski  ist  ein 
hoch  achtbarer  Mann  und  Soldat  im  vollen  Sinne  des  Wortes;  als  solcher 
kann  er  den  Krieg  nicht  scheuen ;  als  Minister  kann  er  ihn  gerade  jetzt, 
noch  ehe  er  fertig  ist,  nicht  wünschen. 

Was  nun  die  mittelasiatischen  Dinge  betrifft,  so  hat  es  damit  eine 
ganz  eigene  Bewandtnis:  die  Zentralleitung  der  russischen  Diplomatie 
muß  die  Machtstellung  in  Transkaspien,  in  Turkestan  und  im  Amurlande 
ausnutzen,  um  ihre  Gesamtpolitik,  vornehmlich  ihre  Stellung  zu  Groß- 
britannien, zu  stärken.  Der  Kriegsminister  aber  muß  vor  allem  dar- 
auf Bedacht  nehmen,  die  Machtstellung  in  den  genannten  sehr  exponier- 
ten Gebieten  zu  erhalten,  für  die  Sicherheit  der  dort  stehenden  Truppen 

378 


zu  sorgen  und  das  hierzu  in  Asien  unbedingt  notwendige  Prestige  zu 
wahren.  General  Wannowski  und  sein  asiatischer  Stab  darf  also  in 
manchen  Fällen  nicht  so  nachgiebig  sein,  wie  Herr  von  Giers  es  wünscht, 
um  Reibungen  mit  England  zu  vermeiden.  Wenn  von  Schwierigkeiten 
die  Rede  ist,  welche  dem  Minister  des  Äußern  von  Generalen  bereitet 
werden,  so  ist  hierbei  gewöhnlich  an  die  asiatischen  Befehlshaber  zu 
denken. 

Nach  meinem  ehrerbietigen  Dafürhalten  ist  Rußlands  Stellung  in 
Mittelasien  nicht  so  stark,  wie  vielfach  angenommen  wird;  wenn  russi- 
sche Zeitungen  so  sprechen,  als  wenn  der  Bestand  der  indobritischen 
Herrschaft  nur  von  seinem  guten  Willen  abhinge,  so  ist  dies  eine  Rodo- 
montade.  Ich  gehe  nicht  so  weit  wie  Herr  Schischkin,  der  mir  neulich 
in  einer  streng  vertraulichen  Unterredung  sagte:  „wir  sind  unserer 
Stellung  in  Mittelasien  nicht  sicher  von  einem  Tage  zum  andern",  aber 
ich  glaube,  daß  ein  großer  Teil  der  Kirgisen  in  Turkestan  und  in  den 
Chanaten  und  die  Masse  der  Turkmenen  in  Transkaspien  bei  günstiger 
Gelegenheit  über  die  Russen  herfallen  würden.  Noch  wirkt  die  furcht- 
bare Lektion,  welche  Skobelew  den  Turkmenen  bei  Geok  Tepe*  erteilt 
hat,  nach,  aber  elf  Jahre  sind  seitdem  vergangen,  und  allmählich  wächst 
eine  Generation  heran,  welche  jene  Schrecknisse  nicht  mit  erduldet  hat. 

Der  Generalgouverneur  von  Turkestan  hat  freilich  mindestens 
26000  Mann  zu  seiner  Verfügung,  und  General  Kuropatkin  15000;  aber 
ihre  Verbindung  mit  dem  Kaspischen  Meere  beruht  auf  einer  Eisenbahn, 
die  leicht  zerstört  werden  kann  und  welche  überdies  wenig  leistungs- 
fähig ist,  schon  aus  dem  Grunde,  daß  es  an  Wasser  für  die  Lokomotiven 
mangelt;  sie  würde,  wie  man  mir  sagt,  nicht  mehr  als  drei  oder  vier- 
hundert Mann  an  einem  Tage  befördern  können.  Die  Turkmenen  sind 
gefährliche  Gegner,  wie  der  klägliche  Ausgang  der  Lazarewschen 
Expedition  im  Jahre  1879  bewiesen  hat,  und  die  Russen  würden  nicht 
immer  so  leichte  Siege  erkämpfen,  wie  bei  dem  letzten  Gefechte  auf 
asiatischem  Boden  unter  General  Komarow  gegen  die  Afghanen  zur 
Zeit  des  Streites  um  Pendschdeh. 

Der  Kriegsminister,  der  Generalstabschef  und  die  asiatischen  Spe- 
zialisten, unter  denen  General  Kuropatkin  und  Oberst  Jonow  die  be- 
deutendsten sind,  haben  also  allen  Grund,  darüber  zu  wachen,  daß  die 
Russenfurcht,  auf  welcher  ihre  Sicherheit  beruht,  nicht  durch  Nach- 
giebigkeit des  auswärtigen  Ministeriums  den  Engländern  gegenüber  in 
Mittelasien  vermindert  werde,  auch  in  Persien  nicht. 

Die  gegenwärtigen  Chefs  in  Taschkent  und  Aschabad,  Baron 
Wrewski  und  General  Kuropatkin,  sind  zuverlässige  Männer,  welche 
die  Regierung  nicht  mutwillig  in  Verwickelungen  bringen  werden;  in 
ihren  Hauptquartieren  gibt  es  freilich  viele  katilinarische  Existenzen, 
und  die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß  die  Verhältnisse,  unter  welchen  die 


*  Die   Erstürmung  der  Festung  Geok  Tepe  fand  am  12.  Januar  1881    statt. 

379 


russischen  Offiziere  in  Zentralasien  leben,  wohl  geeignet  sind,  Unter- 
nehmungslust und  kriegerische  Eigenschaften  zu  fördern;  es  hat  der 
Regierung  Mühe  genug  gekostet,  den  Eroberer  von  Taschkent,  General 
Tschernajew,  endlich  zur  Ruhe,  wenn  auch  nicht  zum  Schweigen  zu 
bringen;  daß  es  diesem  Manne  nie  gelungen  ist,  eine  Kriegspartei  um 
sich  zu  scharen,  spricht  auch  dafür,  daß  es  an  Elementen  zu  einer 
solchen  fehlt. 

Wenn  ich  hiermit  die  Aufgabe,  welche  mir  der  hohe  Erlaß  Nr.  57 
vom  4.  d.  Mts.  stellte,  erfüllt  und  meine  Beobachtungen  in  der  Richtung 
des  Bestehens  einer  Kriegspartei  in  Rußland  zusammengefaßt  habe, 
so  bleibt  noch  die  Beantwortung  der  im  Erlaß  Nr.  65  vom  9.  d.  Mts. 
enthaltenen  Frage  übrig,  ob  die  von  russischen  Staatsmännern  periodisch 
zur  Schau  getragenen  Befürchtungen  vor  angeblichen  feindlichen  Ab- 
sichten Österreichs  wirklich  aufrichtig  gemeint  sind. 

Trotz  seiner  Verehrung  für  Kaiser  Franz  Joseph  hat  Alexander  III. 
ein  tief  wurzelndes  Mißtrauen  gegen  die  österreichisch-ungarische  Po- 
litik und  eine  sehr  geringe  Meinung  von  der  Widerstandsfähigkeit  des 
Wiener  Kabinetts  gegen  ungarische  und  polnische  Bestrebungen.  Aus 
diesen  Gesinnungen  macht  der  Zar  kein  Geheimnis;  fast  in  jeder 
politischen  Unterhaltung,  mit  welcher  er  mich  im  Laufe  der  Jahre  be- 
ehrte, hat  er  sie  in  starken  Ausdrücken  zu  erkennen  gegeben.  Der 
Kriegsminister  und  die  Generale  Dragomirow  und  Gurko  kennen  diese 
Auffassung  des  Monarchen  und  bestärken  ihn  in  derselben;  neue  Geid- 
forderungen  für  Augmentationen,  Dislokationen,  Befestigungen,  Bahn- 
und  Straßenbauten  werden  Seiner  Majestät  gegenüber  mit  dem  fast  zum 
Axiom  gewordenen  Satze  motiviert,  daß  Österreich-Ungarn,  Deutsch- 
lands  sicher,  Rußland  angreifen  wolle.  Die  wiederholten,  nur  ungern 
eingestellten  Bemühungen  des  Herrn  von  Giers,  „etwas  Schriftliches 
zu  haben,  nur  ein  paar  Zeilen",  wodurch  Rußland  gegen  einen  solchen 
Angriff  gesichert  würde,  erklären  sich  aus  dieser  vorgefaßten  Meinung, 
Durch  unsere  Abweisung  der  an  uns  gestellten  Zumutung  wurde  man 
in  jenem  Wahne  bestärkt  und  zur  Annäherung  an  Frankreich  bestimmt. 
Herr  von  Giers  geht  in  seinem  Mißtrauen  nicht  so  weit  wie  der  Zar 
und  in  seinen  Besorgnissen  nicht  so  weit  wie  die  Generale;  er  ist  aber 
nicht  stark  genug,  um  ihren  Verdächtigungen  der  Wiener  Politik  Schran- 
ken zu  setzen ;  grade  hierzu  bedurfte  er  so  dringend  der  „paar  Zeilen". 

Die  Nachrichten,  welche  in  neuester  Zeit  das  russische  Mißtrauen 
gegen  Österreich  so  auffallend  gesteigert  haben,  sind  gewiß,  wie  Fürst 
Lobanow  zugab,  aus  serbischen  Quellen  geflossen,  aber  auch  in 
ruhigeren  Zeiten  fehlt  es  nicht  an  Berichten  aus  den  Grenzprovinzen 
und  aus  den  Donauländern,  welche  den  Verdacht,  daß  Österreich 
aggressive  Pläne  verfolge,  rege  erhalten. 

So  unwahrscheinlich  es  auch  klinge,  so  muß  ich  doch  die  Über- 


*  Siehe  Kap.  XLIV:  Nichterneuerung  des  Rückversicherungsvertrages. 
380 


i 


feugung  aussprechen,  daß  die  in  Rede  stehenden  Besorgnisse  russi- 
scher Staatsmänner  aufrichtig  gemeint  sind,  und  ich  muß  die  nicht 
minder  schwer  zu  erklärende  Tatsache  anführen,  daß  man,  nicht  im 
Ministerium  des  Äußern,  aber  am  Hofe,  in  der  Gesellschaft  und  in  politi- 
schen Kreisen  seit  einigen  Monaten  gegen  uns  noch  mißtrauischer  ist 
als  gegen  Österreich. 

Ich  wollte  dies  anfänglich  nicht  glauben,  als  es  mir  von  Herrn 
Pobedonoszew  (Bericht  Nr.  366  vom  25.  November  v.  Js.*)  gesagt  und 
von  Herrn  von  Giers,  der  bei  seiner  Rückkehr  vom  Urlaube  ebenso  er- 
staunt darüber  war  wie  ich,  bestätigt  wurde  (Bericht  Nr.  374  vom 
30.  November  v.  Js.**) ;  ich  habe  jedoch  seitdem  viele  Beweise  erhalten, 
welche  jeden  Zweifel  daran  ausschließen,  daß  man  in  höchsten  Kreisen 
Angriffspläne  bei  uns  vermutet.  Je  mehr  ich  mich  bemühte,  den  Grund 
und  den  Ursprung  dieser  Besorgnisse  zu  erforschen,  um  so  deutlicher 
erkannte  ich,  daß  sie  nicht  auf  dem  niedrigen  Felde  des  Geschwätzes 
und  der  Tagespresse  entsproßt,  sondern  von  oben  herunter  gedrungen 
waren.  Viele  unserer  Zeitungen,  besonders  diejenigen,  an  denen  balti- 
sche Emigranten  mitarbeiten,  führen  zwar  eine  so  gehässige  Sprache 
gegen  Rußland,  daß  sie  hier  Befürchtungen  kriegerischer  Absichten 
erregen  können,  aber  niemand  schließt  daraus  auf  Pläne  der  Regierung; 
CS  müssen  andere  Indizien  an  hoher  Stelle  vorgelegt  oder  vorgespiegelt 
worden  sein,  welche  vielleicht  von  dem  schlüpfrigsten  Boden  für  preußi- 
sche und  russische  Lebensfragen,  dem  polnischen,  hergekommen  sind. 

So  unbegründet  das  russische  Mißtrauen  gegen  uns  und  gegen 
Österreich  auch  sein  mag,  so  ist  es  doch  nicht  als  zur  Schau  getragen, 
sondern  als  aufrichtig  zu  bezeichnen;  durch  den  Ton,  in  welchem  die 
österreichisch-ungarische  und  ein  Teil  der  deutschen  Presse  über  den 
Notstand  spricht,  wird  das  Mißtrauen  bis  zur  ernsten  Besorgnis  ge- 
steigert, und  dies  ist  insofern  schädlich,  als  es  zu  erhöhter  Tätigkeit 
auf  militärischem  Gebiet,  wovon  Anzeichen  vorliegen,  und  zu  sorg- 
fältigerer Pflege  der  etwas  erkaltenden  französischen  Freundschaft  führt. 

v.Schweinitz 

*  Siehe  Nr.  1619,  Anlage. 

**  In  seinem  Berichte  vom  30.  November  (Nr.  374)  hatte  Schweinitz  ausführlich 
eine  Relation  wiedergegeben,  die  ihm  Minister  von  Giers  über  seine  Reise  nach 
Berlin,  Paris  usw.  erstattet  hatte.  Es  hieß  in  dem  Bericht  u.  a.:  „Hier  in  Peters- 
burg ist  Herr  von  Giers  schon  auf  dem  Bahnhofe  von  seinem  Vertreter  Herrn 
Schischkin  mit  der  Meldung  empfangen  worden,  daß  die  Furcht  vor  einem  deut- 
schen Angriff  allgemein  verbreitet  sei;  woher  dies  Gerücht  komme,  wisse  er 
nicht;  aber  alle  warteten  mit  größter  Spannung  auf  die  Nachrichten,  die  der 
Minister  mitbringe". 

„Bei  jedem  Schritt,  den  ich  tat,"  erzählt  Herr  von  Giers,  „fand  ich  dies 
bestätigt;  die  Leute  wollten  wissen,  was  ich,  nicht  aus  Paris,  sondern  aus  Berlin 
mitbringe,  und  ihre  Freude  war  groß,  als  sie  hörten,  daß  dort  alles  gut  stehe; 
ein  sehr  hochgestellter  Mann,  den  ich  nicht  nennen  will,  ist  dem  Grafen  Lams- 
dorff  (der  vertrauteste  Rat  des  Ministers)  um  den  Hals  gefallen,  als  ihm  dieser 
jene  Versicherung  gab." 

Kaiser  Wilhelm  II.  bemerkte  dazu  am  Rande:  „sie  sind  toll"! 

3S1 


Nr.  1624 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  68  St.  Petersburg,  den  20.  Februar  1802 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich,  einen  Bericht  des  Kaiserlichen 
Generalkonsuls  in  Moskau  gehorsamst  zu  unterbreiten,  in  welchem  Herr 
Bartels  meldet,  daß  dort  Besorgnisse  gehegt  werden,  Deutschland  wolle, 
die  Verlegenheiten  Rußlands  benutzend,  dieses  angreifen. 

Dem  Wunsche  des  Generalkonsuls,  daß  dieses  Gerücht  dementiert 
werde,  schließe  ich  mich  nicht  an,  weil  man  doch  füglich  nicht  zu 
erklären  braucht,  daß  man  nicht  beabsichtige,  eine  Torheit^  zu  begehen; 
die  große  und  zunehmende  Verbreitung  der  mehrerwähnten  Besorg- 
nisse darf  ich  aber  nicht  verschweigen.  Herr  von  Giers  tat  derselben 
Erwähnung,  nachdem  er  mir  seine  Freude  über  die  guten  Nachrichten 
ausgesprochen  hatte,  welche  er  durch  den  Grafen  Schuwalow  aus  Berlin 
erhält,  und  durch  die  er  zu  der  Hoffnung  berechtigt  wird,  daß  es, 
wenn  auch  langsam,  doch  zu  einer  Zollverständigung  kommen  werde*, 
welche  auch  Herr  von  Wyschnegradski  wünscht  und  mögUchst  zu  för- 
dern versprochen  hat. 

Je  befriedigender  die  Berichte  aus  Berlin  lauten,  um  so  unerklär- 
licher findet  es  der  russische  Minister,  daß  die  Furcht  vor  einem  deut- 
schen Angriffskriege  sich  immer  mehr  verbreitet;  „ernste,  hochstehende 
Männer**,  sagt  Herr  von  Giers,  „kommen  besorgt  zu  mir,  um  sich  zu 
informieren,  und  meine  Tochter  erzählt  mir,  wenn  sie  aus  einer  Tanz- 
gesellschaft zurückkehrt,  daß  die  jungen  Offiziere  sie  gefragt  haben, 
ob  es  denn  gewiß  sei,  daß  im  Frühjahr  Krieg  wird." 

Manche  meiner  Bekannten,  welche  russische  Diener  haben,  die 
militärpflichtig  sind  oder  in  Kasernen  verkehren,  hören  von  ihnen  vom 
nahen  Kriege  wie  von  einer  ausgemachten  Sache  sprechen. 

Hinreichend  bekannt  ist  die  Wertlosigkeit  des  Petersburger  Ge- 
schwätzes; diesmal  ist  es  ausnahmsweise  durch  die  russische  Presse 
nicht  angeregt  und  genährt  worden ;  es  hat  seinen  Ursprung  in  höheren 
Regionen  und  seine  Ursache  in  polnischen  Umtrieben  2. 

Die  preußisch-russischen  Beziehungen  sind  seit  hundert  Jahren 
vornehmlich  durch  die  Konsequenzen  der  Teilung  Polens  bestimmt 
worden,  welche  die  Interessengemeinschaft  der  beiden  nichtkatholischen 
Teilungsmächte  begründete;  unter  den  vielen  Beweisen  für  diese 
Fundamental  Wahrheit  ist  der  deutüchste  im  Aufstande  von  1862  zu  er- 
kennen, durch  welchen  das  diplomatische  Feld  für  unsere  nationale  Po- 
litik von  1864  und  1866  frei  gemacht  wurde.    Jede  Änderung  in  den 


•  Siehe  Kap.  L,  Nr.  1661,  Fußnote. 
382 


polnischen  Dingen  macht  sich  bald,  nicht  bloß  an  der  tausend  Kilometer 
langen  unnatürlichen  Grenze  fühlbar,  sondern  auf  dem  Gebiete  der 
Gesamtpolitik. 

Das  Bevorstehen  einer  solchen  Änderung  glaubt  man  jetzt  hier 
wahrzunehmen;  den  hierauf  deutenden  Symptomen  wird  durch  polni- 
sche und  jüdische  Unwahrheiten,  sowie  durch  die  Berichte  der  Militär- 
und  Zivilbehörden  im  Grenzlande  übertriebene  Wichtigkeit  beigelegt. 
„Jenen  Berichten  zufolge  sind  die  Polen",  so  sagte  Herr  von  Giers, 
auf  deren  sanguinisches  Temperament  hinweisend,  „überzeugt,  daß 
Kaiser  Wilhelm  ihr  Reich  wieder  herstellen  wird  3;  es  gibt  nichts  Großes 
und  Schönes,  was  sie  nicht  von  seinem  hohen  Geist  und  Mut  er- 
warten." 

Im  weiteren  Verlaufe  unserer  Unterredung,  deren  Offenherzigkeit 
durch  unsere  sechzehnjährige  Intimität  zu  entschuldigen  ist,  erzählte 
der  Minister,  daß  die  Wahl  des  Bischofs  Stablewski  eine  große  Wir- 
kung auf  die  Polen  hervorgebracht  habe,  daß  über  Herrn  von  Koscielsky 
viel  gesprochen  werde  und  dergleichen  mehr*.  Als  ich  Herrn  von  Giers 
fragte:  „Was  sagt  denn  eigentlich  Ihr  hoher  Gebieter  zu  diesen  Be- 
richten aus  Polen?",  antwortete  er:  „L'Empereur  n'a  pas  de  nerfs, 
11  a  des  Cordes;  er  bleibt  bei  allen  diesen  Nachrichten  ganz  ruhig;  als 
er  von  den  angeblichen  Begünstigungen  hörte,  welche  Ihren  Polen  jetzt 
zuteil  werden,  sagte  er:  ,Das  schadet  uns  nichts;  dafür  werden  die 
Deutschen  selber  bezahlen  müssen.*" 

Die  Erfahrungen,  welche  der  Vater  und  der  Großvater  mit  den 
Polen  gemacht  haben,  lassen  es  erklärlich  erscheinen,  wenn  Alexander  III. 
der  Überzeugung  ist,  daß  sie  Zugeständnisse  mit  Ansprüchen,  Wohltaten 
mit  Undank,  Vertrauen  mit  Verrat  zu  vergelten  pflegen"^. 

Dem  Gedanken  an  die  mögliche  Wiederherstellung  eines  polnischen 
Staates  wird  in  Rußland  wohl  wenig  Raum  gegeben ;  man  weiß,  daß 
die  wrertvoUsten  Bestandteile  eines  rekonstituierten  Polens  in  Galizien, 
Posen  und  Westpreußen,  nicht  aber  auf  russischem  Territorium  liegen 
würden;  in  den  ehemals  polnischen  Landen,  die  östlich  von  Weichsel, 

*  Dem  vielerörterten  polnischen  „Versöhnungskurs",  der  durch  die  auszeich- 
nende kaiserliche  Behandlung  des  flottenfreundlichen  Abgeordneten  von  Kosciel- 
ski,  die  Verfügung  des  preußischen  Kultusministers  Grafen  von  Zedlitz  wegen 
des  polnischen  Sprachunterrichts  (11.  April  1891)  und  durch  die  Ernennung  des 
Prälaten  von  Stablevvski  zum  Erzbischof  von  Posen  und  Gnesen  (2.  November 
1891)  illustriert  wird,  sind  in  der  Öffentlichkeit  vielfach  antirussische  Tendenzen 
untergeschoben  worden.  Die  Akten  des  Auswärtigen  Amtes  enthalten  nichts,  was 
dieser  Auffassung  zur  Stütze  gereichen  könnte.  Speziell  die  Ernennung  Stablew- 
skis, der  sich  allerdings  auf  dem  Thorner  Katholikentage  sehr  russenfeindlich  ge- 
äußert hatte  („wir  sind  Söhne  der  katholischen  Kirche,  deren  erbittertster  Feind 
Rußland  ist"),  ist  nach  den  Akten  nicht  sowohl  als  ein  Entgegenkommen  gegen 
die  Polen,  sondern  gegen  den  Römischen  Stuhl  zu  werten,  dem  die  preußische 
Regierung  nach  bereits  drei  abgelehnten  Kandidaten  (von  Poninski,  Szoldrski, 
Likowski)  nicht  auch  noch  den  vierten  abschlagen  wollte.  Aufzeichnung  Caprivis 
vom  17.  Oktober  1891. 

383 


Bug,  Narew  und  Njemen  liegen,  ist  das  Landvolk  größtenteils  orthodox 
und  dem  Einflüsse  der  katholischen  Edelleute,  die  ihren  Besitz  noch 
erhalten  haben,  entrückt;  auch  in  Kongreßpolen  würden  die  Bauern, 
deren  Lage  durch  die  russische  Regierung  wesentlich  verbessert  ist, 
wahrscheinlich  zu  ihr  stehen;  die  Industriellen  im  Weichsellande  be- 
finden sich  recht  wohl  mit  der  Schutzmauer  der  russischen  Zölle  hinter 
und  mit  einem  großen  Absatzgebiete  vor  sich;  außer  bei  den  Geist- 
lichen, den  Juden  und  einigen  Edelleuten  würde  ein  Regenerator 
Russisch-Polens  wenig  Unterstützung  in  diesem  Lande  finden,  in  wel- 
chem es  an  einem  tüchtigen  Bürgertum  fehlt. 

V.  Schweinitz 

Randbemerkungen   Kaiser  Wilhelms  II.: 

*  ?  Thorheit  wäre  das  nicht,  aber  eine  Gemeinheit 
3  und  in  dem  schlechten  Gewissen 

3  danke!  sehr  schmeichelhaft 

*  richtig 


Nr.  1625 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  66  >Vien,  den  8.  März  1892 

Vertraulich 

Für  die  mir  mittelst  hohen  Erlasses  Nr.  112  vom  23.  v.  Mts.  ge- 
neigtest gemachte  Mitteilung  des  Berichts  des  Kaiserlichen  Botschafters 
in  St.  Petersburg  vom  12.  Februar*,  die  russische  Politik  Deutschland 
und  Österreich  gegenüber  betreffend,  sage  ich  Euerer  Exzellenz  meinen 
verbindlichsten  Dank. 

Da  in  den  Gesprächen,  die  ich  mit  dem  Grafen  Kälnoky  seitdem 
gehabt,  diese  Verhältnisse  sehr  häufig  berührt  worden  sind,  so  habe 
ich  den  mir  zur  vertraulichen  Information  mitgeteilten,  obenerwähnten 
Bericht  zwar  nicht  zur  Kenntnis  des  österreichisch-ungarischen  Herrn 
Ministers  gebracht,  aber  es  doch  für  nützlich  gehalten,  ihm  von  den 
in  so  bemerkenswerter  \Veise  dargestellten  russischen  Verhältnissen 
einiges  zu  erzählen. 

Der  Minister  ist  ganz  der  Ansicht  des  Herrn  von  Schweinitz, 
daß  in  Rußland  eine  eigentliche  Kriegspartei  nicht  besteht,  wohl  aber, 
daß  von  einzelnen  Militärs  das  Mißtrauen  des  Zaren  gegen  Deutschland 
und  Österreich  künstlich  wachgehalten  wird.  Er  erklärt  sich  dieses 
Mißtrauen  gegen  die  österreichische  Politik  aus  dem  Umstand,  daß  der 
Kaiser  Alexander  nicht  vergessen  kann,  daß  Österreich  mit  den  von 

•  Siehe  Nr.  1623. 
384 


Rußland  in  Bulgarien  seit  1886  begangenen  Fehlern  nicht  einverstanden 
gewesen  ist,  daß  man  hierseits  die  Kräftigung  dieses  Staates  nicht  hin- 
dert, und  daß  man  den  Prinzen  Ferdinand  von  Sachsen-Koburg,  der 
es  sich  angelegen  sein  läßt,  die  Ordnung  auf  diesem  brennenden  Boden 
der  Balkanhalbinsel  aufrechtzuerhalten,  also  das  tut,  was  im  Interesse 
der  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  nützlich  ist,  daß  Österreich 
diesen  Prinzen  ungeschoren  läßt  und  sich  laut  und  energisch  gegen  die 
Mordanschläge  ausspricht,  deren  Ausgangspunkt  das  bulgarische  Flücht- 
lingsnest in  Odessa  ist,  welches  unter  den  Augen  der  russischen  Re- 
gierung arbeitet. 

Auch  das  möge  das  russische  Mißtrauen  erregen,  daß  die  russische 
Politik  in  Rumänien  keinen  Fuß  zu  fassen  vermag.  Wenn  aber  russi- 
sche Grenzberichte  von  neuen  militärischen  österreichischen  Bewegun- 
gen oder  Verstärkungen  sprechen,  und  die  betreffenden  Hetzgenerale 
ihrem  Herrn  damit  Angst  machen,  so  sei  dies  geradezu  lächerlich  und 
der  böse  Wille  mit  Händen  zu  greifen.  Denn  wenn  der  Sicherheits- 
dienst an  der  galizischen  Grenze  etwas  aufmerksamer  betrieben  werden 
und  zu  diesem  Ende  ein  paar  hundert  Gensdarmen  mehr  nach  Galizien 
geschickt  werden  sollten,  so  würde  selbst  der  hiesige  russische  Militär- 
attache, Oberst  Zujew,  nicht  die  Stirn  haben,  diese  Maßregel  als  eine 
Aggression  zu  bezeichnen. 

Was  das  Mißtrauen  gegen  Deutschland  betrifft,  so  kann  sich  Graf 
Kälnoky  dasselbe  nicht  anders  erklären,  als  daß  dabei  der  alte  Ärger 
über  die  Macht  des  jungen  Deutschen  Reiches  die  Hauptrolle  spielt. 
Auch  zweifelt  er  nicht  daran,  daß  die  veränderte  Haltung  der  Politik 
der  Königlich  Preußischen  Regierung  den  Polen  gegenüber  dem  Zaren 
so  dargestellt  worden  sein  mag,  als  bereite  man  sich  bei  uns  darauf 
vor,  für  den  Kriegsfall  diese  unsichere  Nationalität  in  unseren  Dienst 
zu  ziehen. 

Der  Minister,  der  die  Polen  nicht  liebt,  hat  sich  in  letzter  Zeit 
über  diese  Frage  nicht  ausgesprochen,  ich  kenne  aber  seine  Ansichten 
genau.  Hier  in  Österreich  spielen  die  galizischen  Polen  als  eiserner 
Bestand  einer  Regierungspartei  eine  gewisse  Rolle.  Man  läßt  sich  dies 
gern  gefallen,  und  streichelt  sie  gelegentlich,  auch  zum  Nachteil  der 
anderen  Stämme.  Graf  Kälnoky  weiß  aber  sehr  gut,  daß  unter  dem 
schwarzgelben  Mantel,  in  welchen  sich  die  Polen  mit  den  loyalsten 
Gebärden  hüllten,  der  weiße  Adler  sorgfältig  versteckt  wird,  der  nur 
auf  den  Moment  wartet,  seine  Flügel  auszubreiten.  Er  betrachtet  daher 
diese  Nationalität  mit  Mißtrauen,  baut  keine  Pläne  auf  ihre  Loyalität 
a  toute  epreuve,  und  würde,  wenn  in  einem  eventuellen  glücklichen* 
Kriege  mit  Rußland  diese  Unabhängigkeitsträume  zum  Vorschein 
kommen  sollten,  diesen  Herren  eine  bittere  Enttäuschung  bereiten,  ja 
ihnen  eventuell  die  Ruthenen  auf  den  Hals  hetzen. 

Graf  Kälnoky  teilt  die  Ansicht,  daß  es  eine  große  Anzahl  von 
intelligenten   Russen  gibt,   die   von   einem   unglücklichen   Krieg   einen 

25    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  38S 


Systemwechsel  erhoffen  und  nunmehr  von  der  inneren  Kalamität  ihres 
Vaterlandes  ein  solches  Resultat  erwarten.  Ob  dies  der  Fall  sein  wird, 
das  wagt  der  Minister  nicht  vorher  zu  sagen.  Jedenfalls  hält  er  aber 
an  der  Hoffnung  fest,  daß  der  kriegerische  Flug  für  einen  längeren 
Zeitabschnitt  lahmgelegt  sein  wird. 

Daß,  wie  Herr  von  Schweinitz  am  Schluß  seines  Berichts  sagt, 
der  Ton,  in  welchem  die  österreichisch-ungarische  Presse  über  den 
Notstand  in  Rußland  spreche,  ein  provozierender  oder  höhnender  wäre, 
will  Graf  Kälnoky  nicht  bemerkt  haben.  Jedenfalls  hat  er  darauf  hin- 
zuwirken gesucht,  daß  dies  nicht  geschehe. 

H.  VII.  P.  Reuß 


38Ö 


B.  Handelspolitische  Beziehungen 


Nr.  1626 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  3.  Dezember  1890 

Bei  dem  heutigen  Diplomatenempfang  kam  Graf  Schuwalow   auf 
eine  jüngst  nach  dem  Diner  des  Herrn  Reichskanzlers  zwischen    uns 
gepflogene  private  Unterredung  über  die  handelspolitischen  Beziehungen, 
zwischen  Deutschland  und  Rußland  zurück  und  äußerte  dabei  folgendes: 

Er  glaube,  daß  in  Deutschland  Herr  von  Wyschnegradski  mit 
Unrecht  als  ein  handelspolitischer  Gegner  Deutschlands  angesehen 
werde,  der  absichtlich  auf  dessen  Schädigung  in  wirtschaftlicher  Hin- 
sicht hinarbeite;  vielmehr  könne  er  persönlich  mit  Bestimmtheit  ver- 
sichern, daß  Herr  von  Wyschnegradski  die  besten  Intentionen  gegen 
uns  habe  und  einen  handelspolitischen  modus  vivendi  zwischen  uns 
lebhaft  wünsche.  Was  ihn  —  den  Grafen  Schuwalow  —  betreffe,  so 
sei  mir  wohl  bekannt,  daß  er  stets  die  Ansicht  vertreten  habe,  daß 
die  guten  Beziehungen  zwischen  beiden  Ländern  Hand  in  Hand  mit 
einem  besseren  handelspolitischen  Verhältnisse  gehen  müßten.  Diese 
Anschauung  werde  von  seiner  Regierung  geteilt;  er  könne  mir  streng 
vertraulich  mitteilen,  daß  er  nach  unserer  jüngsten  Unterredung,  zu 
der  er  eine  Instruktion  nicht  gehabt,  an  seine  Regierung  telegraphiert 
und  von  dort  die  Ermächtigung  erhalten  habe,  mit  mir  vertraulich  in 
diesem  Sinne  zu  reden.  Unsere  gegenwärtigen  Verhandlungen  mit 
Österreich-Ungarn*  interessierten  Rußland  sehr;  aus  den  zahlreichen 
Mitteilungen  der  öffentlichen  Blätter  wisse  man  ja,  welche  Fragen 
den  Mittelpunkt  jener  Verhandlungen  bildeten:  Ermäßigung  der  land- 
wirtschaftlichen Zölle  unsererseits  gegen  Erlangung  von  Konzessionen 
für  den  Export  unserer  Industrieerzeugnisse.  Ich  hätte  neulich  ihm 
gesagt,  daß  wir  Rußland  gegenüber  stets  in  der  Defensive   gewesen 

*  Seit  dem  Herbst  1890  waren  zwischen  Deutschland  und  Österreich  Verhand- 
lungen über  den  Abschluß  eines  Handelsvertrags  im  Gange,  die  zunächst  auf 
große  Schwierigkeiten  stießen,  aber  im  Mai  1891  zu  glücklichem  Abschlüsse  ge- 
langten. Näheres  darüber  siehe  in:  Die  Handelspolitik  des  Deutschen  Reichs  vom 
Frankfurter  Frieden  bis  zur  Gegenwarrt  (1899),  S.  155  ff. 

389 


seien,  und  der  Verteidiger,  der  dem  Angreifer  Propositionen  mache, 
in  den  Verdacht  gerate,  kapitulieren  zu  wollen ;  mit  Rücksicht  darauf 
wolle  er  selbst  die  Initiative  ergreifen  und  mir  ganz  offen  sagen, 
welche  Wünsche  Rußland  habe;  sie  bezögen  sich  auf  Erleichterung 
der  Einfuhr  für  Getreide,  Holz  und  Kerosine.  Ich  möge  meinerseits 
ihn  wissen  lassen,  welche  Forderungen  man  bei  uns  an  Rußland  stelle; 
bezüglich  der  Industriezölle  werde  nur  das  Eisen  Schwierigkeiten 
machen,  da  in  dieser  Beziehung  den  Fabrikanten  bestimmte  Ver- 
sprechungen für  längere  Zeit  gemacht  seien.  — 

Ich  erwiderte  dem  Grafen  Schuwalow  etwa  folgendes:  Wenn  wir 
den  handelspolitischen  Absichten  des  Herrn  von  Wyschnegradski  kein 
besonderes  Vertrauen  entgegenbrächten,  so  sei  dies  sehr  natürlich; 
seit  Jahren  suche  er  uns  wirtschaftlich  auf  jede  mögliche  Weise  zu 
schaden;  in  der  hiesigen  Finanzwelt  gebe  es  Leute,  die  behaupteten, 
daß  er  jeweils  den  Rubelkurs  steigere,  um  damit  den  Anlaß  für 
weitere  Erhöhung  der  Eingangszölle  gegen  uns  zu  schaffen,  und  dann, 
wenn  der  Getreideexport  beginne,  den  Kurs  wieder  herabdrücke,  um 
•das  russische  Getreide  billig  bei  uns  einzuführen.  Auch  daß  Herr 
von  Wyschnegradski  vor  kurzem  dem  hiesigen  Markt  gerade  in  dem 
Augenblick,  als  wir  ein  größeres  Reichs-  bzw.  preußisches  Anlehen 
emittierten,  ein  erhebliches  Quantum  Gold  entzogen  habe,  sei  nirgends 
als  ein  zufälliges  Zusammentreffen  betrachtet  worden.  Wenn  ich  den 
kompetenten  Reichsbehörden  die  amtliche  Mitteilung  machen  würde, 
daß  Herr  von  Wyschnegradski  nunmehr  versöhnliche  Absichten  gegen 
Deutschland  hege,  so  würde  mir  wohl  die  Frage  entgegengehalten 
werden,  ob  diese  Gesinnungen  nicht  gerade  deshalb  im  gegenwärtigen 
Augenblick  zutage  treten,  um  unsere  Verhandlungen  mit  Österreich- 
Ungarn  zu  erschweren  oder  zu  konterkarieren?  Daß  die  letzteren  in 
Rußland  Interesse  erweckten,  sei  sehr  begreiflich;  die  Politik  Herrn 
von  Wyschnegradskis,  Rußland  speziell  gegen  Deutschland  handels- 
politisch zu  isolieren,  drohe  ins  Schwanken  zu  geraten,  wenn  wir  mit 
Österreich-Ungarn  zu  einem  bessern  handelspolitischen  Verhältnisse  ge- 
langten. Übrigens  würden  uns  alle  diese  Erwägungen  nicht  daran 
hindern,  ein  Nachlassen  der  wirtschaftlichen  Spannung  zwischen  uns 
und  Rußland  aufrichtig  zu  wünschen;  nur  würden  wir  nach  den  Er- 
fahrungen der  letzten  Jahre  Wert  darauf  legen,  daß  der  bezügliche 
Wunsch  russischerseits  nicht  in  Worten,  sondern  in  Taten  bekundet 
werde,  und  zwar  um  so  mehr,  als  wir  die  Initiative  in  dieser  Rich- 
tung dadurch  ergriffen,  daß  wir  den  Eintritt  russischer  Schweine  unter 
gewissen   Kontrollen  gestattet  hätten*.    Diese  Maßregel  sei  von    uns 


*  Im  Herbst  1890  war  die  Einfuhr  lebender  Schweine  aus  Rußland  für  die  Städte 
Myslüwitz  und  Beuthen  in  Oberschlesien  unter  bestimmten  Bedingungen  frei- 
gegeben worden.  Später  erhielten  auch  Thorn,  Kattowitz  und  Tarnowitz  die 
gleiche  Vergünstigung.  Zu  einer  generellen  Aufhebung  des  Schweineeinfuhrverbots 

390 


getroffen  ohne  Hintergedanken,  allerdings  nur  in  widerruflicher  Weise. 
Die  „question  d'etiquette",  von  der  wir  neulich  gesprochen,  wer  den 
ersten  Schritt  in  tatsächlichem  Entgegenkommen  zu  tun  habe,  existiere 
also  nicht  mehr.  Wir  erwarteten  nun,  was  von  russischer  Seite  erfolge. 

Graf  Schuwalow  sprach  sich  sehr  dankbar  für  diese  Maßregel 
aus,  um  die  er  sich  so  oft  vergeblich  bemüht  habe,  wies  jedoch  darauf 
hin,  daß  verschiedene  deutsche  Zeitungen  die  Erleichterung  der  Ein- 
fuhr von  Schweinen  an  unserer  Ostgrenze  als  durch  die  öffentliche 
Meinung  bzw.  die  hohen  Fleischpreise  geboten  bezeichneten,  es  also 
zweifelhaft  sei,  inwieweit  man  das  in  Rußland  als  eine  Konzession 
ansehen  werde.  Auch  müsse  er  darauf  aufmerksam  machen,  daß  der 
Gedanke,  Rußland  gegenüber  Österreich  hinsichtlich  der  Getreide- 
einfuhr differentiell  zu  behandeln,  auf  den  entschiedensten  Widerspruch 
in  unseren  östlichen  Provinzen  gestoßen  sei;  auch  werde  eine  solche 
Differenzierung  Rußland  nicht  viel  schaden,  da  das  Getreide  par  un 
detour  doch  zu  uns  gelangen  werde. 

Ich  erwiderte  dem  Grafen  Schuwalow,  daß  er  die  hiesigen  Partei- 
verhältnisse doch  genug  kenne,  um  zu  wissen,  daß  das  ganze  Geschrei 
der  freisinnigen  Presse  über  Verteuerung  der  Lebensmittel  lediglich 
Parteizwecken  diene  und  in  der  großen  Menge  der  produzierenden 
Bevölkerung,  namentlich  der  östlichen  Provinzen  keinen  Widerhall 
finde;  die  Freisinnigen  hätten  bei  billigen  Lebensmittelpreisen  ebenso 
über  Verteuerung  des  Brotes  und  des  Fleisches  des  armen  Mannes 
geklagt  wie  jetzt,  wo  die  Preise  etwas  gestiegen  seien.  Irgendeinen 
Einfluß  auf  die  Entschließungen  der  Regierung  übten  derartige  Aus- 
lassungen nicht.  Daß  die  vorwiegend  landwirtschaftliche  Bevölkerung 
im  Osten  eine  Ermäßigung  der  Getreidezölle  gegen  Rußland  wünsche, 
sei  ein  großer  Irrtum;  es  handle  sich  nur  um  eine  Petition  einiger 
kommerzieller  Gremien  unserer  Ostseestädte,  die  natürlich  an  einer 
möglichst  freihändlerischen  Gestaltung  unserer  Handelspolitik  ein  Inter- 
esse hätten.  Gegen  die  Gefahr,  daß  das  russische  Getreide  auf  einem 
detour  doch  zu  ermäßigtem  Zollsatze  bei  uns  eingeführt  werde,  wür- 
den wir  uns  eventuell  zu  schützen  wissen. 

Das  Resümee  meiner  Auslassungen  an  Graf  Schuwalow  war,  daß 
wir  den  besten  Willen  haben,  Rußland  entgegenzukommen  und  diesen 
auch  durch  die  Aufhebung  des  Schweineeinfuhr\'erbotes  bekunden,  daß 
wir  aber  den  Beteuerungen  des  Herrn  Wyschnegradski  über  seine 
handelspolitische  Freundschaft  zu  Deutschland  vorläufig  skeptisch 
gegenüberstehen  und  zunächst  einen  tatsächlichen  Ausdruck  derselben 
erwarten,  bevor  wir  uns  auf  weiteres  einlassen. 

-  Marschall 


vom  14.  Juli  1889  ist  es  mit  Bezug  auf  Rußland  nicht  gekommen,  während  das 
Verbot  mit  Bezug  auf  Dänemark,  Schweden  und  Norwegen  am  5.  Dezember  1890, 
und  mit  Bezug  auf  Amerika  am  3.  September  1891  aufgehoben  wurde. 

391 


Nr.  1627 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz  an  den  Reichskanzler 

von  Caprivi 

Abschrift 

Nr.  44  St.  Petersburg,  den  20.  Februar  1891 

Geheim 

In  ganz  vertraulicher  Unterredung  drücicte  Herr  von  Giers  den 
Wunsch  aus,  mit  mir  nicht  als  Minister  mit  dem  deutschen  Botschafter 
sondern  als  alter  Freund  mit  dem  General  Schweinitz  über  eine  An- 
gelegenheit sprechen  zu  dürfen,  welche  ihm  am  Herzen  liege.  Graf 
Schuwalow,  welcher  sich  mit  Eifer  und  Verständnis  die  Erfüllung  der 
Aufgaben  angelegen  sein  lasse,  die  ihm  in  handelspolitischer  Rich- 
tung gestellt  worden  seien,  habe  in  zwei  streng  vertraulichen  Privat- 
briefen über  Unterredungen  mit  dem  Herrn  Staatssekretär  des  Äußern 
und  mit  dem  Herrn  Handelsminister  von  Berlepsch  Bericht  erstattet. 
Beide  Gespräche,  so  fuhr  der  Minister  fort,  hätten  dem  Botschafter 
den  besten  Eindruck  zurückgelassen,  jedoch  sei  daraus  nicht  mit  voller 
Klarheit  zu  entnehmen  gewesen,  welche  Erleichterungen  des  Zolltarifs 
wir  fordern  und  welche  wir  gewähren  wollten;  es  würde  sich  also 
vielleicht  empfehlen,  dies  genauer  zu  präzisieren  und  auch  hier 
in  St.  Petersburg  vielleicht  in  Unterhaltungen  zwischen  dem  Finanz- 
minister und  mir  vertraulich  zu  erörtern. 

Auf  den  Wunsch  des  Herrn  von  Giers,  meine  amtliche  Eigenschaft 
beiseite  zu  lassen  und  freundschaftlich  über  die  uns  beiden  gleich 
wünschenswerte  wirtschaftliche  Annäherung  Deutschlands  und  Ruß- 
lands zu  sprechen,  ging  ich  bereitwillig  ein;  „aber,"  so  sagte  ich,  „Sie 
setzen  bei  mir  eine  gewisse  Naivität  voraus,  wenn  Sie  erwarten,  ich 
solle  glauben,  daß  wir,  so  lange  als  Sie  bei  Ihrem  jetzigen  System 
bleiben,   irgend   etwas   Nennenswertes  von   Ihnen   erreichen   werden." 

„Zunächst,"  so  fuhr  ich  fort,  „möchte  ich  wissen,  welche  Aufträge 
Sie  dem  Grafen  Schuwalow  erteilt  haben." 

„Meine  Instruktionen  an  den  Botschafter,"  sagte  der  Herr  Minister, 
„beruhen  auf  einem  Briefe,  welchen  Herr  Wyschnegradski,  ich  glaube 
im  Monat  Oktober  v.  Js.,  an  mich  gerichtet  hat;  ich  werde  dieses 
Schreiben,  welches  ich  nicht  zur  Hand  habe,  heraussuchen  und  Ihnen 
gelegentlich  dessen  Inhalt  mitteilen." 

Dies  geschah  bei  unserer  nächsten  Begegnung;  Herr  von  Giers 
las  mir  den  in  russischer  Sprache  geschriebenen  Brief  des  Finanz- 
ministers auszugsweise  vor;  ich  entnahm  daraus,  daß  Herr  von  Wyschne- 
gradski bestrebt  ist,  Erleichterungen  des  nachbarlichen  Verkehrs  zu 
erlangen  und  zu  gewähren,  daß  er  zu  diesem  Zwecke  in  Erfahrung 
bringen  möchte,  ob  wir  geneigt  sind,  die  Zölle  auf  Getreide,  Holz 
und  Petroleum  und  auf  noch   einige  minder  wichtige  Artikel  zu    er- 

392 


mäßigen,  und  welche  Gegenleistungen  wir  beanspruchen  würden;  zu 
solchen  erklärt  er  sich  bereit,  „insofern  sie  die  russische  Industrie 
nicht  schädigen".  Der  Finanzminister  spricht  die  Vermutung  aus,  daß 
hierbei  Metalle  den  ersten  Platz  einnehmen  würden;  der  Schwerpunkt 
seiner  Ausführungen  liegt  in  dem  Postulate  der  Zollermäßigung  für 
Getreide,  Holz  und  Naphta. 

Das  Gespräch  in  der  freundschaftlichen  Weise,  in  welcher  es  be- 
gonnen hatte,  fortsetzend,  sagte  ich,  daß  der  Wunsch  der  russischen 
Regierung,  die  Verkehrshemmnisse  zu  vermindern,  bei  uns  gewiß  Ent- 
gegenkommen finden  würde;  daß  es  mir  auch  ganz  natürlich  scheine, 
wenn  Herr  von  Wyschnegradski  dringend  wünsche,  den  russischen 
Grundbesitzern  leichteren  Absatz  für  ihr  Getreide  zu  schaffen,  da 
sie  ohnehin  unter  dem  hohen  Kurs,  der  ihm  zu  verdanken  ist,  zu 
leiden  haben  und  ihm  darum  nicht  freundlich  gesinnt  seien.  Aber,  so 
fuhr  ich  fort,  die  Großindustriellen  und  die  reichen  Moskauer  Schutz- 
zöllner werde  sich  der  Herr  Finanzminister  auch  nicht  verfeinden 
wollen;  wie  stark  diese  sind,  wisse  ich  aus  langer  Erfahrung;  vor 
25  Jahren,  als  hier  noch  eine  starke  Ökonomistenpartei  (gemäßigte 
Freihändler)  bestand,  wäre  ich  Zeuge  gewesen,  wie  ein  preußischer 
Delegierter,  Herr  Kellerholm,  ein  Jahr  hier  zugebracht  habe,  um  Ver- 
handlungen über  Zollerleichterungen  zu  führen,  welche,  als  sie  dem 
Ziele  nahe  zu  sein  schienen,  abgebrochen  wurden;  vor  zwölf  oder  drei- 
zehn Jahren  habe  die  Mission  des  Herrn  Hitzigrath  das  gleiche  Schicksal 
gehabt,  ebenso  wie  eine  Sendung  des  sehr  gut  intentionierten  Herrn 
von  Thörner  nach  Berlin.  „Hier  auf  dieser  selben  Stelle,"  sagte  ich, 
„habe  ich  Ihnen  im  Auftrage  des  Fürsten  Bismarck,  welcher  damals 
wegen  der  Lasker-Feier  mit  dem  amerikanischen  Gesandten  Mr.  Sargent 
einen  Konflikt  hatte*,  große  Erleichterungen  der  Petroleumeinfuhr  an- 
geboten gegen  sehr  geringe  Gegenleistungen  und  dann  sogar  ohne 
jede  solche,  und  nach  Beratung  mit  den  Herren  Abasa,  Bunge  und 
Baranow  haben  Sie  dieses  Anerbieten  zurückgewiesen,  weil  jene  Herren 
fürchteten,  daß  wir  später  mit  Forderungen  kommen  würden;  Sie  wer- 
den es  also  erklärlich  finden,  daß  ich  mich  den  Absichten  des  Herrn 
Wyschnegradski  gegenüber  skeptisch  verhalte,  bis  er  deutlich  gesagt 
haben  wird,  was  er  geben  will." 

Herr  von  Giers  sagte,  der  Finanzminister  sei  ein  so  erfinderischer 
Kopf,  daß  er  gewiß  Mittel  ersinnen  werde,  um  gegenseitige  Erleichte- 
rungen zu  ermöglichen;  wenn  Herr  von  Wyschnegradski  einmal  eine 
Urlaubsreise  mache  und  durch  Berlin  käme,  würden  Besprechungen 
mit  den  dortigen  maßgebenden  Persönlichkeiten  vielleicht  nicht  ohne 
Ergebnis  bleiben.  Auf  diesen  Gedanken  bin  ich  nicht  näher  eingegangen, 
obwohl  ich  nicht  unterließ,  den  guten  Absichten  der  russischen  Regie- 


*  Siehe   darüber   Bismarcks    Reichstagsrede   vom    13.  März   1884.    Die   politischen 
Reden  des  Fürsten   Bismarck,  ed.  Horst  Kohl  Bd.  X,  S.  7  ff. 

393 


rung  warme  Anerkennung  zu  zollen  und  die  besten  Wünsche  für  ihre 
Verwirklichung  auszusprechen. 

Herr  von  Giers,  dem  viel  daran  gelegen  ist,  daß  etwas  zustande 
komme,  sagte  dann,  es  verstehe  sich  von  selbst,  daß  wir  zuvörderst 
den  Abschluß  der  Wiener  Verhandlungen  abwarten  wollen,  ehe  wir 
positive  Angaben  über  dasjenige,  was  wir  Rußland  etwa  zugestehen 
könnten,  machen. 

Zum  Schlüsse  gestatte  ich  mir  ehrerbietig  daran  zu  erinnern,  daß 
laut  dem  am  7.  Mai/25.  April  1887  im  russischen  „Regierungsanzeiger" 
veröffentlichten  Gesetze  die  Zölle  auf  Gußeisen  in  Gänzen,  als  Bruch 
und  Abfall,  vor  dem  1./13.  Januar  1898  nicht  herabgesetzt  werden  dürfen. 

(gez.)  v.  Schweinitz 

Nr.  1628 
Aufzeichnung  des  Reichskanzlers  von  Caprivl 

Eigenhändig 

Berlin,  den  4.  April  1891 

Der  russische  Botschafter  war  eben  bei  mir  und  sagte,  er  würde 
in  kurzer  Zeit  zu  seiner  Freude  in  der  Lage  sein,  uns  einige  Vor- 
schläge zu  machen,  von  denen  er  hoffe,  daß  sie  die  kommerziellen  Be- 
ziehungen beider  Länder  erleichtern  würden.  Er  sei  früher  schon  zwei- 
mal in  der  Lage  gewesen,  mit  Herrn  von  Berlepsch  über  diese  Dinge 
zu  sprechen;  damals  hätte  seine  Autorisation  aber  nur  hingereicht, 
sie  als  seine  persönliche  Ansicht  zu  berühren.  Herr  von  Berlepsch 
habe  namentlich  betont,  daß  es  uns  auf  Stabilität  ankäme.  Er  habe 
jetzt  in  diesem  Sinne  in  Petersburg  gesprochen  und  werde  ermäch- 
tigt werden,  offiziell  darauf  zurückzukommen.  Er  hoffe,  dadurch  die 
guten  Beziehungen  beider  Reiche  zu  verbessern.  Der  Carnotsche 
Orden*  sei  eine  Frage  der  Courtoisie,  über  die  er  auch  mit  Herrn 
von  Schweinitz  gesprochen  habe  und  die  sicherlich  von  uns  richtig 
verstanden  werden  werde. 

Ich  bitte  nun,  der  bulgarischen  Anleihe  unsere  Börse  zu  versagen. 

V.  Caprivi 

Nr.  1629 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Eigenhändig 

Berlin,  den  14.  April  1891 
Der  russische   Botschafter  kam   beim   heutigen    Empfangstag    auf 
unsere  früheren   Unterredungen   wegen   einer  kommerziellen   Annähe- 

•  Am  25.  März  war  dem  Präsidenten  Carnot  durch  den  Botschafter  von  Mohren- 
heim der  St.  Andreas-Orden   überreicht  worden.    Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1494. 

394 


rung  zwischen  Deutschland  und  Rußland  zurück  und  teilte  mir  untt. 
Hervorhebung  der  Notwendigkeit,  die  Sache  vorläufig  streng  geheim 
zu  halten,  folgendes  mit: 

Herr  Wyschnegradski  stelle  folgendes  Raisonnement  an:  von  dei 
russischen  Gesamteinfuhr  in  Deutschland  betrage  die  Getreideeinfuhr 
zirka  ein  Drittel;  lasse  man  diese  letztere  außer  Betracht,  so  hielten 
sich  die  restierenden  zwei  Drittel  der  deutschen  Einfuhr  in  Rußland 
etwa  die  Wagschale;  daß  die  deutsche  Einfuhr  in  Rußland  in  den 
letzten  Jahren  gegen  früher  erheblich  zurückgegangen  sei,  rühre  vor- 
nehmlich daher,  daß  durch  den  Kampf,  welchen  Fürst  Bismarck  gegen 
die  russischen  Finanzen  geführt  habe,  der  Rubelkurs  zum  Sinken  ge- 
bracht worden  sei  —  seitdem  letzterer  sich  wieder  in  steigender  Rich- 
tung bewege,  nehme  auch  die  deutsche  Einfuhr  in  Rußland  wieder  zu. — 

Wenn  nun  Deutschland  geneigt  sein  würde,  Rußland  bezüglich 
der  Einfuhr  in  Getreide  und  von  Holz  mit  Österreich-Ungarn  gleich 
zu  behandeln,  auch  bezüglich  der  Kerosine  eine  Zollermäßigung  ein- 
treten zu  lassen,  so  werde  Rußland  seinerseits  bereit  sein,  Gegen- 
konzessionen bezüglich  seines  Zolltarifs  zu  machen.  Nach  Rücksprache, 
die  er  —  Graf  Schuwalow  —  mit  verschiedenen  Sachverständigen,  auch 
Herrn  von  Berlepsch,  genommen,  bezögen  sich  die  deutschen  Wünsche 
auf  etwa  sechs  bis  sieben  Positionen  —  darunter  landwirtschaftliche 
Maschinen.  —  Eine  Stabilisierung  der  russischen  Zölle  hinsichtlich  dieser 
Punkte  werde  voraussichtlich  keine  Schwierigkeit  machen  und  damit, 
wenn  auch  zunächst  in  beschränktem  Umfange,  die  Basis  für  eine 
Annäherung  zu  gewinnen  sein.  — 

Ich  habe  dem  Grafen  Schuwalow  erwidert,  daß,  nachdem  er  mir 
vertraulich  die  Anschauungen  des  Herrn  Wyschnegradski  mitgeteilt 
habe,  ich  keinen  Anstand  nehme,  ihn  von  der  Auffassung,  die  ich 
persönlich  mir  vorläufig  gebildet,  in  gleich  vertraulicher  Weise  Kenntnis 
zu  geben.  Wenn  ich  die  Möglichkeit  der  Gewährung  der  Österreich- 
Ungarn  eventuell  zu  konzedierenden  Agrarzölle  an  Rußland  für  nicht 
ausgeschlossen  erachte  und  auch  die  Ermäßigung  des  deutschen  Zolls 
auf  Kerosine  nicht  a  limine  zurückweise,  so  könne  von  beiden  Dingen 
doch  nur  die  Rede  sein,  wenn  Rußland  vollwertige  Gegenkonzessionen 
gewähre.  Und  als  solche  vermöge  ich  die  Minderung  der  gegen- 
wärtigen russischen  Einfuhrzölle  in  keiner  Weise  zu  betrachten.  Ob 
Herr  von  Wyschnegradski  das  vor  zwei  bis  drei  Jahren  eingetretene 
Sinken  des  Rubelkurses  mit  Recht  oder  Unrecht  der  damaligen  deut- 
schen Regierung  zuschreibe,  wolle  ich  nicht  untersuchen;  dagegen 
stehe  fest,  daß,  nachdem  der  Rubelkurs  sich  zu  erholen  begonnen, 
und  damit  die  Aussicht  einer  Hebung  des  deutschen  Imports  in  Ruß- 
land wieder  eingetreten  war,  der  russische  Finanzminister  den  steigen- 
den Rubelkurs  als  Motiv  benutzte,  um  die  Zölle,  speziell  auf  die  wich- 
tigsten deutschen  Provenienzen  wiederholt  zu  erhöhen,  zum  letztenmal 
im  Jahre  1890  um  zwanzig  Prozent.   Damit  hätten  die  russischen  Zölle 

395 


eine  Höhe  erreicht,  daß  sie  bezüglich  einer  Reihe  der  wichtigsten 
deutschen  Artikel  prohibitiv  wirkten.  An  der  Bindung  prohibitiver  Zölle 
hätten  wir  lediglich  kein  Interesse,  sondern  nur  an  einer  Ermäßigung, 
die  den  Zugang  unserer  Produkte  wieder  ermögliche.  —  Unser  zweites 
Gravamen  sei  die  differenzielle  Behandlung,  welche  in  Rußland  zum 
Nachteile  wichtiger  deutscher  Provenienzen,  wie  Kohlen,  Roheisen, 
Baumwolle  usw.  bestehe.  Wenn  Rußland  die  Begünstigungen  unseres 
demnächst  zum  Abschluß  gelangenden  Vertrags  mit  Österreich-Ungarn 
sich  zu  sichern  wünsche,  so  werde  es  kein  unbilliges  Verlangen  sein, 
wenn  auch  wir  unsrerseits  die  Aufhebung  der  differenziellen  Behand- 
lung seitens  Rußlands  begehrten. 

Graf  Schuwalow  frug  mich  schließlich,  ob  [ich]  nicht  in  der  Lage 
sein  würde,  ihm  die  Positionen  des  russischen  Zolltarifs  zu  bezeichnen, 
bezüglich  deren  wir  eine  Ermäßigung  der  Zollsätze  wünschten?  Ich 
erwiderte  ihm,  daß  ich,  nachdem  Herr  von  Wyschnegradski  seine  De- 
siderien  formuliert  habe,  auch  keinen  Anstand  nehmen  werde,  ihm  bei 
einer  demnächstigen  Unterredung  meine  persönliche  Anschauung  über 
die  voraussichtlich  von  Deutschland  zu  begehrenden  Gegenkonzessionen 
mitzuteilen,  immer  unter  der  Voraussetzung,  daß  meine  bezüglichen 
Äußerungen  gerade  so  unverbindlich  sein  würden,  wie  diejenigen  des 
russischen  Finanzministers. 

Marschall 

Nr.  1630 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  21.  April  1891 
Bei    dem    heutigen    Diplomatenempfange   habe   ich   dem   Grafen 
Schuwalow  mit  Bezug  auf  seine  handelspolitischen  Eröffnungen  folgen- 
des mitgeteilt: 

Wir  seien,  wie  dem  Herrn  Botschafter  bekannt,  stets  von  dem 
Wunsche  geleitet,  die  guten  Beziehungen,  welche  zwischen  unseren 
beiden  Ländern  beständen,  zu  erhalten  und  zu  pflegen;  wie  auf  politi- 
schem Gebiete  keine  erhebliche  Divergenz  in  den  Interessen  Rußlands 
und  Deutschlands  bestehe,  so  lägen  auch  auf  kommerziellem  Gebiete 
die  Verhältnisse  keineswegs  so,  daß  eine  Verständigung  über 
einzelne  Punkte  als  ausgeschlossen  zu  betrachten  sei.  Die  An- 
schauung, daß  man  politisch  in  Freundschaft  leben  und  sich 
gleichzeitig  handelspolitisch  bekriegen  könne,  vermöchte  ich  nicht 
zu  teilen;  zum  mindesten  würden  in  unserer  Zeit,  da  die  materiellen 
Interessen  so  sehr  im  Vordergrunde  ständen,  die  guten  politischen 
Beziehungen  eine  weitere  Garantie  der  Stetigkeit  erhalten,  wenn  auch 

396 


auf  kommerziellem  Gebiete  eine  Verständigung  eintrete.  Ich  hätte 
darum  die  private  Mitteilung  über  die  persönlichen  Ansichten  des 
Herrn  von  Wyschnegradski  einer  sorgfältigen  Prüfung  unterzogen  und 
wolle  dem  Herrn  Botschafter  das  Resultat  derselben  mit  dem  Vorbehalte 
unterbreiten,  daß  auch  ich  zurzeit  nur  meine  persönliche  Auffassung 
von  der  Sachlage  kundgeben  könne. 

Ich  wolle  mit  Herrn  von  Wyschnegradski  die  russisch-deutsche 
Getreideeinfuhr  vollständig  außer  acht  lassen  und  nur  den  übrigen 
Handelsverkehr  der  beiden  Länder  ins  Auge  fassen.  Die  Auffassung, 
daß,  wenn  man  von  dem  Getreide  absehe,  die  Einfuhr  russischer  Pro- 
dukte nach  Deutschland  und  die  Einfuhr  deutscher  Produkte  nach 
Rußland  ungefähr  balanciere,  möge  nach  der  russischen  Statistik  zu- 
treffen, weil  vermutlich  der  Durchgangsverkehr  in  den  betreffenden 
Zahlen  einbegriffen  sei.  Lasse  man  den  Durchgangsverkehr,  an  wel- 
chem Deutschland  doch  nur  ein  sekundäres  Interesse  habe,  außer  Be- 
tracht, so  ergebe  sich,  daß  1889  Rußland  nach  Deutschland  für  etwa 
230  Millionen  Mark,  Deutschland  nach  Rußland  für  etwa  160  Millionen 
Mark  Güter  eingeführt  habe.  Die  russische  Einfuhr  habe  daher  zur- 
zeit ein  surplus  von  zirka  70  Millionen  Mark.  Dabei  sei  besonders 
hervorzuheben,  daß  von  den  aus  Rußland  nach  Deutschland  eingeführ- 
ten Waren  etwa  die  Hälfte  zollfrei  eingehe,  während  die  deutsch- 
russische Einfuhr  durchweg  einem  bedeutenden  und  in  den  letzten 
zehn  Jahren  wiederholt  gesteigerten  Zoll  unterliege.  Die  gegenwärtige 
Situation  für  Deutschland  sei  also:  Unterbilanz  von  70  Millionen  Mark, 
sinkende  Einfuhr  nach  Rußland  infolge  der  neuesten  russischen  Zoll- 
erhöhungen, andererseits  steigende  Einfuhr  von  Rußland  nach  Deutsch- 
land. 

Für  die  Bindung  dieses  für  Deutschland  ungünstigen  Zustandes 
irgendeine  Konzession  zu  machen,  sei  unmöglich;  vielmehr  sei  die 
erste  Voraussetzung  irgendeiner  handelspolitischen  Abmachung,  daß 
Rußland  seine  Zölle  soweit  ermäßige,  daß  wenigstens  unsere  wichtig- 
sten Artikel  wieder  lohnend  nach  Rußland  eingeführt  werden  könnten ; 
nur  unter  dieser  Voraussetzung  könne  überhaupt  von  Konzessionen 
unsererseits  bezüglich  des  Getreides,  Holz  und  Kerosine  die  Rede  sein. — 

Auf  Anfrage  des  Herrn  Botschafters,  ob  ich  in  der  Lage  sei,  ihm 
die  Artikel  zu  benennen,  bezüglich  deren  wir  eine  Ermäßigung  des 
Zolles  wünschten,  erwiderte  ich,  daß  wir  nach  zweierlei  Richtung 
Konzessionen  verlangen  müßten: 

1.  Zollermäßigung  verschiedener  Positionen  innerhalb  folgender 
Gruppen:  Metallwaren,  Instrumente,  Maschinen  und  Fahrzeuge,  Che- 
mikalien, Farbstoffe  und  Salz,  Baumwollen-,  Wollen-  und  Seidenwaren, 
Hopfen,  Gemüse,  Zucker,  Kohlen  und  Koks;  —  und  hier  müßten  die 
Zollermäßigungen  bezüglich  einzelner  Positionen  weitergehen  als  die 
bloße  Aufhebung  des  im  vorigen  Jahre  beschlossenen  Zuschlags 
von  20%. 

397 


2.  Aufhebung  der  Differenzialzölle  für  Roheisen,  Kohle,  Koks, 
Baumwolle.  — 

Auf  die  Bemerkung  des  Herrn  Botschafters,  daß  es  sich  zunächst 
nicht  um  einen  traite  de  commerce,  sondern  nur  um  ein  Arrangement 
handeln  werde  als  ersten  Schritt  zu  späterer  weiterer  Verständigung, 
und  daß  es  die  Abmachung  erleichtern  werde,  wenn  zunächst  nicht  zu 
viele  Gegenstände  in  die  Verhandlung  einbezogen  würden,  erwiderte 
ich,  daß  ich  den  Gedanken,  zunächst  nur  ein  „Arrangement",  nicht 
einen  förmlichen  Vertrag  anzustreben,  gern  akzeptierte  und  nicht  auf 
die  Zahl  der  Gegenstände,  auf  welche  sich  die  Abmachung  erstrecke, 
sondern  darauf  das  entscheidende  Gewicht  lege,  daß  wir  zu  einem 
Zustande  gelangten,  bei  dem  —  abgesehen  von  dem  Getreide  —  die 
Einfuhr  von  Deutschland  nach  Rußland  und  diejenige  von  dort  wieder 
ins  Gleichgewicht  gebracht  würde,  welches  durch  die  russische  Zoll- 
maßregel zu  unseren  Ungunsten  sich  verschoben  habe.  — 

Graf  Schuwalow  stellte  mir  weitere  Mitteilungen  in  Aussicht. 

Marschall 

Nr.  1631 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Schweinitz 

Konzept 

Nr.  160  Berlin,  den  6.  Mai  1891 

Geheim 

Ew.  beehre  ich  mich,  anliegend  Aufzeichnungen  über  zwei  Unter- 
redungen, welche  ich  im  vergangenen  Monate  mit  dem  Grafen  Schu- 
wolaw  über  die  deutsch-russischen  Handelsbeziehungen  gehabt  habe*, 
zur  gefälligen  vertraulichen  Information  ergebenst  zu  übersenden. 

Ew.  werden  daraus  entnehmen,  daß  unsere  Unterredungen  sich 
noch  immer  in  dem  Rahmen  eines  privaten  Meinungsaustausches  hal- 
ten und  die  Äußerungen  des  Grafen  Schuwalow  keinerlei  Gewißheit 
darüber  geben,  ob  es  der  russischen  Regierung  in  der  Tat  ernst  ist 
mit  der  Absicht,  bessere  Handelsbeziehungen  mit  Deutschland  anzu- 
bahnen, oder  ob  die  wiederholten  Anregungen  nur  den  Zweck  von 
Rekognoszierungen  über  die  Tendenz  unserer  Handelspolitik  verfolgen. 
Der  Umstand,  daß  mir  Graf  Schuwalow  schon  wiederholt  eine  schrift- 
liche Aufzeichnung  über  die  Gedanken  des  Herrn  von  Wyschnegradski 
in  Aussicht  gestellt  hat,  bisher  aber  eine  derartige  Mitteilung  nicht  er- 
folgt ist,  erweckt  den  Eindruck,  daß  man  in  Petersburg  zurzeit  noch 
zwischen  der  Befürchtung,  von  Deutschland  bezüglich  von  Getreide  und 
Holz  differenzieil  behandelt  [zu  werden]  und  der  Hoffnung  schwankt, 

*  ^iche  Nr.  1629  und  1630. 
3Q8 


daß  wir  aus  Rücksicht  auf  unsere  östlichen  Provinzen  ohnehin  dazu 
gezwungen  sein  würden,  Rußland  dieselben  Vorteile  zu  gewähren,  die 
wir  Österreich-Ungarn  eingeräumt  haben.  Würde  die  letztere  An- 
schauung die  Oberhand  gewinnen,  so  dürfte  der  Wunsch  des  russischen 
Finanzministers,  mit  uns  zu  einer  handelspolitischen  Berührung  zu 
gelangen,  eine  wesenthche  Abschwächung  erfahren. 

Unter  diesen  Umständen  wird  es  rätlich  sein,  dem  russischen 
Finanzminister  darüber  keinen  Zweifel  zu  lassen,  daß  für  uns  die  Ent- 
scheidung, ob  wir  Rußland  differenziell  behandeln  sollen  oder  nicht, 
keineswegs  nur  von  der  Rücksicht  auf  gewisse  Interessengruppen 
unserer  östlichen  Provinzen,  sondern  auch  davon  abhängen  wird,  welche 
handelspolitische  Stellung  Rußland  uns  gegenüber  einnimmt.  Sollte 
Herr  von  Wyschnegradski  glauben,  daß  wir  Rußland  bezüglich  des 
Getreides,  Holz  usw.  die  faktische  Meistbegünstigung  auch  dann 
einräumen  würden,  wenn  Rußland  die  auf  allmählichen  Ausschluß  deut- 
scher Produkte  zielende  Handelspolitik  weiter  verfolgt,  so  würde  eine  solche 
Auffassung  als  eine  irrtümliche  zu  bezeichnen  und  darauf  hinzuweisen 
sein,  daß  auf  die  Dauer  kein  Land  exportieren  kann,  welches  seine 
Grenzen  dem  fremden  Importe  verschließt,  und  wir  nicht  in  der  Lage 
sind,  die  Einfuhr  der  russischen  Massenartikel  dauernd  zu  erleichtern, 
wenn  gleichzeitig  unser  Export  nach  Rußland  systematisch  unter- 
bunden und  zurückgedrängt  wird. 

In  der  Unterredung  mit  dem  russischen  Botschafter  war  ich  ferner 
wiederholt  veranlaßt,  der  Auffassung  entgegenzutreten,  als  ob  eine 
Basis  für  eine  handelspolitische  Annäherung  darin  zu  finden  sei,  daß 
Deutschland  seine  Getreide-,  Holz-  und  eventuell  Petroleumzölle  er- 
mäßige, Rußland  dagegen  sich  zur  Bindung  einer  Anzahl  von  Posi- 
tionen verstehe.  Es  genügt  darauf  hinzuweisen,  daß  schon  im  Jahre 
1886  der  damalige  Zustand  für  Deutschland  für  so  unbefriedigend  er- 
achtet wurde,  daß  Opfer  zur  Stabilisierung  desselben  als  ausgeschlossen 
erschienen;  es  wurde  festgestellt,  daß  die  russische  Zollerhöhung  ge- 
rade die  deutschen  Hauptartikel  getroffen,  daß  sie  auf  verschiedene 
dieser  Artikel  prohibitiv  gewirkt  hatten  und  die  Einfuhr  deutscher 
Artikel  differenziell  belastet  war.  Das  Bild  hat  sich  seit  1886  nicht 
gebessert  sondern  erheblich  verschlechtert.  Die  Differenzialzölle  auf 
Kohlen  und  Koks,  auf  Gips,  Kreide,  Zucker  usw.  blieben  bestehen;  es 
wurden  neu  eingeführt  Differenzialzölle  auf  Roheisen,  Rohbaumwolle. 
Speziell  erhöht  wurden  ferner  die  Zölle  auf  wichtige  Textilwaren,  Metall- 
waren usw.  Vor  allem  aber  ist  durch  den  im  September  1890  verfügten 
allgemeinen  Zollzuschlag  von  20  o/o  der  Vorteil  der  inzwischen  ein- 
getretenen Steigerung  des  Rubelkurses  mehr  als  aufgewogen. 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  es  als  die  Vorbedingung  eines 
jeden  handelspolitischen  Abkommens,  daß  bezüglich  einer  Anzahl  wich- 
tiger deutscher  Exportartikel  in  eine  Ermäßigung  des  russischen  Zolles 
gewiUigt   wird.    Unsere  speziellen   Desiderien   werden   wir   benennen, 

399 


sobald  wir  die  Überzeugung  gewonnen  haben,  daß  Rußland  ernstlich 
sich  uns  zu  nähern  wünscht.  Bei  der  großen  Anzahl  der  Artikel, 
welche  wir  nach  Rußland  exportieren,  dürfte  es  nicht  unmöglich  sein, 
für  einzelne  derselben  Konzessionen  zu  erzielen,  die  ein  Äquivalent 
für  die  uns  angesonnenen  Erleichterungen  bieten,  ohne  für  Rußland 
einen  Bruch  mit  dem  Systeme  des  Schutzes  der  nationalen  Arbeit  zu 
bedeuten.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sind  wir  bereit,  den  vom 
Grafen  Schuwalow  wiederholt  geäußerten  Gedanken  zu  akzeptieren, 
daß  wir  uns  beiderseits  bei  diesem  ersten  Schritte  handelspolitischer 
Annäherung  tunlichste  Beschränkung  auferlegen  und  zunächst  keinen 
eigentlichen  Handelsvertrag,  sondern  nur  eine  Verständigung  über  ein- 
zelne Fragen  ins  Auge  fassen  sollten. 

Euer  pp.  bitte  ich,  sich  sowohl  Herrn  von  Giers  wie  Herrn  von 
Wyschnegradski  gegenüber  im  Sinne  dieser  Darlegungen  zu  äußern. 
Die  jüngst  erfolgte  Paraphierung  des  deutsch-österreichischen  Handels- 
vertrags und  die  Anwesenheit  des  Grafen  Schuwalow  in  Petersburg 
wird  voraussichtlich  Anlaß  zu  Besprechungen  über  die  Frage  bieten. 
Zur  näheren  Information  Ew.  pp.  beehre  ich  mich,  ein  Promemoria  des 
diesseitigen  Referenten  über  das  dermalige  deutsch-russische  handels- 
politische Verhältnis  ergebenst  anzuschließen. 

Marschall 

Nr.  1632 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  23.  Mai  1891 
Der  österreichisch-ungarische  Botschafter  hat  mich  heute  auf- 
gesucht und  mich  vertraulich  um  Aufschluß  darüber  gebeten,  ob  an 
den  vielfachen  Zeitungsnachrichten,  wonach  zwischen  Deutschland  und 
Rußland  Handelsvertragsverhandlungen  schwebten,  irgend  etwas 
Wahres  sei.  — 

Ich  habe  dem  Grafen  Szechenyi  erwidert,  daß  alle  diese  Nach- 
richten insgesamt  der  Begründung  entbehrten;  es  läge  nichts  anderes 
vor,  als  daß  wir  auf  indirektem  Wege  in  Erfahrung  gebracht  hätten, 
der  russische  Finanzminister  wünsche  eine  handelspolitische  Annähe- 
rung zwischen  Deutschland  und  Rußland,  und  daß  demnächst  Graf 
Schuwalow  und  ich  die  Frage  gelegentlich  in  rein  akademischer  Weise 
besprochen  hätten,  wobei  sowohl  seitens  des  russischen  Botschafters 
der  Mangel  eines  amtlichen  Auftrages  wie  meinerseits  der  rein  private 
und  unverbindliche  Charakter  meiner  Äußerungen  besonders  betont 
worden  sei.  Auch  bei  diesen  Unterredungen  sei  übrigens  niemals 
von   einem   „Handelsvertrag",   sondern   nur   von   Verständigung    über 

400 


einzelne  Punkte  behufs  Anbahnung  eines  besseren  handelspolitischen 
Verhältnisses  gesprochen  worden.  —  Ob  es  Rußland  überhaupt  ernst 
sei,  mit  uns  eine  solche  Verständigung  zu  suchen,  darüber  fehle  uns 
bis  jetzt  jeder  bestimmte  Anhaltspunkt. 

Als  Graf  Szechenyi  sodann  auf  unsere  gelegentlich  der  deutsch- 
österreichischen Handelsvertragsverhandlungen  gegebene  Erklärung, 
daß  vi'ir  zurzeit  nicht  die  Absicht  hätten,  die  Österreich-Ungarn  ge- 
währten agrarischen  Konzessionen  auch  Rußland  einzuräumen,  hin- 
wies und  die  Frage  an  mich  richtete,  ob  etwa  in  diesen  Anschauungen 
inzwischen  bei  uns  eine  Änderung  eingetreten  sei,  habe  ich  erwidert, 
daß  in  unseren  handelspolitischen  Verhältnissen  zu  Rußland  bis  jetzt 
nichts  eingetreten  sei,  was  geeignet  wäre,  unsere  bezüglichen  Absichten 
zu  modifizieren,  daß  übrigens  die  Frage  der  Verallgemeinerung  der 
Österreich-Ungarn  gewährten  agrarischen  Konzessionen  keineswegs 
allein  aus  dem  Gesichtspunkte  unserer  kommerziellen  Beziehungen  zu 
Rußland  werde  entschieden  werden,  vielmehr  in  dieser  Beziehung  eine 
Reihe  interner  und  technischer  Momente  —  die  Rücksicht  auf  Handel 
und  Verkehr  in  unseren  östlichen  Provinzen,  die  technische  Ausführ- 
barkeit einer  differenziellen  Behandlung,  die  Frage,  ob  und  inwieweit 
die  indirekte  Einfuhr  über  meistbegünstigte  Länder  zu  hindern  sei  — 
in  die  Wagschale  fielen. 

Marschall 

Nr.  1633 

Aufzeichnung  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  Amtes 
Freiherrn  von  Marschall 

Reinschrift 

Berlin,  den  25.  November  1891 

Herr  von  Giers,  mit  dem  ich  heute  eine  längere  Unterredung 
hatte,  betrat  das  politische  Gebiet  mit  der  Bemerkung,  daß  er  durch 
den  Grafen  Schuwalow  von  dessen  Besprechungen  mit  mir  über  han- 
delspoütische  Fragen  gehört  habe  und  dringend  wünsche,  daß  eine 
Einigung  zwischen  Deutschland  und  Rußland  zustande  komme.  Ich 
erwiderte,  daß  wir  diesen  Wunsch  teilten  und  daher  die  uns  unter- 
breiteten Vorschläge  einer  sorgfältigen  Prüfung  unterziehen  würden,  pp. 

Herr  von  Giers  kam  zum  Schluß  nochmals  auf  die  kommerzielle 
Frage  zurück,  die  ihm  offenbar  sehr  am  Herzen  lag.  Er  wies  darauf 
hin,  daß,  als  der  Zar  vor  einigen  Jahren  hier  zum  Besuche  gewesen, 
Fürst  Bismarck  das  Lombardverbot  für  russische  Papiere  gerade  an 
demselben  Tage  erlassen  habe*.  Der  Kaiser  sei  dadurch  froissiert 
geworden.    Herr  von  Giers  glaubt  nicht  an  die  Maxime  des   Fürsten 

*  Siehe   Bd.  V,  Kap.  XXXVI,  Anhang  A 

26    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  401 


Bismarck,  daß  man  politisch  gut  stehen  und  sich  wirtschaftlich  bekriegen 
könne.  Ich  erwiderte,  daß  das  Lombardverbot  nur  eine  Antwort  auf 
zahlreiche  uns  schwer  schädigende  Maßregeln  der  russischen  Regie- 
rung gewesen  sei.  Das  werde  uns  nicht  abhalten,  die  russischen 
Vorschläge  sorgfältig  zu  prüfen,  immerhin  müßten  wir  dabei  mit 
unserer  öffentlichen  Meinung  rechnen,    pp.*. 

Marschall 


Nr.  1634 

Aufzeichnung  des  Vortragenden  Rats  im  Auswärtigen  Amt 

von  Holstein 

Eigenhändig 

Berlin,  den  30.  November  1891 

Graf  Szechenyi  besuchte  mich  heute  zum  erstenmal  nach  seiner 
Rückkehr,  pp. 

Bezüglich  der  Anwesenheit  des  Herrn  von  Giers**  sagte  ich,  daß 
seine  Äußerungen  friedlich  aber  ohne  besonderes  politisches  Interesse 
gewesen  seien;  die  französische  Regierung  habe  er  gegen  den  Verdacht 
in  Schutz  genommen,  daß  sie  in  den  lateinischen  Nachbarländern  re- 
publikanische Propaganda  treiben  wolle. 

Graf  Szechenyi  erwiderte,  er  wisse,  daß  der  Schwerpunkt  der 
Eröffnungen  des  Herrn  von  Giers  auf  wirtschaftlichem  Gebiete   liege. 

Ich  erwiderte,  Rußland  habe  seiner  Getreideausfuhr  die  Türen 
von  innen  verschlossen,  während  seine  verringerte  Kaufkraft  keine 
besonderen  Vorteile  für  unsere  Ausfuhr  verhießen,  selbst  in  dem  jetzt 
noch  nicht  vorliegenden  Falle,  wo  Rußland  die  Zölle  sollte  herab- 
setzen wollen.  Diese  ungünstige  Lage  Rußlands  werde  voraussichtlich 
Jahr  und  Tag  dauern,  sich  vielleicht  auch  noch  verschlimmern.  Gerade 
im  jetzigen  Augenblick  würde  daher  eine  wirtschaftliche  Abmachung 
mit  Rußland  für  uns  —  und  zwar  aus  rein  wirtschaftlichen  Gründen  — 
kaum  vorteilhaft  sein. 

Der  Botschafter  sagte  darauf,  die  russische  Regierung  beschäftige 
sich  zurzeit  nicht  mit  der  Zollfrage,  sondern  mit  der  Finanzfrage. 
Sie  suche  nach  Mitteln,  den  drohenden  Finanzkrach  abzuwenden,  und 
sei  deshalb  bestrebt,  den  deutschen  Geldmarkt  wieder  für  russische 
Werte  zugänglich  zu  machen.  Er,  Graf  Szechenyi,  habe  gehört,  daß 
der  Herr  Reichskanzler  persönlich  einem  Entgegenkommen  gegen  Ruß- 


*  Die  hier  ausgelassenen  Teile  der  Marschallschen  Aufzeichnung  siehe  in 
Kap.  XLVII,  Nr.  1515. 

**  Er  weilte  am  23.  und  24.  November,  von  Paris  kommend,  in  Berlin  und  wurde 
bei  dieser  Gelegenheit  vom  Kaiser  und  vom  Reichskanzler  v.  Caprivi  empfangen. 
Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1513  ff. 

402 


land  in  dieser  Frage,  d.h.  einer  Aufhebung  des  russischen  Lombard- 
verbots zuneige*. 

Ich  erwiderte,  der  Botschafter  möge  sich  deswegen  an  den  Herrn 
Staatssel<retär  wenden,  welcher  genauer  als  ich  mit  den  Ansichten 
des  Herrn  Reichskanzlers  bekannt  sei.  An  sich  sei  es  nicht  wahr- 
scheinlich, daß  man  seitens  der  deutschen  Regierung  dazu  werde  bei- 
tragen wollen,  das  deutsche  Kapital  zum  Ankauf  russischer  Werte  zu 
ermutigen.  Denn  einerseits  werde  wegen  budgetärer  und  vielleicht 
auch  innerer  sozialer  Schwierigkeiten  der  russischen  Regierung  ein 
erhebliches  Fallen  der  russischen  Fonds  erwartet,  andererseits  habe 
auf  Jahr  und  Tag  hinaus  Rußland  aus  den  bereits  angedeuteten  Grün- 
den nichts  zu  bieten,  was  dem  Risiko,  dem  man  das  deutsche  Kapital 
aussetzen  würde,  als  Gleichgewicht  würde  dienen  können.  Dies  sei 
die  gegenwärtige  Lage  der  Sache.  Für  die  Zukunft  bleibe  die 
Regelung  unserer  wirtschaftlichen  Beziehungen  als  offene  Frage  be- 
stehen, pp. 

Holstein 


♦  Siehe  Bd.  V,  Kap.  XXXVI,  Anhang  A. 


26»  403 


Kapitel  L 

Der  Draht  nach  Rußland  1892-1894 
A.  Äußere  Politik 


Nr.  1635 

Der  Gesandte  in  Kopenhagen  Freiherr  von  den  Brincken  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  62  Kopenhagen,  den  S.Juni  1892 

Vertraulich 

Der  Prinz  von  Wales,  welcher  seit  der  Zeit  meines  Aufenthalts 
in  England  bei  sich  bietendem  Anlaß  mir  immer  viel  Huld  und  Gnade 
zu  erweisen  pflegt,  hat  am  4.  d.  Mts.  noch  kurz  vor  seiner  Abreise  von 
Kopenhagen  mich  „als  alten  Londoner  Bekannten"  in  Privataudienz 
empfangen  und  mit  einer  längeren  Unterredung  beehrt. 

Wegen  der  tiefen  Trauer  um  den  Herzog  von  Clarence*  ist  meines 
Wissens  außer  dem  englischen  Gesandten  und  mir  keiner  der  in 
Kopenhagen  beglaubigten  fremden  Vertreter  von  Seiner  Königlichen 
Hoheit  während  des  jetzigen  Hierseins  gesehen  worden. 

Im  Laufe  des  von  dem  Prinzen  mit  mir  geführten  Gesprächs  er- 
wähnte höchstderselbe  auch  den  bevorstehenden  Besuch  des  Kaisers 
von  Rußland  bei  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  Könige  in  Kiel  und 
bezeichnete  diese  Begegnung  als  eine  im  Interesse  des  allgemeinen 
Friedens  durchaus  erwünschte  und  in  sich  selbst  bedeutungsvolle  Be- 
gebenheit. 

Mit  dieser  Äußerung  verband  Seine  Königliche  Hoheit  die  weitere 
Bemerkung,  daß  König  Christian  sich  ein  nicht  unwesentliches  Ver- 
dienst um  die  Herbeiführung  des  betreffenden  Besuchs  erworben  habe, 
da  derselbe  an  dem  Tage  der  goldenen  Hochzeit**  eine  direkte  Bitte^ 
dieserhalb  an  seinen  kaiserlichen  Schwiegersohn  gerichtet  habe,  deren 
Gewährung  von  dem  Zaren  dann  ohne  irgendwelche  Einwendungen 
oder  Schwierigkeiten  zu  machen  sogleich  zugestanden  worden  sei. 

Auch  von  anderer  Seite  waren  mir  bereits  vor  der  Unterredung 
mit  dem  Prinzen  von  Wales  ähnlich  lautende  Mitteilungen  über  eine 
von  König  Christian  in  der  gedachten  Richtung  ausgeübte  Einwirkung 
zugegangen. 

Bei  Gelegenheit  eines  zufälligen  Zusammentreffens  mit  dem  Könige 
von  Dänemark  am  6.  d.  Mts.  hat  Seine  Majestät  über  die  Begegnung  in 

*  Albert   Victor,   Herzog    von   Clarence,   ältester   Sohn   des   Prinzen   von   Wales, 

t  14.  Januar  1892. 

**  26.  Mai  1892.    Vgl.  Kap.  XLIX,  Nr.  1622. 

407 


Kiel  sich  höchstselbst  gegen  mich  etwa  mit  folgenden  Worten  aus- 
gesprochen: 

„Ich  freue  mich  aufrichtig  über  den  morgen  stattfindenden  Besuch 
des  Kaisers  von  Rußland  bei  Ihrem  Kaiserlichen  Herrn.  Zur  Herbei- 
führung des  betreffenden  Entschlusses  hat  es  allerdings  hier  einer 
kleinen  Pression  bedurft.  Immerhin  bleibt  es  doch  die  Hauptsache, 
daß  der  Besuch  gemacht  wird,  und  gereicht  es  mir  zu  besonderer 
Freude,  daß  derselbe  von  hier  aus  geschieht." 

Daß  König  Christian  eine  Begegnung  des  Kaisers  von  Rußland 
mit  des  Kaisers  und  Königs  Majestät  von  jeher  gewünscht  hat  und 
in  dieser  Beziehung  auch  zu  wirken  bemüht  gewesen  ist,  kann  meines 
gehorsamsten  Erachtens  sicherlich  nicht  in  Zweifel  gezogen  werden. 

Es  ist  daher  vielleicht  nicht  zu  verwundern,  daß,  nachdem  der 
Besuch  fest  beschlossen  war,  beziehungsweise  nachdem  derselbe  nun- 
mehr stattgefunden  hat,  man  an  dem  Zustandekommen  der  betreffen- 
den Begegnung  ein  gewisses  Verdienst  hier  bei  Hofe  für  sich  in  An- 
spruch zu  nehmen  geneigt  ist. 

Nichtsdestoweniger  glaube  ich,  auf  Grund  der  von  mir  gemach- 
ten Wahrnehmungen  und  gewonnenen  Eindrücke  an  der  bereits  früher 
ehrerbietigst  ausgesprochenen  Ansicht  festhalten  zu  sollen,  daß  der 
Entschluß  des  Kaisers  Alexander,  unserem  allergnädigsten  Herrn  einen 
Besuch  abzustatten,  im  Prinzip  schon  vor  der  Reise  nach  Kopenhagen 
festgestanden  hat  und  vielleicht  nur  die  letzte  Entscheidung  über  die 
wegen  der  Zeit  und  der  Einzelheiten  der  Begegnung  unserem  aller- 
höchsten  Hofe  zu  machenden  Vorschläge  hier  getroffen  worden  ist. 

Brincken 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

*  Das  ist  sehr  viel 

Nr.  1636 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freinerr  von  Marschall 
an  den  Botschalter  in  Petersburg  von  Schweinitz* 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Nr.  46  Berlin,    den   Q.Juni    1892 

Die  vorgestrige  Entrevue  zwischen  Seiner  Majestät  und  dem  Zaren 
in  Kiel  ist  in  der  befriedigendsten  Weise  verlaufen.  Nachdem  schon 
die  erste  Begegnung  an  Bord  der  „Hohenzollern"  sehr  herzlich  ge- 
wesen war,  verkehrten  die  beiden  Monarchen  während  des  ganzen 
Tages  in  ungezwungener  und  heiterer  Weise  zusammen.  Unserem 
allergnädigsten  Herrn  gelang  es  durch  seine  Liebenswürdigkeit  sieht- 

*  Das  Telegramm  ging  auch  an  die  Botschafter  in  Wien  (Nr.  102),  Rom  und 
London,  sowie  an  die  preußischen  Gesandten  in  München,  Stuttgart,  Dresden  und 
Karlsruhe. 

403 


lieh,  den  hohen  Gast  in  die  beste  Stimmung  zu  versetzen,  welche 
während  des  ganzen  Tages  unverändert  andauerte.  Sowohl  während 
des  Frühstücks  wie  bei  der  Oalatafel  und  bei  der  Bootfahrt  am  Nach- 
mittage führten  die  Monarchen  lebhafte  Gespräche;  auch  da,  wo  die 
Monarchen  allein  waren,  wurde  Politik  nicht  berührt.  Kurz  vor  der 
Galatafel  ernannte  Seine  Majestät  den  Zaren  mit  dessen  Zustimmung 
zum  Admiral  ä  la  suite  der  deutschen  Flotte.  Der  Toast  des  Kaisers 
lautete:  „Ich  trinke  auf  das  Wohl  Seiner  Majestät  des  Zaren,  des 
Admirals  ä  la  suite  der  deutschen  Flotte."  Der  Zar  antwortete  in 
französischer  Sprache  auf  den  Kaiser  mit  dem  Ausdruck  des  Dankes 
„pour  toutes  les  bontes  que  Votre  Majeste  a  eues  pour  moi."  Die 
Abreise  des  Zaren  erfolgte  abends  gegen  10  Uhr. 

Nach  einem  Telegramm  des  Kaiserlichen  Gesandten  in  Kopen- 
hagen hat  der  Zar  sowohl  seiner  Gemahlin  wie  dem  Könige  von 
Dänemark  telegraphisch  seine  hohe  Befriedigung  über  den  ihm  zuteil 
gewordenen   Empfang  ausgedrückt. 

Unser  Eindruck  ist,  daß  die  Kieler  Zusammenkunft  an  der  augen- 
blicklichen politischen  Situation  zwar  nichts  Wesentliches  ändert,  die 
persönliche  Annäherung  beider  Monarchen  aber  eine  neue  bedeutsame 
Friedensgarantie  bildet.  Der  Zar  hat  durch  seinen  Besuch  während 
des  Nancyer  Festes*  bekundet,  daß  für  ihn  eine  elsaß-lothringische 
Frage  nicht  existiert,  und  er  trotz  Kronstadt  für  eine  französische  Re- 
vanchepolitik nicht  zu  haben  ist.  Dieser  Eindruck  bleibt  bestehen, 
auch  wenn  der  Besuch  des  Großfürsten  Konstantin  in  Nancy  auf  Befehl 
des  Zaren  oder  mit  dessen  Genehmigung**  erfolgt  sein  sollte. 

Marschall 

Nr.  1637 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  160  Wien,  den  10.  Juni  18Q2 

Der  Kaiser  von  Österreich,  den  ich  in  letzter  Zeit  häufiger  zu 
sehen  die  Ehre  hatte,  ist  den  Vorbereitungen  für  die  Zusammenkunft 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  mit  dem  Zaren  mit  Aufmerk- 
samkeit gefolgt  und  hatte  Nachrichten  aus  Berlin  gehabt,  wonach  unser 

*  Vom  5.  bis  8.  Juni  fand  in  Nancy  ein  Studententurnfest  statt,  dem  schon  durch 
die  Tatsache,  daß  alle  Universitäten  mit  alleiniger  Ausnahme  der  deutschen  ge- 
laden waren,  ein  deutschfeindlicher  Charakter  aufgeprägt  wurde.  Auf  dem  Feste 
erschien  auch  der  zur  Zeit  in  einem  französischen  Bade  weilende  Großfürst  Kon- 
stantin, der  mit  ungeheurem  Jubel  begrüßt  wurde.  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1588. 
**  Tatsächlich  hatte  Großfürst  Konstantin,  wie  Botschafter  von  Schweinitz  am 
10.  Juni  auf  Grund  von  Äußerungen  des  Ministergehilfen  Schischkin  berichtete, 
die  Erlaubnis  des  Zaren  zu  dem  Besuch  in  Nancy  eingeholt 

409 


allergnädigster  Herr  mit  wenig  Befriedigung  über  die  ganze  Sache 
allerhöchst  sich  ausgesprochen  hätte. 

Um  so  froher  war  Kaiser  Franz  Joseph,  als  ich  ihm  gestern  abend 
bei  dem  großen  Hoffest  mitteilen  konnte,  was  mir  Euere  Exzellenz 
durch  Telegramm  Nr.  102*  über  den  vortrefflichen  Verlauf  der  Entrevue 
zu  eröffnen  die  Gewogenheit  gehabt  haben. 

Der  Kaiser  verkennt  nicht  die  hohe  Bedeutung  dieser  Zusammen- 
kunft und  begrüßt  mit  aufrichtiger  Freude  in  der  erfolgten  Annäherung 
der  beiden  Monarchen  eine  neue  Friedensgarantie. 

Dagegen  wollte  dem  Kaiser  das  unerwartete  Erscheinen  des  Groß- 
fürsten Konstantin  in  Nancy**  durchaus  nicht  gefallen.  Russischerseits 
habe  man  der  Franzosen  wegen  den  guten  Kieler  Eindruck  abschwächen 
wollen,  und  das  sei  zu  beklagen.  Es  freute  den  Kaiser  zu  hören,  wie 
ruhig  dieses  Intermezzo  bei  uns  aufgefaßt  würde,  er  bemerkte  aber, 
daß  man  doch  keine  zu  großen  Hoffnungen  auf  die  in  Kiel  gezeigte 
gute  Laune  des  Kaisers  Alexander  bauen  dürfe.  Immerhin  wolle  er 
auch  gern  das  Beste  glauben. 

Graf  Kälnoky  teilte  mir  heut  ein  Telegramm  des  Grafen  Wolken- 
stein mit,  wonach  man  in  St.  Petersburg  wissen  wolle,  Baron  Mohren- 
heim habe  dem  jungen  Großfürsten  geraten,  den  Präsidenten  der  fran- 
zösischen Republik  gerade  zur  selben  Zeit  zu  besuchen,  wo  Kaiser 
Alexander  sich  für  die  Fahrt  nach  Kiel  rüstetet 

Der  Minister  äußert  sich  meinen  Kollegen  gegenüber  in  einer  sehr 
zufriedenen  Weise  über  die  Kieler  Zusammenkunft.  Er  ist,  wie  ich 
bereits  zu  melden  mich  beehrte,  überhaupt  bemüht,  den  hohen  Wert 
dieses  Ereignisses  herauszustreichen.  H.VII.  P.  Reuß 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ist  im  allgemeinen  richtig,  blos  der  Rath  tel  quel  ward  nicht  gegeben  sondern 
die  Angelegenheit  dahin  gefingert. 


Nr.  163S 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  288  Wien,  den  15.  November  1892 

Mit  ganz  gehorsamster  Bezugnahme  auf  meinen  Bericht  Nr.  287 
vom  13.  d.  Mts.,  den  Besuch  Seiner  Kaiserlichen  Hoheit  des  Thronfolgers 
von  Rußland  am  hiesigen  Hofe  betreffend,  beehre  ich  mich,  die  hier- 
über eingezogenen  Erkundigungen  in  nachstehendem  zusammen- 
zufassen. 


*  Siehe  Nr.  1636,  S.  408,  Fußnote. 
**  Vgl.  Nr.  1636,  S.  409,  Fußnote  **. 

410 


Es  ist  der  Wunsch  des  hiesigen  kaiserlichen  Hofes  gewesen, 
den  hohen  Gast  mit  ganz  besonderer  Aufmeri<samkeit  zu  behandeln. 
Ob  die  verschiedenen  Nuancen  von  letzterem  bemerkt  worden  sind, 
ist  zweifelhaft,  wenigstens  wurde  mir  von  Seiten  der  Herren  der  russi- 
schen Botschaft  dies  bestätigt.  Man  hat  den  Großfürsten  von  dieser 
Seite  darauf  aufmerksam  machen  müssen,  wie  hoch  es  anzurechnen 
sei,  daß  z.  B.  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  Elisabeth  bei  der  Galatafel  er- 
schienen ist.  Seit  dem  ersten  Besuche  unseres  allergnädigsten  Herrn  in 
Wien  ist  dies  nicht  mehr  der  Fall  gewesen. 

Wie  mir  Seine  Majestät  der  König  von  Rumänien  erzählte,  hat 
der  Kaiser  diesem  gesagt,  er  habe  mit  Absicht  diesem  Besuch  einen 
ganz  besonders  feierlichen  und  herzlichen  Charakter  geben  wollen, 
um  dem  russischen  Hofe  zu  zeigen,  daß  hierseits  großer  Wert  darauf 
gelegt  würde,  die  persönlichen  Beziehungen  so  freundschafthch  wie 
möglich  zu  gestalten.  Der  Zar  schlösse  sich  ganz  ab  gegen  die  Außen- 
welt, sei  umgeben  von  Leuten,  die  es  sich  zur  Aufgabe  machten,  ihn 
den  benachbarten  Kaiserhöfen  zu  entfremden.  Da  habe  er  es  für  seine 
Pflicht  gehalten,  seinerseits  offen  zu  dokumentieren,  daß  man  hierseits 
durchaus  nicht  gewillt  sei,  die  Familienbeziehungen  erkalten  zu  lassen  i. 

Nach  Ansicht  des  Kaisers  würden  solche,  den  Mitgliedern  des 
russischen  Kaiserhauses  erwiesenen  Freundschaftsbezeugungen  keinen 
direkten  Einfluß  auf  die  russische  Politik  ausüben  2;  aber  man  dürfe 
auch  der  ferneren  Zukunft  wegen  nie  verabsäumen,  höflich  zu  sein. 
Das  habe  doch  immer  einen  gewissen  Einfluß  und  man  schaffe  sich 
Traditionen,  die  dann  doch  einmal  günstige  Reflexe  auf  die  politische 
Haltung  werfen  könnten. 

Ganz  in  demselben  Sinne  hat  sich  Seine  Majestät  auch  dem  Bot- 
schafter Grafen  Wolkenstein  gegenüber  geäußert,  der  seinerseits  die 
Bedeutung  solcher  Begegnungen  nicht  unterschätzt  und  ihnen  einen 
gewissen  Wert  für  die  Beziehungen  Rußlands,  nicht  bloß  zu  Öster- 
reich-Ungarn   sondern  auch  zu  den  verbündeten  Mächten  beilegt. 

Der  Kaiser  Franz  Joseph  will  den  Frieden.  Er  hält  es  im  Interesse 
der  Dreibundspolitik,  die  die  Erhaltung  des  Friedens  izu  ihrer  Aufgabe 
gemacht  hat,  für  nützlich,  wenn  er  seinerseits  versucht,  Rußland  gegen- 
über alles  aus  dem  Wege  zu  räumen,  was  zu  einem  Bruch  führen 
könnte.  Er  glaubt,  daß  bessere  persönliche  Beziehungen  zwischen 
beiden   Höfen  dazu   beitragen ^   könnten. 

Dem  Kaiser  Franz  Joseph  ist  die  Persönlichkeit  des  Thronfolgers 
sympathisch  und  er  hat  ihm  dies  auch  durch  die  herzliche  Weise, 
wie  er  ihn  behandelt  hat,  zu  erkennen  gegeben. 

Dagegen  ist  dieser  Prinz,  der  übrigens  sehr  höflich  gewesen  und 
unter  anderem  den  Feldzeugmeister  Baron  Beck  in  deutscher  Sprache 
angeredet  hat,  nicht  recht  aus  seiner  Reserve  herausgekommen.  Aus 
großer  Verlegenheit  hat  er  sich  unbeholfen  gezeigt*;  die  Unterhaltung 
bei  Tafel,  wo  er  zwischen  den  beiden  Majestäten  gesessen,  ist  nur 

411 


sehr  mühsam  in  Fluß  zu  erhalten  gewesen,  sodaß  selbst  die  hiesigen 
russischen  Herren  durchaus  nicht  befriedigt  von  dem  linkischen  Be- 
nehmen ihres  Thronfolgers  gewesen  sind. 

Wie  ich  höre,  ist  von  Politik  gar  nicht  gesprochen  worden,  wenn 
auch  Graf  Kalnoky  eine  Audienz  beim  Thronfolger  gehabt  hat.  Man 
ist  aber  hier  mit  dem  Effekt,  den  der  russische  Besuch  hier  und  außer 
Österreich  hervorgebracht  hat,  zufrieden  und  macht  sich  nichts  aus  der 
üblen  Laune,  welche  in  der  französischen  Presse  sich  hier  und  da  ge- 
zeigt hat.  H.VII.P.Reuß 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  IL: 

1  Gut 

2  richtig 
'  ja 

*  weil  der  arme  Junge  nie  aus  der  Kinderstube  und  von  den  Schürzenbändern 
der  Mama  fortgelassen  wird 


Nr.  1639 
Kaiser  Wilhelm  II.  an  den  Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Telegramm.   Entzifferung 

Neues  Palais,  den  18.  November  1892 
Der  Graf  Schuwalow  hat  mir  soeben  ein  Telegramm  seines  Souve- 
räns an  ihn  vorgelesen,  in  welchem  der  Zar  den  Grafen  beauftragt,  mir 
mitzuteilen,  daß  er  wünsche,  wenn  es  angängig  wäre,  den  General 
von  Werder  als  Nachfolger  des  Generals  von  Schweinitz*  in  St.  Peters- 
burg zu  sehen.  Der  Zar  würde  es  als  eine  besondere  Liebenswürdigkeit 
meinerseits  ansehen,  wenn  ich  diesem  Wunsche  willfahren  sollte,  und 
es  würde  ihm  eine  ganz  speziell  persönliche  Freude  damit  gemacht 
werden.  Ich  teilte  dem  Großfürsten**  diese  Nachricht  mit  und  be- 
fragte ihn  darob.  Aus  seinem  Gesicht  konnte  ich  entnehmen,  daß  er 
darum  wußte.  Er  setzte  sofort  hinzu,  er  hoffe  sehr,  daß  sich  die  Sache 
machen  lasse,  da  er  mir  versichern  könne,  daß  sein  Bruder  ein  abso- 
lutes und  unbegrenztes  Vertrauen  in  den  General  habe,  weil  dieser 
offen  und  ohne  Rückhalt  ihm  schon  oft  seine  Ansichten  gesagt  habe. 
Ich  habe  daraufhin  dem  Botschafter  geantwortet,  daß  ich  für  das  Ver- 
trauen Seiner  Majestät,  sich  direkt  an  mich  in  dieser  Angelegenheit  zu 
wenden,  sehr  dankbar  sei.    Es  käme  bei  unseren  intimen  Beziehungen 

*  General  von  Schweinitz  reichte  am  28,  November  sein  infolge  geschwächter  Ge- 
sundheit schon  länger  geplantes  Abschiedsgesuch  ein,  das  am  5.  Dezember  genehmigt 
wurde.  Der  für  seine  Nachfolge  in  Frage  kommende  General  von  Werder  war 
noch  von  der  Zeit  her,  wo  er  Bevollmächtigter  in  Petersburg  gewesen  (vgl. 
Bd.  II,  Kap.  X)  war,  am  russischen  Hofe  persona  gratissima. 
**  Seit  dem  17.  November  weilte  Großfürst  Wladimir,  von  Paris  kommend,  zu 
Besucli  am  deutschen  Kaiserhofe.  Er  brachte  Kaiser  Wilhelm  II.  die  ersten  Nach- 
richten über  die  durch  die  Panamaaffäre  hervorgerufene  französische  Regierungs- 
krise. 

412 


mir  vor  allem  darauf  an,  daß  der  Zar  zu  meinem  Vertreter  volles  Ver- 
trauen habe,  und  sei  es  mir  in  diesem  Fall  eine  Freude,  seinem  Wunsche 
nachkommen  zu  können.  Falls  General  von  Werder  es  mit  seiner  Ge- 
sundheit leisten  könne  und  Euere  Exzellenz  einverstanden  seien,  würde 
ich  ihn  schicken. 

Wilhelm  LR. 

Nr.  1640 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi  an  Kaiser  Wilhelm  II., 
z.  Z.  in  Jagdschloß  Göhrde 

Telegramm.  Eigenhändiges  Konzept 

Berlin,  den  18.  November  1892 
General  von  Werder  ist  bereit,  den   Posten  anzunehmen,  seine 
Gesundheit  sei  kein  Hindernis.    Ich  befürworte  die  Sache  allerunter- 
tänigst  und  stelle  anheim.  Euerer  Majestät  Entschluß  Seiner  Kaiser- 
lichen Hoheit  dem  Großfürsten  Wladimir  mitzuteilen. 

In   Paris  ist  Entscheidung   erst  heut  zu    erwarten.     Ministerium 
Loubet  hat  Vertrauensfrage  gestellt. 

V.  Caprivi 

Nr.  1641 

Kaiser  Wilhelm  IL,  z.Z.in  Jagdschloß  Göhrde,  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Telegramm.  Entzifferung 

Göhrde,  den  18.  November  1892 
Seine  Kaiserliche  Hoheit  der  Großfürst*  ist  hoch  erfreut  über 
die  rasche  Erledigung  des  Wunsches  des  Zaren  und  dessen  Mitteilung 
an  ihn.  Er  meint,  es  werde  den  allerbesten  Eindruck  auf  Seine  Ma- 
jestät machen.  Ich  werde  Seiner  Majestät  telegraphisch  Mitteilung 
machen,  jedoch  ohne  Nennung  der  Namen  in  unverfänglicher  Weise. 
Graf  Schuwalow,  den  ich  orientierte,  ist  außer  sich  vor  Freude.  Groß- 
fürst bleibt  bei  seiner  Ansicht,  daß  französisches  Ministerium  unter 
allen  Umständen  fallen  werde.  Prinz  Albert  von  Altenburg**,  den  ich 
vertraulich  von  der  von  Werderschen  Frage  informierte,  erklärte,  als 
er  vernahm,  daß  der  Zar  in  dieser  Angelegenheit  persönlich  den  ersten 
Schritt  getan  habe,  daß  nach  seiner  durch  Erfahrungen  wohl  begründe- 
ten Ansicht  eine  solche  vom  Zaren  völlig  unerwartete  Initiative  als 
ein  außerordentlich  günstiges  Zeichen  aufzufassen  sei. 

*  Wladimir. 

**  Er  hatte  als  früherer  russisch'^r  Generalmajor  ä  la  suite  des  Kaisers  nahe  Be- 
ziehungen zum  russischen  Hofe. 

413 


Wenn  dieser  sich  so  schwer  entschließende  Herr  einen  solchen 
Schritt  in  so  wichtiger  Angelegenheit  aus  sich  selbst  heraus  mache,  so 
sei  das  als  ein  absolut  sicheres  Zeichen  anzusehen,  daß  er  die  red- 
liche Absicht  habe,  mit  uns  auf  einen  besseren  und  freundlicheren 
Fuß  wieder  zu  kommen.  Er  begrüße  diesen  Vorfall  mit  ungeheuchelter 
Freude  und  hege  die  feste  Überzeugung,  daß  politisch  viel  Gutes 
für  uns  beide  dabei  herauskommen  werde.  Er  sei  der  Meinung,  daß 
dieses  Ereignis  eines  der  größten  und  wichtigsten  in  der  augenblick- 
lichen Politik  sei.  Das  russische  politische  Publikum,  welches  eine 
ungemein  feine  Nase  habe,  werde  sofort  nach  Bekanntwerden  dieser 
Sache  daraus  einen  politischen  Wink  des  Zaren  erblicken,  uns  gegen- 
über mal  wieder  andere  Saiten  aufzuziehen  und  demgemäß  wieder 
deutschfreundlicher  sich  zu  stellen  streben. 

Der  Prinz  ist  keinen  Augenblick  im  Zweifel,  daß  bei  dem  un- 
begrenzten Vertrauen  des  Zaren  zu  General  von  Werder  es  demselben 
sehr  bald  gelingen  werde,  des  Grafen  von  Montebello  uns  gefähr- 
lichen und  schädlichen  Einfluß  bald  aufzuheben  und  Seine  Majestät 
allmählich  aus  dem  französischen  Fahrwasser  herauszubringen.  Dieses 
Ereignis  in  Verbindung  mit  der  Mißstimmung,  die  augenblicklich  gegen 
Paris  umsichzugreifen  anfange,  werde,  da  es  ziemlich  gleichzeitig  mit 
dem  Sturz  des  französischen  Ministeriums  (Kronstadter  Ministerium) 
zusammenfalle,  einen  sehr  scharfen  und  ernüchternden  kalten  Wasser- 
strahl auf  die  Franzosen  werfen. 

Euere  Exzellenz  werden  aus  dem  vorhergehenden  ersehen,  wie 
wichtig  von  allen  Eingeweihten  und  Wohlmeinenden  die  Kandidatur 
von  Werders  betrachtet  wird,  und  daß  wir  mit  ihm  anscheinend  einen 
guten  Trumpf  in  unseren  politischen  Karten  auszuspielen  haben.  Ich 
bin  erfreut,  durch  diese  Gefälligkeit  in  der  Lage  zu  sein,  dem  Zaren 
von  neuem  aufrichtigen  Beweis  meiner  persönlichen  Freundschaft  für 
ihn  habe  geben  zu  können.  Zugleich  ist  dieser  Vorfall  ein  schlagender 
Beweis  wiederum  dafür,  wie  sehr  sich  seit  dem  Rücktritt  des  Fürsten 
von  Bismarck  das  persönliche  Vertrauen  des  Zaren  zu  uns  ge- 
hoben hat. 

Wilhelm  I.  R. 

Nr.  1642 

Kaiser  Alexander  III.  von  Rußland,  z.  Z.  in  Galschina, 

an  Kaiser  Wilhelm  IL,  z.  Z.  in  Jagdschloß  Qöhrde 

Telegramm  en  clair.  Ausfertigung 

Gatschina,  den  18.  November  18Q2 
Suis  tres  heureux  de  la  bonne  nouvelle  que  Tu  me  donnes  et  tres 
sensible  ä  cette  nouvelle  preuve  de  Ton  aimabilite  en  nommant  WferderJ 
ä  Petersbourg  que  Tu  savais  me  ferait  plaisir.   Mille  amities. 

Alexandre 

414 


Nr.  1643 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  9  Wien,  den  6.  Januar  1893 

pp.  Graf  Kälnoky  knüpfte  hieran*  eine  allgemeine  Betrachtung  über 
die  russische  Politik.  Er  hält  dafür,  wie  Euerer  Exzellenz  bekannt,  daß 
Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  durchaus  friedliche  Absichten  hat, 
und  hofft  auch,  daß,  was  seine  Sympathien  und  Antipathien  betrifft, 
sich  allmähUch  eine  Wandlung  in  dem  Gemüte  des  Zaren  vollziehen 
dürfte. 

Zu  bedauern  sei  aber,  daß  sich  beim  Kaiser  der  Gedanke  fest 
eingenistet  habe,  wie  der  Dreibund  in  erster  Linie  gegen  Rußland 
geschlossen  worden  sei,  daß  ihm  deshalb  von  dort  aus  stets  Gefahr 
drohe. 

Aus  diesem  Grunde  ließe  der  sonst  so  friedfertige  Kaiser  den 
allerdings  schon  seit  langer  Zeit  beschlossenen  Aufmarsch  der  russischen 
Armee  an  unseren  Grenzen  sich  vollziehen. 

Er,  Graf  Kälnoky,  könne  nun  einmal  den  Gedanken  nicht  los  wer- 
den, daß  in  dieser  großen  Ansammlung  von  Truppen  die  größte  Ge- 
fahr liege**.  Trotz  der  Friedensliebe  des  Zaren,  der  ja  nicht  unsterblich 
sei,  würde  diese  zum  Kriege  bereite  große  Macht  gewissermaßen  durch 
das  Gesetz  der  Schwere  einmal  in  Bewegung  kommen.  Der  gering- 
fügigste Anlaß  könne  dies  bewirken.  Man  belächele  diese  seine  Ansicht, 
wenn  er  sie  ausspräche;  er  könne  sich  aber  nicht  von  dieser  Be- 
fürchtung los  machen.  Es  bleibe  daher  nichts  anderes  übrig  als  immer 
weiter  zu  rüsten. 

Ich  benutzte  den  mir  im  weiteren  Gespräch  gegebenen  Anlaß, 
um  dem  Minister  von  meinem  neulichen  Gespräch  mit  seinem  Kaiser 
zu  reden.  Ich  fand  bei  ihm  Verständnis,  als  ich  ihm  dagte,  die  k.  u.  k. 
Regierung  müsse  sich  endUch  einmal  entschließen,  trotz  des  Wider- 
standes der  Herren  Finanzminister  einen  etwas  tieferen  Griff  in  den 
Beutel  zu  tun.  Unsere  Verbündeten,  in  welche  wir  das  größte  Ver- 
trauen setzten,  hielten  nicht  gleichen  Schritt  mit  uns,  und  ich  hätte 
mich  außerordentUch  gefreut,  vor  einigen  Tagen  aus  dem  Munde  Seiner 


♦  Den  Anfang  des  Berichts  über  die  Äußerungen  des  Grafen  Kälnoky  siehe  Bd.  IX, 
Kap.  LV,  Nr.  2129. 

**  Vgl.  auch  den  Bericht  des  französischen  Botschafters  Grafen  de  Montebello 
vom  7.  September  1893  über  die  seit  Jahresfrist  ganz  systematische  Verschiebung 
der  russischen  Streitliräfte  gegen  die  deutsch-österreichische  Grenze.  „Le  travail 
de  concentration  de  ses  forces  miütaires  vers  les  frontieres  d'Allemagne  et  d'Au- 
triche  s'est  poursuivi  avec  une  rcgularite  qui  ne  s'est  pas  un  instant  dementie". 
Gelbbuch  "L'AlHance  Franco-Russe"   (1918),  p.  187. 

415 


Majestät  selbst  zu  hören,  daß  eine  Vermehrung  des  Präsenzstandes 
notwendig  sei  und  gemacht  werden  müsse.  Es  koste  dies  allerdings 
viel  Geld  und  wir  stürzten  uns  in  Schulden,  weil  wir  die  Pflicht,  für 
alle  Fälle  unseren  Gegnern  ebenbürtig  zu  sein,  allen  anderen  Rück- 
sichten voransetzten. 

Der  Minister  erkannte  dies  an  und  gab  mir  zu,  daß  hier  mehr  ge- 
schehen müsse  als  bisher. 

Ich  will  wünschen,  daß  diese  Ansicht  seinerzeit  den  Finanz- 
ministern gegenüber  geltend  gemacht  werde.  H.VII.P.  Reuß 

Schlußbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 
Wollen  es  hoffen. 


Nr.  1644 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  6  St.  Petersburg,  den  13/1.  Januar  1893 

Daß  ich  die  Ehre  gehabt  habe,  gestern  meine  Kreditbriefe  Seiner 
Majestät  dem  Kaiser  Alexander  zu  überreichen,  habe  ich  schon  telegra- 
phisch gemeldet. 

Der  Empfang  war  der  an  hiesigem  Hofe  gebräuchliche,  ein  feier- 
licher, pp. 

Nachdem  ich  meine  Kreditbriefe  überreicht  hatte  und  der  Kaiser 
die  gebräuchlichen  allgemeinen  Fragen  nach  Seiner  Majestät  dem  Kaiser 
und  der  kaiserlichen  Familie,  der  bevorstehenden  Hochzeit*  getan 
hatte,  ich  ihm  gegenüber  sitzend,  fragte  er  mich,  wie  es  mit  der 
Militärvorlage**  stände. 

Ich  konnte  ihm  darauf  nur  erwidern,  daß  das  Schicksal  derselben 
sich  in  der  nächsten  Zeit  entscheiden  müßte,  da  die  Kommissions- 
verhandlungen angefangen  hätten,  daß,  wenn  auch  die  Opposition  gegen 
dieselbe,  namentlich  gegen  die  Geldbewilligung  eine  sehr  starke  wäre, 
Seine  Majestät  der  Kaiser  und  Euere  Exzellenz  fest  entschlossen  wären, 
sie  mit  allen  Mitteln  durchzuführen. 


*  Gemeint  ist  die  auf  den  25.  Januar  festgesetzte  Vermählung  der  Prinzessin  Mar- 
garete mit  dem  Prinzen  Friedrich  Karl  von  Hessen,  an  der  dann  auch  der 
russische  Thronfolger  teilnahm. 

**  Am  23.  November  1892  hatte  der  Reichskanzler  eine  Militärvorlage  großen 
Stiles,  die  auf  der  einen  Seite  eine  Erhöhung  des  Friedenspräsenzstandes  um 
83  894  Mann  forderte,  auf  der  anderen  den  Übergang  zu  der  zweijährigen  Dienst- 
zeit involvierte,  mit  einer  großen  Rede  im  Reichstage  eingebracht,  die  auch  aus- 
führlich auf  die  Beziehungen  Deutschlands  zu  Rußland  und  Frankreich  einging 
und  in  der  hochherzigen  und  friedlichen  Gesinnung  Kaiser  Alexanders  III.  einen 
der  stärksten  Faktoren  für  die  Erhaltung  des  Friedens  in  Europa  sehen  wollte. 

416 


Als  ich  sagte,  wie  ungerechtfertigt  z.  B.  die  Opposition  gegen  die 
Biersteuer  wäre,  da  der  Aufschlag  für  den  Konsumenten  minimal, 
gar  nicht  zu  bemerken  wäre,  äußerten  Seine  Majestät,  das  wäre  ganz 
wie  hier  mit  der  projektierten  Salzsteuer. 

Der  Kaiser  sprach  in  der  objektivsten  Weise  über  die  Militär- 
vorlage, in  keiner  Weise  so,  als  wenn  dieselbe,  durchgeführt,  eine  Ge- 
fahr für  sein  Land  in  sich  trüge.  Er  beklagte,  daß  keine  Regierungs- 
vorlage mehr  sachgemäß  beraten  werden  könne,  sondern  daß  die  Ver- 
handlungen immer  seitens  der  verschiedenen  Parteien  in  einer  ge- 
hässigen Weise  geführt  würden.  Und  er  bezog  dies  nicht  etwa  nur 
auf  Deutschland. 

Die  Unterhaltung  schloß  damit,  daß  der  Kaiser  sagte,  er  sähe 
sehr  schwarz  und  er  glaube,  daß  das  20.  Jahrhundert  uns  große 
Katastrophen  bringen  würde. 

Aus  der  Unterredung  mit  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  möchte  ich 
hervorheben,  daß  die  hohe  Frau  zweimal  sehr  lebhaft  äußerte,  Seine 
Majestät  der  Kaiser  wären  in  einer  so  besonders  liebenswürdigen  und 
freundschaftlichen  Weise  dem  Wunsche  des  Kaisers  Alexander,  mich 
hier  als  Botschafter  zu  sehen,  entgegengekommen. 

Nach  dem  Empfang  durch  Ihre  Majestät  stellte  ich  mich  dem 
Thronfolger  vor.  Dieser  sagte  mir,  er  freue  sich  sehr  auf  Berlin  und 
bedauere,  daß  seine  Antwort  auf  das  Einladungsschreiben  Seiner  Ma- 
jestät des  Kaisers  so  lange  hätte  auf  sich  warten  lassen,  dasselbe  wäre 
aber  während  seiner  Abwesenheit  im  hiesigen  Ministerium  eingetroffen 
und  man  hätte  es  ihm  unbegreiflicherweise  nicht  nachgeschickt. 

Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  hat  mich  beauftragt,  unserem 
allergnädigsten  Herrn  seinen  besten  Dank  für  die  ihm  durch  mich 
überreichten  Geschenke  auszusprechen. 

Bei  der  heutigen  Neujahrsgratulation  lud  mich  der  Kaiser  ein, 
ganz  wie  früher  Sonntags  zur  Messe  und  zum  Frühstück  zu  kommen, 
immer  wenn  es  mir  paßte,  es  wäre  natürlich  nicht   obligatoire. 

Ich  muß  sagen,  daß  mich  das  überrascht  hat,  das  hatte  ich  nicht 
erwartet,  und  als  ich  Seiner  Majestät  meinen  Dank  für  diesen  Gnaden- 
beweis aussprach,  sagte  allerhöchstderselbe,  „es  sollte  alles  wie  früher 
bleiben,  sich  nichts  in  den  alten  Beziehungen  ändern*'. 

Heute  trifft  der  Emir  von  Buchara  mit  zahlreichem  Gefolge  hier 
ein.  Er  wird  im  Winterpalais  wohnen,  aber  besondere  Feiern  werden 
für  ihn  nicht  stattfinden.  Man  verlangt,  daß  er  die  ersten  Besuche 
macht. 

v.  Werder 

Bemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.  am  Schluß  des  Schriftstücks: 
Das  Entree  ist  so  günstig  wie  man  nur  wünschen  kann.    Ich  vertraue  Werder, 
daß  er  es  zum  Heile  unsrer  Beider  Häuser  und  Länder  gut  ausnutzen  wird. 
Der  Friede  Europas  ruht  nicht  zu  einem  geringen  Theil  in  seinen  Händen. 

27    Die  Große  Politik.   7.  Bd.  41  7 


Nr.  1645 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Eigenhändiger  Privatbrief 

St.  Petersburg,  den  31.  Januar  1893 
Euer  Exzellenz! 

Beehre  ich  mich  in  nachstehendem  den  Inhalt  einer  Unterredung, 
welche  ich  mit  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Alexander  am  Geburtstage 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  vor  dem  Frühstück  in  seinem  Kabinett 
gehabt  habe,  ganz  gehorsamst  zu  unterbreiten. 

Nachdem  wir  uns  gesetzt  hatten,  begannen  Seine  Majestät  die 
Unterhaltung  folgendermaßen: 

„Ich  habe  Ihnen  noch  nicht  von  den  Reden  des  Grafen  Caprivi*  ge- 
sprochen, weil  ich  keinen  großen  Wert  darauf  lege  (je  n'en  fais  pas  de 
cas),  ich  finde  aber  doch,  daß  der  General  zu  viel  gesagt  hat,  wodurch 
seine  Worte  ein  unangenehmes  Aufsehen  in  Rußland  und  im  übrigen 
Ausland  gemacht  haben.  Das  kommt  aber  vom  Parlamentarismus  und 
der  General  ist  kein  Parlamentarier  sondern  Soldat.  Ich  kann  ja  auch 
begreifen,  daß  er  etwas  zu  weit  gegangen  ist  (qu'il  a  pris  la  note  un 
peu  trop  haute),  da  ihm  alles  daran  liegt,  die  Vorlage  durchzubringen.'* 

Auf  meine  Äußerung,  daß  Eure  Exzellenz  ja  die  Ihnen  in  den 
Mund  gelegten  Äußerungen,  welche  die  Presse  so  wiedergegeben  hätte, 
als  hätten  Eure  Exzellenz  sie  erfunden,  gleich  in  der  offiziellsten  und 
energischsten  Weise  hätten  dementieren  lassen,  und  daß  der  Charakter 
und  die  politische  Vergangenheit  Euer  Exzellenz  dafür  bürgten,  daß 
Sie,  Herr  Reichskanzler,  gar  nicht  so  hätten  sprechen  können,  wie  die 
Telegramme  es  in  der  Welt  verbreitet  hätten,  sagten  Seine  Majestät: 
„Ja  das  weiß  ich,  denn  ich  habe  die  höchste  Achtung  vor  dem  Cha- 
rakter des  Generals  und  ich  zweifle  nicht  daran,  daß  er  bestrebt  ist, 
gute  Beziehungen  zwischen  unsern  Ländern  zu  erhalten". 

Ich  bestätigte  dieses  natürlich  und  fügte  hinzu,  daß  Eure  Exzellenz 
diese  Politik  ganz  im  Sinne  Seiner  Majestät  des  Kaisers  führten. 

In  der  Hoffnung,  daß  Eure  Exzellenz  damit   einverstanden    sind. 


*  Gemeint  ist  neben  der  großen  Reichstagsrede  vom  23.  November  1892  (siehe 
Nr.  1644,  Fußnote  **)  die  Rede,  mit  der  Caprivi  am  11.  Januar  1893  die  Be- 
ratungen der  Reichstagskommission  für  die  Militärvorlage  eröffnete,  und  in  der 
er  wieder  auf  die  Möglichkeit  eines  Zweifrontenkriegs  und  die  Wahrscheinlichkeit 
militärischer  Abmachungen  —  zu  Wasser  und  zu  Lande  —  zwischen  Frankreich 
und  Rußland  hinwies.  Vgl.  Schultheß'  Europäischer  Geschichtskalender  Jg.  1893, 
S.  2f.  Nach  einem  Bericht  Werders  vom  18.  Januar  1893  wäre  die  Rede  Caprivis 
in  Petersburg  zunächst  in  einer  sehr  entstellten  Fassung  bekannt  geworden.  Vgl. 
dazu  die  amtliche  Erklärung  in  der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung"  vom 
13.  Januar. 

418 


habe  ich  es  vorgezogen,  diesen  ganz  gehorsamsten  Bericht  in  privater 
Form  zu  machen  und  behalte  mir  vor,  den  Schluß  der  Unterredung  einem 
politischen  Bericht  anzufügen, 

V.  We  r  d  e  r 


Nr.  1646 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder 

Telegramm.   Konzept  von  der  Hand  des  Vortragenden  Rats  Grafen  von  Pourtales 

Nr.  22  Berlin,  den  27.  Januar  1893 

Augenscheinlich  um  günstige  Wirkung  des  Besuches  des  Groß- 
fürsten-Thronfolger an  unserem  Hofe*  zu  neutralisieren,  werden  in 
französischer,  englischer  und  österreichischer  Presse  Nachrichten  lan- 
ciert, daß  in  diesem  Frühjahr  russischer  Angriff  auf  Deutschland  in 
Aussicht  stehe. 

Englisch-französische  „Agence  Dalziel"  meldete  kürzlich,  russische 
Rüstungen  nähmen  in  diesem  Augenblick  derartig  bedrohlichen  Cha- 
rakter an,  daß  in  höchsten  Berliner  Kreisen  dem  Frühjahr  mit  Beun- 
ruhigung entgegensehen  werde.  „Neue  Freie  Presse"  hat  sich  dazu 
hergegeben,  diese  Nachricht  weiter  zu  verbreiten. 

Heutiger  „Figaro''  bringt  Mitteilung,  derzufolge  der  jüngste  Be- 
such des  Großfürsten  Sergius  in  Frankreich  den  Zweck  gehabt  habe, 
festzustellen,  ob  Frankreich  zu  einem  Kriege  im  Frühjahr  hinlänglich 
vorbereitet  sei**.  Französische  Regierung  habe  sich  dieser  Mission 
des  Großfürsten  gegenüber  reserviert  verhalten. 

Die  Nachricht  der  „Agence  Dalziel''  wird  in  „Norddeutscher  All- 
gemeiner Zeitung"  widerlegt  und  dabei  bemerkt,  daß  hier  von  Kriegs- 
befürchtungen der  höchsten  Kreise  für  nächste  Zeit  nie  die  Rede  ge- 
wesen ist.  Marschall 


*  Er  weilte  vom  24.  bis  28.  Januar  am  deutschen  Kaiserhofe.  Vgl.  auch  Kap.  XLVII, 
Nr.  1526. 

♦*  Es  hieß  in  dem  „Figaro"-ArtikeI  u.  a.,  kurz  vor  Beginn  des  Ahlwardtschen 
Prozesses  hätte  die  russische  Militärpartei  durch  Hinweis  auf  die  enthüllten  Mängel 
der  deutschen  Bewaffnung  und  durch  das  hierauf  gegründete  Argument,  daß  Frank- 
reich im  Fall  eines  sofortigen  Krieges  einen  mehr  als  neunmonatigen  Vorsprung 
vor  Deutschland  voraus  habe,  dem  Zaren  den  Vorteil  eines  baldigen  Krieges  nahe- 
gelegt. Der  Zar  habe  daraufhin  den  Großfürsten  Sergius  in  geheimer  Mission 
nach  Rom,  London,  Paris  gesandt.  In  Rom  habe  sich  der  Großfürst  überzeugt, 
daß  Italien  lange  noch  nicht  kriegsbereit  sei.  In  Paris  habe  man  gewisse  Reserve 
gezeigt;  doch  habe  der  Großfürst  die  Oberzeugung  von  der  Kriegsbereitschaft 
Frankreichs  gewonnen.  In  London  habe  der  Großfürst  gesehen,  daß  England 
Neutralität  nur  gegen  Überlassung  von  Ägypten  und  Marokko,  gegen  völlige  Un- 
abhängigkeit der  Balkanstaaten  usw.  versprechen  würde.  Im  ganzen  sei  der 
Großfürst  mit  dem  Eindruck  heimgekehrt,  daß  die  Stimmung  in  Westeuropa  von 
dem  Optimismus  der  russischen  Militärpartei  weit  entfernt  sei. 

27*  419 


Nr.  1647 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  25  St.  Petersburg,  den  31.  Januar  1893 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  infolge  des  geehrten  Telegramms 
vom  20.  d.  Mts.  Nr.  24*  ganz  gehorsamst  zu  berichten,  daß  ich  ver- 
mieden habe,  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  Alexander  über  den  Artikel 
des  „Figaro",  den  Großfürsten  Sergei  in  Paris  betreffend,  zu  sprechen, 
weil  ich  am  Geburtstage  Seiner  Majestät  des  Kaisers  eine  längere 
Unterredung  mit  allerhöchstdemselben  hatte  und  ich,  die  Natur  des 
Kaisers  kennend,  es  nicht  für  richtig  halte,  ihn  oft  auf  politische 
Dinge  anzureden  i. 

Dagegen  gab  mir  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  Gelegenheit,  ihr  so- 
wohl von  diesem  Artikel  als  von  dem  in  der  „Agence  Dalziel",  dessen 
Inhalt  ja  offiziell  dementiert  worden  ist,  zu  sprechen.  Ihre  Majestät 
sagte  mir  nämlich,  der  Thronfolger  hätte  aus  Berlin  nicht  geschrieben, 
aber  öfter  telegraphiert  und  sich  höchst  befriedigt  und  gerührt  über 
die  Aufnahme,  welche  er  dort  gefunden  hätte,  ausgesprochen.  Dieses 
benutzte  ich,  um  Ihre  Majestät  zu  fragen,  ob  sie  die  beiden  Artikel 
gelesen  hätte,  was  sie  bejahte,  und  natürhch  war  sie  auch  entrüstet 
darüber. 

Ich  bin  überzeugt,  daß  sie  dem   Kaiser  darüber   sprechen    wird. 

Seine  Majestät  äußerte  unter  anderem  im  Gespräch  mit  mir:  er 
zweifle  nicht  daran,  daß  das  Ziel  Euerer  Exzellenz  Führung  der  po- 
litischen Angelegenheiten  das  sei,  gute  Beziehungen  zwischen  Deutsch- 
land und  Rußland  zu  erhalten. 

Ich  bestätigte  dies  aus  voller  Überzeugung  und  fügte  hinzu,  daß 
Euere  Exzellenz  diese  Politik  ganz  im  Sinne  und  im  Einverständnis 
mit  unserem  allergnädigsten  Herrn  führten  und  auch  dieser  von  den 
friedlichsten  Gesinnungen  beseelt  sei.  Seine  Majestät  sowohl  als  Euere 
Exzellenz  hätten  mir  das  öfter  ausgesprochen. 

„Ja,  das  weiß  ich,"  sagte  darauf  der  Kaiser.  „Als  der  Kaiser 
Wilhelm  so  jung  auf  den  Thron  kam,  konnte  man  befürchten,  daß  er 
durch  Ruhmsucht  und  den  Wunsch,  sich  Lorbeeren  zu  erreichen,  zu 
kriegerischen  Anwandlungen  hätte  getrieben  werden  können,  aber  das 
ist  jetzt  vorbei.  Was  würde  das  auch  für  ein  Krieg  werden!"  setzte 
Seine  Majestät  hinzu. 

„Ja,  ein  furchtbarer,"  entgegnete  ich  darauf,  „die  Menschen,  die 
ihn  herbeiführen   wollten,  sollten  sich   nur  klarmachen,  daß    nur    die 


*  Durch    Telegramm    Nr.  24    war   dem    Botschafter   anheimgegeben   worden,   mit 
Kaiser  Alexander  III.   über  den  „Figaro"-ArtikeI  vom  27.  Januar  zu  sprechen. 

420 


1 


Umsturzpartei  einen  Vorteil  von  ihm  haben  würde;  diese  dränge  zum 
Kriege,  weil  sie  hoffe,  Seide  dabei  zu  spinnen,  die  monarchistischen 
Regierungen   zu  stürzen  ^.'^ 

„Ja,"  sagte  der  Kaiser,  „und  an  der  Spitze  dieser  Partei  stehen 
überall  die  Juden 3,  das  ist  ganz  unzweifelhaft/' 

Ich  habe  mich  durch  dieses  Gespräch  wieder  davon  überzeugt, 
wozu  ich  schon  oft  Gelegenheit  hatte,  daß  der  Kaiser  Alexander  der 
in  äußerer  Politik  mäßigst  denkende  Mann  in  Rußland  ist  und  dabei 
der  friedliebendste.  Ich  habe  ihn  nie,  wie  so  oft  seinen  Herrn  Vater, 
in  schroffer,  leidenschaftlicher  Weise  über  politische  Ereignisse  sprechen 
hören,   Charakter  und  Temperament  verbieten   das. 

Er  liebt  es  sehr,  wenn  man  ihn  in  Ruhe  läßt,  Liebenswürdigkeiten, 
sei  es  durch  Aufmerksamkeiten  oder  Geschenke,  sind  an  ihm  ver- 
geudet; der  Sinn  hierfür  geht  ihm  ab. 

Über  den  Aufenthalt  Seiner  Kaiserlichen  Hoheit  des  Thronfolgers 
hat  er  nicht  mit  mir  gesprochen.  Ihre  Majestät  die  Kaiserin  sagte  mir 
aber,  sie  sähe  die  Verleihung  der  Kette  des  Schwarzen  Adlerordens 
an  ihren  Herrn  Sohn  als  eine  besondere  Liebenswürdigkeit  Seiner 
Majestät  an,  da  sie  wüßte,  daß  fremde  Fürstlichkeiten  diese  sonst 
nicht  erhielten.  v.  Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

i  Richtig 

2  gut 

'  u[ndl  Franzosen 

Nr.  1648 

Kaiser  Franz  Joseph  von  Österreich  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Eigenhändiges  Handschreiben 

Wien  den  5.  Februar  1893 
Mein  theurer  Freund, 

Vor  Allem  laße  mich  Dir  dafür  danken,  daß  Du  im  Gedränge  von 
Geschäften  und  Menschen  meiner  gedacht  und  Du  Dich  der  Mühe 
unterzogen  hast,  mir  über  Dein  Zusammensein  mit  dem  Großfürsten 
Thronfolger  eingehende  Mittheilung  zu  machen*.  Die  Schilderung  seiner 
Haltung,  seines  sympathischen  Wesens  und  ruhigen  selbstständigen 
Urtheiles  entspricht  vollständig  dem  Eindrucke,  den  mir  dessen  Besuch 
im  November  vorigen  Jahres  hinterlassen  hat. 

Das  korrekte  Privatissimum,  welches  Du  ihm  über  die  Entstehung, 
die  Natur  und  die  Ziele  des  Dreibundes  gehalten**,  scheint  empfäng- 


*  Der  Brief  des   Kaisers  an   Franz  Joseph   findet  sich  nicht  bei  den  Akten  des 

Auswärtigen  Amts. 

•*  Siehe  Kap.  XLVII,  Nr.  1526. 

421 


liehen  Boden  gefunden  zu  haben;  dafür  spricht  der  Umstand,  daß  er 
Dich  um  die  schriftHche  Abfaßung  der  erhaltenen  Aufklärungen  in  der 
Absicht  ersucht  hat,  diese  ihrem  vollen  Inhalte  nach  verwerthen  zu 
können.  Mit  Recht  hebst  Du  hervor,  daß  es  nun  zumeist  darauf  an- 
komme, ob  es  der  Thronfolger  verstehen  und  es  ihm  gelingen  werde, 
den  verlästerten  Bund,  seinem  Vater  gegenüber,  im  wahren  Lichte  er- 
scheinen zu  lassen. 

Nicht  unwesentlich  dürfte  der  Versuch  durch  die  Zeit,  in  welche 
er  fällt,  unterstützt  werden,  da  sich  Heute  wohl  Niemand  mehr  der 
Erkenntniß  wird  verschliessen  können,  daß  bei  dem  sich  allenthalben 
vorbereitenden  Anstürme  die  Interessen  des  Friedens  und  der  Monarchie 
auf  dem  Spiele  stehen.  Dazu  kommt,  daß  die  als  Paroli  gegen  die 
Trippel-Allianz  geschaffenen  engeren  Verhältnisse  zwischen  heterogenen 
Elementen  zu  unnatürlich  sind,  als  daß  nicht  der  Augenblick  kommen 
müßte,  wo  sich  auch  Rußland  mit  den  übrigen  monarchischen  Mächten 
Eins  fühlen  werde.  Möge  sich  diese  Erkenntniß  noch  rechtzeitig  Bahn 
brechen! 

Indeß  haben  wir  Beide  ausreichend  Gelegenheit  gehabt,  an  Hoff- 
nungen das  Maß  der  Erfahrungen  zu  legen  und  kann  ich  mich  daher 
der  Besorgniß  nicht  erwehren,  daß  uns  auch  weiterhin  Enttäuschungen 
und  schwere  Prüfungen  nicht  erspart  bleiben  werden.  HoffentHch 
treffen  uns  etwaige  ernste  Ereignisse  nicht  unvorbereitet. 

Zu  besonderer  Genugthuung  gereicht  mir  die  vertrauensvolle  Stim- 
mung, mit  welcher  Du  dem  Schicksale  der  Militärvorlage  entgegen 
siehst.   Den  gesicherten  Erfolg  werde  ich  mit  Freuden  begrüßen. 

Sei  auf  das  Herzlichste  umarmt  von 

Deinem 

treu  ergebenen  Freunde 
Franz  Joseph 


Nr.  1649 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  34  St.  Petersburg,  den  6.  Februar  1893 

Geheim 

Euerer  Exzellenz  beehre  ich  mich  ganz  gehorsamst  zu  berichten, 
daß  ich  die  von  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  für  Seine  Majestät  den 
Kaiser  Alexander  bestimmten  Photographien  allerhöchstdemselben  über- 
geben habe. 

Seine  Majestät  haben  über  den  Aufenthalt  Seiner  Kaiserlichen  Ho- 
heit des  Thronfolgers  in  Berlin  nicht  mit  mir  gesprocher., 

422 


Das  ist  nicht  auffällig  und  hat  keine  Bedeutung,  es  sieht  dies 
Seiner  Majestät  ganz  ähnlich,  das  Gegenteil  würde  mich  gewundert 
haben. 

Der  Thronfolger  dagegen  sprach  sich  äußerst  befriedigt  aus,  „cela 
s'est  admirablement  passe,  je  ne  puls  pas  dire  ä  quel  point  on  a  ete 
aimable",  wiederholte  er  mehrere  Male.  Aber  erst  auf  meine  Frage, 
von  selbst  würde  auch  er  nichts  darüber  gesagt  haben. 

Inwieweit  er  beauftragt  gewesen  ist,  so  zu  sprechen,  wie  er  es  in 
Berlin  getan  hat,  ist  sehr  schwer  zu  ergründen.  Ich  neige  mich,  gestützt 
auf  die  Kenntnis  der  dabei  in  Frage  kommenden  Persönlichkeiten  der 
Ansicht  zu,  daß  er  dahin  instruiert  gewesen  ist,  sich  sehr  reserviert 
zu  verhalten!  und  nichts  aus  eigener  Initiative  zu  sagen 2.  Diese  Auf- 
fassung wird  von  einem  der  Offiziere,  welche  Seine  Kaiserliche  Hoheit 
begleitet  haben,  geteilt. 

V.Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ist  ihm  gar  nicht  eingefallen 

2  Das  ist  Unsinn.    Er  hat  sich  so  offen  über  alles  ausgesprochen  wie  noch  nie 
ein  Großfürst  mit  mir. 


Nr.  1650 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  38  St.  Petersburg,  den  11.  Februar  1893 

Die  russische  Presse  hatte  bis  jetzt  so  gut  wie  gar  keine  Notiz 
von  den  am  Geburtstage  Seiner  Majestät  des  Kaisers  gehaltenen 
„Generalsreden''  genommen.  Nur  einige  Zeitungen  hatten  ohne  Kom- 
mentar die  Auslassungen  deutscher  Blätter   über   sie   gebracht. 

Es  scheint,  daß  dieses  Stillschweigen  jetzt  gebrochen  werden  soll. 
Die  „Moskauer  Nachrichten'*  machen  den  Anfang  und  bringen  einen 
langen  Artikel  über  die  ungewöhnlichen  Kundgebungen,  die  sei- 
tens deutscher  Generale  vorlägen,  und  bringen  dann  wörtlich  die  Rede 
des  Generals  von  Schopp,  der  sich  am  offenherzigsten  und  aufrich- 
tigsten ausgesprochen  hätte.  „Könnten  denn  die  Generale  einen 
solchen  Ton  anschlagen,"  fragt  die  Zeitung,  „wenn  der  Kaiser  Wil- 
helm wirklich  gesonnen  wäre,  seine  Politik  zu  verändern*?" 

*  Die  bei  Gelegenheit  des  Kaiserlichen  Geburtstags  gehaltenen  „Generalsreden" 
sind  u.  a.  zusammengestellt  in  der  „Neuen  Preußischen  (Kreuz-)  Zeitung"  vom 
30.  Januar  1893,  abends.  General  von  Schopp,  der  Gouverneur  von  Köln,  hätte 
danach  beim  Festmahl  auf  dem  Gürzenich,  vom  Kaiser  redend,  gesagt:  „Er  ist 
im  wahren  Sinne  des  Wortes  ein  Friedensfürst.  Wenn  er  aber  das  Schwert  in 
die   Hand  nimmt,   dann   wird   er   es  nicht   eher  in  die   Scheide   stecken,  bis  das 

423 


Daß  das  Blatt  fernerhin  sagen  kann,  daß  die  deutschen  Generale 
bis  jetzt  stets  vermieden  hätten,  poUtische  Reden  zu  halten,  und  nun 
ergriffen  auf  einmal  vier  derselben  das  Wort,  das  hat  mich,  wie  ich 
Euerer  Exzellenz  nicht  verhehlen  kann,  auf  das  Empfindlichste  berührt, 
da  ich,  wenn  russische  Generale  politische  Reden  hielten,  wie  das 
vor  einiger  Zeit  Sitte  geworden  war,  immer  gesagt  habe,  daß  das 
bei  uns  ganz  unmöglich  wäre. 

Die  mir  gestellte  Aufgabe,  hier  für  die  Aufrechterhaltung  des 
Friedens  und  gute  Beziehungen  zu  wirken,  wird  mir  durch  solche 
Vorkommnisse  natürlich  sehr  erschwert,  ja  unmöglich  gemacht. 

Sollte  der  Kaiser  Alexander  mich  darüber  interpellieren,  so  weiß 
ich  wirklich  nicht,  was  ich  ihm  antworten  soll,  nachdem  ich  ihm 
kürzlich  erst,  wie  ich  Euerer  Exzellenz  ganz  gehorsamst  berichtet 
habe,  die  bündigsten  Versicherungen  über  die  Friedensliebe  Seiner 
Majestät  und  Euerer  Exzellenz  gegeben  habe. 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß  die  warmen,  so  herzlichen  Worte, 
welche  Seine  Majestät  der  Kaiser  in  dem  Toast  auf  den  Kaiser 
Alexander  gesprochen*,  teils  durch  die  Reden  der  Generale,  welche 
einen  so  wenig  guten  Eindruck  gemacht  haben,  teils  durch  den  aller- 
höchsten Toast  auf  die  englische  Flotte**  nach  hiesiger  Auffassung 
verwischt  werden.  Die  deutsche  Presse  tut  auch  dazu  das  Ihrige, 
indem  sie  sich  befleißigt,  die  Bedeutung  des  Toastes  auf  Seine  Ma- 
jestät den   Kaiser  Alexander  herabzumindern. 

V.   Werder 


Randverfügung  des  Reichskanzlers  Grafen  von  Caprivi: 
Bitte  zu  antworten: 

Von  alters  her  fänden  die  Diners  der  nicht  regimentierten  Offiziere  zu  Königs 
Geburtstag  im  Verein  mit  den  Spitzen  der  Zivilbehörden  statt.    Dabei  sei  auch 

Vaterland  vom  letzten  Feinde  befreit  ist,  oder  bis  er  mit  seinem  Volke  gebrochen 
am  Boden  liegt.  Der  Krieg  kommt!  Gebe  Gott,  daß  er  das  deutsche  Volk  um 
seine  Fürsten  geschart  findet.  Wenn  nicht,  dann  ade,  du  schönes  Land!  Dann 
werden  die  Zeiten  des  Dreißigjährigen  Krieges  wiederkehren,  wo  Gesittung  und 
Kultur  auf  Jahrhunderte  erschüttert  werden!" 

*  Bei  einem  Frühstück,  welches  der  zur  Vermählung  der  Prinzessin  Margarete  in 
Berlin  anwesende  Großfürst-Thronfolger  am  26.  Januar  beim  Kaiser  Alexander- 
Garde-Grenadierregiment  einnahm,  hatte  Kaiser  Wilhelm  den  Zaren  Alexander  als 
„den  Träger  altbewährter  monarchischer  Traditionen,  oft  erwiesener  Freundschaft 
und  inniger  Bande  intimer  Beziehungen  zu  meinen  erlauchten  Vorgängern"  ge- 
feiert. 

**  Anläßlich  der  Anwesenheit  des  Herzogs  von  Edinburg  in  Berlin  hatte  Kaiser 
Wilhelm  II.  am  22.  Januar  einen  Toast  auf  die  englische  Flotte  ausgebracht,  in 
dem  es  u.  a.  hieß:  „Und  sollte  es  sich  einmal  ereignen,  daß  die  englische  und 
die  deutsche  Marine  Schulter  an  Schulter  gegen  einen  gemeinsamen  Feind  zu 
kämpfen  haben,  dann  wird  die  berühmte  Parole:  .England  erwartet,  daß  jeder 
Mann  seine  Pflicht  tut',  welche  der  größte  Seeheld  Englands  vor  der  Schlacht 
von  Trafalgar  ausgegeben  hat,  ein  Echo  in  dem  patriotischen  Herzen  der  deut- 
schen Marine  finden." 

424 


früher  die  allgemeine  Lage  nicht  selten  berührt  worden,  wenn  der  älteste  Offizier 
den  Toast  ausbringt.  Es  sei  verständlich,  daß  dabei  die  Fragen  erwähnt  würden, 
die  —  wie  jetzt  die  Militärvorlage  —  das  Herz  des  Monarchen  am  meisten 
bewegten:  Sonst  hätte  die  Presse  dergleichen  nicht  erwähnt,  bei  der  gegen- 
wärtigen, durch  die  Militärvorlage  erregten  Stimmung  sei  auch  das  nicht  zu  ver- 
wundern. Hier  legten  nur  oppositionelle  Blätter,  indem  sie  das  auszunutzen 
suchten,  dem  Wert  bei. 

Auch  der  Toast  auf  die  englische  Flotte  sei,  nachdem  der  Herzog  von  Edin- 
burg  einen  Rang  in  der  deutschen  Flotte  erhalten  habe,  und  nur  Seeoffiziere 
dem  Fest  beigewohnt,  nicht  auffallend,  und  ohne  alle  politische  Tendenz.  In 
den  ersten  Jahrzehnten  des  Bestehens  einer  deutschen  Flotte  habe  diese  sich 
lediglich  nach  der  englischen  gebildet,  es  seien  deutsche  Offiziere  auf  englischen 
Schiffen  ausgebildet,  und  habe  sich  seitdem  eine  gute  Kameradschaft  zwischen 
den  englischen  und  den  deutschen  Seeoffizieren  erhalten.      v.  C.  14/2. 


Nr.  1651 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi  an  den  Botschafter  in  Petersburg 

von  Werder 

Konzept 

Nr.  84  Berlin,   den   17.  Februar   1893 

Vertraulich 

Aus  Ew.  pp.  gefälligem  Berichte  Nr.  38  vom  ll.d.  Mts.*  habe  ich 
mit  Bedauern  ersehen,  daß  gewisse  hiesige  Vorkommnisse  der  letzten 
Zeit  in  maßgebenden  Petersburger  Kreisen  Verstimmungen  hervor- 
gerufen haben,  die  nach  Ihrer  Ansicht  geeignet  sind,  die  Pflege  guter 
Beziehungen  zwischen  uns  und  Rußland  zu  erschweren,  wenn  nicht 
unmöglich  zu  machen. 

Ich  muß  zunächst  vorausschicken,  daß  ich  diese  Besorgnis  für 
etwas  weitgehend  zu  halten  geneigt  bin.  Würde  ich  aber  tatsächlich 
die  Überzeugung  gewinnen,  daß  die  Möglichkeit  der  Pflege  guter 
Beziehungen  zu  Rußland  auf  so  schwachen  Füßen  steht,  so  würde 
damit  allerdings  meine  Hoffnung  auf  dauernde  Erhaltung  dieser  Be- 
ziehungen überhaupt  wesentlich  erschüttert  werden. 

Ew.  pp.  ist  bekannt,  daß  unsere  Politik  darauf  gerichtet  ist,  mit 
dem  russischen  Reiche  soweit  als  angängig  in  freundnachbarlichem 
Verhältnis  zu  leben  und  womöglich  die  Spannung,  welche  zeitweise 
in  den  Beziehungen  zwischen  beiden  Höfen  eingetreten  ist,  zu  be- 
seitigen. Daß  wir  keinerlei  aggressive  Absichten  gegen  Rußland  hegen, 
auch  überhaupt  einen  Krieg  mit  dieser  Macht  zu  vermeiden  wünschen 
und  hoffen,  hat  unsere  Haltung  in  der  letzten  Zeit  zur  Genüge  be- 
wiesen. Hätten  kriegerische  Absichten  bei  uns  vorgelegen,  oder  wäre 
auch  nur  die  Überzeugung  zum  Durchbruch  gelangt,  daß    der   Krieg 

*  Siehe  Nr.  1650. 

425 


gegen  Rußland  doch  unvermeidlich  und  es  infolgedessen  für  uns 
vorteilhafter  wäre,  bei  demselben  die  Initiative  zu  ergreifen,  so  würden 
wir  zweifellos  die  letzten  Jahre,  wo  Rußland  durch  den  Notstand 
geschwächt  und  seine  Armee  in  der  Umbewaffnung  begriffen  war,  zu 
einer  solchen  Initiative  benutzt  haben.  Wir  haben  dies  nicht  nur 
nicht  getan  sondern  sind  vielmehr  unausgesetzt  bemüht  gewesen,  auf 
allen  Gebieten  die  Empfindlichkeiten  des  Kaisers  Alexander  zu  schonen 
und  Rußland,  wo  es  nur  immer  mit  unserer  Würde  vereinbar  war, 
entgegenzukommen.  Ich  brauche  Ew.  pp.  hierbei  nur  an  eine  Reihe 
von  Vorgängen  aus  dem  letzten  Jahre  zu  erinnern:  die  Umstände, 
unter  welchen  die  Kieler  Zusammenkunft  zustande  kam*,  die  auf 
den  Wunsch  des  Zaren  erfolgte  Ernennung  Ew.  pp.  zum  Botschafter 
am  russischen  Hofe  **,  die  Einladung  des  Großfürsten-Thronfolgers  zu 
den  Vermählungsfeierhchkeiten  im  vergangenen  Monat***  und  die  ihm 
an  unserm  allerhöchsten  Hofe  gewährte  herzliche  Aufnahme,  unser  Ent- 
gegenkommen in  der  Frage  des  Handelsvertrages,  endlich  unsere  Hal- 
tung Bulgarien  gegenüber,  welche  noch  jüngst  bei  der  Frage  der  Heirat 
des  Prinzen  Ferdinand  von  Koburg  ganz  besonders  zum  Ausdruck 
gekommen  ist. 

In  der  Rücksichtnahme  gegen  Rußland  weiterzugehen,  als  ge- 
schehen ist,  würde  ich  mit  der  Würde  Seiner  Majestät  des  Kaisers 
und  des  Deutschen  Reiches  nicht  für  vereinbar  halten.  Wenn  aber 
in  der  Tat  die  gugenblickliche  Verstimmung  über  einige  hier  gefallene 
Äußerungen  genügen  könnte,  um  alle  eben  angeführten  Beweise  des 
Entgegenkommens  und  der  versöhnlichen  Gesinnungen  unseres  alier- 
gnädigsten  Herrn  umzustoßen,  dann  würde  ich  allerdings  zu  der  Er- 
kenntnis gelangen,  daß  es  nur  ein  Mittel  geben  würde,  das  Wohlwollen 
Rußlands  und  des  Kaisers  Alexander  dauernd  zu  gewinnen,  nämlich 
unsere  Politik,  wie  dies  in  den  fünfziger  Jahren  dieses  Jahrhunderts 
geschah,  gänzlich  in  den  Dienst  der  russischen  zu  stellen  und  jeden 
unserer  Schritte  von  dem  einzigen  Gesichtspunkte  abhängig  zu  machen, 
welchen  Eindruck  derselbe  in  Petersburg  macht.  Zu  einer  solchen 
Politik  werde  ich  aber  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  niemals  raten 
können. 

Um  nun  zu  den  Vorkommnissen  selbst  zu  kommen,  über  welche 
Ew.  pp.  Bericht  handelt,  so  möchte  ich  Ew.  pp.  zunächst  bitten,  nicht 
aus  den  Augen  zu  verlieren,  daß  im  gegenwärtigen  Augenblick  die 
Militärvorlage  unser  politisches  Leben  im  Innern  vollständig  beherrscht, 
und  daß  das  Interesse,  mit  welchem  diese  Existenzfrage  für  das  Reich 
in  weitesten  Kreisen  verfolgt  wird,  allerorts  zum  Ausdruck  kommen  muß. 

Eine  jede  Erörterung  der  Notwendigkeit  einer  Erhöhung   unserer 


•  Vgl.  Nr.  1635. 

**  Vgl.  Nr.  1639. 

*♦*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1526. 

426 


Wehrkraft  ist  aber  naturgemäß  von  einer  Besprechung  der  vorhandenen 
Kriegsgefahren  unzertrennlich.  Wenn  auch  ich  genötigt  gewesen  bin, 
auf  die  MögHchkeiten  eines  Krieges  öfter  hinzuweisen,  als  es  mir 
vielleicht  mit  Rücksicht  auf  unsere  auswärtigen  Beziehungen  erwünscht 
gewesen  wäre,  so  bin  ich  hierzu  durch  Umstände  veranlaßt  worden, 
an  welchen  ich  keine  Schuld  trage.  Wenn  z.  B.  von  seiten  der  Opposi- 
tion der  Besuch  des  Großfürsten-Thronfolgers  gleich  dahin  ausgebeutet 
wurde,  daß  durch  dies  eine  Symptom  einer  besseren  Gestaltung  unserer 
Beziehungen  mit  Rußland  auch  gleich  die  Vermehrung  unserer  Armee 
überflüssig  gemacht  werde,  so  konnte  ich  nicht  umhin,  vor  übertriebe- 
nem Optimismus  in  dieser  Richtung  zu  warnen,  und  vermag  es  nicht 
zu  verhindern,  wenn  sich  in  der  Presse  über  diese  Frage  eine  Polemik 
entspinnt,  welche  ich  allerdings  vom  Standpunkt  unserer  Beziehungen 
zu  Rußland  als  unerwünscht  betrachten  muß. 

Den  Vergleich,  welchen  Ew\  pp.  zwischen  den  Reden  einiger 
unserer  Kommandierenden  Generäle  zu  Kaisers  Geburtstag  und  den 
Auslassungen  gewisser  chauvinistischer  russischer  Generäle  ziehen,  ver- 
mag ich  als  zutreffend  nicht  anzuerkennen.  Der  große  Unterschied 
liegt  meines  Erachtens  darin,  daß,  während  in  den  ersteren  die  Mög- 
lichkeit eines  von  uns  nicht  gewünschten  Krieges  zum  Ausdruck  kam, 
aus  den  letzteren  der  Wunsch,  daß  es  zu  einem  solchen  Kriege  kommen 
möge,  nur  zu  oft  deutlich  hervortritt.  Ew.  pp.  ist  bekannt,  daß  von 
alters  her  am  Geburtstage  Seiner  Majestät  Diners  der  nicht  regimen- 
tierten  Offiziere  mit  den  Spitzen  der  Zivilbehörden  stattfinden.  Dabei 
bringt  häufig  der  älteste  Offizier  das  Hoch  auf  den  Kaiser  aus,  und 
es  ist  auch  früher  nicht  selten  vorgekommen,  daß  in  der  betreffenden 
Rede  die  allgemeine  Lage  berührt  wurde.  Daß  in  diesem  Jahre  die 
Frage,  welche  augenblicklich  das  Herz  des  Monarchen  am  meisten 
bewegt  und  zugleich  einen  jeden  Militär  lebhaft  beschäftigen  muß, 
berührt  wurde,  ist  natürlich.  In  früheren  Fällen  hat  die  Presse  der- 
artige Reden  gar  nicht  erwähnt;  wenn  es  in  diesem  Jahre  geschehen, 
so  ist  dies  bei  der  gegenwärtig  erregten  Stimmung  nicht  zu  verwun- 
dern. Im  Inlande  haben  sich  übrigens  vornehmlich  nur  oppositionelle 
Blätter  mit  den  „Generalsreden"  beschäftigt,  um  dieselben  zu  ihren 
Zwecken  auszunutzen. 

Auch  der  Toast  Seiner  Majestät  des  Kaisers  auf  die  englische 
Flotte  ist,  nachdem  der  Herzog  von  Edinburg  einen  Rang  in  der 
deutschen  Marine  erhalten  hat,  nicht  auffallend.  In  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  Bestehens  einer  deutschen  Flotte  hat  diese  sich  ledig- 
lich nach  der  englischen  gebildet,  deutsche  Offiziere  haben  auf  eng- 
lischen Schiffen  ihre  Ausbildung  erhalten,  und  es  hat  sich  seitdem 
eine  gute  Kameradschaft  zwischen  englischen  und  deutschen  Seeoffi- 
zieren erhalten.  Auf  einem  Fest,  dem  nur  Seeoffiziere  beiwohnten, 
konnte  daher  den  Worten  Seiner  Majestät  nicht  die  geringste  politische 
Tendenz  beiwohnen. 

427 


Ich  ersuche  Ew.  pp.  ergebenst,  sich  vorstehende  Erörterungen  als 
Richtschnur  bei  Ihren  Gesprächen  mit  maßgebenden  Persönhchkeiten 
dienen  zu  lassen.  Bei  Ihren  vortrefflichen  Beziehungen  zum  russischen 
Hofe  und  der  Petersburger  Gesellschaft  gebe  ich  mich  der  bestimmten 
Erwartung  hin,  daß  es  Ew.  pp,  nicht  schwer  fallen  wird,  Verstimmungen, 
wie  die  von  Ihnen  gemeldeten,  und  welche  ich  zunächst  nur  als  vor- 
übergehende  ansehen   kann,   zu  zerstreuen. 

V.   C  a  p  r  i  V  i 

Nr.  1652 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  72  Wien,  den  10.  März  1893 

Graf  Kälnoky  hat  mir  heut  im  vertraulichen  Gespräch  einiges  von 
der  letzten,  sehr  eingehenden  Unterhaltung  erzählt,  welche  er  mit  dem 
Fürsten  Lobanow  vor  dessen  Abreise  nach  St.  Petersburg  gehabt  hat. 

Der  Botschafter  hat  ihm  von  unserer  Militärvorlage*  gesprochen 
und  die  Besorgnis  ausgedrückt,  daß  diese  große  Vermehrung  der  deut- 
schen Armee  doch  einen  kriegerischen  Hintergedanken  haben  könnte. 
Der  Zar  sei  allerdings  von  der  früheren  Annahme  zurückgekommen, 
daß  wir  beabsichtigten,  über  Rußland  herzufallen:  aber  diese  großen 
Rüstungen  müßten  doch  zu  denken  geben,  um  so  mehr  als  der  Kaiser, 
sein  Herr,  an  nichts  weniger  denke,  als  seine  Nachbarn  anzugreifen. 

Der  Minister  hat  ihm  darauf  geantwortet,  daß  diese  Besorgnisse 
im  Munde  eines  Russen  etwas  sonderbar  klängen.  Wenn  man  einen 
Blick  auf  die  russische  Dislokationskarte  werfe,  so  müßte  es  selbst 
dem  Laien  auffallen,  wie  Rußland  fast  seine  ganze  Armee  an  den  deut- 
schen und  österreichischen  Grenzen  massiert  habe  und  zwar  in  einer 
zum   Angriff  bestimmten  Aufstellung**. 

Wie  solle  man  diese  Maßregeln  in  Deutschland  sich  vollziehen 
sehen,  ohne  nicht  beunruhigt  zu  werden?  Die  bei  uns  projektierten 
neuen  Einrichtungen  seien  weniger  eine  Vermehrung  der  deutschen 
Armee  als  eine  Umbildung  unserer  Armee-Einrichtungen,  die  sich 
nicht  als  ausreichend  erwiesen  hätten.  Deutschland  befände  sich  seiner 
geographischen  Lage  wegen  in  keiner  so  günstigen  Lage  wie  Rußland. 

Wenn  man  auch  in  Berlin  von  der  Friedensliebe  des  Zaren  über- 
zeugt sei,  so  habe  man  doch  außer  Rußland  noch  andere  Nachbarn, 
denen  man  kein  so  unbedingtes  Vertrauen  schenken  könnte.  Frankreich 
habe,   ohne   die   riesenhaften   Kosten   zu  scheuen,   ein  so   formidables 

•  Vgl.  Nr.  1644,  Fußnote  **. 
♦*  Vgl.  Nr.  1643,  Fußnote  **. 

428 


Kriegsinstrument  geschaffen,  daß  Deutschland  gezwungen  worden  sei, 
auf  Verbesserung  seiner  Verteidigungsmittel  zu  sinnen. 

Fürst  Lobanovv  hat  hiergegen  geltend  zu  machen  gesucht,  daß 
niemand  in  Frankreich  an  eine  kriegerische  Politik  denke,  besonders 
nach  dem  jüngsten  traurigen  Panamaskandal  nicht,  er  hat  aber  schließ- 
lich zugestehen  müssen,  daß  bei  der  Instabilität  der  französischen  Ver- 
hältnisse doch  einmal  in  unvorhergesehener  Weise  die  Regierung  in 
die  Hände  von  Abenteurern  kommen  könnte,  die  die  Lust  verspüren 
oder  gedrängt  werden  könnten,  von  der  friedliebenden  Politik  der  jetzi- 
gen Machthaber  abzugehen.  Da  sei  denn  eine  so  schlagfertige  und  zahl- 
reiche Armee,  wie  die  französische  ohne  allen  Zweifel  heute  sei,  ein 
gar  gefährliches  Werkzeug  für  die  Nachbarn.  Daß  die  deutsche  Re- 
gierung dieser  Eventualität  gegenüber  ihre  Vorkehrungen  treffen  müsse, 
das  könne  ihr  doch  niemand  verdenken. 

Der  Botschafter  hat  dies  anerkennen  müssen,  und  hofft  Graf  Käl- 
noky,  daß  seine  Ausführungen  nicht  ohne  Eindruck  auf  ihn  geblieben 
sind.  pp. 

H.VII.  P.  Reuß 


Nr.  1653 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  71  St.  Petersburg,  den  24.  März  1893 

Anknüpfend  an  den  Bericht  des  Prinzen  Reuß  vom  10.  d.  Mts. 
Nr.  72*,  Äußerungen  des  Fürsten  Lobanow  über  die  Militärvorlage  be- 
treffend, beehre  ich  mich  Euerer  Exzellenz  ganz  gehorsamst  zu  be- 
richten, daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  sich  neulich  über 
diese  ausließ. 

Er  sprach  seine  Freude  darüber  aus,  daß  sie  wenig  Aussicht  habe, 
durchzugehen,  und  daß  er  hoffe,  daß  es  dabei  bleiben  würde**,  „denn", 
fügte  er  hinzu,  ,, tritt  sie  in  Kraft,  so  fangen  natürlich  die  anderen 
auch  an."  Ich  zitiere  diese  Worte  wörtlich;  was  Seine  Majestät  damit 
sagen  wollten,  ist  ja  klar. 
V.Werder 

•  Siehe  Nr.  165Z 

**  Tatsächlich  fand  die  Miütärvorlage  in  ihrer  im  Herbst  1892  eingebrachten  Ge- 
stalt weder  in  der  Kommission  noch  im  Plenum  des  Reichstages  Annahme.  Am 
6.  Mai  erfolgte  daraufhin  die  Auflösung  des  Reichstags.  Nach  den  Neuwahlen 
wurde  die  Vorlage,  wenn  auch  unter  Reduzierung  der  ursprünglichen  Forderungen, 
wieder  eingebracht  und  dank  dem  geschlossenen  Eintreten  der  polnischen  Reichs- 
tagsfraktion in  ihrem   wesentlichen  Gehalt  am   15.  Juli  angenommen. 

429 


Nr.  1654 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
an  den  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder 

Konzept 

Nr.  145  Berlin,  den  29.  März  1893 

Aus  Ew.  gefälligem  Bericht  Nr.  71  vom  24.  d.  Mts.*  habe  ich  ersehen, 
daß  Seine  Majestät  der  Kaiser  Alexander  Ihnen  gegenüber  seiner  Ge- 
nugtuung über  das  nach  seinen  Informationen  wahrscheinlich  bevor- 
stehende Scheitern  der  Militärvorlage  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

Ich  möchte  zunächst  bemerken,  daß,  selbst  wenn  die  Vorlage  die 
Zustimmung  des  gegenwärtigen  Reichstages  nicht  erlangen  sollte,  von 
einem  Aufgeben  der  auf  Vermehrung  und  Verjüngung  unserer  Armee 
gerichteten  Pläne  keine  Rede  ist,  Seine  Majestät  und  allerhöchstdessen 
Regierung  vielmehr  an  diesen  Plänen,  deren  Verwirklichung  für  die 
Sicherheit  des  Reiches  als  unabweisbares  Erfordernis  erkannt  worden 
ist,  unverrückt  festhalten. 

Es  muß  einigermaßen  auffallen,  daß  Seine  Majestät  der  Kaiser 
von  Rußland,  der  sich  noch  bei  Ew.  Antrittsaudienz  (cfr.  Bericht 
Nr.  6  vom  13.  Januar**)  in  objektiver  Weise  über  die  in  Rede  stehende 
Vorlage  aussprach  und  sogar  die  Opposition,  welcher  der  Herr  Reichs- 
kanzler begegnet,  kritisierte,  in  seinen  jetzigen  Äußerungen  anscheinend 
einen  veränderten  Ton  angeschlagen  hat.  Damals  waren  Ew.  in  der 
Lage  zu  berichten,  daß  Kaiser  Alexander  das  Projekt  einer  Vermehrung 
unserer  Armee  so  besprach,  „als  wenn  dieselbe  keinerlei  Gefahr  iur 
sein  Land  in  sich  trüge".  Seine  Majestät  hob  ferner  bei  einer  anderen 
Gelegenheit,  wie  Ew.  unter  dem  31.  Januar  d.  Js.  (Nr.  25)***  berich- 
teten, das  feste  Vertrauen  hervor,  welches  er  in  die  Friedensliebe  un- 
seres allergnädigsten  Herrn  setze,  und  erkannte  rühmend  an,  daß  die 
Befürchtungen,  welche  mit  Bezug  auf  kriegerische  Gelüste  vielfach  an 
das  jugendliche  Alter  unseres  Monarchen  geknüpft  worden  seien,  sich 
als  durchaus  ungerechtfertigt  erwiesen  hätten. 

Es  ist  mir  nicht  bewußt,  daß  irgend  ein  Schritt  unserer  auswärtigen 
Politik  im  Laufe  der  letzten  Monate  dazu  angetan  gewesen  wäre,  beim 
Zaren  dieses  Vertrauen  zu  erschüttern,  vielmehr  kann  Kaiser  Alexander 
billigerweise  nicht  umhin^  anzuerkennen,  daß  wir  auf  jedem  Gebiete 
beflissen  sind,  seine  und  Rußlands  berechtigte  Empfindlichkeiten  zu 
schonen. 

Wenn  sich  nun  auch  die  von  Seiner  Majestät  kundgegebene  Freude 
über  das  wahrscheinliche  Scheitern  unserer  Militärvorlage  nicht  anders 
deuten  läßt,  als  daß  höchstderselbe,  entgegen  seiner  früheren  Auffas- 

•  Siehe  Nr.  1653. 
*♦  Siehe  Nr.  1644. 
♦♦*  Siehe  Nr.  1647. 

430 


sung,  neuerdings  in  unserer  Armeevermehrung  ein  bedrohliches  Mo- 
ment erblici<t,  so  möchte  ich  derartigen  Äußerungen  des  russischen 
Monarchen  eine  übertriebene  Bedeutung  nicht  beilegen,  dieselben  viel- 
mehr zunächst  auf  Rechnung  einer  vorübergehenden  Verstimmung 
setzen.  Eine  solche  Verstimmung  dürfte  in  diesem  Augenblick  vielleicht 
auf  die  jüngsten  Vorgänge  in  Bulgarien  zurückzuführen  sein,  wofür 
auch  ein  Symptom  in  der  bekannten  Zirkularnote  an  die  russischen 
Vertretungen  im  Auslande*  zu  erblicken  wäre.  Wenn  eine  solche  Ver- 
stimmung uns  gegenüber  immer  etwas  verschärfter  auftritt,  ist  dies 
nichts  Neues;  beim  Kaiser  Alexander  ist  nun  einmal  der  Glaube  nicht 
gänzlich  auszurotten,  daß  wir  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  den 
jetzigen  Zuständen  in  Bulgarien  Schuld  tragen  und  dieselben  unter 
der  Hand  begünstigen. 

Ich  will  hier  auf  die  Ew.  bekannten  und  bereits  zur  Genüge 
dargelegten  Gründe,  welche  uns  zwingen,  auf  Verstärkung  unserer 
Wehrkraft  Bedacht  zu  nehmen,  nicht  näher  eingehen.  Wenn  aber  Kaiser 
Alexander  mit  kaum  versteckter  Drohung  Ew.  gegenüber  bemerkt 
hat,  diese  Verstärkung  zwinge  unsere  Nachbarn  nunmehr  ebenfalls 
zu  neuen  Rüstungen  zu  schreiten,  so  kann  dies  nur  als  eine  vollständig 
irrige  Beurteilung  der  tatsächhchen  Verhältnisse  bezeichnet  werden. 
Nicht  wir  zwingen  unsere  Nachbarn,  sondern  diese  zwingen  uns  zu 
weiteren  Rüstungen.  Für  die  Wahrheit  dieses  Satzes  spricht,  abgesehen 
von  unserer  geographischen  Lage,  schon  allein  der  Umstand,  daß  in 
Deutschland  Regierung  und  Volk  mit  der  gegenwärtigen  Verteilung 
der  Machtverhältnisse  in  Europa  zufrieden  sind  und  lediglich  eine  Auf- 
rechterhaltung des  Status  quo  und  des  Friedens  erstreben,  während 
in  Frankreich  mit  Elementen  gerechnet  werden  muß,  die  zur  Wieder- 
gewinnung von  Elsaß-Lothringen  den  Krieg  herbeizuführen  trachten, 
und  auch  in  Rußland  ein  Teil  der  Bevölkerung,  welcher  schon  einmal 
unter  der  früheren  Regierung  dem  Monarchen  das  Schwert  in  die  Hand 
gedrückt  hat,  unausgesetzt  bestrebt  ist,  eine  nur  auf  gewaltsamem  Wege 
zu  erreichende  Neuordnung  der  Dinge  herbeizuführen. 

Bei  der  bekannten  Abneigung  des  Kaisers  Alexander  gegen  längere 
politische  Unterhaltungen  kann  ich  nicht  erwarten,  daß  Ew.  oft  in 
die  Lage  kommen,  obige  Gesichtspunkte  Seiner  Majestät  gegenüber 
eingehend  zu  beleuchten;  ich  darf  aber  darauf  rechnen,  daß  Ew.  ge- 
eignete Gelegenheiten  nicht  vorübergehen  lassen,  an  höchster  Stelle  und 
in  maßgebenden  Kreisen  wiederholt  der  Auffassung  entgegenzutreten, 
als  ob  unseren  Rüstungen  bedrohliche  Absichten  zugrunde  lägen. 

Sollten  die  Äußerungen  Kaiser  Alexanders  dahin  zu  verstehen  sein, 
daß  unsere  geplante  Armeevermehrung  von  russischer  Seite  zum  Vor- 


*  Die  russische  Zirkularnote  vom  5.  März  18Q3,  auf  die  hier  angespielt  wird',  legte 
Protest  ein  gegen  die  beabsichtigte  Änderung  der  bulgarischen  Verfassung  von 
Tirnowo.   Vgl.  Bd.  IX,  Kap.  LV,  Nr.  2130. 

431 


wände  für  erneute  Vorschiebungen  von  Truppen  an  unsere  Grenzen 
genommen  werden  wird,  so  würde,  da  Rußland  einen  Angriff  von 
keiner  Seite  zu  befürchten  hat,  eine  solche  Maßregel  uns  unstreitig  mehr 
Berechtigung  geben,  an  der  russischen  Friedensliebe  zu  zweifeln,  als 
Rußland  Grund  hat,  die  unserige  in  Zweifel  zu  ziehen.  Wir  würden  auf 
diese  Weise  nur  einen  neuen,  beklagenswerten  Beweis  dafür  erhalten, 
daß  unsere  Besorgnisse  vor  der  Eventualität  eines  Krieges  nach  zwei 
Fronten  durchaus  gerechtfertigte  sind. 

Marschall 

Nr.  1655 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  110  St.  Petersburg,  den  30.  April  1893 

Herr  von  Giers  ist  vorgestern  in  Zarskoe-Selo  angekommen,  wo 
ich  ihm  gestern  einen  Besuch  machte.  Ich  fand  ihn  ganz  außerordent- 
lich gealtert,  er  leidet  besonders  an  sehr  starkem  Herzklopfen,  und  den 
Gebrauch  der  Beine  scheint  er  beinahe  ganz  verloren  zu  haben,  er 
konnte  mich,  als  ich  fortging,  kaum  bis  an  die  Tür  begleiten,  die 
Stimme  ist  sehr  schwach.  Die  geistigen  Fähigkeiten  haben  aber  in 
keiner  Weise  gelitten.  Er  wird  und  kann  auch  nicht  Zarskoe-Selo  ver- 
lassen, hat  aber  an  Seine  Majestät  den  Kaiser  Alexander  die  Bitte  ge- 
richtet, die  Geschäfte  wieder  übernehmen  zu  dürfen. 

Wenn  man  ihn  so  sieht,  findet  man  es  unbegreiflich,  daß  er  in  der 
jetzigen  Jahreszeit  zurückgekommen  ist,  er  sagt  aber,  die  hier  herr- 
schende Kälte  und  feuchte  Luft  täte  ihm  gut,  er  hätte  in  der  trockenen 
heißen  Luft  gar  nicht  mehr  atmen  können. 

Ich  sagte  ihm,  ich  hätte  mich  sehr  darüber  gefreut,  daß  der  Kaiser 
Franz  Joseph  und  Graf  Kälnoky  ihn  in  Wien  besucht  hätten*,  da  dies 
hier  einen  sehr  guten  Eindruck  gemacht  und  der  Kaiser  Alexander  es 
doch  gewiß  sehr  hoch  aufgenommen  hätte. 

Er  sagte  mir  darauf,  er  wisse  ja  sehr  gut,  daß  diese  Aufmerksam- 
lieiten  nicht  seiner  Person  gälten  sondern  eine  Folge  des  Empfanges 
des  Prinzen  von  Koburg**  wären,  und  in  diesem  Sinne  hätte  er  sich 
auch  darüber  gefreut. 

*  Am  23.  April  war  Minister  von  Giers  auf  der  Rückreise  nach  Petersburg  in 
Wien  eingetroffen.  Wie  Prinz  Reuß  am  25.  April  berichtete,  hatte  Kaiser  Franz 
Joseph  durch  seinen  Besuch  bei  dem  unpäßlichen  russischen  Minister  zeigen 
wollen,  „daß  er  keine  Gelegenheit  unbenutzt  lassen  will,  um  dem  russischen  Hofe 
sowie  der  Regierung  des  Kaisers  Alexander  seine  persönlichen  freundschaftlichen 
Gesinnungen  zu  erkennen   zu  geben". 

**  Fürst  Ferdinand  von  Bulgarien  war  auf  der  Fahrt  zu  seiner  Vermählung  mit 
der  Prinzessin  Marie  Louise  von  Parma  (20.  April  1893)  ebenso  wie  Minister- 
präsident Stambulovv  am  IL  April  vom  österreichischen  Kaiser  empfangen  worden. 

432 


Der  Kaiser  Franz  Joseph  hätte  nur  ganz  allgemein  gesprochen, 
alle  Gespräche  über  heikle  Angelegenheiten  vermieden,  dagegen  ist 
die  Unterhaltung  mit  dem  Qrafen  Kälnoky  eingehender  gewesen. 

Herr  von  Giers  scheint  mir  von  dieser  nicht  sehr  befriedigt,  beson- 
ders war  ihm  ganz  unbegreiflich  die  Äußerung  des  Graten:  Rußland 
vi'äre  ja  vor  einiger  Zeit  am  Vorabende  eines  Krieges  mit  ihnen  ge- 
wesen. Herr  von  Giers  drückte  sich  über  diese  Behauptung  nicht  sehr 
parlamentarisch  aus;  er  will  den  Grafen  unter  anderem  gefragt  haben, 
was  eine  österreichische  Armee  tun  würde,  wenn  sie  wirklich  bis  Kiew 
vorgedrungen  wäre;  er  möchte  nicht  vergessen,  daß  dahinter  Millionen 
ständen,  die  sich  nicht  ergeben  würden.  Ich  glaube,  daß  diese  Unter- 
redung, welche  die  Chancen  eines  Krieges,  Bulgarien,  den  Dreibund 
usw.  umfaßt  hat,  die  wenigen  Sympathien  des  Herrn  von  Giers  für 
seinen  österreichischen  Kollegen  nicht  vermehrt  hat.  Er  kann  ihm  z.  B. 
seine  bekannten  Äußerungen  über  bulgarische  Verhältnisse  in  den 
Delegationen  nicht  verzeihen.  „Wie  war  es  möglich,"  sagte  er,  „so  zu 
sprechen,  nachdem  ich  eben  von  einem  Besuche  beim  Fürsten  Bismarck 
zurückgekommen  war*." 

Herr  von  Giers  erzählte  mir  hierauf,  Graf  Schuwalow  habe  ihm 
nach  Warschau  den  Artikel  der  „Norddeutschen  Zeitung"  gebracht, 
welcher  die  Antwort  auf  den  kürzlich  in  den  „Hamburger  Nach- 
richten" erschienenen  Artikel,  unsere  Beziehungen  zu  Rußland  be- 
treffend, bilde,  und  äußerte  sich  sehr  beifällig  über  denselben**. 

Hierauf  ging  das  Gespräch  auf  den  Dreibund  und  den  Fürsten 
Bismarck  über. 

Der  Minister  sprach  sein  Bedauern  aus,  daß  Deutschland  vor  Bil- 
dung des  Dreibundes  nicht  versucht  habe,  in  nähere  Beziehungen  zu 
Rußland  zu  treten.  „Aber",  fuhr  er  fort,  „man  hat  das  Gegenteil  getan, 
der  Fürst  Bismarck  hat  uns  in  die  Arme  Frankreichs  getrieben  i;  be- 
sonders auch  durch  seine  Finanzmaßregeln,"  „Wie  war  es  möglich," 
sagte  er  sehr  erregt,  „die  russischen  Papiere  einige  Tage  vor  der  An- 
kunft unseres  Kaisers  von  der  Reichsbank  auszuschließen.  Ein  solches 
Benehmen  ist  doch  noch  nie  dagewesen***. 

Der  Minister  gab  da  nur  dem  Ausdruck,  was  jeder  Russe  denkt. 

Auf  Frankreich  zurückkommend  sagte  er,  es  bestände  keine  Allianz 
mit  diesem  Lande;  nach  Bildung  des  Dreibunds  hätte  Rußland  sich 
aber  doch  für  eventuelle  Fälle  nach  einem  Verbündeten  umsehen  müssen, 
Frankreich  aber  würde  nie  einen  Angriff  auf  Deutschland  wagen,  ohne 
der  Unterstützung  Rußlands  sicher  zu  sein,  und  die  würde  ihm  nie  durch 
den  so  friedliebenden  Kaiser  Alexander  zuteil  werden,  welcher  durch- 
aus den  Frieden  wolle.   Lebte  der  hochselige  Kaiser  noch,  so  könnte 


*  Vgl.  Bd.  V,  Nr.  990,  S.  70,  Fußnote  ***. 

**  Beide   Artikel   sind  nicht  feststellbar;  entweder  muß  Giers  oder  Werder  ein 

Irrtum  untergelaufen  sein. 

***  Vgl.  Bd.  V,  Kap.  XXXVI,  Anhang  A. 

28    Die  Große  Politik.  7.  Bd.  433 


man  dieses  nicht  mit  solcher  Bestimmtheit  behaupten.  Diese  Ansicht 
habe  auch  ich  immer  verfochten. 

Naturgemäß  kam  nun  der  Minister  auf  die  stete  Vermehrung  der 
stehenden  Heere  zu  sprechen  und  stellte  die  Frage  auf,  ob  die  Staaten 
bei  den  eminenten  Friedensaussichten  nicht  einen  Vertrag  schließen 
könnten,  durch  welchen  die  Heeresmacht  eines  jeden  Staates  festgestellt 
würdet. 

Natürlich   eine  sehr  gut  gemeinte,  aber  ganz  unpraktische  Idee. 

Herr  von  Schischkin,  welcher  mich  gestern  besuchte,  wiederholte 
mir,  ohne  dazu  aufgefordert  zu  sein,  die  Bedingungen  für  einen  langen 
Frieden  lägen  jetzt  so  außerordentlich  günstig 3. 

Der  Minister  und  sein  Gehülfe  teilen  also  in  erfreulicher  Weise  die 
Ansicht  über  die  Friedensaussichten*.  v.  Werder 

Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  II.: 

1  Ein  recht  bedeutsames  Wort 

'  aber  Giers 

3  daß  man  ordentlich  ängstlich  werden  kann 

*  so  lange  es  ihnen  paßt. 

Nr.  1656 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 

Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  117  Wien,  den  1.  Mai  1893 

Graf  Kälnoky  hat  mir  heut  nachfolgendes  über  seine  Besprechung 
mit  Herrn  von  Giers  erzählt. 

Wenn  auch  der  russische  Minister  körperlich  sehr  gebrochen  und 
hinfällig  gewesen,  so  habe  er  ihn  doch  geistig  sehr  frisch  gefunden. 
Freier  im  Urteil  und  entschiedener  in  der  Aussprache,  sozusagen  weni- 
ger unter  dem  Druck  der  Petersburger  Luft  als  früher. 

An  seinen  versöhnlichen  und  friedfertigen  Gesinnungen  habe  er  ja 
nie  gezweifelt,  dieselben  seien  aber  hier  mit  großer  Entschiedenheit 
zum  Ausdruck  gekommen.  Er  habe  erklärt,  von  Frankreich  wolle  er 
nichts  wissen;  Rußland  werde  sich  hüten,  sich  in  den  Dienst  dieser 
unsicheren,  revanchelustigen  Nation  zu  stellen  und  sich  irgendwie  die 
Hände  zu  binden;  was  gingen  Rußland  die  französischen  Revanche- 
gedanken an,  durch  welche  dieses  Volk  ganz  beherrscht  würde! 

Er  sei  gegen  die  Kronstädter  Demonstrationen  gewesen,  er  hat 
dieselben  indessen  in  der  bekannten  russischen  Weise  nicht  gerade  zu 
entschuldigen,  aber  zu  erklären  gesucht.  Rußland  habe  sich  isoliert 
gefühlt  etc.  etc.,  außerdem  sei  der  Zar  durch  die  fortwährend  zuneh- 
menden Rüstungen  bei  seinen  westlichen  Nachbarn  nervös  geworden, 
und  übelwollende  Ratgeber  hätten  ihn  glauben  gemacht,  daß  er  be- 
droht sei. 

434 


über  die  bulgarischen  Angelegenheiten  habe  sich  Herr  von  Giers 
auch  mit  Entschiedenheit  und  zwar  dahin  ausgesprochen,  daß  sich  die 
russische  Politik  nicht  mehr  in  dieselben  mischen  werde.  Man  werde 
dieses  undankbare  Land  sich  selbst  überlassen;  dasselbe  werde  aber 
auch  von  dem  Wohlwollen  Rußlands  nichts  mehr  zu  erwarten  haben. 

Diese  Äußerung  sei  mit  der  Andeutung  auf  den  Prinzen  Ferdinand 
gefallen. 

Ich  fragte  den  Minister,  ob  Herr  von  Giers  nicht  den  Wunsch  aus- 
gesprochen hätte,  sich  mit  Österreich  über  diese  Frage  endlich  einmal 
zu  verständigen?  Er  verneinte  dies  entschieden  und  sagte,  der  rus- 
sische Staatsmann  habe  rückhaltlos  erklärt,  Bulgarien  würde  zwischen 
Österreich  und  Rußland  niemals  mehr  ein  Zankapfel  werden.  Er  hoffe 
natürlich,  daß  von  bulgarischer  Seite  keine  solchen  Provokationen  aus- 
gehen würden,  welche  Rußland  nicht  mit  Stillschweigen  übergehen 
könne.    Im  übrigen  sei  aber  Bulgarien  für  Rußland  Luft!  — 

Graf  Kälnoky  hat  hierauf  bemerkt,  es  sei  ihm  lieb,  dies  zu  hören. 
Man  solle  aufhören,  Österreich  verantwortlich  für  alles  zu  machen, 
was  in  Bulgarien  geschehe.  Schon  früher  habe  er  einmal  in  den  Delega- 
tionen gesagt,  Bulgarien  habe  die  Kinderschuhe  abgelegt  und  sei  allein 
verantwortlich  für  seine  Handlungen.  Er  habe  dies  neuerdings  den 
bulgarischen  Machthabern  sehr  eindringlich  angeraten  und  auch  jetzt 
wieder  davor  gewarnt,  bei  den  Einzugsfeierlichkeiten  des  neu  ver- 
mählten  Paares*  etwa  Kopflosigkeiten  zu  begehen. 

Herr  von  Giers  habe  auch  die  Initiative  ergriffen  und  von  den 
jüngst  in  Sofia  erfolgten  Publikationen  gesprochen**.  Sehr  erstaunt  war 
Graf  Kälnoky  zu  hören,  daß  sein  Unterredner  die  Echtheit  einiger  dort 
veröffentlichten  Schriftstücke  nicht  angezweifelt  hat.  Er  habe  zuge- 
standen, daß  mehrere  dieser  Briefe  leider  von  Beamten  des  russischen 
Auswärtigen  Ministeriums  herrührten,  dieselben  seien  aber  ohne  sein 
Wissen  und  Wollen  geschrieben,  und  müsse  er  die  Verantwortlichkeit 
dafür  entschieden  zurückweisen.  Die  meisten  Schriftstücke  seien  aber 
gefälscht;  dies  beweise  schon  der  Umstand,  daß  Herr  Jacobsohn  sie  ver- 
öffentlicht, denn  die  Sprache  sei  mehr  jüdisch  als  russisch.  —  Die 
Veröffentlichung  habe  der  russische  Minister  als  eine  große  Unge- 
schicklichkeit bezeichnet;  dieselbe  habe  Bulgarien  gar  nichts  genützt 
und  Rußland  unnütz  verstimmt. 

Graf  Kälnoky  hat  ihm  hierin  recht  gegeben.  Mir  sagte  er,  er 
habe  sich  seinerzeit  in  Bulgarien  auch  in  diesem  Sinne  geäußert. 

Herr  von  Giers,  der  die  russische  Politik  vom  Jahre  1876  getadelt 


»  Vgl.  Nr.  1655,  Fußnote  **. 

**  Es  handelt  sich  um  eine  auf  einen  Dragoman  a.  D.  Jacobsohn  zurückgehende  in 
Sofia  erschienene  Broschüre,  die  demnächst  auch  unter  dem  Titel  „Geheime  Doku- 
mente der  russischen  Orientpolitik  1881—1890,  nach  dem  in  Sofia  erschienenen 
russischen  Original  herausgegeben  von  R.  Leonow"  in  deutscher  Übersetzung  er- 
schien, und  die  die  russische  Orientpolitik  sehr  bloßstellte. 

28«  435 


und  den  russisch-türkischen  Krieg  immer  als  durchaus  den  russischen 
Interessen  zuwider  angesehen  hätte,  habe  nochmals  die  bulgarische 
Undankbarkeit  hervorgehoben.  Die  Befreiung  dieser  Brüder  habe  das 
russische  Reich  nur  in  Verlegenheiten  gebracht.  Nach  einer  von  ihm  auf- 
gestellten Berechnung  der  Kriegskosten  im  Verhältnis  zur  bulgarischen 
Bevölkerung  habe  der  Minister  bemerkt:  jeder  Bulgare  koste  Rußland 
461  Rubel,  und  das  sei  alles  verlorenes  Geld! 

Vom  Zaren  und  dessen  Charaktereigenschaften  sprechend  habe 
Herr  von  Giers  gesagt,  bei  ihm  sei  man  vor  solchen  Überraschungen 
sicher,  wie  man  sie  beim  Kaiser  Alexander  II.  erlebt  habe;  der  slawi- 
schen Pression  nachgebend  habe  er  damals  in  Moskau  den  Krieg  pro- 
klamiert, während  er  wenige  Tage  vorher  in  Petersburg  den  größten 
Widerwillen  gegen  denselben  ausgesprochen  habe. 

Ob  Herr  von  Giers  seines  traurigen  körperlichen  Zustandes  wegen 
noch  lange  in  der  Lage  sein  wird,  durch  seinen  Rat  der  Sache  des 
europäischen  Friedens  förderlich  zu  sein,  scheint  dem  Grafen  Kälnoky 
zweifelhaft. 

Ich  will  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  er  sehr  befriedigt  von  dem 
Eindruck  ist,  den  nach  den  heute  hier  eingetroffenen  russischen  Zei- 
tungen der  Besuch  des  Kaisers  Franz  Joseph  bei  dem  russischen 
Herrn  Minister  auf  die  dortige  öffentliche  Meinung  gemacht  zu  haben 
scheint.  H.VII.  P.  Reuß 


Nr.  1657 

Der  Geschäftsträger  in  Wien  Prinz  Max  von  Ratibor  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  164  Wien,  den  Q.Juni  1893 

Bei  meinem  gestrigen  ersten  Besuch  bei  Graf  Kälnoky  kam  der- 
selbe sogleich  auf  die  Äußerungen  zu  sprechen,  welche  seine  in  den 
Delegationsausschüssen  gehaltenen  Reden  *  in  der  fremdländischen  Presse 
hervorgerufen.  Bei  dem  Thema  „Rußland"  brachte  der  Minister  das 
Gespräch  auf  seine  Unterredung  mit  Herrn  von  Giers,  über  welche 
Prinz  Reuß  unter  dem  1.  Mai  d.  Js.**  berichtet  hat. 

Graf  Kälnoky  sagte  mir,  er  habe  gehört,  —  eine  Quelle  wurde 
nicht  angegeben  —  daß  sich  Herr  von  Giers  in  St.  Petersburg  nicht  so 
befriedigt  über  seine  Wiener  Eindrücke  ausgesprochen  habe,  als  er, 
Graf  Kälnoky,  dies  zu  erwarten  berechtigt  gewesen  sei.  Herr  von  Giers 


*  Im  Auswärtigen  Ausschuß  der  ungarischen  Delegation  und  im  Budgetausschuß 
der  österreichischen   Delegation   hatte  Graf   Kälnoky  am  3.   und  am  5.  Juni   Ex- 
poses über  die   auswärtige  Lage  gegeben. 
**  Siehe  Nr.  1656. 

436 


habe  in  St.  Petersburg  erzählt,  daß  er  einigermaßen  erstaunt  gewesen 
sei,  aus  dem  Munde  seines  österreichisch-ungarischen  Kollegen  unter 
anderem  die  Äußerung  zu  hören,  daß  Rußland  vor  nicht  langer  Zeit 
vor  einem  Kriege  gestanden  habe. 

Graf  Kälnoky  trug  diesen  Worten  des  Herrn  von  Giers  gegenüber 
große  Gleichgültigkeit  zur  Schau  und  meinte,  der  „arme  alte  Herr" 
sei  wohl  etwas  gekränkt  darüber  gewesen,  daß  der  österreichisch- 
ungarische Minister  des  Äußern  nicht  eingehend  über  die  voraussicht- 
liche zukünftige  Lage  Europas  mit  ihm  gesprochen  habe.  Er  habe 
aber  den  russischen  Minister  körperlich  so  gebrochen  gefunden,  daß 
er  sich  gesagt  habe,  es  verlohne  sich  nicht,  mit  demselben  in  weit- 
tragende politische  Diskussion  sich  einzulassen. 

Graf  Kälnoky  war  offenbar  zu  dem  Zwecke  auf  diese  Angelegen- 
heit zurückgekommen,  um  die  Aufrichtigkeit  seiner  dem.  Prinzen  Reuß 
über  die  Unterredung  mit  Giers  gemachten  Angaben  zu  bekräftigen 
und  die  Äußerungen  des  russischen  Ministers  als  unrichtig  hinzustellen. 
Speziell  die  Worte  über  einen  Krieg,  vor  welchem  Rußland  vor  einiger 
Zeit  gestanden,  will  Graf  Kälnoky  nicht  gesprochen  haben  und  leugnete 
dies  mehrfach  ab,  ohne  durch  mich  dazu  veranlaßt  worden  zu  sein. 

M.  R  a  t  i  b  o  r 


Nr.  1658 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  242  Wien,  den  27.  September  1 893 

Gestern  vor  der  Hoftafel  in  Schönbrunn  sprach  Seine  Majestät 
der  Kaiser  von  Österreich  längere  Zeit  mit  mir  und  äußerte,  da  er  noch 
nicht  Gelegenheit  gehabt  hätte,  etwas  eingehender  mit  unserem  aller- 
gnädigsten  Herrn  zu  reden*,  so  habe  er  sich  vorgenommen,  allerhöchst- 
demselben  bei  der  Fahrt  nach  dem  Bahnhof  noch  besonders  ans  Herz 
zu  legen.  Seine  Majestät  möchten  die  russische  Armee  doch  ja  nicht 
zu  sehr  unterschätzen  i.  Dieselbe  habe  wohl  ihre  Fehler,  sei  aber  nicht 
so  schlecht,  wie  man  gern  annähme;  außerdem  aber  bleibe  die  riesen- 
hafte Anzahl  der  Soldaten,  die  Rußland  ins  Feld  zu  stellen  vermöge, 
immerhin  eine  nicht  wegzuleugnende  Tatsache.  Und  abgesehen  hier- 
von bleibe  ein  Krieg,   selbst  ein  siegreicher,  doch  immer  ein  großes 


*  Kaiser  Wilhelm  II.  hatte,  von  den  großen  deutschen  Manövern  kommend,  sich 
Mitte  September  nach  Güns  in  Ungarn  begeben,  um  den  Österreich-ungarischen 
Manövern  beizuwohnen.  Im  Anschluß  an  diese  Manöver  hatte  er  sich  vom  22, 
bis  27.  September  bei  Kaiser  Franz  Joseph  zur  Jagd  als  Gast  aufgehalten. 

437 


Unglück,  dessen  Folgen  und  daraus  erwachsendes  Elend  bei  der  heu- 
tigen Beschaffenheit  der  Waffen  gar  nicht  abzusehen  sei. 

Ich  erlaubte  mir,  Seiner  Majestät  zu  sagen,  höchstweicher  offenbar 
unter  dem  Eindruck  zu  stehen  schien,  als  habe  man  bei  uns  eine  zu  ge- 
ringe Meinung  von  der  russischen  Kriegsmacht,  es  sei  immer  ein  Fehler, 
den  Gegner  zu  unterschätzen,  und  ich  glaubte  nicht,  daß  dies  uns  vorge- 
worfen  werden  könnte.  Seine  Majestät  wüßten  ja,  wie  friedfertig  unser 
allergnädigster  Herr  gesinnt  sei,  und  könnte  ich  dies  auf  das  aller- 
bestimmteste  versichern;  auch  wüßten  höchstdieselben,  wie  fern  es 
Seiner  Majestät  liege,  kriegerische  Absichten  gerade  gegen  Rußland 
zu  hegen,  und  wie  Deutschland  nur  gezwungen  in  einen  Krieg  mit 
seinem  mächtigen  Nachbar  eintreten  würde.  Wir  würden  einen  sol- 
chen Krieg  nicht  anfangen,  auch  hätte  Seine  Majestät,  unser  Kaiser,  die 
Überzeugung,  daß  der  Zar  von  den  friedfertigsten  Gesinnungen  durch- 
drungen wäre. 

Diese  gleiche  Beruhigung  könnten  wir  leider  nach  der  anderen 
Seite  hin  nicht  haben,  und  die  Narrheit,  mit  der  die  französische  Presse 
sich  in  den  letzten  Wochen  benommen  hätte,  ohne  dabei  von  der  Re- 
gierung gezügelt  worden  zu  sein*,  könne  uns  nicht  die  Besorgnis 
nehmen,  daß  Frankreich  einmal  über  uns  herfallen  werde. 

Der  Kaiser  bemerkte  hierauf,  er  glaube  auch  an  die  friedlichen 
Gesinnungen  des  Zaren,  fürchte  aber,  derselbe  würde  in  einem  solchen 
Falle  seine  russischen  Chauvinisten  nicht  zurückhalten  können. 

Ich  weiß  nicht,  weshalb  mir  Kaiser  Franz  Joseph  die  obige  Be- 
merkung gemacht  hat,  kann  mir  aber  folgendes  denken:  Unser  alier- 
gnädigster  Herr  hat  sich  bei  den  Manövern  bei  Güns  zu  verschiedenen 
Persönlichkeiten  ganz  besonders  lobend  über  die  dort  an  den  Tag  ge- 
legte vortreffliche  Führung  jener  großen  Truppenmassen  ausgespro- 
chen und  vielleicht  allerhöchstsich  auch  dahin  geäußert,  daß  wir  mit 
solchen  Truppen  keinen  Feind  zu  fürchten  brauchten.  Ich  habe  es  daher 
für  nützlich  gehalten,  dem  Grafen  Kälnoky  über  mein  Gespräch  mit 
seinem  Souverän  zu  reden.  Ich  bat  ihn,  auch  seinerseits  eine  gewisse 
Beunruhigung,  die  ich  bemerkt  hätte,  beim  Kaiser  Franz  Joseph  zu 
bekämpfen  und  ihm  den  eventuell  erwachten  Glauben  zu  nehmen,  als 
sei  unser  allergnädigster  Herr  unter  dem  frischen  Eindruck  der  großen 
Manöver  in  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  vielleicht  etwas  krie- 
gerisch gestimmt  worden. 

Der  Minister  dankte  mir  für  meine  Mitteilung  und  versprach  mir, 
in  dem  von  mir  gewünschten  Sinne  zu  wirken.  Er  ist  seinerseits  davon 
überzeugt,  daß  es  unserem  allergnädigsten  Herrn  nicht  einfällt,  den 
Krieg  nach  irgendeiner  Seite  hin  zu  wünschen  oder  gar  zu  provozieren, 
und  wenn  allerhöchstderselbe  eine  gewisse  Zuversicht   in   den   Erfolg 


*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1529. 
438 


eines  eventuellen  Krieges  ausgesprochen  hätte,  so  sei  dies  sehr  schmei- 
chelhaft für  die  österreichische  Armee,  berechtige  aber  nicht,  auf  krie- 
gerische Absichten  zu  schließen. 

H.VII.  P.  Reuß 

Randbemerkung  Kaiser  Wilhelms  II.: 

^  !  Nun  die  Begründung  unsrer  milit[ärischen]  Vorlage  hätte  ihn  beruhigen  können. 
Ich!  ich  predige   seit  Jahren  das  Gegentheil! 

Schlußbemerkung  des  Kaisers: 
Das  sind  die  Folgen  fortdauernder  Niederlagen!  Die  paar  Lobsprüche  —  be- 
rechtigte —  von  mir,  und  die  versuchte  Stärkung  des  oesterr[eichischen]  Selbst- 
vertrauens —  das  noch  sehr  mangelhaft  ist  —  hat  schon  so  erschreckt,  daß 
das  die  Folgen  sind!!  Uebrigens  hat  der  Kaiser  mir  nichts  von  dem  gesagt, 
was  er  sagen  wollte!  —  Ich  hätte  alles  eher  vermuthet  als  einen  solchen  Ver- 
dacht! 


Nr.  1659 

Kaiser  Wilhelm  II.  an  den  Reichskanzler  Fürsten  von  Hohenlohe 

Telegramm.  Entzifferung 

Neues   Palais,  den  30.  Oktober  1894 

Ein  Telegramm  des  Großfürsten  Thronfolgers  teilt  mir  mit,  daß  des 
Zaren  Zustand*  sich  wieder  verschlimmert  habe  und  die  letzte  Nacht 
eine  schlechte  gewesen  sei.  Nach  privaten  Nachrichten  ist  Lungen- 
entzündung dazu  getreten  mit  Blutspeien  verbunden,  so  daß  die  Ge- 
fahr wieder  näher  gerückt  sei.  Für  meine  Mitteilungen  über  hiesigen 
Kanzlerwechsel**  usw.  ließ  mir  der  Zar  bestens  danken  durch  den 
Thronfolger,  besonders  dafür,  daß  ich  persönlich  ihn  gleich  infor- 
miert habe. 

Wilhelm  LR. 

Nr.  1660 

Der  Botschafter  a.  D.  von  Schweinilz,  z.  Z.  in  Kassel,  an  den  Reichs- 
kanzler Grafen  von  Caprivi 

Eigenhändiges  Privatschreiben 

Kassel,  den  23.  Oktober  1894 
Aus  den  Zeitungen  entnehme  ich,  daß  man  erzählt,  Seine  Majestät 
wolle,  wenn  der  Zar  stirbt,  nach  Petersburg  zur  Beisetzung  reisen***. 


*  Zar  Alexander  III.  litt  schon  seit  Sommer  1894  an  einer  unheilbaren  Nieren- 
erkrankung. 

**  Am  29.  Oktober  war  die  Ernennung  des  Fürsten  Chlodwig  von  Hohenlohe  zum 
Reichskanzler  an  Stelle  des  Grafen  von  Caprivi  erfolgt. 

***  Diese  Absicht  bestand  in  der  Tat.  Wie  Kaiser  Wilhelm  dem  auf  Urlaub  in 
Berlin  weilenden  Botschafter  von  Werder  sagte,  wollte  er  die  Gelegenheit  wahr- 
nehmen, um  Fühlung  mit  dem  jungen  Kaiser  zu  nehmen.    Nach  Rußland  zurück- 

439 


Eure  Exzellenz  bitte  ich  in  meiner  Vaterlandsliebe  die  Rechtfertigung 
zu  finden,  wenn  ich  vergesse,  daß  ich  nicht  mehr  berufen  bin,  über 
russische  Zustände,  Stimmungen  und  Leidenschaften  zu  berichten. 
Diese  glaube  ich  genügend  zu  kennen,  um  die  Überzeugung  aussprechen 
zu  dürfen,  daß  es  ratsam  sei,  dem  künftigen  Herrscher  Rußlands  zu 
überlassen,  den  ersten  Schritt  auf  dem  Wege  wünschenswerter  An- 
näherung zu  tun. 

Durch  Entgegenkommen  steigern  wir  bei  den  Russen  Hochmut 
und  Mißtrauen;  mit  letzterem  hat  auch  der  Zar  zu  rechnen,  dessen 
beide  Vorgänger  ihr  Verhältnis  zu  uns  in  das  dichteste  Geheimnis 
zu  hüllen  genötigt  waren. 

Eine  auffällige  Betätigung  freundschaftlicher  Beziehungen  zu  dem 
jungen  Monarchen  würde  diesem  Zurückhaltung  auferlegen  und  die 
russische  Gesellschaft  sowie  besonders  die  Presse  veranlassen,  den 
Franzosen  erhöhte  Sympathie  zu  beweisen. 

Der  Zauber,  mit  welchem  das  persönliche  Auftreten  unseres  alier- 
gnädigsten  Herrn  auf  die  Bevölkerung  in  allen  von  ihm  besuchten 
Hauptstädten  gewirkt  hat,  würde  auch  in  St.  Petersburg  nicht  aus- 
bleiben ;  je  tiefer  dieser  Eindruck  wäre,  um  so  eifriger  würde  man 
bestrebt  sein,  Frankreich  zu  versichern,  daß  Rußlands  Gesinnungen 
durch  den  Thronwechsel  keine  Änderung  erleiden,  eine  solche  herbei- 
zuführen, steht  vorläufig  nicht  in  der  Macht  des  Zaren. 

V.  Schweinitz 


gekehrt,  riet  von  Werder  indessen,  die  Anknüpfung  intimerer  Beziehungen  lieber 
auf  eine  spätere  Zeit  zu  verschieben,  wo  dem  Zaren  ein  allmählicher  Übergang 
zu  einer  anderen  Politik  erleichtert  wäre.  In  Würdigung  dieser  Argumente  ver- 
zichtete Kaiser  Wilhelm  II.,  als  Alexanders  III.  Tod  eintrat  (1.  November  1894), 
auf  die  Ausführung  seines  Planes. 


440 


B.  Handelspolitische  Beziehungen 


Nr.  1661 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  das 
Auswärtige  Amt 

Telegramm.  Entzifferung 

Nr.  78  St.  Petersburg,  den  22.  Juli  1893' 

Herr  Schischkin  zeigte  mir  soeben  mündlich  an,  daß  Maximal- 
tarif am  I.August  eingeführt  werden  würde,  falls  Deutschland  nicht 
ein  Provisorium  mit  Rußland  eingehe*.  Die  Vorschläge  zu  demselben 
würden  heute  Sonnabend  mittels  Kuriers  nach  Berlin  gesandt. 

Werder 


•  über  die  Entwicklung  der  deutsch-russischen  Handelsbeziehungen  seit  den  ersten 
ergebnislosen  Erörterungen  zwischen  beiden  beteiligten  Regierungen  im  Jahre 
1891  (siehe  Kap.  XLIX)  vgl.  die  dem  Bundesrat  im  Juli  1893  vorgelegte  Denk- 
schrift (gedruckt  u.  a.  in  Schultheß'  Europäischer  Geschichtskalender  Jg.  1893, 
S.  99  ff.).  Auf  die  deutsche  Bevorwortung,  daß  die  Ausdehnung  des  inzwischen 
durch  die  Handelsverträge  mit  Österreich-Ungarn,  Italien,  Belgien  und  der  Schweiz 
begründeten  deutschen  Konventionaltarifs  auf  Rußland  nur  dann  in  Aussicht  ge- 
nommen werden  könne,  wenn  dieses  seinerseits  Deutschland  außer  Erleichte- 
rungen des  Grenzverkehrs  und  der  Zollformalitäten  sowie  der  Beseitigimg  der 
Differenzialzölle  eine  erhebliche  Ermäßigung  des  russischen  Tarifs  bewillige,  ver- 
langte die  russische  Regierung  zunächst  im  Juli  1892  die  Mitteilung  einer 
detaillierten  Liste  derjenigen  Artikel,  für  welche  Deutschland  Zollermäßigung  be- 
gehre. Diese  Arbeit  wurde  im  Reichsamt  des  Inneren  im  August  1892  in  Angriff 
genommen;  doch  wurde  sie  wesentlich  dadurch  erschwert,  daß  vor  allem  die 
deutschen  Agrarier,  die  schon  mit  den  seither  abgeschlossenen  Handelsverträgen 
sehr  wenig  zufrieden  gewesen  waren,  heftig  gegen  eine  Ausdehnung  der  darin 
festgelegten  Agrarzölle  auf  Rußland  opponierten.  Im  Februar  1893  kam  es 
darüber  im  Reichstage,  dann  auch  im  preußischen  Abgeordnetenhause  zu  stür- 
mischen Debatten.  So  konnten  die  deutschen  Vorschläge  erst  im  März  1893  der 
russischen  Regierung  zugestellt  werden.  Sie  fanden  indessen  auf  russischer  Seite 
wenig  Gegenliebe.  Am  25.  Juni  1893  führte  die  russische  Regierung  vielmehr, 
nachdem  sie  kurz  zuvor  mit  Frankreich  eine  HandelsI<onvention  (17.  Juni)  ab- 
geschlossen hatte,  die  diesem  einige,  jedoch  unwesentliche  Zollerleichterungen  be- 
willigte, einen  doppelten  Zolltarif  ein  und  drohte  alsbald  der  deutschen  Regierung, 
gegen  alle  Waren  deutschen  Ursprungs  mit  dem  Maximaltarif  vorzugehen,  falls 
Deutschland  ihr  nicht,  fürs  erst?  auf  dem  Wege  eines  Provisoriums,  die  Vci- 
günstigungen  seines  Konventionaltarifs  zubillige. 

443 


Nr.  1662 

Der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes  Freiherr  von  Marschall 
afl  den  Botschaf  .er  in  Petersburg  von  Werder 

Telegramm.  Abschrift 
Nr.  64  Berlin,  den  22.  Juli  1893 

Zu  Nr.  78*. 

Graf  Schuwalow  hat  mir  bereits  am  ll.d.  Mts.  in  amtlichem  Auf- 
trage und  unter  Bezugnahme  auf  unser  Provisorium  mit  Rumänien 
das  Ansinnen  gestellt,  Rußland  unsern  Konventionaltarif  bis  zum 
31.  Dezember  zu  gewähren,  wogegen  Rußland  uns  die  an  Frankreich 
gemachten   Zolltarifermäßigungen   konzedieren   würde. 

Ich  habe  das  kurzweg  abgelehnt,  weil  wir  zu  einem  solchen  Pro- 
visorium des  Reichstags  bedürfen,  und  es  ausgeschlossen  war,  den 
Reichstag  nach  der  Erledigung  der  Militärvorlage  noch  für  handels- 
politische Fragen  hier  zu  halten**,  und  weil  die  Konzessionen  Ruß- 
lands an  Frankreich  nach  eigenem  russischen  Zugeständnis  „insigni- 
fiantes''  sind.  Herr  Witte  weiß  also,  daß  wir  zurzeit  staatsrechtlich 
außerstande  sind,  auf  den  Vorschlag  eines   Provisoriums    einzugehen. 

Wahrscheinlich  fand  Herr  Witte  den  Kaiser  besser  als  ihm  lieb 
war  für  Deutschland  disponiert  und  wählte  das  Auskunftsmittel  der 
Stellung  eines  bereits  abgelehnten  Vorschlags,  um  dem  Monarchen 
unseren  bösen  Willen  glaubhaft  zu  machen. 

Wenn  Ew.  pp.  morgen  beim  Frühstück  Gelegenheit  finden,  den 
Kaiser  darüber  aufzuklären,  daß  wir  verfassungsmäßig  ein  Proviso- 
rium zurzeit  gar  nicht  bewilligen  können,  so  dürfte  dies  vielleicht 
nützlich  sein.  Wena  auch  nach  dem  letzten  Schritte  des  russischen 
Finanzministers  ein  zeitweiliger  Zollkrieg  nicht  vermeidbar  scheint, 
so  ist  es  doch  für  spätere  befriedigende  Regelung,  an  der  ich  selbst 
heute  nicht  zweifle,  von  Wichtigkeit,  daß  Kaiser  Alexander  an  unseren 
Wunsch,  uns  zu  verständigen,  schon  jetzt  glaubt. 

(gez.)  Marschall 

Nr.  1663 

Der  Botschafter  in  Petersburg  von  Werder  an  den  Reichsl^axizler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  182  St.  Petersburg,  den  28.  Juli  1893 

Den  mir  durch  Euere  Exzellenz  erteilten  Auftrag,  der  hiesigen 
Regierung  mitzuteilen,  daß  unsere  Regierung  beabsichtige,    die    Ein- 

*  Siehe  Nr.  1661. 

**  Am  15.  Juli  war  bereits  der  Reichstag  nach  Erledigung  der  Militärvorlage  ge- 

sclilossen. 

444 


Führung  des  russischen  Maximaltarifs  gegen  Deutschland  durch  Er- 
höhung der  Steuern  auf  die  Einfuhr  russischer  Produkte  zu  beant- 
worten, habe  ich  ausgeführt. 

Nachdem  ich  es  bei  Herrn  von  Schischkin  getan  hatte,  suchte  ich 
gestern  zu  diesem  Zwecke  Herrn  von  Giers  auf. 

Beiden  machte  ich  noch  einmal  in  entschiedener  Weise  klar,  daß 
der  Finanzminister  sich  im  Irrtum  befunden  hätte,  als  er  annahm,  daß 
die  Kaiserliche  Regierung  berechtigt  sei,  ohne  Einholung  der  Zu- 
stimmung des  Reichstags  ein  Zollprovisorium  einzuführen,  und  daß 
die  Berufung  auf  Rumänien  ganz  ungerechtfertigt  sei,  da  unsere  wirt- 
schaftliche Stellung  diesem  Lande  gegenüber  von  der  zu  Rußland 
wesentlich  abweiche. 

Herr  von  Schischkin  nahm  die  Mitteilung  ad   referendum. 

Bei  einer  früher  stattgehabten  Unterredung  hat  er  mir  gesagt, 
er  müßte  mir  doch  sagen,  daß  die  deutsche  Regierung  Rußland  sehr 
„rudement"  behandle,  und  er  gebrauchte  dann,  um  seine  Ansicht 
noch  mehr  zu  betonen,  einen  sehr  drastischen  in  Studentenkreisen 
gebräuchlichen  Ausdruck. 

Herr  von  Giers  nahm  die  Sache  sehr  tragisch.  Er  sagte,  nachdem 
die  deutsche  Regierung  wiederholentlich  erklärt  hätte,  daß  die  Chancen 
einer  Verständigung  nur  in  dem  Falle  günstig  ständen,  daß  auf  der 
Basis  ihrer  Forderungen  verhandelt  würde,  wäre  die  Einführung  des 
Maximaltarifs  nicht  mehr  zu  umgehen  gewesen*.  Er  hoffe  aber,  da 
ja  unsere  Regierung  beantragt  hätte,  am  1.  Oktober  in  kommissarische 
Verhandlungen  einzutreten,  daß  wir  dann  den  Zollkrieg  beendigen 
könnten,  nachdem  ein  für  beide  Länder  annehmbares  Abkommen  zu- 
stande gekommen  wäre. 

Auf  die  politischen  freundnachbarlichen  Beziehungen  übergehend, 
sagte  mir  Herr  von  Giers,  der  Kaiser  könne  sich  gar  nicht  denken, 
daß  Kampfzölle  irgendeinen  nachteiligen  Einfluß  auf  diese  haben  könn- 
ten. Seine  Majestät  habe  als  Beispiel  angeführt,  daß  trotz  der  ganz 
besonderen  Verehrung,  welche  der  Kaiser  Nikolaus  für  seinen  Schwie- 
gervater den  König  Friedrich  Wilhelm  IIL  hatte,  immer  unter  seiner 
Regierung  eine  Art  von  Zollkrieg  zwischen  Rußland  und  Preußen 
geführt  worden  v/äre,  aber  es  hätte  dieser  nie  die  vortrefflichen  ver- 
wandtschaftlichen und  politischen   Beziehungen  gestört. 

Der  Minister  sagte  mir  dann  noch,  er  hätte  den  Minister  des 
Innern  aufgefordert,  die  Presse  dahin  zu  instruieren,  daß  sie  anläß- 
lich der  gegenseitigen  Zollmaßregeln  keine  gehässigen  Artikel  gegen 
Deutschland  schreiben  dürfe.  Unsere  Presse  sei  sehr  „mechante"  fügte 


*  Tatsächlich  verfügte  der  russische  Finanzminister  für  alle  Waren  aus  Deutsch- 
land nicht  nur  den  Maximaltarif,  sondern  auch  noch  einen  Zuschlag  von  50 o/o, 
wogegen  Deutschland  lediglich  einen  Zuschlag  von  50 o/o  auf  die  bisher  be- 
stehenden Eingangsabgaben  anordnete. 

445 


er  hinzu,  aber  er  wisse  ja,  daß  die  Regierung  keine  gesetzliche  Hand- 
habe gegen  sie  habe.  Ich  entgegnete  darauf,  daß  ich  überzeugt  wäre, 
daß  wenigstens  die  offiziöse  Presse  angehalten  werden  würde,  sich 
eines  anständigen  Tones  zu  befleißigen. 

Mein  Besuch  war  sehr  kurz,  da  ich  den  Minister   in    höchstem 
Maße  angegriffen  fand. 

V.  Werder 


Nr.  1664 

Der  Reichskanzler  Graf  von  Caprivi,  z.  Z.  in  Karlsbad,  an  den  Staats- 
sekretär des  Auswärtigen  Amtes  Freiherrn  von  Marschall 

Privatbrief.  Eigenhändig 

Karlsbad,  den  24.  September  1893 
Euer  Exzellenz 
danke  ich  für  die  Anzeige  Ihrer  mir  willkommenen   Rückkehr    nach 
Berlin 

In  bezug  auf  den  Handelsvertrag  mit  Rußland  bin  ich  gegen  ein 
Provisorium  (Waffenstillstand),  wobei  wir  auf  den  status  quo  ante 
zurückkehrten.  Unserem  Handel  und  unserer  Industrie  würde  das  dann, 
m.  E.,  erheblich  nutzen,  wenn  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  ein  defini- 
tiver Vertrag  zustande  kommt,  die  Voraussetzung  dieses  Provisoriums 
wäre,  wenn  also  der  Handel  sich  auf  lange  Zeiten  einrichten  könnte. 
Das  würde  Rußland  auch  erkennen  und  unser  Friedensbedürfnis  über- 
schätzen. Für  sich  selbst  aber  hat  Rußland  starke  Motive  zu  einem 
Provisorium,  auch  wenn  ihm  dies  nur  soviel  Zeit  schafft,  seine  dies- 
jährige Ernte  abzuschieben. 

Ich  nehme  an,  daß  unsere  Kommissionen  keine  besondere  Instruk- 
tion erhalten,  sondern  den  Tarif  auf  Grund  unserer  Offerte  behandeln. 
Den  Vertragstext  selbst  habe  ich  noch  nicht  gesehen  und  bitte,  mir 
Abschrift  oder  Auszug  vom  Wesentlichen  zu  schicken. 

Ich  wünsche  nach  wie  vor  das  Zustandekommen  eines  Vertrages 
mit  Rußland  aus  politischen  wie  wirtschaftlichen  Gründen  dringend. 
Aber  wir  müssen  wenigstens  soviel  von  Rußland  erreichen,  daß  Handel 
und  Industrie  im  ganzen  befriedigt  werden. 

Ziehen  die  Verhandlungen  sich  in  die  Länge,  so  scheint  mir  das 
nicht  ungünstig.  Jedenfalls  darf  vor  den  Tagen  Toulon*  die  Sache 
nicht  scheitern,  pp.** 

V.  Caprivi 

*  Gemeint  ist  der  bevorstehende  Besuch  des  russischen  Geschwaders  in  Toulon 

(13.  Oktober).    Vgl.   Kap.  XLVII,  Nr.  1529. 

*♦  Den  Schluß  des  Briefes  in  Kap.  XLVII,  Nr.  1530. 

446 


Nr.  1665 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Graf  Rex  an  den  Reichskanzlei 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  265  St.  Petersburg,  den  28.  Oktober  1893 

Herr  von  Giers  erzählte  mir,  daß  die  deutsch-russischen  Zoll- 
verhandlungen* einen  guten  Fortgang  nähmen,  er  sei  bei  der  kurz 
vor  der  Abreise  nach  Berlin  stattgehabten  Konferenz,  welcher  auch 
Graf  Schuwalow  beigewohnt  hätte,  der  einzige  gewesen,  welcher  an 
einen  glücklichen  Ausgang  der  Verhandlungen  geglaubt  habe  und  von 
dem  ernstlichen  Bestreben  der  deutschen  Regierung,  einen  Vertrag 
herbeizuführen,  überzeugt  gewesen  sei. 

Aus  den  Ausführungen  des  Ministers  konnte  ich  entnehmen,  daß 
er  mit  dem  in  seiner  Abwesenheit  erfolgten  Vorgehen  des  Finanz- 
ministers gegen  Deutschland  keineswegs  einverstanden  war,  er  er- 
kannte die  schwierige  Stellung  der  deutschen  Regierung  gegenüber 
den  Agrariern  vollständig  an. 

Herr  von  Giers  bemerkte  noch  im  Laufe  des  Gesprächs,  daß  er 
den  Grafen  Schuwalow  bewogen  habe,  schon  jetzt  nach  Berlin  zurück- 
zukehren, da  er  es  nicht  verantworten  könne,  eine  solche  Kraft  in 
einem  so  kritischen  Moment  in  Urlaub  zu  lassen. 

Graf  Rex 

Nr.  1666 
Kronratsprotokoll  vom  18.  Februar  1894** 

Abschrift 

St.  M.  637  Berlin,  den  18.  Februar  1894 

Sekret 

Auf  allerhöchsten  Befehl  war  heute  unter  dem  Vorsitz  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs  das  Staatsministerium  im  Schlosse 
zu    Berlin    zu    einer   Kronratssitzung   zusammengetreten,    an    welcher 


*  Sie  hatten,  gemäß  dem  Vorschlag  der  deutschen  Regierung,  Anfang  Oktober  in 
Bedin  begonnen.  Russischerseits  führten  die  Verhandlungen  hauptsächlich  Staats- 
rat Timiriazew,  deutscherseits  Gesandter  Freiherr  von  Thielmann  und  General- 
konsul von  Lamezan.  Näheres  siehe  in  „Die  Handelspolitik  des  Deutschen  Reichs 
vom  Frankfurter  Frieden  bis  zur  Gegenwart"  (1899),  S.  172f. 
**  Über  den  Verlauf  der  Verhandlungen  über  den  russischen  Handelsvertrag  liegen 
im  Archiv  des  Auswärtigen  Amts  nur  wenig  Akten.  Ein  sonst  sehr  instruktiver 
Erlaß  an  den  Botschafter  von  Werder  vom  25.  November  1893  empfiehlt  sich 
nicht  zum  Abdruck,  weil  er  ohne  die  nicht  veröffentlichten  Drucksachen  des  Zoll- 
beirats, auf  die  fortwährend  Bezug  genommen  wird,  nicht  überall  verständlich 
ist.  Einen  guten  Ersatz  gewährt  das  oben  abgedruckte  Kronratsprotokoll  vom 
18.  Februar,  das  die  Entstehungsgeschichte  des  am  9.  Februar  unterzeichneten 
Handelsvertrags  ab  ovo  darlegt. 

447 


außer  sämtlichen  Mitgliedern,  sowie  dem  mit  Führung  des  Protokolls 
beauftragten  Unterstaatssekretär  desselben,  der  Staatssekretär  des  Aus- 
wärtigen Amts  und  der  Gesandte  Dr.  Freiherr  von  Thielmann  teil- 
nahmen. 

Es  stand  der  mit  Rußland  abgeschlossene  Handels-  und  Schiff- 
fahrtsvertrag zur  Beratung. 

Seine  Majestät  geruhten  zunächst  dem  Reichskanzler  das  Wort 
zu  geben. 

Derselbe  rekapitulierte,  wie  man  zum  Abschlüsse  dieses  Vertrages 
gekommen  sei. 

Seit  den  zwanziger  Jahren  hätten  Versuche  stattgehabt,  zu  einer 
Verständigung  zu  gelangen,  bald  sei  ein  Schritt  vorwärts,  bald  aber 
auch  wieder  rückwärts  gemacht,  niemals  habe  Rußland  sich  zu  etwas 
Festem  verpflichten  wollen,  so  daß  über  allen  geschäftlichen  Be- 
ziehungen zu  diesem  Lande  die  Unsicherheit  geschwebt  habe,  ob 
auch  nun  zu  dem  Zeitpunkte,  wo  Waren  die  Grenze  passierten,  noch 
dieselben  Bestimmungen  in  Kraft  ständen,  wie  zur  Zeit  des  Abschlusses 
des  bezüglichen  Geschäfts.  Zollplackereien  seitens  der  einzelnen  Be- 
amten, Bestechungen,  Schmuggelhandel  seien  die  Folge  solcher  Zu- 
stände gewesen.  Daß  dies  nicht  schlimmere  Früchte  für  die  Be- 
ziehungen beider  Länder  getragen,  liege  an  dem  damaligen  glücklichen 
Verhältnis  der  beiderseitigen  Dynastien,  dem  damals  weniger  entwickel- 
ten Nationalgefühl,  der  geringeren  Entwickelung  der  Presse  und  der 
Kommunikationen. 

Im  Herbst  1890  sei  zuerst  von  Rußland  aus  der  Gedanke  des  Ab- 
schlusses eines  Handelsvertrages  geäußert  worden,  im  November  1891 
der  Vorschlag  einer  entente  commerciale  gemacht  in  dem  Sinne,  daß 
Rußland  die  Bewilligung  unserer  Zölle  gegen  Österreich  gewünscht 
und  dagegen  das  Meistbegünstigungsrecht  habe  einräumen  wollen. 
Seine  Majestät  hätten  genehmigt,  daß  zu  diesem  Vorschlage  eine  ab- 
wartende Stellung  eingenommen  worden  sei.  Durch  ein  Eingehen  auf 
denselben  hätten  die  damals  schwebenden  Verhandlungen  mit  Öster- 
reich-Ungarn gefährdet  werden  können.  Andererseits  sei  zweifelhaft 
erschienen,  ob  man  Rußland  auf  die  Dauer  differenziell  würde  be- 
handeln können.  Im  Dezember  1892  habe  Rußland  dann  die  Auf- 
stellung eines  Maximaltarifs  angekündigt,  neben  welchem  der  bis- 
herige Tarif  als  Minimaltarif  habe  weiterbestehen  sollen.  Im  Februar 
1893  seien  wir  mit  allerhöchster  Genehmigung  auf  den  Wunsch  Ruß- 
lands eingegangen,  diejenigen  Punkte  zu  bezeichnen,  auf  welche  wir 
bei  einem  zu  schließenden  Abkommen  Wert  zu  legen  hätten,  an  der 
Spitze  das  Verlangen,  daß  die  Landeinfuhr  nicht  höher  als  die  Einfuhr 
zur  See  besteuert  werde,  dann,  daß  uns  auch  für  den  Verkehr  mit 
Finnland  Vorteile  eingeräumt  würden.  Im  Juli  1893  hätten  wir  als- 
dann auf  Wunsch  Rußlands  unsere  Bereitwilligkeit  erklärt,    auf   Ver- 

448 


Handlungen  einzugehen,  es  jedoch  als  notwendig  bezeichnet,  daß  vor- 
her eine  Basis  für  solche  geschaffen  werde.  Vom  I.August  1893  ab 
habe  Rußland  dann  seinen  Maximaltarif  in  Kraft  treten  lassen,  jedoch 
unter  gleichzeitiger  Erklärung,  daß  es  zu  weiteren  Verhandlungen  be- 
reit sei. 

Vom  15.  Juli  ab  hätten  wir  die  russischen  Einfuhrartikel  mit  einem 
Zollaufschlage  von  50  o/o  belastet,  was  Rußland  mit  der  gleichen  Maß- 
regel beantwortet  habe,  und  seitdem  bestehe  der  Zollkrieg,  der  beide 
Teile  habe  belehren  können,  wie  erwünscht  eine  Verständigung  sei. 
Auf  Rußlands  Wunsch  habe  man  sich  dann  über  Konferenzen  geeinigt, 
welche  am  I.Oktober  v.  Js.  eröffnet  worden  seien. 

Nachdem  auf  den  Wunsch  des  Reichskanzlers  Seine  Majestät  so- 
dann dem  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amts  das  Wort  gegeben 
hatten,  um  die  Bedeutung  des  nunmehr  abgeschlossenen  Vertrages  klar- 
zustellen, führte  derselbe  aus,  die  russischen  Unterhändler  hätten  schon 
beim  Beginn  der  Konferenzen  sich  zu  weitergehenden  Konzessionen 
bereit  gezeigt,  als  man  habe  erwarten  dürfen.  Von  unserer  Seite  seien 
solche  namentlich  begehrt  worden  für  landwirtschaftliche  und  chemische 
Produkte,  Metall-  und  Textilwaren  u.  a.  Unsere  Ausfuhr  nach  Ruß- 
land sei  seit  dem  Jahre  1880  von  220  auf  125  bis  130  Millionen  Mark 
zurückgegangen,  wobei  noch  anzunehmen,  daß  unsere  Industriellen 
schließlich,  um  sich  den  russischen  Markt  zu  erhalten,  noch  mit  Verlust 
Geschäfte  mit  Rußland  gemacht  hätten.  Unter  dem  dankenswerten 
Beistande  Sachverständiger  seien  nun  Resultate  erzielt  worden,  von 
denen  diese  erwarteten,  daß  die  Ausfuhr  wiederum  steigen  werde. 
So  habe  denn  auch  die  Industrie,  wie  dies  für  Handel  und  Schiffahrt 
selbstverständlich  gewesen,  den  veröffentlichten  Vertrag  günstig  auf- 
genommen. Ein  Rückblick  auf  die  Vergangenheit  lasse  die  Vorteile 
desselben  am  besten  erkennen.  Seit  20  Jahren  folge  eine  Erhöhung 
der  Zölle  auf  unsere  Waren  der  andern.  Zuerst  sei  die  Entrichtung 
der  Zölle  in  Gold,  statt  in  Papier,  verlangt,  was  nach  damaligem 
Kurse  einer  Erhöhung  um  30  o/o  gleichkomme,  dann  hätten  in  den 
Jahren  1882,  85,  87,  89,  91  Erhöhungen  stattgefunden.  Wir  hätten 
reklamiert,  verhandelt,  nie  aber  erlangt,  daß  Rußland  sich  auf  längere 
Zeit  habe  binden  wollen,  dann  seien  auch  wir  mit  Zollerhöhungen 
vorgegangen.  Der  wesentliche  Grund,  weshalb  wir  seit  1879  das  ge- 
mäßigte Freihandelssystem  verlassen  hätten,  sei  der  gewesen,  daß 
wir  nur  durch  Zölle  auf  agrarische  Erzeugnisse  Rußlands  uns  gegen 
letzteres  hätten  wehren  können.  Unser  seit  1887  geltender  Getreide- 
zoll von  5  Mark  sei  eigentlich  ein  Kampfeszoll  gegen  Rußland,  das 
uns  durch  einen  fast  als  Prohibitivzoll  zu  bezeichnenden  Zoll  auf 
Eisen  und  den  Differenzialzoll  zum  Nachteil  für  den  Landverkehr  gegen« 
über  dem  Seeverkehr  benachteiligt  habe. 

Der  damalige  Reichskanzler  habe  das  Reichsschatzamt  um  gut- 
achtliche Äußerung  über  die  zu  ergreifenden  Maßregeln   ersucht,   und 

29    Die  Große  Politik.    7.  Bd.  449 


dieses  habe  jene  Zölle  vorgeschlagen,  jedoch  in  der  Weise,  daß  sie 
allgemein  durch  Gesetz  eingeführt  würden,  so  daß  sie  dann  auch 
Österreich-Ungarn  gegenüber  als  Kompensation  wirken  könnten.  So 
sei  die  Vorlage  von  1887  mit  ihren  Zollerhöhungen  auf  Getreide,  Holz 
und  andere  landwirtschaftliche  Produkte   entstanden. 

Breche  daher  Rußland  jetzt  mit  seinem  autonomen  Zolltarif,  so 
sei  es  nur  logische  Konsequenz,  daß  wir  jene  Zölle  wieder  herab- 
setzten. Mit  Sicherheit  vorherzusagen,  was  die  Folge  hiervon  sein 
werde,  sei  freilich  schwer.  Nach  dem  im  Auswärtigen  Amt  gesammelten 
statistischen  Material  nehme  er  an,  daß  der  Rußland  gegenüber  be- 
stehende Differenzialzoll  von  5  Mark  oder  jetzt  7,50  Mark  der  Land- 
wirtschaft keinen  Schutz  gewährt,  vielleicht  sogar  zu  dem  Sinken  der 
Getreidepreise  und  der  Stagnation  des  Getreidegeschäfts  mit  bei- 
getragen habe.  Der  Hauptgrund  für  die  niedrigen  Preise  liege  freilich 
in  der  zwei  Jahre  hintereinander,  1892  und  Q3,  in  allen  Erdteilen  statt- 
gehabten guten  Ernte,  es  seien  aber  auch  durch  die  preußischen  Kampf- 
zölle die  Getreidepreise  in  Rußland  sehr  gesunken,  und  Rußland  habe 
für  sein  Getreide  den  Weltmarkt  aufsuchen  müssen,  was  allenthalben 
einen  —  hiernach  indirekt  durch  die  Höhe  des  Zolls  verursachten  — 
Druck  auf  die  Preise  geübt  habe.  Dies  sei  ein  Argument  gegen  die 
Behauptung,  daß  infolge  des  ermäßigten  Zolles  die  Preise  noch  weiter- 
fallen müßten.  Selbst  bei  diesem  Zoll  von  3,50  Mark  sei  mit  Spesen 
und  Fracht  das  russische  Getreide  zu  teuer,  um  mit  dem  inländischen 
bei  jetzigen  Preisen  des  letzteren  konkurrieren  zu  können.  Der  Vertrag, 
der  der  Industrie,  dem  Handel  und  der  Schiffahrt  großen  Vorteil 
bringe,  bedrohe  daher  auch  nicht  die  Landwirtschaft.  Über  allgemeine 
Redensarten  seien  auch  diejenigen,  welche  eine  solche  Gefahr  be- 
haupteten, nicht  hinausgekommen.  Schlösse  man  selbst  unsere  Grenzen 
gegen  russisches  Getreide  ganz  ab,  so  würde  es  auf  den  Weltmarkt 
geworfen  werden  und  auf  diesem  Wege  die  Preise  drücken. 

Der  Gesandte  Dr.  Freiherr  von  Thielmann  erhielt  das  Wort,  um 
über  den  Lauf  der  Verhandlungen  selbst  sich  zu  äußern  und  trug  vor, 
dieselben  seien  bis  zum  Anfang  des  Dezember  langsam  vorgerückt. 
Der  Zollbeirat  habe  im  November  an  unseren  Forderungen  etwas 
nachgelassen,  dagegen  eine  Liste  nachträglicher  Wünsche  vorgelegt, 
auf  welche  Rußland  anfangs  nicht  habe  eingehen  wollen.  Gegen  Weih- 
nachten sei  angesichts  der  traurigen  Lage  der  russischen  Landwirt- 
schaft ein  Umschwung  eingetreten  und  damals  eigentlich  die  Grund- 
lage des  Vertrags  gewonnen,  so  daß  seitdem  es  sich  wesentlich  um 
redaktionelle  Tätigkeit  gehandelt  habe.  Der  Vertrag  komme  nicht  allein 
den  von  dem  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amts  genannten  Haupt- 
artikeln, sondern  einer  Reihe  anderer  Industriezweige  aus  allen  Teilen 
Deutschlands,  namentlich  auch  dem  Kleingewerbe  zugute,  so  daß,  seit 
er  bekannt  sei,  eine  Reihe  günstiger  Kundgebungen  aus  industriellen 
Kreisen   erfolgt  sei,   eine  solche  auch   in   Berlin   heute   wahrscheinlich 

450 


stattfinden  werde.  Der  Handel  erlange  dem  bisherigen  Zustande  gegen- 
über große  Vorteile  und  die  Landwirtschaft  werde  nicht  leiden. 

Der  Minister  für  Handel  und  Gewerbe  schloß  sich  dieser  Auf- 
fassung durchaus  an.  Den  Hauptvorteil  von  dem  Vertrage  zögen  die 
oberschlesische  Eisen-  und  Kohlenindustrie  und  die  Ostseehäfen.  Die 
letzteren  wären  schon  mit  den  Tarifen  vor  den  Kampfzöllen  zufrieden 
gewesen,  die  erstere  gewinne  hauptsächlich  durch  Beseitigung  des 
Differenzialtarifs  zwischen  Land-  und  Seeeinfuhr,  von  welchem  England 
und  Belgien  großen  Vorteil  vor  uns  gezogen  hätten. 

Neben  dem  schon  hervorgehobenen  Rückgang  unseres  Exports 
seit  1880  sei  noch  als  besonders  erheblich  zu  nennen  der  Rückgang 
seit  Einführung  der  Kampfzölle,  der  in  5  Monaten  16  Millionen 
Mark  betrage,  wobei  unsere  Industrie  zuletzt,  um  sich  nur  den  russi- 
schen Markt  zu  erhalten,  mit  Verlust  gearbeitet  habe.  Auf  die  Länge 
sei  dies  nicht  durchzuführen,  und  würden  auch  die  jetzt  verbhebenen 
125  Millionen  zum  großen  Teil  noch  in  Wegfall  gekommen  sein.  Jetzt 
dürfe  man  hoffen,  vielleicht  den  Stand  von  1880  wieder  zu  erreichen. 
Kein  industrieller  Verband  habe  bisher  ungünstig  über  den  Vertrag 
sich  geäußert  gegenüber  vielen  günstigen  Äußerungen.  Nur  ein  ein- 
zelner Eisenindustrieller  habe  sich  gefunden,  der  gegen  den  Vertrag 
sich  ausgesprochen  habe. 

Viel  klarer  sei  noch  der  Gewinn  der  Ostseestädte.  Königsberg, 
Danzig,  Memel  würden  bei  fortgesetzter  Sperre  der  Grenze  ihren 
Handel  fast  ganz  eingebüßt  haben.  Auch  die  Hansestädte  seien  zu- 
frieden. Die  Landwirtschaft  werde,  auch  seiner  Meinung  nach,  keinen 
Schaden  haben. 

Seine  Majestät  der  Kaiser  und  König  geruhten  zu  bemerken,  ihre 
Stellung  zur  Sache  sei  bekannt.  Der  Vertrag  sei  ökonomisch  wie  po- 
litisch von  größter  Bedeutung.  Die  erstere  Seite  sei  bereits  genügend 
beleuchtet.  Die  Reichsregierung  sei  die  erste,  die  sich  über  die  zu 
befolgende  Handelspolitik  klar  geworden  sei.  Der  russische  Handels- 
vertrag mit  seinen  Vorgängern  sei  ein  fundamentales  Werk,  das  alle 
europäischen  Staaten  als  Vorbild  ansehen  sollten,  denn  der  gegen- 
seitige Abschluß  der  Staaten  gegeneinander  würde  den  Ruin  Europas 
herbeigeführt  haben,  pp. 

Politisch  sei  der  russische  Handelsvertrag  von  der  größten  Wich- 
tigkeit und  sei  für  dessen  Zustandekommen  das  Verhältnis  der  beider- 
seitigen Dynastien  maßgebend  gewesen.  Von  russischer  Seite  sei  schon 
zurzeit  der  Regierung  Seiner  Majestät  Kaiser  Wilhelms  I.  ein  kühleres 
Verhalten  gezeigt  worden,  ebenso  gehe  jetzt  von  dort,  ohne  daß  aller- 
höchstsie  eine  neue  Anknüpfung  gesucht  hätten,  das  Entgegenkommen 
aus.  Der  Moment,  in  welchem  Rußland  ein  solches  bezüglich  des 
Handelsvertrags  gezeigt  habe,  sei  der  gewesen,  als  Seine  Majestät  der 
Kaiser  von  Rußland,  aus  Dänemark  zurückgekehrt,  die  traurige  Lage 
der  russischen  Landwirtschaft  erkannt  und  den  Befehl  gegeben  hätten, 

29*  451 


mit  dem  Abschluß  des  Vertrags  ernstlich  vorzugehen.  Seine  Majestät 
begrüßten  diesen  Abschluß  von  ganzem  Herzen.  Ein  gutes  politisches 
Verhältnis  könne  zwischen  Staaten,  deren  wirtschaftliche  Beziehungen 
schlechte  seien,  auf  die  Dauer  nicht  bestehen,  und  so  hofften  sie  auf 
Verbesserung  der  Beziehungen  zwischen  Rußland  und  Deutschland 
und   Lockerung  derjenigen  zwischen  Rußland  und  Frankreich. 

Bedauerlich  sei  die  Gegnerschaft  eines  großen  Teils  der  Land- 
wirtschaft gegen  den  Vertrag.  Seine  Majestät  hätten  den  Zusammen- 
schluß der  Landwirte  in  der  Hoffnung  freudig  begrüßt,  daß  man 
nun  über  die  Bedürfnisse  der  Landwirtschaft  Klarheit  erlangen  werde. 
Stattdessen  stehe  man  einer  Agitation  gegenüber,  welche,  geeigneter 
Führer  ermangelnd,  in  den  Formen  fortschrittlicher  Observanz  ver- 
meintliche Standesinteressen  unter  Zurückstellung  des  Staatswohls  ver- 
folge. Auch  Männer  von  sonst  vornehmer  Gesinnung  hätten  sich  in 
diese  Bewegung  hineinziehen  lassen  und  glaubten  sich  an  dieselbe 
gebunden,  obwohl  sie  im  Grunde  mit  allerhöchstihrer  eigenen  Ansicht 
und  den  Bestrebungen  der  Regierung  einverstanden  wären.  Seine  Ma- 
jestät hätten  sich  offen  ausgesprochen  und  auf  die  Brücken  gewiesen, 
auf  welche  diese  Gegner  treten  könnten.  Die  Thronrede  bekunde  das 
der  Landwirtschaft  geschenkte  Wohlwollen,  Maßregeln  auf  dem  Ge- 
biete der  Währungsfrage  seien  Gegenstand  der  Erwägung,  und  man 
werde  jahrelang  die  Hebung  der  Landwirtschaft  im  Auge  behalten 
müssen,  die  sich  freilich  von  heute  auf  morgen  nicht   erzielen   lasse. 

Einer  Opposition  gegenüber,  welche  den  russischen  Vertrag  zu 
Falle  bringen  wolle,  würden  Seine  Majestät  ihre  Rechte  voll  zur 
Geltung  bringen,  und  auch  der  heutige  Kronrat  solle  zeigen,  daß  sie 
und  das  Staatsministerium  geschlossen  hinter  den  Männern  ständen, 
welche  den  Vertrag  zu  vertreten  hätten.  Seine  Majestät  wüßten  sich 
einig  mit  denselben,  hielten  den  Vertrag  für  eine  der  größten  je  für 
Preußen  und  Deutschland  erzielten  Errungenschaften  und  seien  dem 
Reichskanzler  dankbar  für  das  Erreichte.  Sicher  würde  auch  dessen 
Amtsvorgänger  mit  Befriedigung  darauf  geblickt  haben,  wenn  es  ihm 
geglückt  wäre,  solche  Konzessionen  von  Rußland  zu  erreichen. 

Für  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  Preußen  und  Bayern  be- 
züglich der  Stellung  zu  dem  Vertrage  sei  ja  der  glücklichste  Ausgleich 
gefunden.    Ebenso  werde  in  Sachsen  die  Sachlage  richtig  gewürdigt. 

Seine  Majestät  geruhten  hierauf  die  Sitzung  zu  schließen. 

(gez.)  Graf  zu  Eulenburg,  von  Boetticher,  von 
Schelling,  Freiherr  von  Berlepsch,  Graf 
vonCaprivi,Miquel,vonHeyden,Thielen> 
Bosse,  Bronsart  von  Schellendorf. 

Schlußbemerkung   Kaiser  NX'ilhclms  H.  in  Abschrift: 
Genehmigt!   (gez.)   Wilhelm    R. 

452 


Nr.  1667 
Kaiser  Wilhelm  II.  an  Kaiser  Alexander  III.  von  Rußland 

Telegramm  en  clair.  Konzept 

[Berlin,  le  16  Mars  1894] 
C'est  avec  une  vive  satisfaction  que  je  m'empresse  de  T'annoncer 
que  le  tralte  de  commerce  a  ete  vote  aujourd'hui  par  le  Reichstag. 
J'espere  que  cette  oeuvre  pacifique  qui,  gräce  au  puissant  con- 
cours  que  Tu  y  as  prete,  vient  d'etre  menee  ä  bonne  fin,  ne  manquera 
pas  de  resserrer  davantage  les  liens  traditionnels  d'amitie  qui  existent 
entre  nos  deux  pays  et  nos  deux  maisons. 

Ces  liens  fondes  jadis  par  nos  peres  sur  les  principes  monarchi- 
ques  je  les  envisage  comme  un  legs  sacre  que  nous  sommes  appeles 
ä  conserver  et  ä  cultiver  pour  le  bonheur  de  nos  peuples. 

Ouillaume* 

Nr.  1668 
Kaiser  Alexander  III.  von  Rußland  an  Kaiser  Wilhelm  II. 

Telegramm  en  clair.  Ausfertigung 

St.  Petersburg,  Palais  Anitschkow,  den  17.  März  1894 
En  Te  remerciant  chaleureusement  de  l'aimable  empressement  que 
Tu  as  mis  ä  m'annoncer  Tadoption  de  notre  traite  de  commerce  par 
le  reichstag,  je  suis  tres  touche  des  sentiments  que  tu  m'exprimes  ä 
cette  occasion.  Connaissant  le  prix  tout  particulier  que  j'attache  aux 
traditions  dont  Tu  evoques  le  souvenir  Tu  ne  saurais  douter  de  la 
reciprocite  de  mes  voeux  les  plus  sinceres.  Alexandre 

Nr.  1669 

Der  Botschafter  in  Wien  Prinz  Heinrich  VII.  Reuß  an  den 
Reichskanzler  Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  79  Wien,  den  4.  April  1894 

Graf  Kälnoky  sprach  mir  heut  über  den  österreichisch-russischen 
Handelsvertrag,  der,  wenn  auch  noch  nicht  formell  abgeschlossen,  durch 
das  seit  dem  2.  d.  Mts.  bereits  gültige  Provisorium  doch  vollkommen 
gesichert  sei. 

Der  Minister  legt  diesem  Vertrag  eine  hohe  politische  Wichtigkeit 
bei.  Ebenso  wie  durch  die  Haltung,  die  die  russische  Regierung  bei 
Abschluß  des  deutsch-russischen  Vertrages  eingenommen,  sei  auch  bei 


•  Unterschrift   von   der   Hand   des   Unterstaatssekretärs    Freiherrn   von   Rotenhan 
mit  dem  Randvermerk:  „Von  Seiner  Majestät  genehmigt.    Rotenhan." 

453 


den  hiesigen  Verhandlungen  der  Wunsch  Rußlands  unverkennbar  ge- 
wesen, mit  seinen  beiden  westlichen  Nachbarn  auch  auf  wirtschaft- 
lichem Gebiet  in  regelmäßige  und  auf  längere  Zeit  gefestigte  Bezie- 
hungen zu  treten.  Rußland  habe  hier  seine  Forderungen  auf  Ermäßigung 
der  Getreidezölle  fallen  lassen  und,  wie  gesagt,  sich  auf  10  Jahre  ge- 
bunden. Man  könne  hierin  nur  eine  Wendung  zum  Besseren  auch  auf 
politischem  Gebiet  erblicken,  und  dies  sei  eine  hocherfreuliche  Tat- 
sache. Denn  ein  Staat,  welcher  sich  auf  den  Weg  der  Abenteuer  begebe 
und  feindselige  Absichten  gegen  seine  Nachbarn  habe,  pflege  sich 
nicht  auf  längere  Zeit  hinaus  handelspolitisch  zu  binden. 

Daß  dies  auch  an  anderer  Seite  ebenso  aufgefaßt  werde,  beweise 
die  Mißstimmung,  die  man  in  Frankreich,  der  beiden  russischen  Han- 
delsverträge wegen,  bemerken  könne*.  Offenbar  fühle  man  sich  dort 
unsicher,   und   das  sei  sehr  hoch   anzuschlagen. 

Der  Minister  fügte  hinzu,  daß,  soweit  es  an  ihm  liege,  er  alles 
tun  würde,  um  die  erfreuliche  Wandelung  in  den  russischen  Auffassun- 
gen zu  pflegen.  Dem  Kaiser  Alexander  und  höchstdessen  persönlicher 
Einwirkung  sei  es  ohne  Zweifel  in  erster  Linie  zu  danken,  daß  man 
jetzt  mit  größerer  Zuversicht  an  die  friedliche  Politik  Rußlands  glauben 
könne. 

Bei  den  durch  die  Krankheit  des  Herrn  von  Giers  hervorgerufenen 
anarchischen  Zuständen  im  russischen  Ministerium  der  auswärtigen 
Angelegenheiten  könne  man  die  Einwirkung  dieses  Amtes  nur  gering 
anschlagen. 

H.VII.P.Reuß 

Nr.  1670 

Der  Geschäftsträger  in  Petersburg  Graf  Rex  an  den  Reichskanzler 

Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 

Nr.  71  St.  Petersburg,  den  6.  April  1894 

Wenige  Tage  sind  erst  seit  Abschluß  des  deutsch-russischen  Han- 
delsvertrages verflossen,  und  schon  zeigt  sich  mir  in  allem,  was  mich 
umgibt,  die  ungeheure  Tragweite  dieses  Vertrages. 

In  kommerzieller  Beziehung  ist  eine  Geschäftigkeit  eingetreten 
wie  nie  zuvor.  Die  Importeure  arbeiten  Tag  und  Nacht,  um  den  an 
sie  gestellten  Anforderungen  gerecht  zu  werden,  die  deutschen  Indu- 
striellen erstreben  mit  Macht  das  durch  den  Zollkrieg  Verloren- 
gegangene wieder  einzuholen.  Ob  es  ihnen  gelingen  wird,  ihre  alte 
Stellung  hier  wieder  voll  einzunehmen,  vermag  ich  heute  noch  nicht 
zu  sagen,  da  viele  russische  Kaufleute  Verbindungen  mit  englischen 
und  französischen  Häusern  angeknüpft  haben.   Das  russische   Getreide- 

*  Vgl.  Kap.  XLVII,  Nr.  1536. 

454 


geschäft  hat  eine  nennenswerte  Belebung  noch  nicht  erfahren,  da  die 
allgemeine  internationale  Lage  des  Getreidemarkts  seit  Abschluß  des 
Vertrages  noch  nicht  seine  Klärung  gefunden  hat. 

Die  russische  Presse  hat  den  Abschluß  des  Vertrages  in  großen 
Leitartikeln  gefeiert  und  mit  großer  Wärme  hervorgehoben,  welchen 
lebhaften  Anteil  Seine  Majestät  der  Kaiser  und  König  an  dem  Zu- 
standekommen des  Vertrages  genommen  hat.  Bemerkenswert  ist,  daß 
darin  weniger  von  den  kommerziellen  Beziehungen  der  beiden  Länder, 
als  von  den  politischen  die  Rede  ist.  Man  hat  hier  allgemein  das  Ge- 
fühl, daß  Rußland  einer  Kriegsgefahr  entronnen  ist,  und  daß  der 
Deutsche  nun  nicht  mehr  als  der  Feind  Rußlands  zu  betrachten  ist. 
Die  gegenwärtige  Sprache  der  Presse  und  alle  Unterhaltungen,  die 
ich  mit  maßgebenden  Persönlichkeiten  über  den  Abschluß  des  Ver- 
trages gepflogen  habe,  bestätigen  meine  Auffassung,  die  ich  Euerer 
Exzellenz  im  September  v.  Js.  zu  unterbreiten  die  Ehre  hatte,  daß  näm- 
lich der  Zollkrieg  mit  Rußland  zu  einem  nationalen  Kampfe  gegen 
Deutschland  ausgeartet  sei. 

Während  des  Zollkrieges  glaubte  hier  jede  Behörde,  so  schroff 
als  möglich  den  Wünschen  der  Kaiserlichen  Botschaft  entgegentreten 
zu  müssen.  Ich  hege  die  Hoffnung,  daß  hierin  eine  Wandlung  ein- 
treten wird. 

So  sagte  mir  beispielsweise  General  Schebeko,  als  ich  nach  Ab- 
schluß des  Vertrages  in  einer  Ausweisungssache  ihn  aufsuchte,  „je 
tächerai  d'arranger  l'affaire  selon  Vos  desirs,  nous  sommes  donc  de 
nouveau  amis". 

Hervorheben  muß  ich,  daß  die  Sprache  der  russischen  Blätter  seit 
Abschluß  des  Vertrages  an  Begeisterung  für  Frankreich  wesentlich  ab- 
genommen hat.  Die  Indiskretionen,  die  seitens  französischer  Beamten 
in  letzter  Zeit  begangen  worden  sind,  haben  das  Ihre  dazu  beigetragen. 
Der  „Grashdanin"  polemisiert  wieder  in  seinen  Leitartikeln  gegen  die 
russisch-französische  Verbrüderung,  der,  wie  er  sagt,  der  feste  Boden 
fehlt,  pp. 

Graf  Rex 

Nr.  1671 

Der  Konsul  in  Kiew  Schäffer  an  den  Reichskanzler 
Grafen  von  Caprivi 

Ausfertigung 
Nr.  2209  Kiew,  den   Q.Mai    1894 

Die  beiden  bedeutsamen  Ereignisse  der  letzten  Zeit:  das  Zustande- 
kommen des  deutsch-russischen  Handelsvertrags  und  die  Verlobung 
des  Großfürsten-Thronfolgers  mit  einer  deutschen   Prinzessin*  haben 

*  Die  Verlobung  des  Großfürrten-Thronfolgers  mit  der  Prinzessin  Alix  von 
Hessen  war  am  20.  April  in  Koburg  erfolgt. 

455 


die  hiesigen  chauvinistischen  Panslawisten  sehr  verstimmt.  Die  fried- 
liche Strömung,  hervorgerufen  durch  das  Bedürfnis  einer  Besserung 
der  wirtschaftlichen  Verhältnisse,  die  ihrerseits  wiederum  von  der  Wirk- 
samkeit des  Handelsvertrags  und  freundlicheren  Beziehungen  zwischen 
den  beiden  Nachbarvölkern  erhofft  wird,  ist  jedoch  zurzeit  in  der 
Masse  der  Bevölkerung  eine  zu  starke,  als  daß  die  „Patrioten",  ohne 
sich  der  Gefahr  auszusetzen,  sich  selbst  zu  schaden,  es  wagen  dürften, 
das  alte  Lied  von  dem  sich  selbst  genügenden  Rußland  und  dem 
treulosen,  egoistischen  Deutschland  fortzusetzen.  Sie  haben  daher  in 
ihrer  Presse  eingeschwenkt  und  machen  gute  Miene  zum  bösen  Spiel, 
indem  sie  in  den  allgemeinen  Jubel  über  die  Verlobung  des  Thron- 
folgers einstimmen  und  sich  über  die  handelspohtische  Verständigung 
mit   Deutschland   befriedigt   zeigen. 

In  Wirklichkeit  jedoch  haben  die  hiesigen  Panslawisten  die  über 
den  Handelsvertrag  geführten  Verhandlungen  niemals  als  ernst  auf- 
gefaßt und  stehen  noch  immer  auf  dem  Standpunkt,  daß  derselbe 
Rußland  zum  Schaden  gereiche.  Sie  behaupten,  daß,  wenn  die  Aus- 
fuhr der  russischen  Rohprodukte  erschwert  wäre,  sich  die  bearbeitende 
Industrie  und  die  landwirtschaftlichen  Gewerbe  im  Lande  viel  schneller 
auf  Kosten  des  Ackerbaues  entwickeln  würden,  und  Rußland  daher 
weder  auf  den  deutschen  Markt  für  sein  Getreide,  noch  auf  deutsche 
Industrieerzeugnisse  angewiesen  sei. 

In  den  breiteren  Schichten  der  hiesigen  Panslawisten  galten  seiner- 
zeit die  Verhandlungen  als  ein  von  dem  Finanzminister  Witte,  den 
sie  ebenso  wie  seinen  Gehilfen  Herrn  Antonowitsch  zu  den  ihrigen 
zählen*,  inszeniertes  Manöver  —  war  doch  die  in  Kiew  erscheinende, 
dem  letzteren  gehörige  Zeitung  „Kiewskoje  Slowo"  fast  bis  zum 
letzten  Augenblick  Gegnerin  des  Vertrages  — ,  um  den  Deutschen 
in  der  Meinung  des  russischen  Volkes  vollends  zu  diskreditieren.  Wäh- 
rend die  Verhandlungen  schwebten,  bemühte  sich  die  hiesige  Provin- 
zialpresse,  mit  Ausnahme  des  „Kiewljanin",  die  Verantwortung  für 
den  Zollkrieg  und  die  dadurch  für  das  russische  Volk  entstehenden 
Schäden  und  Schwierigkeiten  Deutschland  aufzubürden,  in  dessen  Inter- 
esse es  sei,  Rußland  wirtschaftlich  unter  allen  Umständen  zu  schwä- 
chen. Rußland  tue  alles,  um  eine  Verständigung  herbeizuführen,  stoße 
aber  auf  den  bösen  Willen  des  Nachbarn,  welcher  es  jahrelang  in 
schamloser  Weise  ausgebeutet  habe.  Auf  ein  Zustandekommen  des 
Vertrages  sei  daher  nicht  zu  rechnen.  Man  verstieg  sich  sogar  zu  der 
Behauptung,  der  Zollkrieg  sei  als  Anfang  des  unvermeidlichen  Waffen- 
ganges mit  Deutschland  zu  betrachten.  Später,  als  der  Vertrag  ab- 
geschlossen war,  suchte  man  nachzuweisen,  daß  Rußland  im  Grunde 


I 


*  In  einem  Bericht  Schaffens  vom  24.  Juni  1893  wird  der  eben  zu  seiner  Würde 
als  Gehilfe  des  Finanzministers  Witte  erhobene  ehemalige  Kiewer  Professor 
Antonowitsch  als  „Panslawist,  Deutschenfresser,  Franzosenfreund  und  Schutz- 
zöllner"  bezeichnet. 

456 


keine  nennenswerten  Zugeständnisse  gemacht,  Deutschland  dagegen 
klein  beigegeben  habe  und  im  übrigen  der  Vertrag  keinen  Einfluß  auf 
die  äußere  Politik  Rußlands  üben  werde.  Frankreich  brauche  durch- 
aus nicht  zu  befürchten,  aus  der  Gunst  Rußlands  von  Deutschland 
verdrängt  zu  werden.  Letzteres  bleibe  nach  wie  vor  der  falsche,  selbst- 
süchtige Freund  Rußlands.  Herrn  Wittes  Freunde  aus  demselben  Lager 
suchen  ihn  der  Verantwortung  für  den  Abschluß  des  Vertrags  da- 
durch zu  entheben,  daß  sie  behaupten,  er  habe  nur  dem  persönlichen 
Willen  Kaiser  Alexanders  nachgegeben,  ja,  sowohl  der  Finanzminister 
wie  Herr  Antonowitsch  hätten  infolgedessen  sogar  ihr  Abschiedsgesuch 
eingereicht,  dasselbe  sei  jedoch  vom  Kaiser  nicht  angenommen  wor- 
den. Hierauf  ist  vielleicht  die  vor  längerer  Zeit  von  der  „Kölnischen 
Zeitung"  gebrachte  Nachricht  von  dem  Rücktritt  Antonowitschs  zurück- 
zuführen. 

Ferner  erzählt  man  sich,  und  zwar  nicht  bloß  in  panslawistischen 
Kreisen,  daß  die  gar  zu  hoch  schlagenden  Wellen  der  Franzosen- 
freundschaft Seine  Majestät  den  Zar  mit  Besorgnis  erfüllt  hätten,  und 
er  durch  Abschluß  des  Handelsvertrages,  sowie  durch  seine  Zustimmung 
zur  Verlobung  des  Großfürsten-Thronfolgers  mit  Ihrer  Großherzog- 
lichen Hoheit  Prinzessin  Alix  einen  Damm  gegen  Überflutung  der 
Bewegung,  welche  leicht  dem  Absolutismus,  ja  selbst  dem  monarchi- 
schen Prinzip  in  Rußland  verhängnisvoll  werden  könnte,  setzen  wollte. 

Eine  bemerkenswerte  Erscheinung  ist,  daß  auch  die  hiesige  pol- 
nische Gesellschaft,  soweit  sie  nicht  den  landwirtschaftlichen  Kreisen 
angehört,  im  Gegensatze  zu  ihren  Stammesgenossen  in  Deutschland, 
dem  Handelsvertrag  abhold  ist.  Es  hat  den  Anschein,  als  fürchte  man 
gerade  das,  was  die  Panslawisten  in  Abrede  zu  stellen  sich  bemühen, 
nämlich  daß  mit  Besserung  der  Handelsbeziehungen  der  beiden  Nach- 
barstaaten sich  auch  ihr  politisches  Verhältnis  zueinander  freundlicher 
gestalten  werde. 

Die  Handels-  und  landwirtschaftliche  Welt,  ebenso  wie  der  nüch- 
tern denkende  Teil  der  Bevölkerung  haben  den  endlichen  Abschluß 
des  Vertrages  mit  unverhohlener  Freude  begrüßt,  Sie  sind  von  der 
politischen  Bedeutung  desselben  nahezu  überzeugt  und  geben  sich 
der  Hoffnung  hin,  daß  die  Lage  sich  so  günstig  gestalten  werde,  daß 
die  Regierung  sich  fortan  mit  Erfolg  der  Ordnung  der  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  im  Innern  widmen  kann. 

Es  ist,  wie  eingangs  bemerkt,  nicht  zu  verkennen,  daß  im  großen 
und  ganzen  zurzeit  eine  freundlichere  Stimmung  Deutschland  gegen- 
über Platz  gegriffen  hat.  Ob  dieser  Umschwung  zum  Bessern  sich  von 
Dauer  erweisen  wird,  ist  eine  andere  Frage.  Hierüber  äußerte  sich 
neulich  im  Laufe  einer  längeren  Unterhaltung  eine  der  hiesigen  Presse 
angehörige,  mit  den  Verhältnissen  sehr  vertraute  Persönlichkeit  unge- 
fähr wie  folgt: 

„Ich  zweifle,  daß  der  Handelsvertrag  einen  dauernden  Einfluß  auf 

457 


die  politischen  Beziehungen  zwischen  beiden  Ländern  haben  wird. 
Die  seit  mehr  als  zwanzig  Jahren  fast  von  unserer  gesamten  Tages- 
presse systematisch  betriebene  Verhetzung  alles  Deutschen  hat  nicht 
verfehlt,  Früchte  zu  tragen.  Der  Deutschenhaß  ist  ebenso  wie  der 
Kultus  der  Franzosen  in  gewissen  Kreisen  guter  Ton  geworden  und 
hat  auch  in  den  breiteren  Volksschichten  Boden  gewonnen.  Neben 
der  Presse  ist  es  unsere  chauvinistische,  stark  panslawistisch  angehauchte 
Beamtenwelt  und  das  Militär,  sowohl  die  höheren  wie  die  niederen 
Kreise,  welche  den  Deutschenhaß  pflegen.  Für  sie  hat  diese  Hetze 
auch  in  der  Tat  eine  praktische  Bedeutung,  weil  sie  sich  mit  dem 
deutschen  Element  in  beständigem  Kampfe  befinden  und  seit  Jahren 
bemüht  sind,  dasselbe  aus  den  Stellungen,  welche  es  noch  immer  in 
der  Verwaltung  und  der  Armee  einnimmt,  zu  verdrängen.  Es  ist  dies 
eine  Art  Kampf  ums  Dasein,  der  geführt  wird.  Wenn  nun  auch 
unsere  Presse  die  Fähigkeit  besitzt,  urplötzlich  die  Front  zu  wechseln 
und,  wie  wir  es  soeben  erlebten,  heute  das  gut  zu  heißen,  was  sie 
gestern  verurteilte,  so  darf  dies  doch  keineswegs  als  eine  Sinnesände- 
rung aufgefaßt  werden,  sondern  ist  lediglich  als  eine  Unterordnung 
der  eigenen  Ansicht  und  Sympathien  höheren  Gewalten  und  Interessen, 
anzusehen.  Unsere  Presse  versteht  es  eben,  den  Mantel  nach  dem 
Winde  zu  hängen.  Selbst  angenommen,  daß  es  ihr  mit  dem  Front- 
wechsel ernst  ist,  was  ich,  wie  gesagt,  bezweifle,  so  bleibt  doch  noch 
der  andere,  vielleicht  weit  mächtigere  Faktor,  welcher  sich  nicht  be- 
seitigen läßt,  weil  er  sein  Vorhandensein  dem  persönlichen  Interesse 
bestimmter,  einflußreicher,  dem  Gemeinwohl  ziemlich  kühl  gegenüber- 
stehender  Kreise  verdankt." 

„Schon  jetzt  kann  man  übrigens  die  Wahrnehmung  machen,  daß 
die  Presse  unserer  beiden  Hauptstädte  Neigung  zeigt,  ins  alte  Fahr- 
wasser einzulenken.  Bereits  werden  Stimmen  laut,  daß  der  Abschluß 
des  Handelsvertrags  ein  Fehler  war,  und  daß  nur  Deutschland  Vorteil 
von  ihm  hat,  indem  es  den  russischen  Markt  mit  seinen  Erzeugnissen 
überschwemmt,  während  unser  Getreide  infolge  des  niedrigen  Preis- 
standes in  Deutschland  nach  wie  vor  keinen  Absatz  dorthin  findet." 

Schäffer 


458 


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APR  13^ 


UC  SOUTHEBN 


S     000  664  565     9