THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
RIVERSIDE
Die
Diplomatischen Akten
des Auswärtigen Amtes
1871-1914
Herausgregeben
im Auftrage des Auswärti2:en Amtes
Die
Große Politik der
Europäischen Kabinette
1871-1914
Sammlung der Diplomatischen
Akten des Auswärtigen Amtes
Im Auftrage des Auswärtigen Amtes
herausgegeben von
Johannes Lepsius
Albrecht Mendelssohn Bartholdy
Friedrich Thimme
1
DEUTSCHE VERLAGSGESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8
7. Band :
Die Anfänge
des Neuen Kurses
I
Der Russische Draht
I
DEUTSCHE VERLAOSOESELLSCHAFT FÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8
u 7
2. Auflage
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vor-
behalten/Für Rußland auf Grund der deutsch-
russischen Übereinkunft / Amerikanisches Co-
pyright 1923 by Deutsche Verlagsgesellschaft
für Politik und Geschichte m.b.H. in Berlin
W8, Unter den Linden 17/18 / Amerikanische
Schutzzoliformel: Made in Germany / Gesetzt
in der Buchdruckerei Oscar Brandstetter in
Leipzig / Gedruckt in der Buchdruckerei
F. E. Haag in Melle i. H.
Vorwort
Die zweite Serie der Sammlung der diplomatischen Akten
des Auswärtigen Amtes, die hiermit in abermals 6 Bänden
der Öffentlichkeit übergeben wird, behandelt die Große
Politik der Europäischen Kabinette von den Anfängen des
„Neuen Kurses" in Deutschland im Jahre 18Q0 bis zu dem,
vor allem durch das Vorgehen in Ostasien (1897) gekenn-
zeichneten Eintritt des Kaiserreichs in die Weltpolitik. Die
dritte Serie, die in weiteren 6 Bänden in der Drucklegung
schon weit vorgeschritten ist, wird bis zum Jahre 1904
führen. Mit dem Druck der vierten Serie, die in etwa
10 Bänden die Zeit von 1904 bis zum Ausbruche des Welt-
krieges umfaßt, wird in aller Kürze begonnen werden. Es
besteht volle Aussicht, daß die ganze Sammlung der diplo-
matischen Akten des Auswärtigen Amtes von 1871 bis 1914
im Sommer des kommenden Jahres abgeschlossen vorliegen
wird.
Wenn die jetzt vorgelegte zweite Serie ebenso wie die
folgenden nur einen Zeitraum von je 7 Jahren umfaßt,
während die erste der Bismarckzeit gewidmete Serie fast
einen dreifachen Zeitraum umspannte, so hat das seinen
guten Grund. Der oberste Zweck der Aktenpublikation:
die möglichst klare und vollständige Aufdeckung der Ur-
sachen des Weltkrieges, soweit sie in der Politik der Groß-
mächte liegen, bringt es mit sich, daß die Zahl der abzu-
druckenden Schriftstücke wächst, je mehr sich die Ereignisse
der Katastrophe von 1914 nähern. Dazu kommt, daß das
Schwergewicht der Großen Politik, das in der Bismarck-
schen Periode hauptsächlich im europäischen Zentrum lag,
infolge des Drängens aller europäischen Mächte zur kolo-
nialen Expansion und zur Weltpolitik vielfach in die ent-
ferntere und selbst in die außereuropäische Peripherie ver-
legt wurde. Das muß sich natürlich auswirken in einer Akten-
VII
Publikation, die die gesamte Große Politik der Europäi-
schen Kabinette in sich begreift. Den orientalischen Fragen,
den Mittelmeer-, den Kolonial- und den ganz neu auf-
tauchenden ostasiatischen Fragen, die in der Bismarckzeit
durchweg noch im Rahmen der Abschnitte behandelt
werden konnten, die den Beziehungen der Mächte unter-
einander gelten, mußten von 1890 ab in zunehmendem
Maße selbständige Kapitel gewidmet werden. Der Nach-
teil, daß auf diese Weise die Sammlung der Akten von
der jetzt ausgegebenen Serie ab stark in die Breite zu
gehen und damit an Übersichtlichkeit einzubüßen scheint,
war um der tieferen Einsicht willen in Kauf zu nehmen.
Nur dann ist es möglich, die wechselnden Phasen, die
die Gruppierung der europäischen Mächte in den Jahren
von 1890—1897 und weiter von 1897—1914 durchlief, in
Ursache und Auswirkung zu verstehen, wenn man die
Stellungnahme der Mächte zu dem ganzen Komplex der
Fragen kennt, die durch den allgemeinen imperialisti-
schen Drang teils kompliziert, teils neu heraufgeführt
wurden. Beispielsweise ist das für Deutschlands Ge-
schicke so wichtige Problem, warum die Deutsche Re-
gierung im Laufe der Jahre nicht einen engeren Anschluß
an England oder auch an Rußland vollzog, sondern in der
gefahrvollen Politik der freien Hand verharrte, bis mit der
englisch-französischen Entente von 1904 und der Begrün-
dung der Triple-Entente 1907 die Freiheit solchen An-
schlusses wegfiel, gar nicht aufzuklären, ohne daß man
aufs Genaueste über die Stellungnahme der einzelnen
Mächte zu den Fragen des Orients wie des Mittelmeers,
Vorderasiens wie Ostasiens, Nordafrikas wie Zentral- und
Südafrikas unterrichtet wird. Die Herausgeber haben bei
der Auswahl des schier unübersehbaren archivalischen Stof-
fes und bei seiner Gliederung in Bände und Kapitel gerade
darauf die höchste Sorgfalt verwandt, das breit und tief
verzweigte Geflecht der Großen Politik der Kabinette
soweit bloßzulegen, daß mit dem Zusammen- und Gegen-
spiel der einzelnen Mächte in und außerhalb Europas auch
die tiefere Kausalität ihrer Gruppenbildung zunächst in
Vlll
dem Zeitraum von 1890—1904 erkennbar wird, in dem
sich eigentlich doch schon die Geschicke des europäischen
Kontinents entschieden haben.
An der bisher geübten Editionsmethode, wie sie in
dem Vorwort zur ersten Serie kurz dargelegt und seither
von dem mit der abschließenden Bearbeitung der Publi-
kation betrauten Herausgeber Dr. Thimme in einem Vor-
trage vor der „Deutschen Gesellschaft" (veröffentlicht in
den „Preußischen Jahrbüchern", Juliheft 1922) des näheren
begründet worden ist, konnten wir Herausgeber in allem
Wesentlichen nur festhalten. Diese Editionsgrundsätze
haben ja auch im Inlande und fast noch mehr im Auslande
eine weitgehende Anerkennung gefunden. Die hier und da
in deutschen Besprechungen anklingende Besorgnis, daß
die gekürzte Wiedergabe mancher Schriftstücke, die bei
dem Prinzip der sachlichen Anordnung des ausgewählten
Aktenstoffes zwangsläufig war, im Auslande ein Miß-
trauen erwecken könne, hat sich nicht bestätigt. In ver-
einzelten Fällen, wo englische und amerikanische Forscher
bei den Herausgebern nachfragten, was in bestimmten
unvollständig wiedergegebenen Schriftstücken — es han-
delte sich dabei um die Krisenjahre 1887 und 1888 —
fortgefallen sei, wurde durch die bereitwillig mitgeteilte
Vervollständigung der Abschrift bewiesen, wie die Frage-
steller selbst anerkannten, daß die aus raumtechnischen
Gründen ausgesparten Stellen, weit entfernt auf tenden-
ziöser Auslassung zu beruhen, nur dazu dienen konnten,
den Friedenswillen der deutschen Regierung noch mehr zu
erhärten. Die Herausgeber werden auch weiterhin bereit
sein, wo irgendein ernsthafter Forscher vor allem des
Auslandes das wünschen sollte, ihm über den Inhalt nicht-
gebrachter Textteile genaue Auskunft zu geben.
Die Bemerkung, die wir im Vorwort zur ersten Serie
über die Auswahl der zu veröffentlichenden Randbemer-
kungen Kaiser Wilhelms II. gemacht hatten, bedarf wegen
eines Mißverständnisses, zu dem sie geführt hat, der
Erläuterung. Es ist keineswegs eine so weitgehende Be-
schränkung in der Wiedergabe dieser Randbemerkungen
IX
beabsichtigt gewesen, wie man wohl gemeint hat. Die
zweite und die folgenden Serien werden aufs Schlüssigste
zeigen, daß die sachlichen Bemerkungen des Kaisers,
besonders alle irgendeinen Einfluß auf die Führung
der Außenpolitik übenden oder bezweckenden Äußerungen
ohne jede politische Rücksicht und unter völliger Hintan-
stellung begreiflicher Gefühle veröffentlicht worden sind
und veröffentlicht werden. Eine Auswahl, die irgend
jemanden schonen wollte, wäre weder dem deutschen
Volke gegenüber, dem hier Rechenschaft abgelegt wird,
noch vor dem früheren Kaiser selbst zu rechtfertigen, ganz
abgesehen davon, daß sie nach den bisherigen Veröffent-
lichungen niemanden täuschen könnte. Weggelassen sind
lediglich solche Bemerkungen, die nur den augenblicklichen
Eindruck des gelesenen Schriftstücks auf den Kaiser kenn-
zeichnen, aber keine Willensäußerung, ja nicht einmal
sicheres Zeugnis über die Bildung des Willens enthalten,
und die somit für die Publikation einen unnützen Ballast
bedeuten würden. Im Verhältnis zu der Gesamtzahl der
wiedergegebenen Randbemerkungen ist das nur ein ganz
geringer Teil.
Indem wir Herausgeber nun der Öffentlichkeit die
zweite Serie der Aktenpublikation vorlegen und das nahe
Erscheinen der dritten ankündigen, halten wir uns mehr
als je davon überzeugt, daß von dem mutigen und groß-
herzigen Entschluß der Deutschen Reichsregierung, die
Öffnung ihrer diplomatischen Archive für die ganze Vor-
kriegszeit rückhaltlos durchzuführen und so der Wahrheit
eine breite Gasse zu öffnen, eine heilende und versöhnende
Kraft im Völkerleben ausgehen wird, der sich auf die
Dauer auch nicht eine der Nationen entziehen kann, die
Deutschland im Weltkriege feindlich gegenübergestanden
haben. Wir Herausgeber haben nicht das Recht und nicht
die Absicht, dem Urteil der Welt über Inhalt und
Bedeutung des jetzt neu vorgelegten Materials vorzu-
greifen. Zu der Hoffnung und der Zuversicht aber
dürfen wir uns bekennen, daß der in allen Nationen
liegende Wahrheitsdrang durch die nun auf die Zeit
Wilhelms IL übergreifende Erschließung des deutschen
Aktenmaterials aufgerüttelt werden wird zu einem ge-
rechten Erkennen und Verstehen der deutschen Dinge.
Die Herausgeber
XI
Inhaltsübersicht des siebenten Bandes
KAPITEL XLIV
Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages 1890 1
KAPITEL XLV
Erneuerung des Dreibund-Vertrags. Erste Versuche Frankreichs, Italien
vom Dreibund abzusprengen 1891 51
Anhänge:
A. Aufmarsch- und Rüstungsfragen im Dreibund 1891 — 1892 . . 107
B. Der erneuerte Dreibund und das Italienisch-Französische Ver-
hältnis 1893—1895 125
KAPITEL XLVI
Erneuerung des Rumänischen Vertrages 1892 149
KAPITEL XLVII
Französisch-Russischer Zweibund 1890 — 1894 189
KAPITEL XLVIII
Deutsch-Französische Beziehungen 1890 — 1894 261
KAPITEL XLIX
Der Draht nach Rußland 1890—1892
A. Äußere Politik 345
B. Handelspolitische Beziehungen 387
KAPITEL L
Der Draht nach Rußland 1892—1894
A. Äußere Politik 405
B. Handelspolitische Beziehungen 441
Ein Namenverzeichnis für die Bände VII — XII erscheint am Schlüsse des
XII. Bandes; ein ausführliches Namen- und Sachverzeichnis zum Schlüsse
des gesamten Werkes
Kapitel XLIV
Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages
1890
I Die Große PoIiflK. 7. Bd,
Nr. 1366
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Graf Herbert von Bismarck an Kaiser Wilhelm II.
Eigenhändige Ausfertigung
Geheim Berlin, den 20. März 1S90
Euerer Majestät melde ich alleruntertänigst, daß der russische
Botschafter mir gestern abend ganz vertrauHch sagte, er sei von dem
Zaren ermächtigt worden, den geheimen russisch-deutschen Vertrag,
welcher uns bei einem französischen Angriff Rußlands Neutralität zu-
sicherte, und welcher im Juni dieses Jahres abläuft*, auf sechs Jahre
zu verlängern, und zwar in der Absicht, die bezügliche Abmachung als
eine dauernde anzusehen i. Graf Schuwalow habe nun am Tage seiner
Rückkehr von Petersburg, am 17. d. Mts.**, gleich den Reichskanzler auf-
gesucht, um ihm die obenerwähnte Eröffnung zu machen; dabei habe
er erfahren, daß Euere Majestät an dem gleichen Morgen dem Reichs-
kanzler hätten sagen lassen, Allerhöchstdieselben sähen dem Entlas-
sungsgesuch des Reichskanzlers entgegen. Graf Schuwalow habe dar-
auf seine Anerbietungen zurückgezogen; nachdem er nun bis gestern
abend erfahren habe, daß Euere Majestät keinen Anstand nehmen
würden, die Entlassung des Fürsten Bismarck zu vollziehen, würde
der Kaiser Alexander auf die Verlängerung des geheimen Vertrages
verzichten, da eine so geheime Angelegenheit mit einem neuen Reichs-
kanzler nicht verhandelt werden könne 2***. H. Bismarck
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Kopf des Schriftstücks:
Einverstanden mit Erneuerung des Vertrages und ermächtige Sie das Schuwaloff
mitzutheilen 20. 111. 90.
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Einverstanden
* warum?
♦ Siehe den Text des Vertrages in Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1092.
** Graf Schuwalow war, nachdem er am 10. Februar (nicht am 12., wie Goriainow,
The end of the Alliance of the Emperors, The American Historical Review
Vol. XXIIl, p. 340 anführt) eine eingehende Erörterung mit Fürst Bismarck über
den Rückversicherungsvertrag und seine wünschenswerte Verlängerung gehabt
hatte, und nachdem er in Verfolg dieser Unterredung von Kaiser Wilhelms II.
Bereitwilligkeit, auf die Verlängerung einzugehen, verständigt war (siehe Nr. 1367),
am 27. Februar nach Petersburg gefahren, um dort die Angelegenheit zu be-
treiben. Über die Unterredung zwischen Bismarck und Schuwalow vom 10. Fe-
bruar liegt keine Aufzeichnung bei den Akten; wir sind hier ganz auf den
ausführlichen Bericht Graf Schuwalows (Goriainow, a. a. O., p. 340 ff.) angewiesen.
*** Vgl. H. Hofmann, Fürst Bismarck 1S90— 1S93 Bd. I (1913), S. 113 f. Nach
Graf Schuwalows Bericht (vgl. Nr. 1373, Anlage) hätte er nicht gesagt, daß Kaiser
Alexander nunmehr auf die Vertragserneuerung verzichte, sondern nur, daß er,
Schuwalow, angesichts der Entlassung Bismarcks erst die Befehle seines Gou-
vernements einholen müsse. Vgl. Goriainow a. a. O., p. 343.
Nr. 1367
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Graf Herbert von Bismarck an Kaiser Wilhelm II.
Eigenhändige Ausfertigung
Geheim Berlin, den 20. März 18Q0
Aus Euerer Majestät Allerhöchstem Marginaldekret zu meinem
wiederangeschlossenen ehrfurchtsvollen Immediatbericht von heute mit-
tag* entnehme ich, daß ich denselben nicht klar genug abgefaßt habe,
und ich gestatte mir daher, die nachstehende alleruntertänigste Erläu-
terung Euerer Majestät zu unterbreiten.
Bereits vor der Abreise des Grafen Schuwalovv nach Petersburg
hatten Euere Majestät den Fürsten Bismarck ermächtigt, dem rus-
sischen Botschafter auf dessen damalige vertrauliche Anregung zu sa-
gen, daß Allerhöchstdieselben geneigt seien, den in drei Monaten ab-
laufenden geheimen Vertrag zu erneuern, und dies war dem Grafen
Schuwalow damals mitgeteilt. Letzterer beabsichtigte, in diesen Tagen
auf Grund der ihm vom Zaren gegebenen Vollmacht mit dem Fürsten
Bisrparck in Verhandlung zu treten. Nachdem Fürst Bismarck aber
inzwischen von Euerer Majestät aus seinen Ämtern entlassen ist, hat
mir der Graf Schuwalow, wie ich im letzten Satz der Anlage alier-
untertänigst berichtete, nun mitgeteilt, daß russischerseits auf eine Ver-
längerung des Vertrages verzichtet ^ würde.
Nach dieser Eröffnung des Grafen Schuwalow vermag ich also
nicht, auf die Sache zurückzukommen, da derselbe nicht darüber im
unklaren ist, daß Euere Majestät die Ermächtigung zur Verhandlung
über Erneuerung des geheimen Abkommens früher erteilt hatten, und
mir trotzdem gestern abend die Allerhöchstdenselben in der Anlage
ehrfurchtvollst gemeldete negative Äußerung machte.
H. Bismarck
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Warum?
Nr. 1368
Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt
Grafen von Berchem
Reinschrift, am 25. März dem Reichskanzler von Caprivi eingehändigt, von diesem
am 28. zu den Akten gegeben**
Berlin, den 25. März 18Q0
Der Vertrag, um dessen Erneuerung es sich handelt, hat den
Zweck, kriegerische Ereignisse hervorzurufen, deren LokaHsierung
♦ Siehe Nr. 1366.
♦* Später, im Jahre 1904, hat der als Unterstaatssekretär a. D. in München lebende
Graf von Berchem in der irrtümlichen Meinung, daß seine Aufzeichnung vom
äußerst unwahrscheinlich ist; wir können demnach leicht auf diesem
Wege den allgemeinen Krieg herbeiführen, den wir sonst vielleicht
heute vermeiden können und vermeiden sollen, auch nach der Meinung
des Fürsten Bismarck; selbst im Falle unserer Neutralität würden wir
am Ende immer in die undankbare Situation des Jahres 1878 geraten.
Durch den zu erneuernden Vertrag würde jedenfalls eine Macht
von uns getäuscht, wahrscheinlich aber würden beide in Frage stehen-
den östlichen Nachbarn dadurch mystifiziert werden; denn zunächst
verweigern wir den Österreichern die Bundeshülfe in der ersten ent-
scheidenden Zeit der Entwickelung der bulgarischen Sache; sobald
dieselbe einen weiteren Umfang genommen, müssen wir jedoch nach
der oft ausgesprochenen Meinung des früheren Reichskanzlers den-
noch für Österreich-Ungarn fechten, wenn dasselbe in Bedrängnis ge-
ratet, wodurch wir den Russen die Treue verletzen. Ein guter Friede
kann daraus nicht erwachsen, wohl aber eine dauernde Verstimmung
zweier großer Nationen, wie sie sich aus der Haltung Österreichs
gegen Rußland im Krimkriege ergeben hat.
Der Vertrag liefert uns schon in Friedenszeiten in die Hand der
Russen; sie erhalten eine Urkunde, womit sie jeden Augenblick un-
sere Beziehungen zu Österreich, Italien, England und der Pforte trüben
können*. Wir haben die letzten Jahre namentHch England und Italien
25. März 1890 nicht zu den Akten gelangt sei, dem Reichskanzler Grafen von
Bülow mittels Schreibens vom 3. Juni (siehe Nr. 1391) eine eigenhändige Ab-
schrift eines von ihm zurückbehaltenen Entwurfs zu jener Aufzeichnung übersandt
Dieser Entwurf, der seither auszugsweise, jedoch nicht überall ganz wortgetreu
von Julius von Eckardt (Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi,
S. 53ff.) veröffentlicht worden ist, weist gegenüber der im März 1890 zu den
Akten gekommenen Reinschrift mancheriei Abweichungen auf. So lautet gleich
der erste Satz in der ursprünglichen Fassung: „Der Vertrag hat den Zweck,
einen Krieg her\^orzurufen, dessen Lokalisierung äußerst unwahrscheinlich, den
wir heute vielleicht vermeiden können und sollen, auch nach der Meinung Seiner
Durchlaucht." Aus den Worten „auch nach der Meinung Seiner Durchlaucht''
braucht nicht notwendig geschlossen zu werden, daß der erste Entwurf noch in
die Tage der Kanzlerschaft Bismarcks zurückreicht, denn Im weiteren Verlauf des
Entwurfs wird bereits des Rücktritts Bismarcks als einer vollzogenen Tatsache
gedacht. Jedenfalls ist ausgeschlossen, daß Graf Berchem zu Amtszeiten Bis-
marcks der Auffassung dienstlich Ausdruck gegeben hätte, daß der Rückversiche-
rungsvertrag den Zweck gehabt habe, einen Krieg her\-orzu rufen. Dieser Berchem-
sche Satz würde die ganze Aufzeichnung geradezu in das Licht einer gegen Bis-
marck gerichteten Intrige rücken, wenn nicht die Deutung möglich wäre, daß
der Vertrag nach Rußlands Willen den Zweck haben sollte, kriegerische
Ereignisse hervorzurufen. In diesem Sinne hat auch Julius von Eckardt, der
sich auf mündliche Äußerungen Berchems beruft (a. a. O., S. 53), den Satz inter-
pretiert
♦ Vgl. dazu Bismarcks Diktat vom 28. Juli 1887 und seinen Immediatbericht vom
gleichen Tage Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1099, 1100. Bismarck war durchaus nicht
der Ansicht gewesen, daß durch ein Bekanntwerden des Vertrags die Beziehungen
Deutschlands zu Österreich leider, könnten; im Gegenteil, er fand es wünschens-
wert, „wenn die Sache von Rußland ebruitiert wird".
stets darauf hingewiesen, in Konstantinopel den Sultan zu unterstützen;
die gegenteilige Sprache führen wir in der Urkunde, worin wir Bul-
garien, das Tor von Konstantinopel, und die Meerengen an Rußland
vertragsmäßig ausliefern. Sobald die Lage für Rußland kritisch werden
sollte, dürfte Österreich, von Petersburg aus über dieses Abkommen
unterrichtet, mit Rußland einen Separatfrieden auf unsere Kosten
schließen, der in diesem Falle wegen des nicht ganz unbegründeten
Verdachts unserer Felonie in Österreich-Ungarn nicht unpopulär sein
würde.
Der Vertrag gewährt keine Gegenseitigkeit. Aller Vorteil daraus
kommt Rußland zugute. Frankreich wird uns nicht angreifen, ohne
Rußlands Mitwirkung sicher zu sein. Eröffnet aber Rußland den orien-
talischen Krieg, was die Absicht des Vertrags ist, und schlägt, wie
voraussichtUch, Frankreich gleichzeitig gegen uns los, so ist die Neu-
tralität Rußlands gegen uns ohnedies in den Verhältnissen gegeben,
sie liegt auch ohne Vertrag in diesem Falle im russischen Interesse.
Der Vertrag sichert uns demnach nicht gegen einen französischen An-
griff, gewährt hingegen Rußland das Recht der Offensive gegen Öster-
reich an der unteren Donau und verhindert uns an der Offensive
gegen Frankreich, abgesehen davon, daß er in seiner Tendenz mit
dem deutsch-österreichischen Bündnis schwer vereinbar ist.
Die Bestimmung des Zeitpunktes des europäischen Krieges der
Zukunft wird durch den Vertrag demnach in Rußlands Hände gelegt,
und es erscheint nach den vorliegenden Anzeichen nicht ganz un-
wahrscheinlich, daß Rußland, gedeckt durch Deutschland, ein Interesse
hat, bald loszuschlagen. Es darf dahingestellt bleiben, ob unser und
unserer Verbündeten militärisches Interesse sich hiermit deckt.
Die Vereinbarung steht, wenn nicht dem Buchstaben, so jedenfalls
dem Geiste der Triplealiianz direkt entgegen* und wird uns, wenn die
Russen im Süden losbrechen, voraussichtlich in Gegensatz zu be-
freundeten Mächten bringen. Der Vertrag ist aber auch praktisch un-
durchführbar.
Wenn Graf Kälnoky noch so sehr bestrebt ist, unserem bisherigen
Standpunkt entgegenzukommen, wenn er vermieden hat, die Erklärung
* Der Auffassung, als ob der Rückversicherungsvertrag „wenn nicht dem
Buchstaben so jedenfalls dem Geiste" des Dreibundes direkt zuwider-
gelaufen sei, ist Bismarck mit allem Nachdruck entgegengetreten. So heißt es
in dem Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 31. Oktober 1896, der den
berühmten „Enthüllungs"-Artikel vom 24. Oktober rechtfertigen sollte: „Die Be-
hauptung, daß das 1890 abgelaufene deutsch-russische Abkommen mit der Treue
gegen den Dreibund nicht verträglich wäre, ist vollständig aus der Luft ge-
griffen für jeden, der es kennt, und der die Dreibundverträge auch nur ober-
flächlich liest." H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. 11 (1913), S. 374. Auch
Staatssekretär Freiherr von Marschall, der in den entscheidenden Märztagen des
Jahres 1890 offenbar der Berchcm-Holsteinschen Auffassung von der Unverein-
festzulegen, daß eine Besetzung Bulgariens durch Rußland einen Kriegs-
fall für Österreich-Ungarn bildet, und wenn auch der einflußreiche un-
garische Minister Desider Szilagyi für die Teilung der Interessen-
sphären auf der Balkanhalbinsel eintreten sollte, so wird doch Kaiser
Franz Joseph das Vorgehen der Russen mit einer Truppenaufstellung
an der serbischen oder rumänischen Grenze beantworten, welche
unter Umständen militärische Rückwirkungen an der galizischen Grenze
und demnach den wahrscheinHchen Eintritt des casus foederis Öster-
reich gegenüber für uns zur Folge haben wird. Das in auswärtigen
Fragen entscheidende ungarische Parlament wird die österreichische
Politik ins Schlepptau nehmen, selbst wenn dieselbe zu einer neutralen
Haltung geneigt wäre. Graf Kälnoky wird nicht imstande sein, die
Russen auch nur in die Stellung von 1854 einrücken zu lassen; die
Verwickelungen werden schon früher beginnen. In einem frühen Sta-
dium der Ereignisse wird die österreichische Armee die serbische
Grenze überschreiten müssen, was zum Kampfe mit den Serben und
Montenegrinern, den Bundesgenossen der Russen, führt und voraus-
sichtlich unseren casus foederis mit Österreich nach sich ziehen könnte.
Wird die österreichische Aufstellung aber auch an der rumänischen
Grenze genommen, so tritt für uns in naher Zeit auch noch der
rumänische casus foederis in Kraft, und können wir Rußland unsere
Zusage nicht halten.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß die Russen 60 000 wohl-
bewaffneten Bulgaren gegenüber die Aktion durch eine Landung in
Varna einleiten werden, nach den ohne vorgängige Sicherstellung
einer Operationsbasis bei Plewna gemachten Erfahrungen. Sie werden
demnach die Neutralität Rumäniens zu verletzen gezwungen sein, so-
daß nicht nur im Westen sondern auch im Osten der rumänische
casus foederis für uns vorliegen wird. Sollten wir Rumänien im Stich
lassen, so trieben wir dasselbe in Rußlands Arme. Es kommt hierzu,
daß Graf Kälnoky noch vor wenigen Tagen laut amtlichen Berichtes
des Prinzen Reuß darauf hingewiesen hat, wie Österreich-Ungarn im
Streitfalle auf die Kooperation mit der bulgarischen Armee zu zählen
gezwungen sei in Anbetracht der Feindschaft Serbiens; wir würden
nach dem Vertrage hierzu eine unfreundliche Stellung einnehmen
müssen.
barkeit des Rückversicherungsvertrages mit dem Dreibundvertrage nachgegeben
hat, hat am 16. November 1896 bei Gelegenheit der durch die Bismarckschen
Enthüllungen veranlaßten Reichstagsinterpellation die Berchemsche Theorie der
Unvereinbarkeit so nachdrücklich wie möglich perhorresziert: „Ich weise mit
aller Entschiedenheit den Gedanken zurück, als ob jemals von deutscher Seite
mit irgendeinem Staate etwas verabredet worden sei, was unvereinbar wäre mit
bestehenden Verträgen. Das ist nicht geschehen, nicht dem Wortlaut,
auch nicht dem Geiste nach; denn was je von uns verabredet wurde,
sollte dem Frieden dienen, also demselben Zweck wie unsere Verträge." Steno-
graphische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 1895/97 Bd. V, S. 3262.
Wenn wir die Autonomie Bulgariens preisgeben, so gehen wir
einem Zerwürfnisse auch mit Italien entgegen. Crispi, so fest seine
Stellung zurzeit ist, wird nicht imstande sein, eine Politik zu führen,
die gegen die Selbständigkeit der Balkanländer gerichtet ist. Sobald
wir Österreichs Orientpohtik nach dem Vertrage entgegenzutreten ge-
zwungen sein werden, so wird auch Italien beim österreichischen Bünd-
nisse nicht festzuhalten sein, freie Hand gewinnen und seinen Vorteil
da suchen, wo es ihn finden kann, d. h. auf Kosten Österreichs.
Artikel I und III des Vertrags zu Dreien mit ItaHen von 1882
und 1887, sowie unser Separatvertrag mit ItaHen (Küste des Ägäischen
Meeres)* werden ihrem Geiste nach durch den zu erneuernden Ver-
trag gleichfalls verletzt.
Was die Türkei betrifft, so kann dieselbe auf Grund eines solchen
Abkommens schon in Friedenszeiten dauernd in Rußlands Arme ge-
trieben werden. Sie wird diesem Einfluß im Falle der Verletzung des
Geheimnisses russischerseits um so leichter verfallen, als wir ihr zu
verschiedenen Zeiten geraten haben, ihre militärischen Rüstungen —
offenbar nicht gegen Westen — zu verstärken, ein Ratschlag, mit dem
wir uns hiermit in Widerspruch setzen würden.
Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß es für uns vorteilhaft ist, je
mehr die Russen ihre Rüstungen gegen unsere südöstliche Grenze ver-
mehren und ihre offensiven Absichten dahin und nach der Balkanhalbinsel
richten. Wie die Verhältnisse heute nach dem Rücktritt des Fürsten Bis-
marck liegen, werden sie das bulgarische Abenteuer jedoch nicht leicht
unternehmen, und das in Rede stehende Abkommen wird uns dem-
nach den Nutzen der Ablenkung der russischen Unternehmungslust
nach Südosten nicht bringen, wohl aber alle vorerwähnten Nachteile.
Eine so komplizierte Politik, deren Gelingen ohnedies jederzeit frag-
lich gewesen ist, vermögen wir nicht weiter zu führen nach dem Aus-
scheiden eines Staatsmannes, der bei seiner Tätigkeit auf dreißig-
jährige Erfolge und einen geradezu magnetisierenden Einfluß im Aus-
lande sich stützen konnte. Aber auch dem Fürsten Bismarck ist es
nicht gelungen, aus dem Vertrage Vorteile zu ziehen; derselbe hat
uns nicht vor kritischen Situationen Rußland gegenüber bewahrt, nicht
vor den Truppenkonzentrationen Rußlands an unserer Grenze und
vor lebhaften Verstimmungen des Zaren. Keinenfalls aber werden
wir nach russischer Seite aus dem Vertrage so viel gewinnen, als uns
aus demselben Nachteile nach anderen Richtungen erwachsen.
Wir werden eine ruhige, klare und loyale Politik zu führen haben,
um die Errungenschaften der letzten 26 Jahre festzuhalten; auf diesem
• Siehe den Text der Dreibundverträge von 1882 und 1887 Bd. III, Nr. 571, und
Bd. IV, Nr. 858, den Text des Deutsch-Italienischen Separatvertrags von 1887
Bd. IV, Nr. 85y.
8
Wege wird die Erhaltung und Förderung des Deutschen Reiches wohl
gelingen, nicht aber durch gefährliche diplomatische Wagnisse. Fürst
Bismarck hat ein derartiges Spiel nicht einmal gegenüber Napoleon III.
für angezeigt erachtet, welcher kein Papier in Händen hatte, als er
von seinen belgischen Träumen erwachte. Die beabsichtigte Verein-
barung erinnert an den Westminster-Vertrag Friedrichs des Großen,
mit welchem er irrtümlicherweise den Versailler Vertrag für kom-
patibel erachtete, dennoch aber hiermit den Siebenjährigen Krieg und
seine Isolierung heraufbeschwor.
Die Gefahren eines russischen Einmarsches in Bulgarien hat Fürst
Bismarck jedoch selbst nicht unterschätzt; aus diesem Grunde war es
sein Wunsch, daß, wenn es zu Unruhen im Orient käme, dieselben
nicht in Bulgarien, sondern in den griechischen Gewässern ausbrächen,
wodurch die Gegenwirkung Englands und der Pforte gegen Rußland
mehr hervorgerufen würde.
Wenn demnach gewichtige Bedenken der Erneuerung der Abrede
entgegenstehen, so haben wir nichtsdestoweniger an dem bisherigen
Standpunkt diplomatisch, jedoch ohne uns zu binden, festzuhalten,
daß Rußland ein wohlbegründetes Recht hat, seinen Einfluß in Bul-
garien geltend zu machen; wir werden den Kaiser Alexander ebenso
schonend wie früher, wenn möglich noch besser zu behandeln haben,
um Vertrauen in unsere Friedenspolitik zu erwecken, und wir werden
in Wien unsere Ansichten über Bulgarien in der bisherigen Weise zum
Ausdruck zu bringen haben. Denn es ist ein dringendes Interesse un-
serer Politik, Rußlands Hoffnungen auf Bulgarien nicht zu entmutigen,
da diese Entmutigung sich gegen uns wenden würde, und zugleich den
Widerstand anderer Mächte gegen Rußland im Südosten Europas wach-
zuerhalten. Wir können auch daran festhalten, daß es in unserm Inter-
esse liegt, das Augenmerk Rußlands auf die Meerengenfrage zu lenken,
wo der Gegensatz zwischen England und vielleicht auch Frankreich mit
Rußland sich entwickeln wird, aber wir werden besser tun, hierfür
keinen Schein auszustellen.
Die Gefahr eines Zusammengehens Frankreichs mit Rußland ist
heute geringer als noch vor einigen Jahren, wir haben kein Interesse,
dieses Zusammengehen zu beschleunigen, indem wir zu einem bulgari-
schen Abenteuer raten in einem Augenblick, da wir einen Konflikt mit
Frankreich nicht wünschen können.
Fürst Bismarck hat wiederholt im Reichstag darauf hingewiesen,
daß ein großer Krieg heutzutage nicht ohne lebhafte Begeisterung der
Völker geführt werden könne. Diese Begeisterung würde fehlen, unsere
Haltung würde dem deutschen Volke unverständlich bleiben, wenn wir
im Falle von politischen Störungen anfangs ein schwer verständliches
Spiel trieben, den Anschei^n erweckten, als wollten wir unsere Bundes-
genossen im Stich lassen, und erst spät in die Aktion träten.
Wir haben demnach allen Grund, die durch russische Initiative
gegebene Gelegenheit, von der Abrede zurückzutreten, nicht unbenutzt
zu lassen; es muß dies in der freundschaftlichsten Weise geschehen.
Be rchem
Nr. 1369
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 28. März 1890
Am gestrigen Tage haben der Unterzeichnete und der Botschafter
General von Schweinitz* Seiner Majestät Vortrag über die eventuelle Er-
neuerung des geheimen Vertrages mit Rußland gehalten. Sie haben
dabei übereinstimmend die Ansicht vertreten, daß solche Erneuerung
* Botschafter von Schweinitz war auf Veranlassung des Kaisers am 21. März aus
Petersburg in Berlin eingetroffen, um an dem für den 22. anberaumten Kapitel
des Schwarzen Adlerordens, wo u. a. Prinz Georg von Großbritannien im Bei-
sein seines Vaters, des Prinzen von Wales, nachmaligen Königs Eduard VII.,
investiert werden sollte, teilzunehmen. Schweinitz wurde in Berlin sogleich zu
den Verhandlungen über den Rückversicherungsvertrag herangezogen. Anfäng-
lich sprach er sich zugunsten einer Verlängerung aus; es gelang jedoch Berchem
und Holstein, ihn umzustimmen, speziell mittels Vorlegung des Rumänischen;
Bündnisvertrags von 18S3, der dem Botschafter nicht mit dem Rückversicherungs-
vertrag verträglich erschien. Vgl. die retrospektiven Angaben Berchems und
Holsteins in Nr. 1391 und Nr. 1392. Holstein glaubte noch am 28. März in Schwei-
nitz einen Anhänger des russischen Vertrags und, was für ihn identisch war,
einen Parteigänger von Bismarck Vater und Sohn sehen zu sollen, der diese
beiden mittels des Rückversicherungsvertrages wieder in den Sattel setzen wollte.
Siehe das charakteristische Schreiben Holsteins vom 28. März bei Vindex Scrutator,
Warum der russische Draht zerriß. „Der Tag". Ausgabe B (rot) vom 4. November
1920. Daß Holstein die treibende Kraft bei der Nichterneuerung des Rück-
versicherungsvertrags gewesen ist, indem er zu einer Zeit, als Graf Herbert
Bismarck noch im Amte war, und ohne dessen Vorwissen den Text des Rück-
versicherungsvertrages und der übrigen nacii seiner Behauptung damit nicht zu
vereinbarenden Verträge erst Caprivi, dann Marschall, schließUch Schweinitz vor-
legte, geht auch aus einer späteren Aufzeichnung Marschalls vom 4. Dezember
1911 über die Meerengenfrage hervor, in der es u. a. heißt: „Als nach dem
Sturze des Fürsten Bismarck von mir als Staatssekretär an Stelle Herbert Bis-
marcks die Rede war, erfuhr ich von dem geheimen Rückversicherungsvertrag mit
Rußland, der kurz darauf ablief, und dessen Verlängerung Rußland begehrt hatte.
Diesen Vertrag zeigte mir damals Herr von Holstein. Als ich da
las, daß wir den Russen in ziemlich unverblümten Worten die Meerengen und
Konstantinopel als Gegenleistung für die russische Neutralität in gewissen Kriegs-
fällen zusagten, habe ich Holstein erklärt, daß ich das Amt des Staatssekretärs
nicht annehmen werde, wenn dieser Vertrag verlängert werde, und dies damit
begründet, daß ich darin eine Untreue gegen Österreich-Ungarn erblickte. Ich
habe beigefügt, daß ein großer Mann wie Bismarck auch mit solchen kompli-
zierten Instrumenten arbeiten könne, ich als einfacher Mensch dagegen außer-
stande sei, einen solchen Vertrag, wenn er je bekannt werde, unseren Ver-
bündeten gegenüber zu rechtfertigen. Caprivi war derselben Ansicht."
10
zwar das Resultat haben würde, Rußland koalitionsunfähig zu machen,
daß aber die Festsetzungen des Vertrages weniger ihrem Wortlaut
als ihrem Sinne nach mit dem Dreibund, mit dem Vertrage, den wir
mit Rumänien haben, und mit der Einwirkung, die deutscherseits auf
England geübt ist, nicht wohl in Einklang zu bringen seien. Das Be-
kanntwerden des Vertrages, sei es durch eine absichtliche oder eine
zufällige Indiskretion, gefährde den Dreibund und sei geeignet, England
von uns abzuwenden. Herr von Schweinitz hielt eine absichtliche In-
diskretion seitens Rußlands um deshalb für höchst unwahrscheinlich,
weil sie der Natur des Zaren widerspreche, und weil sie in Rußland
die öffentliche Meinung gegen die Regierung erregen werde, erkannte
aber auch, daß die MögHchkeit anderweiter Indiskretionen nicht aus-
geschlossen sei.
Seine Majestät befahlen hierauf, daß der Herr Botschafter bei
seiner Rückkehr nach Rußland dort an geeigneter Stelle aussprechen
solle, wie diesseits der bestimmte Wille vorliege, nach wie vor die
besten Beziehungen zu Rußland zu unterhalten, wie aber in dem
Personenwechsel, der sich in Deutschland gegenwärtig vollzogen, und
der uns das Bestreben nahe lege, fürs erste uns ruhig zu verhalten
und in keinerlei weitgehende Verhandlungen einzutreten, der Grund
liege, "Weshalb wir für geratener hielten, von einer Erneuerung des
Vertrages abzustehen.
v. Caprivi
Nr. 1370
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 103 St. Petersburg, den 3. April 1890
Geheim
Bald nach meiner Rückkehr, am Abend des 31. März, begab ich
mich zu Herrn von Giers, der mich mit Ungeduld erwartete. Ich
bemerkte sogleich, daß Graf Schuwalow den Minister nur unvoll-
ständig über die Vorgänge der letzten Tage unterrichtet hatte, was
ich in Anbetracht der Zartheit einiger Einzelheiten nur billigen kann.
Ich fand also Herrn von Giers noch unter dem günstigen Eindrucke,
welchen der Bericht des russischen Botschafters über seine Audienzen
bei unserem allergnädigsten Kaiser und Herrn* hervorbrachte; Graf
Schuwalow hatte zwar infolge meiner Mitteilungen vom 28. März
hierher telegraphiert, daß ich ohne Vollmacht nach St. Petersburg zu-
rückkehren würde, aber der Minister hielt noch an der Hoffnung fest,
* Siehe Nr. 1373, Anlage.
11
daß hierdurch vielleicht nur eine Veränderung des Wortlautes, eine
Verzögerung des Abschlusses, doch kein Fallenlassen des Vertrages
herbeigeführt werde.
Nachdem ich nun die großen Tatsachen, welche sich durch den
Personenwechsel im Auswärtigen Amte vollzogen, in ihrer Bedeutung
geschildert und meine Überzeugung, daß hierdurch an unseren guten
Beziehungen zu Rußland nichts geändert werde, begründet hatte, gab
ich allmählich Herrn von Oiers zu verstehen, daß meine Regierung
gegenwärtig nicht beabsichtige, den am 18. Juni d. Js. ablaufenden Ver-
trag zu erneuern.
Obwohl ich diese Mitteilung mit allen jenen schonenden Bemer-
kungen umkleidete, welche mir die Gemeinsamkeit unserer monar-
chischen Interessen, unser fester Wille, den Frieden zu erhalten und
den im Vordergrunde stehenden russischen Verlegenheiten in Bul-
garien nach wie vor Rechnung zu tragen, an die Hand gab, so war
Herr von Giers doch etwas konsterniert.
Ohne sich ausführlich zu äußern, ließ mich der russische Minister
doch erkennen, welches Bild der politischen Gesamtlage sich vor seinem
Auge aufrollte: Die drei Zentralmächte des Kontinents durch laut ver-
kündete Verträge verbunden, England durch wiederholten Austausch
von Höflichkeiten und neuerdings durch den Besuch des Prinzen von
Wales* Deutschland genähert, Frankreich durch unverkennbare Friedens-
sehnsucht der Bevölkerung im Racheeifer etwas gemäßigt, Österreich-
Ungarn von der weisen und wohlmeinenden, aber strengen Kontrolle
des Fürsten Bismarck befreit, und dem gegenüber Rußland, allein, ohne
jedes Abkommen mit uns oder mit irgendeiner anderen Macht — so
etwa mochte Herrn von Giers die Situation seines Landes erscheinen;
dieses hat nun freilich seit Jahren durch alle Organe seiner öffent-
Hchen Meinung stürmisch gefordert, daß es völlig frei von jeder binden-
den Abmachung mit europäischen Mächten und besonders mit Deutsch-
land, stolz auf seine unnahbare Kraft und Größe frei dastehe, nur
die eigenen Interessen pflegend, dabei aber Frankreichs Freundschaft
auch ohne Vertrag in jedem AugenbHcke sicher.
Während diese den Slawophilen so teuere Aktionsfreiheit die Popu-
larität Alexanders III. im Inneren und sein Ansehen im Auslande ver-
mehrte, begriff Herr von Giers doch sehr wohl, daß eine solche
Isolierung Nachteile und Gefahren mit sich bringe, und deshalb be-
mühte er sich seit neun Jahren rastlos unter unausgesetzten Kämpfen
erst gegen Ignatiew und dann gegen Katkow, den jungen Zaren zu
vermögen, daß er das von seinem Herrn Vater mit Deutschland
und Österreich-Ungarn geknüpfte Band nicht löse und, als dies 1887
nicht mehr zu halten war, ein neues mit uns allein ganz im geheimen
anknüpfte.
• Er weilte seit dem 21. März am Kaiserlichen Hoflagcr zu längerem Besuch.
12
Hierdurch wurde ein für Rußland sehr günstiges Verhältnis ge-
schaffen, durch welches es instand gesetzt wurde, seine Rüstungen
und seinen Aufmarsch im Westen und Südwesten zu fördern, ohne
sich der Gefahr auszusetzen, durch eine aktive Politik Österreichs
gestört zu werden, und es ist daher erklärlich, daß Herr von Giers
mit Bedauern und Besorgnis einen Zustand zu Ende gehen sieht,
welcher Rußland Sicherheit gewährt, ohne ihm Opfer aufzuerlegen.
Aber auch für uns war der geheime Vertrag von hohem Werte,
indem er den Zaren verhinderte, der zeitweise sehr lauten Stimme der
Slawophilen und der chauvinistischen Generale, der Katkows und der
Skobelews Gehör zu geben und einer Koalition gegen uns beizu-
treten, während uns gleichzeitig die Neutralität Rußlands im Falle
eines französischen Angriffskrieges gesichert wurde. Diese Vorteile
sind so erhebhch, daß wir sie uns auch um hohen Preis erhalten
müßten, wenn wir nicht durch die aggressiven Kriegsvorbereitungen
Rußlands gezwungen worden wären, mit mehreren anderen Staaten
Bündnisse abzuschließen, welche so kompliziert wurden, daß nur Fürst
Bismarck imstande war, den Widerspruch zu unterdrücken, in welchem
sie zu dem Deutsch-Russischen Abkommen stehen.
Diesen nur teilweis geheim gebliebenen Bündnissen, welche uns
mit unseren Alliierten und einige der letzteren durch unser Zutun
mit England verbinden, steht nun Herr von Giers plötzlich ganz ver-
einsamt gegenüber, und es könnte niemanden überraschen, wenn er
anderswo Anlehnung suchte.
Meine Versicherung, daß sich auch ohne schriftliche Form in
der Sache nichts ändere, daß unsere Politik dieselbe bleibe, und daß
namentlich unsere Anerkennung der legitimen Präponderanz Rußlands
in Bulgarien ungeschwächt in Geltung fortbestehe, beruhigte den rus-
sischen Herrn Minister einigermaßen; er wollte aber doch die Hoff-
nung nicht aufgeben, daß der letztere, auf Bulgarien bezügliche Satz
noch vor Ablauf unseres Vertrages in irgendwelcher Gestalt schrift-
lich, vielleicht durch Austausch von Noten, bekräftigt werde. Ohne
hierauf näher einzugehen, aber auch ohne ihm jede Aussicht auf eine
die bulgarische Verlegenheit mildernde Zusicherung zu nehmen, habe
ich Herrn von Giers wiederholt versichert, daß unsere vom Fürsten
Bismarck vorgezeichnete Haltung in der bulgarischen Frage nicht nur
auch fernerhin von uns streng beobachtet, sondern auch, insoweit es
unser freundschaftliches Verhältnis zum Wiener Kabinett mit sich bringt,
bei diesem vertreten werden wird.
Am Tage, der auf diese Unterredung folgte, am 1. April, hatte
Herr von Giers Immediatvortrag bei Seiner Majestät dem Kaiser,
welcher fieberkrank war und sich deshalb nicht lange mit seinem
Minister beschäftigen konnte, aber doch sogleich die Bereitwilligkeit
aussprach, mich am 3. April zu empfangen. Der Kaiser ist von den
Mitteilungen, welche ihm Herr von Giers auf Grund unseres Ge-
13
spräches machte, befriedigt gewesen und hat die Nachricht, daß meine
hohe Regierung den Vertrag nicht verlängern wolle, ohne Befremden
hingenommen*. Des eigenen ehrlichen Willens fest bewußt und end-
lich ohne Mißtrauen gegen uns, fühlt dieser Monarch kein Bedürfnis
nach schriftlichen Abmachungen.
„Seine Majestät", so sagte mir gestern Herr von Oiers, „hat dem
Vertrage überhaupt niemals viel Interesse zugewendet, aber ich tue
es, und ich habe meine guten Gründe hierzu." Aus den Bemerkungen,
welche der Herr Minister hieran knüpfte, glaube ich schließen zu dürfen,
daß unter diesen „guten Gründen" die Möglichkeit von durch Tod
oder sonstwie hier eintretenden Personalveränderungen obenansteht.
Bejahrt und müde möchte Herr von Giers seinen Nachfolger binden;
aber auch solange er noch im Amte ist, glaubt er des Vertrages zu
bedürfen als Bollwerk seiner Politik gegen die russischen Feinde der-
selben, die chauvinistischen Generale und die slawophilen Komitees.
Weiterhin erzählte mir Herr von Giers folgendes: „Vor etwa
vier Wochen brachte ich bei Seiner Majestät die Frage von der Ver-
längerung unseres am 18. Juni d. Js. ablaufenden Vertrages zur Sprache;
der Kaiser ermächtigte mich, mit Ihnen etwa zwei Monate vor diesem
Termin über die Sache zu sprechen. Als aber bald darauf Graf Schu-
walow hierher kam und mir sagte, daß Fürst Bismarck seine Geneigt-
heit, das Abkommen zu erneuern, zu erkennen gegeben habe, erbat
ich die allerhöchste Genehmigung, den Botschafter bei seiner Rück-
kehr nach Berlin mit Vollmacht zu versehen; dies geschah, wie Sie
wissen, mündlich, Graf Schuwalow traf am 17./5. März in Berlin
ein und hatte noch an demselben Tage eine Besprechung mit dem
Fürsten, über welche er telegraphisch berichtete, den Rücktritt des
Reichskanzlers als unmittelbar bevorstehend bezeichnend mit dem Hinzu-
fügen, daß letzterer nicht ausschließlich durch Meinungsverschieden-
heit in inneren Fragen, sondern auch durch eine Divergenz in der
auswärtigen Politik, namentlich das Verhältnis zu Rußland berührend,
unvermeidlich geworden sei. Das Nähere haben Sie von meinem aller-
gnädigsten Gebieter, welcher Sie rufen ließ, selbst gehört."
„Die Frage des Botschafters, ob er die Verhandlungen fortsetzen
dürfe, wurde bejaht, und als dann am 21. /9. März der höchst erfreuliche
und ausführiiche telegraphische Bericht des Grafen Schuwalow über
die Unterredung einlief, mit welcher ihn Seine Majestät der Kaiser
Wilhelm beehrt hatte**, ließ ich sofort auf allerhöchsten Befehl die
schriftliche Vollmacht ausfertigen, durch welche der Botschafter in-
stand gesetzt wurde, den Vertrag mit oder ohne das Zusatzprotokoll
für fünf Jahre zu veriängern. Wenn nun auch, wie Sie mir sagen,
* Das wird bestätigt durch die von Goriainow a, a. O., p, 344 mitgeteilten Rand-
bcmtrkiinjren Kaiser Alexanders III.
♦* Siehe Nr. 1373, Anlage,
14
hiervon jetzt nicht mehr die Rede ist, so möchte ich Ihnen doch
gern die Instruktion zeigen, welche durch einen Kurier in derselben
Stunde nach Berlin geschickt werden sollte, in welcher am 28./16.
März Schuwalows telegraphische Meldung hier eintraf, derzufolge die
Verhandlungen über die Vertragserneuerung sistiert wurden."
Der Minister zeigte mir nun die vom ersten Rate des Auswärtigen
Amts Grafen Lamsdorff mit eigener Hand sauber geschriebenen, zur
Unterzeichnung fertiggestellten Dokumente. Das Begleitschreiben an
den Botschafter begann mit dem Ausdruck der hohen Befriedigung,
mit welcher Seine Majestät der Kaiser durch die vom Grafen Schuwalow
wiedergegebenen Worte unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn
erfüllt worden war, namentlich durch die Versicherung, daß die Er-
haltung des äußeren Friedens und der inneren Ordnung das Bestreben
Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm bleibe. An die warme Erwiderung
dieser Zusicherung schließt sich dann der Ausdruck gleicher Gesinnung
und der Auftrag, den am 18. Juni d. Js. ablaufenden Vertrag ganz
nach den Wünschen der deutschen Regierung mit oder ohne Zusatz-
protokoll, aber lieber ohne dasselbe, auf fünf Jahre zu verlängern.
Ich dankte dem Herrn Minister für seine Mitteilungen und sagte,
daß alles beim alten bleibe, wenn nun auch nichts unterschrieben
würde. Herr von Giers antwortete mir hierauf mit der Versicherung,
daß sein erhabener Monarch auch ohne Vertrag nie daran denken
würde, aus der Neutralität, welche dieser uns für gewisse Fälle zu-
sichere, herauszutreten; der Minister fügte hinzu, daß nun also vor-
läufig über diese Angelegenheit weder unter uns beiden, noch zwi-
schen ihm und seinem erhabenen Souverän weiter gesprochen zu werden
brauche, und in dieser Weise, in freundschaftlichem Tone, schloß unsere
Unterredung, ohne Verstimmung zu hinterlassen.
V. S c h w e i n i t z
Nr. 1371
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an Kaiser Wilhelm II.
Ausfertigung
Nr. 104 St. Petersburg, den 3. April 1890
Seine Majestät der Kaiser Alexander erteilte mir heute mittag
12 Uhr die nachgesuchte Audienz und empfing mich mit gewohnter
Güte.
Nach den einleitenden Worten huldvoller Begrüßung sagte mir
der Kaiser, er habe schon durch Herrn von Giers erfahren, daß ich
im ganzen befriedigt aus Berlin zurückgekehrt sei. Ich bestätigte dies
und ging dann zur Ausführung des mir erteilten allerhöchsten Be-
fehles über, indem ich sagte: „Euere Majestät hatten mich beauf-
tragt, meinem allergnädigsten Kaiser und Herrn den Ausdruck des
15
Vertrauens zu übermitteln, daß durch den Rücktritt des Fürsten Bis-
marck weder in den persönlichen Beziehungen der Monarchen noch
in den politischen der Staaten sich irgendetwas ändern werde. Auf
Seine Majestät den Kaiser Wilhelm haben diese Worte, welche aller-
höchstdemselben in dem ernsten und schmerzlichen Augenblicke der
Trennung von dem erprobten Ratgeber seines Großvaters zugingen,
einen wohltuenden Eindruck hervorgebracht und bei allerhöchstdem-
selben volle Gegenseitigkeit gefunden. Ich bin beauftragt, Euerer Maje-
stät zu sagen, daß mein Souverän die Gesinnungen Euerer Majestät
teilt und erwidert, und daß er mit Vergnügen dem 'Augenblick ent-
gegensieht, in welchem er dies Euerer Majestät persönhch und münd-
Hch auszusprechen Gelegenheit finden wird."
Kaiser Alexander antwortete hierauf mit einigen entsprechenden
Äußerungen über den erwarteten Besuch und sprach dann mit sicht-
Hcher Befriedigung die Hoffnung aus, daß die warmen und gnädigen
Worte, welche Euere Majestät unlängst zu dem Grafen Schuwalow
gesprochen haben, die Fortdauer der zwischen Deutschland und Ruß-
land bestehenden Freundschaft verbürgen, und daß hierin durch den
Abgang des Fürsten Bismarck nichts geändert werde. „Kaiser Wil-
helm", so erzählte der Zar, „hat zum Grafen Schuwalow gesagt, es
sei ein Irrtum, das russenfreundliche Verhalten Deutschlands als Bis-
marcksche Politik zu bezeichnen; es sei die Politik seines Großvaters
und seine eigene."
Im weiteren Verlauf der Audienz tat der Zar mit dem Freimut,
welcher ihm eigen ist, mancherlei Äußerungen, welche Euerer Kaiser-
lichen und Königlichen Majestät wortgetreu wiederzugeben ich wage:
Er sagte unter anderem: mit der Tripleallianz sehe es wohl schlecht
aus; die Lasten, welche durch dieselbe unseren Verbündeten auferlegt
würden, seien gar zu schwer, besonders für Italien; aber das schade
ja weiter nichts; wenn nur Rußland und Deutschland zusammenhalten,
dann müssen alle anderen ruhig zusehen. Österreich fahre fort „de
faire ses petites cochonneries", aber auch das sei nicht beunruhigend
für den Frieden; „wenn nur Rußland und Deutschland feste Freund-
schaft halten, so ist Ruhe. Was Sie im Innern vornehmen, darüber haben
wir nicht mitzusprechen, das geht uns nichts an, aber es ist mir sehr
lieb zu hören, daß in der auswärtigen Politik keine Änderung eintritt,
und daß darin keine Veranlassung zum Rücktritt des Fürsten Bismarck
gelegen hat."
Kaiser Alexander erkundigte sich dann noch mit Interesse nach
dem Verlauf, welchen der Besuch Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen
von Wales genommen, und nach dem Eindruck, den derselbe hinter-
lassen hat. Ich schilderte dies als vollkommen befriedigend.
Der Zar fragte auch mit wohlwollender Teilnahme nach dem
neuen Reichskanzler und sprach die Hoffnung aus, daß derselbe nicht
„wie Graf Waldersee" den Krieg wünsche und herbeizuführen suche.
16
Ich sagte, Seine Majestät könne versichert sein, daß General Caprivi,
obwohl ohne Zweifel berufen, im Kriegsfall eine hervorragende Rolle
zu spielen, doch nur der politischen Notwendigkeit, nicht eigener
Neigung oder Voreingenommenheit folgend zum Kriege raten würde.
„Nun", sagte Seine Majestät, „s'il y regarde quatre fois, tout sera
bien."
Nochmals, ehe er mich entließ, sagte Kaiser Alexander, alles
komme lediglich darauf an, daß Deutschland und Rußland gut zu-
sammenhalten; hierauf vertraue er fest,
V. S c h w e i n i t z
Nr. 1372
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 148 St. Petersburg, den 15. Mai 1S90
Geheim
Herr von Giers ist seit einigen Tagen unwohl, sodaß er sich
vorgestern nicht zum regelmäßigen Dienstagsvortrage nach Gatschina
begeben konnte; gestern jedoch war er imstande, die fremden Vertreter,
wie am Mittwoch übHch, zu empfangen, obwohl er sich noch matt
fühlte.
An einigen seiner allgemeinen Bemerkungen und Redewendungen
konnte ich bald erkennen, daß er etwas ganz Besonderes mit mir
vorhabe, und in der Tat brachte er nach längerem Gespräche über
gleichgültige Dinge ein Schriftstück zum Vorschein, welches, drei Foiio-
seiten ausfüllend, von des Grafen Lamsdorff feiner Hand auf Velinpapier
geschrieben und mit einigen Randbemerkungen des Zaren versehen war.
,,Dies ist'*, so hub Herr von Giers an, „der Text des Telegramms,
in welchem Graf Schuwalow am 20./8. März d. Js. über die Unter-
redung Bericht erstattete, m.it welcher ihn Seine Majestät der Kaiser
und König beehrte, als allerhöchstderselbe den Botschafter zu sich
in das Schloß beschieden hatte; diese Depesche ist außer meinem
Souverän und dem Grafen Lamsdorff, der sie entziffert und mundiert hat,
niemandem bekannt; obwohl vvir uns über diesen Gegenstand schon
ausgesprochen haben, glaube ich doch, Ihnen dieses Telegramm vor-
lesen zu sollen."
Als die Lektüre beendet war, sagte ich, daß ich durch dieselbe
nichts Neues erführe, weil mir Graf Schuwalow, als ich ihn in jenen
Märztagen in Berlin häufig sah, die entsprechenden Mitteilungen ge-
macht und von mir die notwendigen Aufklärungen erhalten habe.
2 Die Große Politik. 7. Bd 17
Der russische Minister entwickelte mir hierauf ähnlich, aber mit
noch mehr Wärme als in unserer Unterredung: vom 31. März d. Js.
(Confer: Geheimen Bericht Nr. 103 vom 3. April d. Js.*) die Gründe,
weiche es ihm bedauerlich erscheinen lassen, daß vom 18. Juni d. Js.
ab kein schriftliches Abkommen mehr zwischen uns bestehen solle; er
lege gar keinen Wert auf die weitgehenden Abmachungen des Zusatz-
protokolls oder auf jene Adjektive wie „preponderante et decisive",
welche nicht durch ihn, sondern teils durch Herrn Saburow, teils durch
Graf Schuwalow hineingebracht worden seien; ihm sei es einzig und
allein darum zu tun, daß etwas Schriftliches vorhanden sei, welches die
wesentliche Grundlage der jetzt bestehenden guten Beziehungen vom
Wechsel der Personen unabhängig mache.
„Ich will mich nicht rühmen," sagte Herr von Giers, „aber Sie
wissen es ja doch ,que je suis le ressort', auf welchem die jetzige
Politik beruht; morgen kann ein anderer hier auf diesem Stuhle sitzen,
und für diesen Fall möchte ich etwas Bindendes zurücklassen.''
Als ich auch diesen Argumenten gegenüber in meiner Zurück-
haltung verharrte und zu verstehen gab, daß ich die Frage der Er-
neuerung unseres Vertrages als eine bereits erledigte ansehen müsse,
fuhr der Herr Minister fort, den Nutzen einer schriftlichen, wenn auch
nur die Hauptlinien festlegenden Abmachung zu besprechen und mit
aufrichtiger Überzeugung das Mißliche hervorzuheben, welches darin
liegt, daß nach dem 18. Juni gar nichts an die Stelle des Bestehenden
treten, und dieses somit völlig ins Leere fallen solle. „Es bedürfe ja
gar keines Vertrages," sagte Herr von Giers, „ein Austausch von Noten
würde genügen — vielleicht ein Briefwechsel zwischen den Monarchen."
Euere Exzellenz wollen aus diesen Andeutungen des russischen
Ministers hochgeneigtest entnehmen, daß er triftige Gründe haben
muß, um in so dringender Weise und in der immerhin ungewöhn-
lichen Form des Hinweises auf Eröffnungen, welche unser alier-
gnädigster Kaiser und Herr dem russischen Botschafter gemacht hat,
auf das Verlangen nach einer schriftlichen Abmachung zurückzukommen,
durch welche vor allem anderen der russischen Regierung die Möglich-
keit genommen wird, sich mit Frankreich zu gemeinschaftlichem Vor-
gehen zu koalisieren. Aus der Bereitwilligkeit des Herrn von Giers
nicht nur das „Protocole additionnel et tres secret", welches uns
zum „concours en Bulgarie" und zum „appui moral et diplomatique"
an den Meerengen verpflichtet, fallen zu lassen, sondern auch auf die
Anerkennung der „influence preponderante et decisive en Bulgarie et
en Roumelie" zu verzichten, wollen Euere Exzellenz ferner ersehen, daß
die Motive des Ministers nicht in der Absicht, aktiv auf der Balkan-
halbinsel vorzugehen, zu suchen sind. Ich habe demnach, indem ich die
Worte des Herrn von Giers pflichtgemäß zu Euerer Exzellenz Kenntnis
* Siehe Nr. 1370.
18
bringe, nur hinzuzufügen, daß nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten
der Augenblick günstig ist, um uns die Neutralität Rußlands im Falle
eines französischen Angriffs zu sichern, ohne Verbindlichkeiten zu er-
neuern, welche mit unseren vertragsmäßigen Verpflichtungen gegen
andere Mächte unvereinbar sind. Ich darf hierbei nicht unterlassen,
die unvorgreifliche persönliche Ansicht auszusprechen, daß, wenn wir
die weit entgegenkommenden Anträge des russischen Ministers völlig
abweisen, er oder sein Nachfolger gezwungen sein würde, die Anlehnung,
die er bei uns nicht findet, anderwärts zu suchen.
Herrn von Giers gegenüber habe ich mich einstweilen reserviert
und fast nur zuhörend verhalten ; als ich im Laufe des Gespräches unseres
ihm bekannten Vertrages mit Österreich Erwähnung tun mußte, sagte
der Herr Minister, Rußland hätte diesem Vertrage beitreten können,
wenn er nicht auch Italien einschlösse.
Beiläufig erwähnte Herr von Giers, daß er dem Grafen Schuwalow
keinen Auftrag erteilen werde. Schritte in dem Sinne, in welchem er zu
mir gesprochen habe, zu tun; ich antwortete ihm, daß ich dies sehr
richtig fände; obwohl ich ihm nicht zugesagt habe, seine Mitteilungen
ad referendum zu nehmen, so werde ich doch, ehe er in seine finn-
ländische Sommerwohnung zieht, was gleich nach dem Besuche des
Kronprinzen von Italien, also in etwa 14 Tagen, geschehen wird, seine
Anregung durch eine Rückäußerung erwidern müssen.
V. S c h w e i n i t z
Nr. 1373
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi
Eigenhändiger Privatbrief
Geheim St. Petersburg, den 16. Mai 18Q0
Eure Exzellenz werden aus meinem Ihnen heute zugehenden ge-
heimen Berichte Nr. 148 vom 15. d. Mts.* ersehen haben, daß Herr
von Giers auf den Gedanken, welchen er mir am 31. März d. Js. aus-
sprach, und den ich in Nr. 103 vom 3. April** meldete, zurückgekommen
ist, nämlich auf den Wunsch, daß an die Stelle des am 18. Juni d. Js.
ablaufenden Vertrages etwas anderes treten möge.
Um seiner damaligen Anregung, welche bisher ohne Echo ge-
blieben ist, Nachdruck zu geben, las mir jetzt Herr von Giers den
Text des Telegramms vor, in welchem Graf Schuwalow über die Er-
öffnungen Bericht erstattet, mit denen ihn unser allergnädigster Kaiser
* Siehe Nr. 1372.
** Siehe Nr. 1370.
2»
19
und Herr am 20. März d. Js. im Königlichen Schlosse, wohin der Bot-
schafter berufen worden war, beehrt hat.
Insoweit als mein Gedächtnis mich nicht im Stiche läßt, glaube ich
alle wesentlichen Sätze des Schuwalowschen Telegrammes in der bei-
Hegenden Aufzeichnung* wiederzugeben, welche ich gemacht habe,
sobald ich in meine Wohnung zurückgekehrt war; die Stelle, auf welche
es ankommt, habe ich unterstrichen.
Aus Gründen, welche Eure Exzellenz hoffentlich billigen werden,
hielt ich es nicht für angemessen, die kaiserlichen Worte in meinen
amtlichen Bericht aufzunehmen; ich ziehe es vor, den Wechsel auf
Sicht, den mir Herr von Giers präsentiert hat. Eurer Exzellenz gehor-
samst zu überreichen mit dem Anheimstellen, davon nach eigenem
hohem Erachten Gebrauch zu machen.
Ich hahe es nicht für ratsam, die Hand, welche der Zar nochmals
ausstreckt, zurückzustoßen; dagegen scheint es mir wohl möglich in
Anbetracht der herabgeminderten Ansprüche Rußlands, etwas Schrift-
liches zu vereinbaren, welches, selbst wenn es einmal bekannt werden
sollte, nicht gegen uns verwertet werden könnte und uns doch die
Neutralität Rußlands mindestens für die ersten Wochen eines französi-
schen Angriffskrieges sichern würde.
Indem ich diese Erwägungen Eurer Exzellenz ehrerbietig unter-
breite, bitte ich, eine allerhöchste Entscheidung über die für unser
ferneres Verhältnis zu Rußland maßgebende Frage hochgeneigtest her-
beizuführen: ob ich auf die erneute Anregung des Herrn von Giers
eingehen soll?
V. S c h w e i n i t z
Anlage
Eigenhändig
St. Petersburg, den 14. Mai 1890
Geheim
Der russische Minister der Auswärtigen Angelegenheiten las mir
heute ein Telegramm des Graf en Schuwalow vom 20. oder 21. März d. Js.
vor; die nachstehenden Aufzeichnungen, welche ich mir machte, so-
bald als ich in meine Wohnung zurückgekehrt war, geben die wesent-
lichen Sätze des Telegrammes wieder, wenn auch ohne Verbindung
und vielleicht nicht in der richtigen Reihenfolge**.
Personnel et secret. Berlin 21/9 mars 1890. Hier matin l'Empereur
* Siehe Anlage.
♦* Zur Kontrolle vgl. den auszugsweise bei Goriainow a. a. O., p. 343 f. in eng-
lischer Übersetzung mitgeteilten Wortlaut des Schuwalowschen Telegramms vom
21. März.
20
m'a invite de venir chez lui; Sa Majeste m'a dit qu'elle se trouvait dans
la triste necessite de se separer du chancelier. L'Empereur n'avait pas
cru que ce moment fut si proche, mais il est convaincu de ne pas
pouvoir remettre la penible decision parceque depuis quelques semaines
le Prince de Bismarck souffre d'une teile surexcitation des nerfs, qu'on
doit s'attendre ä tout moment ä une grave maladie.
Excepte quelques divergences dans la politique Interieure il n'y a
pas de motifs politiques pour cette Separation; c'est uniquement pour
des raisons de sante, c'est pour le sauver, que l'Empereur lui donne sa
liberte. — Sa Majeste a continue: „Je veux que Votre Souverain, qui
est mon ami et qui a toujours ete tres-bon pour moi, sache, que
rien ne sera change dans nos relations; la politique, que le chancelier
a faite, n'etait pas la sienne, c'etait celle de mon grand-pere et c'est
la mienne."
„— Le Comte Herbert Bismarck m'a dit, que Vous hesitez ä con-
tinuer les negociations sur le renouvellement de notre traite secret
en vue du changement qui s'opere; faites savoir ä Votre Souverain,
que je suis tout pret ä entrer dans ses vues."
L'ambassadeur a repondu, qu'en effet il avait cru devoir prendre
l'avis de son gouvernement, auquel il s'empresserait maintenant de
communiquer les gracieuses assurances de Sa Majeste. —
L'Empereur a dit: „Je desire que le Comte Herbert Bismarck reste;
Vous etes son ami, tächez de le convaincre, qu'il ne doit pas insister sur
sa demission; les conseils de son pere pourront toujours etre utiles
ä sa gestion des affaires," —
„Je sais qu'on s'occupe des Conferences militaires, auxquelles j'ai
convoque mes generaux en chef des corps d'armee; excepte quelques
changements d'organisation, il ne s'y agit que des mesures ä prendre
en cas de desordres, qui pourraient se produire par l'excitation de la
classe ouvriere dans quelques districts.
„A mon avenement au trone on a repandu le bruit que j'etais
belliqueux et que j'aspirais ä la gloire militaire; il n'en est rien. Je ne
veux que la paix au dehors et l'ordre dans I'interieur." — —
Hierzu hat Kaiser Alexander die Randbemerkung gemacht: „Das ist
genau dasselbe, was ich will."
Graf Schuwalow schließt sein Telegramm mit der Bitte, instand
gesetzt zu werden, auf die allerhöchsten Eröffnungen in geeigneter
Weise zu antworten; auf Befehl des Zaren wurde ihm sofort telegra-
phisch aufgetragen, dessen Dank, Befriedigung und Bereitwilligkeit,
die Verhandlung zum Abschluß zu bringen, auszusprechen.
V. S c h w e i n i t z
21
Nr. 1374
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt von Holstein
Eigenhändig
Berlin, den 20. Mai 1890
In dem geheimen russisch-deutschen Vertrage nebst Zusatzprotokoll*
übernehmen wir Verpflichtungen zur Unterstützung von Rußland ^
1. Hinsichtlich der russischen Rechte auf Bulgarien;
2. Hinsichtlich des Verschlusses der Meerengen.
Jede dieser Verpflichtungen ist einmal im Vertrage, einmal im
Zusatzprotokoll erwähnt.
General von Schweinitz schreibt jetzt, der Passus wegen Bul-
garien solle aus Vertrag und Zusatzprotokoll, der Passus wegen Ver-
schlusses der Meerengen aus dem Zusatzprotokoll ausgemerzt werden.
Der auf Verschluß der Meerengen bezügliche Passus des Ver-
trages würde also in Kraft bleiben.. Danach sind wir verpflichtet, in
Konstantinopel auf fortdauernden Schluß der Meerengen hinzuwirken.
Schon während der russisch-afghanischen Verwickelung 1885 haben
wir in diesem Sinne in Konstantinopel gewirkt** und wesentlich dadurch
den englisch-russischen Krieg verhindert, der sehr nahe war. Durch
die SchHeßung der Meerengen wurde Rußland für England unver-
wundbar.
Wenn wir die Meerengenklausel jetzt verlängern, so muten wir
den Russen zu, eine Tatsache geheimzuhalten, die, wenn vertrau-
lich den Engländern mitgeteilt, den Keil des Mißtrauens zwischen
England und Deutschland schieben, dagegen aber Moriers*** Gedanken
einer englisch-russischen Verständigung der Verwirklichung näher
bringen würde. Nach Moriers Plan soll England sich von der Balkan-
halbinsel desinteressieren, wenn Rußland verspricht, sich Indien nicht
mehr zu nähern.
Abgesehen von der Meerengenklausel würde die bloße Tatsache,
daß zwischen uns und Rußland ein geheimer Vertrag besteht, zerstörend
auf unsre Vertragsbeziehungen zu Österreich, Rumänien und Italien
wirken f. Insbesondere hat Italien nach dem Wortlaute des deutsch-
italienischen Vertrages ausdrücklich das Recht, von uns unterrichtet
zu werden sur nos propres dispositions ainsi que sur Celles d'autres
puissances in allen Fragen, die sich auf das Ägäische Meer, auf otto-
manische Küsten und Inseln beziehen.
Alles aber, was Mißtrauen gegen Deutschlands Politik erwecken
kann, würde im gegenwärtigen Augenblick besonders wirksam sein,
da manche neuerdings bekannt gewordenen Äußerungen des Fürsten
* Siehe den Text in Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1092.
*♦ Vgl. Bd. IV, Kap. XXII, Nr. 764, 765.
*** Englischer Botschafter in Petersburg,
t Vgl. S. 6 f., Fußnote.
22
Bismarck schon an sich geeignet sind, unsre Verbündeten unsicher zu
machen. Es wird genügen, hier an den Ausspruch des Fürsten gegen-
über dem Korrespondenten der „Nowoje Wremja" zu erinnern, daß die
Zuicunft dem russisch-deutschen Bunde gehören dürfte*.
Diese ungünstige Zeitlage bietet uns einen plausiblen Qrund zur
Ablehnung bezw. dilatorischen Behandlung des russischen Ansinnens.
Wir können den Russen erwidern, daß die neue Regierung sich öffent-
lich für die Kontinuität der deutschen auswärtigen Politik ausgesprochen
habe, daß sie daher vor der Welt nicht ganz außer Verbindung zu
stehen scheine mit den Grundsätzen, welche Fürst Bismarck als die-
jenigen der bisherigen deutschen Politik bezeichne. Es sei deshalb
für uns nötig, eine Klärung der öffentlichen Meinung abzuwarten.
Außerdem seien die Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel, soviel hier
bekannt, nicht solche, die zu schneller Entscheidung drängen.
Dabei dürfte schon jetzt mit Nutzen die Andeutung zu machen
sein, daß Abmachungen unverfänglicher Art das Tageslicht nicht würden
zu scheuen haben; daß andrerseits eine Abmachung mit Rußland seiner-
zeit nur als öffentlicher Akt für uns denkbar sein würde, damit
unsre Verbündeten sich überzeugen könnten, daß weder wir noch Ruß-
land vertragsmäßige Rechte zu verkürzen beabsichtigten.
Herrn von Schweinitz wird man zu persönlicher Information und
zur Regelung seiner Sprache auch noch mitteilen können, daß die
Geheimhaltung uns durch den Wortlaut des deutsch-italienischen Ver-
trages direkt verboten ist. Holstein
Randbemerkung von Caprivis:
^ Auch Neutralität in einem russisch-englischen Kriege, v. C.
Nr. 1375
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 20. Mai 1890
Zu dem Promemoria des Herrn von Holstein**.
Ich bin mit dem anliegenden Promemoria vollkommen einver-
standen. Die Gründe, welche gegen die Verlängerung des am 18. Juni
* Nach dem in den „Hamburger Nachrichten" vcm 23. und 21. Mai veröffent-
lichten authentischen Wortlaut des Interviews hätte Fürst Bismarck zu dem
Korrespondenten der „Nowoje Wremja" Lvvovv nur gesagt: „Sie finden, daß
nur Rußland und Deutschland eine Zukunft haben, darin liegt viel Wahres:
wenigstens war das auch mein steter Gedanke bis zum Schlüsse des Berliner
Kongresses; aber dann begriff ich, daß es für Sie und uns schwer ist, in
dieser Hinsicht zusammenzugehen, denn Sie fingen an, uns zu behandeln wie
wirkliche Prussaken, wie ein Ungeziefer, und das diente zur Schädigung unserer
Beziehungen." Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung Bd. 1, S. 38.
** Siehe Nr. 1374.
23
ablaufenden deutsch-russischen Vertrages sprechen, treffen in der Haupt-
sache auch bezüglich des neuerlichen russischen Vertragsangebotes
zu. Daß sich Rußland bereit erklärt, einige Punkte aus dem bisherigen
Vertrage zu beseitigen, die geeignet sind, ihres materiellen Inhalts
wegen uns gegenüber unsern Verbündeten zu kompromittieren, er-
scheint mir irrelevant — der entscheidende Punkt bleibt der, daß wir
durch jede geheime Abmachung mit Rußland dem letzteren eine
Waffe in die Hand geben, um in wirksamer Weise bei unseren Ver-
bündeten Mißtrauen gegen uns zu erwecken, während Rußland aus
der bloßen Existenz einer Abmachung, die wir gegenüber unseren
Verbündeten geheimzuhalten uns verpflichten, die Zuversicht schöpfen
wird, daß der Dreibund nicht das Maß innerer Festigkeit besitzt,
um eventuell einheitlich in Aktion zu treten.
Als plausibelster Ablehnungsgrund des russischen Vorschlags bietet
sich der, daß bei den an den verschiedensten Stellen hervortretenden
Versuchen, gegen die auswärtige Politik Seiner Majestät Mißtrauen zu
erwecken, die letztere, zumal angesichts des eingetretenen Personen-
wechsels und der dadurch bedingten Erregung, mehr als je darauf
angewiesen ist, durch eine offene, klare Politik das Vertrauen in die
Kontinuität der bisherigen friedliebenden Tendenzen zu befestigen,
und Deutschland daher außerstande ist, zurzeit auf geheime Ab-
machungen einzugehen, die, auch wenn sie sich inhalthch mit den
bestehenden Verträgen decken, doch geeignet sind, eben wegen ihrer
Geheimhaltung die deutsche PoUtik in ein verfängliches Licht zu stellen.
Marschall
Nr. 1376
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Kiderlen
Eigenhändig
Berlin, den 20. Mai 18Q0
Die Wichtigkeit, welche sowohl russischer- als englischerseits der
Wasserstraße zwischen Schwarzem und Ägäischem Meer beigelegt wird,
und die Verschiedenheit der Interessen, die Rußland einer- und Eng-
land andrerseits an der Schließung resp. Öffnung der sogenannten
„Meerengen" haben, tritt deutlich hervor in den Erklärungen, welche
die Vertreter der beiden Staaten während des Berliner Kongresses ab-
gegeben haben*.
Lord Salisbury gab in der 18. Sitzung folgende Erklärung zu Pro-
tokoll:
• Vgl. Bd. M, S. 334, Fußnote.
24
„Considerant que le Traite de Berlin changera une partie im-
portante des arrangements sanctionnes par le Traite de Paris de 1856,
et que l'interpretation de l'article 2 du Traite de Londres qui depend du
Traite de Paris peut ainsi etre sujet ä des contestations,
Je declare de la part de TAngleterre que les obligations de Sa
Majeste Britannique concernant la clöture des Detroits se bornent ä
un engagement envers le Sultan de respecter ä cet egard les determi-
nations independantes de Sa Majeste, conformes ä Tesprit des Traites
existants."
In der darauffolgenden 19. Sitzung erklärte Graf Schuwalow:
„Les Plenipotentiaires de Russie, sans pouvoir se rendre exacte-
ment compte de la proposition de M. le Second Plenipotentiaire de la
Grande Bretagne concernant la clöture des detroits, se bornent ä
demander de leur cöte l'insertion au Protocole de Pobservation : qu'ä
leur avis, le principe de la clöture des detroits est un principe europeen,
et que les stipulations conclues ä cet egard en 1841, 1856 et 1871, con-
firmees actuellement par le Traite de Berlin, sont obligatoires de la
part de toutes les Puissances, conformement ä l'esprit et ä la 'ettre
des Traites existants, non seulement vis-ä-vis du Sultan, mais encore
vis-ä-vis de toutes les Puissances signataires de ces transactions."
Die Verschiedenheit dieser Anschauungen erhielt praktischen Aus-
druck, als im April und Mai 1885 ein englisch-russischer Krieg wegen
Afghanistans auszubrechen drohte. Englands ganzes Bestreben war
darauf gerichtet, freie Durchfahrt durch die Dardanellen zu erhalten.
Zunächst suchten die englischen Staatsmänner zu diesem Zweck ein
Bündnis mit der Türkei zu schließen — allerdings erfolglos. Welchen
Wert man englischerseits auf die Durchfahrt legte, beweist, daß man
als Preis dafür bereit war, der Türkei Besetzung Ägyptens und des Suez-
kanals, freie Hand in Bulgarien und 25 Millionen Pfund Sterling zu
bewilligen. Andrerseits drohte man dem Sultan mit völliger Los-
trennung Ägyptens. Als dann Neutralität der Türkei wahrscheinlich
wurde, bestritt man englischerseits die Theorie der andern Mächte,
daß Neutralität der Türkei die Pflicht der Schließung der Meerengen
auferlege. Dies biete den Russen einen solchen Vorteil, daß man die
Neutralität nur dahin auslegen könne, daß die Meerengen beiden Krieg-
führenden gleichmäßig geöffnet sein müßten. Diese Ansicht vertrat
anfänglich auch Italien, welches dieselbe nur auf energischen Druck
aus Berlin, dem sich dann Österreich anschloß, fallen ließ.
Die Mächte schlössen sich damals der russischen Auffassung an,
türkische Neutralität bedinge Schließung der Meerengen, Dies ist aber
ausdrücklich als Begünstigung Rußlands anerkannt.
Auf Grund des geheimen Vertrags zu Dreien von 1881, erneuert
1884, Artikel 3 Alinea 3* wirkten Deutschland und Österreich, denen
* Siehe Bd. III, Nr. 532 und Nr. 630.
25
sich später Frankreich und Itahen anschlössen, in Konstantinopel auf
Neutralitätserklärung und Schließung der Dardanellen. Dies wurde er-
reicht und damit den Russen die Basis aller transkaspischen Opera-
tionen, gegen Herat etc., der Kaukasus in Rücken und Flanke gedeckt.
Der Friede blieb erhalten, England trat den diplomatischen Rückzug an.
Sowohl Herr von Giers gegenüber Herrn von Schweinitz als Fürst
Lobanow gegenüber Graf Kälnoky erkannten ausdrücklich an, daß
durch die von Deutschland und Österreich durchgesetzte Schließung
der Meerengen das russische Interesse vollständig gedeckt ge-
wesen, und der Friede zugunsten des diplomatisch obsiegenden Ruß-
lands erhalten worden sei. Rußland erreichte damals also
durch den Vertrag zu Dreien alles das, was es jetzt von
uns allein, hinter dem Rücken unserer Verbündeten
verlangt.
Deutschland und Österreich waren dabei so weit gegangen, Ruß-
land sogar eine „tätliche Pression" auf den Sultan wegen Neu-
tralität, Schließung und eventueller Verteidigung der Meerengen in
Aussicht zu stellen.
Wie Rußland, das nur Schließung der „Meerengen"
wünschte und eine Befestigung der Dardanellen ganz natürlich
fand, die Sache eigentlich auffaßte, geht daraus hervor, daß es sich
am 18. Mai 1885 in Wien darüber beschwert, daß die Türken bei der
Gelegenheit auch den Bosporus befestigt hätten! Und dabei hatte
Kaiser Alexander II. nach Behauptung des Grafen Andrässy seiner-
zeit diesem ausdrücklich erklärt, Rußland denke nicht daran, die Meer-
engen zu nehmen.
Die Schließung der Meerengen hat noch eine weitere Bedeutung.
Rußland erklärte wiederholt, eine Öffnung der Meerengen für fremde
Flotten käme einer türkischen Kriegserklärung an Rußland gleich. Er-
kennen wir die Pflicht zur Schließung an, müssen wir also auch die
zweite Konsequenz ziehen und Öffnung der Meerengen als türkische
Kriegserklärung an Rußland ansehen und damit diesem das Recht zu-
erkennen, an jedem der Oberhoheit des Sultans unterworfenen Punkte,
also auch in Bulgarien, als der angegriffene Teil einzurücken.
Als wir uns dazu herbeiließen, in Konstantinopel auf Schließung
der Meerengen im Fall eines englisch-russischen Kriegs hinzuwirken,
geschah dies eingestandenermaßen für Rußland, gegen Eng-
land. Dies geht klar daraus hervor, daß der Gedanke, den Sultan
auch zur Befestigung der Dardanellen aufzufordern, als zu „weit-
gehende Maßregel" wenigstens amtlich abgelehnt wurde. Esgeschah
unter der Hand, „wir dürfen damit aber wegen Englands nicht
hervortreten". Der Vorschlag, in London und Petersburg die Aner-
kennung der Unverletzlichkeit der Meerengen als ein Vertragsrecht
zu fordern, wurde als ein „Schachzug gegen England" bis nach fak-
tischem Ausbruch des Kriegs zurückgestellt. Ebenso wurde der tür-
26
kische Wunsch einer Bewachung der Eingänge zu den Meerengen
durch neutrale Schiffe behandelt.
Noch kürzlich hat Lord Salisbury unserer damaligen Haltung Graf
Hatzfeldt gegenüber erwähnt*. Lord Salisbury sagte dabei: ,,Zu den
gegen uns gerichteten Befestigungen an den Dardanellen hat sich der
Sultan seinerzeit durch Ratschläge aus Berlin bestimmen lassen. Das
ist aber der wichtigste Punkt für die Entwicklung der Dinge. VC^oilen
Sie unserem gemeinschaftUchen Interesse einem russischen Vorgehen
gegenüber ernstHch nützen, so würde dies dadurch geschehen, daß Sie
jene Ratschläge rückgängig machen und nach Möglichkeit dafür sorgen,
daß wir eventuell die Tür nicht verschlossen finden."
Das beweist klar, wie in London eine russische Indiskretion über
eine vertragsmäßige deutsche Garantie der Unverletzlichkeit der Meer-
engen wirken würde.
Was Italien betrifft, so ist einmal daran zu erinnern, daß dieses
schon 85 den englischen Standpunkt vertrat und sich unserem nur
widerwillig anschloß, sodann hervorzuheben, daß wir dasselbe stets
auf England in allen Mittelmeerfragen verwiesen haben, und daß infolge-
dessen eine italienische Lieblingsidee für den Fall eines russischen Vor-
gehens im Orient eine gemeinschaftliche englisch-italienisch-österrei-
chische Flottendemonstration gegen die Dardanellen ist, der wir dann
vertragsmäßig feindUch gegenüberstehen müßten.
Kiderlen
Nr. 1377
Auf Zeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
Raschdau**
Eigenhändig
Berlin, den 20. Mai 1890
Fürst Bismarck hat gelegenthch den Ausspruch getan, man müsse
bei jedem internationalen Vertrage zunächst fragen „qui trompe-t-on
ici?" Der Satz gilt von dem vorliegenden Vertrage in erhöhtem Maße,
und in erhöhtem Maße Hegt auch die Schwierigkeit auf beiden Seiten
vor, ihn in eventu zu erfüllen. Rußland hat nur das eine versprochen,
sich im Falle eines französischen Angriffs auf uns neutral zu ver-
halten und den Konflikt zu lokalisieren. Niemand (nach gelegent-
lichen Anmerkungen auch Fürst Bismarck nicht), wird bezweifeln, daß,
selbst wenn wir die dergestalt Angegriffenen wären und Frankreich
im Kampfe in eine schwierige Lage käme, der russische Kaiser außer-
stande wäre, eine neutralite bienveillante zu beobachten. Außerdem aber
ist nichts leichter, als den Begriff attaque in behebiger Weise zu kon-
* Siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 20Q6.
** Vgl. dazu L. Raschdau, Das Ende der deutsch-russischen Rückversicherung in
„Der Tag", Ausgabe B (rot), vom 17. Oktober 1920.
27
struieren. Wenn ein französischer General ä la Boulanger die deutsche
Grenze so bedroht, daß wir losschlagen müssen, so fällt der einzige
Vorteil, den uns der Vertrag gewährt, nach aller Voraussicht überhaupt
fort. Alle übrigen Bestimmungen des Vertrages und Annexes aber sind
Konzessionen von unserer Seite, für die uns keinerlei Entgelt gewährt
wird. Das sehen heute die Russen selbst ein und verzichten darum aus
freien Stücken auf verschiedene Zugeständnisse. Bei der Natur des
Kaisers Alexander und der Zaghaftigkeit des Herrn von Giers ist
nicht ausgeschlossen, daß der Zweck der neusten Demarche
(Erneuerung jenes Vertrages) ein friedlicher ist. Vielleicht besorgt man
an der Newa, daß mit dem Erlöschen des 1887er Vertrages die Er-
eignisse ins Rollen kommen können, und man wünscht dies an höchster
Stelle nicht oder wenigstens jetzt nicht. Neben dieser Möglichkeit
aber steht die andere, daß ein solcher geheimer Vertrag ausgebeutet
wird, um Mißtrauen bei den uns alliierten Mächten zu säen und damit
den Hebel an die verhaßte Tripelallianz zu setzen. Bis jetzt liegt uns
meines Wissens kein Anzeichen vor, daß die Existenz des Vertrages von
Rußland nach außen hin ausgebeutet worden sei. Wir wissen nur, daß
seinerzeit Fürst Lobanow von der Tatsache (nicht von dem Inhalt) des
Vertrages Kenntnis erhalten habe. Heute könnten uns die Russen schwer-
lich damit kompromittieren, da der jetzige verantwortliche Leiter der
auswärtigen Politik des Reichs dann mit der Erklärung an die Öffent-
lichkeit treten könnte, dieser Teil der Erbschaft sei nur für eine kurz
bemessene Zeit übernommen. Vielleicht könnte es aber deshalb den
Russen darum zu tun sein, von uns jetzt ein neues ähnliches Schrift-
stück zu erhalten. Man mag nun die eine oder andere der beiden ge-
schilderten Möglichkeiten annehmen, so werden wir einiges gewinnen
und nichts verlieren, wenn wir die russische Anregung nicht ohne
weiteres abweisen, sondern mit einem gewissen platonischen Entgegen-
kommen ihre Anerbietungen anhören. Wir werden ihnen zunächst —
der Tatsache entsprechend — sagen können, daß der Vertrag ein
„leoninischer" sei, bei dem fast der gesamte Vorteil auf russischer
Seite liege selbst dann noch, wenn die additioneilen Bestimmungen
In Fortfall kämen. Wir werden weiter zu dem Artikel II des Hauptver-
trages (in dem übrigens Herr von Giers die Worte influence prepon-
dcrante et dccisive opfern will), bemerken können, daß wir vielleicht
zustimmen könnten ä n'admettre aucune modification du statu quo
territorial de la Peninsule, daß wir aber bei unserer Interesselosigkeit
uns nicht verpflichten könnten ä nous opposer ä toute tentative pp.,
wenn damit eine kriegerische Mitwirkung gemeint sein solle. Diese
und verschiedene andere einwendende Bemerkungen könnten münd-
lich zu dem Texte gemacht und schließlich die Erklärung abgegeben
werden, Rußland wisse, daß wir mit europäischen Mächten in ge-
wissen vertragsmäßigen Beziehungen ständen, insonderheit sei unser
Vertrag mit Österreich amtlich der russischen Regierung mitgeteilt. Wir
28
würden, um bei den übrigen befreundeten Staaten über die friedliche
Tragweite des Vertrages keine Mißdeutungen aufkommen zu lassen,
denselben Mitteilung von dem Vertrage machen. Ja, wir hielten es
für in hohem Maße erwünscht, wenn der modifizierte Vertrag zur
öffentlichen Kenntnis käme, da es sehr wesentlich zur Beruhigung
und Friedenssicherheit beitragen würde, wen-n ersichtlich würde, daß
Angriffskriege von beiden Staaten nicht geduldet würden.
Auf diese Vorschläge wird sich aber Rußland nicht einlassen, und
damit die Erneuerung des in seinem Gesamtinhalt mit unseren übrigen
Verträgen nicht in Einklang zu bringenden Abkommens aussichtslos.
Mit jenem Wege würden sich auch die Erklärungen Seiner Maje-
stät zu Graf Schuwalow insofern vereinbaren lassen, als eine prin-
zipielle Abneigung zum VertragsscWuß bei uns zunächst nicht her-
vortritt.
Raschdau
Nr. 1378
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 23. Mai 1890
Seine Majestät haben im heutigen Immediatvortrag zu genehmigen
geruht, daß die in anliegender Skizze* enthaltenen Gesichtspunkte un-
serem diplomatischen Verkehr mit Rußland zugrunde gelegt werden.
Auch wollen allerhöchstdieselben, daß die russischen Anerbietungen
nicht dilatorisch, sondern so behandelt werden, daß sie als definitiv
erledigt anzusehen sind. Es soll in der Antwort an General von
Schweinitz auf die Unmöglichkeit, unserer öffentlichen Meinung gegen-
über ein kompliziertes Bündnissystem auch nach dem Ausscheiden
des Fürsten Bisniarck aufrechtzuerhalten, hingewiesen werden. Se-
krete Bündnisse aber abzuschließen, verbiete sich jetzt um so mehr,
als das Verhalten des früheren Reichskanzlers ohnehin Indiskretionen
erleichtere, Unsicherheit und Mißverständnisse fördere. Unsere Poli-
tik aber könne und solle nur eine einfache sein.
Seine Majestät wünschten, daß Herrn von Schweinitz gegenüber
auf die Worte hingewiesen würde, die Herr von Giers bei Erlöschen
der Entente ä trois 1887 gebraucht habe**; die Lage sei für uns eine
ähnliche.
Auf die Frage, was ich Seiner Majestät zu sagen riete, wenn man in
Rußland auf die Zusagen zurückkomme, die er bei seiner Anwesenheit
in Rußland als Prinz Wilhelm im Auftrage seines Herrn Großvaters
und auf Anraten des Fürsten Bisniarck bezüghch der Rußland der
Siehe Nr. 1379.
* Siehe Bd. V, Nr. 1073.
29
Türkei gegenüber zu lassenden freien Hand gemacht habe*, habe ich
erwidert, ich wäre der Ansicht, daß zu sagen sei, wir selbst wären am
Marmarameer gar nicht interessiert, wir seien erbötig, auch dort auf
Erhaltung des Friedens — auch Österreich gegenüber — hinzuwirken,
könnten aber Rußland nur raten, sich an Österreich direkt zu wenden
und mit dem zu verständigen.
Die obenerwähnte anliegende Skizze, sowie den Bericht des Herrn
von Schweinitz vom 15. Mai** und den Privatbrief an mich vom 16. Mai
nebst der Aufzeichnung vom 14. Mai*** habe ich Seiner Majestät in
extenso vorgelesen, was ich Herrn von Schweinitz ausdrücklich zu
sagen bitte, ehe die allerhöchste Entscheidung bezüglich der in der
Skizze niedergelegten Gesichtspunkte erfolgt.
Ich bitte nun, die Skizze, soweit es rätlich scheint, ihrem Inhalt
nach nicht bloß an Herrn von Schweinitz, sondern auch an üraf
Hatzfeldt, Prinz Reuß, Graf Solms und Herrn von Radowitz mitzu-
teilen f. Nach Bukarest wird wenigstens zu sagen sein, daß wir Wert
auf dessen Haltung legten und nach wie vor auf dem Boden des
Bündnisses stünden.
Seine Majestät haben im heutigen Vortrage auf das bestimmteste
ausgesprochen, daß allerhöchstdieselben sich zu keiner mündlichen
oder schriftlichen von den Grundzügen der Skizze abweichenden Äuße-
rung gegen den Zaren würde bestimmen lassen.
V. C a p r i v i
Nr. 1379
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 22. Mai 1890
Dreimal, seit Herr von Schweinitz mit der ablehnenden Antwort von
hier nach Petersburg zurückgekehrt ist, hat er über Versuche des
Herrn von Giers, auf die Erneuerung eines Vertrages mit Rußland hin-
zuwirken, berichtet: unter dem 3. April, I.Mai und 15. Maiff. Die Art
wechselte, gemeinsam bleibt aber den drei Versuchen: Italien wird
nicht berücksichtigt. Dies und das Verhalten Rußlands auf der Brüs-
* Siehe Bd. III, Kap. XIX, Nr. 631-634.
** Siehe Nr. 1372.
♦** Siehe Nr. 1373 nebst Anlage.
t Die Mitteilung erfolgte durch Erlaß nach Petersburg Nr. 227 vom 29. Mai,
der wieder den Botschaftern in Wien, London, Rom und Konstantinopel nebst
Schweinitz' Bericht vom 15. Mai (siehe Nr. 1372) und einem anderweiten Erlaß an
diesen vom 29. Mai (siehe Nr. 1380) mitgeteilt wurde.
tt Siehe Nr. 1370, 137Z
30
seier Konferenz* rechtfertigt den Schluß: man will den Dreibund
sprengen und mit Italien auch England uns entfremden.
Wäre diese Folgerung falsch, wollte Rußland in der Tat nur den
Frieden, so bedürfte es eines Bündnisses nicht, denn eine Störung
des Friedens hätte die Welt zurzeit nur von Rußland zu erwarten; eine
„bulgarische Gefahr" liegt nicht vor, wenn Rußland nicht will.
Die für uns unverfänglichste der russischen Andeutungen wäre
die erneute Herstellung eines Bündnisses zu Dreien zwischen Rußland,
Österreich und Deutschland. Hat indes Rußland 1887 Motive gehabt,
darauf nicht einzugehen, so würden diese zurzeit latenten Motive um so
eher wieder hervortreten, als die Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel in-
zwischen den Gegensatz zwischen Rußland und Österreich mehr akzen-
tuiert haben. Deutschland geriete in die Gefahr, eines Tages zwischen
Rußland und Österreich wählen zu müssen. Entschieden wir uns dann
für Österreich, so hätten wir dieselben Verhältnisse wie heut, nur minus
Italien und guter Beziehungen zu England. Entschieden wir uns für
Rußland, so wären wir ihm auf Gnade und Ungnade ergeben, Frankreich
und Österreich stünden Rußland über lang oder kurz gegen uns zu
Diensten.
Die übrigen Andeutungen des Herrn von Giers laufen alle auf
geheime Abmachungen, sei es in Form eines Vertrages, Notenaus-
tausches oder Briefwechsels der Monarchen, hinaus. Solches Geheim-
nis aber legt eine Mine unter den jetzigen Dreibund, die Rußland alle
Tage zünden kann.
Aber auch abgesehen hiervon, können wir in bezug auf eine
Änderung der Verhältnisse in Bulgarien oder an den Meerengen keine,
selbst keine mündliche Zusage machen. Wir erkennen nach wie vor
die jetzigen Zustände in Bulgarien als illegal an, sehen aber anderer-
seits ein, daß sie tatsächlich besser geworden sind, als sich erwarten
ließ. Wir werden des persönlichen Interesses, welches der Kaiser von
Rußland an den bulgarischen Dingen nimmt, nicht uneingedenk sein,
ein eigenes Interesse, sie zu ändern, haben wir nicht, aber auf Öster-
reichs Interesse am Bestehenden müssen wir Rücksicht nehmen.
Ebensowenig haben wir an den Meerengen ein direktes Interesse
und noch weniger einen Grund, den Artikel III des geheimen Vertrages,
der uns nötigen könnte, England und Italien dort direkt gegenüber-
zutreten, wiederherzustellen. Diese beiden Mächte aber haben sehr
triftige Gründe, nicht zu wünschen, daß sich Rußland und Frank-
reich auf dem Mittelmeer die Hand reichen. Für uns würden dadurch
die französisch-russischen Beziehungen dauernd festere und ungünstigere
werden.
* Gemeint ist der seit Anfang Februar in Brüssel tagende Anti-Sklaverei-Kongreß,
auf dem Rußland eine Annäherung an England suchte.
31
Haben wir somit Iceinen Grund, welcher uns wünschen ließe,
den gegenwärtigen Zustand im Osten zu ändern, so folgt aus den wie-
derholten Versuchen Rußlands, daß dort das entgegengesetzte In-
teresse dringend geworden ist. Rußland fühlt sich isoliert, möchte
aber doch — vielleicht weil die Verhältnisse in Bulgarien sich für
russische Wünsche zu sehr konsolidieren — einen Schritt weiter auf
Konstantinopel hin tun. Die Verlegenheit für Rußland entsteht daraus,
daß es diesen Schritt nur über das Schwarze Meer fort tun kann.
Der Weg durch Armenien ist von der Natur überaus erschwert, der
durch Rumänien stößt auf dessen Bundesgenossen. Der Weg über
die See dagegen findet seine Gefahr in den Engländern. Deshalb vor
allem die Meerengen schHeßen — darauf geht der letzte Vorschlag
des Herrn von Giers.
Eine Annäherung Deutschlands an Rußland also würde unsere
Verbündeten uns entfremden, England schädigen und unserer eigenen
Bevölkerung, die sich in den Gedanken des Dreibundes immer mehr
eingelebt hat, unverständlich und unsympathisch sein.
Was gewönnen wir für diese Nachteile? Welchen Wert hätte es,
wenn Rußland, wie Herr von Schweinitz sagt, sich mindestens die
ersten Wochen nach einem Angriff der Franzosen auf uns ruhig ver-
hielte? Diese Ruhe würde nicht so vollständig sein, daß wir nicht
einen Teil unserer Armee an der russischen Grenze stehen lassen
müßten. Wir würden gegen Frankreich doch nicht mit unserer gan-
zen Kraft auftreten können, während auf der anderen Seite für Öster-
reich der casus foederis nicht vorläge.
Man kann aber weiter an der Frage nicht vorübergehen: was
sind denn Bündnisse heutzutage überhaupt wert, wenn sie nicht auf
Interessengemeinschaft gegründet sind? Seit die Nationen, ihre In-
teressen und Stimmungen, in einer so viel wesentlicheren Art als etwa
im siebenjährigen Kriege an Krieg und Frieden beteiligt sind, reduziert
sich der Wert einer Allianz von Regierung zu Regierung erheblich,
wenn das Bündnis nicht die Stütze in der öffentlichen Meinung findet.
Ob diese in Deutschland dahin zu bringen wäre, ihr Heil im unver-
brüchlichen Festhalten an Rußland zu suchen, ist sehr die Frage; daß
aber die öffentliche Meinung in Rußland uns nicht als gleichberech-
tigten Bundesgenossen akzeptieren würde, ist fraglos. Ob Herr von
Giers oder wer sonst die Geschäfte in Rußland leitet, keiner kann uns
die Sicherheit geben, daß unser Bündnis mit Rußland nicht im gegebenen
Augenblick durch den Druck der Massen gesprengt wird. Die un-
sicherste Art von Bündnissen sind aber diejenigen, nach welchen casus
foederis erst eintritt, wenn ein Teil angegriffen ist. Man kann einen
Gegner geflissentlich solange mit Nadelstichen reizen, bis er losschlägt;
liegt dann casus foederis vor? Rußland selbst hat früher durch die
öffentliche Meinung sowohl als durch den Mund des Fürsten Gor-
tschakow jeden Zweifel darüber beseitigt, daß es von Bündnissen wenig
32
hält. Aber, wie Herr von Schweinitz sich treffend ausdrückt: Rußland
sieht jetzt einen Zustand zu Ende gehn, welcher ihm Sicherheit ge-
währte, ohne ihm Opfer aufzuerlegen.
Was aber die Möglichkeit angeht, daß Rußland die Anlehnung,
die es bei uns nicht findet, anderswo suchen könnte, so kommen hier-
für nur Frankreich und England in Betracht. Für den Schritt, den
Rußland jetzt vorzuhaben scheint, und den es sichtlich tun möchte, ohne
einen allgemeinen Krieg herbeizuführen, ist die französische Allianz
ihm wertlos, solange die englische Mittelmeerflotte dazwischentreten
kann. Durch eine engUsche Allianz würde Rußland das, was es von uns
kostenfrei zu erhalten wünscht, nur durch Opfer an andern Stellen
(Asien?) gewinnen können und seine Beziehungen zu Frankreich
voraussichtlich lockern. Eine Allianz aber, die England und Frankreich
umschlösse, ist der englischen Interessen im Mittelmeer wegen durch-
aus unwahrscheinlich.
Wir haben unverändert den Wunsch, mit Rußland in guten Ver-
hältnissen zu leben, und wüßten nichts, was uns einen Anlaß geben
könnte, sie zu trüben. Aber wir müssen so weit Rücksicht auf unsere
Verbündeten nehmen, daß, wenn wir sie auch — sei es in Bulgarien
oder in Biserta — nicht unterstützen können und wollen, wir ihnen
doch mindestens dort keine Schwierigkeiten bereiten. Drängt uns aber
Rußland durch wiederholte Versuche einer intimeren Annäherung aus
dieser Stellung heraus, so würde das nur die Folge haben können,
daß wir diejenigen Bündnisse und Beziehungen, die uns schon jetzt
mit anderen Staaten verbinden, noch enger zu knüpfen suchen müßten.
V. Caprivi
Nr. 13S0
Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Petersburg
von Schweinitz
Reinkonzept
Nr. 22S Berlin, den 29. Mai 1890
Geheim [abgegangen am 31. Mai)
Euere pp. sind bei Ihrem letzten Aufenthalt in Berlin im März
d. Js. ausführlich über die Gründe informiert worden, die uns trotz
unseres aufrichtigen Wunsches, unsere guten Beziehungen zu Ruß-
land zu erhalten und zu pflegen, veranlaßt haben, von der Erneuerung
des am 18. Juni ablaufenden geheimen schriftlichen Abkommens Abstand
zu nehmen. Ebenso ist Euerer pp. bekannt, daß wir entschlossen
sind, auch ohne Erneuerung des schriftlichen Abkommens an der bis-
herigen Richtung unserer auswärtigen Politik sowohl im allgemeinen
als speziell Rußland gegenüber festzuhalten.
3 Die Große Politik. 7. Bd. 33
Die Gründe, die uns zwangen, das russische Anerbieten im März
abzulehnen, sind für uns maßgebend auch den neuen Eröffnungen
des Herrn von Oiers gegenüber, von denen mir Euere pp. in dem Be-
richt Nr. 148 vom 15. d. Mts.* Kenntnis gegeben haben.
Nachdem Euere pp. der Notwendigkeit nicht entgangen sind, noch-
mals die Frage der Vertragsverlängerung auf Grund erneuter dies-
seitiger Instruktionen mit Herrn von Giers zu besprechen, beehre ich
mich, Euere pp. zu ersuchen, die Giersschen Vorschläge unter Hinweis
auf Ihre früheren Unterredungen (cfr. Bericht Nr. 103 vom 3. v. Mts.**)
und unter Benutzung der Ihnen in Nachstehendem an die Hand ge-
gebenen Motivierung in freundschaftlicher Weise zu beantworten.
Als es sich 1887 um Erneuerung der Verständigung zu Dreien
handelte, ist die russische Ablehnung damit begründet worden, daß
Rußland seiner eigenen öffentlichen Meinung gegenüber einen Vertrag
nicht würde rechtfertigen können. Nach dem Bericht des Geschäfts-
trägers von Bülow Nr. 137 vom 14. April 1887*** sagte damals Herr
von Giers: „Ce n'est pas autant pour des raisons de politique
etrangere qu'il (der russische Kaiser) n'en a pas envie, que pour des
raisons de convenance. II craint decidement que signer ä present un
traite avec l'Autriche lui ferait trop de tort devant le peuple
russe et devant Thistoire si jamais la chose s'ebruitait."
Die Rücksichten, welche die autokratische russische Regierung da-
mals auf das „russische Volk" nehmen zu müssen geglaubt hat, kommen
jetzt für die KaiserUche Regierung zum mindesten in gleichem Maße
zur Geltung.
Wir würden nicht in der Lage sein, den verschiedenen Faktoren
unserer öffentlichen Meinung Verständnis für ein so kompliziertes
Vertragssystem beizubringen, wie es durch den bisherigen Vertrag
mit Rußland neben unseren sonstigen bekannten Bündnisver-
trägen geschaffen worden ist. Das Prestige, das Fürst Bismarck in
bezug auf auswärtige Politik sowohl im eigenen Lande als auch
bei allen fremden Mächten hatte, würde es i h m vielleicht ermöglicht
haben, die Vereinbarkeit der verschiedenen von uns eingegangenen Ver-
bindlichkeiten der öffentlichen Meinung in Europa plausibel zu i'nachen.
Nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck kann mit dieser Mög-
lichkeit nicht weiter gerechnet werden. Daß Herr von Giers einzelne
Teile des Vertrags und das Zusatzprotokoll fallen lassen will, er-
scheint irrelevant; die bloße Tatsache, daß zwischen uns und Rußland
ein Vertrag besteht, den wir gegenüber unseren Verbündeten geheim-
zuhalten uns verjiflichten, würde unser Bündnisverhältnis zu Österreich-
Ungarn und Italien lockern, das Vertrauen in die Festigkeit und Ein-
heit des Dreibundes erschüttern und damit die friedliche Tendenz kom-
♦ Siehe Nr. 1372.
** Siehe Nr. 1370.
**♦ Irrtümlich für Nr. 147 vom 25. April 1887, siehe Bd. V, Kap. XXXIV, Nr. 1073.
34
promittieren, welche wir in Übereinstimmung mit der russischen Re-
gierung verfolgen.
Der Abschluß eines geheimen Vertrages verbietet sich aber
für uns gerade in diesem Augenblick um so mehr, als unsere Gegner
eifriger denn je am Werke sind, Mißtrauen gegen die deutsche Politik
zu erwecken, und gleichzeitig der frühere Reichskanzler eine Haltung
einnimmt, die geeignet erscheint, Indiskretionen zu erleichtern, die öf-
fentliche Meinung zu verwirren und bei unseren Verbündeten Mißver-
ständnisse über die Ziele der gegenwärtigen Regierung her\'orzurufen.
Die Mitteilungen, welche in Friedrichsruh an Zeitungskorrespondenten
von notorisch deutschfeindlicher Gesinnung gemacht wurden, haben
begreiflicherweise die allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Es wird ge-
nügen, an die Unterredung mit dem Reporter der „Nowoje Wremja"
und den Ausspruch des Fürsten Bismarck zu erinnern, die Zukunft ge-
höre dem russisch-deutschen Bündnis*. Solchen Bestrebungen
und Vorgängen gegenüber muß die deutsche Politik eine einfache,
durchsichtige sein, wenn anders verhindert werden soll, daß Un-
ruhe und Unsicherheit entstehen, und damit eine Gefährdung des Frie-
dens eintrete.
Ich hätte annehmen zu dürfen geglaubt, daß Herr von Giers
auf die Frage der Vertragserneuerung nicht zurückkommen würde nach
dem, was Ew. in dem Bericht Nr. 103** über die Ansichten des
Kaisers Alexander in dieser Beziehung gemeldet haben. Wenn Ew.
in jenem Bericht sagen: „Des eigenen ehrlichen Willens fest be-
wußt und endlich ohne Mißtrauen gegen uns, fühlt dieser Monarch
kein Bedürfnis nach schriftlichen Abmachungen", so gilt dies in gleicher
Weise Punkt für Punkt auch von uns. Wir halten an der Überzeugung
fest, daß Rußland — wenigstens unter seinem jetzigen Kaiser, und so-
lange Herr von Giers die Geschäfte leitet — mit uns in Frieden und
Freundschaft leben will, nehmen aber für uns selbst das gleiche Zutrauen
in Anspruch. Auf dem Boden dieser beiderseitigen Überzeugung werden
die gemeinsamen friedlichen Zwecke auch ohne Austausch von Schrift-
stücken sicherer gefördert werden als mit geheimen schriftlichen Ab-
machungen, deren eventuelles Bekanntwerden („si la chose s'ebruitait")
zum mindesten Verwirrung anrichten würde.
Herr von Giers hat Ihnen nach Inhalt des soeben angezogenen
Berichts gesagt, er seinerseits habe „gute Gründe", den Vertrag zu wün-
schen, und hat damit nach Euerer pp. Ansicht andeuten wollen, daß er
gern seinen eventuellen Nachfolger binden würde. Demgegenüber
können Euere pp. Herrn von Giers an die Worte erinnern, die Ihnen Fürst
Gortschakow im Jahre 1876 erwiderte, als Sie ihn wegen einer russischen
Garantie gewisser deutscher Gebietsteile als Gegenleistung für unsere
* Vgl. S. 23, Fußnote
** Siehe Nr. 1370.
35
Unterstützung in orientalischen Fragen sondierten: „Dies würde Ihnen
wenig nützen; in unserer Zeit haben Traktate einen sehr geringen
Wert" (cf. Bericht Nr. 1 d.d. Jalta, den I.November 1876)*.
Dies halte auch ich, wenn auch vielleicht nicht ganz in dem von
Fürst Gortschakow gemeinten Sinne, für richtig. Seit die Nationen
mit ihren Interessen und Stimmungen auf die Entscheidung über Krieg
und Frieden einen so viel wesentlicheren Einfluß ausüben als etwa im
siebenjährigen Kriege, reduziert sich der Wert einer Allianz von Regierung
zu Regierung bedeutend, sobald sie nicht von der öffentlichen .Meinung
getragen wird. Es wäre fraglich, ob Rußland eintretendenfalls, wenn wir
in Krieg mit Frankreich kämen, dem Strom seiner öffentlichen Meinung
gegenüber imstande oder unter einem neuen Leiter seiner äußern
Politik willens wäre, den Bestimmungen des Artikels I des Vertrages
die wohlwollende Auslegung zu geben, deren wir bedürfen, um aus
diesem einzigen Paragraphen, in dem auch von Deutschlands Interessen
die Rede ist, Vorteil zu ziehen.
Daß übrigens auch russischerseits für den Wert des Vertrags nicht
als gleichgültig angesehen wird, wer an der Spitze der Geschäfte des
einen der Kontrahenten steht, beweist die anfängliche russische Wei-
gerung, mit einem andern Reichskanzler als Fürst Bismarck zu ver-
handeln.
Hinsichtlich der übrigen Bestimmungen des Vertrages, die nur
Rußland und seiner Stellung im Orient zugute kommen, können Euere pp.
Herrn von Giers darauf hinweisen, daß die Zustände auf der Balkan-
halbinsel zurzeit, soviel hier bekannt, nicht solche sind, welche zu
schneller Entscheidung drängen.
Ich nehme an, daß Euere pp, in der Lage sein werden, an der
Hand der vorstehenden Ausführungen die jüngsten Offerten des russi-
schen Ministers höflich und freundschaftlich, aber definitiv abzulehnen,
ohne daß auf russischer Seite eine Verstimmung zurückbleibt.
V. Caprivi
Nr. 1381
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Staats-
sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Eigenhändiger Privatbrief
Geheim Wien, den 4. Juni 18Q0
Euerer Exzellenz darf ich meinen ganz gehorsamsten Dank für die
hochinteressante Mitteilung der Korrespondenz mit General von Schwei-
* Siehe Bd. II, Nr. 252.
36
nitz über die russischen Versuche, wietier ein geheimes Vertrags-
verhältnis mit uns anzuknüpfen, aussprechen.
Euere Exzellenz haben mich nicht um meine Ansicht befragt, ich
bitte daher, mir zu verzeihen, wenn ich mich trotzdem nicht enthalten
kann, meine rückhaltlose Zustimmung zu den politischen Grundsätzen
auszusprechen, welche in den an den Botschafter gerichteten Erlassen
vom 29. V. Mts.* in so klarer und bestimmter Weise ausgesprochen sind.
Für einen unsicheren halben Verbündeten, den wir in höflicher
Weise abgewiesen haben, gewinnen wir die Sicherheit, daß unsere alten
Verbündeten nur um so fester an uns halten werden.
Ich habe in den letzten Jahren, als eine vage Vermutung des ge-
heimen Abkommens von 1887 in mir auftauchte, mehreremals an geeig-
neter Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß meiner Überzeugung
nach wir uns Österreich dauernd entfremden würden, wenn hier das
kleinste Mißtrauen in unsere Zuverlässigkeit sich eindrängen sollte.
Fürst Bismarck hielt wenig von der Bundestüchtigkeit Österreichs
und sah in diesem Bündnis nicht das Äquivalent für die Gefahren,
denen wir, zwischen Rußland und Frankreich eingeklemmt, ausgesetzt
sein könnten.
Es wäre verblendet, wollte man behaupten, daß die Macht und
Tatkraft Österreichs an und für sich das Ideal dessen erreichte, was wir
von einem Bundesgenossen erwarten können. Durch unsere Ratschläge
und durch unser Drängen ist aber Österreich in den letzten drei Jahren
militärisch unzweifelhaft vorwärts gegangen. Was mir indessen wich-
tiger als die vollendete miHtärische Tüchtigkeit erscheinen will, das ist
die Zuverlässigkeit und der redliche Wille unseres Alliierten, Bundes-
treue zu halten, mag dieselbe nun in der harten Notwendigkeit ihren
Grund haben oder nicht. Die besten Bündnisse sind die, welche auf dem
Fundament des wohlverstandenen Interesses aufgebaut sind.
Ohne daß wir hier erzählen, was zwischen uns und Rußland vor-
gegangen ist, wird man schon durchfühlen, daß Österreich, wenn es
angegriffen wird, noch weit rückhaltloser auf uns zählen kann als
früher; und die Folge davon wird naturgemäß sein, daß nicht nur die
Freundschaft fester geknüpft sein wird, sondern auch daß man hier sich
mehr als zuvor hüten wird, den zuverlässigen Freund in Verlegenheiten
zu setzen. Denn daß man hier sehr wohl zu würdigen weiß, daß wir
österreichischer Balkaninteressen wegen nicht in einen Krieg verwickelt
werden wollen, ist zweifellos.
Soweit dies mit dem diskreten Charakter der ganzen Sache ver-
einbar ist, werde ich die in den Erlassen nach Petersburg entwickelten
allgemeinen politischen Gesichtspunkte hier vertraulich venverten.
H. VII. P. Reuß
SlehR Nr. 1380.
37
. Nr. 1382
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 169 St. Petersburg, den 4. Juni 1890
Geheim
Die hohen geheimen Erlasse Nr. 227 und 228 vom 29. v. Mts.* habe
ich am 2. d. Mts. durch königHchen Feldjäger zu erhalten die Ehre
gehabt; heute, am letzten Empfangstage des Herrn von Giers vor seiner
morgen erfolgenden Abreise nach Finnland habe ich die in jenen Er-
lassen enthaltenen Aufträge ausgeführt.
In der freundschaftlichen Weise und mit der Offenheit, zu welcher
ein vierzehnjähriger Verkehr mich berechtigt, der politisch fast immer
geschraubt und gereizt, persönlich aber stets vertrauensvoll und un-
getrübt u^ar, sagte ich dem russischen Herrn Minister des Äußeren
ungefähr folgendes:
„Ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich alles,
was Sie neulich die Güte hatten, mir mit Bezug auf die durch den
Abgang des Fürsten Bismarck unterbrochenen Unterhandlungen zu
eröffnen, zur Kenntnis des Generals von Caprivi gebracht habe.
Der Herr Reichskanzler hat mir hierauf geantwortet, daß er
fest entschlossen ist, an der bisherigen Politik Rußland gegenüber
festzuhalten, und daß er dies auch ohne schriftliche Abmachung tun
wird; die Politik, welche er gemäß den allerhöchsten Intentionen Seiner
Majestät des Kaisers und Königs zu führen gedenkt, soll eine einfache
und durchsichtige sein, welche nirgends Unruhe, Unsicherheit oder
Mißtrauen aufkommen läßt; eine solche Politik schließt aber seiner
Ansicht nach geheime Verträge aus.
Der Herr Reichskanzler geht von der Überzeugung aus, daß der
Wert von Verträgen, welche zwischen Kabinetten abgeschlossen werden,
ein geringer ist, wenn sie nicht von der öffentlichen Meinung ge-
tragen werden; dies würde nun jetzt weder bei uns noch bei Ihnen der
Fall sein; es wird Euerer Exzellenz nicht entgangen sein, daß seit der
vor etwa drei Wochen vom Wiener ,Times'-Korrespondenten lanzierten
Nachricht von einem deutsch-russischen Bündnisse die ganze russische
Presse vom ,Grashdanin', der dem Hofe, bis zum ,Swet', der dem
Volke am nächsten steht, stürmisch gegen ein solches Abkommen
getobt hat. Hiernach ist es wohl erklärlich, wenn General von Caprivi
sich fragt, ob ein anderer Minister als Sie imstande sein würde, im
Falle eines französischen Angriffs auf uns dem Vertrage diejenige
* Siehe Nr. 1380 und S. 30, Fußnote f.
38
Auslegung zu geben, deren wir bedürfen. Solange als Sie die russi-
sche Politik leiten, brauchen wir keinen Vertrag, und wenn Sie einmal
nicht mehr Minister sind, so würde sein Wert für uns lediglich von
der Interpretation abhängen, welche Ihr Nachfolger ihm geben würde;
es ist ja oft schwer zu entscheiden, ob derjenige, welcher taktisch
den Angriff eröffnet, nicht strategisch, politisch, moralisch der An-
gegriffene ist; wohl aber würden wir von dem Bekanntwerden des
Abkommens dieselben Nachteile erwarten müssen, wie Sie es taten,
als Sie im Jahre 1887 den Vertrag mit Österreich-Ungarn nicht er-
neuerten ; es waren damals nicht sowohl politische Gründe, welche
Sie abhielten, als vielmehr die Besorgnis, daß das immerhin mögliche
Verlautbaren Seiner Majestät dem Kaiser Alexander gar zu großen
Schaden beim russischen Volke und in dem Urteil der Geschichte tun
würde. Wenn nun jetzt oder späterhin ein solcher Fall eintrete, so
würde unsere Nation und Europa alles Vertrauen in die ehrliche, ein-
fache, durchsichtige Politik verlieren, welche die Geschäftsleitung des
neuen Reichskanzlers charakterisieren wird.
General von Caprivi hat nicht verfehlt, Seiner Majestät dem Kaiser
und Könige meinen Brief vollinhaltlich zu unterbreiten, und es ist
dem Kanzler gelungen, Seine Majestät von der Richtigkeit und der
vollkommenen Lauterkeit seiner Auffassung zu überzeugen; Seine Maje-
stät haben infolgedessen allerhöchstihren Willen dahin kundzugeben
geruht, daß wir unsere vortrefflichen Beziehungen zu Rußland so wie
in der Vergangenheit so auch in der Zukunft erhalten wollen, aber ohne
Vertrag."
Herr von Giers hörte mir ruhig zu und machte sich Notizen;
dann wiederholte der Herr Minister nochmals die Besorgnisse, welche
ihm der Wegfall jedes schriftlichen Abkommens mit uns einflößt; gegen-
über dem Dreibunde mit dessen offen ausgesprochener Tendenz gegen
Rußland habe letzteres durch den Vertrag mit uns Sicherheit gegen
„Avanien" gefunden, welche Österreich und besonders Ungarn ihm
zuzufügen nur zu geneigt sei. Je mehr sich Herr von Giers in diese
Betrachtungen vertiefte, um so weniger wollte er sich damit zufrieden
geben, daß nun wirklich gar kein, wenn auch noch so loses Band uns
mit Rußland verknüpfen solle. Als ich ihm, wenn auch in schonender
Weise, doch sehr bestimmt meine heutige Eröffnung als eine definitive
bezeichnete, sagte Seine Exzellenz, unsere diplomatischen Verhand-
lungen seien nun freilich als abgeschlossen zu betrachten, nicht so sei
es aber mit dem Gedankenaustausch zwischen den Monarchen; ein
solcher sei eingeleitet worden durch die Gespräche, welche Seine Maje-
stät der Kaiser Alexander mit mir und Seine Majestät der Kaiser Wil-
helm mit dem Grafen Schuwalow geführt habe.
Ich erwiderte dem Herrn Minister, sein erhabener Souverän habe
mich beauftragt, meinem kaiserlichen Herrn zu sagen, er vertraue
39
darauf, daß der Abgang des Fürsten Bismarck weder an den persön-
lichen noch an den politischen Beziehungen etwas ändern werde; diese
Mitteilungen hätten bei meinem allergnädigsten Kaiser und Herrn
Widerhall und eine vertrauensvolle Erwiderung gefunden, welche ich
nach meiner Rückkehr aus Berlin persönlich zu übermitteln die Ehre
hatte; hiermit habe der durch mich geführte Verkehr von Souverän
zu Souverän seinen Abschluß gefunden. Von einem Vertrage ist, bei-
läufig gesagt, hierbei nie die Rede gewesen.
Ich erinnerte übrigens auch Herrn von Giers daran, daß er selbst
mir gesagt habe, Seine Majestät der Kaiser Alexander lege keinen
besonderen Wert auf schriftliche Abmachungen; er möge diso, wenn
er seinem kaiserlichen Herrn meine heutigen Mitteilungen unterbreite,
weniger von dem nicht erneuerten Vertrage sprechen als von der
Einfachheit und Durchsichtigkeit unserer auf Erhaltung des Friedens
gerichteten Politik, welche, so wie ich den Charakter des Kaisers
Alexander kenne, dem erhabenen Sinne höchstdesselben völlig ent-
sprechen würde.
Der Herr Minister wollte sich aber hierbei nicht beruhigen und
kam immer wieder auf seinen Wunsch zurück, daß irgendetwas Schrift-
liches, sei es auch noch so allgemein gehalten, an die Stelle des ab-
laufenden Vertrages treten möge; er deutete an, daß er jetzt den
Grafen Schuwalow ermächtigen werde, mit Euerer Exzellenz über die
Sache zu sprechen. Ich riet Herrn von Giers, dies zu unterlassen,
es werde nicht zu dem von ihm gewünschten Ergebnisse führen und
könne den Herrn Botschafter in Anbetracht aller mit dieser Angelegen-
heit zusammenhängenden Umstände vor eine schwierige Aufgabe stellen.
Ich konnte nicht umhin, den russischen Herrn Minister auch auf den
wesentlichen Unterschied aufmerksam zu machen, welcher zwischen
dem Geschäftsgange in Gatschina und der verfassungsmäßigen Ord-
nung der deutschen Reichsregierung besteht.
Herr von Giers war noch zu keinem bestimmten Entschlüsse
gekommen, als ich ihn nach einstündigem Gespräche verlassen mußte;
er will die Notizen, welche er sich von meinen Äußerungen machte,
mit nach Finnland nehmen, wohin er sich morgen zu vierwöchentlichem
Aufenthalte begibt, und wird Seiner Majestät dem Kaiser schriftlichen
Bericht darüber erstatten. Ich wiederholte ihm noch beim Abschiede
dasjenige, was ich ihm schon im Laufe der Unterredung angeraten
hatte, nämlich: das Nächstliegende sei „de resserrer les liens d'amitie
qui unissent nos Souverains", und hierzu werde sich ja in zwei Monaten
die schönste Gelegenheit finden, selbst wenn dabei gar nicht von Politik
gesprochen werden sollte.
V. S c h vv e i n i t z
40
Nr. 1383
Der Botschafter in Konstantinopel von Radowitz an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Eigenhändige Ausfertigung
Nr. 106 Therapia, den 9. Juni 1890
Geheim
Euerer Exzellenz geheimen Erlaß Nr. 101 vom 29. v. Mts. und die
beigefügten Schriftstücke*, betreffend unsere Beziehungen zu Rußland,
habe ich mit gehorsamstem Danke zu erhalten die Ehre gehabt und
der mir erteilten Weisung gemäß auf das strengste sekretiert.
Euere Exzellenz haben mir schon bei meiner Anwesenheit in
Berlin den Anlaß gegeben, es auszusprechen, daß ich nur diejenige
Politik Rußland gegenüber, welche in den beiden Erlassen nach Peters-
burg vom 29. V. Mts.** dargelegt ist, auch auf Grund meiner hiesigen
Eindrücke und Erfahrungen ehrerbietigst anzuraten imstande sei. Die
seitdem hier gemachten Beobachtungen bestärken mich darin. Ich
finde hier, wo sich die russischen Tendenzen für die europäische
Politik vielfach klarer und ungenierter als anderswo ausprägen, seit
der Krisis in Berlin eine erhebliche Verschärfung russischer Feind-
seligkeit gegen das deutsch-österreichisch-italienische Bündnis und
habe um so mehr die Überzeugung, daß ein neues geheimes Ab-
kommen mit uns von russischer Seite als Sprengmittel der Tripel-
allianz verwertet worden wäre, um uns möglichst zu isolieren und
dann für Orientinteressen Rußlands ausnutzen zu können.
Unsere jetzige Haltung ist jedenfalls keine Förderung mehr für
russische Unternehmungslust auf der Balkanhalbinsel oder an den Meer-
engen und dient dadurch dem Frieden. Drängt das Moskauer Slawen-
tum trotzdem auf Abenteuer, und treibt es zum Kriege, so trifft es
auf um so fester gefügte Bündnisse zur Abwehr.
Radowitz
Nr. 1384***
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an Kaiser Wilhelm II.,
z. Z. in Hügel bei Essen
Telegramm. Konzept
Berlin, den 27. Oktober 1896
Der Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 24. d. Mts. „Fürst
Bismarck und Rußland", der von geheimen 1890 nicht erneuerten Ab-
* Vgl. S. 30, Fußnote f.
»* Siehe Nr. 1380 und S. 30, Fußnote f.
*** Des Zusammenhangs wegen werden im folgenden noch emige Schriftstücke
wiedergegeben, die die Bismarckschen Enthüllungen aus dem Oktober 1896 über
41
machungen spricht*, hat im In- und Auslande großes Aufsehen hervor-
gerufen: Namentlich zeigt sich die Presse in Österreich-Ungarn in
hohem Grade erregt über die Enthüllung, von der man eine Lockerung
des Dreibunds befürchtet. Da vielfach eine amtliche Aufklärung ver-
langt w'ird, habe ich im nichtamtlichen Teile des heutigen Reichs-
anzeigers folgendes veröffentlichen lassen:
„Bei der öffentlichen Besprechung der jüngsten , Enthüllungen* der
.Hamburger Nachrichten' über deutsch-russische Beziehungen bis zum
Jahre 1890 ist vielfach der Wunsch hervorgetreten, die Regierung möge
auch ihrerseits das Wort zur Sache ergreifen. Wir sind zu der Erklärung
ermächtigt, daß dies nicht geschehen wird. Diplomatische Vorgänge der
von den , Hamburger Nachrichten* erwähnten Art gehören ihrer Natur
nach zu den strengsten Staatsgeheimnissen; sie gewissenhaft
zu wahren, beruhtauf einer internationalen Pflicht, deren Verletzung eine
Schädigung wichtiger Staatsinteressen bedingen würde. Die Kaiserliche
Regierung muß daher auf jede Klarstellung verzichten, sie wird jenen
Auslassungen gegenüber weder Falsches berichtigen noch Unvoll-
ständiges ergänzen, in der Überzeugung, daß die Zuversicht in die
Aufrichtigkeit und die Vertragstreue der deutschen Politik bei anderen
Mächten zu fest begründet ist, als daß sie durch derartige , Enthüllungen*
erschüttert werden könnte**."
C. Hohenlohe
den Rückversicherungsvertrag betreffen, und weiterhin einige retrospektive Äuße-
rungen Berchems und Holsteins aus dem Jahre 1904 über die entscheidenden
Vorgänge während des März 1890.
* In dem direkt auf Bismarck zurückgehenden Artikel der „Hamburger Nach-
richten" (siehe den Wortlaut bei H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II
[1913], S. 370 ff.) hieß es: „Bis zu diesem Termine (seil. 1890) waren Rußland
und Deutschland im vollen Einverständnis darüber, daß, wenn eins von ihnen
angegriffen würde, das andere wohlwollend neutral bleiben solle, also wenn bei-
spielsweise Deutschland von Frankreich angefallen wäre, so war die wohlwollende
Neutralität Rußlands zu gewärtigen, und die Deutschlands, wenn Rußland un-
provoziert angegriffen würde. Dieses Einverständnis ist nach dem Ausscheiden
des Fürsten Bismarck nicht erneuert worden, und wenn wir über die Vorgänge
in Berlin richtig unterrichtet sind, so war es nicht etwa Rußland in Ver-
stimmung über den Kanzlerwechsel, sondern Graf Caprivi war es, der die Fort-
setzung dieser gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Rußland dazu bereit
war."
** Vgl. dazu die ebenfalls auf den Fürsten Bismarck zurückgehende Erwiderung
der „Hamburger Nachrichten" vom 31. Oktober 1896: „Die Erklärung im .Reichs-
anzeiger' " (H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II [1913], S. 373 ff.) und
die Replik des „Reichsanzeigers" vom 3. November. Fürst Bismarck machte in
seiner Erwiderung geltend, daß diplomatische Vorgänge von der Art des Rück-
versicherungsvertrages keineswegs als zu den „strengsten Staatsgeheimnissen"
gehörend betrachtet werden könnten. „Die besprochenen russisch-deutschen Ver-
handlungen gehören der Geschichte an und den Archiven; ihre Geheimhaltung
war für uns wie für den Dreibund von Hause aus kein Bedürfnis, sie erfolgte
lediglich auf russischen Wunsch, und die Situation, auf welcher dieser Wunsch
damals beruhte, besteht heute nicht mehr. Im deutschen Interesse hätte unserer
42
Nr. 1385
Der Chef des Geheimen Zivilkabinetts von Lucanus, z. Z. in Essen,
an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Telegramm. Entzifferung
Essen, den 28. Oktober 18Q6
Seine Majestät der Kaiser beabsichtigen, das nachstehende Tele-
gramm an Seine Majestät den Kaiser von Österreich zu senden, und
wünschen Euerer Durchlaucht Meinung darüber zu vernehmen:
„Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph
Gödöllö.
Durch meine letzten Reisen am Zeitungslesen bisher verhindert,
erfahre ich erst jetzt durch Telegramme und Auszüge von den Ver-
öffentlichungen des Fürsten Bismarck*. Dieselben enthalten das, was
ich Dir bei unserm ersten Zusammentreffen nach seiner Entlassung
mitteilte, und wirst Du sowohl wie die Welt nunmehr in dem Ver-
ständnis bekräftigt, weshalb ich den Fürsten entließ.
Wilhelm."
Seine Majestät lassen ersuchen, die Erwiderung so schleunig als
möglich direkt an mich hierher zu senden.
Lucanus
Nr. 1386
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Chef des Gel.eimen
Zivilkabinetts von Lucanus, z. Z. in Essen
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Berlin, den 28. Oktober 1896
Ich bin einverstanden, daß Seine Majestät an den Kaiser Franz
Joseph eine vertrauliche Mitteilung über die fragliche Angelegen-
Ansicht nach die volle Veröffentlichung gelegen, da der ganzen Sache für uns
nicht etwa ein Pudendum zugrunde liegt, sondern ein berechtigter Anlaß für alle
friedliebenden Angehörigen des Reiches wie des Dreibundes, mit Genugtuung
zurückzublicken." Demgegenüber wies der „Reichsanzeiger" darauf hin, daß
Deutschland seinerzeit bedingungslos die Zusage erteilt habe, sowohl die Tat-
sache wie den Inhalt der vor 1890 mit Rußland geführten Verhandlungen geheim-
zuhalten, und daß somit diese Verpflichtung für alle, die darum wüßten, un-
verändert fortdauere. Daß in der Tat die russische Regierung noch I8QÖ auf der
unbedingten Geheimhaltung bestand, beweist Nr. 13S9. Früher, nach Abschluß des
Rückversicherungsvertrages im Jahre 1887, hatte übrigens Fürst Bismarck selbst
die Notwendigkeit unbedingter Geheimhaltung des Vertrages betont; vgl. Bd. V,
Kap. XXXIV, Nr. 1100.
* Vgl. S. 42, Fußnote * und **
43
heit richtet. Dies kann aber nur durch chiffriertes Telegramm an den
Geschäftsträger in Wien geschehen, da unsre vertragsmäßige Verpflich-
tung Rußland gegenüber, nichts von dem damaligen Vertrage in die
Öffentlichkeit kommen zu lassen, heute noch fortbesteht.
C. Hohenlohe
Nr. 1387
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an das Aus-
wärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 232 Wien, den 28. Oktober 1896
In Vertretung des abwesenden Ministers erklärte mir soeben Graf
Szccsen*, daß die hiesige Regierung durch die Hamburger Veröffent-
lichungen in keiner Weise verstimmt worden sei, sondern nur den
schlechten Eindruck in der öffentlichen Meinung bedauere. Der gleichen
Auffassung habe auch Graf Goluchowski** vor seiner Abreise Ausdruck
gegeben. Morgen werde das „Fremdenblatt" einen beruhigenden, den
Erklärungen des „Reichsanzeigers" entsprechenden Leitartikel bringen,
welcher das volle Vertrauen der hiesigen Regierung zur gegenwärtigen
deutschen betonen wird,
Lichnowsky
Nr. 1388
Der Geschäftsträger in Wien Prinz von Lichnowsky an das Aus-
wärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 234 Wien, den 30. Oktober 1896
Unter Bezugnahme auf Telegramm Nr. 169 vom 28. Oktober.
Graf Szecsen hat mir das nachstehende Telegramm Seiner Maje-
stät des Kaisers Franz Joseph an Seine Majestät unsern allergnädigsten
Herrn übergeben:
„Herzlichsten Dank für die freundschaftlichen Worte anläßlich eines
bisher unerhörten Vorgangs, den ich zwar lebhaft bedauere, der aber
nur dazu beitragen kann, die Innigkeit und Unerschütterlichkeit gegen-
seitigen vollen Vertrauens zu kräftigen.
Ich war Dir zu Dank verpflichtet, als Du mir seinerzeit die Tat-
• Sektionschef im k. u. k. Reichsministerium des Äußern.
•• K. u. k, Minister des Äußern.
44
Sache selbst mitteiltest; seitdem hat sich die treueste Freundschaft
mehr und mehr bewährt, die uns aneinander schließt.
Franz Joseph."
Lichnowsky
Nr. 1389
Der Verweser des russischen Ministeriums des Äußern Schischkin
an den russischen Botschafter in Berlin Grafen von der Osten-Sacken
Telegramm. Abschrift am 14. November vom Grafen von der Osten-Sacken überreicht*
St. Petersbourg, le 2/14 Novembre 1896
Notre traite avec TAUemagne stipulant en toutes lettres que les
deux parties contractantes s'engagent ä observer le secret non seule-
ment quant au contenu, mais aussi „sur l'existence du traite", il nous
parait que le seul fait ä constater serait de relever le caractere partir
culier de transactions, — indispensables dans certaines circonstances, —
qui, par raison d'etat, ne se contractent qu'ä condition expresse d'un
secret absolu sur leur existence meme.
Les declarations que le Prince de Hohenlohe et le Baron de
Marschall se disposent ä faire au Reichstag, revelant qu'ä une data
peu eloignee un pareil traite a existe, sont en contradictiqn avec l'en-
gagement pris, sans relever que rattacher ä la clause du secret le refus
de renouveler le traite, — serait insinuer que nous avions Heu de tenir
particulierement du secret, tandisqu'il etait „mutuel" pour les deux
parties.
Vous pouvez dire au Prince de Hohenlohe et au Baron de Mar-
schall que leurs declarations au Reichstag feraient le plus deplorable
effet chez nous et ne manqueraient pas de provoquer en Russie et
dans presse Russe accusation d'etre manoeuvre tendant ä semer de-
fiance. — (sig.) Chichkine
Nr. 1390
Aide-Memoire, bestimmt für den russischen Botschafter in Berlin
Grafen von der Osten-Sacken
Unsigniertes Konzept von der Hand des Staatssekretärs Freiherrn von Marschall
Berlin, 14 Novembre 1896
Le Baron de Marschall ne nie pas les obligations du secret meme
sur l'existence du traite, mais considere la Situation completement
* Das Telegramm war veranlaßt worden durch die Nachricht, daß die deutsche
Reichsregierung die Absicht habe, auf eine von dem Grafen von Hompesch
namens des Zentrums im Reichstage eingebrachte Interpellation wegen der Nicht-
emeuerung des Rückversicherungsvertrages Rede und Antwort zu stehen.
45
changee par les revelations de rhomme le plus competent dans cette
matiere, celui meme qui a signe le traite. Le grand emoi qui en a
ete la consequence en Allemagne comme ailleurs et les reproches que
le Princc de Bismarck fait au gouvernement d'avoir ete ä la remorque
de TAngleterre*, lui impose le devoir de parier et de repondre ä Tinter-
pellation. Dans le cas contraire il laisserait aux partisans du Prince
de Bismarck le champ libre pour fortifier ses accusations et continuer
ses revelations. Du moment oü il y a Obligation de parier, toute
declaration qui ne contient pas un dementi formel sur l'existence du
traite equivaudrait ä un aveu. Un dementi formel est impossible ä
cause de la notoriete publique de son existence et compromettrait le
gouvernement sans profit.
Ni le Prince de Hohenlohe, ni le Baron de Marschall n'ont l'inten-
tion de preter au gouvernement russe d'avoir tenu particulierement
au secret. Les raisons du secret ne seront pas touchees.
Le Baron de Marschall est d'avis que Ton peut donner des declara-
tions dans ce sens sans eveiller le soupgon de vouloir semer defiance; il
croit au contraire qu'essayer par le gouvernement de voiler meme
l'existence du traite pourrait precisement lui valoir l'accusation de
semer defiance en laissant supposer qu'il y a encore des engagements.
Le Baron de Marschall croit que le soin de ne pas eveiller la defiance
de qui que ce soit est un interet commun des deux cabinets, car
l'eveiller ä notre detriment serait le provoquer ailleurs contra le gou-
vernement Allemand**.
* Ein solcher Vorwurf findet sich ansredeutet in dem auf Bismarck zurückgehenden
Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 12. November „Die Interpellation".
Es heißt da: „Die Frage, ob ein mächtiges Nachbarreich wie Rußland mit uns
oder mit unseren Gegnern in Europa engere Fühlung hat, ist für die gesamte
Bevölkerung des Deutschen Reiches eine Frage von hervorragender Wichtigkeit,
und nicht minder ist dies die andere, ob die englische Politik bemüht und im-
stande ist, auf die unsrigc einen Einfluß zu üben, dessen Ergebnisse nicht un-
bedingt im Interesse des Deutschen Reiches liegen." H. Hofmann, Fürst Bis-
marck 1890—1898 Bd. II (1913), S. 387.
** Tatsächlich wurde die vom Grafen Hompesch eingebrachte Interpellation am
16. November von dem Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe und dem Staats-
sekretär Freiherrn von Marschall beantwortet. Beide hielten in ihren Reden daran
fest, daß sie bei der seinerzeit mit Rußland verabredeten unbedingten Geheim-
haltung über das Ergebnis der deutsch-russischen Verhandlungen von 1887—1890
amtliche Auskunft nicht zu geben vermöchten. Indessen nahmen sie einerseits die
deutsche Politik vor 1890 gegen den Vorwurf in Schutz, daß damals mit Ruß-
land Dinge verabredet worden seien, die im Widerspruch mit den bestehenden
Verträgen ständen (vgl. auch S. 6 f., Fußnote), andererseits die deutsche Politik
nach 1890 gegen den Vorwurf, daß sie eine wichtige Sicherung und Friedens-
garantie preisgegeben habe. Ausdrücklich erklärte Fürst Hohenlohe, die Gründe,
welche im Frühjahr 1890 die deutsche Politik leiteten, „nach sorgfältigster
Prüfung des vorhandenen Materials" als vollwichtig anerkennen zu müssen. Siehe
den Wortlaut der Reden: Stenogranhische Berichte über die Verhandlungen des
Reichstags 1895/97, Bd. V, S. 3262 ff.
46
Nr. 1391
Der Unterstaafssekretär im Auswärtigen Amt a. D. Graf von Berchem
an den Reichskanzler Grafen von Biilow
Eigenhändig
Vertraulich München, den 3. Juni 1904
Das anliegende Memoire* habe ich im Monat März 1890 dem
Reichsicanzler Herrn von Caprivi vorgelegt.
Der Botschafter von Schweinitz war persönlich in Berlin erschienen,
um die von ihm vorbereitete Erneuerung des geheimen Vertrages mit
Rußland d. d. 1887 zu betreiben. Es gelang mir, in einer Konferenz
(28. 3. 1890) des Reichskanzlers von Caprivi mit Herrn von Schweinitz,
zu welcher ich beigezogen wurde**, an der Hand dieses Schrifts4ückes
letzteren zu überzeugen, daß der beabsichtigte Schritt besser unter-
bleibe. Mündlich wurde dabei betont, daß es bei der damaligen hoch-
gradigen Erregung der Gemüter nicht angehe, sich der Gefahr einer
publizistischen Verwertung dieses Abkommens auszusetzen.
Nachdem Herr von Caprivi sich schon vorher meinem mit dem
des Geheimen Legationsrates Herrn von Holstein identischen Votum***
angeschlossen hatte, so entfiel die auch an allerhöchster Stelle nicht
gewünschte Unterzeichnung des Vertragsentwurfes. General von Ca-
privi hatte mich eingeladen, in seiner Gegenwart das Memoire auch
Seiner Majestät gegenüber zu vertreten; ich bat aber, davon abzu-
sehen, da dies unzweckmäßiges Aufsehen erregt haben würde.
Fürst Bismarck hat, als ich im Jahre 1896 in Friedrichsruh war,
in meiner Gegenwart bei Besprechung des französisch-russischen Bünd-
nisses dessen Entstehung nicht mit der unterlassenen Erneuerung des
geheimen Vertrages, sondern mit der angeblichen, in Petersburg nicht
gern gesehenen Provozierung einer Einladung unseres allergnädig-
sten Herrn nach Krasnoe Selof und mit den in Cowes gewechselten
* Es handelt sich um den Entwurf der Berchemschen Aufzeichnung vom 25. März;
siehe Nr. 1368 nebst Fußnote. Der Entwurf ist auszugsweise gedruckt bei J. von
Eckardt, Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi S. 53 f f.
** Nach Caprivis Aufzeichnung vom 28. März (siehe Nr. 1369) muß die Um-
stimmung Schweinitz' mindestens schon am 27., wo Reichskanzler und Botschafter
gemeinschaftlich dem Kaiser Vortrag im Sinne der Nichterneuerung hielten, ein-
getreten sein. Vgl. auch das folgende Schriftstück.
*** Ein schriftliches Votum Holsteins aus dem März liegt nicht vor; vielleicht
denkt Berchem an den gemeinschaftlichen Vortrag, den er, Holstein und Raschdau
am 23. März dem Reichskanzler von Caprivi über die Frage des Rückversicherungs-
vertrags erstattet haben. Vgl. Holsteins Brief vom Abend des 22. März: „Morgen
um 10 werden Berchem, Raschdau und ich gemeinsamen Vortrag, von mir an-
geregt, an Caprivi halten. Dann muß man sehen, was Caprivi ausrichtet." (Vindex
Scrutator. Warum der russische Draht zerriß, „Der Tag", Ausgabe ß [rot] vom
4. November 1920.)
t Vgl. dazu Bismarcks Gedanken und Erinnerungen Bd. III (1919), S. 144f.
47
Toasten* erklärt. Ich erinnere mich ferner daran, daß, als 1887 die
Russen der geheimen Vereinbarung nur eine zeitlich sehr begrenzte
Dauer zugestanden, Fürst Bismarck diese Verweigerung einer längeren
Frist mit der damals bereits in Petersburg in Aussicht genommenen
Eventualität einer Annäherung an Frankreich in Verbindung brachte**.
Es ist also auch nach der Meinung des Fürsten Bismarck nicht
richtig, was in vielen Kreisen als erwiesen gilt, daß das Bündnis zwi-
schen Paris und Petersburg der unterlassenen Verlängerung des Ver-
trages von 1887 seinen Ursprung verdanke***.
Das anliegende Memoire, nur in einem von mir geschriebenen
Konzepte ausgefertigt, habe ich mit Zustimmung des Generals von
Caprivi damals nicht zu den Akten übergeben f. Da dasselbe aber
immerhin einen gewissen Kommentar zu dem nunmehr verjährten in-
teressanten Vorgang von 1890 bildet, so halte ich mich für verpflichtet,
dieses Schriftstück zur Vervollständigung der Registratur des Aus-
wärtigen Amtes Hochdenselben ganz gehorsamst zur Verfügung zu
stellen. Gf. v. Berchem
Nr. 1392
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt von Holstein
Reinschrift
Berlin, den 10. Juni 1904
Im März 1890 gaben die Mitglieder der politischen Abteilung
schriftliche Gutachten ab, welche sich ebenso wie dasjenige des da-
maligen Unterstaatssekretärs Grafen Berchem gegen die Erneuerung
des Rückversicherungsvertrages aussprachen ff. Das Votum des Unter-
♦ Gemeint sind wohl die Guildhall-Toaste vom 10. Juli 1891. Vgl. Bd. VIII, Nr. 1726,
Fußnote **. Vgl. Bd. VIII, Nr. 1727.
** Berchem irrt hier. Nicht die Russen, sondern Bismarck hat auf der „zeit-
lich sehr begrenzten Dauer" des Vertrages bestanden. Vgl. Bd. V, Kap. XXXIV,
Nr. 1093.
*** Auch hier irrt Berchem. Bismarck hat wiederholt die Entente zwischen Ruß-
land und Frankreich auf das Zerreißen des russischen Drahts zurückgeführt. So
heißt es in dem berühmten Artikel der „Hamburger Nachrichten" vom 24. Ok-
tober 1896: „So entstand Kronstadt mit der Marseillaise und die erste Annäherung
zwischen dem absoluten Zarentume und der französischen Republik, unserer An-
sicht nach ausschließlich durch die Mißgriffe der Caprivischen Politik herbei-
geführt. Dieselbe hat Rußland genötigt, die Assekuranz, die ein vorsichtiger Po-
litiker in den großmächtlichen Beziehungen Europas gern nimmt, in Frankreich zu
suchen." H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890—1898 Bd. II (1913), S. 373.
t Ein weiterer Irrtum Berchems; Reichskanzler von Caprivi hat die Reinschrift
des Memoires schon am 28. März 1890 zn den Akten gegeben,
tt Augenscheinlich hat Holstein die schriftlichen Gutachten im Auge, die er und
seine beiden Kollegen von der politischen Abteilung, von Kiderlen und Raschdau,
in einer späteren Phase der Verhandlungen am 20. Mai (siehe Nr. 1374, 1376 und
1377) erstattet hatten. Aus dem März liegen schriftliche Gutaditen der Mitglieder
der politischen Abteilung nicht vor; sie dürften, was Raschdau nachgehends in
seinem Artikel Das Ende der deutsch-russischen Rückversicherung, „Der Tag",
Ausgabe B (rot) vom 17. Oktober 1920 bestätigt, mündlich und zwar am 23. März
erstattet sein. Vgl. S. 10, Fußnote.
48
fertigten bezeichnete die Erneuerung als „zurzeit'* nicht ratsam. Ohne
die Wirkung dieser Schriftstücke herabsetzen zu wollen, habe ich doch
historisch zu konstatieren, daß auf die Sinnesänderung des Botschaf-
ters von Schvveinitz, auf dessen Stellungnahme gegen die Erneuerung
der Text unseres rumänischen Vertrages von entscheidender Wirkung
gewesen ist. In der Konferenz mit dem Reichskanzler von Caprivi
und dem Unterstaatssekretär Grafen Berchem wurden zunächst dem
General von Schweinitz alle unsere Geheimverträge vorgelegt. Der-
selbe erklärte, darüber, ob der österreichische Vertrag sich mit dem
Rückversicherungsvertrag vereinigen lasse, könne man allenfalls noch
streiten, mit dem rumänischen Vertrage aber sei der Rückversiclierungs-
vertrag gänzlich unvereinbar. Von dem rumänischen Vertrage habe er,
der General, bis dahin keine Kenntnis gehabt.
Als der Reichskanzler Seiner Majestät dem Kaiser, welcher die Be-
sprechung der drei Herren angeordnet hatte, meldete, daß der General
von Schweinitz nach Kenntnis des rumänischen Vertrages sich wegen
der Widersprüche zwischen diesem und dem beabsichtigten Rück-
versicherungsvertrag nunmehr gegen letzteren ausgesprochen habe, sagte
Seine Majestät: „Nun, dann geht es nicht, so leid es mir tut,"
Von den vier Hauptbeteiligten leben heute noch Seine Majestät und
der Graf Berchem. Der Unterzeichnete ebenso wie Herr von KUe-len
erfuhr den Hergang vom Reichskanzler gleich nach dessen Rückkehr
vom Immediatvortrag.
Holstein
4 Die Große Politik. 7. Bd. 49
Kapitel XLV
Erneuerung des Dreibund -Vertrags.
Erste Versuche Frankreichs, Italien vom Dreibund
abzusprengen 18Q1
Anhang:
A.Aufmarsch-undRüstungsfragenimDreibundl891 — 18Q2
B. Der erneuerte Dreibund und das italienisch-französische
Verhältnis 1891—1895
Nr. 1393
Der Geschäftsträger in Rom Freiherr von Doernberg an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Entzifferung
Nr. 283 Rom, den 13. Oktober 1890
Herr Crispi sagte mir heute mit Bezug auf einen etwaigen Besuch
Euerer Exzellenz: ein Zusammentreffen mit Euerer Exzellenz in nicht
zu ferner Zeit sei ihm aus dem Grunde besonders erwünscht, weil für
ItaUen die Frage einer Verlängerung des Bündnisses im Vordergrund
der politischen Interessen stehe, und er die Absicht habe, diese Frage
mit Euerer Exzellenz zu besprechen.
Doernberg
Nr. 1394
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi, z. Z. in Mailand*
Eigenhändig
Mailand, den 7. November 1890
M. Crispi suchte mich heut auf und berührte in einer längeren
ziemlich einseitig von seiner Seite geführten Unterhaltung folgende
Punkte:
1. Der Vertrag Italiens mit Spanien** sei für ersteres von hoher
* Am 7. November traf Reichskanzler von Caprivi in Mailand ein, wo er eine
längere Konferenz mit Crispi hatte. Am folgenden Tage begab er sicli mit dem
italienischen Ministerpräsidenten nach Monza, um sich dem italienischen Königs-
paare vorzustellen. Über die zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem
italienischen Ministerpräsidenten gepflogenen Unterredungen hat auch der letztere
Aufzeichnungen hinterlassen (vgl. Francesco Crispi, Questioni Internazionali ed.
T. Palamenghi-Crispi, p. 8 s.), die indessen nicht überall mit der Erzählung Ca-
privis übereinstimmen. Vgl. Nr. 1395.
** Gemeint ist das Geheimabl<ommen vom 4. Mai 1887, durch das Spanien sich
verpflichtete, in bezug auf die nordafrikanischen Gebiete keinerlei Abkommen
mit Frankreich einzugehen, qui serait directement ou indirectement dirige contra
ritalie, l'Allemagne et l'Autriche, und überhaupt im Einvernehmen mit Italien den
Status quo im Mittelmeer aufrechtzuerhalten. Siehe den Text des Abkommens bei
Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914 Bd. I,
S. 48 f.
53
Wichtigkeit; er habe den dringenden Wunsch, das Band mit Spanien
fester zu gestalten, weil Spanien im Fall eines Krieges mit Frankreich
einen immerhin nicht unerheblichen Teil der französischen Streitkräfte
an den Pyrenäen binden könne. Auch du cote de I'Afrique könne ihm
eine spanische Bundesgenossenschaft von Wert sein. Auf meine Ent-
gegnung, daß dazu die Sicherheit, auf England zählen zu können, die
erste Voraussetzung sei, entgegnete er, daß diese Voraussetzung vor-
liege, er sei Englands ganz sicher. Ich bemerkte ferner, daß mir, wenn
er — wie er angab — einen Einfluß auf das Kabinett des Herzogs
von Tetuan* habe, vor allem eine Hinwirkung auf die Verbesserung
der spanischen Marine im Interesse Italiens zu liegen scheine. Herr
Crispi erwiderte, das sei auch seine Meinung, die er Spanien bereits
ausgesprochen habe.
Er wünschte unsere Mitwirkung, um Spanien der Tripleallianz
näher zu bringen. Ich habe ihm gesagt, que je faisais de mon mieux
pour appuyer ses intentions**.
2. Herr Crispi fand, daß die Pläne Frankreichs in bezug auf den
Maximaltarif in erster Linie gegen Italien gerichtet seien***, eine An-
sicht, in der ich ihn im Hinblick auf den Schutz, den uns die Meist-
begünstigungsklausel gibt, bestärkte. Er sieht es als eine Lebensfrage
der Tripleallianz an, daß es uns gelinge, eine ligue commerciale
zwischen Italien, Österreich und uns zu gründen, eine Art inneren
Markt, der diese drei Reiche unabhängiger von der Außenwelt mache.
Er äußerte sich in einem erstaunlich monarchischen Sinne, schrieb sich
das Verdienst zu, wenn in Portugal die Monarchie durch schonendes
Auftreten Englands gerettet wurde, und stellte ein gemeinsames Vor-
gehen in Handelssachen als die Entwickelung einer ligue monarchique
aus der ligue commerciale dar. Ich habe ihm gesagt, es freue mich
im höchsten Grade, diese Ansichten bei ihm zu finden, ich harmoni-
sierte vollkommen damit. Auch Graf Kälnoky halte einen Anschluß auf
dem Boden des Handels für sehr wünschenswert, und wir würden zu-
nächst mit Österreich und dann mit Italien die Verständigung in Handels-
und Tariffragen suchen.
3. Herr Crispi sagte, er sei überzeugt, daß der Kaiser von Ruß-
land den Frieden wollte, es seien aber trotzdem Überraschungen von
dieser Seite nicht ausgeschlossen. Er halte Bulgarien für das zurzeit
best regierte der Balkanländer, besser wie Rumänien. Am übelsten
stehe es um Serbien. Man müsse auf seiner Hut sein; er wisse, daß
Frankreich seine Festungen approvisionniere.
* Spanischer Minister des Äußern im Kabinett Canovas del Castillo.
** Bei der Erneuerung des spanisch-italienischen Abkommens vom 4. Mai 1887, die
am 4. Mai 1891 stattfand (siehe Pribram a.a.O., S. 61 ff.), trat auch Deutschland
demselben mittels Note vom 4. Mai bei.
*** Vgl. dazu: Die Memoiren Francesco Crispis, herausgegeben von T. Palamenghi-
Crispi. Deutsch von W. Wichmann, S. 442 f.
54
In bezug auf unseren Vertrag, der nur beiläufig berührt wurde,
sagte Herr Crispi, er müsse erneuert werden, ob im einzelnen Ver-
besserungen daran auszuführen seien, könne noch offen bleiben.
V. Caprivi
Nr. 1395
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
[Berlin], den 10. November 1890
Ein zweites längeres, sowie die kürzeren gelegentlichen Gespräche
mit Herrn Crispi ergaben wenig. Herr Crispi kam auf die ligue com-
merciale et douaniere zurück, die sich in eine lutte commerciale ver-
wandeln könne. Er schien von dem Gedanken, Frankreich auf dem
Boden der Zölle durch die Tripleallianz zu befehden, sehr eingenommen.
Er schalt auf den Mangel an Wahrhaftigkeit in der französischen Diplo-
matie. Er versicherte, nichts sehnlicher zu wünschen wie die Erhaltung
des Friedens; er brauche noch 7—8 Jahre, um die ihm vorschwebenden
Aufgaben im Inneren Italiens zu erfüllen; er bedürfe dazu des Friedens.
Seiner bevorstehenden Wahlen glaubte er ganz sicher zu sein, obschon
ihm Frankreich die Sache so sehr als möglich erschwere. Frankreich
unterhielte drei Botschafter in Italien: einen beim Quirinal, einen beim
Vatikan und den dritten bei der italienischen Presse; letzterer werde
Frankreich am kostspieligsten. Die Tripleallianz lebe sich trotzdem
immer mehr in das Bewußtsein der Italiener ein; auch Österreich gegen-
über werde die Stimmung immer besser.
Ich brachte die Rede nochmal auf England, um zu sagen, mir
schiene für alles, was Italien am Mittelmeer interessiere, die englische
Freundschaft unumgänglich Vorbedingung. Er meinte, er sei Englands
völlig sicher, auch 'über das Dasein Lord Salisburys hinaus. Ich sagte
weiter: auch wenn dem so wäre, würde ich an Herrn Crispis Stelle
das Äußerste versuchen, um die italienische Marine zu heben, selbst
auf Kosten der Armee, wenn es nicht anders ginge. Er entgegnete,
für die Armee müsse insofern noch etwas geschehen, als sie nur für
1400 000 Mann Handwaffen habe, er brauche aber für 2 000 000 Mann.
In bezug auf die Flotte gab er zu, daß von der österreichischen für
Italien nicht viel abfallen würde, deshalb müsse die spanische gehoben
werden. Meines Erachtens überschätzte er seine eigene Flotte erheb-
lich; doch erkannte er an, daß eine Flotte sich nicht improvisieren
läßt und die Heranbildung des Personals zeitraubend sei.
Ich fing dann von Biserta* an und sagte, mir schiene, wenn sich
* Vgl. darüber: Die Memoiren Francesco Crispis a.a.O., S. 4S3f,
53
jemand über diesen Hafen zu beunruhigen Grund hätte, so seien es
zuerst die Engländer. Er i<am wieder damit, daß von dort eine Lan-
dung in Sizilien sehr leicht sei. Auf meine Bemerkung, daß dazu doch
erst französische Truppen und Schiffe von wo anders her nach Biserta
geschafft werden müßteft, meinte er, man könne ja das französische
Armeekorps aus Algier nach Biserta bringen und da einschiffen. Ich
entgegnete, diese Konzentration in Biserta würde langwierig sein,
außerdem aber gehörten dazu auch zahlreiche Transportschiffe, Bei-
schiffe von Kriegsschiffen, die dann doch auch erst von Toulon kommen
müßten, vielleicht post festum, und sagte: er und Garibaldi würden
doch, um bei Marsala zu landen, niemals zuvor einen Abstecher nach
Biserta gemacht haben. Darauf antwortete er nicht, fragte mich aber
später, ob unser Generalstab Arbeiten über Biserta hätte. Ich sagte,
unser Generalstab bearbeite alle auftauchenden Fragen; mehr Material
über Biserta würden aber die Engländer haben.
Im ganzen hatte ich den Eindruck, daß es ihm darauf ankam, sich
durch meine Anwesenheit Relief zu geben. Die gescheiterte Demon-
stration Cavalotti* hatte seine Lage ohnehin sehr verbessert.
Seine Majestät Umberto hatte ein langes Gespräch mit mir, das
aber wenig Bemerkenswertes bot; er kannte die 3 Punkte, über die
Herr Crispi am ersten Tage mit mir gesprochen hatte, und lobte die
guten Dienste seines Premierministers sehr warm, schalt dagegen
ganereil auf die Advokaten, deren Überzahl im italienischen Parlament
schädlich sei. Der König wiederholte mehrfach, wie sehr er unser
Bündnis schätze, und daß wir dabei mehr die Gebenden, Italien die
Empfangenden seien.
V. C a p r 1 V i
Nr. 1396
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 304 Rom, den 20. November 1890
Geheim
Unmittelbar nach seiner Rückkehr von Mailand hat Herr Crispi
dem österreichischen Botschafter Mitteilung von seinen Unterredungen
mit Euerer Exzellenz gemacht und seiner großen Befriedigung über die
Begegnung mit Hochdenselben Ausdruck gegeben.
Beim letzten diplomatischen Empfange bat Herr Crispi den Baron
Brück, dem Grafen Kälnoky zu melden, daß er mit vollster Entschieden-
* Der Führer der dreibundfeindlichen italienischen Radikalen hatte geplant, wäh-
rend der Anwesenheit des Reichskanzlers von Caprivi in Mailand ein Bankett als
Demonstration gegen den Dreibund abzuhalten.
56
heit an der Tripleallianz und an der ferneren Fortdauer derselben fest-
halte, daß er aber dabei den dringenden Wunsch hege, das Band
zwischen Italien und Österreich noch fester zu knüpfen als bisher una
den italienisch-österreichischen Vertrag dahin zu vervollständigen, daß
er dem zwischen Italien und Deutschland bestehenden gleichkomme.
Wenn drei Mächte, hat Herr Crispi ergänzend hinzugefügt, unter-
einander im Vertragsverhältnisse stehen, sei es nicht gut, daß die
Allianzbedingungen unter den betreffenden Mächten verschiedene seien.
Baron Brück ist der Überzeugung, daß Herr Crispi bei dem Be-
streben, sich näher an Österreich anzuschließen, von dem übrigens
lang gehegten Wunsche geleitet ist, sich das sofortige aktive Eingreifen
der österreichischen Flotte zu sichern, im Falle es im Mittelmeere, z. B.
wegen Tunis zu einem Kriege zwischen Italien und Frankreich kommen
sollte, nachdem Österreich bis jetzt hierzu vertragsmäßig nicht ver-
pflichtet ist.
Herr Crispi hat dann weiter hervorgehoben, die Aufgabe der Triple-
allianz werde es sein müssen, dem monarchischen Prinzip in Europa
eine Stütze zu sein und dasselbe tunlichst zu befestigen. Gegenüber der
maßlosen Agitation des republikanischen Frankreichs treten Portugal in
erster und Spanien in zweiter Linie als besonders bedroht hervor; es
sei daher richtig, diese beiden Länder an die Tripleallianz heran-
zuziehen. Endlich hat Herr Crispi den Wunsch zu erkennen gegeben,
durch gegenseitige Konzessionen auf dem Gebiete der Handelspolitik
zwischen Italien und Österreich ein neues Band zu knüpfen.
Baron Brück hat über seine Unterredung sofort nach Wien be-
richtet, pp.
Graf Solms
Nr. 13Q7
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 338 Wien, den 30. November 1890
Gelegentlich meines heutigen Besuches beim Grafen Kälnoky kam
derselbe auf die Zusammenkunft zu sprechen, die Euere Exzellenz un-
längst mit Herrn Crispi in Mailand gehabt haben.
Er habe Berichte des k. u. k. Botschafters in Rom über die Mit-
teilungen erhalten, die der italienische Ministerpräsident letzterem über
die in Mailand stattgehabten Besprechungen gemacht hat. Diese Be-
richte habe er, Graf Kälnoky, an den Grafen Szechenyi geschickt, die-
selben Euerer Exzellenz vorzulegen, um die Bitte auszusprechen,
Hochdieselben möchten entscheiden, ob die Crispischen Erzählungen
57
nicht vielleicht doch ein wenig ausgeschmückt worden seien. Ihm, dem
Grafen, wolle es so vorkommen, als wenn Herr Crispi aus den rein
akademischen Gesprächen mit Euerer Exzellenz gewisse Konsequenzen
gezogen hätte, die wohl nicht geschäftlich daraus zu ziehen waren.
Die Berichte des Herrn von Brück deckten sich nicht ganz mit dem,
was Euere Exzellenz dem Grafen Szechenyi über die Besprechungen
mit Herrn Crispi zu sagen die Gefälligkeit gehabt hätten*.
Ich habe infolge der mir durch Euere Exzellenz erteilten münd-
lichen Erlaubnis dem Minister dasjenige über den Mailänder Besuch
erzählt, was Hochdieselben die Güte gehabt haben, mir darüber zu
erzählen. Hieraus ging nun allerdings nicht hervor, daß, wenn auch
Herr Crispi seiner Hoffnung Ausdruck gegeben hat, den Dreibund er-
neuert zu sehen, doch schon von bestimmten Punkten, die etwa in den
Verträgen abgeändert werden könnten, die Rede gewesen ist.
Der Minister hatte die fraglichen römischen Berichte nicht zur
Hand, hat mir aber versprochen, mir dieselben ein anderes Mal zu
zeigen. Euere Exzellenz werden aber wohl nunmehr Einsicht in die-
selben genommen haben und Entscheidung darüber treffen, ob ich
zur Aufklärung ermächtigt werden soll.
Graf Nigra ist wieder krank, ich habe ihn daher nicht sprechen
und konstatieren können, welche Mitteilungen er etwa direkt durch
seinen Chef über die Mailänder Unterredungen erhalten haben dürfte.
H.VII. P. Reuß
Nr. 1398
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 347 Wien, den 11. Dezember 1890
Geheim
Euerer Exzellenz sage ich meinen verbindlichsten Dank für die mir
mittelst hohen Erlasses Nr. 538 vom 4. d. Mts. mitgeteilten Aufzeich-
nungen über die Unterredungen mit Herrn Crispi**.
Da ich während einiger Tage unwohl war, so habe ich den Grafen
Kälnoky nicht sehen können. Derselbe besuchte mich nun gestern nach-
* Vgl. dazu Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns Bd. I,
S. 217, nebst Anm. 183. Danach hätte Caprivi mit voller Bestimmtheit erklärt:
„Daß die bestehenden Allianzverträge noch vor dem Ablaufe erneuert werden
sollten, das habe Herr Crispi mit keiner Silbe erwähnt." Nach dem Grafen
Szechenyi hätte sich Caprivi auch entschieden gegen eine vorzeitige Erneuerung
des Vertrages geäußert.
*♦ Siehe Nr. 1394 und 1395.
58
mittag, und fand ich im Laufe unseres Gespräches eine sehr nützliche
Gelegenheit, den Inhalt jener Aufzeichnungen zu verwerten.
Der Minister kam nämlich gerade vom italienischen Botschafter,
welcher ihm einen eigenhändigen Brief des Herrn Crispi* vorgelesen
hatte. In diesem Schreiben macht der italienische Ministerpräsident ganz
in derselben Weise, wie er dies dem österreichischen Botschafter gegen-
über getan hat, Mitteilung von der Unterredung mit Euerer Exzellenz,
Diese Mitteilung deckt sich im allgemeinen mit Euerer Exzellenz Auf-
zeichnungen, weicht aber in einem, und zwar im wichtigsten Punkt
ganz bedeutend von denselben ab, und zwar mit Bezug auf die Mai-
länder Besprechungen über unseren Vertrag.
Ich war nun in der glücklichen Lage, aus Euerer Exzellenz Auf-
zeichnungen den Minister aufzuklären. Er war sehr dankbar hierfür
und äußerte, er fände in meinen heutigen Mitteilungen vollkommene
Übereinstimmung mit dem, was ich ihm schon früher darüber gesagt,
und mit den Eröffnungen, die Euere Exzellenz dem Grafen Szechenyi
seinerzeit gemacht haben.
Was nun den Brief Herrn Crispis betrifft, so habe dieser Staats-
mann seiner Phantasie freien Lauf gelassen. Seine Ideen über eine
ligue commerciale zwischen Deutschland, Italien und Österreich ent-
behrten aller sachlichen Grundlage, wenn es auch gewiß sehr wünschens-
wert wäre, daß auch Italien in den jetzt hoffentlich zwischen uns zu
erneuernden Rahmen eines Vertragsverhältnisses mit hineingezogen
würde.
In sehr monarchischem Sinne und durchaus vertragstreu äußere
sich Herr Crispi in seinem Briefe; infolgedessen beabsichtige Graf
Kälnoky nach dem Beispiel Euerer Exzellenz ihm hierüber seine hohe
Befriedigung auszusprechen.
Was aber die Äußerungen des italienischen Staatsmannes über die
Erneuerung unseres geheimen Vertrags betreffe, so müßten dieselben,
um ihn nicht zu verletzen, mit größter Vorsicht behandelt werden.
Der Brief des Herrn Crispi mache nämlich den Eindruck, als wenn er
über die Abänderung des Vertrages mit Euerer Exzellenz schon ganz
einig geworden und es nur noch der Zustimmung des Grafen Käl-
noky bedürfte, um die Sache perfekt zu machen. Aus unseren Mit-
teilungen ging nun hervor, daß die Phantasie des Herrn Crispi ihm
hier einen Streich gespielt habe. Er, Graf Kälnoky, zögerte keinen
Augenblick, mir zu erklären, daß er die Verlängerung unseres Vertrages
zu Dreien wolle. Ob aber durch Veränderung desselben Verbesserungen
gemacht werden würden, darüber sei er sich noch nicht klar. Der Ver-
trag, so wie er ist, habe sich bewährt, und er, Graf Kälnoky, verlange
gar keine Abänderungen daran.
* Siehe den vom 4. Dezember datierten Brief Crispis an den Grafen Nigra bei:
Francesco Crispi, Questioni Internazionali p. 12 s.
59
Er habe nun in seiner Besprechung mit Graf Nigra, der übrigens
sehr verständig sei und die Fortdauer des Vertragsverhältnisses in
loyaler Weise anstrebe, die Sache so zu drehen versucht, daß er den
Italienern Argumente gegen ihre eigenen Vorschläge an die Hand ge-
geben habe, welche der Botschafter als seine Ansichten Herrn Crispi
gegenüber verwerten wolle. Es handele sich hier erstens um den ita-
lienischen Wunsch einer Unifizierung des Vertrages. Hier hat Graf
Kälnoky geltend gemacht, daß wir bei Anfang unserer Verhandlungen*
alle drei denselben Wunsch gehabt hätten. Im Laufe derselben habe
sich aber ergeben, daß die verschiedenen Interessen nicht in einem
unifizierten Vertrag unterzubringen waren. Ebenso wie Deutschland
keine Lust bezeigte, sich auf Bestimmungen einzulassen, welche sich
auf den Orient bezogen, ebensowenig fand Österreich ein Interesse
daran, sich für das westliche Becken des Mittelländischen Meeres zu
engagieren. Bei neuen Verhandlungen würde man daher wieder zu
dem Resultat kommen, daß eine Unifizierung nicht praktisch wäre.
Zweitens handelt es sich um die Abänderung des Vertrags; wolle
Italien beispielsweise von Österreich noch größere Leistungen ver-
langen, als wie dieses ihm im alten Vertrag zugesagt habe, so müsse
sich Italien noch vorher überlegen, ob es ein Äquivalent dafür Öster-
reich bieten könne. Im alten Vertrage seien die Gegenleistungen Italiens
für die ihm gemachten Zugeständnisse sehr gering gewesen, und im
Lauf der Jahre habe man sich davon überzeugt, daß die italienische
Regierung im Ernstfall in die größte Verlegenheit geraten wäre, wenn
sie ihre hochtönenden mündlichen Versprechungen hätte einlösen sollen.
Von dem Zuzug der in loyalster Weise versprochenen Armeekorps**
würde weder Österreich noch Deutschland viel gesehen haben. Trete
der Fall ein, daß Österreich und Deutschland in einen Krieg mit Ruß-
land verwickelt würden, so würden diese beiden Reiche auch gegen
Frankreich sich schlagen müssen, und in einem solchen Falle würde
Österreich nicht einmal auf die italienische Flotte rechnen können, die,
wenn sie sich selbst überlassen bliebe und nicht durch eine andere
Seemacht verstärkt würde, alle Mühe haben würde, sich vor Frank-
reichs Flotten zu retten. Die österreichische Marine wäre nicht stark
genug, um mit Italien vereint Frankreich zur See anzugreifen.
Wenn nun auch Herr Crispi seine Verbesserungsvorschläge noch
nicht bestimmt formuliert hat, so wird er dies wohl tun müssen, weil
er der einzige zu sein scheint, der solche Verbesserungen haben will.
Es sei daher nützlich, daß ihm die vorstehenden Einwendungen recht-
zeitig unterbreitet würden, und hat sich, wie gesagt, Graf Nigra gern
bereit erklärt, dies zu übernehmen. Graf Kälnoky will daher, wie er
mir sagte, seine vorsichtige Aktion in Rom durch den Grafen Nigra
♦ Vgl. Bd. IV, Kap. XXIV.
** Vgl. Bd. VI, Kap. XU.
60
sekundieren lassen und hofft, daß der italienische Ministerpräsident,
ohne eine Abweisung seiner Eröffnungen hierin zu erblicken, hierdurch
allmählich wieder mehr auf den Boden der realen Verhältnisse zurück-
geführt werden werde.
H.VII. P. Reuß
Nr. 1399
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 353 Wien, den 16. Dezember 18Q0
Geheim
Mit ganz gehorsamer Bezugnahme auf meinen geheimen Bericht
Nr. 347 vom 11. d. Mts.*, die eventuelle Erneuerung des Vertrages zu
Dreien mit Italien betreffend, beehre ich mich Euerer Exzellenz nach-
folgendes ganz gehorsamst zu melden.
Graf Kälnoky kam heut auf die Sache zurück und erzählte mir,
er habe, immer mit der Sekundierung durch Graf Nigra, Herrn Crispi
eine Mitteilung zugehen lassen. Unter besonderer Hervorhebung der
korrekten monarchischen und Vertragstreuen Gesinnungen, die Herr
Crispi sowohl Euerer Exzellenz als wie auch ihm durch sein Schreiben
an Graf Nigra an den Tag gelegt hat, ist der Minister in seinem an
Baron Brück gerichteten Brief demselben Ideengange gefolgt, den
er mir schon neulich skizziert hatte, um dem italienischen Minister an-
schauUch zu machen, daß seine Verbesserungsideen bei näherer Über-
legung auch für Itaüen selbst ihre Bedenken hätten. Er, Graf Käl-
noky, sei jeden Augenblick zur Erneuerung unseres Vertrages bereit,
sähe aber keine Notwendigkeit hierzu, da wir noch viel Zeit vor uns
hätten.
Sollte es Herrn Crispi indes angenehm sein, sich schon jetzt aus-
zusprechen, so würde man seitens des Wiener Kabinetts sehr gern
seinen konkreten Vorschlägen entgegensehen.
Der itahenische Botschafter hat dem Grafen Kälnoky heut ein
Telegramm des Herrn Crispi gezeigt, durch welches letzterer für die
entgegenkommende Mitteilung in warmen Worten dankt und sich vor-
behält, auf die Sache zurückzukommen.
Er sagte mir, Graf Nigra habe den Eindruck gehabt, als wenn
sich der phantasiereiche italienische Staatsmann nunmehr beruhigt hätte,
und die Dinge geschäftsmäßiger behandelt werden würden.
H.VII. P. Reuß
• Siehe Nr. 1398.
61
Nr. 1400
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 17 Wien, den 21. Januar 1891
Geheim
Als Graf Kälnoky heut auf die italienische Politik und auf die
Ideen zu sprechen kam, welche Herr Crispi vor einiger Zeit über die
Erneuerung unseres Vertrags geäußert hatte, benutzte ich diesen An-
laß, um dasjenige festzustellen, was Graf Szechenyi Euerer Exzellenz
über die Ansichten seines Ministers gesagt hat, und wovon Hoch-
dieselben die Güte hatten, mir vor einigen Tagen zu sprechen.
Der österreichische Botschafter scheint, wie ich mir dies wohl
dachte, die ihm erteilten Aufträge etwas zu absolut aufgefaßt zu haben,
Graf Kälnoky hat ihm nur aufgetragen zu sagen, daß, wenn Herr Crispi
mit konkreten Vorschlägen für Erneuerung des Vertrages oder für
Abänderungen desselben herauskäme, er ebensogern bereit wäre, die
Verträge, deren Fortdauer er für die ganze europäische Lage für not-
wendig halte, sofort zu erneuern, als damit zu warten.
Der Minister setzte hinzu, als er mir dies mitteilte, er würdige
indessen vollkommen die Gründe, welche Euerer Exzellenz es
wünschenswert erscheinen ließen, mit dieser Erneuerung zu warten.
Wir hätten ja noch über ein Jahr Zeit, und man könne nicht wissen,
wie sich die afrikanischen Verhältnisse bis dahin gestalten würden.
Wie ich seinerzeit bereits zu melden mich beehrte, hat Graf Käl-
noky dem italienischen Ministerpräsidenten unter den Fuß gegeben,
konkrete Vorschläge zu machen. Seit der Zeit ist Herr Crispi nicht
wieder auf die Sache zurückgekommen, und Graf Kälnoky wartet deren
weitere Entwicklung ruhig ab.
H.VII. P. Reuß
Nr. 1401
Der Österreich -ungarische Botschafter in Rom Freiherr von Brück
an den Österreich-ungarischen Minister des Äußern Grafen Kälnoky
Unsignierte Abschrift. Vom Österreich-ungarischen Botschafter in Berlin Grafen
Szechenyi am 3. März mitgeteilt
Nr. 15B Rom, den 16. Februar 18Q1
Graf Nigra wird Euerer Exzellenz bereits den Dank des Marchese
di Rudini* über die seinem ersten Telegramme** durch Euere Ex-
• Seit dem 9. Februar Nachfolger des am 31. Januar gestürzten Crispi als Minister-
präsident und Minister des Äußern.
*♦ Vgl. Pribram a. a. O., S. 221, Anm. 191.
62
zellenz gewordene freundschaftliche Aufnahme übermittelt haben. — Der
neue italienische Minister des Äußern gab mir wiederholt darüber seine
Befriedigung zu erkennen und betonte, er werde die auswärtige PoHtik
Italiens ganz in gleicher Weise fortsetzen, wie es seine Vorgänger getan
hätten. Er wäre vor Crispi Anhänger der Tripelallianz gewesen, und fiele
es ihm umsoweniger ein, daran rütteln zu wollen, als Italien seinen Ver-
pflichtungen ganz und voll nachkommen wolle und es keinem italieni-
schen Minister gestattet werden könne, anders zu denken und anders zu
handeln.
Momentan wäre für Italien die empfindlichste Schwierigkeit die
finanzielle Lage des Landes, und müsse er trachten, da helfend ein-
zugreifen. Er werde Ersparungen zu machen suchen, um das Budget
ganz zu equilibrieren, müsse aber in dieser Hinsicht vor allem auf die
Haltung Frankreichs Rücksicht nehmen.
Er wisse noch nicht, welche Aufnahme seinen friedfertigen Ten-
denzen in Paris blühen werde, wolle aber versuchen, zwischen beiden
Nachbarreichen eine bessere Stimmung eintreten zu lassen. Die Ge-
hässigkeiten hätten sich in letzter Zeit zwischen Rom und Paris immer
mehr und mehr zugespitzt, und das Land hätte nur das Nachsehen da-
von. Könne man eine Änderung dieser gespannten Situation zu Wege
bringen, so käme dies dem Handel und der Industrie des Landes ent-
schieden zugute. Ich erwiderte dem italienischen Premier, daß wir
immer zugunsten eines guten Verhältnisses zwischen Frankreich und
Italien das Wort geredet, da dies ja allein in den Rahmen jener Friedens-
politik passe, die sich die Tripelallianz als ihr schönstes und bestes
Ziel gesetzt hätte.
Marchese di Rudini bemerkte mir hierauf, es wäre ihm dies be-
kannt gewesen, und wisse er auch, daß man sowohl in Berlin als
auch in London die gleiche Ansicht hege. Die französische Presse, ja
selbst die französische Regierung hätten aber einen solchen Haß gegen
Crispi genährt, daß es nicht möglich wurde, einen Ausweg aus dieser
Sackgasse zu finden.
Er werde, wie gesagt, einen Versuch machen, und hinge es nun
von Paris ab, wie und ob dieser gelingen könne. Will man in Paris
die gebotene Hand freundlich entgegennehmen, so könne eine De-
tention eintreten, nur müsse man aber in Frankreich begreifen lernen,
daß sich Italien in keiner Weise aus der eingeschlagenen politischen
Richtung hinausdrängen und, wenn auch vollkommen bereit, sich mit
dem nahen Frankreich in ein freundschaftliches, dem allgemeinen Frie-
den vorteilhaftes Verhältnis einzulassen, die Tripelallianz in keiner
Weise tangieren lassen werde.
Dies die erste kurze Unterredung, die ich gestern am diplomati-
schen Empfangstage mit Marchese di Rudini hatte, der mir übrigens
bereits seit langer Zeit bekanni war, und der in die diplomatischen Ge-
schäfte einen entschieden ruhigen, überlegten Ton hineinbringen dürfte.
63
Nr. 1402
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift, mit eigenhändiger Nachschrift
Berlin, den 7. März 1891
Der italienische Botschafter hat mich heute nachmittag aufgesucht
und mir folgende vertrauliche Mitteilung gemacht:
Marquis Rudini habe ihm vorgestern folgendes telegraphiert: Der
italienische Geschäftsträger in Paris Herr Reßmann sei vor kurzem in
Rom gewesen, um über die gegenwärtige Stimmung in Paris münd-
lichen Bericht zu erstatten; nach Paris zurückgekehrt, habe er eine
Unterredung mit Herrn Ribot über das Verhältnis Frankreichs zu
Italien gehabt. Der Inhalt der Eröffnungen Herrn Ribots sei gewesen:
,que pour mettre le Gouvernement fran^ais en mesure de prendre envers
ritalie une attitude ouvertement amicale le Gouvernement Italien de-
vrait par des declarations explicites eliminer les soupgons qui planent
sur le but et la portee de la triple alliance**. „Ce que M. Ribot voudrait,
c'est une assurance positive sur le caractere strictement defensif de
notre traite en vigueur et plus encore du traite futur, car on presuppose
ici qu'on va le renouveler. Si tout au moins on avait la certitude que
dans la triple alliance il n'y a pas une Situation plus menagante pour
la France que la Situation qui resulte du traite entre l'Allemagne et
TAutriche, tous les obstacles tomberont et le Gouvernement fran^ais
serait ä son tour pret ä prendre l'engagement formel de ne pas atta-
quer l'Italie ni de porter atteinte au statu quo dans la Mediterranee."
Marquis Rudini knüpft an diese Mitteilung über die Unterredung
zwischen Herrn Reßmann und Herrn Ribot die Bitte an Grafen Launay,
ihm seinen Rat über die an Frankreich zu richtende Antwort sowie
darüber zu erteilen, ob es angesichts der neuerdings wieder eingetretenen
Spannung zwischen Deutschland und Frankreich** rätlich erscheine,
jetzt schon der deutschen Regierung Kenntnis von den französischen
Anerbietungen zu geben.
Graf Launay verlas mir darauf das Antworttelegramm, welches er
* Die französischen Versuche, hinter das Geheimnis des Dreibundes zu kommen
und Italien womöglich gelegentlich der Verhandlungen über Erneuerung des Ver-
trags abzusprengen, gehen bis auf den Sommer 1890 zurück. Vgl. den Bericht
des italienischen Geschäftsträgers in Paris Reßmann vom 21. August 1890, mit-
geteilt in Crispis Memoiren, a.a.O., S. 478 ff. Ausdrücklich konstatiert Reßmann:
„Den Dreibund zerstören, das ist das eifrige, unaufhörliche Bestreben der franzö-
sischen Staatsmänner."
** Anspielung auf die Vorgänge anläßlich des Aufenthalts der Kaiserin Friedrich
in Paris (18.— 27. Februar), die indessen von der deutschen Regierung ganz igno-
riert wurden. Vgl. Kap. XLVIII.
64
an Marquis Rudini gerichtet hat. Der Botschafter spricht in demselben
seine Ansicht dahin aus, daß es sich darum handle, den Aspirationen
Frankreichs gegenüber die Würde Italiens zu wahren. Der Minister-
präsident könne auf die Vorschläge Ribots nichts anderes tun, als
sich auf die Erklärungen beziehen, welche er hinsichtlich des Charakters
der Tripelallianz in der Deputiertenkammer abgegeben habe*. Eine
Zusicherung Frankreichs, Italien nicht anzugreifen, dürfe Italien nur
dann annehmen, wenn damit die Zusage verbunden werde, auch Deutsch-
land und Österreich-Ungarn nicht anzugreifen. Die Eröffnungen Ribots
enthielten den Versuch, die Tripelallianz zu sprengen und Italien zum
Vasallen der Französischen Republik zu machen. Ein solcher Versuch
sei ohne weiteres zurückzuweisen. — Die jüngsten Pariser Ereignisse
hätten keine Spannung zwischen der deutschen und französischen Re-
gierung herbeigeführt, es stehe also nichts im Wege, die erstere von
der Sachlage zu informieren.
Marquis Rudini beabsichtigte, folgendes Telegramm an den italieni-
schen Botschafter in Paris Grafen Menabrea zu erlassen:
„Votre Excellence a regu le texte officiel de mes declarations du
4 c. ä la Chambre; elles me paraissent conformes aux voeux que
M. Ribot avait exprimes ä M. Reßmann. Dites au Ministre des Affaires
Etrangeres que j'ai precisement voulu par ces declarations repondre
ä ses avances. Nous ne demandons ä notre tour rien ä la France.
C'est ä eile de prendre envers nous d'apres les ouvertures de M. Ribot
une attitude amicale et donnant ä nos interets de conservation et de
paix une securite complete."
Marquis Rudini beauftragte den Grafen Launay, der Kaiserlichen
Regierung Kenntnis von diesem Entwurf zu geben und ihre Ansicht
darüber einzuholen. Der Botschafter soll dabei hervorheben, daß der
Wunsch Rudinis, die Beziehungen mit Frankreich zu verbessern, in
keiner Weise seinen festen Entschluß abschwäche, das Band der Tripel-
allianz nicht lockern, noch viel weniger lösen zu lassen, und daß seine
Anschauungen in diesen Beziehungen trotz der Gewißheit, dadurch
die Unterstützung einer Partei (der radikalen) zu verlieren, feste und
unerschütterliche seien.
* Am 14. Februar hatte Rudini gelegentlich der Vorstellung des neuen Mini-
steriums in der Kammer erklärt: „Unsere Politik wird schlicht, freimütig, ohne
Hintergedanken sein, wie es einem Lande geziemt, welches wirklich den Frieden
will. Dieser Gedanke, dieser Wunsch, dieses Bedürfnis des Friedens hat jene
Mächte zur Vereinigung gebracht, welche sich absolute Sicherheit, Europa eine
dauernde Ruhe verschaffen wollten. Unsern Bündnissen werden wir feste und zu-
verlässige Treue bewahren. Durch unsere Haltung werden wir allen zeigen, daß
wir keine Angriffsabsichten haben. Und da bezüglich unseres Verhältnisses zu
Frankreich Zweifel, Argwohn, Mißtrauen erregt worden ist, so werden wir unser
Bemühen darauf richten, jede falsche Meinung zu widerlegen." Ähnliche Er-
klärungen gab Rudini auch Anfang März in der Kammer ab.
5 Die Große Politik. 7. Bd. 65
Ich habe den Herrn Botschafter nach Emholungf der Befehle des
Herrn Reichskanzlers gebeten, dem Marquis Rudini zu sagen, daß die
Kaiserliche Regierung mit dem Entwürfe seiner Antwort an die Re-
gierung der französischen Republik vollständig einverstanden und dank-
bar sei für die bekundete loyale und aufrichtige Gesinnung. Wir er-
achteten das Vorgehen Frankreichs für einen Versuch, nicht nur die
Tripelallianz zu sprengen, sondern auch die franzosenfreundliche repu-
blikanische Partei in Italien zu stärken und einen Keil zwischen Italien
und England zu treiben. Die italienisch-englische Freundschaft sei
Frankreich ein besonderer Dorn im Auge, da sie für die französischen
Aspirationen im Mittelmeer das stärkste Hindernis bilde. Frankreichs
Absicht sei erkennbar, Italien erst von der Tripelalhanz abzusprengen,
dann von England zu isolieren und auf diese Weise von sich abhängig
zu machen. Besonders bemerkenswert sei, daß Frankreich diese Ver-
suche gerade in dem Augenblick unternehme, wo es durch das eng-
lische Vorgehen in der Frage der Inspektion der Gerichte sich in
seinen Interessen verletzt fühle und im Begriffe sei, die ägyptische
Frage gegenüber England wieder in Fluß zu bringen. Da am die Unter-
stützung Deutschlands nicht zu rechnen sei, habe, wie es scheine, Herr
Ribot die Bundesgenossenschaft Italiens zu diesem Zwecke in Aussicht
genommen. Da zwischen ItaHen und England bezüglich der Mittel-
meerfrage gewisse geheime Stipulationen beständen*, so müßte ich
anheimstellen, ob nicht von den Eröffnungen Ribots außer in Wien und
Berlin auch in London vertraulich Mitteilung gemacht werden soll.
Lord Salisbury werde einen solchen Beweis von Vertrauen zu schätzen
wissen, während es ihn umgekehrt peinlich berühren könne, wenn er
auf indirektem Wege von der Sachlage Kenntnis erhalte. Man dürfe
nicht außer acht lassen, daß Frankreich ein Interesse daran habe,
Italien gegenüber England zu kompromittieren, und daß zu diesem
Zwecke die Verbreitung von Nachrichten über französisch-itahenische
Intimitäten [als] ein sehr dienliches Mittel erscheine.
Graf Launay wollte sofort in diesem Sinne nach Rom telegraphieren.
Marschall
Berlin, den 9. März 18Q1
Graf Launay hat mir heute mitgeteilt, daß Marquis Rudini das be-
treffende Telegramm an den Grafen Menabrea abgesandt habe und die
Kabinette von Wien und London ebenfalls von den Ribotschen Vor-
schlägen und der itahenischen Erwiderung darauf Kenntnis erhalten
würden.
Marschall
* Vgl. Bd. IV, Kap. XXVIII.
66
Nr. 1403
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in London Grafen von Hatzfeldt
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 187 Berlin, den 9. März 1891
Aus der beifolgenden Aufzeichnung* wollen Ew. pp. ersehen, daß
die französische Regierung jetzt den Augenblick für gekommen hält,
um Italien vom Dreibunde und namentlich von England zu trennen.
Das Anerbieten, sich Italien gegenüber — d. h. also mit Italien zu-
sammen — auf Erhaltung des Status quo im Mittelmeer zu verpflichten,
geht noch unmittelbarer gegen die ägyptische Politik Englands als
gegen Deutschland oder Österreich, welche beide den Status quo nicht
bedrohen.
Aus dem Berichte Nr. 38** des Grafen Münster, welcher Ew. pp.
mittelst Erlasses vom 3. d. Mts. Nr. 162 mitgeteilt wurde, haben Sie
bereits entnommen, mit welcher Erregung Herr Ribot die Möglichkeit,
daß England sich in Ägypten festsetzen könnte, ins Auge faßt, sowie
auch, daß derselbe den Kaiserlichen Botschafter fragte, „ob er In-
struktionen habe oder erwarte"? Herr Ribot hoffte also wahrschein-
lich, daß auch Deutschland geneigt sein könnte, wie seinerzeit bei den
französisch-chinesischen Friedenspräliminarien*** in der Erwartung
einer dadurch zu erreichenden Verbesserung deutsch-französischer Be-
ziehungen Frankreich wiederum seine Unterstützung zu leihen.
Daß endlich auch Rußland, wenigstens die russische Presse, den
jetzigen ägyptischen Konflikt als eine Gelegenheit für eine wenigstens
diplomatische Aktion betrachtet, wollen Ew. pp. aus dem gleiclifalls
beigefügten Berichte des Herrn von Schweinitz ersehen.
Es v/ird sich empfehlen, wenn Ew. pp., sobald entweder der eng-
lische Minister oder der italienische Botschafter Ihnen mitteilet, daß
die italienische Eröffnung in London gemacht worden ist, Ihrerseits
das neue Material bei Lord Salisbury verwerten, als weiteren Beweis
dafür, daß England seine Seestreitkräfte im Mittelmeer verstärken und
seine Beziehungen zu Italien pflegen muß.
Marschall
* Siehe Nr. 1402.
** In seinem Berichte Nr. 38 vom 26. Februar hatte Graf Münster dargelegt, daß
die von den Engländern beabsichtigte Reform der ägyptischen Justizverwaltung,
zu deren Vorbereitung sie keinen Franzosen, wohl aber einen Italiener
als Kommissar zugezogen hatten, in Frankreich als ein neues Anzeichen für das
Festsetzen Englands in Ägypten sehr verstimmt habe.
♦** Vgl. Bd. III, Kap. XX.
5» 67
Nr. 1404
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 49 Rorn, den 9. März 1S91
Geheim
Marquis Rudini hat mir eri<lärt, er sei nicht nur geneigt, sondern
fest entschlossen, den geheimen AUianzvertrag mit uns zu vereinbaren i.
Bericht folgt. Solms
Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL:
1 Gut! Dann je eher desto besser
als Antwort nach Paris.
Nr. 1405
Der Botschafter in Wien Prirz Heinrich V!I. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 68 Wien, den 11. März 1891
Geheim
Graf Nigra hat dem Grafen Kälnoky im Auftrag des Marquis
Rudini folgendes mitgeteilt:
Herr Crispi habe nunmehr seinen Nachfolger von dem Ideen-
austausch in Kenntnis gesetzt, welcher zwischen den Kabinetten von
Berlin, Wien und Rom über die Erneuerung des Dreibundes statt-
gefunden habe.
Marquis Rudini sei ebenso wie sein Vorgänger ganz bereit, den
Vertrag zu erneuern, weil er darin die Vorbedingung der Erhaltung des
Friedens und also auch das größte Interesse Italiens erblicke.
Graf Kälnoky hat hierauf den italienischen Botschafter gebeten,
seinen Chef mit den Ansichten des hiesigen Kabinetts bekannt zu
machen und hervorzuheben, wie die Besprechungen mit Herrn Crispi
nicht weiter gediehen wären als bis zu der Aufforderung von hier
aus, Italien sollte mit konkreten Vorsch'ägen herauskommen.
Graf Kälnoky hat dem Botschafter auch von dem Bestreben einiger
italienischer Abgeordneten gesprochen, die Regierung dazu zu be-
wegen, unseren geheimen Vertrag zu veröffentlichen, und ihn ersucht,
den italienischen Ministerpräsidenten darauf aufmerksam zu machen,
mit welcher Wärme französischerseits dieses Verlangen aufgefaßt
worden sei.
Er bemerkte, der allgemeine Eindruck, den ihm das Verhalten
Rudinis bisher mache, sei dahin zusammenzufassen, daß, wenn der
68
neue Minister auch recht korrekt in seinen bundestreuen Gesinnungen
sei und sich so ausspreche, er doch die Eigenschaften, welche man
an Herrn Crispi auszusetzen hatte, in zu geringem Grade zu besitzen
scheine. Während der frühere Ministerpräsident mit einer oft bedenk-
lichen Empfindlichkeit jeden Schritt Frankreichs beobachtete und einen
großen Lärm darüber machte, Marquis Rudini eher geneigt sei, gar
vieles zu beschönigen, was von Paris ausginge.
Da ihm von Berlin aus die Meldung zugegangen sei, daß die
Kaiserliche Regierung das Verhalten des Herrn von Freycinet mit
argwöhnischen Augen betrachtete, so habe er es für nützlich gehalten,
den Grafen Nigra hierauf aufmerksam zu machen. Wenn, wie es
schiene, dieser ehrgeizige französische Minister danach strebe, die ver-
ständigen Elemente wie Herrn Carnot, Ferry u. a. zu verdrängen und
selbst die Zügel der Regierung zu ergreifen, dann könne man mit
einiger Bestimmtheit dem Ausbruch des Revanchekrieges gegen
Deutschland entgegensehen. Die italienische Regierung möge dies
bedenken und nicht durch eine zu franzosenfreundliche Haltung in
Frankreich den Glauben erwecken, als könne man Italien vom Drei-
bund loslösen. Hierdurch könnten die dortigen Kriegsgelüste nur Er-
mutigung erfahren.
Graf Nigra hat dies vollständig eingesehen und die Sache sehr
ernst genommen.
H. VII. P. Reuß
Nr. 1406
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 78 Wien, den 19. März 1891
Geheim
pp. Der Minister* sprach die Ansicht aus, daß es bei der augen-
scheinlich beginnenden Rührigkeit der französischen Diplomatie doch
für alle Fälle recht nützlich sein würde, wenn unsere geheimen Ver-
träge mit Italien bald erneuert würden. Marquis Rudini zeige sich
ja gewiß als loyaler Bundesgenosse, aber seine parlamentarische Stel-
lung sei keine feste, und deshalb würde es gut sein, dies Geschäft
nicht hinauszuschieben.
Wie er mir schon neulich gesagt, habe er, von diesem Gedanken
geleitet, den Grafen Nigra gebeten, den italienischen Ministerpräsidenten
über die Lage und die hiesigen Ansichten aufzuklären. Dies habe
der Botschafter auch getan, und er, Graf Kälnoky, erwarte nunmehr,
daß der Marquis das unter Crispis Amtsführung ins Stocken geratene
• Graf Kalnoky.
69
Gespräch über diesen Gegenstand wieder aufnehmen und seinerseits
Vorschläge machen werde.
Der Minister zweifelt nicht an Euerer Exzellenz Geneigtheit i,
ebenso wie er in die Verhandlungen einzutreten und den dreiseitigen
Vertrag mit oder ohne Abänderungen zu erneuern, pp.
H. VII. P. Reuß
Randbemerkung von Caprivis:
1 Angesichts der Möglichkeit eines Kabinetts, das noch französischer wäre, bin
ich auch für baldige Aufnahme der Verhandlungen, v. C.
Nr. 1407
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 19. März 1891
Der italienische Botschafter gab mir bei dem heutigen Empfangstage
Kenntnis von einem Telegramm des Marquis Rudini folgenden Inhalts:
Graf Menabrea habe Herrn Ribot die Antwort Italiens auf die jüngsten
französischen Eröffnungen* überbracht und dabei bemerkt, daß Frank-
reich seine günstigen Dispositionen gegen Italien am besten durch eine
Annäherung auf handelspolitischem Gebiete bekunden könne. M. Ribot
habe darauf erwidert, daß er zu einer solchen Annäherung gerne bereit
sei, „mais qu'il etait arrete par notre traite d'alliance, dont il ne
connaissait le texte et sur le caractere duquel de simples declarations
ministerielles ne pouvaient pas suffisamment rassurer". Marquis Rudini
bemerkt dazu, daß er nunmehr die Sache fallen lassen werde.
Graf Launay hat sein Einverständnis hiermit telegraphisch aus-
gesprochen und dabei bemerkt, daß die neueste Erklärung Ribots
noch indiskreter als die frühere und „une recidive avec des circon-
stances aggravantes" sei. Daß Herr Ribot auf „de simples declara-
tions ministerielles" kein Gewicht lege, sei aus seinen früheren Er-
klärungen bezüglich Bisertas bekannt, in denen er formelle Erklärungen
eines seiner Vorgänger (Barthelemy de St. Hilaire) als nicht bindend
bezeichnet habe; Herr Ribot sei also konsequent in dieser Beziehung.
Für Italien erübrige nichts, als die Sache fallen zu lassen und abzu-
warten, ob Frankreich demnächst freundlichere Dispositionen gegen
Italien zeigen werde.
Marschall
* Vgl. Nr. 1402.
70
Nr. 1408
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Nr. 84 Ausfertigung
Sehr vertraulich Rom, den 23. März 1891
Als mir Marquis Rudini vor einigen Tagen erzählte, Herr Ribof
lege seinen in der Kammer abgegebenen Erklärungen keinen Wert
bei, Frankreich v^erde, solange es den italienisch-deutschen Vertrag
nicht kenne, Italien bezüglich des Handels und der Finanzen keine
Erleichterung gewähren, bemerkte ich, daß zur Veröffentlichung eines
geheimen Vertrages doch schließlich beide beteiligten Mächte gehörten.
Der Minister entgegnete, er denke auch nicht daran, die Forde-
rungen Frankreichs zu erfüllen; er habe dies auch dem Herrn Bonghi*
wiederholt, w^elcher ebenfalls auf die Veröffentlichung des Vertrages
dringe. Er habe es auch für nützlich gehalteri, dem Deputierten
Imbriani von der Drohung des Herrn Ribot Mitteilung zu machen.
Selbst Imbriani, der es erst nicht habe glauben wollen, sei über diese
französische Unverschämtheit empört gewesen.
Beim gestrigen Sonntagsempfange hat Marquis Rudini den fran-
zösischen Botschafter** wegen der Äußerung Ribots zur Rede ge-
stellt und ihm gesagt, er sei durch dessen Äußerungen gegen Graf
Menabrea im höchsten Grade verletzt.
Wenn er, Marquis Rudini, in der Kammer politische Gedanken
und Pläne erörtert hätte, so könnte man solchen Aussprüchen einen
größern oder geringern Wert beilegen, wenn er aber, wie dies ge-
schehen, über ein Faktum eine ganz bestimmte Erklärung abgebe, so
müsse er verlangen, daß Herr Ribot diese als vollwertig und wahr an-
nehme. Wenn Herr Ribot unter der Hand die Gewährung von Zoll-
erleichterungen an Italien verhindere oder durch einen Druck auf die
französischen Finanzkreise das Zustandekommen italienischer Finanz-
operationen hintertreibe, so sei dies zwar auch nicht freundlich, müßte
aber italienischerseits ertragen werden; ein ganz anderes Gesicht aber
bekomme die Sache, wenn der Minister dem italienischen Vertreter
diesen seinen Entschluß cruement ausspreche; das sei eine Drohung i;
außerdem könne Italien den Vertrag nicht einseitig veröffentlichen;
es gehörte dazu die Zustimmung des andern Teiles; er begriffe nicht,
warum Herr Ribot den Inhalt des Vertrages immer nur von Italien
zu erfahren suche; er möchte sich doch einmal nach Berlin oder
Wien wenden und hören, was man ihm dort antworten würde 2.
Herr Billot hat versucht, Herrn Ribot zu entschuldigen. Er habe
sicherlich nicht die Absicht gehabt, Italien zu verletzen, auch sei er
wahrscheinlich vom Grafen Menabrea falsch verstanden worden.
Ruggero Bonghi, Abgeordneter und Publizist
Billot.
71
Dann ist Herr Ribot* wieder auf die Frage zurückgekommen, ob
Italien, wenn Frankreich im Falle eines Krieges Elsaß und Lothringen
zurückerobern sollte, Deutschland Beistand zu leisten verpflichtet sei.
Ferner hat er die neue Frage aufgeworfen, ob eventuell für Italien
Kompensationen in Aussicht genommen seien, zum Beispiel in Tunis.
Marquis Rudini hat darauf erwidert: „Wenn ich Ihnen diese
Fragen beantworten wollte, so würde ich Ihnen den Schlüssel zu den
Verträgen in die Hand geben; dazu habe ich aber gar keine Lust
und keine Veranlassung i/* Graf Solms
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Gut 2 bravo!
Nr. 1409
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms -Sonnenwalde an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 63 Rom, den 5. April 1891
Geheim
Marquis Rudini wird nächster Tage Graf de Launay mit Ein-
leitung von Verhandlungen zur Verlängerung des Allianzvertrages be-
auftragen. Nach Ideenaustausch mit Graf de Launay und Graf Nigra
hält er einfache Erneuerung ohne Zusatz für das beste und baldigen
Abschluß für wünschenswert, um etwaigen Intrigen durch fait accompli
zuvorzukommen. Solms
Nr. 1410
Der italienische Minister des Äußern Marchese di Rudini an den
italienischen Botschafter in Berlin Grafen de Launay
Abschrift in Übersetzung, übergeben vom Grafen de Launay am 24. April
Confidentielle Roma, le 15 Avril 1891
1. L'echange d'idees confidentiel que j'ai eu en ces derniers jours,
par l'intermediaire de Votre Excellence et du Comte Nigra, avec les
Cabinets de Berlin et de Vienne a etabli que les trois Gouvernements
sont d'accord sur les points suivants:
qu'il convient de proceder des ä present au renouvellement du
Traite du 20 fevrier 1887;
que le renouvellement ait lieu, substantiellement, sur la base du
maintien de ce qui existe presentement;
que Berlin est le siege plus approprie pour les nouvelles nego-
ciations:
• So im Original; verschrieben für „Billot".
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La phase preliminaire des negociations etant ainsi terminee, il
Importe que celies-ci prennent desormais un caractere officiel, afin
de pouvoir les amener rapidement ä une conclusion favorable. Ce
ä quoi voulant, pour ce qui me concerne, contribuer sans retard, je
m'empresse de resumer dans cette depeche les idees que Votre Ex-
cellence voudra bien prendre pour guide dans les negociations immi-
nentes.
2. II faut avant tout que Votre Excellence declare au Chancelier
de l'Empire etre pret ä lui communiquer les propositions qui semblent
au Gouvernement du Roi propres ä faciliter un renouvellement con-
venable de ralliance, Cette declaration s'entend faite non seulement
au Cabinet de Berlin, mais egalement ä celui de Vienne, que Son
Excellence M. ie Chancelier devrait avoir la courtoisie de pressentir
aussi pour notre compte, Si les deux Cabinets consentent, comme
nous en avons confiance, ä nous laisser l'initiative des premicres
propositions, Votre Excellence est des ä present autorisce ä !es enoncer
dans les termes que je vais lui indiquer dans cette depeche.
3. Une premiere Observation de notre part porterait sur la struc-
turc des nouvelles stipulations. — En 1887 le renouvellement de
Talliance a ete stipule moyennant un traite additionnel* dans
lequel l'article l^"" (suivi d'un article 2"^ de pure forme) declare confirme
et maintenu en vigueur, jusqu'au 30 Mai 1892, le precedent traite du
20 Mai 1882. — A Toccasion du second renouvellement, dont il s'agit
maintenant, il paraitrait convenable de reproduire sans autre et textuelle-
ment dans le nouveau traite les differends articles du traite de 1882.
Et l'affirmation de la continuite de Talliance desormais decennale,
pourrait resulter du preambule du nouveau traite, dans lequel il serait
dit que les trois Gouvernements ont ete müs ä le stipuler par le ferme
propos de conserver ä leurs Etats les bienfaits qu'ils ont retires —
tant au point de vue politique qu'au point de vue monarchique et
social — de l'alliance contractee en 1882, et renouvelee une pre-
miere fois dejä en 1887.
4. Une seconde et plus importante Observation de notre part se
refere egalement ä la structure du nouvel accord. — Lorsque, a
l'occasion des negociations de 1887, on ajouta aux stipulations origi-
naires de 1882 d'autres stipulations ä Tegard desquelles les Cabinets
de Vienne et de Berlin ne crürent pas pouvoir assumer une attitude
identique, on eut recours ä l'expedient de conclure avec l'Autriche-
Hongrie et l'Allemagne deux traites separes**, comme complement
du traite principal de renouvellement. Le lien entre les trois traites
etait, toutefois, solennellement declare dans le proces-verbal de signa-
ture, les termes duquel, en verite, ne pourraient etre plus explicites
* Siehe den Text Bd. IV, Nr. 858.
** Siehe den Text des deutsch-italiciiischen Separatvertrages Bd. IV, Nr. 859; der
Text des österreichisch-italienischen Vertrages bei Pribram a. a. O., S. 44 f.
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et peremptoires ä cet egard. — II me semble que, au lieu de re-
courir ä un expedient semblable, il serait hon de reunir en un seul
et meme traite les stipulations des trois traites separes. Cette trans-
formation des pactes actuellement en vigueur me paraitrait corre-
spondre ä I'intention, qui s'enracine toujours plus profondement chez
les trois Gouvernements, de se constituer en groupe indissoluble pour
la tuteile et la sauvegarde des interets communs d'ordre, d'equilibre
et de paix. Si, pour des motifs legitimes, les trois Puissances n'ont
pas toutes dans le groupe allie une position parfaitement identique,
si certains liens et certaines obligations sont valables pour l'une
d'elles, tandis que l'autre n'a pas pu ou voulu les accepter, nous ne
croyons pas pour cela qu'il faille renoncer ä l'unite de l'acte, car
on peut parfaitement concevoir et admettre qu'ä cote des stipulations
communes figurent des stipulations speciales ä la Charge de l'une ou
de I'autre des trois parties contractantes. Le traite de 1882 lui-meme,
auquel se refere le traite additionnel de 1887, nous fournit dejä un
exemple de cette variete d'obligations dans Tunite de Tacte, ce dont
il est tres aise de se convaincre en lisant les articles II et III du premier
traite, lesquels assignent ä chacune des trois Puissances des devoirs
et des droits notablement differents.
Si notre proposition trouve un accueil favorable ä Berlin et ä
Vienne, on devrait intercaler dans le nouveau traite, outre les articles V
et VI, les articles reproduisant — sauf les modifications que je vais
mentionner — les deux traites separes de 1887.
5. Le premier alinea de l'article I du traite separe en vigueur
entre l'Italie et l'Autriche-Hongrie, et l'alinea unique de l'article I du
traite separe entre l'Italie et l'Allemagne sont reciproquement identi-
ques, sauf cette seule difference que, dans le traite avec l'Allemagne,
Pobligation de s'employer ä empecher quelconque changement terri-
torial nuisible en Orient se refere expressement aux cötes et iles
ottomanes de l'Adriatique et de la mer Egee. En se tenant ä la lettre
du pacte, une semblable restriction ne pourrait avoir que ce seul effet:
d'obliger en verite l'Allemagne ä veiller au maintien du statu quo
dans les iles et sur les cötes ottomanes de la mer Egee et de l'Adria-
tique, mais de dispenser l'Allemagne, pour ce qui concerne les cötes
de la Mer Noire et les regions interieures de la peninsule des Balkans.
II est cependant permis de douter que la repugnance du Gouvernement
Allemand aille aussi loin pour tout ce qui peut Her son action dans
la peninsule balkanique. S'employer ä maintenir le statu quo, sans
distinction entre zone et zone de la peninsule, ne devrait pas lui
paraitre un engagement trop onereux ou incompatible avec la liberte
qu'il veut se reserver ä cet egard, principalement en vue de ses relations
avec la Russie. Je croirais que l'on pourrait demander, non sans
espoir d'un accueil favorable, que l'Allemagne aussi accepte, pour la
clause dont il s'agit, la formule du traite avec rAutriche. Et si notre
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demande est accueillie, dans le traite unique viendrait, immediatement
apres l'article V, un article VI reproduisant le premier alinea de
l'article I du traite separe avec l'Autriche-Hongrie.
6. L'article II actuel du traite separe avec TAllemagne suivrait
ensuite, comme article VII. — L'Autriche-Hongrie ne peut evidemment
avoir de difficulte ä opposer sa signature ä une stipulation semblable,
qui correspond ä sa politique, non moins qu'ä celle de ses deux allies.
7. Le deuxieme alinea actuel de l'article I du traite separe avec
l'Autriche-Hongrie formerait l'article VIII, en supprimant seulement
le mot „toutefois*'. La teneur, exprimant une obhgation exclusive-
ment bilaterale entre l'Italie et l'Autriche-Hongrie, en serait purement
et simplement maintenu.
8. Les cotes nord-africaines du bassin central et occidental de la
Mediterranee, sont exclusivement contemplees dans le traite separe
entre l'Italie et l'AUemagne, et nous ne voudrions pas demander que
l'Autriche-Hongrie assume une position identique ä l'egard de ces
regions, dans lesquelles eile a declare plusieurs fois n'avoir pas d'interets
directs. Cependant, meme en les considerant seulement dans les
rapports mutuels entre l'Italie et l'AUemagne, les pactes de 1887
relatifs ä ces regions ne nous paraissent pas correspondre pleinement
aux interets communs, qui sont des interets d'equiHbre et de paix,
L'article III du traite italo-allemand separe envisage, en effet, l'even-
tualite extreme d'une guerre provoquee par des invasions frangaises,
mais n'envisage point la possibilite d'une action pacifique et diplo-
matique concordee entre les deux Cabinets, II me semble qu'en se
modelant sur ce qui a ete sttpule, pour l'Empire Ottoman, entre l'Italie
et l'Autriche-Hongrie par le traite separe du 20 fevrier 1887, et entre
l'Italie, l'Autriche-Hongrie et l'Angleterre par I'accord ä trois du
12/16 decembre 1887, on pourrait convenablement stipuler des pactes
analogues entre l'Italie et l'AUemagne relativement ä la Tripolitaine,
la Tunisie et le Maroc. Le but pourrait etre atteint moyennant un
article IX ainsi congu:
„L'Italie et l'Allemagne s'engagent ä s'employer au maintien du
statu quo de fait et de droit dans les regions nord-africaines de la
Mediterranee: la Cyrenaique, Tripolitaine, Tunisie et le Maroc. Les
representants des deux Puissances dans ces regions auront l'instruc-
tion de se maintenir dans la plus grande intimite de Communications
et d'assistance reciproque. Si le maintien du statu quo se montrait
malheureusement impossible, l'Allemagne s'engage ä appuyer l'Italie
dans I'action que celle-ci, sous forme d'occupation ou autre garantie,
devrait entreprendre dans un interet d'equilibre et de compensation
legitime."
Q. Comme complement naturel du nouveau pacte, viendraien^
ensuite un article X et un article XI reproduisant les articles III et IV
actuel du traite separe entre l'Italie et l'Allemagne, avec les seuls
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variantes necessaires pour mieux mettre en lumiere qu'il s'agit ici
d'engagement pris exclusivement tintre l'Italie et l'Allemagne.
10. La Serie des pactes separes se trouvant ainsi epuisee, on
reviendrait ä la reproductions des articles VI, VII et VIII restants du
traite de 1882, qui dans le nouveau traite porteraient les numeros XII,
XIII et XIV.
11. L'articie XII (VI) pourrait, ä Texemple de ce qui a dejä ete
stipule dans les deux traites separes de 1887, se borner ä etablir
I'obligation du secret pour le seul contenu du traite, et non plus aussi
pour son existence. Desormais I'existence de l'Alliance a ete plusieurs
fois admise et publiquement declaree par les Ministres dirigeants des
trois Etats. A Tavenir aussi il sera utile de pouvoir I'affirmer, et il
ne serait pas bienseant de faire une chose expressement defendue par
le traite.
12. Enfin, ä Tarticle XIII (VII), on pourrait stipuler pour le
nouveau traite une duree de cinq ans apres l'echeance de la periode
quinquennale actuelle; ou, mieux encore, stipuler une duree de six
ans ä partir du jour de la signature du nouveau traite.
13. Pendant les negociations preliminaires on a parle de com-
pleter les pactes politiques de l'alliance moyennant quelque stipulation
d'ordre economique, et Ton a reconnu l'impossibilite de contracter
en cette matiere des engagements precis. II ne nous parait pas
cependant que Ton devrait pour cela renoncer ä toute idee de ce genre.
Pour ce qui nous concerne — et sous reserve de Tapprobation parle-
mentaire pour les stipulations ulterieures qui seraient le corollaire
d'un consentement de principe — nous ne serions pas cloignes de
participer ä un accord moyennant lequel les trois allies se pro-
mettraient reciproquement de s'accorder en matiere economique (finance,
douanes et chemins de fer), outre le traitement de la nation plus
favorisee, toutes les facilitations particulieres compatibles avec les
exigences propres ä chaque Etat et avec les Conventions respectives
avec les tierces Puissances.
14. En vertu des accords de fevrier 1887 et du mois de decembre
suivant*, l'Angleterre participe virtuellement aux stipulations en vigueur
entrc Tltalie et TAutriche-Hongrie, de par le traite separe du 20 fevrier
1887, relativement ä l'Orient proprement dit, c'est ä dire les terri-
toires sous la domination du Sultan. II serait bon que l'Allemagne
et l'Italie, sinon les trois Puissances, se promissent de s'employer
en commun, sous la forme que les circonstances consentiraient le
mieux, ä obtenir l'accession de l'Angleterre aussi aux pactes entre
l'Italie et l'Allemagne relativement ä la Tripolitaine, la Tunisie et
le Maroc, de fa^on ä ce que la Cooperation de l'Angleterre nous fut
assuree, diplomatiquement pour le maintien du statu quo en ces re-
* Vgl. Bd. IV, Kap. XXVI und XXVIII.
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gions, et aussi militairement pour les cas oü, d'une perturbation du
statu quo par le fait de la France, pourrait deriver un conflit arme
entre celle-ci et les deux Puissances alliees.
15. Les deux pactes adjonctifs ci-dessus mentionnes, devraient,
je pense, trouver plus convenablement place dans un protocole separe.
Pour notre compte, cependant, nous n'aurions pas de difficulte ä les
inscrer dans le corps meme du traite.
16. Pour mieux expliquer ma pensee je joins ici un projet de
traite* et de protocole** conformes aux propositions qui precedent.
17. Les presentes Instructions passent par Vienne, II en reste
copie au Comte Nigra, avec faculte d'en donner connaissance au Comte
Kalnoky. Je ferai de meme pour toute autre proposition ulterieure.
II est toutefois bien entendu que Ton veut concentrer la negociation
ä Berlin, et qu'il appartient au Chancelier Imperial, auquel nos pro-
positions sont presentees par vous, de nous repondre, non seulement
pour son propre compte, mais aussi pour le compte du Cabinet de Vienne,
par lui prealablement consulte. Cette methode, dejä pratiquee pour
les negociations de 1882 ä Vienne, et de 1887 ä Berlin, a donne
d'excellents resultats: il est bon de l'adopter aussi pour les negociations
actuelles ä Berlin. Une double discussion, en deux endroits differents,
sur le meme objet, serait evidemment impossible.
18. J'ai divise la presente depeche en autant de paragraphes
numerotes. De cette maniere les references eventuelles dans notre
correspondance ulterieure, surtout telegraphique, seront plus faciles.
19. Je conclus en vous exprimant, aussi au nom de Sa Majeste, la
plus entiere confiance, avec le ferme espoir que le concours eclaire
et devoue de Votre Excellence aura de bons resultats, pour le bien
du pays et ä Tavantage de la cause de la paix, en laquelle reside
I'essence de notre politique.
(signe) Rudini
Anlage
Projet de Traite***
Art. VI. — Les Hautes Parties contractantes n^ayant en vue que
le maintien, autant que possible, du status quo territorial en Orient,
s'engagent ä user de Leur influence pour prevenir toute modification
territoriale qui porterait dommage ä l'une ou ä l'autre des Puissances
signataires du present traite. Elles se communiqueront, ä cet effet,
* Vgl. die Anlage.
** Das von Rudini vorgeschlagene Schlußprotokoll ist wörtlich gleichlautend mit
dem nachher wirklich abgeschlossenen Protokoll (siehe Nr. 1427), braucht hier also
nicht aufgenommen zu werden.
*** Artikel 1— V hier übergangen, weil völlig gleichlautend mit den Artikeln I — V
des Vertrages vom 20. Mai 1882. Siehe Bd. III, Nr. 571.
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tous les renseignements de nature ä les eclairer mutuellement sur leurs
propres dispositions ainsi que sur Celles d'autres Puissances.
Art. VII. — Les stipulations de l'article qui precede ne s'applique-
ront d'aucune maniere ä la question egyptienne, au sujet de laquelle
les Hautes Parties contractantes conservent respectivement leur liberte
d'action, en egard toujours aux principes sur lesquels repose le
present traite.
Art. VIII. — Dans le cas oü, par suite des evenements, le maintien
du statu quo dans les regions des Balkans, ou des cotes et iles
ottomanes dans l'Adriatique et dans la mer Egee deviendrait im-
possible, et que, soit en consequence de l'action d'une Puissance
tierce, soit autrement, l'Italie ou rAutriche-Hongrie se verraient dans
la necessite de le modifier par une occupation temporaire ou per-
manente de Leur part, cette occupation n'aura Heu qu'apres un accord
prealable entre les deux Puissances, base sur le principe d'une compen-
sation reciproque pour tout avantage, territorial ou autre, que chacune
d'Elles obtiendrait en sus du statu quo actuel, et donnant satis-
faction aux interets et aux pretentions bien fondees des deux Parties.
Art. IX. — L'Italie et l'Allemagne s'engagent ä s'employer pour
le maintien du statu quo de fait et de droit dans les regions nord-
africaines sur la Mediterranee, ä savoir la Cyrenai'que, la Tripolitaine,
la Tunisie et le Maroc. Les representants des deux Puissances dans
ces regions auront pour Instruction de se tenir dans la plus etroite
intimite de Communications et assistance mutuelles. Si malheureuse-
ment le maintien du statu quo devenait impossible, l'Allemagne
s'engage ä appuyer l'Italie en toute action, sous la forme d'occupation
ou autre prise de garantie, que cette derniere devrait entreprendre
en vue d'un interet d'equilibre et de legitime compensation.
Art. X. — S'il arrivait que la France fit acte d'etendre son oc-
cupation, ou bien son protectorat, ou sa souverainete, sous une
forme quelconque, sur les territoires nordafricains, et qu'en con-
sequence de ce fait l'Italie crüt devoir, pour sauvegarder sa position
dans la Mediterranee, entreprendre elle-meme une action sur les dits
territoires nordafricains, ou bien recourir sur le territoire frangais
en Europe aux mesures extremes, l'etat de guerre qui s'en suivrait
entre l'Italie et la France constituerait ipso facto sur la demande
de l'Italie, et ä la charge commune de l'Italie et de l'Allemagne le
casus foederis prevu par les articles II et V du present traite, comme
si pareille eventualite y etait expressement visee.
Art. XI. — Si les chances de toute guerre entreprise en commun
contre la France par les deux Puissances amenaient l'Italie ä rechercher
des garanties territoriales ä l'egard de la France, pour la securite
des frontieres du Royaume et de sa position maritime, ainsi qu'en vue
de la stabiHte de la paix, l'Allemagne n'y mettra aucun obstacle,
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et au besoin, et dans une mesure compatible avec les circonstances,
s'appliquera ä faciliter les moyens d'atteindre uti semblable but.
Art. XII. — Les Hautes Parties contractantes se promettent
mutuellement le secret sur le contenu du present traite.
Art. XIII. — Le present traite restera en vigueur durant Tespace
de six ans ä partir de l'echange des ratifications.
Art. XIV. — Les ratifications du present traite seront echangees
ä Berlin, dans un delai de quinze jours, ou plus tot si faire se peut.
Nr. 1411
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 114 Wien, den 21. April 1891
Geheim
Der italienische Botschafter hat gestern dem Grafen Kälnoky
Mitteilung von den Vorschlägen gemacht, welche Marquis Rudini behufs
der Erneuerung unserer geheimen Verträge mit Italien in diesen Tagen
an den Grafen Launay nach Berlin hat abgehen lassen.
Graf Kälnoky, der mir dies heute mitteilte, sagte mir, er habe
sich nicht auf eine Diskussion der italienischen Vorschläge eingelassen,
sondern dem Grafen Nigra gesagt, da Berlin als Ort der Verhand-
lungen gewählt worden sei, so wolle er der Kaiserlich deutschen Re-
gierung nicht vorgreifen, sondern die Meinungsäußerung Euerer Ex-
zellenz abwarten, bevor er der Sache näher treten werde. Er habe,
so äußerte der Minister, sich deshalb auch nicht in Gegenwart des
Botschafters auf eine Vergleichung des neuen Projekts mit den alten
Verträgen eingelassen.
Soviel er indessen aus der flüchtigen Lesung des italienischen
Projekts habe ersehen können, scheine man sich doch die Auffassung
des Herrn Crispi einigermaßen angeeignet zu haben und eine Unifi-
zierung der zwei Verträge anzustreben. Vom österreichischen Stand-
punkt aus betrachtet, ließe sich dies auf den ersten Blick nicht als
absolut unannehmbar betrachten. Was Deutschland beträfe, so dürften
bei uns die Ansichten vielleicht sich anders stellen. Der Minister fragte
mich, ob ich ihn wohl darüber aufklären könnte.
Ich habe hierauf mich in dem Sinne dessen geäußert, was Euere
Exzellenz mir vor kurzem in Berlin gesagt haben, nämlich:
l.daß die Kaiserliche Regierung damit einverstanden sei, daß die
Verhandlungen in Berlin geführt würden,
2» daß Euere Exzellenz entschieden wünschten, daß die Sache so
rasch wie möglich unter Dach gebracht würde, und
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3. daß es der Kaiserlichen Regierung geraten erscheine, die alten
Verträge so, wie sie sind, zu erneuern, ohne ein Wort daran zu
ändern; denn, so hätten Euere Exzellenz argumentiert, wenn es
auch vielleicht Punkte gäbe, die besser zu ändern sein würden,
so wisse man nicht, wenn einmal an dem alten Werk gerührt
würde, zu welchen Weiterungen dies führen könnte.
Aus diesen Gründen, so setzte ich hinzu, glaubte ich kaum, daß
die italienischen Abänderungsvorschläge bei uns auf guten Boden
fallen würden.
Graf Kälnoky erwiderte mir, daß er ganz mit Euerer Exzellenz
Ansichten übereinstimmte, denn ihm käme es auch in erster Linie
darauf an, daß das Geschäft rasch abgeschlossen würde.
Nur einen Gedanken erlaube er sich der Erwägung Euerer Ex-
zellenz anheimzugeben, den er auch dem Grafen Nigra gegenüber
ausgesprochen hätte. Man hätte gesehen, daß die Vertragsfrist von
fünf Jahren zur Kenntnis des großen Publikums gekommen wäre.
Allerdings habe Herr Crispi dieses Geheimnis selbst in einer seiner
Reden verraten. Durch dieses Bekanntwerden sei eine Erregung in
die Welt gekommen; die Kabinette und die Feinde des Dreibundes
hätten in Anbetracht des baldigen Ablaufes der Verträge einerseits
darauf spekuliert, andererseits versucht, den Bund zu sprengen und
die Erneuerung zu hindern. Dies alles würde, wie er glaube, ver-
hindert werden, wenn man die Formel, welche sich auf die Dauer
der Verträge bezieht, abändere und sage: daß, wenn nach Ablauf
der Vertragszeit die Verträge nicht gekündigt würden, dieselben für
drei oder für vier Jahre weiterliefen.
Dieser Ausweg hätte auch folgenden Vorteil: Wenn, was ja nicht
unmöglich sei, ein Feind des Dreibundes die italienische Politik gerade
zu dem Augenblick leite, wo nach fünf Jahren die Erneuerungsverhand-
lungen stattfinden müßten, so könne dieser hindernd in den Weg
treten. Nach dem von ihm angeregten Modus sei dies aber nicht
leicht möglich, denn die Verträge zu kündigen sei viel schwerer, als
dieselben in neuen Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Hätte
man mit Rumänien diesen Modus angewendet, so würde man dort
den jetzigen Schwierigkeiten nicht gegenüberstehen.
Der Minister wartet nun eine Mitteilung von uns ab, wie die
italienischen Vorschläge aufgenommen worden sind. Je schneller die-
selbe erfolge, und je bestimmter sie lauten wird, desto besser würde
es sein,
Marquis Rudini sei gewiß vortrefflich, aber wielange er sich
werde halten können, sei nicht vorauszusehen.
H. VII. P. Reuß
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Nr. 1412
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 23. April 1891
Wenn die von Italien in den Artikeln VI und IX vorgenommenen
Veränderungen am Bestehenden den Zweck haben, Deutschland noch
mehr als bisher zu engagieren, so ist das um so ungerechtfertigter,
als gleichzeitig die italienischen Streitkräfte reduziert werden. Man
verlangt mehr und verringert die eigene Gegenleistung. Robilant ver-
langte am 26./11. 86 mehr, als der Vertrag von 1882 Italien bot;
unser Vertrag vom 20./2. 87 ging noch über jenes Verlangen hinaus,
und jetzt genügt auch das noch nicht. Ist denn der reale Nutzen
der italienischen Allianz für uns groß genug, um es in das Belieben
Italiens zu stellen, ob wir wegen einer afrikanischen Oase in einen
Kampf ums Dasein verwickelt werden?
Ich kann immer nur wiederholen: der militärische Wert von
Italiens Bundesgenossenschaft hängt zumeist davon ab, ob England
der vierte im Bunde ist und Italien die Sorge um seine Küsten ab-
nimmt. Eine Konzession an Italien, welche zugleich England nutzt
und verbindet, ist mir lieber wie eine, von der England nichts hat.
Man kann Italien Zugeständnisse machen für den Fall, daß die Türkei
zerfällt, nicht aber Versprechungen in Tripolis pp. bei lebendigem
Leibe des Türken, und solange England ein Interesse an seinem
Leben hat.
Ich vermeine also, daß ernstlich danach getrachtet werden muß,
Italien im Bündnis zu erhalten, ohne ihm mehr zu geben. Sagt ihm
die Form eines gemeinsamen Vertrages zu Dreien mehr zu, so habe
ich dagegen kein Bedenken.
Auffallend ist mir, daß im Eingange die Worte aus dem bis-
herigen Vertrag zu Dreien fehlen: animes du desir d'augmenter les
garanties de la paix generale. Bei der dereinstigen Interpretation
einzelner Vertragsstellen kann diese Zweckbestimmung doch nütz-
lich sein.
Zu Artikel VI. Gegen die Auslegung der Worte „sur les cotes
et lies ottomanes, dans la mer Adriatique et dans la mer Egee'* sehe
ich kein Bedenken. Meines Erachtens handelt dieser ganze Passus
nur von diplomatischer, nicht aber von militärischer Unterstützung,
wie aus dem „influence'' zu folgern ist. Auch findet Passus VI auf
alle drei, also auch auf Österreich Anwendung; hätte er eine mili-
tärische Tragweite, so wäre auch Österreich für den weiteren Begriff
„Orient" — falls dieser dem Sprachgebrauch nach Afrika überhaupt ein-
schließen sollte — militärisch gebunden, während Artikel VIII die „Aktion"
Österreichs auf eine Afrika nicht umfassende Sphäre beschränkt.
Ich würde glauben, daß eine Erweiterung unserer diplomatischen
6 Die Grnße roli'ik. 7. Bd. 81
Unterstützung in Nordafrika, soweit es zum Orient zu rechnen ist,
um so eher zugesagt werden kann, als es Italien nach Artikel X ohne-
hin in der Hand hat, uns wegen Nordafrika vor den casus foederis
zu stellen.
Zu Artikel IX. Während Artikel X zweifellos eine militärische
Unterstützung Italiens durch Deutschland für den Fall im Auge hat,
daß Italien Frankreich angreift, verstehe ich Artikel IX so, daß es
sich hier nur um ein diplomatisches „appuyer" handelt, aber ohne
Begrenzung auf Frankreich als Gegner und unter Ausdehnung auf
ganz Nordafrika. Damit könnten wir in Marokko zu einer Gegner-
schaft Englands kommen, die zu vermeiden wir auch um Italiens
willen ein dringendes Interesse haben. Italien darf keinen Vertrag
abschließen, der eine Spitze gegen England haben könnte.
Was wir Italien an Unterstützung auf diplomatischem Wege zu
leisten haben, drückt Artikel VI umfänglich genug aus; in dieser Hin-
sicht ist IX entbehrlich, kann nur verwirrend wirken.
Wie aber Italien glauben kann, sich für eine Verletzung des Status
quo ohne Krieg an anderer Stelle durch prise de garantie schadlos zu
halten, ist mir unerfindlich. Solche Verletzung könnte doch nur als
von einer Italien nicht verbündeten Macht, die am Mittelmeer liegt,
also Türkei oder Frankreich, ausgehend gedacht sein. Diesen gegen-
über kann Italien doch eine Garantie nur wieder in türkischem oder
französischem Lande suchen. Ohne Krieg ist das nicht denkbar. Mit
einem Kriege kann Italien aber auf Grund des Artikels X schon jetzt,
ohne den neuen Artikel zum Ziele kommen und uns den casus
foederis aufdrängen.
Ich verstehe nicht, was man sich italienischerseits unter solcher
Garantie denkt, und wo sie hergenommen werden soll. Wollte sie
Italien der Türkei entreißen, ehe diese aufgeteilt wird, und solange
England an der Erhaltung der Türkei ein Interesse hat, so verliert
es die Freundschaft Englands, ohne die es im Mittelmeer keinen Schritt
tun kann. Wollte Italien die Garantie aber auf französischem oder
von Frankreich beanspruchtem Boden suchen, ist der Krieg da und
muß erst, und zwar am Rhein und den Alpen, ausgefochten sein, ehe
vom Einheimsen eines Gewinnes die Rede sein kann.
Ich möchte hoffen, daß es möglich sein muß, Italien von der
Nutzlosigkeit des Artikels IX zu überzeugen. Vielleicht käme man am
leichtesten dahin, wenn man den italienischen Unterhändler veranlassen
könnte, aus dem Gebiet der Phrase herauszutreten und an Beispielen
zu erläutern, wie man sich diese occupation und prise de garantie
etwa denkt. Daraus werden wir kein Hehl zu machen brauchen,
daß wir militärisch Italien immer nur auf eine einzige Weise unter-
stützen können: Krieg am Rhein.
V. Caprivi
82
Nr. 1413
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Kiderlen
Eigenhändig
Berlin, den 24. April 1891
Die italienischen Vorschläge gipfeln, von nebensächlichen Ände-
rungsvorschlägen abgesehen, in zwei neuen Forderungen: wir sollen
am Balkan und im westlichen Mittelmeerbecken neue, resp. erweiterte
Verpflichtungen übernehmen; neue Vorteile werden uns dagegen nicht
geboten.
1. Die erste den Balkan i betreffende Forderung findet sich in Ar-
tikel VI des vom italienischen Botschafter übergebenen Vertrags-
entwurfs*. Nach diesem Artikel würde auch Deutschland ganz aii-
gemein sich verpflichten, den status quo territorial en Orient aufrecht-
zuerhalten.
Die Annahme des Artikels wäre somit ein offener, schriftlich
fixierter Bruch 2 mit der zur Zeit des Fürsten Bismarck befolgten Politik,
und zwar durch eine neue Belastung Deutschlands am Balkan, speziell
in Bulgarien. Diese vertragsmäßige Belastung würde einer Interpella-
tion im Reichstag gegenüber schwer abzuleugnen sein 3; sie würde
aber, bekannt geworden, die öffentliche Meinung schwer beunruhigen,
unsere Beziehungen zu Rußland trüben und uns keinen Vorteil bringen.
Unsere Politik am Balkan und an den Meerengen* derart festzu-
legen, hätte aber noch weitere positive Nachteile bei kriegerischen
Verwicklungen. Es läßt sich zum Beispiel folgender Fall denken: Wir
geraten in Krieg mit den Franzosen; Rußland droht, Österreich anzu-
greifen s, zeigt sich aber doch bereit, sich mit diesem über Kom-
pensationen auf der Balkanhalbinsel und an den Meerengen abzufinden.
Wir werden dann viel eher in der Lage sein, als „ehriiche Makler"
eine friedliche Auseinandersetzung zwischen Rußland und Österreich
zu vermitteln, wenn uns bei der Verfügung über die uns nicht direkt
interessierenden Objekte, welche zwischen jenen beiden Ländern streitig
sind, die Hände nicht zum voraus gebunden sind.
Dies den Italienern in dieser Weise zu sagen, dürfte aber nicht
gut sein. Der italienische Vorschlag könnte vielleicht in der Weise
abgelehnt werden:
wir müßten uns, wenn die Vertragsveriängerung bekannt werde 6,
im Reichstage auf die Frage gefaßt machen, ob wir im Orient neue
Verpflichtungen übernommen. Könnten wir dies nicht verneinen, so
würde Beunruhigung geschaffen'^, und unsere Beziehungen zu Ruß-
land, sowie zugleich auch diejenigen unserer Verbündeten zu letzterem
würden erschwert und getrübt. Oute deutsch-russische Beziehungen
* VgL Nr. 1410, Anlage.
6« 83
liegen aber im Interesse Italiens, denn dieses muß wünschen, daß wir
bei einem etwaigen gemeinschaftliciien Kriege mit Frankreicli unsere
ganze Kraft gegen dieses einsetzen könnten.
Das, was die Italiener zu erlangen wünschen, bestehe aber schon
de facto; eine Störung im Orient sei nur von Rußland zu befürchten;
für diesen Fall aber genüge unser Bündnis mit Österreich und unser
Beitritt zum österreichisch-rumänischen Vertrag, der ja voraussichtlich
erneuert werde. Schließlich würde ein, wenn auch nur vages Bekannt-
werden weitergehender Abmachungen über den „Orient" im all-
gemeinen geeignet sein, England zu verleiten, dort die Hände noch
mehr als bisher in den Schoß zu legen, was gerade Italien nicht
wünschen kann.
2. Die zweite italienische Forderung betrifft die nordafrikanische
Küste. Wenn hier, insbesondere um der italienischen Regierung dem
eigenen Lande gegenüber die Vertragserneuerung zu erleichtern, ein
weiteres Entgegenkommen von unsrer Seite über die bisherigen Ver-
träge hinaus für möglich erachtet würde, so müßten gegen die von
Italien in Artikel IX des Vertragsentwurfs vorgeschlagene Fassung
eine doppelte Einwendung gemacht werden:
Nach der italienischen Fassung müßten wir für jedes, also auch
ein aggressives Vorgehen Italiens in Nordafrika eintreten s, ohne daß
wir auf ein solches Vorgehen vorher irgendwelchen Einfluß hätten.
In dem von Graf Launay übergebenen Memoire sagt Marquis Rudini
selbst, der Artikel sei „modele sur ce qui a ete stipule pour l'Empire
ottoman entre l'Angleterre, l'ltalie et l'Autriche"; dort wird aber aus-
drücklich accord prealable verlangt. Ein solcher müßte auch in
dem neuen Paragraph IX zur Voraussetzung unserer Unterstützung
eines italienischen Vorgehens gemacht werden 9.
Dies dürfte italienischerseits anerkannt werden, da Rudini im Me-
moire von einer „action pacifique et diplomatique concordee" spricht.
Ferner muß es als selbstverständlich betrachtet werden, daß wir
keine italienische Aktion im Mittelmeer gegen England unterstützen
können. Dies muß aber in dem Paragraphen ausdrücklich gesagt
werden.
Der ganze Paragraph dürfte aber am besten in einen besonderen
Vertrag zu bringen sein, den man dann den Engländern eventuell
zeigen kann, um sie — nach Rudinis ausdrücklichem Wunsch — zu
ähnlichen Abmachungen mit Italien zu veranlassen.
Die Aufnahme des vorgeschlagenen Paragraphen in einen be-
sondern Vertrag 10, der für uns mit den erwähnten zwei Modifikationen
nicht unannehmbar sein dürfte, würde der allerseits gewünschten Be-
schleunigung der Erneuerung des Bündnisses förderlich sein.
Wenn Italien damit einverstanden ist, daß der Artikel VI den
Wortlaut erhält, den er in dem 87^'' Vertrag zwischen uns und Italien
hat, und daß bezüglich des Inhalts des Artikels IX, wenn sich über
84
dessen Fassung Schwierigkeiten ergeben sollten, zunächst nur in euicm
besondern Protokoll ein pactum de contrahendo geschlossen würde,
so würde einem raschen Abschlüsse des Vertrags kaum etwas im Wege
stehen.
Ob der auf die ökonomischen Beziehungen der drei Staaten unter-
einander sich beziehende passus materiell zu beanstanden ist, vermag
ich nicht zu beurteilen; formell würde er wohl ebenfalls besser zum
Gegenstand eines besondern Vertrags zu machen sein.
Im übrigen dürfte der italienische Wunsch, alle bisherigen Ver-
träge in einen einzigen zusammenzugießen, weder hier noch in Wien
zu beanstanden sein.
Österreich, dem keine neuen Verpflichtungen — von dem ökonomi-
schen Paragraphen abgesehen — zugemutet werden, dürfte auch sonst
keine Einwendungen erheben.
Der vom Prinzen Reuß erstattete Bericht (AS 594)* bezeugt dies.
Nur wünscht Graf Kälnoky, daß der Vertrag nach Ablauf von fünf
Jahren von selbst fortdauert, wenn er nicht ausdrücklich gekündigt
wird. Dagegen dürfte unsrerseits kein Bedenken bestehen.
Es kann aber wohl Graf Kälnoky überlassen werden, diesen An-
trag seinerseits zu stellen, sobald wir dem italienischen Wunsch ent-
sprechend das zwischen uns und Italien Vereinbarte in Wien vorlegen
werden.
Bezüglich des Geheimnisses wünscht Italien, daß dasselbe nur
auf den Inhalt des Vertrags, nicht auf seine Existenz erstreckt werde.
Vielleicht könnte man, statt das Wort „existence" (im italienischen Ent-
wurf Artikel XII) einfach zu streichen, dasselbe durch „duree" ersetzen.
Man würde sich also gegenseitig das Geheimnis über Inhalt und
Dauer des Vertrags, nicht aber über die Existenz desselben ver-
sprechen. Kiderlen
Randbemerkungen von Caprivis:
1 Woraus folgt, daß der Balkan unter den Begriff „Orient" fällt? M. E. ist das
nicht der Fall. Fiele er aber unter diesen Begriff, so haben wir uns schon
durch den jetzigen Artikel I zum maintien du statu quo territorial auf dem
Balkan bekannt.
2 Deduktion, deren Richtigkeit ich bezweifle.
3 Wie kommt der Reichstag dazu, hier eine Rolle zu spielen? Hat sich die Re-
gierung früher auf Interpellation über geheime Verträge eingelassen?
* An den Meerengen haben wir sie schon jetzt festgelegt; was heißt denn les
Gutes et lies Ottomanes dans la mer Egee anders?
* Wenn dieser Fall einträte, werden wir als Makler wenig Wert haben, weil
uns dann die Macht fehlt, unsere Vorschläge zu unterstützen.
^ Können wir das sagen, wenn wir uns zur Geheimhaltung verpflichten?
^ Sind Verpflichtungen für Tripolis nicht ebenso beunruhigend?
8 Müssen wir jetzt auch schon
9 gut
10 Ehe ich darüber urteilen kann, muß ich mir irgendeine Vorstellung darüber
bilden können, was mit prise de garantie gemeint ist.
* Siehe Nr. 1411.
85
Nr. 1414
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 24. April 18Q1
Zu dem anliegenden Gutachten gestatte ich mir zu bemerken:
Der Artikel I des österreichisch-ungarisch-italienischen Vertrages
vom Jahre 1887* begreift unter „Orient" weder Ägypten noch Nord-
afrika (Tripolis, Tunis pp,), sondern — wie der Absatz 2 des Artikels
zeigt — ausschließlich „les rcgions des Balkans, les cotes et iles
ottomanes dans l'Adriatique et dans la mer Egee''; der Artikel I des
deutsch-italienischen Vertrags von 1887** spricht in seinem Ein-
gange, wo davon die Rede ist, „Les parties contractantes ayant en
vue" usw., ebenfalls vom Statu quo territorial „en Orient", beschränkt
jedoch diesen Begriff in den folgenden Worten, in denen die
Verpflichtungen der kontrahierenden Staaten bezeichnet werden,
auf „les cotes et iles ottomanes dans la mer Adriatique et dans la
mer Egee". Wenn also dem neusten italienischen Vorschlage ent-
sprechend diese letzteren Worte gestrichen und Deutschland in dieser
Beziehung dieselben Verpflichtungen übernehmen solU, welche
bisher zwischen Italien und Österreich-Ungarn bestanden, so ist die
praktische Folge, daß wir uns engagieren 2, unsern Einfluß auch für
Erhaltung des Status quo „dans les Balkans" einzusetzen.
Ich halte diese Änderung für bedenklich. Wir haben allen Anlaß,
uns bezüglich der einschlägigen Fragen freie Hand zu erhalten; einmal
aus Rücksicht auf Rußland, welches in einer deutschen Garantie für
den von ihm perhorreszierten Status quo, speziell in Bulgarien bzw.
Ostrumelien einen feindseligen Akt Deutschlands erblicken und dar-
aus ein weiteres Motiv entnehmen würde, sich enger an Frankreich
anzuschließen, — sodann aber — und dies ist für mich der gewich-
tigste Punkt — weil wir durch ein engagement für den „Statu quo
territorial dans les Balkans" uns eines gewichtigen Pressionsmittels
gegenüber österreichischen bezw. ungarischen Velleitäten begeben
würden. Seit Jahren hat die Deutsche Regierung wiederholt Anlaß
gehabt, in Wien vor Torheiten zu warnen, speziell davor, daß Öster-
reich sich, um ungarischen Chauvinisten zu gefallen, in Bulgarien allzu-
sehr für die gegenwärtigen Verhältnisse engagiere und Rußland gegen-
über mit dem Feuer spiele; unser durchschlagendes Argument dabei
war, daß wir im Balkan und speziell in Bulgarien keinerlei Interesse
haben, und Österreich-Ungarn, wenn es durch sein Vorgehen einen
Krieg mit Rußland provoziere, dies auf eigene Gefahr tue. — Nehmen
* Vgl. Pribram a.a.O., 5.14.
** Vgl. Bd. IV, Nr. 859.
86
wir jetzt den italienischen Vorschlag an, so würde man uns in einem
ähnlichen Falle in Wien einfach erwidern: „Was wollt Ihr denn, wir
arbeiten an der Erhaltung des Status quo territorial, und für den
habt Ihr Euch selbst verbürgt 3/< Wir würden daher nach den ver-
schiedensten Richtungen in eine schiefe Lage kommen; — war es ein
Fehler, sich mit Rußland gegen den Statu quo dans les Balkans zu
engagieren (vgl. den geheimen Vertrag mit Rußland) und damit Ruß-
land die Möglichkeit zu geben, uns bei unseren Bundesgenossen zu
kompromittieren, so scheint es mir andererseits nicht geraten, uns mit
Österreich-Ungarn und Italien in Verbindungen für den Status quo
einzulassen, deren Geheimhaltung wir im Interesse der Erhaltung
unseres guten Verhältnisses zu Rußland wünschen müßten.
Auch der Gesichtspunkt, daß wir uns stets die Möglichkeit vor-
behalten müssen, zwischen Türkei und Österreich bezüglich der Balkan-
frage zu vermitteln, spricht gegen die Annahme des italienischen Vor-
schlags.
Der italienische Vorschlag bezüglich Nordafrikas ist nur akzeptabel,
wenn eine Form gefunden wird, welche auf England Rücksicht nimmt
und bei der Frage der Kompensationen die Notwendigkeit eines vor-
herigen Akkords statuiert.
Marschall
Randbemerkungen von Caprivis:
1 Dem widerspricht m. E. die verschiedene Fassung von Art. VIII und IX.
■ verstehe ich nicht so
3 nicht mehr wie schon bisher.
Nr. 1415
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
[Berlin, den 24. April 1891]
Die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Herren und
mir* kommt im wesentlichen darauf hinaus, was unter „Orient'' zu
verstehen ist. Diese Meinungsverschiedenheit zeigt aber auf alle Fälle,
daß die jetzige Redaktion von Artikel VI eine uns ungünstige Aus-
legung zuläßt und deshalb besser zu ändern ist.
Artikel IX scheint mir nach wie vor der bedenklichere schon seiner
noch größern Unklarheit wegen, und weil ich vermute, daß er die
Crispischen Traditionen in bezug auf Tunis, Biserta pp. im Auge hat.
• Vgl. die beiden voraufgehenden Schriftstücke.
87
Der Status quo de droit geht wohl auf die Umwandlung der französi-
schen Okkupation in Annexion.
In bezug auf den zitierten Reichstag bitte ich recherchieren zu
lassen, wie die Regierung sich bisher in bezug auf die Besprechung
geheimer Verträge verhalten hat.
Im übrigen habe ich mir erlaubt, einige Bleibemerkungen an den
Rand zu setzen.
y. Caprivi
Nr. 1416
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich Vll. Reuß
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Nr. 26S Berlin, den 25. April 1891
Geheim
Die dem Grafen Kalnoky bereits bekannten italienischen Vor-
schläge wegen Vertragserneuerung sind auch hier durch den Grafen
Launay mitgeteilt worden*. Für die Verhandlungen mit Österreich
dürfte sich kaum eine nennenswerte Schwierigkeit erheben, da diesem
die Übernahme neuer Verpflichtungen nicht zugemutet wird und Graf
Kalnoky nach Ihrem Bericht Nr. 114 vom 21.4.** gegen den italieni-
schen Vorschlag, nur einen Vertrag zu schließen, keine Bedenken zu
haben scheint.
Auch wir haben gegen den letzteren Vorschlag um so weniger
etwas einzuwenden, als bereits im Schlußprotokoll die Einheitlichkeit
und der Zusammenhang der bisherigen verschiedenen Verträge an-
erkannt ist.
Von uns dagegen verlangt Italien Zusagen, die weitergehen als
diejenigen, welche wir in den bisherigen Verträgen gemacht haben.
Es handelt sich um unsere Zusicherungen betreffs des Orients und
Nordafrikas; die neuen italienischen Forderungen finden sich in den
Artikeln VI und IX des vom Grafen Launay übergebenen Vertrags-
entwurfs; ich füge zu Euerer pp. Orientierung Abschrift der beiden
Artikel bei***.
Der Artikel VI ist eine wörtliche Wiedergabe des ersten Absatzes
des Artikels I des österreichisch-italienischen Vertrags vom 20. Februar
ISST; er unterscheidet sich dagegen von dem entsprechenden Artikel
* Siehe Nr. 1410.
** Siehe Nr. 1411.
*** Hier nicht wiederholt, da schon in Nr. 1410, Anlage abgedruckt
88
unseres Vertrags mit Italien dadurch, daß in letzterem sich hinter
„prevenir" die einschränkenden Worte befinden „sur les cotes
et lies ottomanes, dans la mer Adriatique et dans la mer Egee", und
daß diese Worte im jetzigen italienischen Entwurf auch uns gegen-
über weggelassen sind.
Artikel IX ist vollständig neu und enthält eine Erweiterung der
Verpflichtungen, welche wir in dem als Artikel X in den italienischen
Entwurf aufgenommenen Artikel III unseres Separatvertrags mit Italien
übernommen haben.
Es wird ohne längere Ausführungen dem österreichischen Herrn
Minister begreiflich erscheinen, daß wir wenig Neigung haben, weiter-
gehende Zusagen als die bisherigen zu machen, um so weniger, als
uns keine größeren Vorteile als Äquivalent geboten werden.
Wir glauben Grund zu der Annahme zu haben, daß die Wieder-
herstellung unseres alten Vertragstextes im Artikel VI bei Italien keine
großen Schwierigkeiten finden würde. Was den neu eingeschobenen
Paragraphen IX betrifft, so sind wir, um Italien unsern guten Willen
zu zeigen, und im Interesse einer Beschleunigung des Abschlusses des
neuen Vertrags bereit, mit den Italienern eine Fassung des Artikels IX
zu suchen, die uns denselben annehmbar macht.
Gegen das vorgeschlagene Protokoll, das gleichfalls neue Vor-
schläge enthält, und von dem ich deshalb Abschrift für Euere pp.
beifüge, haben wir keine Bedenken geltend zu machen.
Der erste, die handelspolitischen Beziehungen betreffende Abschnitt
ist schon in Anbetracht der am Eingang und am Schlüsse gemachten
Restriktionen mehr dekorativer Natur. Der Beitritt Englands zu unsern
Abmachungen mit Italien bezüglich Nordafrikas und des westlichen
Beckens des Mittelmeers, auf den sich der zweite Abschnitt des Protokolls
bezieht, kann uns nur erwünscht sein, und wir werden uns daher um
diesen Beitritt gern im „moment opportun" bemühen.
Den von Graf Kälnoky angeregten Gedanken, daß der Vertrag,
wenn er nicht ausdrücklich gekündigt wird, eo ipso als auf eine Reihe
von Jahren erneuert angesehen werden soll, werde ich gleichfalls
bei den Verhandlungen mit Italien schon jetzt verwerten.
Euere pp. wollen das Vorstehende dem Grafen Kälnoky vertrau-
lich mitteilen und dabei bemerken, daß wir, sobald wir uns mit Italien
über die einzelnen Punkte verständigt haben, das Resultat dieser Ver-
handlungen in Wien mitteilen werden. Sollte aber Österreich hinsicht-
lich irgendeines Punktes noch besondere Wünsche haben, so würden
wir deren vertrauliche Mitteilung an uns schon während des jetzigen
Stadiums der Verhandlungen als nützlich für eine wünschenswerte
Beschleunigung der Verhandlungen ansehen.
Marschall
89
Nr. 1417
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 126 Wien, den 27. April 1891
Geheim
Ich habe heut den Inhalt des hohen Erlasses Nr. 268 vom
25. d. Mts.*, die Erneuerung der geheimen Verträge mit Italien be-
treffend, mit dem Grafen Kälnoky besprochen.
Er hat mich gebeten, Euerer Exzellenz für diese sehr schätzens-
werte Mitteilung, sowie auch für die an den Tag gelegte Rücksichts-
nahme auf eventuelle österreichische Wünsche zu danken. Es freue
ihn sehr, daß Euere Exzellenz seine Anregung wegen des später ins
Leben zu tretenden Modus bei Erneuerung des Vertrags angenommen
hätten und verwerten wollten.
Der Minister erklärte mir zunächst, daß er keine Wünsche habe,
da für Österreich-Ungarn der italienische Entwurf auch in der heutigen
Form angenommen werden könnte. Außerdem würde er von dem
Wunsch geleitet, nichts zu tun, was den Abschluß hinausschieben und
denselben komplizieren könnte.
Er werde indessen sehr gern seine Zustimmung zu den Ab-
änderungen geben, die wir noch vornehmen würden. Daß uns die
beiden Artikel VI und IX nicht passen würden, habe er sich wohl
gedacht. Wenn Aussicht vorhanden sei, daß die Wiederherstellung
unseres alten Vertragstextes im Artikel VI bei Italien keine großen
Schwierigkeiten finden würde, so sei dies erfreulich.
Daß uns die neuen, durch die Einschiebung des Artikels IX zu
übernehmenden Verpflichtungen nicht paßten, fände er von unserem
Standpunkt aus betrachtet sehr natürlich. Die Italiener hätten eben
versucht, uns für den status quo am Mittelmeer in höherem Grade zu
interessieren, als dies bisher der Fall gewesen. Es sei italienischer
Brauch, bei allen Geschäften, auch bei politischen, aufzuschlagen und
zu versuchen, soviel als möglich zu erlangen; man ließe sich aber auch
wieder herunterhandeln, ohne daß dies weiter böses Blut machte.
Nach meinem ehrerbietigsten Erachten kann ich dem Grafen Käl-
noky nur recht geben. Wenn es den Italienern nützlich erscheint,
ohne größere Gegenleistungen zu gewähren, uns aus unserer be-
währten alten Stellung im Orient und Nordafrika hinauszudrängen,
so sehe ich durchaus keine Verpflichtung für uns, ihnen den Willen
zu tun; und dies um so weniger, als die itahenischen Wünsche hier
in Wien keine Unterstützung finden.
♦ Siehe Nr, 1418.
90
Mit der Fassung des Protokolls ist Graf Kälnoky einverstanden.
Er wird mit Interesse den weiteren geneigten Mitteilungen über den
Gang der Verhandlungen entgegensehen.
H. VII. P. Reuß
Nr. 1418
Der Militärattache in Rom Oberstleutnant von Engelbrecht
an Kaiser Wilhelm II.
Abschrift
Rom, den 28. April 1891
Der französische Botschafter Herr Billot, welcher seinerzeit der
BegräbnisfeierHchkeit des verstorbenen Prinzen Napoleon* fern-
geblieben war, hatte wenige Tage nach derselben eine Audienz er-
beten, um Seiner Majestät dem Könige das Beileid der französischen
Regierung auszudrücken.
Bei dieser Gelegenheit hat Herr Billot es für passend gefunden,
das Ansinnen auf Veröffentlichung des Vertrages zwischen Deutsch-
land und Italien, in noch dazu sehr entschiedener Weise, zu stellen.
Der Verlauf der Unterhaltung über diesen Gegenstand ist folgen-
der gewesen.
Auf die gegenseitigen Beziehungen beider Länder das Gespräch
überführend, äußerte Herr Billot sein Bedauern, daß es bisher noch
immer nicht gelungen sei, dieselben den Interessen beider Länder ent-
sprechend zu gestalten. Es liege allein beim Könige, einen wohl-
tätigeren Zustand hier eintreten zu lassen, und nun sprach Herr Billot
die Bitte aus, den Vertrag mit Deutschland zu veröffentlichen, da
es sonst für Frankreich nicht möglich sei, auf dem Wege des Ent-
gegenkommens weiter fortzuschreiten.
Der König erwiderte, daß die Veröffentlichung eines Vertrages
nur mit Zustimmung beider Kontrahenten geschehen könne, man möge
daher diesem Wunsche auch in Berlin Ausdruck geben.
Herr Billot deutete darauf hin, in welche schwierige Lage Frank-
reich versetzt wäre; man könne doch nicht verlangen, daß es seine
Mittel einem Lande zur Verfügung stelle, von welchem man wisse,
daß es im Falle eines Krieges sein Gegner sein werde.
Die Erklärung des Königs, daß Frankreich weder von Italien
noch von Deutschland eine Aggression zu befürchten habe, daß der
Vertrag lediglich auf Erhaltung des Friedens hinziele, vermochte den
Argwohn des Botschafters nicht zu beseitigen. Derselbe wurde ein-
dringlicher, konnte auch die bisher beobachtete Ruhe nicht bewahren
und ließ sich zur Äußerung verleiten, daß es schwer zu verstehen
Prinz Jerome Napoleon f 17. März in Rom.
91
sei, daß sich Männer zur Bildung einer Regierung fänden, ohne die
übernommenen Verträge zu kennen, er (Herr Billot) würde in ein
solches Ministerium nicht eintreten.
Die Verträge, so bemeri<te der König, seien von ihm eingegangen
worden; dieselbe zu kennen brauche nur der Minister des Äußern,
außer Mancini, Robilant, Crispi und Rudini habe in Italien niemand
von den Verträgen Kenntnis erhalten.
Da Herr Billot auch nun noch weiter insistierte, so erklärte der
König, dem Botschafter in der Auffassung, die Veröffentlichung des
Vertrages zu einem Gegenstand von Leistung und Gegenleistung zu
machen, nicht folgen zu können; für ihn sei es eine Frage der Würde;
er könne es nur bedauern, wenn die von einem Souverän gegebene
Versicherung hinsichtlich des Charakters des Vertrages nicht zur Be-
seitigung unrichtiger Vorstellung beizutragen vermöchte, und stellte,
das Gespräch beendigend, Herrn Billot anheim, sich an den Marquis
di Rudini zu wenden, der mit seinen Instruktionen versehen sei.
Einige Tage später sah Marquis di Rudini Herrn Billot und
unterließ nicht, demselben sein Befremden über die Art auszudrücken,
in welcher der Botschafter erwähnte Angelegenheit mit dem Könige
verhandelt habe.
Man war gescheitert, den Vertrag auf diesem Wege zu erfahren,
und schlug nunmehr einen anderen ein.
Es mögen ungefähr zehn Tage her sein, als sich bei dem Mi-
nister des Äußern Herr Padova, der Agent Rothschilds in Italien, an-
melden ließ.
Derselbe war Träger eines Briefes des Hauses Rothschild, in
welchem dasselbe mit ausdrücklicher Zustimmung des auswärtigen
Ministers Herrn Ribot der italienischen Regierung die notwendigen
Geldmittel zur Disposition stellte, unbeschadet des weiteren Verbleibens
Italiens in der Alliance mit Deutschland. Dahingegen möge Italien
nur in einer, eventuell geheim zu haltenden schriftlichen Erklärung
die Verhältnisse und Bedingungen angeben, unter denen es sich an
einem Kriege Deutschlands gegen Frankreich beteiligen werde.
Marquis di Rudini entgegnete Herrn Padova, daß er bedauere, einen
Italiener vor sich zu sehen, welcher der Regierung seines Vaterlandes
eine solch unwürdige Handlung zumute. Herr Padova fingierte über
diesen „unverdienten" Vorwurf Entrüstung und erwiderte, daß er ge-
glaubt, als Patriot zu handeln, um sein Land aus der schwierigen Lage
zu befreien. Der Marquis schnitt indes das Gespräch mit der Be-
merkung ab, daß jede Diskussion über die Angelegenheit mit dem
unnütz sei, welcher kein richtiges Fühlen für dieselbe habe, und bat
Herrn Padova, ihn nie wieder in dieser Sache aufzusuchen.
Dem Könige über den Vorfall mündlich Bericht erstattend, fügte
der Minister hinzu, daß im ersten Moment die Versuchung groß für
ihn gewesen sei, den schmutzigen Hebräer an den Hals zu fassen und
92
ihn mit einem Fußtritt zur Tür hinauszubefördern, doch habe er sich
trotz seiner Indignation gesagt, daß dies einem Marquis di Rudini
nicht wohl angestanden haben würde.
Die stolze Gesinnung des Marquis hat sich vor solchem Schmutz
gebäumt, und hat er deshalb auch nicht gewollt, daß durch eine Mit-
teilung an seine auswärtigen Organe diesen bekannt werde, mit welcher
vilen Zumutung man an ihn herangetreten sei.
Auf die ausdrückliche Frage, ob mir der Vorfall mitgeteilt werden
dürfe, hat der Minister nichts dagegen einzuwenden gehabt, und da
dieser Vorgang sowie der eingangs erwähnte für die Beurteilung der
Persönlichkeit der leitenden auswärtigen Minister am Tiber und an der
Seine von Wert sein kann, so habe ich gewagt, in tiefster Ehrfurcht
alleruntertänigsten Bericht hierüber zu erstatten i.
(gez.) von Enge 'brecht
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Gut.
Nr. 1419
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 28. April 1891
Meine Bedenken gegen Artikel IX bestehen auch in der jetzt vor-
geschlagenen Fassung* fort.
Ich verstehe nicht, was der Artikel, wenn er nicht irgendeinen mir
unbekannten Hintergedanken hat, den Italienern nutzen soll. Schädigen
die Franzosen italienisches Interesse in Nordafrika, so gibt den Ita-
lienern Artikel VI unsere diplomatische Unterstützung. Kommt dabei
italienischerseits ein Wunsch nach Kompensationen zum Ausdruck,
der uns gefällt, so werden wir unsere influence einsetzen, um den Ita-
lienern diese Kompensation zu verschaffen. Gefällt die Sache uns nicht,
so werden wir nicht darauf eingehen, und den Italienern steht dann
frei, den casus foederis nach Artikel X zu schaffen. Mehr gibt Artikel IX
auch nicht, es sei denn die Ausdehnung auf Marokko. Daß Italien an
Marokko ein reales Interesse hätte, sehe ich nicht. Der mür examen
* Am 27. April hatte Graf Launay dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall eine
neue Fassung des Artikels IX vorgeschlagen. Danach sollte das letzte Alinea dieses
Artikels nunmehr lauten: „Si malheureusement en suite d'un mür examen de la
Situation et un echange de vues, l'Italie et l'AUemagne reconnaissaient l'une et
I'autre que le maintien du statu quo devenait impossible, l'AUemagne s'engage
apres un accord formet et prealable, ä appuyer l'Italie en toute action
sous la forme d'occupation ou autre prise de garantie, que cette derniere devrail
entreprendre dans un interet d'equilibre et de legitime compensation. 11 est
entendu, que pour pareille eventualite une entente prealable devrait aussi s'etablir
avec l'Angleterre."
93
und der accord prealable schaffen keine andere Lage als die, die Ar-
tikel VI gibt, sind nur Umschreibungen des im Artikel VI Gesagten.
Soll der accord prealable heißen: wir behalten freie Hand, so ist der
ganze Artikel IX überflüssig. Kommen wir aber nicht zu gleichen An-
sichten, so tritt, wenn wir Artikel IX annehmen, wahrscheinlich eine
stärkere Spannung ein wie nach Artikel VI. — ' Reale, militärische Hülfe
verschafft Artikel IX den Italienern auch nicht, denn dazu sind wir
weder in Albanien noch in Afrika imstande. Solche Hülfe können wir
nur am Rhein geben, und dazu reicht Artikel X hin. Der italienische
Gedanke, ohne Krieg zu einer Kompensation zu kommen, ist gegen
Frankreichs Wille der Krieg und mit Frankreichs Einverständnis,
auch ohne im Vertrag eine Rolle zu spielen, ausführbar.
Dem Artikel IX liegt ein unklarer Gedanke zugrunde, der nach-
her in der Ausführung wieder Unklarheiten schaffen wird. Er nutzt
den Italienern nichts und uns auch nicht.
Die Änderung „de fait et de droit' in „territorial" wäre eine Ver-
besserung, schließt aber nicht aus, daß irgendeine unfindbare Oase
den Vorwand gibt, eine Verletzung des status quo zu konstruieren.
Die entente prealable mit England kann, wenn die Kompensation
z. B. in Albanien gesucht würde, Österreich verletzen.
V. Caprivi
Nr. 1420
Der italienische Botschafter in Berlin Qraf de Launay an den Staats-
sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, le 30. Avril 1891
Par telegramme que j'ai regu au moment oü Vous me faisiez
votre aimable visite, le Marquis di Rudini me mande qu'il accepte la
nouvelle formule que j'avais propose pour l'article IX*. — II me donne
seulement ^Instruction de proposer l'amendement suivant pour la der-
niere phrase relative ä l'Angleterre:
„II est entendu que pour pareiile eventualite, les deux Puissances
chercheraient ä se mettre egalement d'accord avec l'Angleterre."
Les mots „devrait aussi s'etablir" seraient donc omis de maniere
que les mots ,, entente prealable". Cela semblerait faire de cette en-
tente une condition preliminaire de l'appui de l'Allemagne. Ce serait
livrer en quelque sorte au bon plaisir d'une tierce Puissance la valeur
d'une clause engageant les deux Puissances contractantes. Une sem-
blable combinaison ne serait reguliere qu'au cas oü l'accession de
TAngleterre ä Talliance serait dejä un fait accorapli. —
* Siehe Nr. 1419, Fußnote.
94
Acceptez-Vous la modification proposee? — Je voudrais pouvoir
telegraphier aujourd^hui encore votre reponse au Marquis di Rudini.
— Ce qu'il demande me parait acceptable.
Mon bureau chiffre ä Tinstant ce qui a ete convenu dans notre
entretien aujourd'hui.
Launay
Nr. 1421
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Nr. 278 Berlin, den 30. April 1891
Geheim [abgegangen am 1. Mai]
Euerer pp. beehre ich mich zu Ihrer Information und für die
dortigen Akten anbei Abschrift des italienischerseits vorgelegten Ent-
wurfs eines an Stelle der bisherigen Allianceverträge von 1882 und 1887
zu setzenden einheitlichen Vertrags zu übersenden.
Dieser mit „I" bezeichnete Entwurf ist derjenige, der meinem
Erlasse Nr. 268 vom 25. d. Mts.* zugrunde gelegt war, und der auch
dem Grafen Kälnoky bereits vorliegt.
Die weiter beiliegende, mit „II" bezeichnete Abschrift eines Ent-
wurfs** enthält das Resultat meiner bisherigen Besprechungen mit dem
Grafen Launay. Nach den dem letzteren inzwischen aus Rom zu-
gegangenen Weisungen ist man dort mit diesem neuen Projekt im
wesentlichen einverstanden.
Über zwei Punkte, die ich weiter unten näher bezeichnen werde,
fehlt noch die Äußerung des Marquis Rudini. pp.
Wie Euere pp. aus Entwurf II ersehen, haben wir an Stelle des
italienischen Artikels VI zwei Artikel — VI und VII — gesetzt, welche
zugleich den im italienischen Entwurf als VIII bezeichneten Artikel
enthalten. Damit ist der Wortlaut der betreffenden Artikel des deutsch-
italienischen und des österreichisch-italienischen Vertrags wieder-
hergestellt. Der Marquis Rudini hat sich mit dieser Redaktion einver-
standen erklärt.
Der Artikel VIII des Entwurfs II entspricht dem Artikel VII des
Entwurfs I, und somit, da Artikel VIII des letzteren in Artikel VII
des Entwurfs II enthalten ist, entspricht Artikel IX des Entwurfs II
wieder dem Artikel IX des Entwurfs I, mutatis mutandis.
Die von uns beantragten Änderungen im Artikel IX, die Euere pp.
* Siehe Nr. 1416.
** Der Abdruck erübrigt sich, da d-eser zweite Entwurf in allem irgend Wesent-
lichen bereits identisch ist mit dem endgültigen Wortlaut des Vertrages.
95
mit roter Tinte eingezeichnet finden, sind von Marquis Rudini bereits
gebilligt. Nur haben wir noch ferner die Worte „et le Maroc" ge-
strichen; darüber fehlt noch die Antwort aus Rom, da Graf Launay
erst heute darüber nach Rom berichtet hat. Doch zweifeln wir
auch in diesem Punkt nicht an der italienischen Zustimmung. Wir
haben die Streichung jener Worte beantragt, zunächst, weil wir sie
angesichts des spanisch-italienischen Abkommens, dem wir ebenso
wie Österreich beigetreten sind*, für ein superfluum halten.
Maßgebend für uns war aber der Gesichtspunkt, daß sich im letzt-
genannten Abkommen Italien und Spanien feierlich zusagen, sich über
alles Marokko Betreffende laufende Mitteilungen zu machen, und daß
es deshalb nicht angängig ist, daß wir mit Italien ein vor Spanien
zu verheimlichendes Separatabkommen treffen, das namentlich bei den
etwaigen Änderungen des „statu quo** mit dem spanisch-italienischen
Abkommen kollidieren könnte.
Artikel XIV, betreffend die Vertragsdauer, entspricht der Anregung
des Grafen Kälnoky. Um demselben in Rom leichter Eingang zu ver-
schaffen, habe ich mit Graf Launay den ziemlich nichtssagenden Ar-
tikel XIII verabredet.
Letzteres bemerke ich jedoch nur zu Ihrer persönlichen In-
formation. Auch über diesen Punkt — die jeweilige Wiedererneuerung
des Vertrags — steht die Antwort des Marquis Rudini noch aus.
Sobald die Antwort aus Rom auf die zwei Punkte — Streichung
von Marokko und Artikel wegen der Dauer — eingegangen ist, und
falls dieselbe, wie zu erwarten, zustimmend lautet, steht von unserer
und italienischer Seite der Unterzeichnung des Vertrags nichts mehr
im Wege.
Euere pp. wollen vorstehendes dem Grafen Kälnoky mitteilen
und ihm den Entwurf II zu lesen geben, ihm auch auf V^erlangen Ab-
schrift desselben lassen. Euere pp. bitte ich, zugleich den Herrn
Minister zu fragen, ob er seinerseits — unter Voraussetzung der italieni-
schen Zustimmung zu den noch offenen zwei Punkten — noch Wünsche
oder Bedenken hinsichtlich des zwischen uns und Italien vereinbarten
Vertragstextes habe. Sollte dies nicht der Fall sein, so wollen Euere pp.,
falls der Herr Minister mit der Unterzeichnung in Berlin einverstanden
ist, demselben vorschlagen, schon jetzt die erforderliche Spezialvollmacht
für den hiesigen österreichischen Botschafter anfertigen und abgehen
zu lassen, damit die Unterzeichnung dann nach kurzer telegraphischer
Verständigung ohne Verzug vor sich gehen kann. Denselben Vorschlag
habe ich durch Graf Launay an das italienische Kabinett übermitteln
lassen.
Marschall
* Vgl. Nr. 1394, S. 54, Fußnote **. Den Text des Abkommens siehe bei Pribram
a. a. O., S. 61 ff.
96
Nr. 1422
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Nr. 80 Berlin, den 1. Mai 1891
Geheim
Heute abend dort eintreffender Erlaß, betreffend Vertragserneue-
rung*, ist dahin zu ergänzen, daß soeben italienisches Kabinett den
in jenem Erlaß noch als offen bezeichneten zwei Punkten zugestimmt hat.
Demnach sind wir und Italien über Entwurf II einig. Einige ganz
indifferente stilistische Änderungen folgen per Postchiffre! Teilen
Sie dies Graf Kälnoky mit dem Hinzufügen mit, daß Graf Launay
seine Spezialvollmacht am 6. erwartet. Melden Sie telegraphisch Ant-
wort des Ministers
Marschall
Nr. 1423
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 81 Wien, den 2. Mai 1891
Geheim
Antwort auf Erlaß Nr. 278** und Telegramm Nr. 80***.
Graf Kälnoky wird Vertragsentwurf seinem Kaiser vorlegen. Vor-
behaltlich der allerhöchsten Genehmigung, an der er nicht zweifelt,
erklärt er mir schon heute sein Einverständnis. Er beabsichtigt nicht,
Abänderungen vorzuschlagen, und wird die Vollmacht für Graf Szechenyi
womöglich am 5. in Berlin eintreffen.
Reuß
Nr. 1424
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an Kaiser Wilhelm II.
Telegramm. Entzifferung
Geheim Berlin, den 6. Mai 1891
Euerer Majestät melde ich, daß der Vertrag soeben von dem Herrn
Reichskanzler und den Botschaftern von Österreich-Ungarn und Italien
* Siehe Nr. 1421.
** Siehe Nr. 1421.
♦** Siehe Nr. 1422.
7 Die Große Politik. 7 Bd. 97
unterzeichnet wurde i. Die italienische Regierung hat aus parlamen-
tarischen Gründen den Wunsch aussprechen lassen, daß die Tatsache
der Erneuerung der Verträge erst in einigen Wochen bekanntgegeben
werde 2.
Marschall
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Hurrah „Durch."
2 Einverstanden
Nr. 1425
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderien
Nr. 208 Berlin, den 7. Mai 1891
Geheim
Euerer pp. beehre ich mich zu Ihrer ganz persönlichen Informa-
tion ergebenst mitzuteilen, daß gestern nachmittag die Euerer pp. be-
kannten geheimen Verträge aus den Jahren 1882 und 1887 in einem
neuen einheitlichen Vertrage verlängert worden sind. Dieser neue
Vertrag ist seit gestern an Stelle der bisherigen drei Verträge getreten,
nämlich des Vertrags zu Dreien vom 20. Mai 1882 resp. 20. Februar
1887, sowie des deutsch-italienischen und des österreichisch-italieni-
schen Vertrags von demselben Datum. In den neuen Vertrag sind die
Bestimmungen der erwähnten Verträge wörtlich wieder aufgenommen;
außerdem sind noch einige neue, nachstehend aufgeführte Ver-
einbarungen dazu getreten. Die wichtigste derselben enthält der Ar-
tikel IX des neuen Vertrags, in welchem wir den Italienern unsere
Unterstützung für Aufrechterhaltung des Status quo an der nordafrikani-
schen Küste, mit Ausnahme Marokkos ganz allgemein zusagen und
gleichzeitig uns für eine Verständigung über eine Aktion engagieren,
die einzutreten haben würde, wenn nach der gemeinsamen Auf-
fassung beider Regierungen die Aufrechterhaltung des status quo un-
möglich würde. Marokko ist in diesem Artikel mit Rücksicht auf das
in dieser Beziehung bestehende spanisch-italienische Abkommen, dem
wir beigetreten sind, nicht erwähnt. Euere pp. erhalten anbei Ab-
schrift des Wortlauts des Artikels IX, welche Sie ebenso wie diesen
Erlaß unter Ihren persönlichen, sicheren Verschluß nehmen wollen.
Die Dauer des Vertrags ist zunächst auf 6 Jahre festgesetzt; er-
folgt jedoch ein Jahr vor Ablauf desselben keine Kündigung seitens
eines der Beteiligten, so bleibt der Vertrag für weitere 6 Jahre in
Kraft.
98
Dem Vertrag ist noch ein Protokoll angeheftet. In dem ersten
Absatz desselben versprechen sich die drei Kontrahenten gegenseitiges
Entgegenkommen in ökonomischen Fragen; in dem zweiten Absatz
sagen sich die vertragschUeßenden Parteien zu, in geeigneter Weise
auf Anschluß Englands an die deutsch-italienischen Abmachungen be-
züglich der nordafrikanischen Küste und des westlichen Mittelmeer-
beckens hinzuwirken, pp.
Marschall
Nr. 1426
Text des Dreibund- Vertrages vom 6. Mai 1891
Ausfertigung
Leurs Majestes
l'Empereur d'AlIemagne, Roi de Prusse,
TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme etc. et Roi Apostolique
de Hongrie, et
le Roi d'Italie
fermement resolus d'assurer ä Leurs Etats la continuation des bienfaits
que leur garantit, au point de vue politique aussi bien qu'au point
de vue monarchique et social, le maintien de la Triple Alliance, et
voulant dans ce but prolonger la duree de cette alliance conclue le
20 mai 1882 et renouvelee, une premiere fois dejä, par les traites du
20 fevrier 1887 dont l'echeance etait fixee au 30 mai 18Q2 ont, ä cet
effet, nomme comme Leurs plenipotentiaires, savoir:
Sa Majeste l'Empereur d'AlIemagne, Roi de Prusse:
le Sieur Leon de Caprivi, general d'infanterie, Chancelier de
l'Empire, Son President du Conseil des Ministres de Prusse;
Sa Majeste l'Empereur d'Autriche, Roi de Boheme etc. et Roi Apo-
stolique de Hongrie:
le Sieur Emeric, Comte Szechenyi, de Särväri Felsö-Videk, Cham-
bellan et Conseiller Intime Actuel, Son Ambassadeur Extraordi-
naire et Plenipotentiaire pres Sa Majeste l'Empereur d'AlIemagne,
J^oi de Prusse;
Sa Majeste le Roi d'Italie:
le Sieur Edouard, Comte de Launay, Son Ambassadeur Extra-
ordinaire et Plenipotentiaire pres Sa Majeste l'Empereur d'AlIe-
magne, Roi de Prusse,
lesquels, apres echange de leurs pleins-pouvoirs, trouves en bonne et
due forme, sont convenus des articles suivants:
Article I.
Les Hautes Parties contractantes se promettent mutuellement paix
et amitie, et n'entreront dans aucune alliance ou engagement dirige
contra l'un de Leurs Etats.
r 99
Elles s'engagent ä proceder ä un echange d'idees sur les questions
politiques et economiques d'une nature generale qui pourraient se
presenter, et se promettent en outre Leur appui mutuel dans la limite
de Leurs propres interets.
Article II.
Dans le cas oü I'Italie, sans provocation directe de sa part, serait
attaquee par la France pour quelque motif que ce soit, les deux autres
Parties contractantes seront tenues ä preter ä la Partie attaquee secours
et assistance avec toutes Leurs forces.
Cettc meme Obligation incombera ä I'Italie dans le cas d'une
agression non directement provoquee de la France contre TAllemagne.
Article III.
Si une ou deux des Hautes Parties contractantes, sans provocation
directe de Leur part, venaient ä etre attaquees et ä se trouver
engagees dans une guerre avec deux ou plusieurs Grandes Puissances
non signataires du present Traite, le „casus foederis" se presentera
simultanement pour toutes les Hautes Parties contractantes.
Article IV.
Dans le cas oü une Grande Puissance non signataire du present
Traite menacerait la securite des Etats de l'une des Hautes Parties
contractantes, et la Partie menacee se verrait par lä forcee de lui faire
la guerre, les deux autres s'obligent ä observer, ä l'egard de Leur
allie, une neutralite bienveillante. Chacune se reserve, dans ce cas,
la faculte de prendre part ä la guerre, si Elle le jugeait ä propos, pour
faire cause commune avec Son allie.
[-- ^ Article V.
■ Si la paix de l'une des Hautes Parties contractantes venait a etre
menacee dans les circonstances prevues par les articles precedents,
les Hautes Parties contractantes se concerteront en temps utile sur
les mesures militaires ä prendre en vue d'une Cooperation eventuelle.
Elles s'engagent, des-ä-present, dans tous les cas de participation
commune ä une guerre, ä ne conclure ni armistice, ni paix, ni traite,
que d'un commun accord entre Elles.
Article VI.
L'Allemagne et I'Italie, n'ayant en vue que le maintien, autant
que possible, du statu quo territorial en Orient, s'engagent ä user
de Leur influence pour prevenir, sur les cotes et iles ottomanes dans
la Mer Adriatique et dans la Mer Egee, toute modification territoriale
qui porterait dommage ä l'une ou ä l'autre des Puissances signataires
du present Traite. Elles se communiqueront, ä cet effet, tous les
renseignements de nature ä s'eclairer mutuellement sur Leurs propres
dispositions, ainsi que sur Celles d'autres Puissances.
100
Article VII.
L'Autriche-Mongrie et Tltalie, n'ayant en vue que le maintien,
autant que possible, du statu quo territorial en Orient, s'engagent ä
user de Leur influence pour prevenir toute modification territoriale
qui porterait dommage ä l'une ou ä Tautre des Puissances signataires
du present Traite. EUes se communiqueront, ä cet effet, tous les
renseignements de nature ä s'eclairer mutuellement sur Leurs propres
dispositions, ainsi que sur celles d'autres Puissances. Toutefois dans
le cas, oü, par suite des evenements, le maintien du statu quo dans
les regions des Balkans ou des cötes et lies ottomanes dans l'Adria-
tique et dans la Mer Egee deviendrait impossible, et que, soit en
consequence de Taction d'une Puissance tierce soit autrement, l'Autriche-
Hongrie ou l'Italie se verraient dans la necessite de le modifier par
une occupation temporaire ou permanente de Leur part, cette oc-
cupation n'aura Heu qu'apres un accord prealable entre les deux
Puissances, base sur le principe d'une compensation rcciproque pour
tout avantage, territorial ou autre, que chacune d'Elles obtiendrait
en sus du statu quo actuel et donnant satisfaction aux interets et
aux pretentions bien fondees des deux Parties.
Article VIII.
Les stipulations des articles VI et VII ne s'appliqueront d'aucune
maniere ä la question egyptienne au sujet de laquelle les Hautes
Parties contractantes conservent respectivement Leur liberte d'action,
en egard toujours aux principes sur lesquels repose le present Traite.
Article IX.
L'AlIemagne et l'Italie s'engagent ä s'employer pour le maintien
du statu quo territorial dans les regions nord-africaines sur la Me-
diterranee ä savoir la Cyrenaique, la Tripolitaine et la Tunisie. Les
representants des deux Puissances dans ces regions auront pour In-
struction de se tenir dans la plus etroite intimite de Communications
et assistance mutuelles.
Si malheureusement, en suite d'un mür examen de la Situation,
l'Allemagne et l'Italie reconnaissaient l'une et l'autre que le maintien
du statu quo devenait impossible, l'Allemagne s'engage, apres un
accord formel et prealable, ä appuyer l'Italie en toute action sous
la forme d'occupation ou autre prise de garantie, que cette derniere
devrait entreprendre dans ces memes regions en vue d'un interet
d'equilibre et de legitime compensation.
II est entendu que pour pareille eventualite les deux Puissances
chercheraient ä se mettre egalement d'accord avec l'Angleterre.
Article X.
S'il arrivait que la France fit acte d'etendre son occupation ou
bien son protectorat, ou sa souverainete, sous une forme quelconque,
101
sur les territoires nord-africains, et qu'en consequence de ce fait PItalie
crüt devoir, pour sauvegarder sa position dans la Mediterranee, entre-
prendre elle-meme une action sur les dits territoires nord-africainSj ou
bien recourir sur le territoire fran^ais en Europe aux mesures ex-
tremes, l'etat de guerre qui s'en suivrait entre i'Italie et la France
constituerait ipso facto, sur la demande de Tltalie, et ä la charge
commune de l'Allemagne et de I'Italie, le casus foederis prevu
par les articles II et V du present Traite, comme si pareille even-
tualite y etait expressement visee.
Article XI.
Si les chances de toute guerre entreprise en commun contre la
France par les deux Puissances amenaient I'Italie ä rechercher des
garanties territoriales ä l'egard de la France, pour la securite des
frontieres du Royaume et de sa position maritime, ainsi qu'en vue
de la stabilite et de la paix, l'Allemagne n'y mettra aucun obstacle,
et au besoin, et dans une mesure compatible avec les circonstances,
s'appliquera ä faciliter les moyens d'atteindre un semblable but.
Article XII.
Les Hautes Parties contractantes se promettent mutuellement le
secret sur le contenu du present Traite.
Article XIII.
Les Puissances signataires se reservent d'y introduire ulterieure-
ment, sous forme de protocole et d'un commun accord, les modifica-
tions dont l'utilite serait demontree par les circonstances.
Article XIV.
Le present Traite restera en vigueur pour l'espace de six ans ä
partir de l'echange des ratifications; mais s'il n'avait pas ete denonce
un an ä l'avance par l'une ou l'autre des Hautes Parties contractantes,
il restera en vigueur pour la meme duree de six autres annees.
Article XV.
Les ratifications du present Traite seront echangees ä Berlin, dans
un delai de quinze jours, ou plus tot si faire se peut.
En foi de quoi, les Plenipotentiaires respectifs ont signe le present
Traite, et y ont appose le cachet de leurs armes.
Fait ä Berlin, en triple exemplaire, le sixieme jour du mois de
mal mil huit cent quatre-vingt-onze.
(L. S.) V. Caprivi
(L. S.) Szechenyi
(L. S.) Launay
102
Nr. 1427
Prolocole
Au moment de proceder ä la signature du Traite de ce jour entre
l'Allemagne, l'Autriche-Hongrie et l'Italie, les Plenipotentiaires sous-
signes de ces trois Puissances, ä ce düment autorises, se declarent
mutuellement ce qui suit:
1. Sauf reserve d'approbation parlamentaire pour les stipulations
effectives qui decouleraient de la presente declaration de principe, les
Hautes Parties contractantes se promettent, des ce moment, en matiere
economique (finances, douanes, chemins de fer) en sus du traitement
de la nation la plus favorisee, toutes les facilites et tous les avantages
particuliers qui seraient compatibles avec les exigences de chacun des
trois Etats et avec Leurs engagements respectifs avec les tierces Puis-
sances.
2. L'accession de l'Angleterre etant dejä acquise, en principe,
aux stipulations du Traite de ce jour qui concernent FOrient, propre-
ment dit, ä savoir les territoires de ['Empire Ottoman, les Hautes
Parties contractantes s'emploieront au moment opportun, et pour autant
que les circonstances le comporteraient, ä provoquer une accession
analogue ä l'egard des territoires nord-africains de la partie centrale
et occidentale de la Mediterranee, le Maroc compris. Cette accession
pourrait se realiser moyennant acceptation, de la part de TAngleterre,
du Programme etabli aux articles IX et X du Traite de ce jour.
En foi de quoi, les trois Plenipotentiaires ont signe, en triple
exemplaire, le present protocole.
Fait ä Berlin, le sixieme jour du mois de mai mil huit cent quatre-
vingt-onze.
V. Caprivi
Szechenyi
Launay
Nr. 1428
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschali
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VIl. Reuß
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Nr. 83 Berlin, den 8. Mai 1891
„Daily Telegraph" von heute meldet „Unterzeichnung neuen Drei-
bundsvertrags", angeblich aus Berlin. Ähnliche Nachricht kam
vor einiger Zeit aus Wien. Wir haben heutige Meldung in „Nord-
deutscher Allgemeiner Zeitung" dementiert*, da im gegenwärtigen
* Das Dementi der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" lautete:
„Der , Daily Telegraph' enthält folgende aus Berlin datierte und angeblich
aus ,guter Quelle' stammende Mitteilung: Rudini sei im Interesse des euro-
103
Moment jedes Durchsickern der vollen Wahrheit in hohem Grad un-
erwünscht. Vorstehendes zur Mitteilung. Hiesiger Korrespondent des
erwähnten englischen Blattes verkehrt nicht im Auswärtigen Amt.
Ist Herr Lavino noch Wiener Korrespondent des „Daily Telegraph"?
Marschall
Nr. 1429
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 111 Berlin, den 19. Juni 1891
Graf Launay hat mir heute ein Telegramm des Marquis di Rudini
vorgelesen, wonach letzterer bei der demnächstigen Beantwortung
der Interpellation Cavalotti voraussichtlich in die Lage kommen wird,
die Tatsache der stattgehabten Erneuerung der Tripelallianz bekannt-
zugeben; zuvor wünschte sich Marquis di Rudini unseres Einverständ-
nisses zu versichern.
Ich habe dem Botschafter erwidert, daß unsererseits keinerlei
Bedenken gegen die Veröffentlichung der Tatsache der Erneuerung
bestehen. Ew. pp. bitte ich, dies dem Grafen Kälnoky mitzuteilen.
Marschall
päischen Friedens und Italiens von der Rätlichkeit des weiteren Verharrens
Italiens beim Dreibunde auf fünf Jahre überzeugt. Die , schon unterzeich-
neten' Vertragsbestimmungen seien den früheren ähnlich. Eine ähnliche Nach-
richt ist bereits vor einiger Zeit aus Wien in die Welt gesetzt worden. Wenn
dieselbe nunmehr in bestimmterer Form wieder aufgewärmt wird, so düi"fte
nach unserer Kenntnis auch hierbei der Zweck obwalten, durch die Behaup-
tung unrichtiger Tatsachen Entgegnungen zu provozieren, um darauf weitere
politische Kombinationen aufzubauen."
Auf dieses Dementi hin meldete sich der Berliner Korrespondent des „Daily
Telegraph'' J. L. Bashford bei Holstein als Verfasser des inkriminierten Artikels,
dessen Unterlagen er von einer durchaus vertrauenswürdigen Autorität erhalten zu
haben behauptete.
Unangenehmer noch als die Indiskretion des „Daily Telegraph" wurden im
Auswärtigen Amt Enthüllungen über die Verlängerung des Dreibundtraktats
empfunden, die die „Saale-Zeitung" am 2. Juni aus „absolut zuverlässiger" und
tatsächlich ziemlich genau orientierter Quelle brachte. Reichskanzler von Ca-
privi ordnete aus diesem Anlaß eine verantwortliche Vernehmung des gesamten
Botschaftspersonals in Rom wegen etwaiger Indiskretionen an, die indessen negativ
ausfiel.
Wenn also später sich die Meinung festsetzte, als sei die Erneuerung des
Dreibundvertrags mit zuviel Geräusch in Szene gesetzt, so kann die deutsche
Regierung keinerlei Vorwurf treffen. Auch der deutsche Kaiser hat erst am
29. Juni, demselben Tage, wo der italienische Ministerpräsident Rudini in der
Kammer die Verlängerung des Dreibundvertrages proklamierte (vgl. Nr. 1430),
persönlich Herrn Nissen auf der Fahrt von Hamburg nach Helgoland eine
dahingehende Mitteilung gemacht
104
Nr. 1430
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 188 Rom, den 29. Juni 1891
In der heutigen Senatssitzung interpellierte Graf Taverna den
Ministerpräsidenten wegen der umlaufenden Gerüchte bezüglich eines
Übereinkommens zwischen Italien, England und den Zentralmächten.
Marquis Rudini erwiderte darauf:
Der Senat kennt die Intentionen betreffs der äußeren Politik,
Intentionen, welche ich die Ehre gehabt habe, bei der letzten Dis-
kussion über das Budget des Ministeriums des Äußern zu bezeichnen.
Es kann nicht schaden, sie zu wiederholen. Das, was Italien mit Aus-
dauer und Zähigkeit will, ist der Friede, weil es dies für die Ent-
wicklung seiner Institutionen und zur Verbesserung seiner ökonomi-
schen Lage für nötig hält.
Italien will außerdem, daß das Gleichgewicht in Europa, der
Status quo, besonders im Mittelmeer aufrechterhalten werde.
Um dieses Ziel zu erreichen, datiert es nicht bloß von heute, daß
die Regierung Einverständnisse zu haben und Übereinkommen mit
denjenigen Mächten zu schließen sucht, welche sich in derselben
Ideenrichtung befinden und Interessen haben, welche mit den unseren
Hand in Hand gehen.
Es sind schon Jahre her, daß mit England ein Ideenaustausch
stattfand, und daß Fergusson im englischen Parlamente von diesem
Austausche Mitteilung machte und Gedanken entwickelte, welche durch-
aus der Wahrheit gemäß waren.
Die beiden Länder schlugen vor, den Frieden und den status quo
zu bewahren, und ich sehe nicht ein, daß hier eine Frage vorliegt,
in welcher die Anschauungsweise von Italien und England nicht über-
einstimmend wäre.
Betreffs der Beziehungen mit den Zentralmächten weiß man längst,
daß sie intim sind, und daß die Freundschaft Italiens für Deutsch-
land und Österreich lebendig und innig ist. Die unterschriebenen
Traktate sind feste und sichere Garantien des Friedens. (Sehr gut.)
Der Moment des Ablaufs der Traktate rückte heran. Es war
natürlich, daß dies eine Zeit der Aufregung, der Zweifel und der
Ungewißheit war, welche die öffentliche Meinung in Italien und im
Auslande erregten.
Ich schloß deshalb Übereinkommen und bestätige, daß, bevor
noch die alten Verträge verfallen sein werden, die neuen schon seit
lange in Kraft sind, weil in der äußeren Politik keine Unterbrechun-
gen der Fortdauer eintreten dürfen.
105
Unsere fest und aufrichtig aufrechterhaltenen Verträge sichern
für lange Zeit den Frieden Europas. (Zustimmung.)
Ich glaube, daß ganz Europa anerkennen muß, daß das Werk der
italienischen Regierung v/eise und friedlich war. Zehn Jahre der Er-
fahrung hätten genügen sollen, das erhobene Mißtrauen zu beseitigen.
Ich hoffe, daß diese meine neuen und freimütigen Erklärungen einiges
der Erfahrung hinzufügen und alle überzeugen werden, daß die
unserigen Absichten des Friedens und nicht der Aggression sind. Der
Friede wird bestehen, das Mißtrauen sich auflösen.
Ich glaube, daß die Regierung dem Lande einen Dienst erwiesen
hat, und ich hoffe, daß auch der Senat eine Politik billigen wird, ein-
gegeben von der Wohlfahrt Italiens und von dem lebhaften Wunsche,
Italien eine starke Position in Europa zu sichern. (Lebhafter und
allgemeiner Beifall.)
Graf Solms
IJIJUAIMMW,WIWIHII m
106
Anhang:
A. Aufmarsch- und Rüstungsfragen im Dreibund
1891—1892
Nr. 1431*
Der Militäratfachd in Wien Oberstleutnant von Deines an das
Preußische Kriegsministerium
Abschrift
Nr. 45 Wien, den 4. Juni 1891
Geheim
Seine Majestät der Kaiser sprach mir heute davon, daß seitens
des italienischen Generalstabes der vertrauliche Wunsch geäußert wor-
den sei, mit dem eventuellen Truppentransport über die Alpen nach
dem Elsaß eintretendenfalls früher beginnen zu können, wie bis jetzt
vorgesehen. Als Grund werde angegeben, daß es geratener sei, die
öffentliche Meinung in Italien sofort ^ bei etwaigem Kriegsausbruch vor
ein fait accompli zu stellen und durch Engagieren der Armee fort-
zureißen, als diesem leicht schwankenden Faktor Zeit zu lassen zu
längerer Überlegung und zur Möglichkeit entgegengesetzter Eindrücke.
Im italienischen Kriegsministerium halte man einen früheren und
rascheren Abtransport der betreffenden Armee nur dann für ausführbar,
wenn von selten Österreich-Ungarns oder Deutschlands eine weiter-
gehende Aushilfe an rollendem Material, ganz besonders an Lokomo-
tiven bereitgestellt werden könne 2,
Seine Majestät äußerten, daß es ihm sehr wichtig und nützlich
scheine, wenn diesem Wunsch der Italiener entsprochen werden könne 3.
Sein Generalstab sei aber zurzeit außerstand, eine nennenswerte
Mehrleistung an Lokomotiven wie die früher vereinbarte zusagen zu
können; er hoffe, daß wir eher in der Lage sein würden, den Italienern
entgegenzukommen.
* Im Hinblick auf die anhaltenden französischen Bestrebungen, den accord diplo-
matique mit Rußland zu festen militärischen Verabredungen und Aufmarschplänen,
die sich ihrer Natur nach nur gegen die Dreibundstaaten richteten, zu erweitern
(vgl. Kap. XLVH), erscheint es zweckmäßig, die deutsche Haltung in der gleichen
Richtung nach Abschluß des Dreibundvertrages von 1891 nachzuprüfen. Die
Akten ergeben, daß von deutscher Seite keinerlei Anregung zu irgendwelchen
militärischen Abmachungen ausgegangen ist, daß Deutschland auch allen gegen-
teiligen Behauptungen zum Trotz keinerlei Druck auf Italien zur Verstärkung
seiner militärischen Rüstung ausgeübt hat.
109
Ich habe geglaubt, dem Kaiser sagen zu dürfen, daß man in
Berlin bei der Wichtigkeit der Sache gewiß geneigt sein werde, die
Frage der Maschinenaushilfe an Italien in erneute Erwägung zu ziehen*.
(gez.) V. Deines
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. in Abschrift:
i Richtig
- ja, soll geschehn.
8 sehr gern
* ja
Schlußbemerkung des Kaisers in Abschrift:
Die Nachricht ist sehr erfreulich.
Nr. 1432
Der Chef des Generalstabes Graf Schlieffen an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 432 Berlin, den 3. Dezember 1891 *
Euerer Exzellenz beehre ich mich im Anschluß an mein Schreiben
vom 5. 6. d. Js. Nr. 3Q8 geheim hierdurch zur geneigten Kenntnis-
nahme ganz gehorsamst mitzuteilen, daß den nunmehr eingegangenen,
bestimmt formulierten Wünschen des Königlich italienischen General-
stabes betreffs des früheren Abtransports Königlich italienischer Trup-
pen nach dem Rhein vom I.April 1892 ab von hier aus entsprochen
werden wird.
Graf Schlieffen
Nr. 1433
Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Wien
Prinzen Heinrich VII. Reuß
Privatbrief. Abschrift
Berlin, den 25. August 1891
Euer Durchlaucht beehre ich mich nachstehendes ganz vertraulich
und unter Anheimgabe des nach Ihrer Kenntnis der Verhältnisse und
Personen am zweckmäßigsten erscheinenden Gebrauches mitzuteilen:
Der Chef des Generalstabes der Armee General Graf Schlieffen
hat mir heut vertraulich mitgeteilt, er habe einen Brief des Oberst
von Deines erhalten, worin dieser sagt, es bestehe österreichischerseits
die Absicht, den Ruhetag, Sonntag, den 6. September**, zu einem Kriegs-
* Des Zusammenhangs wegen hier eingereiht.
** Kaiser Wilhelm II. beabsichtigte, sich am 2. September mit dem Reichskanzler
von Caprivi nach Wien zu begeben, um den österreichischen iUanövern, zu denen
auch der König von Sachsen eingeladen war, beizuwohnen.
110
rat über einen etwaigen künftigen Feldzug gegen Rußland zu benutzen
und dazu den Erzherzog Albrecht, Feldzeugmeister Beck, den König
von Sachsen, den General Graf Schlieffen und vielleicht beide Kaiser
zu vereinigen.
Diese Idee erscheint dem Grafen Schlieffen wie mir überaus un-
erwünscht. Ich habe, da sie amtlich noch nicht an mich herangetreten
ist, und in der Hoffnung, daß es vielleicht so weit gar nicht kommt.
Seiner Majestät noch nicht davon gesprochen.
Zunächst hätte ich dagegen einzuwenden, daß kein Mensch wissen
kann, unter welchen Verhältnissen der nächste Feldzug beginnen wird,
und daß deshalb jedes Binden an ausgesprochene Pläne sehr bedenk-
lich ist. Die Freiheit des Handelns, die wir unter Umständen vertrags-
mäßig besitzen, z. B. wenn Österreich-Ungarn den Krieg vom Zaune
bräche, könnte durch solche Besprechungen beeinträchtigt werden. Wäh-
rend man in Österreich von alters her an solche Kriegsräte gewöhnt ist,
liegt es nicht in den preußischen Gewohnheiten, dies die Verantwortung
so leicht verschiebende und das Handeln lähmende Mittel anzuwenden.
Soll nur der beiderseitige Aufmarsch besprochen werden, so geschieht
das am besten durch die beiden Chefs der Generalstäbe allein; alle
anderen Teilnehmer sind über die dabei in Betracht kommenden De-
tails zu wenig orientiert, um ein begründetes Urteil abgeben zu können.
Wollte man aber auch von vornherein alle bindenden Beschlüsse aus-
schließen, so bleibt die Gefahr, daß ein Meinungsaustausch trennt,
statt zu verbinden, daß Verstimmungen zurückbleiben. Bei aller hohen
Verehrung, die ich für Seine Majestät den König von Sachsen habe,
scheint es mir doch nicht unbedenklich, ihn zuzuziehen.
Endlich bleibt zu erwägen, welche Wirkungen solcher Kriegsrat
nach außen haben kann. Wenn Graf Kälnoky treffend gesagt hat, er
bedauere, daß die Erneuerung des Dreibundes der Welt mit Pauken
und Trompeten verkündet sei*, so scheint mir die Gefahr nahe zu liegen,
daß die Geburt eines Kriegsplanes ebenso bekannt werde. Der bloße
Umstand, daß eine Besprechung der bezeichneten Personen stattgefun-
den habe, mehr noch jede Indiskretion kann ausgebeutet und zu
einer Kriegsdrohung umgestaltet werden.
Das ganze Projekt scheint mir, auch wenn ich die schwierige
Lage berücksichtige, in welche Seine Majestät unser Kaiser dem so
viel älteren Kaiser von Österreich, dem Erzherzog Albrecht, ja auch
dem König von Sachsen gegenüber kommen kann, so auffallend, daß
ich nicht verstehe, wie man es österreichischerseits hat proponieren
können. Es sieht aus, wie wenn Preußen majorisiert und die militä-
rische Hegemonie von Österreich ausgeübt werden solle.
Auch daß Oberst von Deines es übernommen hat, einen solchen
Auftrag an den Chef des Generalstabs zu übermitteln, setzt mich
Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1505.
111
dermaßen in Erstaunen, daß ich schon auf den Gedanken gekommen
bin, ob dem etwa eine auf anderem Wege erfolgte Kommunikation
mit unserem allergnädigsten Herrn vorhergegangen ist.
Euer Durchlaucht würden mich durch eine baldige Mitteilung dar-
über, ob und wie Sie dem Projekt entgegentreten können, zu verbind-
lichem Dank verpflichten. Vielleicht ließe sich für den Sonntag irgend-
eine Unternehmung planen, welche den Tag für Seine Majestät den
Kaiser auf andere Weise ausfüllt und den beiden Chefs der General-
stäbe die Möglichkeit gäbe, sich allein zu unterhalten.
(gez.) v. Caprivi
Nr. 1434
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Privatbrief. Eigenhändig
Wien, den 27. August 1891
Euerer Exzellenz
eigenhändigen Privatbrief vom 25.* habe ich heute mit gehorsam-
stem Dank zu erhalten die Ehre gehabt.
Oberstleutnant von Deines hatte mir vor nicht gar langer Zeit
mitgeteilt, der General von Beck habe ihm den Wunsch ausgesprochen,
gelegentlich der Zusammenkunft mit General Graf von Schlieffen bei
den österreichischen Manövern die vertraulichen Besprechungen wie-
der aufzunehmen, welche im Jahre 1888 zwischen dem verewigten
Feldmarschall Grafen Moltke und dem Obersten von Steininger über
den Aufmarsch beider verbündeter Armeen für den Fall eines Krieges
mit Rußland stattgefunden haben**. Seit dieser Zeit habe sich so man-
ches geändert; die österreichische Armee in Galizien sei verstärkt
worden, von der Anhäufung der russischen Truppen gar nicht zu
reden. Es sei dem hiesigen Chef des Generalstabes wichtig, mit Graf
Schlieffen, den er nur wenig kenne, nähere Fühlung zu nehmen und
die Gedanken über diese Gegenstände auszutauschen.
Wie mir Herr von Deines soeben sagt, hat er den Brief an Graf
Schlieffen, von dem mir Euere Exzellenz sprachen, einzig und allein
in der Absicht geschrieben, daß dieser General durch solche Bespre-
chungen nicht unvorbereitet überrascht würde. Der Oberstleutnant
mißt sich selbst die Schuld bei, wenn der Tenor seines Briefes in
Berlin den Eindruck machen konnte, als beabsichtige man österreichi-
scherseits, uns gewissermaßen in einen Kriegsrat hineinzulocken, der
uns ungelegen sein muß. Herr von Deines versichert hoch und heilig,
♦ Siehe Nr. 1433.
*♦ Vg). Bd. VI, Kap. XXXVIII.
112
daß hier ein solcher Plan nicht vorliege, daß man uns zu keinen mili-
tärischen Zusagen nötigen wolle, ja, daß man ihm ausdrücklich gesagt
habe, daß, wenn unsererseits eine solche Besprechung nicht angeregt
würde, von hier aus dies nicht geschehen werde.
Die Absicht des Herrn Militärattaches war in erster Linie die,
die beiderseitigen Chefs der Generalstäbe näher zusammenzubringen.
Denn, dies darf ich Euerer Exzellenz im engsten Vertrauen mitteilen,
die Schweigsamkeit und das wenig entgegenkommende Wesen des
Grafen Schlieffen hatten bei dessen Begegnung mit General Beck in
Berlin keinen sehr günstigen Eindruck auf letzteren gemacht.
Euere Exzellenz sind nun selbst damit einverstanden, daß sich
diese beiden Herren ungestört und allein auch über einen eventuellen
Aufmarsch gegen Rußland besprechen. Es ist hierbei nicht nötig, daß
sich der eine oder der andere bindet, was früher auch nicht geschehen
ist. Die Österreicher haben sich gewöhnt, an uns hinaufzusehen. Diese
gute Gewohnheit fallenzulassen, halte ich nicht für erwünscht; na-
mentlich scheint es mir aber praktisch, daß diese beiden Generale
sich öfters sehen und sich genauer kennenlernen. Sie werden sich dann
auch aus der Ferne besser verstehen.
Da, wie ich aus den Mitteilungen des hiesigen Militärkabinetts
und des Grafen Kälnoky weiß, Seine Majestät am 6. September die
Einladung zum Erzherzog Albrecht zum Frühstück in Göpfritz bereits
angenommen haben, und daß dabei auch der König von Sachsen, Graf
Schlieffen, Baron Beck und andere, aber nicht der Kaiser Franz
Joseph erscheinen werden, so ist in diesem Arrangement nichts mehr
zu ändern. Wohl aber wird dafür gesorgt werden, daß nach diesem
Frühstück, wo nach der Idee des Herrn von Deines die ominöse Be-
sprechung stattgefunden haben würde, die beiden Chefs der General-
stäbe sich isolieren können, um, was in den sehr besetzten vorher-
gehenden Manövertagen wegen Mangels an Zeit und Raum kaum
möglich sein wird, sich ungestört besprechen zu können. Herr von
Deines wird dies auf meinen Wunsch vor dem Beginn der großen
Manöver, wo er mit Baron Beck zusammenkommen wird, einleiten.
Ich habe außerdem den Grafen Kälnoky ganz vertraulich gebeten,
er möge sein Augenmerk darauf richten, daß nichts geschähe, was
nach außen hin Aufsehen erwecken könnte. Es würden so viele Militär-
attaches und andere fremde Agenten in der Manövergegend anwesend
sein, die gewiß ihre Spürnase überall da hineinstecken würden, wo
sie nichts zu suchen hätten. Beispielsweise, so ließ ich einfließen,
könnte die Zusammenkunft so vieler Generale in Göpfritz, von denen
mehrere zu der Tafel des Erzherzogs gezogen werden würden, wo
auch Seine Majestät erscheinen werde, leicht Aufmerksamkeit erregen
und zu Kombinationen Anlaß geben. Er möge tun, was er könne, um
da jeden Anlaß zu Verdacht zu verhindern.
Der Minister erwiderte lebhaft: „Das fehlte gerade noch! Wir
8 Die Große Politik. 7. Bd. 113
haben schon an dem Lärm über die Erneuerung des Dreibundes ge-
nug gehabt,"
Daß der Kaiser von Österreich an diesem Tage nicht nach Göpfritz
kommt, ist günstig und bricht der Fii^tion, daß ein Kriegsrat gehalten
würde, die Spitze ab.
Was den Verdacht betrifft, welchen Euere Exzellenz am Schluß
Ihres Schreibens aussprechen, ob etwa auf anderem Wege über den
Gedanken der Abhaltung eines Kriegsrates mit unserem allergnädigsten
Herrn korrespondiert worden sei, so ist dies von seiten des Oberst-
leutnant von Deines nicht geschehen.
Die Frage, ob es opportun wäre, nach dieser Seite hin Kenntnis
von diesem ganzen Zwischenfall zu geben, darf ich Euerer Exzellenz
Ermessen überlassen zu entscheiden. Das beste wäre gewiß, wenn
unser Kaiser nicht von Kriegsplänen zu reden anfinge. Geschieht dies
nicht, so wird der Erzherzog Albrecht, der gewiß gern mit ihm auch
über diese Eventualitäten spräche, nicht davon anfangen.
So gern die Österreicher schon seit Abschluß unseres Bündnisses
von 1879 von uns bestimmtere Zusagen über eine Kooperation für
jeden Fall extrahiert hätten, so hat ihnen Fürst Bismarck eine solche
Velleität niemals aufkommen lassen. Sie wissen, daß wir uns streng
an den Vertrag halten und uns nicht binden lassen werden. Einen
Krieg vom Zaune brechen, wird Österreich niemals, weil es ihn weniger
brauchen kann als irgendein anderes Reich. Unleugbar ist aber, daß
hier die Gewißheit besteht, daß wir Österreich-Ungarn nicht zertrüm-
mern lassen können. Und hieraus erwächst naturgemäß die Hoffnung,
daß Deutschlands Heere nicht abwarten werden, bis Österreich die
erste Niederlage erlitten haben wird. Auf ein Mehr rechnet die
österreichisch-ungarische Regierung nicht.
H.VII.RReuß
Nr. 1435
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 82 Rom, den 23. April 1892
Unterm 21. März hatte ich die Ehre zu melden, daß Marquis Rudini
gegen mich äußerte, man dränge auf weitere Ersparnisse im Militär-
budget, dazu aber wolle er die Hand nicht bieten*.
* Bei der seit langem bestehenden Mißlichkeit der italienischen Finanzlage bildete
die Notwendigkeit der Ersparnisse im Militärwesen eine stehende Rubrik in einem
Teil der italienischen Presse.
114
Im Laufe der Verhandlungen, welche der Ministerkrisis* voran-
gingen, scheint Marquis Rudini in bezug auf die Mihtärfrage an-
gesichts der sich ihm entgegenstellenden Schwierigkeiten schwankend
geworden zu sein, denn er hat dem Baron Brück vertraulich die Frage
vorgelegt, was wohl eine italienische Armeereduktion in Österreich
und Deutschland für einen Eindruck machen würde. Baron Brück hat
ihm genau in demselben Sinne geantwortet, in welchem ich mich
früher einmal über diesen Gegenstand ausgesprochen hatte, daß es
besser gewesen sein würde, zehn mit allem Erforderlichen ausgerüstete
Armeekorps zu haben, anstatt dieselben auf zwölf, die finanziellen
Kräfte des Landes übersteigende, nicht genügend organisierte Armee-
korps zu erhöhen und dadurch die Schlagfertigkeit der Armee in ihrer
Gesamtheit zu beeinträchtigen**. Heute würde eine Unterdrückung
von zwei Armeekorps aus Ersparnisrücksichten die zehn übrigen nicht
verbessern, sondern man würde nur statt der früheren zwölf mangel-
haft ausgerüsteten Korps deren zehn in gleicher Verfassung besitzen,
Baron Brück hat dem Grafen Kälnoky hierüber Bericht erstattet
und um Weisung gebeten, wie er sich dieser Frage gegenüber ver-
halten solle.
Graf Kälnoky hat erwidert, er sei mit der von Baron Brück ge-
äußerten Ansicht ganz einverstanden, möge aber dem Marquis Rudini
raten, sich bezüglich der Armeeorganisation vor allem mit Deutsch-
land ins Einvernehmen setzen. Die deutsche Heeresleitung habe bei
Feststellung ihrer Operationspläne die italienische Armee jedenfalls
zu zwölf Armeekorps berechnet. Wenn Italien dieselben plötzlich auf
zehn reduziere, so würde das voraussichtlich die deutschen Berech-
nungen wesentUch stören.
Baron Brück hat jedoch diesen Auftrag bis jetzt nicht aus-
geführt und will warten, bis Marquis Rudini noch einmal auf die
Sache zurückkommt, weil er glaubt, daß es meine Sache sei, die An-
sichten Deutschlands der italienischen Regierung gegenüber zu ver-
treten, und weil er befürchtet, Marquis Rudini könne den Verdacht
schöpfen, daß wir, Baron Brück und ich, auf Grund gemeinsamer
Verabredung einen lästigen Druck auf ihn ausüben wollten.
Graf Solms
* Am H.April hatte Ministerpräsident di Rudini infolge von Meinungsverschieden-
heiten im Ministerrat über die dem Parlament zu unterbreitenden Finanzvorschläge
dem Könige die Demission des Kabinetts unterbreitet; es kam jedoch zu einer
Rekonstruktion des Kabinetts unter Neubesetzung des Finanzministeriums.
** Die Vermehrung der italienischen Armee von zehn auf zwölf Armeekorps war
im Verfolg des Gesetzes vom 29. Juni 1882 vor sich gegangen.
115
Nr. 1436
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 83 Rom, den 24. April 1892
Bei dem heutigen Empfange des diplomatischen Korps kam Marquis
Rudini auf seine Unterhandlungen mit dem General Ricotti* zu spre-
chen. Er sagte, man werde entweder die Cadres oder die Dienstzeit
verringern müssen; anders i<omme man aus der schwierigen Lage nicht
heraus. Die zwölf Armeekorps entsprächen in ihrer Organisation nicht
den Anforderungen, welche man heute an die Schlagfertigkeit einer
Armee stelle. Es werde praktischer sein, die Armee um zwei Korps
zu verringern und dafür die zehn übrigen kriegsmäßiger zu organisieren.
Nach Ansicht des Generals Ricotti werde der Krieg eines Tages
so schnell ausbrechen, daß man zu einer selbst schnellen Mobilmachung
keine Zeit haben werde, sondern schon im Frieden so gerüstet sein
müsse, daß man sofort die nötigen Truppen zur Hand habe, um un-
mittelbar nach der Kriegserklärung in die Aktion eintreten zu können.
Der General sei überzeugt, daß die Truppen an der Grenze bei
Ausbruch eines Krieges nicht Zeit haben werden, ihre Reserven ab-
zuwarten, sondern daß man das, was man gerade zur Hand habe,
zum Vorstoß oder zur Verteidigung werde verwenden müssen.
Deshalb komme es weniger auf die Zahl der Cadres an, sondern
auf eine möglichst hohe Friedens-Präsenz-Stärke. Als Minimum für die
Kompagnie im Frieden rechne er 175 Mann, für den Krieg — wie in
Preußen — 250 Mann, weil heute die Kompagnie die taktische Einheit
geworden sei und diese mindestens ebenso stark sein müsse als die
des mutmaßlichen Feindes. Auch wolle er, daß die Kompagniechefs
wieder beritten gemacht werden.
General Ricotti sage, es sei notwendig, die Offiziere schon im
Frieden zu gewöhnen, stärkere Truppenkörper zu kommandieren; dies
sei nützlich für ihre eigene Ausbildung und hebe das moralische Be-
wußtsein: „Geben Sie einem Major 30 Mann zu kommandieren, so wird
er ein Sergeant, und geben Sie einem Sergeanten ein Bataillon, so
wird er ein Major."
General Ricotti will also zwei Armeekorps auflösen, von der
Infanterie fünfzehn Regimenter abschaffen, dafür aber die übrigen Re-
* Der frühere langjährige Kriegstninister General Ricotti war bei der Ministerkrise
Mitte April als Nachfolger des Kriegsministers Pelloux in Frage gel<ommen; doch
trat dieser auch in das rei<onstruiertc Ministerium über. Der Militärattache von
Engclbrecht nennt Ricotti in seinem Bericht vom 5. Mai „den Organisator und
gründlichsten Kenner der Armee, der Chauvinismus, persönliche Interessen und
Popularität nicht kennt, der gesunde und solide konstituierte Einheiten im Frieden
haben will".
116
gimenter der Armee so verstärken, daß sie per Kompagnie im Frieden
175 und im Kriege 250 Mann stark sind und nötigenfalls sofort aus-
rücken können, pp.
Ich habe dem Marquis Rudini, als er geendet hatte, erwidert, seine
Auseinandersetzung hätte mich in hohem Grade interessiert, indessen
bliebe ja jetzt der General Pelloux als Kriegsminister im Amte, und
der sowohl, wie der General Cosenz*, hätten sich meines Wissens
auf das energischste für beibehalten der zwölf Armeekorps ausge-
sprochen; oder solle ich aus seiner Mitteilung entnehmen, daß er
trotz der anscheinenden Beilegung der Ministerkrisis mit der Absicht
umgehe, den General Pelloux durch den General Ricotti zu ersetzen?
Der Marquis erwiderte, wie die Sache sich mit dem Ministerium
gestalten werde, wisse er selbst noch nicht. Etwas müsse im Heere
geschehen, denn, wiederholte er, eine Verminderung der Cadres oder
eine Abkürzung der Dienstzeit werde unvermeidlich sein. Schließlich
fragte er, was ich zu der Sache meinte.
Ich entgegnete, wir seien seinerzeit mit der Vermehrung der
Armee um zwei Armeekorps nicht einverstanden gewesen, weil man
bei uns vorausgesehen habe, daß die Maßregel sich nur auf Kosten
der Kriegsbereitschaft der italienischen Armee überhaupt würde ins
Werk setzen lassen. Diese Voraussicht hätte sich leider in gewisser
Beziehung bestätigt. Obgleich ich den Absichten des Generals Ricotti
den praktischen Wert nicht absprechen wollte, so wäre bei den oft
eintretenden Finanzverlegenheiten schwer zu sagen, ob der General
bei der Ausführung seiner Pläne nicht wiederholentlich auf Hinder-
nisse stoßen würde, sodaß man schließlich statt der zwölf nicht
ganz gut organisierten Korps deren zehn ebenfalls minderwertige haben
würde. Außerdem würde doch auch der moralische Eindruck zu be-
rücksichtigen sein, wenn es plötzlich hi^ße, Italien reduziert seine
Armee, weil es die Rüstung finanziell nicht mehr tragen könne.
Der Marquis beteuerte, daß es sich um eine Verstärkung und
nicht um eine Schwächung der Wehrkraft des Landes handle.
Dieser Konversation habe ich entnommen, daß Marquis Rudini
für seine Person ganz der Ansicht beigetreten ist, die Armee müsse
um zwei Korps vermindert werden; daß er überzeugt ist, die Armee
sei in ihrer heutigen Organisation nicht schlagfertig genug, um einem
Kriege ruhig entgegensehen zu können; daß er in dem Plane Ricottis,
zehn feste Armeekorps zu schaffen, eine größere Garantie für die
Sicherung Italiens erblickt als in dem Plane Pelloux', so viel Cadres
zu schaffen, daß die größtmöglichste Zahl Militärtauglicher darin Platz
hat, und endlich, daß ihm sehr viel daran liegt zu erfahren, wie unsere
allerhöchste Regierung den oben entwickelten Plan Ricottis beurteilt,
um sich aus unserm Ausspruch, wenn er im Sinne Ricottis ausfiele,
* Chef des italienischen Generalstabes.
117
eventuell eine Waffe gegen den General Pelloux zu machen, wozu
es meines gehorsamsten Dafürhaltens nicht gut sein würde, die Hand
zu bieten.
Ich halte mich weder für kompetent noch befugt, diesen Plan
ohne eine bestimmte Instruktion Euerer Exzellenz mit dem Marquis
Rudini zu diskutieren. Ich habe ihn weder gebilligt, noch habe ich
ihn bekämpft, denn daß die zwölf vorhandenen Armeekorps bei einer
so minimalen Friedens-Präsenz-Stärke, wie sie jetzt vorhanden ist, im
Falle einer plötzlichen Mobilmachung ungleich weniger leistungsfähig
sein werden als zehn bereits im Frieden solid zusammengefügte, wohl
ausgerüstete Korps scheint mir ebenso unbestreitbar, wie daß eine
Armeereduktion Italiens politisch auf das Ausland den Eindruck der
Schwäche machen wird.
Ich werde dem Kaiserlichen Militärattache Oberst von Engelbrecht
von diesem Berichte Kenntnis geben, sobald er von Urlaub zurück-
gekehrt sein wird.
Graf Solms
Nr. 1437
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall für den Reichskanzler Grafen von Caprivi,
z. Z. in Karlsbad
Eigenhändig
Berlin, den 29. April 18Q2
Euer Exzellenz beehre ich mich die heute eingegangenen Berichte
des Grafen Solms über die Reorganisation der italienischen Armee*
mit dem gehorsamsten Anfügen vorzulegen, daß ich die Vorlage der-
selben an Seine Majestät nicht für zweckmäßig erachte, vielmehr, falls
Euer Exzellenz damit einverstanden sind, Immediatvortrag über die-
selben in dem Sinne zu halten gedenke, daß wir es der italienischen
Regierung in der Hauptsache überlassen müssen, auf welchem Wege
sie die Erhaltung der Wehrkraft Italiens und damit seiner europäischen
Stellung mit den Bedürfnissen der gegenwärtigen finanziellen Lage
in Einklang bringen will. Die Haltung der französischen Blätter, welche
triumphierend verkünden, daß Italien unter der Last der Dreibunds-
politik zusammenbreche, daß Deutschland und Österreich-Ungarn einen
starken Druck in Rom gegen jede Verminderung der Heeresausgaben
ausübten, und daß die Berliner Reise der italienischen Herrschaften**
wesentlich den Zweck verfolge, die Zustimmung der deutschen Re-
gierung zu einer Schwächung der italienischen Wehrkraft zu erhalten,
* Siehe Nr. 1435 und Nr. 1436.
** Der Besuch des italienischen Königspaares am deutschen Kaiserhofe erfolgte
vom 20. bis 24. Juni 1892.
118
zeigt, nach welcher Seite die französischen Wünsche liegen. Das Bild,
daß Italien die Last nicht mehr tragen kann, aber dem Drucke Deutsch-
lands weichend auf die Gefahr finanziellen Ruins weitertragen muß,
hat in Paris natürlich etwas sehr Verlockendes. Ich bin der Ansicht,
daß Italien selbst wissen muß, was es zu tun hat. So bedauerlich auch
der moralische Eindruck wäre, den eine Reduktion der italienischen
Armee oder auch nur eine erhebliche Verminderung der Heeresaus-
gaben nach sich ziehen müßte, so wäre es meines Erachtens doch
politisch viel bedenklicher, wenn wir jetzt die Italiener bereden woll-
ten, wider bessere Einsicht ihre Heeresausgaben auf derselben Höhe
zu erhalten, sofern damit die bisherige, auf die Dauer absolut ruinöse
Defizitwirtschaft fortbestehen würde. Die logische Folge wäre, daß
man wie seither die Defizits durch Anleihen decken würde — und
dazu müßte der deutsche Markt herhalten — und sich dann Italien
eines Tages in derselben Lage befände wie heutzutage Portugal. — Die
poUtischen Folgen einer solchen Gestaltung der Dinge, — ganz ab-
gesehen von den wirtschaftlichen, die doch auch recht bedauerlich für
uns wären, bedürfen keiner Darlegung.
Ich würde also vom politischen Gesichtspunkte empfehlen, daß
Graf Solms sich auch fernerhin der größten Reserve befleißigt.
Marschall
Nr. 1438
Der Reichskanzler Oraf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Karlsbad, den 30. April 1892
Euer Exzellenz sende ich die Aufzeichnung betreffend eine Re-
duktion der italienischen Armee* nebst Anlagen unter verbindlichem
Danke zurück.
Ich bin mit der Behandlung der Sache im Immediatvortrag ein-
verstanden und teile die Ansicht, daß man Italien überlassen sollte,
selbst zu beurteilen, wie weit es in der Schwächung seiner Armee
gehen kann. Auch die Überzeugung teile ich, daß ein finanzieller
Ruin ItaHens uns in mehr wie einer Beziehung mitschädigen müßte.
Ich würde eine Reduktion der italienischen Armee um ein Sechstel
mehr als eine politische, ideelle wie als eine militärische, reale
Schwächung des Dreibundes ansehen. Stellt man die Heeresstärken des
Dreibundes denen der Franzosen und Russen gegenüber, so verschiebt
sich das ohnehin ungünstige Verhältnis allerdings noch mehr zu unseren
Ungunsten, sobald Italien zwei Armeekorps eingehen läßt. Die Vor-
* Siehe Nr. 1437.
119
Stellung der Welt von der Stärke des Bundes wird eine Einbuße
erleiden.
Faktisch aber kann Italien im Falle eines Krieges gegen Rußland und
Frankreich außerhalb seiner eigenen Grenzen und über das Maß dessen
hinaus, was es an französischen Streitkräften von uns ab- und auf sich
zieht, nur dadurch wirken, daß es den Österreichern den Rücken deckt
und mit einem Teil seiner Truppen zu uns über die Alpen kommt. In
bezug auf die österreichische Rückendeckung ändert sich nichts, auch
bei nur zehn Armeekorps. In bezug auf das Erscheinen nördlich der
Alpen braucht sich nichts zu ändern, sobald man sich in Italien ent-
schließt, dem Schutz der eigenen Grenzen und Küsten nicht mehr
Truppen zuzuwenden als unumgänglich. Die Frage aber, ob man
überhaupt mit einem Teil der Kräfte den direkten Anschluß an uns
suchen wird, hängt davon ab, ob man in hinreichender Stärke die Über-
zeugung gewinnt und sie nicht nur den Staatsmännern, sondern auch der
öffentlichen Meinung Italiens beibringt, daß das Schicksal dieses Landes
im nächsten Kriege nicht auf seinem Grund und Boden, sondern am
Rhein entschieden werden wird. Daß solche Überzeugung Allgemein-
gut des beängstigten Landes werden sollte, ist unwahrscheinlich; ge-
schähe es aber, so wird die in Rede stehende Reduktion kein Hindernis
sein, uns direkt die Hand zu bieten. Überwiegt dagegen die Sorge
für die eigenen Penaten, so werden wir am Rhein allein schlagen,
auch bei der jetzigen Stärke des italienischen Friedensstandes. Sehr
wesentlich wird auf die Entscheidung dieser Frage der Gang der
Dinge zur See einwirken. Nimmt ein englisch-italienischer Seesieg
den Italienern die Sorge um ihre Küsten und Inseln, so können sie
auch von zehn Armeekorps fünf über die Alpen schicken. Geschieht
das nicht, so kommt auch von zwölfen keins.
Im übrigen hat die Überspannung der italienischen Wehrkraft im
Frieden für uns die Gefahr, die zu Herrn Crispis Zeiten nahe genug
lag, daß man, um aus der drückenden Lage herauszukommen, aben-
teuerliche Unternehmungen in Nordafrika, trotz der üblen Erfahrungen
mit Massaua, entrieren könnte. Tragen Rüstungen den Charakter des
ad hoc, so muß schließlich ein hoc gefunden werden, sobald die
Last unerträglich wird, oder man muß zurückschrauben. Reduziert
Italien seine Wehrkraft, so vermindert sich die Gefahr, daß ein Krieg
frivol provoziert werden könnte. Bei Ablauf der fixierten Periode des
Dreibundes werden wir zu erwägen haben, ob sich die Zusicherung
unserer Mitwirkung bezüglich Nordafrikas nicht der reduzierten mili-
tärischen Leistungsfähigkeit Italiens gegenüber einschränken läßt.
Es scheint auch mir rätlich, den Grafen Solms anzuweisen, daß
er sich großer Reserve befleißige. Es wird sich empfehlen, daß er
sich jedes Eingehens auf die überdies aus den Anlagen gar nicht zu
beurteilenden, anscheinend sehr unreifen italienischen Organisations-
pläne enthalte, dagegen aber selbst oder durch den Militärattache ge-
120
legentlich dahin wirke, daß die Idee, italienische Truppen eventuell
über die Alpen zum Anschluß an die unsrigen kommen zu lassen,
nicht aufgegeben wird. Das wird auch nach einer Reduktion des ita-
lienischen Friedensstandes, wahrscheinlich sogar in der früher ver-
abredeten Stärke, ebenso möglich bleiben wie bisher.
Euere Exzellenz bitte ich ergebenst, bei dem Immediatvortrag dies
als meine Ansicht gefälligst zum Ausdruck bringen zu wollen.
v. Caprivi
Nr. 1439
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr.QQ Rom, den S.Mai 1892
Geheim
Eurer Exzellenz beehre ich mich anliegend einen Bericht des
Militärattaches Oberst von Engelbrecht* gehorsamst einzureichen.
Der Schlußsatz desselben deutet die Schwierigkeiten an, welche
Seiner Majestät dem Könige daraus entstehen, daß er, um in seiner
ritterlichen Gesinnung das Verhältnis zum Bundesgenossen nicht zu
lockern, es vorzieht, wegen des Bestandes der Armee und der Flotte
den Kampf mit den inneren Schwierigkeiten aufzunehmen und ihnen
die Stirn zu bieten.
Ich habe in der letzten Zeit so vielfach Gelegenheit gehabt, mit
den maßgebenden Persönlichkeiten über diese Militärfragen und die
großen finanziellen Verlegenheiten zu sprechen, welche die öffentliche
Meinung immer wieder als von der Militärlast unzertrennlich auffaßt,
daß sich mir unwillkürlich die Frage aufgedrängt hat, ob es nicht
vielleicht unserem eigenen Interesse entsprechen würde, wenn wir
Seiner Majestät dem Könige aus eigenem Antriebe zu verstehen geben,
daß wir einen größeren Wert auf eine gesunde Gestaltung der inneren
Verhältnisse Italiens legen als auf die Aufrechterhaltung einer größe-
ren Zahl unvollkommen gerüsteter Armeekorps. Damit würde unseren
Widersachern zugleich die Waffe genommen werden, welche uns für
* Der Bericht des Militärattaches vom 5, Mai behandelte die Vorschläge des
Generals Ricotti über eine Armeereduktion. Am Schlüsse des Berichtes, wo von
der Nichtgenehmigung dieser Vorschläge durch König Humbert die Rede war,
hieß es: „Für diese Entscheidung sind Motive moralischer Natur und Rücksichten
auf die äußere Politik leitend gewesen. Im Hinblick auf letztere steht Deutsch-
land als Alliierter hier einer wahrhaft königlichen Gesinnung gegenüber. Vor
jnnern Schwierigkeiten wird nicht zurückgescheut, um das Verhältnis zum Bundes-
genossen nicht zu lockern, und kann dieser daher nur wünschen, daß die Krone
in diesem edlen Streben nicht bis an die äußerste Grenze eines möglicheaveise
für die Armee gefährlichen Widerstandes gedrängt werde."
121
den Ruin Italiens verantwortlich machen, angeblich weil wir unserem
Bundesgenossen eine unerträgliche Rüstung auferlegen.
Die in meinem Berichte Nr, 83 vom 24. April er.* gemachte kon-
fidentielle Anfrage Rudinis könnte als Anknüpfung dienen.
Seine Majestät der König würde von selbst, ohne von uns ermutigt
zu sein, auf keinen Fall eine Armeereduktion genehmigen und sich
eher inneren Schwierigkeiten aussetzen, die momentan gar nicht zu
berechnen sind,
Graf Solms
Nr. 1440
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde
Telegramm. Reinkonzept
Nr. 72 Berlin, den 15. Mai 1892
Prinz Reuß telegraphiert: „Italienische Regierung hat hier an-
fragen lassen, wie Wiener Kabinett eventuelle Reduzierung der Armee
um 'zwei Korps auffassen würde.
Graf Kälnoky hat geantwortet, er könne gegen diese Maßregel
an und für sich nichts einwenden, möchte aber nicht dazu raten, weil
der Eindruck auf die öffentliche Meinung kein guter sein würde.**
Ebenso hat Seine Majestät, unser allergnädigster Herr, nach
Kenntnis Ew.pp. Bericht Nr. 99** sowie des beigefügten MiUtärberichts
verfügt, daß von allen Ratschlägen bezüglich der italienischen Heer-
verfassung unsererseits abzusehen ist.
Marschall
Nr, 1441
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Rom Grafen zu Solms-Sonnenwalde
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 74 Beriin, den 21. Mai 1892
Vervollständigung des Telegramms Nr. 72.
Wir können erwarten, daß die Interpellation Imbriani*** und Ge-
nossen dahin beantwortet werden wird, daß wir auf die Entschließungen
* Siehe Nr. 1436.
** Siehe Nr. 1439.
*** Am 19. Mai 1891 hatte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" einen ausführ-
lichen Artikel über „Italiens militärische Machtstellung" gebracht, der das fort-
schreitende militärische Erstarken des italienischen Verbündeten mit freudigster
Zustimmung begrüßte. Gleichzeitig brachten die „Hamburger Nachrichten" vom
19. Mai einen Artikel des Fürsten Bismarck „Der Druck auf Italien", der dringend
122
Italiens in der Rüstungsfrage keinerlei Druck, überhaupt keinerlei Ein-
wirkung geübt und nicht mal einen Wunsch ausgesprochen haben, da
wir in der Tat von der Überzeugung ausgehen, daß die italienische
Regierung am besten in der Lage ist, italienische Interessen zu be-
urteilen.
Der Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" ist eine
Arbeit der Redaktion, welche weder mir noch dem poHtischen Dezer-
nenten vorher bekannt war.
Ew. pp, wollen sich im Sinne des Vorstehenden womöglich noch
vor der Sitzung gegen den Minister äußern.
Marschall
davor warnte, „auf Italien, wenn es sich in finanzieller Schwierigkeit befindet,
irgendwelchen Druck zwecks Erhöhung seiner Militärmacht auszuüben und dies
mit Dreibundsrücksichten zu motivieren". Vgl. H. Hofmann, Fürst Bismarck 1890
bis 1898, Bd. II (1913), S. 70. Infolge dieser beiden Artikel beabsichtigte der irre-
dentistischc und dreibundfeindliche Abgeordnete Imbriani eine Interpellation in
der italienischen Kammer einzubringen, jedoch gelangte dieser Gedanke nicht zur
Ausführung. Der neuernannte Minister des Äußern Brin bestätigte dem Grafen
Solms am 21. Mai, er habe nie gehört, daß von selten der deutschen Regierung
jemals ein Rat erteilt oder auch nur eine Meinung geäußert sei über die Stärke-
verhältnissc der italienischen Streitkräfte. Daß Italien keinerlei internationale Ver-
pflichtungen zu Rüstungen übernommen habe, hatte übrigens Rudini schon am
21, März 1S92 in der italienischen Kammer auf eine Insinuation Imbrianis erwidert.
123
I
B. Der erneuerte Dreibund
und das Italienisch -Französische Verhältnis
1893—1895
Nr. 1442
Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt
Freiherrn von Rotenhan
Eigenhändig
Berlin, den 20. August 1893
Der italienische Geschäftsträger teilt mir mit, da der Maire von
Aigues-Mortes öffentlich das Vorgehen der französischen Arbeiter gegen
die italienischen* für berechtigt erklärt habe, sei der italienische Bot-
schafter zu Paris angewiesen worden, die Bestrafung bzw. Absetzung
dieses Beamten in Paris zu verlangen. Wenn Frankreich dem nicht bald
stattgebe, halte die italienische Regierung die Lage für ernst und
fühle sich daher verpflichtet, ihren Verbündeten über den Vorfall eine
Mitteilung zu machen.
Rotenhan
Nr. 1443
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 118 Rom, den 20. August 1893
Minister Brin hat bei der französischen Regierung zweimal, bis-
her vergeblich, Satisfaktion für Aigues-Mortes beantragt. Minister De-
velle** ist von Paris abwesend, der Minister des Innern*** anscheinend
mit Wahlen zu beschäftigt, um den Botschafter zu empfangen, der nur
mit Räten verhandelt hat Italien verlangt mindestens Maßregelung des
* In Aigues-Mortes bei Marseille hatten am 17. August schwere Zusammenstöße
zwischen französischen und italienischen Arbeitern stattgefunden, bei denen sieben
Italiener getötet und 34 verwundet wurden. Der Maire und die Behörden taten
nichts, um die Italiener zu schützen; ja im Hospital zu Marseille wurde den ver-
wundeten Italienern die Aufnahme verweigert. Die Kunde von diesen Vorgängen
löste in Italien den heftigsten allgemeinen Unwillen aus, der sich in antifranzösi-
schen Demonstrationen in Rom, Neapel und vielen anderen Städten Luft machte.
Formell wurden die Zwischenfälle durch gegenseitige Erklärungen der beiden Re-
gierungen vom 2t. August für geschlossen erklärt; in Italien zitterte aber die
Erregung: die durch handeis- und wirtschaftspolitische Schikanen Frankreichs,
namentlich in der Währungsfrage geschürt war, noch lange nach; sie drohte von
neuem loszubrechen, als das Schwurgericht von Angouleme Ende Dezember 1893
sämtliche Angeklagten von Aigues-Mortes freisprach (vgl. Nr. 1454).
** Minister des Äußern im Kabinett Dupuy.
*** Ministerpräsident Dupuy war zugleich Minister des Innern.
127
Maire von Aigues-Mortes. Man hat hier Maßregeln ergriffen, wieder-
holte Straßendemonstrationen in Rom zu verhindern.
Unterstaatssekretär Ferrari fürchtet größere Unruhen, wenn nicht
bald zufriedenstellende Antwort Frankreichs eintrifft.
Solms
Nr. 1444
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 120 Rom, den 20. August 1893
Graf Nigra* telegraphiert, Graf Kälnoky erkenne den Ernst der
Ereignisse von Aigues-Mortes und sagte, daß die französische Re-
gierung sofortige Satisfaktion geben müßte; Graf Kälnoky werde aus
eigener Initiative die französische Regierung im europäischen Inter-
esse von dieser seiner Ansicht in Kenntnis setzen.
Solms
Nr. 1445
Der Unterstaatssekretär im Auswärt gen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Nr. 93 Berlin, den 21. August 1893
Nach Telegrammen aus Rom scheint man dort wegen Zwischen-
falls in Aigues-Mortes einigermaßen besorgt. Wir haben bisher nicht
Eindruck, daß ernstere Komplikationen daraus entstehen, solange An-
gelegenheit auf Verhandlungen zwischen Italien und Frankreich be-
schränkt bleibt. Wir werden uns aber, um jeden Eindruck einer Pres-
sion zu vermeiden, in Paris jeder Äußerung enthalten. Teilen Sie
dies Graf Kälnoky mit.
Rotenhan
Nr. 1446
Der stellvertretende Geschäf:sträger in Paris Graf Arco an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Entzifferung
Nr. 189 Paris, den 19. August 1893
Ganz vertraulich
Der italienische Botschafter**, welchen ich heute in persönlichen
Angelegenheiten besuchte, zeigte sich sehr mißmutig über den Ver-
lauf der Verhandlungen in der Münzfrage. Er sagte, die französi-
schen Minister würden sich im nächsten Kabinettsrat mit den italieni-
schen Vorschlägen beschäftigen, er habe aber wenig Hoffnung auf
* Italienischer Botschafter in Wien.
** Ressmann.
128
eine günstige Lösung, Das Verhältnis Frankreichs zu Italien gestalte
sich immer schlechter. Es sei seit Jahren das offensichthche Bestreben
der Franzosen, Italien durch Schädigung seiner Interessen auf kom-
merziellem und finanziellem Gebiete vom Dreibund abzulenken. Er
persönlich glaube allerdings, daß diese Intrigen gerade die gegenteilige
Wirkung auf die italienische Politik hervorbringen werden. Seiner
Meinung nach solle aber auch Italien alles vermeiden, wodurch Frank-
reich gereizt werden könnte.
Mit letzterer Bemerkung wollte Herr Ressmann offenbar auf den
bevorstehenden Besuch des Prinzen von Neapel im Reichsland* hin-
weisen, welcher gegenwärtig der hiesigen Presse Stoff zu Hetzartikeln
gibt, und an welchen viele Blätter die Forderung knüpfen, jede von
Italien gewünschte Gefälligkeit abzulehnen. Ich habe es vermieden, auf
das Thema einzugehen oder mir den Anschein zu geben, als ob ich
die Anspielung verstanden hätte. Ich weiß aber von Kollegen, daß
Herr Ressmann schon seit längerer Zeit mit einiger Besorgnis dem
Manöverbesuch des Prinzen entgegensieht.
Über die Massakrierung der italienischen Arbeiter in Aigues-Mortes,
die mattherzige Kundgebung des dortigen Maire und die Haltung der
französischen Presse in dieser Sache zeigte sich Herr Ressmann sehr
gereizt. Über die Details war er noch ohne Nachricht. Er zog eine
Parallele zwischen dem Vorgehen Frankreichs gegen Siam wegen eines
isoliert gebliebenen Verbrechens** und der Haltung der französischen
Presse zur Niedermetzelung der armen Italiener.
Graf Arco
Nr. 1447
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 222 Wien, den 21. August 1893
Euerer Exzellenz Telegramm Nr. 93 von heute***, den Zwischenfall
in Aigues-Mortes betreffend, habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und
dem Grafen Kälnoky sofort Mitteilung von der beabsichtigten Haltung
der Kaiserlichen Regierung gemacht.
Graf Kälnoky sagte mir, daß ihn der italienische Botschafter
gestern gebeten habe, ob das hiesige Kabinett nicht in Paris auf die
Notwendigkeit einer raschen Genusftuungf hinweisen könnte.
* Kronprinz Viktor Emanuel traf am 1. September in Koblenz ein, um an den
Kaisermanövern in der Rheinprovinz und in den Reichslanden teilzunehmen.
** Der schon seit 1892 bestehende Konflikt zwischen Frankreich und Siam war im
Juni 1893 durch die Ermordung eines französischen Inspektors Grosgurin ver-
schärft worden. Aus dem französisch-siamesischen wurde bald ein englisch-
französischer Konflikt. Vgl. Bd. VII!; Kap. LH B.
*** Siehe Nr. 1445.
9 Die Große Politik. 7. Bd. J29
Hierauf sei er, der Minister, nicht eingegangen. Er habe aber
dem Botschafter versprochen, daß er den österreichisch-ungarischen
Geschäftsträger* anweisen würde, Herrn Develle vertraulich in
seinem, des Ministers, Auftrage zu sagen, daß hier Meldungen über
die wachsende Aufregung in der italienischen Bevölkerung eingelaufen
seien, und daß er im Interesse des uns allen notwendigen Friedens
nicht umhin könne, die lebhafte Hoffnung auszusprechen, daß die
französische Regierung mit energischer Raschheit dasjenige tun
werde, was diesen Zwischenfall aus der Welt zu schaffen geeignet wäre.
Graf Zichy habe weder darüber zu sprechen, was die französische
Regierung tun solle, noch sonst einen Rat zu geben.
Der Minister bemerkte, er habe die Italiener nicht ganz abweisen
wollen, begreift aber, daß wir es nicht für angezeigt hielten, in Paris
zu sprechen, da man dort hierin leicht eine Pression erblicken könnte.
Nebenbei bemerkt, werde man ja jetzt sehen können, ob Rußland
in Paris zugunsten Italiens intervenieren werde, damit es nicht zu
einem Konflikt komme. Dies sei eine Probe auf die durch die „Ham-
burger Nachrichten" verbreitete Ente eines russisch-italienischen ge-
heimen Einverständnisses.
H. VII. P. Reuß
Nr. 1448
Der Botschafter in Rom Graf zu Solms-Sonnenwalde
an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 123 Rom, den 22. August 1893
Minister Brin teilte mir den Inhalt eines nach Berlin gerichteten
Telegramms mit, wonach die französische Regierung den Maire von
Aigues-Mortes suspendiert und strenge Untersuchung der Vorgänge
angeordnet hat und der Botschafter Ressmann angewiesen ist zu er-
klären, daß die italienische Regierung den Inzidenzfall als zufrieden-
stellend geschlossen betrachtet.
Solms
Nr. 144Q
Der Geschäf isträger in Paris von Schoen an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 217 Paris, den 23. August 1893
Der italienische Botschafter hält, wie er mir ganz vertraulich sagt,
trotz beruhigenden Veröffentlichungen über die gegenseitigen Er-
klärungen und Maßregeln die Lage noch nicht frei von Besorgnis, weil
* Graf Zichy
130
er fürchtet, daß die säumige und wenig befriedigende Art der franzö-
sischen Genugtuung weitere unheilsvolle Explosionen des italienischen
Nationalgefühls und lange andauernde Verbitterung her\'orrufen dürfte.
Die Havasnote vom 21. d. Mts. erscheint ihm dadurch, daß sie im
Widerspruch mit den Tatsachen den italienischen Ausdruck des Be-
dauerns voranstellt, geeignet, die hier geläufige Vorstellung zu ver-
stärken, als ob Frankreich mehr Genugtuung zu fordern wie zu geben
habe, in Italien aber böses Blut zu machen. Auch ist zu betonen, daß
die französische Regierung den Maire von Aigues-Mortes wegen seiner
den Mord geradezu billigenden Proklamation nicht, wie vom italieni-
schen und allgemeinen Standpunkt erwartet werden mußte, und wie
Herrn Ressmann zugesagt war, seines Amtes entsetzt, sondern nur
suspendiert hat.
Das Verhalten der italienischen Regierung findet bei der hiesigen
Presse im allgemeinen anerkennendes Verständnis, doch kommt die
letztere aus diesem Anlaß wieder mit ihren Empfindlichkeiten wegen
der Reise des Prinzen von Neapel nach den Reichslanden hervor.
Schoen
Nr. 1450
Der Geschäf(sfräger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 192 Paris, den 25. August 1893
Vertraulich
Seitdem ich die Ehre habe, Herrn Ressmann, den jetzigen ita-
lienischen Botschafter und früheren ersten Sekretär unter seinem Vor-
gänger, zu kennen und mit ihm über politische Dinge mich zu unter-
halten, ist mir stets eine gewisse Neigung zu pessimistischen Anschau-
ungen bei ihm aufgefallen. So schwarzsehend wie jetzt aber habe ich
Herrn Ressmann noch nie gefunden. Er ist sehr mißmutig über den
Mangel an Willfährigkeit, den er bei der hiesigen Regierung in der
Angelegenheit von Aigues-Mortes sowohl wie in der Frage der Außer-
kurssetzung der italienischen Scheidemünze gefunden und sieht darin
einen weiteren Beweis dafür, daß Frankreich ganz systematisch Italien
in jeder Beziehung zu schaden suche, in der Meinung, es mürbe zu
machen und zum Abfall vom Dreibund zu bringen, zum mindesten
aber seinen Wert als Mitglied desselben möglichst herunterzudrücken.
Ja, Herr Ressmann geht noch weiter; er glaubt, daß in vielen fran-
zösischen Köpfen der Gedanke lebt, Italien so lange zu reizen, bis
dort dem feurigen und empfindlichen Volk die Geduld reißt und
Dinge vorfallen, die einen kriegerischen Konfhkt mit dem Anscheine
9» 131
herbeiführen, als sei der Angriff von Italien ausgegangen. In diesen
Tagen sei ein solcher Konflikt bedenklich nahe gewesen, die Gefahr
desselben übrigens noch nicht ganz beseitigt. Die Wage des Krieges
und Friedens habe in seiner, des Botschafters, Hand geruht, und es
habe nicht geringer Selbstbeherrschung und Mäßigung bedurft, um
ihn zu hindern, der Schale des Krieges das Übergewicht zu geben.
Herr Ressmann knüpfte daran die allgemeine Bemerkung, die Lage
Europas und speziell Italiens sei nachgerade so unerträglich geworden,
daß es sich frage, ob wir, der Dreibund, nicht besser daran getan
hätten, den Krieg, der nun doch einmal unvermeidlich sei, zu eiaer
Zeit zu entfesseln, wo die Chancen uns noch günstiger standen wie
heutzutage.
Ich erlaubte mir zu entgegnen, daß ich von der Unvermeidlich-
keit des Krieges durchaus nicht überzeugt sei und eher an eine fried-
liche als an eine kriegerische Lösung der Spannung glaube. Jeden-
falls würde ein Krieg, selbst wenn er für uns Dreibundmächte günstig
ausfiele, uns mehr herunterbringen als der bewaffnete Friede, ein un-
glücklicher Krieg uns aber nahezu vernichten, deshalb müßten alle
Anstrengungen, wie dies bei den verbündeten Regierungen auch der
Fall, auf Erhaltung des Friedens gerichtet sein. Je mehr wir alle,
Freunde und Gegner, auf den Krieg rüsteten, desto unwahrschein-
licher werde der Ausbruch desselben. Der Friede, der nun eine
22jährige Probe bestanden, werde auch ferner erhalten werden können.
Der Botschafter meinte, in dem französischen Volke glimme un-
auslöschliche Glut unter der Asche, eines Tages werde die Flamme
doch hervorschlagen. Er komme viel mit Franzosen zusammen und
wisse, wie tief der Grimm gegen Deutschland in ihnen sitze, wie
sehr sie alle von der Idee der Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens
beherrscht seien. Vielleicht gelinge es, den Krieg noch einige Jahre,
etwa bis zur Weltausstellung 1900, zu vermeiden, länger aber kaum.
Auf die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich zurück-
kommend, klagte Herr Ressmann lebhaft über die Schwierigkeiten
derselben und seiner Stellung. Zu offener und ehrlicher Feindschaft,
wie zwischen Deutschland und Frankreich, ein Verhältnis, das den
Vorteil der Klarheit und Bestimmtheit habe, dürfe er es nicht kommen
lassen, denn seine Regierung habe mit einer franzosenfreundlichen
Partei im Lande zu rechnen, franzosenfreundlich nur in dem Sinne, daß
sie eine Besserung der Beziehungen im eigenen Interesse wünscht,
denn Italien ist in wirtschaftlichen Dingen vielfach auf Frankreich an-
gewiesen. Die Regierung dürfe diese Partei nicht vor den Kopf stoßen,
dies würde sie und ihre Forderungen nur stärken. Andererseits mache
das offenkundige Übelwollen auf französischer Seite die Herstellung
leidlicher Beziehungen nahezu unmöglich und erschwere ihm und seiner
Regierung die Stellung. Der König, so betonte der Botschafter v/ieder-
holt, wohl in Hinsicht auf die Reise des Kronprinzen nach den Reichs-
132
landen, stehe freilich über den Parteien und brauche sich von Rück-
sichten auf dieselben nicht leiten zu lassen.
Euerer Exzellenz habe ich geglaubt, die Anschauungen des ita-
lienischen Botschafters wiedergeben zu sollen. Mir scheinen sie, wie
schon erwähnt, etwas zu düster, ein Ausfluß persönlicher Verstimmung
über die Erfolglosigkeit der bisherigen Bemühungen, wirtschaftliche
und handelspolitische Zugeständnisse von Frankreich an Italien zu er-
reichen, sowie über die Säumigkeit in der Erledigung der Sache von
Aigues-Mortes, auch wohl eine Folge gestörter Gesundheit und phy-
sischer Ermüdung.
V. Schoen
Nr. 1451
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 218 Paris, den 27. September 1893
Mein italienischer Kollege, gestern von Italien zurückgekehrt, be-
suchte mich sogleich.
Den Botschafter fand ich sehr pessimistisch gestimmt, und kann
ich nur dasjenige bestätigen, was der Geschäftsträger Herr von Schoen
(Bericht Nr. 192 vom 25. v. Mts.*) vor der Abreise des Herrn Ress-
mann berichtete. Durch seinen Aufenthalt und seine Reise durch ganz
Italien scheint diese pessimistische Auffassung nicht gemildert worden
zu sein.
Die öffentliche Meinung in Italien und die Stimmung der Bevöl-
kerung muß nach den Schilderungen des Botschafters eine sehr er-
regte und gegen Frankreich sehr feindliche sein^.
Die Franzosen, meinte Herr Ressmann, intrigieren nach zwei Rich-
tungen hin; sie wollen Italien finanziell ruinieren und wollen zur Re-
volution und Republik treiben. Beides werden sie nicht erreichen; sie
treiben aber zu einer ganz andern und gefährlichen Lösung dieser ge-
spannten Situation, zum Kriege. Überall habe er die Äußerung gehört,
man müsse der unerträglichen Lage ein Ende machen.
Auch bis in die höchsten Kreise habe er diese Stimmung gefunden.
Vielfach habe er die Ansicht gehört, als ob Seine Majestät, unser
allergnädigster Herr, dem Kriege nicht abgeneigt sei 2. Als ich be-
stimmt versicherte, das sei nicht der Fall, Seine Majestät wünschten
aufrichtig die Erhaltung des Friedens, und könnten wir auf keinen
Fall wünschen, daß der Krieg auf leichtsinnige Weise von Italien aus
provoziert werde, meinte er, das beruhige ihn sehr, und er hoffe, daß
wir in Italien dieses bestimmt betonen würden.
♦ Siehe Nr. 1450.
133
Nach den ganz vertraulichen Äußerungen des Botschafters zu
urteilen, scheint sein König selbst ernstlich die Möglichkeit eines bal-
digen Krieges ins Auge zu fassen.
Wenn ich auch annehme, daß mein Kollege zu schwarz sieht, so
wird es aber doch sehr wünschenswert sein, daß von unserer Seite
beruhigend in Italien gewirkt werde ^.
Herr Develle, der heute auf einen Tag in der Stadt ist — er ist
meistens noch auf dem Lande — , sagte mir, die Vorfälle in Aigues-
Mortes beklage er sehr, über die italienische Regierung könne er
durchaus nicht klagen, sie habe bei den unangenehmen Vorfällen in
Rom alles getan, was man von hier aus hätte erwarten können. Leider
sei aber die Aufregung der italienischen Bevölkerung und die Ani-
mosität gegen Frankreich sehr groß, und er sei nicht ganz sicher,
daß die italienische Regierung stark genug der aufgeregten Nation
gegenüber sei.
In finanziellen Kreisen herrscht auch eine gewisse Besorgnis, man
fürchtet un coup de tete Italien.
Die Gebrüder Rothschild, die ich alle drei zusammen traf, gaben
auch dieser Besorgnis Ausdruck und meinten, es sei eine große Un-
geschicklichkeit der hiesigen finanziellen Kreise gewesen, daß die-
selben auf jede Weise versucht hätten, die italienische Rente zu werfen.
Ihr Haus hätte das nicht mitgemacht, und hätten sie im Gegenteil ver-
sucht, sie mit zu halten. Die finanziellen Verlegenheiten Italiens seien
so schon groß genug, die Stimmung in Italien könne geradezu für
den Frieden Europas gefährlich werden.
\ Die Italiener schreien und gestikulieren im gewöhnlichen Leben
viel, ehe sie wirklich ernstlich zuschlagen, und das wird hoffentlich
jetzt auch der Fall sein*. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Gut * 1 3 vor allem England! * sehr richtig.
Nr. 1452
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 247 Paris, den 6. Oktober 18Q3
Herr Ressmann vertraut mir an, er habe vor einigen Tagen dem
hier anwesenden Botschafter Billot* ganz offen gesagt, eine Fort-
setzung der bisherigen französischen Politik gegen Italien werde nicht,
wie die Absicht scheine, zu Bankrott und Revolution in Italien, sondern
zum Krieg führen, worauf Herr Billot die Friedfertigkeit Frankreichs
beteuerte.
Herr Ressmann ist überzeugt, daß Frankreich in der Tat keinen
* Französischer Botschafter in Rom.
134
Krieg will, weil es im Frieden Italien langsam, aber sicher ruiniere,
dieser Zustand sei kaum länger zu ertragen. Auf meine Betonung des
Charakters des Dreibundes gab der Botschafter in gewundener Weise
zu verstehen, es sei in Rom erwünscht zu wissen, wieweit man in
gegenwärtiger Lage auf deutsche Unterstützung rechnen könne.
Die von französischen Blättern gemeldeten italienischen Mobil-
machungsvorbereitungen an der Alpengrenze stellt Herr Ressmann in
Abrede.
Schoen
Nr. 1453
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Geschäftsträger in Paris von Schoen
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 277 Beriin, den 10. Oktober 1893
Falls Herr Ressmann die akademische Erörterung über den Drei-
bundvertrag und dessen eventuelle Interpretation* wieder aufnehmen
sollte, sagen Sie ihm, Sie seien nicht orientiert. Jedenfalls werde aber
seine Regierung, wenn sie sich nach Berlin wende, dort authentische
Auskunft erhalten.
Marschall
Nr. 1454
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 296 Paris, den 31. Dezember 1893
Das Geschworenengericht zu Angouleme hat sämtliche Angeklagte
von Aigues-Mortes freigesprochen, obgleich 30 der Beschuldigten nach-
gewiesenermaßen Italiener totgeschlagen haben. Der italienische Bot-
schafter fürchtet, daß diese Freisprechung in Italien große Aufregung
hervorrufen wird.
Münster
Nr. 1455
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 1 Paris, den 6. Januar 1894
Der Neujahrsempfang des diplomatischen Korps fand in der ge-
wöhnlichen Weise statt. Der Nuntius und der Präsident** hielten ziem-
lich nichtssagende Reden.
Daß der Präsident besonders die Liebe und Achtung der fran-
* Vgl. Nr, 1452.
** Carnot.
135
zösischen Nation für Recht und Gesetz in einem Augenblicke betonte *,
wo die Geschworenen in Angouleme Italien gegenüber einen schreien-
den Rechtsbruch verübten, klang fast wie Hohn 2.
Für mich ist es eins der gefährlichsten Zeichen des allmählichen
Niederganges der französischen Nation, daß das Rechtsbewußtsein
immer mehr schwindet, und daß auch der französische Richterstand
immer weniger selbständig und immer mehr abhängig von der je-
weiligen Regierung zu werden scheint 2.
Die hiesige Regierung und die besseren Kreise bedauern zwar
lebhaft den Spruch der Geschworenen in Angouleme. Herr Casimir
Perier* tat das auch mir gegenüber in sehr bestimmter Weise und
las mir den Bericht des Oberstaatsanwalts zu Angouleme vor, der
sich und den Präsidenten des Gerichtshofes zu entschuldigen versucht.
Dieser behauptet, daß er und der Gerichtspräsident alles, was in
ihren Kräften stand, getan hätten, um eine Verurteilung herbeizuführen,
und schiebt das Mißlingen dieser Bemühungen vor allem der Gegen-
wart des italienischen Generalkonsuls Durando zu. Die Geschworenen
hätten seine Gegenwart angesehen, als solle eine Pression auf sie aus-
geübt werden, und dadurch seien die politischen Motive wieder in
den Vordergrund getreten.
Herr Casimir Perier erkannte es an, daß Herr Crispi und die ita-
lienische Regierung bestrebt sind, die öffentliche Meinung in Italien
zu beruhigen und öffentliche Ausschreitungen zu verhindern.
Eine Gefahr in unserer Zeit ist das Nationalgefühl, welches eine
bedenkliche Richtung einschlägt* und zum Nationalhaß immer mehr
ausartet. Darin sehe ich die wirkliche Kriegsgefahr, pp.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 .War sehr mal apropos * ja ^ richtig * gut.
Nr. 1456
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 44 Rom, den 20. Februar 1894
Ganz vertraulich
Der italienische Botschafter in Paris, Herr Ressmann, welcher vor
acht Tagen hier eintraf und heute über Florenz auf seinen Posten
zurückkehren will, suchte mich auf, um mir seine Ansichten über das
Verhältnis Italiens zu Frankreich auseinanderzusetzen. Herr Ressmann
betonte hierbei, daß er im Vertrauen auf meine Diskretion mit der
Offenheit spreche, zu welcher ihn unsere langjährigen persönlichen
Beziehungen autorisierten.
* Präsident des Ministeriums und Minister des Äußern seit 1. Dezember 1893.
136
Italien, entwickelte Herr Ressmann, müsse wissen, was es wolle.
Wolle es den Krieg, dann lieber heute als morgen. In diesem Falle
wäre jeder Aufschub von Schaden. Wenn jedoch die italienische Re-
gierung und das italienische Volk den Zusammenstoß mit Frankreich
zu vermeiden wünschten, müßten beide jenen Nachbarn vorsichtiger
als bisher behandeln. Vor allem müsse Italien gegenüber Frankreich
weniger empfindlich werden, mit der französischen Eitelkeit und selbst
mit der französischen Überhebungssucht rechnen. „II faut traiter la
France comme une femme qui a quelquefois besoin de caresses et ä
laquelle il faut pardonner bien des choses.'' Man solle sich in Italien
speziell um die — allerdings in hohem Grade beleidigenden, oft em-
pörenden — Auslassungen d^r Pariser Presse möglichst wenig küm-
mern. Alles dies schließe natürlich nicht aus, daß Italien angesichts
des unberechenbaren französischen Nationalcharakters sein Pulver
trocken halte. „Fortiter in re, sed suavissime in modo."
Herr Ressmann behauptet, daß auch ernsthafte Franzosen bona
fide an kriegerische Absichten Italiens gegenüber Frankreich geglaubt
hätten und noch glaubten. Die Anwesenheit des Prinzen von Neapel
bei den deutschen Manövern*, einige italienische Truppenbewegungen
an der französischen Grenze, das Wiedererscheinen des Herrn Crispi
an der Spitze der Regierung**, die Truppensendungen nach Sizilien
wären in Paris als ebensoviele kriegerische Symptome gedeutet v.'orden.
Als ich auf die Absurdität dieser Auffassung hinwies, meinte Herr
Ressmann: „C'est absurde, mais c'est comme cela. Le cer\'eau francais
est un cerveau ä part." Herr Ressmann möchte, daß von hier aus in
Paris gelegentlich beruhigende Erklärungen abgegeben würden, wie
er solche vor einiger Zeit vergeblich von Baron Blanc zu extrahieren
versucht habe. Er bat mich vertraulich, hier gegenüber Frankreich
kaltes Blut und möglichste Courtoisie anzuempfehlen.
Über die allgemeine Stimmung in Frankreich meinte Herr Ress-
mann, daß der Gedanke der Wiederaufrichtung der französischen Vor-
herrschaft in Europa freilich noch in allen französischen Herzen lebendig
sei. Aber von sofortigem Losschlagen, nach welcher Richtung es auch
sei, wolle trotzdem niemand in Frankreich etwas wissen. Die Fran-
zosen wollten zunächst das Ablaufen der Tripelallianz abwarten, in
der Hoffnung, daß dieselbe nicht wieder erneuert werden würde.
Demnächst sei die Erinnerung an 1870/71 noch nicht erloschen; Frank-
reich möchte das nächste Mal militärisch ganz sicher gehen. Endlich
sei die Republik als solche zweifellos friedlich. „Comment pouvez
vous croire notre democratie belliqueuse", sagte Herr Carnot dem
italienischen Botschafter, während Herr Challemel-Lacour*** geäußert
* Vgl. Nr. 1446, S. 129, Fußnote *.
** Das neiic Ministerium Crispi mit Baron Blanc als Außenminister war am
10. Dezember 1893 zustandegekommen.
*** Präsident des französischen Senats.
137
haben soll: „La France se fait tellement materialiste et tellement
pacifique qu'il faut la secouer de temps en temps afin qu'elle n'oublie
pas ce qu'elle ne doit pas oublier."
Auch Herr Ressmann hofft für den Fall eines Konflikts mit Frank-
reich auf englische Unterstützung für Italien. Aber Italien dürfe bei
einem solchen Konflikt nicht der formal schuldige Teil sein. Die eng-
lischen Staatsmänner, habe ihm Lord Dufferin neulich gesagt, sähen
jetzt fast alle ein, daß Großbritannien nicht Italien gegenüber Frank-
reich preisgeben dürfe. Aber gegen die öffentliche Meinung könne
kein englischer Staatsmann ankommen. Diese öffentliche Meinung
werde nur dann — dann jedoch sicher — für Italien Partei nehmen,
wenn dieses als der angegriffene und nicht als der angreifende Teil
erscheine.
Herr Ressmann lenkte schließlich das Gespräch auf sein Verhält-
nis zu Baron Blanc. Er fürchte, daß dieser an seine Stelle nach Paris
kommen möchte, obwohl seines Erachtens der derzeitige Minister des
Äußern aus vielen Gründen gerade dorthin gar nicht passen würde.
Herr Ressmann schien sichtlich erleichtert, als ich ihm sagen konnte,
daß Baron Blanc mir gegenüber kürzlich proprio motu jede Aspiration
auf Paris in Abrede gestellt habe.
Allerdings hat sich, was ich Herrn Ressmann nicht wohl sagen
durfte, Baron Blanc mir gegenüber mehrfach einigermaßen abfällig
über den italienischen Botschafter in Paris ausgelassen, welchen er
gegenüber Frankreich zu nervös und bis zu einem gewissen Grade zu
nachgiebig findet. Auch Herr Crispi hatte sich über einige Berichte
des Herrn Ressmann geärgert, welche in lebhaften Farben die fran-
zösischen Besorgnisse vor italienischen Angriffsplänen schilderten, und
ad marginem eines dieser Berichte geschrieben: „Der Wolf klagt über
das Lamm.*' Der Konseilpräsident hat Herrn Ressmann nichtsdesto-
weniger freundlich aufgenommen und ihn ermächtigt, in Paris zu er-
klären, „que I'Italie, fidele ä sa politique de paix et ne desirant que
la paix, ne provoquerait certainement personne". Herr von Rudini unter-
hält seit lange freundschaftliche Beziehungen zu Herrn Ressmann;
letzterer hat den Führer der Rechten hier öfters gesehen. Von König
Hunibert vi^urde Herr Ressmann in gnädiger Weise empfangen, mit
einer Einladung zur Tafel beehrt und durch längere Unterhaltung aus-
gezeichnet.
Ich habe Herrn Ressmann, wie allen meinen hiesigen Bekannten,
welche die Rede auf das Verhältnis Italiens zu Frankreich brachten,
in unbefangenem Tone erwidert, v^ie wir ganz damit einverstanden
wären, daß Italien unter Wahrung seiner Würde und Sicherheit gegen-
über Frankreich eine friedliche und höfliche Haltung einnehme, die
weder unseren Wünschen noch unsern Interessen widerspräche, von
welcher sich aber meines Erachtens bisher auch keine italienische Re-
gierung ekartiert habe. B. von Bülow
138
Nr. 1457
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 12 Rom, den 6. Januar 1895
pp. Über die Abberufung des Botschafters Herrn Ressmann be-
merkte Herr Crispi, daß er persönlich nichts gegen den genannten
habe, den er lange gegen Baron Blanc in Schutz genommen hätte; seine
Entfernung aus Paris sei jedoch sachlich notwendig geworden. Herr
Crispi hatte soeben ein Telegramm des Herrn Ressmann erhalten, in
welchem derselbe anzeigt, daß er morgen, Montag, dem Botschafts-
rat Herrn Gallina die Geschäfte übergeben und denselben dem fran-
zösischen Minister des Äußern als Geschäftsträger vorstellen werde.
Der Ministerpräsident sprach schließlich die Bitte aus, daß Graf
Gallina, dessen Stellung keine leichte sein werde, bei unserer Bot-
schaft Anlehnung und Unterstützung finden möge. Herr Crispi fügte
hinzu: „Vous aurez remarque, avec quelle violence la presse frangaise
— et surtout les journaux officieux — m'attaquent. La haine des
Francais — et du gouvernement frangais — contre moi provient de
ce que l'Italie ne sortira pas de la triple alliance tant que je suis au
pouvoir, je vous le garantis. Si je tombais, la politique etrangere de
l'Italie changerait de direction." Der Ministerpräsident kam mehrfach
darauf zurück, daß die Maßlosigkeit der Pariser gouvernementalen
Organe nicht nur seine Stellung erschwere, sondern auch nicht ohne
Rückwirkung auf die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich
bleiben werde. Er Heß hierbei durchblicken, daß er es mit Dank be-
grüßen würde, wenn die Verbündeten Italiens in Paris warnend und
mäßigend einwirken könnten, pp.
Bülow
Nr. 1458
Der Reichskanzler Fürst von Hohenlohe an den Botschafter in Paris
Grafen Münster
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 6 Berlin, den T.Januar 1895
Bei oder nach Besprechung der durch die Haltung der französischen
Presse für beide, die französische wie die deutsche Regierung er-
schwerten Dreyfus-Angelegenheit* wird sich Ew. vielleicht Gelegenheit
* Am 1. Dezember war der Artilleriehauptmann Dreyfus unter dem Verdacht
verhaftet worden, fremden Militärbevollmächtigten geheime Aktenstücke mitgeteilt
zu haben. Die Verhaftung hatte eine heftige Preßfehde gegen die fremden, ins-
besondere die deutschen und italienischen Militärattaches zur Folge, sodaß Graf
Münster sich beschwerdeführend an die französische Regierung wenden mußte.
Näheres über den Dreyfus-Fall siehe in Bd. IX, Kap. LIX.
13Q
bieten, auch die Maßlosigkeiten der französischen Presse gegenüber der
itahenischen Regierung akademisch, zur Beleuchtung der Gesamt-
lage, mit in die Erörterung zu ziehen. Wenn wir das jetzige Stadium
als ein akutes betrachteten, so könnte uns kaum etwas erwünschter
sein als diese Polemik, welche bei Krone und Volk in Itahen die
patriotische Fiber anregt und sogar einen Bonghi zum zeitweiHgen
Verbündeten Crispis gemacht hat. Da -wir aber bis jetzt glauben, mit
der französischen Regierung in dem Wunsche der Erhaltung des inter-
nationalen Friedens einig zu sein, so fehlt uns der Schlüssel für die Ton-
art, welche neuerdings der „Temps" in seinen Angriffen gegen ita-
lienische Staatsmänner angeschlagen hat. Wir fragen uns, was die
Welt sagen würde, wenn die „Norddeutsche Zeitung" in diesem Stile
die leitenden Persönlichkeiten nichtverbündeter Staaten kritisieren
wollte — was ihr sogar zur Zeit Boulangers nicht passiert ist, da selbst
damals Deutschland die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens niemals
aufgegeben hat. Und doch ist die Einwirkung der Kaiserlichen Re-
gierung auf die „Norddeutsche Zeitung'' eine relativ ebenso geringe
wie wahrscheinlich die der französischen Regierung auf den „Temps'*.
Aber es darf nicht vergessen werden, daß der Ruf der Inspiration, in
welchem beide Blätter stehen, ihnen eine Hebelkraft für Aufreizung
der Leidenschaft gibt, die kaum verträglich scheint mit ganz unkontrol-
lierter Willkür der Redaktion in schwierigen Momenten.
C. Hohenlohe
Nr. 1459
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 44 Rom, den 16. Februar 1895
Graf TornieHi* sagte mir vor seiner Abreise nach Paris, daß er
ohne Enthusiasmus an seine neue Aufgabe herangehe. Auf die Glück-
wünsche, welche ihm anläßlich seiner Ernennung nach Paris zu-
gegangen wären, habe er erwidert, daß Beileidskundgebungen an-
gezeigter sein würden. Nicht nur, weil aus bekannten Gründen gerade
seine persönliche Stellung in Paris eine überaus schwierige sein würde,
sondern auch weil die politischen Beziehungen zwischen Italien und
Frankreich selten weniger herzliche gewesen wären wie gegenwärtig.
Graf Tornielli, welcher ein alter Bekannter von mir ist, unterzog
bei dieser Gelegenheit die auswärtige Politik der derzeitigen italieni-
• Der bisherige Botschafter in London Graf Tornielli, ein von je zu Frankreich
neigender Staatsmann (vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.), wer als Nachfolger Ressmanns
auf den Pariser Posten versetzt worden.
140
sehen Regierung einer nicht gerade wohlwollenden Kritik. Der Fehler
des Baron Blanc sei, äußerte Graf Tornielli unter anderem, daß der-
selbe eine englisch-russische oder gar eine englisch-russisch-französische
Entente für unmöglich halte. Eine solche Entente sei aber nicht nur
möglich, sondern sogar wahrscheinlich und werde vielleicht Jahrzehnte
dauern. Als ich Graf Tornielli auseinandersetzte, daß und warum ich
seine Auffassung für eine irrige hielte, entgegnete derselbe: „Was Sie
sagen, wäre richtig, wenn England noch das England von vor 50 oder
selbst vor 20 Jahren wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das heutige
England! wird den Franzosen und Russen jede Konzession machen, um
sich eine Galgenfrist der Ruhe zu erkaufen." Graf Tornielli ist der
Meinung, daß Italien angesichts der nach seiner Ansicht in London
jetzt prävalierenden Tendenzen sich nach allen Seiten größter Reserve
befleißigen und „une politique de passivite" treiben müsse, pp.
B. von Bülow
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Liberale Ministerien
Nr. 1460
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Grafen zu Eulenburg
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 193 Berlin, den 19. März 1895
Ew. beehre ich mich in der Anlage einen Bericht des Kaiserhchen
Geschäftsträgers in Paris über eine Unterredung desselben mit dem
Grafen Wolkenstein* abschriftlich zu übersenden.
Bei Besprechung der italienisch-französischen Beziehungen sagte
der österreichisch-ungarische Botschafter, daß er von Wien aus an-
gewiesen sei, die Annäherung Italiens an Frankreich nach Kräften zu
fördern.
Aus Mitteilungen des Baron Blanc, welche Ew. mit heutiger Ex-
pedition zugehen, ergibt sich, daß auch in Rom die österreichische
Diplomatie bereits seit länger als zehn Jahren fortgesetzt den Rat er-
teilt hat, Italien möge irgendwie, eventuell zusammen mit England
eine Verständigung mit Frankreich zu erreichen suchen.
* Nach dem Berichte des Geschäftsträgers von Schoen vom 9. März 1895 (Nr. 65)
hätte Graf Wolkenstein Besorgnisse darüber geäußert, daß Graf Tornielli, der
mit der Instruktion, in versöhnlichem Sinne tätig zu sein, nach Paris geschickt
sei, dieser Aufgabe im Hinblick auf seinen mißtrauischen und spröden Charakter
und auf neuerdings entstandene französisch-italienische Kolonialschwierigkeiten
(Harrarfrage) nicht gewachsen sein möchte. Bei dieser Gelegenheit betonte der
österreichische Botschafter, daß Graf Käinoky großen Wert auf ein gutes Ver-
hältnis zwischen Italien und Frankreich lege und ihn angewiesen habe, möglichst
in diesem Sinne zu wirken.
141
Da das Wiener Kabinett gleichzeitig seine ganze Beredsamkeit auf-
bietet, um eine dauernde politisciie Verbindung zwischen Italien und
Spanien herzustellen, so liegt die Vermutung nicht allzu fern, daß man
in Wien bemüht ist, einen lateinischen Dreibund herzustellen, wo das
antiösterreichische italienische Element durch Frankreich und Spanien
in Ordnung gehalten würde. Daß diese Gruppierung wirklich für
Österreich die gleiche Garantie gegen die Irredenta bieten würde wie
der Dreibund, möchte ich bezweifeln. Frankreich, einmal mit Italien
versöhnt, hat ein Interesse daran, daß die Italiener ihr jetziges Pro-
gramm der Mittelmeerexpansion aufgeben und sich wieder dem alten
Irredentaprogramm zuwenden, das in seinem weiteren Sinne auch auf
Albanien, welches, wie Graf Launay zu sagen pflegte, „mit einem guten
Fernglase von der italienischen Küste aus sichtbar ist", Anwendung
findet. Ob Graf Kälnoky das volle Bewußtsein des Nutzens hat, wel-
chen gerade in dieser Beziehung die österreichisch-ungarische Mon-
archie aus dem Dreibunde zieht, darf man bezweifeln angesichts der
wenig entgegenkommenden Haltung, welche Graf Kälnoky gegenüber
Italien stets beobachtet hat. Österreich hat, wie gesagt, nachweisbaren
Vorteil dadurch, daß der Dreibund die Irredenta gezähmt hat. Da-
gegen würde es schwer sein zu sagen, welche Vorteile Italien davon
gehabt hat, daß es sich, um mit Deutschland verbündet zu sein, gleich-
zeitig an Österreich anschließt.
Daß Österreich, welches unausgesetzt die Italiener zur Mäßigung
ermahnt, ähnliche Ratschläge in Paris erteilt hätte, ist hier nicht be-
kannt geworden, und doch hätte die Haltung Frankreichs gegenüber
Italien mancherlei Anlaß dazu geboten.
Die Tatsache, daß der Minister Develle unumwunden erklärte, für
ihn beständen die französisch-italienischen Vereinbarungen wegen
Harrar* nicht, da Italien inzwischen den Dreibund erneuert habe, ge-
hört in der Geschichte der Verträge und des diplomatischen Verkehrs
doch immerhin zu den Ausnahmen. Wenn Baron Blanc diese Tatsache
zum Ausgangspunkt einer Beschwerde in Paris macht, so mag vielleicht
daran wie an anderen Äußerungen seines ungeduldigen Temperaments
formal allerlei zu kritisieren sein, aber im Grunde hat der italienische
Minister nicht unrecht mit seiner Behauptung, daß der Anschluß Italiens
an das deutsch-österreichische Bündnis bisher vorteilhaft für Österreich,
weniger aber für Italien war.
Ew. stelle ich anheim, die vorstehenden Gesichtspunkte gelegent-
lich mit dem Grafen Kälnoky zu erörtern; vielleicht wird es sich da-
durch erreichen lassen, daß der österreichisch-ungarische Minister seine
Ermahnungen zur Verträglichkeit nicht bloß nach Rom, sondern auch
nach Paris richtet.
Marschall
* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.
142
Nr. 1461
Der Botschafter in Wien Graf zu Eulenburg an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 72 Wien, den 30. März 1895
Ganz vertraulich
Es war mir möglich, mit dem Grafen Kalnoky über die Beziehungen
Österreichs zu Italien, respektive zwischen Italien und Frankreich eine
längere Unterhaltung zu führen, die lediglich die Form privater Dis-
kussion trug.
Ich machte hierbei die Bemerkung, daß bei der Aufnahme Italiens
in den Dreibund Österreich mehr gewonnen habe als Italien bezüglich
seines Verhältnisses zu Österreich. Das Schweigen der Irredcnta trage
wesentlich zur Annehmlichkeit Österreichs bei, ganz abgesehen von
den Vorteilen, die es bei einer kriegerischen Komplikation gewähre.
Graf Kälnoky schien auf die Frage der Irredenta keinen besonderen
Wert zu legen. Selbst als ich erwähnte, daß die Vorgänge in Pirano*
früher ernste Folgen für die Lage der Regierung hätten haben müssen,
während sie jetzt kaum ein Aufflackern von Verstimmung in Italien
zur Folge gehabt hätten, meinte Graf Kälnoky, Österreich habe genug
Mittel in der Hand, um die italienischen Untertanen völlig verstummen
zu machen und damit auch die Irredenta in Italien im Zaum zu halten.
Man brauche nur ein paar Bataillone mehr in die Grenzprovinzen zu
legen und die slawische Bewegung zu unterstützen. Die numerische
Überzahl der Slawen werde bald ersticken, was sich italienisch rege.
Sehr auffällig war es mir, daß der Graf im Laufe des Gespräches
viel mehr den Gedanken der Notwendigkeit des Festhaltens an dem
Bündnisse mit Italien betonte als früher. Es war, v\'ie gesagt, nicht die
Rücksicht auf die Irredenta, sondern eine andere Besorgnis — über die
zu berichten ich schon Gelegenheit hatte — , welche von neuem zu-
tage trat. Die Besorgnis vor dem Zusammenbruch der italienischen
Monarchie und der Bildung einer nördlichen und südlichen Republik.
Der Graf muß Nachrichten aus der Lombardei erhalten haben, die ihn
ernstlich beunruhigten. Ich vermute aber auch, daß die Erfahrungen,
welche die hiesige Regierung am Vatikan bezüglich der Mission des
Kardinals Schönborn** macht, nicht unwesentlich dazu beitragen, die
* Die Anbringung slowenischer Gerichtstafeln in der Provinz Istrien hatte im
Herbst 1SQ4 zu Tumulten in der italienischen Bevölkerung geführt; in Pirano
wurden die neu angebrachten doppelsprachigen Tafeln mit Gewalt entfernt.
** Im Februar 18Q5 hatten im Namen des Österreich-ungarischen Episkopats Kar-
dinal Schönborn, Bischof Bauer und Bischof Steiner die Hilfe des Papstes gegen
den unbotmäßigen niederen Klerus erbeten, der mehr und mehr in das Lager
der radikalen Parteien, insbesondere der christlich-sozialen Antisemiten über-
gegangen war. Der Papst indessen hieß in seiner Antwort das Programm der
Christlich-Sozialen unbeschadet der Mißbilligung ihrer Ausschreitungen ausdrück-
lich gut.
143
aufgetretene Tendenz der Kurie, der demokratischen Richtung des
niederen Klerus eher freien Lauf zu lassen, als sie einzudämmen, hat
Besorgnis des Grafen zu erhöhen. Die in ganz bestimmten Formen
unzweifelhaft auch dem Grafen die Gefahr vor Augen geführt, die
diese Politik für Italien enthält. Ich habe während der Dauer meiner
Anwesenheit in Wien eine Art Erwachen der hiesigen Regierung
gegenüber diesen von der Kurie drohenden Gefahren für die Mon-
archien ^ zu meiner Genugtuung konstatieren können.
Das Schreckbild einer lombardischen Republik scheint demnach
momentan einen ziemlich zähen Leim für das Bündnis Italien-Österreich
zu bilden — was nichts daran ändert, daß man den Gegenstand an
und für sich häßlich und den Leim übelriechend findet.
Diese Anschauung hat auch zur Folge, daß mir Graf Kälnoky auf
meine in phantastischer Form gemalten Betrachtungen über das Zu-
kunftsbild eines Bündnisses der romanischen Länder ganz bestimmt
aussprach: nur auf republikanischer Basis könnte sich dieses voll-
ziehen — und aus diesem Grunde sei es notwendig, mit allen Mitteln
sowohl König Humbert als die Königin-Regentin von Spanien zu halten 2.
Ich erwiderte, daß sich bei einer solchen Lage der Dinge die Notwendig-
keit ergäbe, die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich weder
zu warm werden zu lassen, noch gar zu viel zu unterstützen 3. Der Graf
ripostierte mit einiger Heftigkeit, daß Baron Blancs Unruhe, Feind-
seligkeit gegen Frankreich, Unberechenbarkeit und Größenwahn eine
Gefahr für Komplikationen am Roten Meer und in Afrika* darstellten:
Österreich wolle nichts mit diesen Dingen zu tun haben, sei ander-
seits durch seine geographische Lage bei Komplikationen am Mittel-
meer sofort in eine Art Mitleidenschaft gezogen. Daher habe er die
unbequemen Anzapfungen des Baron Blanc bezüglich einer größeren
Betätigung des Bündnisses mit Italien nur streng ablehnend beant-
worten können und sich genötigt gesehen, den Zündstoff nach Mög-
lichkeit zwischen Italien und Frankreich zu beseitigen. Dieses habe
zu Ermahnungen zur Herstellung eines freundlichen Verhältnisses an
Italien sowohl wie an Frankreich geführt. Graf Wolkenstein habe eine
solche Instruktion nach Paris mit auf den Weg erhalten.
Ich nehme an, daß die Aufmerksamkeit, die das Bestreben des
Grafen erregte, eine Annäherung zwischen Italien und Frankreich her-
zustellen, und die Mißdeutungen, welche ein solches Vorgehen erregen
kann, ihn genügend aufgeklärt hat und dazu beitrug, jenes Bild klar-
zustellen, welches er sich angesichts der republikanischen Gefahren in
den romanischen Königreichen machte. P. Eulen bürg
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
^ Gut 2 gut s richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Philli] hat gut gearbeitet.
* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.
144
Nr. 1462
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
^'■•'^3 Rom, den 26. März 18Q5
Vertraulich
Der mir hochgeneigtest mitgeteilte Bericht des Kaiserlichen Ge-
schäftsträgers in Paris vom 9. d. Mts. über eine Unterhaltung desselben
mit dem Grafen Wolkenstein* bestätigt, was mir Baron Blanc wieder-
holt über den Wunsch des Wiener Kabinetts gesagt hat, eine An-
näherung von Italien an Frankreich herbeizuführen. Es ist richtig, daß
das Verhältnis Italiens zu Frankreich seit einem Jahr kein besonders
freundliches ist. Wenn auch während dieser Zeit von einer wirklichen
Kriegsgefahr nie die Rede war, so trugen die diplomatischen Beziehungen
zwischen beiden Regierungen doch einen ziemlich frostigen Charakter.
Ich würde die Grenzen der mir gezogenen Berichterstattung über-
schreiten, wenn ich eine einigermaßen erschöpfende Darstellung der
Stellung und Stimmung Italiens gegenüber Frankreich geben wollte.
Ich glaube aber, die Situation vom Standpunkt unserer Interessen kurz
dahin resümieren zu dürfen, daß wir ebensowohl einen Angriff Italiens
gegen Frankreich als ein Bündnis Italiens mit Frankreich zu ver-
hindern haben 1.
In ersterer Beziehung unterliegt es kaum einem Zweifel, daß
manche italienische Politiker während der letzten zwei Jahrzehnte mehr-
mals nicht übel Lust hatten, mit Frankreich anzubinden 2. Obwohl gegen-
wärtig die Stimmung in Italien — an höchster Stelle, in Regierungs-
kreisen und in der Bevölkerung — eine ausgesprochen friedliche ist
und politische, militärische wie finanzielle Gründe eine italienische
Aggressivpolitik unwahrscheinlich erscheinen lassen, bleibt es meines
ehrerbietigen Erachtens nach wie vor geboten, sorgfältig darüber zu
wachen, daß Italien keinen Konflikt mit Frankreich provoziert, der uns
in Mitleidenschaft ziehen würde.
Andrerseits darf jedoch auch nicht übersehen werden, daß die
Sehnsucht nach einer Verständigung mit Frankreich in Italien eine leb-
hafte und verbreitete ist. Den meisten Italienern würde ein Stein vom
Herzen fallen, wenn sie sich ohne Preisgebung vitalster Interessen
noch Verletzung ihrer nationalen Eitelkeit mit Frankreich arrangieren
könnten. Wie sehr dies noch neuerdings bei verschiedenen Anlässen
— Entrevue Calmette**, Ermordung des Präsidenten Carnot*** usw. —
hervortrat, habe ich schon früher hervorzuheben mir gestattet.
* Vgl. Nr. 1460, Fußnote.
** Gaston Calmette, „Figaro"-Korrespondent, dem König Humbert in Venedig eine
Unterredung gewährt hatte.
*** Carnot war am 24. Juni 1894 durch einen italienischen Anarchisten Cesario
Santo in Lyon ermordet worden.
10 Die Große Politik. 7. Bd. 145
Zwischen Italien und Franlcreich stehen, eine Verbindung hindernd,
nanienthch drei Streitfragen: 1. Die römische Frage. Frankreich, auch
als Republik die älteste Tochter der Kirche, kann sich schwer zu dem
Prinzip der „Roma intangibile" bekennen, 2. Die afrikanischen Diffe-
renzen — Tunis, Tripolis, Marokko, Harrar* — , wo sich Aspira-
tionen und Interessen beider Mittelmeermächte durchkreuzen. 3. Die
französische Überhebung gegenüber Italien. Hier liegt vielleicht das
Haupthindernis für eine wirkliche Aussöhnung zwischen beiden Völkern.
Wenn die Franzosen sich entschließen könnten, Italien als gleich-
berechtigte Großmacht anzuerkennen und zu behandeln, so würden
wahrscheinlich viele Italiener ungeachtet der französischen Koketterie
mit dem Papst und trotz Nordafrika der französischen Anziehungskraft
nicht widerstehen können.
Die französische Unterströmung in Italien ist eine sehr starke.
Gerade auf diesem Gebiete begegnen sich in den Massen die roten und
die schwarzen Elemente, im Parlament die äußerste Linke (Cavalotti,
Imbriani, Costa) und die äußerste Rechte (Bonghi, Visconti-Venosta,
Prinetti). Unter den Intimen des Herrn Crispi befinden sich deklarierte
Franzosenfreunde, wie der Mailänder Bankier Weill-Schott. pp.
Von irgendwelchem Haß gegen Frankreich ist auf italienischer
Seite jetzt keine Rede, wohl aber vielfach von kaum zu entwurzelnder
Vorliebe. Italiener und Franzosen haben — wenn ich mich dieses
französischen Ausdrucks bedienen darf — viele Atomes crochus. Sie
haben mannigfache gemeinsame geschichtliche Erinnerungen. Zwischen
Frankreich und Italien laufen viele Fäden hin und her. Wenn Graf
Kälnoky es für unmöglich erklärt, daß Italien sich Frankreich anschließe,
so ist dies, soweit Italien in Betracht kommt, nicht richtig. Ich könnte
mir sehr wohl ein Frankreich wieder zugewandtes Italien vorstellen, pp.
Ob es unter diesen Umständen so sehr bedauerlich ist, daß, wie
Graf Wolkenstein behauptet, der allerdings etwas eckige Graf Tornielli
nicht die Gabe besitzt, die Franzosen zu bezaubern, möchte ich dahin-
gestellt sein lassen. Ich hoffe. Euerer Durchlaucht hohen Intentionen
zu entsprechen, wenn ich einerseits nach wie vor jedem offenen Kon-
flikt Italiens mit Frankreich vorzubeugen suche, es aber andererseits
unbeschadet bester persönlicher Beziehungen zu meinem französischen
Kollegen nicht als meine Aufgabe betrachte, ein völlig ungetrübtes
Verhältnis zwischen Italienern und Franzosen herbeizuführen i.
B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Richtig
2 Crispi speziell ist sleinerj Z[eitl vom Fürsten Blismarck] dazu förmlich verleitet
worden.
Schlußbemerkung des Kaisers:
Einverstanden. Das ist Bülows vornehmste Aufgabe in Rom, und darum muß er
sicher lange dableiben.
* Vgl. über diese Fragen Bd. VIII.
146
Nr. 1463
Der Botschafter in Rom Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
Fürsten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 112 Rom, den 17. Juni 18Q5
Der italienische Minister des Äußern Baron Blanc teilte mir ver-
traulich einen Erlaß mit, welchen er unter dem 7. d. Mts. an den ita-
lienischen Botschafter in Paris gerichtet hat. Der französische Minister
des Äußern, Herr Hanotaux, hatte dem italienischen Botschafter im
April erklärt, daß Frankreich ein Waffeneinfuhrverbot für Djibuti und
Obock nur erlassen könne, wenn England für Zeila* dieselbe Maßregel
ergreife. Obwohl letzteres von englis-cher Seite inzwischen geschehen
ist, scheint die französische Regierung nicht gewillt, den in Rede
stehenden italienischen Wunsch zu erfüllen.
Der im italienischen Original wie in deutscher Übersetzung ehr-
erbietigst beigefügte Erlaß des Baron Blanc an Graf Tornielli läßt
darauf schließen, daß in den hiesigen amtlichen Kreisen die Ver-
stimmung gegenüber Frankreich wieder im Steigen ist. Es hängt dies
auch damit zusammen, daß die Pariser Presse während des jüngsten
italienischen Wahlkampfes in überaus leidenschaftlicher Weise gegen
Herrn Crispi Partei ergriff.
Baron Blanc kam während der letzten Zeit mir gegenüber mehr-
fach darauf zurück, daß die französische Politik gegenüber Italien nur
ein Ziel verfolge und nur von einem Gesichtspunkt inspiriert sei:
Italien vom Dreibund oder vielmehr von Deutschland abzusprengen.
Daß die Franzosen diesen Zweck durch schlechte Behandlung der Ita-
liener, Einschüchterungsversuche, Feindschaft, überhaupt nicht durch
Zuckerbrot, sondern mit der Peitsche zu erreichen suchten, sei ein tak-
tischer Fehler, da der Italiener dem Lafontaineschen Wanderer gliche,
welchem die schmeichelnde Sonne den Mantel ablockte, den der kalte
Wind nicht zu entführen vermochte. Die Haltung der Franzosen sei
einerseits auf ihre tiefe innerliche Erbitterung und Ranküne gegenüber
Italien zurückzuführen — die Franzosen könnten sich im Gegensatz
zu den Italienern schlecht verstellen — , andererseits darauf, daß die
französischen Radikalen und Ultramontanen der französischen Regie-
rung übereinstimmend versicherten, der monarchische italienische Ein-
heitsstaat werde bald zusammenbrechen, verdiene also weder Entgegen-
kommen noch Schonung, pp.
B. von Bülow
* Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, A.
«O» 147
KAPITEL XLVI
Erneuerung des Rumänischen Vertrages
1892
Nr. 1464
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 22 Bukarest, den 27. Februar 18Q1
Geheim
Wie Euer Exzellenz wissen, sind die geheimen Abmachungen,
welche Rumänien mit den Staaten der Tripelallianz verbinden*, hier nur
Seiner Majestät dem Könige Karl, Herrn Joan Bratianu, Herrn Demeter
* Vgl. Bd. III, Kap. XVII. Der zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene Bündnis-
vertrag zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien vom 30. Oktober 1883, dem
Deutschland durch Akzessionserklärung vom gleichen Tage beigetreten war, lief
auf Grund von Artikel V, da er nicht ein Jahr vor seinem Ablauf gekündigt
wurde, auf drei weitere Jahre, also bis Ende Oktober 1891 weiter. Inzwischen
war auch Italien durch Vertrag vom 15. Mai 1888 (siehe denselben bei Pribram,
Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914 I [1920], S. 33 f.)
dem Bündnis beigetreten. Die erste Anregung zu diesem Beitritt scheint der
rumänische Minister Sturdza bei seinem Aufenthalt in Friedrichsruh (21. bi's
22. Januar 1888) vom Fürsten Bismarck empfangen zu haben, der kurz zuvor zu
einem Berichte Reuß' vom 7. Januar 1888 bemerkt hatte: „Italien müßte unserm
österreichisch-rumänischen Vertrage beitreten, es ist immer noch besser, den
Rumänen den vertragsmäßigen Beistand in italienischen Truppen zu leisten als
in deutschen" (vgl. Bd. VI, S. 246). Sturdza hat den Gedanken des italienischen
Beitritts dann in Wien mit dem Grafen Kälnoky erörtert, der aber dem Beitritt
Italiens keine große Bedeutung beizulegen schien, da er die Beteiligung Italiens
an einem russischerseits durch Angriff auf Rumänien provozierten Krieg schon
durch die bestehenden Verträge gesichert glaubte. Deutscherseits darauf hin-
gewiesen (Erlaß an Prinz Reuß vom 31. Januar), daß diese Annahme nicht zu-
treffe, daß nach der Fassung der Verträge Italien zwar im Fall eines russischen
Angriffs auf Österreich zur Hilfeleistung verpflichtet sei, nicht aber auch im
Falle eines Angriffes auf Rumänien, erkannte auch Graf Kälnoky an, daß der Bei-
tritt Italiens zu den Abmachungen mit Rumänien wichtig sei, und übernahm es,
die Verhandlungen mit Italien einzuleiten. Der Wiener Anregung, daß un-
beschadet der österreichischen Einleitung die Verhandlungen ä quatre geführt
werden möchten, widersprach Fürst Bismarck in einem Erlasse an Prinz Reuß
vom 30. März 1888. Statt dessen schlug er vor, daß Italien dem Bündnis einfach
durch Akzessionserklärung, wie vordem Deutschland, beitreten möge. Im ganzen
wollte Bismarck überhaupt kein durchschlagendes Gewicht auf den rumänischen
Vertrag legen. „Ich sehe in demselben eine Steigerung eher unsrer Passiva als
unsrer Aktiva und habe unsere Akzession dazu durchaus nicht aus dynastischem
Interesse, sondern nur aus Konnivenz für die österreichische Politik bei Seiner
Majestät befürwortet. Die Beziehungen unsres Königshauses zu der in Rumänien
herrschenden Linie der HohenzoUern würden einen deutschen Reichskrieg an sich
151
Sturdza, Herrn Carp und Herrn Alexander Beldiman* bekannt. Da
sich von den genannten Politikern zurzeit keiner im Amte befindet,
machte mich der österreichisch-ungarische Gesandte Graf Goluchowski
kürzlich darauf aufmerksam, daß es sich empfehlen dürfte, allmählich
die Frage ins Auge zu fassen, wie die nach seiner Annahme im Herbste
dieses Jahres ablaufenden sekreten Stipulationen am besten zu er-
neuern wären. Graf Goluchowski gab hierbei der Ansicht Ausdruck,
daß zu diesem Zweck entweder Herr Carp ins Ministerium eintreten
oder König Karl die Herren Manu** und Alexander Lahoväry*** ins
Vertrauen ziehen müsse, damit letztere die Vertragserneuerung vor-
nähmen. Mein Österreich-ungarischer Kollege ging hierbei von der
Überzeugung aus, daß König Karl jedenfalls die fragliche Erneuerung
wünsche und beabsichtige; deshalb werde höchstderselbe auch wohl
dafür sorgen, daß in jedem Kabinette wenigstens ein Mitglied sitze,
mit dem von selten der Zentralgruppe unterhandelt werden könnte.
Diese Annahme scheint vorläufig nicht ganz zutreffend zu sein.
Wenigstens Heß Seine Majestät König Karl in einer ganz vertrau-
lichen Unterredung über die derzeitige innere Lage Rumäniens heute
mir gegenüber die Äußerung fallen, daß es wohl kaum möglich sein
werde, die geheimen Abmachungen zu erneuern, bevor hier wieder
die Nationalliberalen ans Ruder kämen, die aber noch nicht regierungs-
reif wären. General Manu und General Florescu würden kaum den
A'lut haben, den Vertrag abzuschließen; Herr Alexander Lahoväry
würde nicht die nötige Autorität besitzen, Herr Laskar Catargi von
der Krone zu große Gegenkonzessionen verlangen, und Herrn Carp
wolle er das Heft nicht anvertrauen. „Übrigens schadet es nichts/'
fügte der hohe Herr hinzu, „wenn der Vertrag so lange außer Kraft
tritt, bis hier wieder stabilere Zustände Platz greifen. Ich glaube
nicht, daß wir dem ewigen Frieden entgegengehen, aber für ein bis
zwei Jahre scheint ja nach dem Besuche des Erzherzogs Franz Ferdi-
nand in St. Petersburg, bei der in den deutsch-französischen Beziehungen
nicht rechtfertigen können. Wir werden deshalb den bestehenden Vertrag mit
derselben Entschiedenheit durchführen, wie es von Österreich geschehen wird,
und daß ein Vertragsabschluß zwischen Italien und Rumänien stattfinde, halte ich
für nützlich, im deutschen wie im österreichischen Interesse; ich sehe aber nicht
ein, weshalb Italien dem österreichischen Vertrage nicht in derselben Weise bei-
treten sollte, wie wir es getan, d. h. also, ohne daß der Verhandlungsapparat
jetzt durch unser Hineinziehen kompliziert wird."
Die wohlberechnete kühle Reserve Bismarcks hatte vollen Erfolg. Italien,
das erst in den mit Rumänien abzuschließenden Vertrag allerlei Kautelen auf-
genommen sehen wollte, erklärte sich nunmehr mit der einfachen Akzession, die
am 15. Mai 1888 erfolgte, einverstanden.
* 1883, bei Abschluß des rumänischen Vertrages, erster Legationssekretär der
rumänischen Gesandtschaft in Berlin.
** G. Manu, rumänischer Konseilpräsident.
*** Alinister des Äußern.
152
eingetretenen detente und angesichts der freundlicheren Beziehungen
zwischen Italien und Frankreich der Frieden gesichert."
Ich habe, indem ich betonte, daß ich ohne Auftrag, lediglich auf
Grund meiner persönlichen Eindrücke spräche, Seine Majestät nach-
drücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Rumänien an den Ver-
trägen ein weit größeres Interesse habe als die Mächte des Drei-
bundes. Ich könne deshalb nur dringend raten, selbst für kurze Zeit
nicht das Seil zu lockern, welches die kleine rumänische Jolle an das
Orlogschiff der Tripelallianz knüpfe. Schon deshalb sollte der König
für zuverlässige Minister sorgen, damit die für ihn, die rumänische
Dynastie und Rumänien so wertvollen geheimen Stipulationen erneut
werden könnten. Der König entgegnete, daß er sich die Sache noch
überlegen wolle.
Ich gestatte mir schließlich noch zu bemerken, daß ich von den
Auslassungen des Königs meinen Österreich-ungarischen Kollegen streng
vertraulich in Kenntnis gesetzt habe, der einigermaßen konsterniert
war. Ich riet dem Grafen Goluchowski, dieselben zwar zu beachten,
aber vorläufig nicht zu sehr au tragique zu nehmen: Es müsse sich
noch herausstellen, ob der König nur in einem Anfall von momen-
taner Schwäche — wie solche bei dem hohen Herrn nicht ganz s-elten
sind — gesprochen habe oder mit tiefer Hegenden Absichten.
B. von Bülow
Nr. 1465
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 27 Bukarest, den 6. März 1891
Vertraulich
Die Nachgiebigkeit des Königs Karl gegenüber den Forderungen
der Bojarenpartei, welche Seine Majestät binnen einer Woche von
der Berufung des Generals Florescu* bis zur Annahme der von dem-
selben vorgelegten rein konservativem Ministerliste und von dieser
Annahme zur Gewährung der Kammerauflösung führte, geht aus ver-
schiedenen und einigermaßen komplizierten Ursachen hervor.
Zunächst handelt der König gegenüber den sich widerspechenden
Prätensionen der verschiedenen Parteien überhaupt mit Vorliebe nach
* Anfang März 1891 hatte das Ministerium Manu einem Ministerium Florescu
Platz gemacht, in dem L. Catargi das Innere, G. Vernescu die Finanzen übernahm.
Da das neue Ministerium gleich bei seiner Vorstellung in der Kammer ein Tadels-
votum erhielt, wurde die Kammer am 5. März aufgelöst.
153
dem Sprüchwort: Dem bösesten Hund den fettesten Bissen. Indem der
König immer in erster Linie diejenigen zu beruhigen sucht, die ihm
am gefährhchsten erscheinen, setzt er allerdings eine Prämie auf Illoya-
lität aus, was zur Folge hat, daß ihm keine Partei mehr traut und
kaum ein Politiker ihm persönlich devouiert ist^.
Im vorliegenden Falle wurde der König in seiner gewöhnlichen
Taktik noch durch die Erwägung bestärkt, daß die Bojaren am ehesten
imstande wären, sein Jubiläum* ernstlich zu stören, und darum vor allem
befriedigt werden müßten.
Es kam dazu, daß die Nationalliberalen aus kurzsichtigem Hasse
gegen die Junimisten und Jungkonservativen seit Monaten erklärten,
die Krone müsse zwischen den „historischen Parteien" der Roten
und Weißen wählen, dürfe aber nicht länger mit der junimistischen
„Gruppe" regieren. Da nun die Aktionskraft der Roten durch den
körperlichen Kräfteverfall ihres Führers Jean Bratianu** zurzeit ge-
lähmt ist, entschied sich Seine Majestät für die Weißen.
Endlich muß ich im allerengsten Vertrauen noch erwähnen, daß
manche neuerliche Ereignisse auf dem Gebiete der großen Politik
den impressionablen und durch seine Diplomatie nicht immer richtig
informierten Monarchen deroutierten, obwohl ich es mir besonders
und fortgesetzt angelegen sein ließ, höchstdenselben von der Uner-
schütterlichkeit des Dreibundes wie des gegenwärtigen status quo in
Europa zu überzeugen. Die Stimmung des Königs ist nach meinen
ganz vertraulichen Eindrücken zur Zeit eine solche, daß er lieber etwas
weiter von der Tripelallianz abrücken, als zu sehr zu Rußland und
Frankreich in Gegensatz geraten möchte. Der allmählich akuter ge-
wordene Nationalitätenhader in Siebenbürgen bestärkt den hohen Herrn
in dieser Neigung, während ihn auch die — speziell von den Weißen
genährte — separatistische Bewegung in der Moldau zu Konzessionen
an die Bojarenpartei trieb.
Wenn ich auch das letztgenannte Moment hervorhebe, so will ich
damit nicht sagen, daß König Karl eine lange Dauer des Bojaren-
kabinetts wünscht. Ich habe vielmehr Grund zu der Annahme, daß
der König dans son for Interieur hofft, das Ministerium werde der
Opposition der übrigen Fraktionen nicht gewachsen sein 2. Die Über-
lassung der Regierung an die Herren Florescu, Catargi und Vernescu
bleibt trotzdem bedauerlich, pp.
B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
' Ja
2 unmoralisch für einen Monarchen im höchsten Grade und sehr bedauerlich
* Für den 22. Mai stand das 25jährige Regierungsjubiläum des Königs bevor.
♦* t 15. Mai 1891.
154
Nr. 1466
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Entzifferung
Nr. 33 Bukarest, den 17. März 1891
Geheim
Mein österreichisch-ungarischer Kollege erzählt mir, er habe im
Laufe der ihm vor seiner Abreise nach Wien gestern vom König Karl
bev^illigten Audienz die Frage fallen lassen, wie Seine Majestät sich
die Erneuerung der im September ablaufenden sekreten Abmachungen
denke.
Der König habe erwidert, daß mit dem gegenwärtigen Kabinett
in seiner derzeitigen Zusammensetzung die Erneuerung der Verträge
schwerlich angängig sein dürfte. Doch trage er sich mit der Hoffnung,
daß es ihm im nächsten Herbst möglich sein werde, entweder zu den
Liberalen zurückzukehren oder das jetzige Ministerium zu reorgani-
sieren Bülow
Nr. 1467
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 80 Wien, den 19. März 1891
Erhaltener Ermächtigung gemäß habe ich den Inhalt des dem
hohen Erlaß Nr. 175 vom 14. d. Mts. beigefügten Berichtes des Kaiser-
lichen Gesandten in Bukarest vom 6. d. Mts.* zur Kenntnis des Grafen
Kälnoky gebracht.
Der Minister stimmt den Äußerungen des Herrn von Bülow zu,
daß das jetzige Ministerium gar keine Garantie für die auswärtige
Politik dieses kleinen Königreiches bietet; auch fürchtet er nach seinen
Wahrnehmungen, daß sich bei dem Könige Karl eine Wandelung voll-
zogen hat und er von der Anlehnung an die Zentralmächte einiger-
maßen abgekommen ist. Daß hierzu die falschen Nachrichten über
die Lockerung des Dreibundes beigetragen haben, scheint dem Grafen
Kälnoky wahrscheinlich. Auf die Hindeutung auf die siebenbürger
Rumänen ist er nicht eingegangen. Ich habe schon vor einigen Tagen
die Ehre gehabt, hierüber zu schreiben, und bin überzeugt, der Minister
kennt diese Achillesferse genau, kann aber den ungarischen Chauvi-
nisten gegenüber noch nicht durchdringen
* Siehe Nr. 1465.
155
Er sagte mir, daß er nur sehr geringe Anforderungen an Rumänien
stelle, und wie ich wisse, er schon längst an das Spiegelbild großer
militärischer Kooperation seitens der rumänischen Armee nicht mehr
glaube. Aber das müsse erreicht werden, daß sich Rumänien wenigstens
nicht an Rußland anschließe.
Er wolle den Grafen Goluchowski hören, welcher demnächst hier
eintreffen werde, und dann weiter über die Sache sprechen.
Es scheint dem Minister nicht unwahrscheinlich, daß russischerseits
dem Könige das verführerische Projekt eines von Österreich nicht ab-
hängigen Balkanbundes vorgespiegelt werden dürfte, — unter rumä-
nischer Führung, aber selbstredend unter russischem Protektorat.
Der Wechsel in der russischen Vertretung in Bukarest* ist dem
hiesigen Kabinett nicht unangenehm. Herr von Ponton, welcher lange
Jahre in Wien als Botschaftsrat angestellt war, ist hier behebt und
als ruhiger, friedliebender und anständig denkender Mann bekannt.
H.VII.P.Reuß
Nr. 1468
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 85 . ■" Wien, den 25. März 1891
Geheim
Wie ich Euerer Exzellenz zu melden mich beehrte, hatte Graf
Kälnoky den k. u. k. Gesandten von Bukarest hierher berufen, um die
Frage der Erneuerung der Verträge mit ihm zu besprechen und seinen
Vortrag zu hören.
Der Minister sagte mir hierüber heute folgendes. In Übereinstim-
mung mit Herrn von Bülow hätte Graf Goluchowski die Ansicht aus-
gesprochen, daß König Karl wenig Geneigtheit zeige, die Verträge
in der alten Form zu erneuern. Die Gründe für diese Stimmung
sind Euerer Exzellenz aus den Berichten des Kaiserlichen Gesandten
bekannt. Den Vor wand zu dieser Abneigung bietet aber der Um-
stand, daß keiner von den jetzigen Ministern etwas von der Existenz
der geheimen Verträge weiß und der König Bedenken trägt, einen
Florescu, Catargi oder Vernescu in das Geheimnis einzuweihen, deren
Mitwirkung nicht zu erwarten ist, und von denen einige kaum das
Geheimnis Rußland gegenüber bewahren dürften.
Graf Kälnoky ist nun der Ansicht, daß hierin der König allerdings
nicht ganz unrecht hat; Seine Majestät hätten aber noch bei Lebzeiten
des Ministeriums Manu-Lahovary die Sache machen können, um so
* Der russische Gesandte Hitrowo war durch von Fonton abgelöst worden.
156
eher, als der damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten selbst
sich mit der Idee, einen ähnlichen Vertrag mit Österreich-Ungarn zu
schließen, getragen hätte. Gemahnt wäre der König von hier aus öfters
worden, dieses Geschäft nicht aufzuschieben.
Er, der Minister, hat sich nun gefragt, ob man den Vertrag, der,
wenn er nicht gekündigt wird, wieder auf drei Jahre weiter läuft, im
Herbst d. Js. nicht, ähnlich wie dies vor drei Jahren geschehen, als
verlängert erklären könne. Dieser Gedanke, so einfach er klänge, sei
nun aber nicht ausführbar, weil dazu immer ein Minister zugezogen
werden müsse, um das Faktum amtlich zu registrieren.
Eine andere Idee, die ihm gekommen, sei folgende:
Der König habe während des Ministeriums Manu-Lahoväry die
auswärtige Politik persönlich geleitet, ohne diese Herren von der
Existenz der Verträge in Kenntnis zu setzen. Die rumänische Politik
sei auch, wenn auch die Minister in Unkenntnis blieben, nach den
Ideen der Verträge weitergeführt worden. Es würde daher auch Seine
Majestät von dieser Bahn nicht abweichen, wenn er etwa, durch
einen direkten Brief des Kaisers Franz Joseph dazu aufgefordert, eben-
falls durch einen eigenhändigen Brief sich verpflichtete, auch ferner
drei Jahre an den Verträgen festzuhalten. Während dieser Zeit wäre
vielleicht ein anderes Ministerium ans Ruder gekommen, etwa mit
Herrn Carp, der doch früher oder später wieder in das Kabinett ein-
treten werde, und dann hätte man die Verträge ordnungsmäßig mit
diesem Minister erneuern können.
Er, Graf Kälnoky, habe aber diesen Gedanken fallenlassen müssen,
weil ihm Graf Goluchowski erklärt habe, nach seiner Kenntnis des
Charakters des Königs Karl würde letzterer sich zu einem solchen
Schritt niemals bewegen lassen.
Man müsse daher sehen, wie sich die Verhältnisse entwickeln
würden. Die bevorstehenden Wahlen würden vielleicht die jetzigen
Minister wieder fortspülen, und man müsse sehen, welche Staats-
männer dann ans Ruder kommen würden.
Es bleibt nach Ansicht des Herrn Ministers daher nichts übrig,
als vorläufig abzuwarten, den König jetzt nicht allzusehr zu drängen,
aber dann die Bemühungen nicht aufzugeben, ihn von der Notwendig-
keit zu überzeugen, daß Rumänien, wenn es seine Selbständigkeit retten
wolle, bei der Anlehnung an den Dreibund beharren müsse.
Mit diesem Bescheid ist Graf Goluchowski heute wieder auf seinen
Posten zurückgekehrt.
Graf Kälnoky lobt sehr die vortrefflichen Beziehungen, die zwischen
dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Gesandten be-
stehen, und hofft, daß es diesen beiden ebenso intelligenten wie ge-
schickten Diplomaten gelingen möge, diese Aufgabe zu lösen.
H.VII.P.Reuß
157
Nr. 1469
Der Reichskanzler von Caprivi an den Botschafter in Wien
Prinzen Heinrich VII. Reuß
Konzept
Nr. 210 Berlin, den 26. März 1891
Die rumänische Frage, welche der Bericht Nr. 80* behandelt, ist
für unsern allergnädigsten Herrn und seine Regierung ein Gegenstand
der Besorgnis. Seit dem Jahre 1880, wo Fürst Bismarck in Wien zu
größerer Rüclcsichtnahme auf Rumänien riet, hat sich die Lage zu
Ungunsten Österreich-Ungarns und damit auch zum Nachteil seiner
Freunde verschoben. Damals wies Fürst Bismarck den Baron Haymerle
darauf hin, daß die russische mehr als die österreichische Politik der
rumänischen Eigenart und Empfindlichkeit Rechnung trage, und daß
dadurch bei dem Wettbewerb um Rumäniens Freundschaft, wo Öster-
reich die Sicherung des vorhandenen Besitzstandes, Rußland aber neuen
Erwerb in Siebenbürgen versprechen könne, die Aussichten Österreichs
als gefährdet erschienen.
Bereits einige Monate zuvor hatte Fürst Bismarck getan, was an
ihm lag, um eine Annäherung Rumäniens an Österreich herbeizuführen,
indem er dem Minister Bratianu die auf eventuelle Unterstützung Ru-
mäniens bezüglichen Zusicherungen erteilte, welche durch den Erlaß
vom 29. März 1880 zu Ew. Kenntnis gebracht worden sind. Daß der
Fürst diese Zusicherungen allein nicht für genügend zur Anbahnung
gesicherter Beziehungen zwischen Wien und Bukarest erachtete, erhellt
aus seiner späteren zweimaligen Warnung.
Heute liegen die Verhältnisse infolge der aggressiven Politik,
welche in Pest gegen die siebenbürgischen Rumänen verfolgt worden
ist, und welche ihren letzten Ausdruck in dem Zwangskinderbewahr-
gesetz gefunden hat, wesentlich ungünstiger als im Jahre 1880.
Wenn Graf Kälnoky Ew. gegenüber die angebliche Erschütterung
des Dreibundes als Ursache der Abneigung des Königs gegen die Er-
neuerung des Vertrages mit Österreich bezeichnet hat, so war diese
Äußerung vielleicht die konventionelle Form, mittelst welcher eine Er-
örterung der wirklichen Ursache rumänischer Entfremdung vermie-
den werden sollte. Vor sich selber dürfte der Graf als unbefangener
Beobachter keinen Zweifel darüber haben, daß nur die .Agitation,
welche infolge der siebenbürgischen Vorgänge nach Rumänien hinein-
getragen worden ist**, in neuester Zeit eine Erschütterung der Stel-
lung des Königs herbeigeführt und diesen in die Zwangslage versetzt
hat, sich durch Ernennung eines antiösterreichischen Kabinetts von
* Siehe Nr. 1467.
** Vgl. darüber die beiden am Schlüsse des Kapitels abgedruckten Denkschriften
Demeter Sturdzas.
158
dem Vorwurfe zu befreien, mitschuldig bei der Unterdrückung der
Siebenbürger Rumänen zu sein.
Die Erneuerung des Vertrages wird, wie die Dinge heute liegen,
nicht von dem Willen des Königs, sondern von seiner Macht oder
Ohnmacht bedingt. Letzterer kann nur von Wien und Pest aus ab-
geholfen werden, durch eine maßvollere Verwaltungspolitik in Sieben-
bürgen. Diese Frage erlangt dadurch, daß von der Art ihrer Lösung
die Flankendeckung unserer österreichisch-ungarischen Verbündeten im
Kriegsfalle abhängt, für uns eine große Bedeutung. Die Neutralität,
welche Graf Kälnoky von Rumänien erwartet, ist etwas keineswegs
Selbstverständliches, denn, wenn die jetzige Stimmung der Gemüter
fortdauert, ist anzunehmen, daß ein Aufstand in Siebenbürgen, möge
derselbe auch nur von geringer Ausdehnung sein, das Königreich mit
fortreißt. Bei der Nichterneuerung des Vertrages kommt neben der
Tatsache, d. h. dem Aufhören des bisherigen Bündnisses, auch die
Ursache, d.h. die feindselige Erregung der Rumänen gegen Ungarn,
in Betracht. Angenommen, daß König Karl durch eine ihm sonst
nicht innewohnende energische Regung seinem Lande die Verlänge-
rung des Vertrages als Tatsache oktroyierte, so wäre damit wenig
gewonnen, solange die Ursache der Mißstimmung fortdauert, die Ge-
fahr, daß die Rumänen den König auf revolutionärem Wege des-
avouieren, würde bestehen bleiben.
Die fernere Entwickelung der österreichisch-ungarisch-rumänischen
Beziehungen liegt demnach lediglich in der Hand von Österreich-
Ungarn oder vielmehr in der Hand von Ungarn als Bestand-
teil der Gesamtmonarchie. Ein Hinweis auf die fast unwider-
stehliche Anziehungskraft, welche ein österreichisch-deutscher Handels-
vertrag auf Rumänien aus wirtschaftlichen Gründen ausüben muß*,
dürfte im jetzigen Stadium der Handelsvertragsverhandlungen verfrüht
und vielleicht geeignet sein, Mißtrauen gegen die Objektivität unsrer
Anschauung zu erwecken. Es erübrigt daher nur, daß Ew. bei der
Besprechung der rumänischen Frage sich auf die rein politischen und
militärischen Momente beschränken und dem Grafen Kälnoky sagen,
wir würdigten vollkommen die Verlegenheit, in welcher die österrei-
chisch-ungarische Regierung angesichts der Entscheidung zwischen
inneren Schwierigkeiten und auswärtigen Gefahren sich befinde. Uns
scheine indessen die Besorgnis, daß das Magyarentum infolge der Nicht-
berücksichtigung eines Lieblingswunsches sich von der Gesamtmon-
archie lostrennen und als einsame Insel im slawischen Ozean herum-
schwimmen sollte, weniger naheliegend als die, daß Rumänien in die
Rolle einer russischen Vorhut und Etappenstraße hineingeärgert werde.
* Dem deutsch-österreichischen Handelsvertrage vom 6. Dezember 1891 folgten
in der Tat bald Verhandlungen mit Rumänien, die aber erst am 21. Oktober 1893
zu dem Abschluß eines Handeisvertrages führten.
159
Nach meiner Ansicht würde die Feindseligkeit Rumäniens ein nicht
unerhebliches Hemmnis für die militärische Machtentfaltung der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie bilden und folglich auch für uns eine
Erhöhung der Gefahren des Krieges bedeuten.
Eine Abwendung Rumäniens vom Dreibunde öffnet Rußland den
Landweg nach Bulgarien und kann uns, mit sehr geringem Kraftaufwand
von selten Rußlands auf der Balkanhalbinsel zahlreiche Gegner schaffen,
denen gegenüber Österreich-Ungarn bei Ausbruch eines Krieges zur
Abzweigung einer Armee an seiner Südostgrenze genötigt sein würde.
Die ganze militär-politische Lage im Südosten verschiebt sich, sobald
Rumänien sich für Rußland entscheidet, auf das nachteiligste für un-
seren Verbündeten.
Mag Rumänien selbst bei einem schriftlichen Vertrage ein un-
sicherer Zuwachs an aktiver Kraft für uns sein, so überhebt es uns
doch, auch wenn es schließlich über eine uns wohlwollende Neutralität
nicht hinauskommt, wenigstens bis nach den ersten, an anderen Stellen
fallenden großen Entscheidungen, der Notwendigkeit, unsere eigenen
Kräfte durch Verlängerung unserer Front zu schwächen, während es
Rußland zur Aufstellung eines Beobachtungskorps am Pruth nötigt.
Die Leistungen der rumänischen Truppen lagen im letzten russisch-
türkischen Kriege nicht unter dem Niveau ihrer Verbündeten. Seitdem
ist jene Armee weder schwächer noch schlechter geworden. Mag man
ihren Wert aber noch so gering anschlagen, sie repräsentiert für den
ersten Teil eines Feldzuges einen so erheblichen Faktor, daß es wohl
eines Opfers wert scheint, wenn auch nicht auf ihren Beistand, so doch
wenigstens mit Sicherheit auf ihre Neutralität rechnen zu können. Eine
Neutralität Rumäniens kann aber nur dann in den strategischen Kalkülen
Österreich-Ungarns verwertet werden, wenn ihre Durchführung nicht
durch die steigende Verstimmung der Nation von Haus aus in Frage
gestellt ist.
V. Caprivi
Nr. 1470
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 89 Wien, den 30. März 1891
Geheim
Im Verfolg Euerer Exzellenz hohen Erlasses Nr.210 vom 26. d. Mts.*,
die rumänischen Angelegenheiten betreffend, habe ich heut Anlaß
• Siehe Nr. 1469.
160
genommen, mit dem Grafen Kälnoky die Frage zu besprechen, unter
Hervorhebung, daß dieselbe für unseren allergnädigsten Herrn sowie
für die kaiserliche Regierung ein Gegenstand der Besorgnis sei.
Ich habe mir erlaubt, auch ohne dazu besonders autorisiert zu
sein, dem Minister diesen geheimen Erlaß als Beweis meines ganz
besonderen Vertrauens vorzulesen.
Wie ich dies wohl vorhergesehen hatte, waren dem Grafen Kälnoky
Euerer Exzellenz mahnende Worte nicht gerade angenehm. Er weiß
genau, wo ihn der Schuh drückt, und deshalb ist er auch bisher,
wenn wir diese Angelegenheiten besprachen, immer um die eigent-
lichen Gründe der rumänischen Verstimmungen herumgegangen.
Heute nun blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf einzugehen,
und sprach er sich ungefähr wie folgt aus.
Die militärischen Betrachtungen, welche Euere Exzellenz an die
zweifelhafte Stellung des Königs Karl knüpfen, teile er vollkommen,
und dächten die hiesigen Militärs nicht anders als Euere Exzellenz.
Es herrsche deshalb zwischen Hochdenselben und ihm volle Über-
einstimmung darüber, wie wichtig es sei, die Rumänen nicht in die
Arme Rußlands geraten zu lassen.
Daß er diese Frage schon längst mit Aufmerksamkeit und Be-
sorgnis verfolge, daran würden Euere Exzellenz wohl kaum zweifeln ;
denn wenn unser Interesse dabei mit Recht geweckt sei, so läge der
hiesigen Regierung diese Frage doch noch viel näher.
Der Minister verurteilte ohne Zögern manche Maßregel, welche
die ungarische Regierung ergriffen hätte, namentlich aber bezeichnete
er das Kindergärtengesetz als eine große Ungeschicklichkeit. Deshalb
habe er auch wiederholt, und noch bei seinem jüngsten Aufenthalt in
Budapest die ungarischen Minister ermahnt, vorsichtiger zu sein und
nicht durch solche unbedeutende Quälereien Anlaß zu Weiterungen
zu geben. Im übrigen müsse er aber davor warnen, alle von Rumänien
und auch von Siebenbürgen kommenden Nachrichten über Bedrückung
der Rumänen für bare Münze zu nehmen. Er wolle den magyarischen
Chauvinismus nicht in Schutz nehmen. Aber man könne der ungarischen
Regierung es doch nicht verdenken, wenn sie der ungarischen Sprache
Eingang zu verschaffen suche und namentlich verlange, daß die an-
gestellten Beamten die Staatssprache verstünden.
Die Siebenbürger Rumänen, welche kein Ungarisch lernen wollten,
verließen das Land, gingen nach Rumänien und erfüllten dort die
Luft mit ihren Klagen. Es wäre nicht verwunderlich, daß dieser
Zug nach dem Königreiche bestände, weil die außerhalb desselben
wohnenden Stammesgenossen dort als Märtyrer gefeiert, außerdem
aber dadurch angelockt würden, daß, wie so viele Beispiele zeigten,
gar manche dunkle Existenz es in Bukarest bis zu den höchsten
11 Die Große Politik. 7. Bd. 161
Würden bringen könnte. Es ginge mit der rumänischen Irredenta*
ganz ähnlich wie mit der italienischen; auch dort verließen einzelne
Unzufriedene, die in Österreich kein Fortkommen fänden, das Land,
um dann über Unterdrückung zu schreien.
Ich habe allen diesen Erläuterungen gegenüber darauf aufmerksam
gemacht, daß, wenn die ungarische Regierung nur die alten ungari-
schen Nationalitätsgesetze befolgen wolle, die Rumänen sich nicht zu
beklagen haben würden. Denn wenn auch die Klagen, die von dort
kämen, oft übertrieben sein dürften, so möchte ich nur hervorheben,
wie das Wirken des „Kulturvereins", die Handhabung der Schul-
verordnungen und anderer Maßregeln nicht gerade geeignet seien,
die alte zwischen Rumänen und Magyaren bestehende Feindschaft
zu beseitigen,
Graf Kälnoky fühlt sehr wohl, daß die ungarische Regierung nicht
ohne Schuld an der rumänischen Aufregung ist; aber da er nur eine
sehr bedingte Einwirkung auf die inneren Verhältnisse in der jen-
seitigen Reichshälfte hat, so ist es ihm nicht angenehm, wenn ihm
Vorstellungen gemacht werden über Dinge, die er wohl abändern
möchte, wozu ihm aber die Macht fehlt. Immerhin ist es sehr nütz-
lich, wenn er von selten des deutschen Verbündeten auf diese Übel-
stände aufmerksam gemacht wird. Er findet dann nicht bloß bei
den ungarischen Ministern, sondern auch bei seinem Kaiser einen
ihm ganz gut passenden Vorwand, auf Abhülfe zu dringen.
Daß letztere nicht so leicht und einfach ist, liegt auf der Hand,
weil eben der magyarische Chauvinismus dabei ins Spiel kommt.
Auch heute wollte der Minister übrigens die Abneigung des Königs
Karl, den Vertrag zu erneuern, nicht allein der rumänischen Irredenta
zuschieben, sondern mehr der Energielosigkeit Seiner Majestät, die
sich seit einiger Zeit wieder sehr bemerklich mache. Dazu kämen
Einflüsse auf dieses schwächliche Gemüt, die ihn unschlüssig machten.
Hierzu rechnet der Minister die Gesinnung der Königin, die leider
immer eigentümlicher und in Politik immer konfuser würde. Der Hyp-
notismus, dem sie sich seit einiger Zeit zuneigte, trüge auch noch
dazu bei, ihr klares Urteil zu verwirren. Dabei sei bekannt, daß
die sonst so hochbegabte Frau durchaus keine freundlichen Gesin-
nungen für ihr deutsches Vaterland hätte.
Als Ergänzung dessen, was mir der Minister vor einigen Tagen
gesagt, teilte er mir mit, daß Seine Majestät der Kaiser Franz Joseph
geneigt sei, einen Brief an den König Karl zu schreiben, in welchem
er die feste Überzeugung aussprechen wolle, wie er bestimmt von
den alten freundschaftlichen Gesinnungen des Königs erwartete, daß
der König auch das alte Vertragsverhältnis erneuern werde.
Graf Goluchowski ist indessen vorläufig beauftragt, über die Stim-
* Vgl. dazu die Ausführungen Demeter Sturdzas in Nr. 1488, Anlage II.
162
mung des Königs zu berichten und anzugeben, wann er den Moment
zu diesem Schritt für geeignet halten würde.
Der König habe dem Kaiser Franz Joseph immer so viel auf-
richtige Verehrung und wahre Anhänghchkeit gezeigt, daß von einer
solchen Ansprache wohl ein Erfolg zu erwarten sein würde.
H.VII. P.Reuß
Nr. 1471
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 90 Sinaia, den 4. August 1891
Ganz vertraulich
Euerer Exzellenz hoher Ermächtigung entsprechend, verschob ich
auf Wunsch des Grafen Kälnoky meine Abreise von Wien hierher
bis zur Rückkehr des Ministers aus Ischl. Die beachtenswerteren Äuße-
rungen, welche Graf Kälnoky im Laufe der beiden Unterredungen
fallen ließ, die ich am 1. d. Mts. mit ihm hatte, gestatte ich mir nach-
stehend zu resümieren, obwohl dieselben im wesentlichen nur die Be-
richterstattung der Kaiserlichen Botschaft in Wien bestätigen dürften, pp.
Graf Kälnoky schien verstimmt darüber, daß der jüngste Versuch
des Grafen Goluchowski, den König Karl zu einer präzisen Erklärung
hinsichtlich der Fortdauer des geheimen Vertragsverhältnisses zu be-
wegen, völhg mißglückt sei. Der Minister verhehlte hierbei anfänglich
nicht, wie er hoffe, daß ich demnächst diesen Versuch mit besserem
Erfolge wiederholen möge^. Ich sagte dem Grafen Kälnoky, daß wir
hinsichtlich der Ziele seiner Politik in Rumänien durchaus mit ihm
übereinstimmten, wie ich überhaupt die generelle Instruktion habe,
die in politischer wie in wirtschaftlicher Beziehung mit den unserigen
identischen österreichisch-ungarischen Interessen an der unteren Donau
in jeder Weise zu fördern. Was jedoch die Mittel zum Zwecke betreffe,
so glaube ich auf Grund meiner Beobachtung des Charakters Seiner
Majestät des Königs Karl, daß ein Brüskieren höchstdesselben grade
in diesem Augenblicke mehr schaden als nützen würde. Nach einigem
Hin- und Herreden stimmte der Minister mir darin zu, daß wir vor-
derhand versuchen müßten, den durch innere Schwierigkeiten und
häusliche Sorgen deprimierten König in Güte und allmählich aufzurich-
ten und umzustimmen 2.
Der Minister gab hierbei dem Wunsche Ausdruck, daß der ge-
heime Vertrag seinerzeit nicht erneuert, sondern verlängert werden
möge: Dies dürfte freilich besonders schwer halten, denn König Karl
werde den Konservativen nicht eingestehen wollen, daß er sie jahre-
n» 163
lang durch die Beteuerung getäuscht habe, es existierten überhaupt
keine sekreten Stipulationen zwischen Rumänien und den Mächten
des Dreibunds. In betreff der von mir als erstrebenswert bezeichneten
Reorganisierung des gegenwärtigen rumänischen Ministeriums äußerte
Graf Kälnoky, daß ihm jetzt ein rein konservatives Kabinett Catargi
alles in allem die liebste Kombination sein würde; Herr Carp sei
beim Könige zu schlecht angeschrieben, auch unverträglich und heiß-
spornig; Herr Demeter Sturdza flöße in Wien wegen seiner Haltung
in kommerziellen Fragen wie gegenüber der irredentistischen Bewegung
nur bedingtes Vertrauen ein. Mit Anerkennung sprach der Minister
von den verschiedenen Mitgliedern der FamiHe Lahoväry — dem
früheren Minister des Äußern Alexander Lahoväry, dem früheren
Generalsekretär im Ministerium des Äußern Alexander Emanuel Laho-
väry und dem jetzigen Kriegsminister Jacques Lahoväry — , die zwar
französisch, aber weder panslawistisch noch eigentlich antiösterreichisch
wären.
Graf Kälnoky würde großes Gewicht darauf legen, daß König
Karl in diesem Sommer mit Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph
zusammenträfe, hält eine solche Begegnung jedoch nicht für wahr-
scheinlich. Der König habe erklärt, daß er nicht gut zweimal hinter-
einander nach Ischl kommen könne; die Andeutung, daß Kaiser Franz
Joseph dem Könige eventuell irgendwohin entgegenfahren könne, sei
nicht releviert worden; der König wolle sich offenbar an dem Kaiser
„vorbeidrücken".
Ich benützte diesen Anlaß, um nochmals auf die nachteiligen Folgen
hinzuweisen, welche ein unfreundliches Verhalten der Magyaren gegen
die siebenbürgischen Rumänen für die Haltung des Königs Karl wie
für die Orientierung der auswärtigen Politik des rumänischen König-
reichs nach sich ziehe. Graf Kälnoky nahm meine diesbezüglichen
Darlegungen, welche ich mit Auslassungen des Königs Karl, der nam-
haftesten rumänischen Politiker und der rumänischen Presse belegen
konnte, diesmal williger entgegen als bei früheren Gelegenheiten. Es
sei richtig, meinte der Minister ganz vertraulich, daß sich die Ungarn
gegenüber ihren rumänischen Mitbürgern oft mehr von kurzsichtiger
Leidenschaft als von den Erwägungen kühler Vernunft leiten ließen.
Glücklicherweise verfielen die Magyaren, die darin etwas Asiaten wären,
ebenso schnell in lethargisches Nichtstun, als sie rasch aufbrausten.
Es sei ihm gelungen, die Ausführung des unglücklichen Kindergarten-
gesetzes aufzuhalten ; auch auf das bekannte Memorandum der rumäni-
schen Studenten habe die Pester Universitätsjugend auf höheren Wink
eine maßvolle Antwort erteilt; es stehe zu hoffen, daß sich das Ver-
hältnis zwischen den verschiedenen Rassen in Siebenbürgen nach und nach
bessern werde. Der Minister erwähnte hierbei, daß Herr Baroß* neuer-
* Ungarischer Handelsminister.
164
dings mit Eifer für das Zustandekommen eines Handelsvertrags
zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien eintrete, pp.*
B. von Bülow^
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Lieber nicht
2 ja
Nr. 1472
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bü!ow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 92 Sinaia, den 7. August 1891
Geheim
König Karl erzählte mir motu proprio im engsten Vertrauen und
mit der Bitte, seine diesbezüglichen Konfidenzen nicht telles-quelles
nach Wien gelangen zu lassen, daß Graf Goluchowski vor seinem
kürzlichen Urlaubsantritt eine „nicht sehr glückliche" Demarche bei
ihm gemacht habe. Der österreichisch-ungarische Gesandte habe ihm
in ziemlich apodiktischem Tone eröffnet, daß im Herbste die Frage an
ihn herantreten werde, ob er sich durch die Prolongierung der ge-
heimen Abmachungen für oder durch die Nichtprolongierung gegen
Österreich-Ungarn und den Dreibund erklären wolle. „Es ist von
Seiten der Österreicher nicht klug," fügte Seine Majestät hinzu, „mich
schon jetzt und mit dieser Schärfe vor ein solches aut-aut zu stellen.
Die Fortdauer des geheimen Vertragsverhältnisses liegt auch mir am
Herzen, aber das Wann und Wie der Erneuerung hängt zum Teil
von hiesigen inneren Personenverhältnissen und Vorgängen ab, die
ich wohl allmählich gestalten und umformen, aber nicht von heute
auf morgen und ausschließlich nach meinem Willen bestimmen kann.
Die Österreicher sollten mir eine gewisse Latitüde gewähren;
wenn sie mich brüskieren und vor der Zeit mir keine andere Wahl
lassen, als sofort den Vertrag zu erneuern oder von ihnen als Feind
betrachtet zu werden, spielen sie ein gefährliches Spiel und treiben
mich in das Lager ihrer Gegner i. So schroff darf die Alternative nicht
gestellt werden, wenigstens jetzt noch nicht."
Ich erwiderte, daß man von unserer Seite — und nach meinen
Wiener Eindrücken auch von selten des Grafen Kälnoky — nicht die
Absicht habe, Seine Majestät zu drängen. Gewiß wäre meine aJler-
höchste Regierung der Ansicht, daß die Aufrechterhaltung des Ver-
tragsverhältnisses eine Lebensfrage sei wie für die Selbständigkeit
Rumäniens, so für die souveräne Unabhängigkeit des Königs und die
Fortdauer seiner Dynastie. Aber grade weil wir annähmen, daß der
• Die Fortsetzung des Berichts siehe Kap. XLVII, Nr. 1505.
165
König dies wisse und einsehe, wie die Fortdauer der Verträge weit
mehr in seinem Interesse liege als in demjenigen der großen Mächte
der Tripelallianz, überließen wir den Zeitpunkt und die Modalitäten
der Erneuerung seiner Loyalität und seinem Takte,
König Karl schien durch dieses vertrauensvolle Entgegenkommen
angenehm berührt. Der hohe Herr kam im Laufe desselben Tages
noch mehrfach aus eigener Initiative auf die Vertragsfrage zurück,
indem er betonte, wie er hohen Wert auf die Erneuerung der geheimen
Stipulationen lege. Seine Majestät geht hierbei von der Voraussetzung
aus, daß die Erneuerung der Verträge durch die Konservativen ihm
und uns die besten Garantien für die eventuelle Erfüllung derselben
bieten würde. Denn in diesem Falle würden sich die drei großen Par-
teien des Landes für das Zusammengehen Rumäniens mit der Zentral-
gruppe erklärt haben: Die Liberalen, indem sie vor acht Jahren den
Vertrag abschlössen; die Junimisten, als sie denselben 1888 indossier-
ten; die Konservativen, wenn sie denselben jetzt verlängerten oder er-
neuerten. Der König glaubt, daß sowohl Herr Lascar Catargi als
Herr Esarcu* sich für die Vertragsidee gewinnen lassen würden;
er fürchtet jedoch, daß der erstere wegen seines Gesundheitszustandes
nicht mehr allzu lange im Amte bleiben werde, während der letzt-
genannte wenig Prestige besitze. Seine Majestät denkt deshalb für
die Renovation der Verträge in erster Linie an den Kriegsminister
General Jacques Lahoväry und den früheren und voraussichtlich künf-
tigen Minister des Äußern, Herrn Alexander Lahoväry.
Ich werde es mir auch ferner angelegen sein lassen, gesprächsweise
und bis auf weiteres ohne Bezugnahme auf höheren Auftrag Seiner
Majestät dem Könige Karl die sich für ihn aus seiner ganzen Situation
ergebende Notwendigkeit klarzumachen, daß er die Vertragserneue-
rung fortgesetzt im Auge behalte und seine innere Politik auf dieselbe
zuschneide. Den österreichisch -ungarischen Geschäftsträger Graf
Szecsen habe ich in allgemeinen Zügen und ohne Wiedergabe solcher
Äußerungen des Königs, die in Wien verstimmen könnten, von dem
gegenwärtigen Standpunkt Seiner Majestät gegenüber der Vertrags-
angelegenheit in Kenntnis gesetzt und ihm gesagt, daß übertriebenes
Insistieren nach meinen Beobachtungen in diesem Augenblicke mehr
schaden als nützen dürfte. Den Gedanken, daß an die Stelle der so-
fortigen Vertragserneuerung für einige Zeit und als Surrogat eine
schriftHche Erklärung des Königs treten könnte, in welcher er den
drei verbündeten Monarchen die tatsächliche Fortführung der bisherigen
auswärtigen rumänischen Politik auf der Basis der ablaufenden ge-
heimen Stipulationen und die baldmöglichste formale Erneuerung dieser
Stipulationen verspräche, habe ich noch nicht vorgebracht. Meines ge-
• Minister des Äußern im Kabinett Florescu.
166
I
horsamsten Erachtens empfiehlt es sich, diese Karte erst später als
Pis-aller auszuspielen, sofern sich die Vertragsrenovierung nicht sogleich
erreichen läßt. B. von Bülow
Randbemerkung Kaiser Wilhelms IL:
^ Dann wäre er erledigt
Schlußbemerkung des Kaisers:
Richtig
Nr. 1473
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler von Caprivi
Abschrift
Nr. 96 Sinaia, den 11. August 1891
pp. Ich habe es mir angelegen sein lassen, unter Widerlegung
der übertriebenen und schiefen Seiten der Auffassung der rumänischen
Politiker über angebliche russisch-französische Abmachungen in Kron-
stadt und deren Folgen meine rumänischen Bekannten davon zu über-
zeugen, daß, grade wenn ihre Annahmen zuträfen, hierin für Rumänien
nur ein Grund mehr liegen würde, Anlehnung bei der Zentralgruppe
zu suchen. Denn wenn es wirklich zu einem franko-russischen Bündnis
gekommen sei, könne Frankreich die Mitwirkung Rußlands für die
Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens doch allein durch Konzessionen
im Orient erkauft haben i; solche Zugeständnisse würden nach Lage
der Dinge in erster Linie die Selbständigkeit Rumäniens bedrohen,
das lediglich bei der Tripelallianz Schutz gegen diese Gefahr zu finden
vermöge. Der Minister des Äußern, Herr Esarcu, ebenso wie der
frühere — und, wie zu erwarten steht, zukünftige — Minister der
auswärtigen Angelegenheiten, Herr Alexander Lahoväry, zeigten sich
nicht unempfänglich für diese Andeutungen. Beide meinten, sie müßten
allerdings trotz aller Sympathien für die Franzosen zugeben, daß diese,
hypnotises par le trou des Vosges, wohl bereit sein würden, für das
linke Rheinufer nicht nur die ganze Balkanhalbinsel, sondern insbeson-
dere auch Rumänien preiszugeben. In dieser bedrohlichen Konstellation
liege für die rumänische Regierung die Aufforderung, an der von den
Liberalen inaugurierten und von den Junimisten fortgeführten nationalen
und dynastischen auswärtigen Politik auch fernerhin festzuhalten. Seit-
dem brachte die Wiener „Politische Korrespondenz" eine inspirierte
Bukarester Korrespondenz, welche mit den Worten schloß: „Le gou-
vernement liberal-conservateur evite jusqu'au soupcon d'immixtion dans
les affaires interieures de I'Autriche-Hongrie, un pays voisin et ami,
€t, d'un autre cote, la Roumanie a une politique nationale dont I'unite
€t la continuite sont garanties par la dynastie et dont aucun parti ou
groupe politique ne se departira." Andrerseits hat der Führer der
167
Nationalliberalen, Herr Demeter Sturdza, dem französischen Flotten-
besuche in Rußland in der „Liberte Roumaine" eine Reihe von Leit-
artikeln gewidmet, in denen die Unerläßlichkeit eines festen und ziel-
bewußten Zusammenhaltens Rumäniens mit der Zentralgruppe dar-
gelegt wird, da hierdurch allein die Unabhängigkeit des Landes gegen
die ihr von Norden drohende Gefahr sichergestellt werden könne, pp.
(gez.) B. V. Bülow
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.;
^ Richtig und Schleswig Holstein
Nr. 1474
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Kiderlen
Eigenhändig
Berlin, den 25. Oktober 1891
Am 11. November dieses Jahres läuft der geheime österreichisch-
rumänische Vertrag, dem Deutschland und Italien beigetreten sind, ab.
Die Frage seiner Erneuerung wird daher bei der demnächstigen
Anwesenheit des Königs in Berlin notwendig zur Sprache kommen,
denn es ist hohe Zeit, daß der König Farbe bekennt.
Der Grund, warum der König bislang an die Erneuerung nicht
hat herantreten wollen, liegt darin, daß er fürchtet, sein jetziges Mi-
nisterium und überhaupt die am Ruder befindlichen Konservativen
würden nicht darauf eingehen wollen.
Der König selbst erklärt, unter allen Umständen auf dem Stand-
punkt des Vertrags stehen bleiben zu wollen, auch ohne die Existenz
eines solchen.
In dieser Beziehung müßte dem König klargemacht werden, daß
gerade, wenn er zu einer solchen PoUtik auch im Kriegsfall entschlossen
sei, der Abschluß eines Vertrags für Rumänien vom allergrößten
Interesse sei.
Denn, wenn kein Vertrag existiere, müßten die Dreibundsmächte
bei allem Vertrauen in den guten Willen des Königs ihre Politik auf
die Möglichkeit eines feindlichen Rumäniens einrichten und sich auf
der Balkanhalbinsel nach andern Freunden für gewisse Eventualitäten
umsehen.
Denn es sei doch sehr fraglich, ob der König, der im Frieden
nicht wagen könne, seinen Ministern vom Anschluß an den Dreibund
zu sprechen, imstande sein würde, einen solchen im kritischen Mo-
mente durchzusetzen.
168
Eine lediglich persönliche Verpflichtung des Königs, die bis-
herige Politik fortzusetzen, würde nur geringen Wert haben, weil man
eben nicht am Willen des Königs, sondern nur an seiner Macht
im gegebenen Augenblick zweifelt.
Es würde dann dem König klarzumachen sein, daß europäische
Verwicklungen durch direktes Aufeinanderstoßen der Großmächte für
absehbare Zeit nicht wahrscheinlich, insbesondere auch durch den
Kronstadter Besuch* nicht näher gerückt seien. Es sei vielmehr mit
Bestimmtheit anzunehmen, daß die Sache auf der Balkanhalbinsel los-
gehe, die in beständiger Gärung sei, und auf der täglich ein Zwischen-
fall eintreten könne, der den Stein ins Rollen bringe. Dabei könnte
dem König vertraulich gesagt werden, daß auch Herr von Giers in
seiner Unterredung mit Marquis di Rudini** auf die Eventualität von
Verwicklungen am Balkan hingewiesen hat.
Was dann Rumänien ohne sichere Anlehnung an den Dreibund zu
erwarten hat, ist klar. Selbst ein „befreundetes'* Rußland dürfte mit
Rumänien nicht sehr glimpflich verfahren; darüber ist der König 1878
belehrt worden.
Die andern Mächte würden aber Rumänien, das sich erst im
letzten Moment an sie wendete, kaum Hülfe zu bringen geneigt sein.
Österreich, das sich für Rumänien noch am meisten interessiert, würde
seine Haltung doch wesentlich von derjenigen Italiens und Englands
am Bosporus und auf dem Balkan abhängig machen; beide Mächte
haben aber stets für Bulgarien mehr Sympathien gezeigt als für Ru-
mänien und würden daher voraussichtlich unter Preisgabe Rumäniens
ihre schützende Hand nur über Bulgarien breiten wollen. Dies Argu-
ment dürfte bei dem König besonders ziehen, da Bulgarien ohnedies
seine bete noire ist.
Wenn der König auf die Innern Schwierigkeiten seines Landes zu
sprechen kommt, so könnte ihm folgendes entgegengehalten werden:
Es ist seinem politischen Geschick gelungen, unter den bisherigen
Vertrag die Unterschriften der Liberalen und der Junimisten (1883
und 1888) zu erhalten; gewinnt er auch die dritte große Partei des
Landes für sich, so würde damit seine auswärtige Politik und über-
haupt die Stellung seiner Dynastie unangreifbar.
Geht es nicht mit den jetzigen Ministern Florescu und Esarcu,
so scheinen die Brüder Jacques und Alexander Lahoväry, mit denen der
König vor seiner Abreise nach Venedig, wie Herr von Bülow be-
richtet, die Frage akademisch bereits erörtert hat, einem festen An-
schluß an den Dreibund zugängiger.
* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502.
** Am 13. Oktober waren der russische Minister des Äußern von Giers und der
russische Botschafter in Rom Vlangali zusammen mit Rudini vom Könige von
Italien in Monza empfangen worden.
169
Zum Schluß wird noch gehorsamst bemerkt, daß von den den
König begleitenden Herrn Herr Kalinderu, der vertrauteste Ratgeber
des Königs, um den geheimen Vertrag weiß. Da er sehr gut gesinnt
ist, dürfte sich eine besondere Berücksichtigung desselben auch bei
der Ordensfrage empfehlen. Kiderlen
Nr. 1475
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 29. Oktober 1891
Seine Majestät der König von Rumänien hat mich gestern mit
einer längeren Unterhaltung beehrt, in welcher er über die Stellung
Rumäniens zum Dreibunde bestimmt aussprach, daß dieselbe mit oder
ohne Vertrag dieselbe bleibe, und daß er persönlich dafür bürge,
eintretendenfalls Rumänien an unsere Seite zu stellen. Alle miUtäri-
schen Maßregeln in Rumänien hätten nur eine Front. Wenn zurzeit
die Erneuerung des Vertrages nicht rätlich sei, so habe das seinen
Grund ledigHch in den Parteiverhältnissen. Es müßte dem Könige
daran liegen, auch die Konservativen innerlich seiner Politik zu ge-
winnen, aller anderen Parteien glaube er ohnehin sicher zu sein. Der
König hat schon jetzt keinen Zweifel, daß auch die Konservativen
bei Ausbruch eines Krieges für den Dreibund sein würden. Es sei
aber nicht klug, ihnen schon jetzt eine Entscheidung abnötigen zu
wollen. Das jetzige Ministerium setze sich zumeist aus bejahrten Män-
nern zusammen und habe die Bedingungen längeren Daseins nicht mehr
in sich. Man solle Seiner Majestät nur vertrauen, er trachte von selbst
nach Erneuerung des geheimen Vertrages und werde den Moment
nicht versäumen, sobald er sich biete.
Inzwischen gingen die militärischen Vorbereitungen ihren Weg in
derselben Richtung wie bisher. Die Dislokation der Kavallerie an der
russischen Grenze werde demgemäß verändert werden. Seine Majestät
erkannte die Wichtigkeit von Galatz und dessen steter Verteidigungs-
fähigkeit an, verkannte aber nicht, daß gerade da noch manches fehle,
und daß man namentlich eine wesentliche Verstärkung in der Richtung
auf Reni noch nicht in Angriff nehmen wolle, um Rußland, dessen
Grenze zu nahe liege, nicht zu provozieren. Die Nachrichten von
Häufung russischer Truppen in Bessarabien, von denen die Zeitungen
so viel gesprochen, seien völlig unbegründet. Von den Fortschritten,
die Bulgarien mache, sprach Seine Majestät mit Anerkennung, wogegen
ihm Serbien immer mehr zurückzubleiben schiene.
Der König schien zuzugeben, daß das Trachten Rußlands nach
den Dardanellen unter allen Umständen eine große Gefahr für die
Existenz Rumäniens involviere. Ich erlaubte mir anzudeuten, daß,
170
wenn es sich auch nur um eine russische Besatzung in den Dar-
danellenforts handle, diese infolge ihrer isolierten Lage immer eine
Stärke haben müsse, hinreichend, sie auf einige Zeit selbständig zu
machen, und daß sie einer stets offenen Verbindung mit der russischen
Heimat nicht entbehren könne. Der Weg dahin durch Kleinasien sei
nicht offen, der Seeweg immer unsicher, es liege also in der Natur
der Dinge, daß Rußland nicht darauf verzichten könne, den Darda-
nellen durch Rumänien und auf Kosten Rumäniens näher zu kommen.
Die eigenen Kräfte dieses Landes würden nicht hinreichen, dem mit
Erfolg zu widerstehen. Ein Anschluß Rumäniens an den Dreibund
könne jene Gefahr abwenden und sei zugleich für Österreich-Ungarn
das willkommenste Mittel, seine eigenen Interessen auf der Balkan-
halbinsel zu befriedigen. Leiste Rumänien als Hindernis gegen rus-
sische Tendenzen nach den Meerengen keine Gewähr, so würde Öster-
reich-Ungarn sein Augenmerk mehr als bisher auf Bulgarien richten.
Seine Majestät äußerte, daß ihm die Freundschaft Österreich-
Ungarns von hohem Wert sei, und daß er nur wünschen könne, die
rumänische Nationalitätsfrage möge hüben und drüben so behandelt
werden, daß sie dem Nachbar keine Schwierigkeiten mache. Er sei
Seiner Majestät dem Kaiser von Österreich sehr dankbar für die Art
und Weise, wie dieser sich persönlich gegen eine rumänische Depu-
tation geäußert habe, nur bliebe etwas mehr Rücksichtnahme auf die
in Ungarn lebenden Rumänen seitens der ungarischen Regierung zu
wünschen.
In bezug auf die russischen Umtriebe bemerkte Seine Majestät,
daß seit der Entfernung des Herrn Hitrowo ihr Zentralpunkt nach
Galatz verlegt sei, wo die Fäden in den Händen eines Herrn Ro-
manescu zusammenliefen. v. Caprivi
Nr. 1476
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschali
Reinschrift von der Hand des Vortragenden Rats von Kiderlen
Berlin, den 29. Oktober 1891
Seine Majestät der König von Rumänien hat sich mir gegenüber
im allgemeinen ebenso ausgesprochen wie dem Herrn Reichskanzler
gegenüber. Insbesondere hat auch mir der König als das zunächst zu
erstrebende Ziel die Gewinnung der Konservativen für einen festen
Anschluß an den Dreibund bezeichnet. Herr Kalinderu hat dies eben-
falls hervorgehoben und zugleich bestätigt, was Herr von Bülow be-
reits gemeldet, — daß die Brüder Lahoväry im Prinzip bereits für
den Anschluß an den Dreibund gewonnen seien, und es sich daher
nur noch um die Frage der erneuten schriftlichen Fixierung handle.
171
Hinsichtlich Österreichs klagten der König und Herr Kalinderu dar-
über, daß dieses wegen des Vertrags so sehr dränge.
Demgegenüber habe ich hervorgehoben, daß ein gewisses Drängen
Österreich nicht zu verübeln sei; Österreich sei bei dieser Frage der
Nächstinteressierte und müsse sich auf die aller Wahrscheinlichkeit
nach bevorstehende Krisis auf der Balkanhalbinsel vorbereiten; für
diese Eventualität könne Österreich nur mit sicheren Faktoren rech-
nen, Rumänien werde gut tun, dafür zu sorgen, daß es unter die
„sicheren" Faktoren gerechnet werden könne. Der König sah dies
ein und versprach, sein Möglichstes bezüglich Einwirkung auf die
konservative Partei zu tun. Er werde jetzt sogleich nach seiner Rück-
kehr nach Bukarest ein neues Ministerium berufen müssen, an dessen
Spitze Lascar Catargi treten und dem Alexander Lahoväry als aus-
wärtiger Minister angehören werde.
Marschall
Nr. 1477
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler von Caprivi
Entzifferung
Nr. 124 Sinaia, den 31. Oktober 1891
Ganz vertraulich
König Karl lenkte nach seiner Ankunft die Aufmerksamkeit der
zu seiner Begrüßung hierher gekommenen Minister auf die der Do-
brudscha von russischer Seite drohenden Gefahren i. Seine Majestät
betonte hierbei, daß sich aus dieser Sachlage für Rumänien die Not-
wendigkeit einerseits erhöhter militärischer Vorsichtsmaßregeln, an-
dererseits der engeren Fühlung mit dem Dreibunde ergebe.
Bülow
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Gott sei Dank der Wink hat gesessen.
Nr. 1478
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 108 Bukarest, den 30. Dezember 1891
Geheim
Herr Carp sagt mir, der Ministerpräsident Lascar Catargi und
der Minister der Auswärtigen Angelegenheiten Alexander Lahoväry*
* Am 9. Dezember war an die Stelle des Kabinetts Florescu ein Kabinett Catargi
gebildet, in das Ende des Monats auch Peter Carp (1883 als Gesandter in Wien
an dem Abschluß des Vertrages beteiligt) eintrat.
172
hätten ihm im Laufe der behufs Umformung des Kabinetts stattgehabten
Verhandlungen erklärt, daß sie die Notwendigkeit des vertragsmäßigen
Anschlusses Rumäniens an die Tripelallianz anerkannten und der For-
mulierung dieses Anschlusses demnächst gemeinsam mit den Juni-
misten näher treten wollten. ,
B ü 1 o w
Nr. 1479
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VH. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Capiivi
Ausfertigung
Nr. 6 Wien, den 11. Januar 1892
Geheim
Seine Majestät der Kaiser von Österreich hatte gestern die Gnade,
mir über den Besuch zu sprechen, welchen ihm König Karl von
Rumänien unlängst in Budapest gemacht hat*.
Der Kaiser sagte, König Karl sei ganz besonders guter Laune
und zufrieden mit seinen politischen Erfolgen gewesen. Er habe sich
in loyalster Weise über seine Stellung zu Österreich-Ungarn und zum
Dreibund ausgesprochen.
Ich erlaubte mir. Seine Majestät zu fragen, ob höchstderselbe den
König nicht ermahnt hätte, nun, da er sichere Männer im Ministerium
hätte, sein Vertragsverhältnis mit uns zu regeln? Der Kaiser erwiderte,
der König habe ihm in dieser Hinsicht keine bestimmten Zusagen
gemacht, aber gesagt, er hoffe seine neuen Minister günstig für die
Vertragserneuerung zu stimmen. Dem Ministerpräsidenten Catargi habe
er bereits Andeutungen gemacht, die dieser gut aufgenommen hätte:
man möge ihm nur Zeit lassen, da er sehr vorsichtig vorgehen müsse.
Seine Majestät bemerkten, er habe nicht drängen wollen, um dem
Könige kein Mißtrauen zu zeigen.
Graf Kälnoky, dem ich heute über meine Unterhaltung mit seinem
kaiserlichen Herrn sprach, meinte, das Verhalten Seiner Majestät wäre
gewiß richtig gewesen. Indessen behalte er sich vor, wenn der König
auf dem Rückweg nach Bukarest wieder durch Wien käme, das Eisen
zu schmieden, solange es noch warm wäre. Man müsse anerkennen,
daß der König mit großer Geschicklichkeit manövriert hätte, um sein
jetziges Ministerium zu konstruieren, und sei es gewiß gut gewesen,
ihn jetzt nicht zu drängen und ihm zu vertrauen, da er doch schließ-
lich die Sachen allein mache. Aber die Fühlung, die nun wieder auf-
genommen wäre, dürfe nicht verlorengehen.
* König Karl von Rumänien war mii dem Thronfolger Prinz Ferdinand zum Be-
such bei dem Kaiser am 4. Januar in Pest eingetroffen.
173
Graf Kälnoky hat den Grafen Goluchowski ersucht, beruhigend
auf Herrn Carp einzuwirken, damit dieser nicht vorzeitig über die
Sache sich äußerte. Im übrigen sprach sich der Minister sehr befrie-
digt über das ersprießhche Zusammenwirken unserer beiderseitigen
Vertreter in Bukarest aus, ohne welche die Versöhnung zwischen
den Junimisten und den konservativen Ministern wohl nicht zustande
gekommen wäre.
Was die Idee betrifft, welche ich in einem der letzten Berichte
des Herrn von Bülow, die durch meine Hände gegangen sind, ge-
funden, und die auch Graf Goluchowski dem Grafen Kälnoky gegen-
über gemeidet hat, nämlich den alten Vertrag nicht zu erneuern, son-
dern einen neuen abzuschließen, so sprach mir der Minister in
folgendem Sinne darüber.
Dem König würde die Verhandlung mit seinen Ministern hier-
durch allerdings erleichtert werden: er brauchte ihnen dann nicht das
ihm peinliche Geständnis zu machen, daß er seine Regierung außer
Herrn Carp seit zehn Jahren an der Nase herumgeführt hätte. Er,
Graf Kälnoky, hätte auch, wenn der König hierauf bestünde, prinzipiell
nichts dagegen. Besser wäre aber eine Erneuerung der Verträge.
Hierdurch würde die Kontinuität, die wichtig sei, bewiesen. Auch
würde es dem Könige leichter gemacht werden, seinen Räten beweisen
zu können, wie nützlich der Vertrag für Rumänien sei. Seit zehn
Jahren wäre das rumänische Volk in keiner Weise durch seine Ver-
tragsgenossen inkommodiert worden, und das gute Verhältnis, welches
zwischen diesen und Rumänien dadurch hergestellt worden sei, hätte
dem Lande eine Sicherheit für seine innere Entwickelung gegeben,
welche ohne dies Vertragsverhältnis vielleicht nicht bestanden haben
würde.
H.VII.P.Reuß
Nr. 1480
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 62 Wien, den 3. März 1892
Geheim
Euere Exzellenz werden durch den Kaiserlichen Gesandten in Bu-
karest von dem augenblicklichen Stand der Angelegenheit der Ver-
tragserneuerung unterrichtet sein; ich will aber nicht unterlassen, über
dasjenige ganr gehorsamst zu berichten, was mir Graf Kälnoky heut
darüber gesagt hat.
Graf Goluchowski schreibt dem Minister folgendes: .
174
Durch Herrn Carp angespornt, scheine sich der König Karl nun-
mehr entschlossen zu haben, der Sache näher zu treten und seinen
Ministern darüber zu sprechen. Infolgedessen glaubten unsere beider-
seitigen Vertreter, daß der Augenblick gekommen sein dürfte, auch
ihrerseits die Angelegenheit mit dem Könige zu besprechen.
Herr Carp habe vertraulich mitgeteilt, er habe die Frage eines
Vertragsabschlusses bereits rein akademisch mit dem Minister-
präsidenten Catargi behandelt. Dieser habe sich nicht abgeneigt ge-
zeigt. Da Herr Catargi den Wunsch zu hegen scheine zu stipulieren,
daß, wenn ein förmUcher Vertrag abgeschlossen werden sollte, auch
darin eine Stipulation darüber enthalten sein müsse, daß für den Fall
eines Krieges mit Rußland kein Friede ohne Rumäniens Teilnahme
am Friedensschluß abgeschlossen werden dürfte, so hat Herr Carp
ungefähr folgenden Zusatz vorgeschlagen: Die vertragschließenden
Teile verpflichteten sich (oder erklärten), daß bei eventuellen Friedens-
verhandlungen Rumänien zugezogen werden solle.
Graf Kälnoky findet diesen Wunsch Catargis unverfänglich und
hat nichts dagegen, daß ein Zusatz in dieser Form gemacht werde.
Ferner würde es der österreichisch-ungarische Minister für nütz-
lich erachten, der Stipulation über die Dauer des Vertrages eine Form
zu geben, durch welche das Ablaufen desselben möglichst aus-
geschlossen und erschwert würde. Es würde sich empfehlen zu sagen:
wenn der qu. Vertrag nicht ein Jahr vor dem Ablaufstermin von einem oder
dem anderen kontrahierenden Teil gekündigt wird, so läuft derselbe
noch weitere drei Jahre.
Es sei von Wichtigkeit, der Eventualität aus dem Wege zu gehen,
die jetzt, wenn auch in ungefährlicher Weise, weil Frieden herrsche,
eingetreten sei. Man dürfe aber die ängstlichen Rumänen auch nicht
erschrecken; die vorgeschlagene Form bezwecke dies, sichere aber
gleichzeitig die längere Dauer, weil man sich schwer dazu entschlösse,
einen Vertrag zu kündigen.
Endlich liege die bereits besprochene Frage vor, ob der alte
Vertrag zu erneuern, oder ob ein neuer Vertrag abzuschließen sein
werde.
König Karl sei bisher für die letztere Form eingenommen gewesen,
weil er sich nicht entschließen konnte, seinen uneingeweihten Ministern
die Existenz des alten Vertrages einzugestehen. Graf Kälnoky würde
es für besser und natürlicher halten, wenn man den alten Vertrag
mit den angegebenen Zusätzen erneute. Sollte der König aber durch-
aus auf seinem Wunsch bestehen, so würde er aus seiner Ansicht
keine conditio sine qua non machen.
Der Minister wartet nun die weitere Berichterstattung des Grafen
Goluchowski ab, dem er morgen in dem vorstehenden Sinne schreibt.
Er hat ihm außerdem den Wortlaut des alten Vertrages überschickt,
von welchem nur ein Exemplar sich im Archiv des Ministeriums des
175
Äußern befindet, und zwar aus folgendem Grunde. Der Gesandte
meldet, der König oder der mit der Verhandlung betraute Minister
würde begreiflicherweise nur mit dem Vertragstext in der Hand dar-
über diskutieren wollen. Nun befinde sich aber das rumänische Ver-
tragsinstrument im geheimen Verschluß im Schlosse zu Sinaia, und
könnte der König allein zu demselben gelangen. Eine Reise nach diesem
Sommeraufenthalt würde der König aber des Aufsehens wegen wohl
vermeiden wollen, und dürfte die Angelegenheit hierdurch wieder auf-
gehalten werden.
Dieser Eventualität hat Graf Kälnoky aber vorbeugen wollen.
Nun hat mich der Minister gebeten. Euerer Exzellenz die vor-
stehenden Mitteilungen zu machen und seine Vorschläge zu unter-
stützen. Er beabsichtigt nicht, den k. und k. Botschafter in Berlin
in diese Verhandlungen hineinzuziehen. Je weniger Menschen von
solchen geheimen Verhandlungen wüßten, und je weniger Papier dar-
über beschrieben würde, desto besser wäre es.
H.VII.P.Reuß
Nr. 1481
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 14 Bukarest, den 20. März 1892
Geheim
König Karl hat vorgestern mit dem Minister des Äußern rückhalt-
los und eingehend über die Erneuerung der geheimen Abmachungen
gesprochen, wobei Seine Majestät Herrn Alexander Lahoväry das
Vorhandensein wie den Inhalt der früheren Stipulationen mitteilte.
Herr Lahoväry erklärte sich gegenüber dem König — wie später
auch motu proprio mir gegenüber — zur Erneuerung der Verträge
bereit.
König Karl will nunmehr den Ministerpräsidenten Catargi für die
Vertragserneuerung gewinnen, wünscht jedoch hierzu noch eine kurze
Frist. Seine Majestät sprach mir den Wunsch aus, inzwischen nicht
von österreichischer Seite gedrängt zu werden. Ich habe meinen
österreichisch-ungarischen Kollegen von diesem Wunsch in Kenntnis
gesetzt.
Nach erlangter Zustimmung auch des Herrn Catargi wird König
Karl uns hiervon Mitteilung machen, damit sodann seitens der drei
Zentralmächte die offizielle Demarche wegen Vertragserneuerung
erfolge.
Bülow
176
Nr. 1482
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Entzifferung
Nr. 48 Bukarest, den 16. Mai 1892
Geheim
König Karl sagt mir, daß er gestern die Vertragsangelegenheit
mit dem Ministerpräsidenten Catargi besprochen, demselben den In-
halt der abgelaufenen geheimen Stipulationen mitgeteilt und die Not-
wendigkeit ihrer Erneuerung dargelegt habe. Herr Catargi habe sich
mit dieser Erneuerung im Prinzip einverstaiiden erklärt.
Bülow
Nr. 1483
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 158 Wien, den 11. Juni 1892
Geheim
Euerer Exzellenz beehre ich mich anliegend eine mir gestern
durch den Grafen Goluchowski überbrachte Expedition des Kaiser-
lichen Gesandten in Bukarest nach genommener Kenntnis ganz gehor-
samst zu überreichen*.
Graf Kälnoky hatte mir schon gestern Mitteilung von dem endlich
bis zur Unterzeichnung reif gewordenen Vertragsgeschäft gesprochen.
Er drückte mir seine hohe Befriedigung über dieses wichtige Resultat
aus und erwähnte mit großer Anerkennung der ersprießlichen Tätig-
keit der Herrn Gesandten von Bülow, ohne dessen geschickte Behand-
lung der Personen und der Dinge die Sache wohl noch nicht so weit
gediehen wäre.
Der Minister hätte gewünscht, daß die rumänischen Minister seine
Redaktion des Artikels V wegen der Dauer des Vertrages angenommen
hätten, begnügt sich aber mit dem Erreichten.
Die Vertragsinstruniente werden nunmehr hier ins reine ge-
schrieben, und wird Graf Goluchowski sodann mit denselben zu deren
Unterzeichnung nach Bukarest zurückkehren.
H.VII.P.Reuß
* Siehe Nr. 1484.
12 Die Große Politik. 7. Bd. 177
Nr. 1484
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 58 Bukarest, den S.Juni 1892
Geheim
Der rumänische Minister des Äußern, Herr Alexander Lahoväry,
hat nunmehr mit Ermächtigung Seiner Majestät des Königs Karl und
unter Zustimmung des Konseilpräsidenten Lascar Catargi dem öster-
reichisch-ungarischen Gesandten Grafen Goluchovvski amtlich seine
Bereitwilligkeit ausgesprochen, den im vergangenen Herbste abgelaufe-
nen geheimen Vertrag mit Österreich-Ungarn tel quel zu erneuern.
Im Laufe der ganz vertraulichen Vorbesprechungen, welche dieser
Erklärung vorausgingen, machte Herr Alexander Lahoväry einige Male
den Versuch, die geheime Vertragsfrage mit der Kornzollangelegenheit
zu verquicken, indem er die Behauptung aufstellte, daß die erstere
nicht vor Erledigung der letzteren reguliert werden dürfe. Der Minister
des Äußern wurde jedoch darauf hingewiesen, daß zwischen beiden
Angelegenheiten kein innerer Zusammenhang bestehe, insofern es sich
bei der Kornzollfrage lediglich um ein wirtschaftliches Petitum der
Rumänen gegenüber Deutschland, in der geheimen Vertragsfrage um
einen rein politischen Staatsakt zwischen Rumänien und Österreich-
Ungarn handle.
König Karl war nicht abgeneigt, anläßlich der Vertragserneuerung
die Beschwerden der ungarländischen Rumänen zur Sprache zu bringen.
Der hohe Herr bestreitet nicht, daß das neuerliche Vorgehen der
siebenbürgischen Rumänen in der Memorandumsangelegenheit und
speziell das Liebäugeln derselben mit Jungtschechen, Slowenen und
Antisemiten von bedauerlichem Mangel an politischem Takt zeugen.
Er hegt aber trotzdem den — nicht unberechtigten — Wunsch, daß
von ungarischer Seite tunlichst vermieden werden möge, was den
magyarisch-rumänischen Antagonismus wieder verschärfen und den-
selben dem hiesigen Publikum noch deutlicher zum Bewußtsein bringen
könnte.
Im allerengsten Vertrauen gestatte ich mir zu erwähnen, daß König
Karl mir gegenüber die Äußerung fallen ließ, er habe Lust, sich für
den Fall eines siegreichen Krieges gegen Rußland von Österreich die
Bukowina versprechen zu lassen. Seine Majestät sah jedoch selbst
ein, daß eine solche Prätention sich nicht formulieren, geschweige
denn verteidigen lassen würde.
Der neue geheime Vertrag wird sich nach Form und Inhalt dem
abgelaufenen anschließen, welchen Graf Goluchowski vor einer Woche
Herrn Alexander Lahoväry und heute dem Ministerpräsidenten Catargi
vorgelegt hat. Ich habe mich bemüht zu erreichen, daß der Stipula-
178
1
m
tion über die Dauer des Vertrags (Artikel V des abgelaufenen Ver-
trags) die nach dem Wiener Bericht Nr. 62 vom S.März d. Js.* von
Graf Käinoky gewünschte Formulierung gegeben würde. König Karl
und Herr Alexander Lahoväry erklärten sich auch damit einverstanden,
daß der neue Vertrag auf vier Jahre abgeschlossen werde, demnächst
jedoch „indefiniment" weiter laufe, bis die eine oder die andere Seite
denselben kündige. Herr Lascar Catargi war jedoch nicht dazu zu
bewegen, weitergehende Verpflichtungen zu übernehmen, als sie seiner-
zeit Herr Bratianu auf sich genommen hat. Unter diesen Umständen
erschien es in Berücksichtigung des „Le mieux est Tennemi du bien''
nicht angezeigt, aus der Zeitfrage eine conditio sine qua non zu machen.
Der neue Vertrag wird somit auch in seinem Artikel V mit dem alten
übereinstimmen.
Mein österreichisch-ungarischer Kollege, welcher sich heute für
etwa acht Tage nach Wien begibt, wird auf Wunsch der hiesigen
Regierung die Vertragsinstrumente im dortigen Ministerium des
Äußern herstellen lassen. Demnächst soll der Vertrag von ihm und
Herrn Alexander Lahoväry unterzeichnet werden.
Ich erlaube mir noch zu bemerken, daß um den neuen Vertrag
von Rumänien nur der Ministerpräsident Lascar Catargi, der Minister
des Äußern Alexander Lahoväry, der Handelsminister Carp und Herr
Kalinderu wissen. Der rumänische Gesandte in Berlin, Herr Gregor
Ghika, ist ebensowenig au courant der Angelegenheit wie sein Bruder,
der Gesandte in Wien, Herr Emil Ghika.
Nach Unterzeichnung des rumänisch-österreichischen Vertrags wird,
wie mir Graf Goluchowski sagt, das Wiener Kabinett den erfolgten
Vertragsabschluß zur Kenntnis des Berliner Kabinetts wie der italieni-
schen Regierung bringen und beide ersuchen, dem Vertrage in der-
selben Weise beizutreten, wie dies früher geschehen ist. Es war —
wie ich gleichfalls im engsten Vertrauen erwähne — nicht ganz leicht,
während der Vertragsbesprechungen Differenzen zwischen dem öster-
reichisch-ungarischen und dem italienischen Vertreter vorzubeugen.
Graf Goluchowski hätte Herrn Curtopassi** am liebsten ganz aus dem
Spiele gelassen; Herr Curtopassi, hierdurch in seiner Eigenliebe frois-
siert, suchte den Gang der Verhandlungen zu verlangsamen, indem
er unter anderem den allerdings seltsamen Vorschlag machte, dieselben
zu suspendieren, bis sich die inneren Verhältnisse Italiens mehr ge-
klärt hätten. Zur Charakterisierung der politischen Gesamtauffassung
des Königs Karl möchte ich vertraulich noch anführen, daß der hohe
Herr, als ich ihm im Laufe der Vertragsbesprechungen andeutete,
wie es sich im Grunde doch nur um ein rumänisch-österreichisches
Abkommen handle, bei welchem wir mehr als wohlwollende Zuschauer
beteihgt wären, mit Lebhaftigkeit entgegnete: „Wenn es sich um einen
* Siehe Nr. 1480.
** Italienischer Gesandter in Bukarest.
12* 179
lediglich rumänisch-österreichischen Vertrag handelte, würde kein Ru-
mäne denselben unterschreiben; der künftige Beitritt Deutschlands er-
möglicht erst den Vertrag und gibt demselben in meinen Augen, wie in
den Augen meiner Minister erst seinen wahren Wert."
B. von Bülow
Nr. 1485
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 60 Sinaia, den 15. Juni 1892
Geheim
König Karl sagte mir unmittelbar vor seiner Abreise, daß die
vergangene Woche ihm zwei „große succes" gebracht habe, die Ver-
lobung seines Neffen* und die Erneuerung der geheimen Verträge.
„Ich betrachte," bemerkte Seine Majestät hierbei motu proprio, „die
Vertragssache nunmehr als erledigt, die Erneuerung als ein fait ac-
compli, den Vertrag als abgeschlossen i." Der König hat, wie höchst-
derselbe mir weiter erzählte, den Ministerpräsidenten, Herrn Lascar
Catargi, als dieser sich am 8. d. Mts. zur Erneuerung der geheimen
Stipulationen endgültig und ohne Abänderungen bereit erklärte, um-
armt und ihm gesagt: „Vous etes un bon patriote, et dorenavant je
Vous place dans mon esprit sur la meme ligne que feu Jean Bratiano."
Der österreichisch-rumänische Vertrag, fügte der König hinzu, solle
nach seiner Rückkehr, also voraussichtlich im Laufe des Juli^ von
Herrn Alexander Lahoväry und Graf Goluchowski unterzeichnet werden.
Die Vollmacht für den Minister der auswärtigen Angelegenheiten,
Herrn Alexander Lahoväry, werde der Ministerpräsident, Herr Lascar
Catargi, gegenzeichnen, sodaß auch dieser sich mit Namensunter-
schrift für den Vertrag engagiere. Der Beitritt Deutschlands könne
nach meiner Rückkehr von Urlaub, in der zweiten Hälfte des August
erfolgen.
Mein österreichisch-ungarischer Kollege hätte gewünscht, daß die
Unterzeichnung des Vertrags schon während der Abwesenheit Seiner
Majestät vor sich ginge ^; er bat mich, den König dahin zu bringen,
daß höchstderselbe zu diesem Zwecke die Vollmacht für Herrn Laho-
väry noch vor seiner Abreise von Bukarest ausstelle. Da jedoch der
hohe Herr im Drange mancher anderen Geschäfte, und da sich alle
auf die geheimen Abmachungen bezüglichen Schriftstücke im Schlosse
Pelesch bei Sinaia befinden, hierzu keine Lust zeigte, schien es mir
vorsichtiger, den König nicht durch zu ungeduldiges Urgieren des
formalen Abschlusses zu irritieren, wo es unter Benutzung der hier
* Die Verlobung des rumänischen Thronfolgers Prinz Ferdinand mit der Prin-
zessin Marie von Edinburg hatte Anfang Juni am Berliner Hof stattgefunden.
180
durch die Verlobung des Prinzen Ferdinand hervorgerufenen gehobenen
Stimmung gelungen ist, die materielle Erledigung der Angelegenheit
zu erreichen*.
Herr Lascar Catargi und Herr Alexander Lahoväry sprachen mir
ihre Genugtuung über die Regulierung der Vertragsfrage aus. „II ne
s'agit plus," äußerte hierbei Herr Alexander Lahoväry, „de la poli-
tique de tel ou tel chef de parti, mais de la seule politique etrangere
que la Roumanie peut suivre, la politique nationale, qui est consignee
dans les stipulations secretes que nous adoptons^."
B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Sehr schön
2 geht das nicht früher?
3 ja
1 richtig
i gut
Nr. 1486
Der Geschäftsträger in Bukarest Mumm von Schwarzenstein, z. Z. in
Sinaia, an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 61 Sinaia, den 25. Juli 18Q2
Geheim
Der geheime Bündnisvertrag zwischen Österreich-Ungarn und Ru-
mänien* ist heute, Montag, vorbehaltlich der Ratifikation durch die
beiderseitigen Regierungen von dem österreichisch-ungarischen Ge-
sandten Grafen Goluchowski und dem rumänischen Minister der aus-
wärtigen Angelegenheiten, Herrn Lahoväry, hier unterzeichnet worden.
Die für letzteren von Seiner Majestät dem König Karl ausgestellte
Vollmacht ist von dem Ministerpräsidenten, Herrn Catargi, gegen-
gezeichnet, wodurch auch dieser sich für den Vertrag engagiert hat.
Mumm
Nr. 1487
Deutsche Akzessionserklärung zum österreichisch-rumänischen
Bündnisvertrag**
Ausfertigung
Sa Majeste TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi
Apostolique de Hongrie, et
* Veröffentlicht in: Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns
1879—1914, Bd. I (1920), S. 69.
** Veröffentlicht in: Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns
1879—1914 a. a. O. S. 72. — Der Beitritt Italiens zum Österreich-ungarisch-rumäni-
schen Bündnisvertrag erfolgte am 28. November 1892. Daselbst.
181
Sa Majeste le Roi de Roumanie ayant conclu ä Sinaia le 25/13
Juillet de l'annee courante le traite d'amitie et d'alüance suivant.
Article 1".
Les hautes Parties contractantes se promettent paix et amitie et
n'entreront dans aucune alliance ou engagement dirige contre l'un de
leurs Etats. Elles s'engagent ä suivre une politique amicale et ä se
preter un appui dans la limite de leurs interets.
Article 2.
Si la Roumanie, sans provocation aucune de se part, venait ä etre
attaquee, l'Autriche-Hongrie est tenue ä lui porter en temps utile
secours et assistance contre l'agresseur. Si l'Autriche-Hongrie etait
attaquee dans les memes circonstances dans une partie de ses Etats
limitrophe ä la Roumanie, le casus foederis se presentera aussitöt pour
cette derniere.
Article 3.
Si une des hautes Parties contractantes se trouvait menacee d'une
aggression dans les conditions susmentionnees, les Gouvernements re-
spectifs se mettront d'accord sur les mesures ä prendre en vue d'une
Cooperation de leurs armees. Ces questions militaires, notamment celle
de l'unite des Operations et du passage des territoires respectifs,
seront reglees par une Convention militaire.
Article 4.
Si contrairement ä leur desir et espoir les hautes Parties con-
tractantes etaient forcees ä une guerre commune dans les circonstances
prevues par les articles precedents, elles s'engagent ä ne negocier ni
conclure separement la paix.
Article 5,
Le present traite restera en vigueur pour la duree de quatre ans
ä partir du jour de l'echange des ratifications. Si une annee avant son
expiration le present traite n'est pas denonce ou si la revision n'en
est pas demandee par aucune des hautes Parties contractantes, il sera
considere comme prolonge pour la duree de trois autres annees.
Article 6.
Les hautes Parties contractantes se promettent mutuellement le
secret sur le contenu du present traite.
Article 7.
Le present traite sera ratifie et les ratifications seront echangees
dans un delai de trois semaines ou plus tot si faire se peut.
Ont invite Sa Majeste TEmpereur d'Allemagne, Roi de Prusse,
ä acceder aux dispositions du susdit traite.
182
En consequence Sa Majeste TEmpereur d'AUemagne, Roi de
Prusse, a muni de Ses pleins-pouvoirs ä cet effet Son representant
ä Bucarest, le conseiller de legation Bernard de Bülow pour adherer
formellement aux stipulations contenues dans le traite susmentionne.
En vertu de cet acte d'accession Sa Majeste FEmpereur d'AUemagne,
Roi de Prusse, prend au nom de l'Empire d'AUemagne envers Leurs
Majestes TEmpereur d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi Aposto-
lique de Hongrie, et
le Roi de Roumanie, et en meme temps Leurs Majestes l'Empereur
d'Autriche, Roi de Boheme, etc. et Roi Apostolique de Hongrie, et
le Roi de Roumanie, prennent envers Sa Majeste TEmpereur d'AUe-
magne, Roi de Prusse, les memes engagements auxquels les hautes
Parties contractantes se sont mutuellement obligees par les stipulations
du dit traite insere ci-dessus.
Le present acte d'accession sera ratifie et les ratifications seront
echangees dans un delai de trois semaines ou plus tot si faire se peut.
En foi de quoi les Plenipotentiaires respectifs ont signe le present
acte d'accession et y ont appose le sceau de leurs armes.
Fait ä Bucarest le 23/1 le jour du mois de Novembre de l'an de
gräce mil huit cent quatre vingt-douze.
(L. S.) B. v. Bülow
(L. S.) A. G o 1 u c h o w s k i
(L. S.) AI. Lahovari
Nr. 1488
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler Grafen von Caprivi*
Ausfertigung
Nr. 79 Sinaia, den 16. Oktober 1893
Vertraulich
Einer der eifrigsten und konsequentesten Anhänger der Dreibunds-
politik in Rumänien, der frühere Minister der auswärtigen Angelegen-
heiten und gegenwärtige Führer der liberalen Opposition, Herr Demeter
Sturdza, hat über die rumänisch-magyarischen Differenzen für König
Karl zwei vertrauliche Notizen aufgesetzt, welche er Seiner Majestät
vor einigen Tagen übergab. Abschrift dieser Aufzeichnungen, mit deren
Gedankengang und Schlußfolgerungen sich König Karl durchaus ein-
verstanden erklärte, gestatte ich mir in der Anlage beizufügen.
Die Auslassungen der ungarischen Minister während der jüngsten
Nationalitätendebatte in Pest würden hier einen noch bessern Ein-
* Der vorliegende Bericht, der mit den beiden als Anlagen abgedruckten Denk-
schriften Demeter Sturdzas die das österreichisch-rumänische Bündnis vielfach er-
schwerenden rumänisch-magyarischen Differenzen näher behandelt, mag gleichsam
als Anhang zu diesem Kapitel gegeben werden.
183
druck gemacht haben, wenn nicht die magyarische Publizistilc durch
ihre nach wie vor nicht grade taktvolle Sprache die Wirkung jener
Enunziationen beeinträchtigte. So kam anläßlich der Rede des Ministers
Hieronymi der „Pester Lloyd'' darauf zurück, daß die rumänische
Regierung durch Österreich-Ungarn gezwungen werden müsse, zur
Unterdrückung der siebenbürgischen Bewegung beizutragen. Wie mir
hier nicht nur von Rumänen, sondern auch von solchen mit den sieben-
bürgischen Verhältnissen vertrauten Deutschen und Engländern gesagt
wird, welche dem dortigen Nationalitätenhader neutral gegenüberstehen,
besitzt die hiesige Regierung so gut wie keinen Einfluß auf die ungar-
ländischen Rumänen, deren große Mehrheit vorläufig noch nach Wien
blicke. Diejenigen transsylvanischen Elemente, welche unter dem Ein-
flüsse magyarischen Drucks oder russischer Wühlereien schon nach
Bukarest sähen, sollen hier weder von der Regierung noch von der
Opposition, sondern lediglich von der Kulturliga — einem Gegen-
und Seitenstück zu den ungarischen Kulturvereinen — das Heil er-
warten.
Ich gestatte mir noch zu erwähnen, daß das verbreitetste rumä-
nische Blatt, die „Independance Roumaine", die siebenbürgische Frage
fortgesetzt zum Gegenstand ihrer Österreich-Ungarn wenig freundlichen
Betrachtungen macht. Die fraglichen Artikel werden von einem wegen
Schulden aus dem Dienst entlassenen früheren rumänischen Diplomaten,
Herrn Steriadi verfaßt, welcher, wie ich ganz vertraulich hinzufüge,
auf der russischen Gesandtschaft aus und ein geht.
B. von Bülow
Anlage I
Abschrift
Deutschland ist der Führer, wie es der Begründer des Dreibundes
ist. Der historische Grund dieser Tatsache liegt in den gesunden Ver-
hältnissen dieses so mächtigen Reichs. Es hat nicht wie Italien Partei-
strömungen, welche fremde Interessen für höher halten als die eigenen;
es laboriert nicht wie Österreich-Ungarn an inneren Kämpfen einander
feindlich gegenüberstehender Nationalitäten.
Es ist sicher, daß Franzosen und Russen auf die Verwirrung und
Zerrissenheit rechnen, welche französische Sympathien in Italien und
innere Kämpfe der Völkerstämme in Österreich-Ungarn nach sich ziehen
können. Diese Unzulänglichkeiten — die schwachen Seiten des Drei-
bundes — auszugleichen und womöglich ganz zu beseitigen, ist eine
der Hauptaufgaben der Staatsmänner des Dreibundes. Soll man am
Tage der Entscheidung sicher vorgehen, so muß schon vorher Ord-
nung geschaffen werden, da sonst in diesen Schwierigkeiten eine Läh-
mung des Handelns und Eingreifens liegen wird.
Am schwierigsten gestalten sich in dieser Beziehung die Verhält-
184
I
nisse in Österreich-Ungarn, da die österreichischen Länder von einer
slawischen Bewegung beunruhigt werden und im ungarischen König-
reiche der magyarische Chauvinismus eine wunde Stelle bildet.
Die slawische Bewegung hat ihre Beziehungen nach außen und
steht in Verbindung mit dem Panslawismus, oder richtiger gesagt
mit dem Panrussismus, dessen Hauptgegenstand die Erstürmung der
Balkanhalbinsel ist. Der magyarische Chauvinismus verdankt seine
Entstehung und Erhaltung dem übertriebenen Hochmute der Magyaren,
die nicht einsehen, daß Ungarn eine bedeutende Stellung in der euro-
päischen Staatengemeinschaft nur einnimmt, weil es ein Teil der Habs-
burgischen Monarchie ist. Wenn die slawische Bewegung ihre Rich-
tung nach außen, die magyarische nach innen hat, so haben beide das
Gemeinsame, daß sie zur Zerbröckelung der österreichisch-ungarischen
Monarchie führen.
Die Zustände in Ungarn sind hauptsächlich eine nicht zu unter-
schätzende Gefahr für das Königreich Rumänien. Dieses ist berufen,
im Falle eines Krieges eine russische Armee lahm zu legen, während
die jetzige Haltung der Ungarn alsdann dazu beitragen wird, eine
österreichisch-ungarische Armee in Ungarn selbst zu immobilisieren.
Vor dem Kriege können innere Wirrnisse Unzulänglichkeiten zum
Nutzen der Feinde schaffen; nach dem Siege kann der Übermut zur
Ausführung der bloßen Personalunion führen. Beides bedeutet aber
eine Schwächung der Großmachtstellung Österreich-Ungarns.
In Rumänien blickt man mit Sorge auf die Abwickelung dieser
Zustände, weil man zu sehr bewußt ist, daß die Resultate sich un-
mittelbar am südlichen Abhänge der Karpathen zeigen werden. Es
erscheint somit angezeigt, dem magyarischen Chauvinismus ein Gegen-
gewicht zu verschaffen, um die unleugbare Energie der Magyaren in
ein ruhiges Fahrwasser zu leiten. Die zähen Rumänen fügen sich
nicht dem erneuerten Magyarisierungsversuche. Stammesverschieden
von den Slawen, bedroht durch das Russentum, haben sie mit den
Magyaren gemeinsame Zukunftsinteressen. Beide Völker sind durch
Selbsterhaltungsvorsorge aneinander gewiesen, und der zwischen ihnen
entbrannte Kampf kann für beide als Selbstmord charakterisiert wer-
den zugunsten des einen mächtigen und beide bedrohenden Feindes.
Es muß also auf die Ungarn dahin gewirkt werden, daß sie auf
ihren Anlauf zur gewaltsamen Magyarisierung der andern Völker-
stämme Ungarns verzichten und in gerechter freier Verwaltung aller
nicht eine Schwächung, sondern eine Stärkung ihres Königreichs er-
blicken.
Würden die Führer der Rumänen in Ungarn ins Gefängnis wan-
dern, und die Rumänen unter das magyarische Joch sich fügen müssen,
so kann dies zeitweilig Ruhe schaffen, aber um so sicherer wird es
das Terrain für russische Wühlereien und Umtriebe vorbereiten, die
dann auch im Königreich Rumänien sich abspielen werden.
185
Man stelle sich nur vor, wie die Lage eine ganz andere sein
würde, wenn in Ungarn Friede und gegenseitiges Vertrauen der Na-
tionalitäten waltete. Es würde dies auf die Umtriebe Rußlands unter
den Slawen drücken und eine Sicherheit des Vorgehens der Habs-
burgischen Monarchie zur Folge haben, die jetzt fehlt — zu Ungunsten
des Dreibundes und zur Gefahr für Rumänien. Die Wirrnisse in Un-
garn sind ein Atout in den Händen Rußlands und Frankreichs.
(gez.) Demeter Sturdza
Anlage 11
Abschrift
Die Rumänen in Siebenbürgen und Ungarn und die Rumänen in
den beiden Donaufürstentümern Moldau und Walachei sind seit Jahr-
hunderten in ihren politischen Schicksalen getrennt gewesen und haben
sich unabhängig voneinander entwickelt. Rein kulturelle, Schule und
Kirche betreffende Beziehungen zwischen den Rumänen diesseits und
jenseits der Karpathen haben wohl bestanden, aber nie auf die Ge-
staltung der politischen Verhältnisse eingewirkt. Die beiden vonein-
ander getrennten Glieder desselben Volkes haben in einer voneinander
unabhängigen und selbständigen Weise ihre nationalen Interessen
wahrgenommen.
In den verschiedenen Phasen des Kampfes, welcher den Rumänen
in Ungarn durch die Gewaltpolitik der Magyaren aufgezwungen wurde,
sind jene durchaus selbständig vorgegangen, und eine Einwirkung dar-
auf hat vom Königreich aus in keiner Weise stattgefunden. Verfolgt
man aufmerksam ihre ganze Aktion, so wird man nichts darin ent-
decken, was als „Irredentismus" bezeichnet werden könnte. Im Gegen-
teil, es ist kennzeichnend für ihre Bestrebungen, und es kann nicht
nachdrücklich genug hervorgehoben werden, daß sie nichts unter-
nehmen und nichts fordern, was auf eine Lostrennung vom öster-
reichisch-ungarischen Kaiserstaate abzielte. Ihre Loyalität, Treue und
Anhänglichkeit an das Habsburgische Herrscherhaus sowie ihre Zu-
sammengehörigkeit zu dieser Monarchie haben sie nicht nur bei jeder
Gelegenheit in feierlicher Weise betont, sondern auch stets konsequent
danach gehandelt.
Wenn sie sich entschieden dagegen wehren, als Heloten in ihrem
eigenen Lande behandelt zu werden, wenn sie ihre, politische Gleich-
berechtigung mit den magyarischen Staatsangehörigen und die An-
wendung des bestehenden Nationalitätengesetzes auf ihre Verhältnisse
verlangen; wenn sie an der Selbstverwaltung ihrer Kirchen und
Schulen festhalten und mit angestammter Zähigkeit ihre Sprache und
nationale Eigenart gegen die mit Hochdruck betriebene Magyarisie-
rungspolitik verteidigen, so liegt in allen diesen gesetzlichen und be-
rechtigten Forderungen nichts, was tatsächlich einen irredentistischen
186
Charakter hätte. Die beständige Bezeichnung „Rumänische Irredenta'',
wie sie in Pest für alles beliebt wird, was mit der siebenbürgischen
Frage zusammenhängt, ist weit eher geeignet, derartige Bestrebungen,
die heute nicht vorhanden sind, hervorzurufen, als die Bewegung, wie
sie sich tatsächlich darstellt, wirksam einzudämmen.
Der Konflikt, der zwischen den Magyaren und Rumänen immer
akuter wird, ist so sehr aus der Natur der dortigen Zustände hervor-
gegangen, die das Ergebnis der chauvinistischen Gewaltpolitik sind,
daß es verfehlt ist, seinen Ursprung oder die heutige Führung des
Kampfes auf Einwirkungen aus dem Königreiche zurückführen zu
wollen. Und ebensowenig ist die Annahme zutreffend, als ob es mög-
lich wäre, vom Königreiche aus die Rumänen in Ungarn in dem
Sinne zu beeinflussen, daß sie in der ihnen aufgezwungenen Notwehr
nachgiebiger werden und vor dem magyarischen Chauvinismus kapi-
tuheren
Dagegen ist es unvermeidlich, daß der immer schärfer sich ge-
staltende Kampf einen verhängnisvollen Rückschlag auf die Lage im
Königreich ausübt. Die Teilnahme für die Leiden der Stammesgenossen
in Ungarn ist eine natürliche und läßt sich nicht unterdrücken. Die
öffentliche Meinung wird nicht nur durch die Ereignisse jenseits der
Karpathen beständig gegen Ungarn aufgeregt; aber auch die zahl-
reichen Elemente, welche notgedrungen infolge der dortigen un-
erträglichen Zustände nach dem Königreich kommen, und die den
verschiedensten Berufsklassen angehören, wie Landwirte, Handel- und
Gewerbetreibende, Lehrer, Priester usw., alle diese Elemente treten
mit allen Schichten der Bevölkerung in direkte Beziehungen und
fachen überall den Haß gegen Ungarn an. So werden die weitesten
Kreise der Nation immer mehr in eine Stimmung hineingetrieben, in
welcher sie in den Magyaren weit ärgere Feinde der Rumänen erblicken
als in den Russen. Auf diesem gefahrvollen Wege wird aber die
notwendige Stellungnahme des Königreichs Rumänien zum Dreibunde
untergraben — eine Stellungnahme, die um ihre Wirkungen zu er-
zielen, des Rückhalts in der ganzen Nation bedarf — , und den Be-
strebungen der russischen Orientpolitik werden Tür und Tor geöffnet.
(gez.) Demeter Sturdza
187
Kapitel XLVIl
Französisch-Russischer Zweibund
1890-1894
Nr. 1489
Der Geschäftsträger in Petersburg Graf vonPourtales an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 179 St. Petersburg, den 19. Juni 1890
In den Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich, welche im
Laufe des vergangenen Jahres nach der Beschießung von Sagallo* und
nach dem Fiasko des Generals Boulanger** wesentlich kühler gewor-
den waren, ist in den letzten Wochen eine entschiedene Wendung im
Sinne einer Annäherung zwischen beiden Ländern erfolgt.
Bis zu den höchsten Kreisen hinauf war im vorigen Jahre hier
vielfach noch die Hoffnung verbreitet, daß die von den boulangisti-
schen Parteien getragene Bewegung gegen die jetzigen Machthaber
in Frankreich schließlich zur Wiederherstellung der Monarchie führen
könnte; diese Hoffnung war mit der Niederlage jener Parteien und
dem glänzenden Gehngen der Ausstellung als Säkularfeier der Revo-
lution*** geschwunden; beim Kaiser Alexander aber hatte sich die
Abneigung gegen das republikanische Frankreich immer mehr aus-
geprägt. Alle Aufmerksamkeiten, welche den die Ausstellung besuchen-
* In der zweiten Hälfte Januar 18S9 war der „freie Kosake" Aschinow in Ver-
folg seiner Bemühungen, nähere, besonders auch kirchHche Beziehungen /wischen
Rußland und Abessinien zustande zu bringen und womöglich am Golf von Aden
eine russische Kolonie zu gründen, bei Sagallo, in der Einflußsphäre der fran-
zösischen Kolonie Obock gelandet. Da er den Befehlen der französischen Autori-
täten, den Ort zu verlassen, nicht nachkam, vielmehr die russische Flagge hißte,
kam es zu der Beschießung Sagallos durch den französischen Kreuzer Seignelay.
Dieser Zwischenfall führte, obwohl das französische Vorgehen gegen Aschinow
erst erfolgte, nachdem die russische Regierung ihn völlig desavouiert hatte, zu
einer lebhaften Verstimmung der slawophilen Kreise in Rußland und Frankreich
und veranlaßte scharfe Angriffe der Patriotenliga (die dafür am 28. Februar auf-
gelöst wurde), gegen die französische Regierung.
** Am 13. August 1SS9 war Boulanger von dem Ausnahmegerichtshof des Kom-
plotts des Attentats und der Unterschlagung für schuldig erklärt und zur De-
portation verurteilt worden. Das bedeutete, wie die Folge lehrte, das Ende des
Boulangismus. .Am 30. September 1S91 verübte Boulanger in Brüssel Selbstmord.
*** Am 5. AUi 1S89 war in Versailles die Erinnerungsfeier des Zusammentretens der
französischen Generalstaaten (1789) mit großem Pomp begangen worden. Tags
darauf fand die Eröffnung der Pariser Weltausstellung statt. Wegen des pronon-
ciert republikanischen Charakters, der der Weltausstellung durch die Jahrhundert-
feier der Revolution aufgeprägt wurde, beobachteten die diplomatischen Vertreter
der europäischen Großmächte, einschließlich des russischen Botschafters während
der Eröffnungsfeierlichkeiten völlige Zurückhaltung.
191
den Russen in Frankreich erwiesen wurden, vermochten die in hie-
sigen maßgebenden Kreisen Frankreich gegenüber herrschende Stim-
mung nicht zu bessern, und als schließlich der von der französischen
Presse immer von neuem angekündigte Besuch der Ausstellung durch
den Großfürsten-Thronfolger unterblieb, machte die hiesige franzö-
sische Vertretung kein Hehl aus ihrer Verstimmung über das geringe
Entgegenkommen, welches die russenfreundliche Haltung der Pariser
Regierung hier finde.
Deuteten nun in der letzten Zeit schon verschiedene Symptome
darauf hin, daß man hier mit der Haltung der französischen Regierung
jetzt sehr zufrieden sei, so kommen die vor einigen Wochen in Paris
erfolgten Verhaftungen russischer Nihilisten zu einem sehr geeigneten
Zeitpunkte, um diese günstige Stimmung zu fördern. Zwar sind die
französischen Nachrichten über die Aufnahme, welche das Vorgehen
der französischen Regierung bei der Entdeckung des Nihilistenkomplottes
hier gefunden haben soll, weit übertrieben, doch ist nicht zu leugnen,
daß dieses Vorgehen hier in hohem Maße und jedenfalls viel mehr als
die analogen Dienste, welche wir zu wiederholten Malen den Russen
zu leisten in der Lage gewesen sind, anerkannt worden ist*. Der
Kaiser selbst hat, wie ich aus guter Quelle weiß, befohlen, der fran-
zösischen Regierung mit besonderer Wärme seinen Dank auszuspre-
chen, und die in der Presse auftauchende Nachricht, daß demnächst
hohe russische Ordensauszeichnungen an die französischen Staats-
männer zur Verteilung gelangen werden**, erscheint nach vertraulichen
Andeutungen, die mir gemacht worden sind, nicht unwahrscheinlich.
Bezeichnend für die Art, mit welcher französischerseits jede Ge-
legenheit zur Pflege der russischen Freundschaft benutzt wird, ist das
Auftreten der Franzosen bei dem gegenwärtig hier tagenden Gefängnis-
kongreß. Nicht weniger als 35 Franzosen, darunter allerdings zahlreiche
nichtoffizielle Delegierte, sind zur Teilnahme an diesem Kongreß hier
eingetroffen; der erste von ihnen ist der Generaldirektor der Ge-
fängnisse in Frankreich Herr Herbette, ein Bruder des Botschafters
in Berlin. Als besondere Aufmerksamkeit ist derselbe zum „Gehilfen
des Präsidenten" bei dem Kongreß gemacht worden, während die
eigentliche Vizepräsidentenstelle dem Unterstaatssekretär Braunbehrens
aus dem preußischen Ministerium des Innern zugefallen ist.
Herr Herbette und seine Kollegen bieten nun alles auf, um aus
* Seit Ende April 1890 war der neue französische Minister des Innern mit
aller Schärfe gegen die anarchistisclien Agitatoren in ganz Frankreich, unter
denen sich viele russische Nihilisten befanden, vorgegangen; u. a. wurden am
29. Mai elf Russen und vier Russinnen bei der Fabrikation von Sprengstoffen er-
tappt und verhaftet.
** Die Verleihung von russischen Ordensauszeichnungen an französische Staats-
männer erfolgte erst im Frühjahr 1891, indem Präsident Carnot im März den
Andreasorden, Ministerpräsident Freycinet und Außenminister Ribot im Mai das
Großkreuz des Alexander-Newsky-Ordens empfingen. Vgl. Nr. 1494.
192
dem Kongreß für die russisch-französische Verbrüderung möglichst
viel Kapital zu schlagen; sie lassen keine Gelegenheit unbenutzt, um
in Reden den Russen zu schmeicheln, die Sympathien Rußlands
für Frankreich zu betonen und für die russisch-französische Freund-
schaft Reklame zu machen. Während alle übrigen Länder sich damit
begnügt haben, die ihnen zugewiesenen Tische im Ausstellungsraum
mit ihren Landesfarben zu schmücken, sind in der französischen Ab-
teilung zahlreiche Fahnenembleme angebracht, bei welchen die russische
Flagge mit der französischen verschlungen erscheint.
Das Auftreten der Franzosen fällt bei den anderen auswärtigen
Vertretern allgemein auf, und selbst in russischen Kreisen findet man,
wie mir vertraulich mitgeteilt wird, daß französischerseits „die Note
etwas forciert wird".
Überhaupt möchte ich die unmaßgebliche Ansicht aussprechen,
daß, wenn auch das Buhlen der Franzosen um russische Gunst gegen-
wärtig hier wieder mehr Entgegenkommen findet und den Russen
das heutige Frankreich jetzt bündnisfähiger erscheinen mag als noch
vor einigen Monaten, dennoch zurzeit von einer Annäherung zwischen
beiden Ländern von größerer politischer Bedeutung, das heißt mit
Übernahme gegenseitiger Verpflichtungen nicht die Rede sein dürfte.
Die Russen wissen zu gut, daß sie, ohne sich zu engagieren, der fran-
zösischen Unterstützung jederzeit, wenn sie sie brauchen, sicher sind.
F. Pourtales
Nr. 1490
Der Botschafter in Paris öraf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 166 Paris, den 24. Juni 18Q0
Verschiedene Zeitungen haben die zuerst durch das „Morning
Chronicle" gebrachte Nachricht von dem vollzogenen Abschlüsse eines
neuerdings abgeschlossenen Bündnisses zwischen Frankreich und Ruß-
land verbreitet.
Nach meinen Beobachtungen zweifle ich entschieden daran.
Die Russen wissen recht gut, daß sie im Falle des Krieges auf
Frankreich rechnen können, und daß es dazu eines Bündnisses, welches
leicht unbequem werden könnte, nicht bedarf. Ein mir bekannter
General sagte: „Les Russes regardent la Republique Frangaise comme
une cocotte que Ton peut avoir quand on la desire, sans mariagei."
Das schildert die Lage richtig. Liebesverhältnis für eine gewisse Zeit,
den Krieg, ja; Ehe, d. h. Bündnis im Frieden, nein 2.
Sollten die Russen auf positiven Abmachungen bestehen, was ich
nicht glaube, so würden selbst die Franzosen nicht leicht darauf ein-
gehen, weil das Mißtrauen gegen die Russen doch immer groß ist. pp.
13 Die Große Politik. 7. Bd. 193
Den durch die Presse verbreiteten Nachrichten über die Allianz
können Börsenspekulationen zugrunde liegen, auch haben unsere Ver-
handlungen mit England* die öffentliche Meinung hier sehr erregt, und
ist vielfach der Glaube verbreitet, als ob geheime Abmachungen über
Äg}'pten und den Beitritt Englands zur Tripelallianz existierten. Als
Antwort darauf wurde der französisch-russische Allianzabschluß er*
funden.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Sehr gut
2 stimmt
Nr. 1491
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 186 Paris, den 26. Juli 1890
Die Gerüchte von dem Abschluß einer russisch -französischen
Allianz werden von Zeit zu Zeit absichtlich verbreitet, namentlich ge-
schieht das dann, wenn die Isolierung Frankreichs besonders fühlbar
wird. Ich glaube entschieden nicht daran, und meine hiesigen Kollegen
sind derselben Ansicht.
Die älteste Tochter des russischen Botschafters Baron von Mohren-
heim hat sich mit einem französischen Offizier, le Vicomte de Seze,
verlobt. Er ist der Großsohn des Verteidigers von Louis XVI. Ich be-
nutzte diesen Umstand, um Herrn Ribot** etwas auf den Zahn zu fühlen,
und sagte ihm ganz ruhig: „Ich gratuliere zur russisch-französischen
Allianz.'' Über diese Anrede erschrak er so, daß ich erst glaubte, es
sei etwas daran. Er erholte sich erst, als ich ihm sagte, ich habe die
Mohrenheimsche Verlobung gemeint.
Im weiteren Verlauf des Gespräches sagte Herr Ribot, er wisse,
daß Gerüchte wegen Abschlusses einer Allianz verbreitet würden, es
bedürfe aber seinerseits nicht der Versicherung, daß dies unwahr sei.
Er wolle für Frankreich la pleine liberte d'action bewahren und sich
nach keiner Seite binden.
Ich glaube, daß seine Äußerungen aufrichtig waren, und daß, wenn
er in der auswärtigen Politik sich etwas rühriger zeigt, er es lediglich
tut, um sich selbst zu halten und um Waffen gegen parlamentarische
Angriffe in der Hand zu haben.
Anlaß zu den Gerüchten können auch die Demonstrationen gegeben
* Gemeint sind die Helgoland— Sansibar-Verhandlungen, die am 1. Juli zum Ab-
schluß gelangten. Vgl. Bd. VIII, Kap. LI.
** Minister des Äußern im Kabinett de Freycinet, seit Mitte März 1890.
194
haben, welche immer wieder in Szene gesetzt werden, sowie sich ein
Russe in hoher Stellung hier zeigt. So wurden dem russischen Kriegs-
minister Wannowski in Vichy Ovationen gebracht und die russische
Nationalhymne gespielt, wo er sich blicken läßt. Ebenso wird im
hiesigen Hippodrom, welches die Stimmung zu benutzen und zu be-
einflussen sucht, Jeanne d'Arc, die nicht zieht, durch ein russisches
Schaustück bald ersetzt werden.
Das nutzt nicht viel, und, was die Russen betrifft, so glaube ich
noch an den Vergleich zwischen einer Kokotte und der angetrauten
Frau und glaube, daß der Kaiser von Rußland Frankreich so ansieht
und weiß, daß er Frankreich haben kann, wenn er in Form eines
Krieges zahlen wollte.
Münster
Nr. 1492
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 1 - Paris, den 4. Januar 1891
pp.* Wie das Verhältnis zu Rußland steht, ist sehr schwer zu
erkennen. An den Abschluß einer festen russisch-französischen Allianz
glaube ich noch immer nicht i, wohl an militärische Verabredungen
für den Fall des Krieges 2**.
Herr Ribot ist ein früherer Jurist und guter parlamentarischer
Redner, aber ohne jede diplomatische Schulung und politischen Über-
blick. Er wird sich leichter von den Russen hinter das Licht führen
lassen als seine Vorgänger, pp.
Der russische Botschafter von Mohrenheim wird doch immer mehr
als lächerliche Figur betrachtet. Er läßt sich überall Ovationen bereiten.
So z. B. hat er mit seiner Familie und dem ganzen Botschafts-
personale vorige Woche das Theater des Folies bergere besucht, wo
sich einige russische Sängerinnen hören ließen. Es waren drei Logen
besonders für die russische Botschaft dekoriert worden; die Zuschauer
erhoben sich, als Mohrenheim erschien, die russische Hymne wurde ge-
spielt und auf Verlangen wiederholt, und nahm derbezahlte Applaus kein
Ende. Das ist auch den Franzosen zu stark gewesen, zumal da das
* Den Anfang des Berichts siehe in Kap. XLVIII, Nr. 1544.
** In der Tat hatten die ersten Besprechungen über ein Einvernehmen des russi-
schen und französischen Generalstabes im Hinblick auf einen Krieg gegen die
Dreibundmächte schon im Sommer 1890, gelegentlich einer Reise des Generals
de Boisdeffre zu den russischen Manövern stattgefunden. Siehe die Depesche des
französischen Botschafters in Petersburg de Laboulaye vom 24. August 1890.
Troisieme Livre Jaune Fran^ais. L'Alliance Franco-Russe (1918), p. 63; zu festen
Verabredungen kam es bekanntlich erst im August 1892.
n« 195
Theater des Folies bergere ein Vergnügungslokal der allerleichtfertig-
sten Sorte ist, ein Ort, an dem sich selbst Herren der guten Gesell-
schaft nicht gern zeigen. — pp. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ich auch nicht
2 ja
Schlußbemerkung des Kaisers:
Gut
Nr. 1493
Der Militärbevollmächtigte in Petersburg General von Villaume an
Kaiser Wilhelm II.
Abschrift
Nr. 165 St. Petersburg, den ^^' ^f^ 1891
21. Februar
Als die Zeitungen den Brief veröffentlicht hatten, in welchem
Ew. Majestät der französischen Akademie Allerhöchstdero Teilnahme an
dem Verlust des Malers Meissonier allergnädigst Ausdruck zu geben
geruhten, als ferner der Entschluß zahlreicher berühmter Künstler,
die Berliner Ausstellung zu beschicken, fast gleichzeitig mit der Reise
Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich nach Paris bekannt wurde*,
machte man mir bei verschiedenen Gelegenheiten Anspielungen, aus
denen die Besorgnis deutlich hervorsah, daß sich auf dem neutralen
Boden der Kunst eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutsch-
land vollziehen könne. Der Passus in der Rede Ew. Majestät Statt-
halters von Elsaß-Lothringen**, „daß beiderseits Hoffnung auf eine
Rückkehr zu normalen Beziehungen bestehe", verstärkte noch diese
Befürchtungen, da auch sonst ganz verständige Leute an der Ansicht
festhielten^ daß die Herstellung eines vernünftigen modus vivendi
zwischen Deutschland und Frankreich nur auf Kosten der freund-
schaftlichen Beziehungen des letzteren mit Rußland zustande kommen
könne.
Die Presse teilte und nährte selbstverständlich diese falsche Auf-
fassung, indem sie daran erinnerte, daß die freundliche Aufnahme,
welche seinerzeit Lesseps und Simon in Berlin gefunden, in Frankreich
ebenso sympathisch berührt habe wie die jüngsten Aufmerksamkeiten,
welche der französischen Künstlerwelt erwiesen seien. Ununterrichtet
* Siehe darüber Kap. XLVIII, Nr. 1546«.
** Am 25. Februar hatte Fürst von Hohenlohe auf einem Diner des Landes-
ausschusses von Elsaß-Lothringen eine Ansprache gehalten, die in die Hoffnung
ausklang, daß in den Beziehungen zwischen dem Reichslande und dem Reiche, die
früher getrübt gewesen seien, wieder gegenseitiges volles Vertrauen Platz greifen
werde. Auf die deutsch-französischen Beziehungen spielte Hohenlohe in seiner
Rede nur leise an.
196
wie immer, behauptete sie, daß Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich
das erste Mitglied des erlauchten preußischen Königshauses sei, welches
nach dem Kriege 1870/71 französischen Boden betreten habe, daß
allerhöchstdieselbe mit einer politischen Mission betraut sei und dem
Nationalgefühl sowie der Künstlerwelt schmeicheln solle, um den Haß
der Franzosen zu besänftigen und einen versöhnlichen Verkehr zwischen
beiden Nationen anzubahnen.
Ebenso allgemein wie diese Besorgnis war daher auch die Freude,
als der Telegraph den neuen Sieg des Chauvinismus in Paris meldete.
Der einmütige Jubel der hiesigen Presse über „diesen Mißerfolg
Deutschlands** beweist, wie groß und schwer der Stein gewesen sein
muß, der bisher auf ihrem Herzen gelegen hatte. Auch nicht eine
Zeitung hatte eine Wort der Mißbilligung für die taktlosen Mani-
festationen der Chauvinisten oder ein Gefühl für die beschämende
Rolle, welche in erster Linie französische Künstler, ferner die grande
nation im allgemeinen und endlich die französische Regierung im
speziellen in dieser Angelegenheit spielten, indem sie sich von Ele-
menten beherrschen ließen, welche sie selbst mit anerkennenswerter
Energie und unter allgemeiner Zustimmung vor kurzem erst nieder-
geworfen hatten. Im Gegenteil! Alle schieben Deutschland die Schuld
in die Schuhe; denn, wie der „Grashdanin" sagt, der Sieger, der es
wagt, nach Niederwerfung, Ruinierung und Beleidigung des Schwäche-
ren so ganz ohne Umschweife sich in „der von ihm zerstörten Stadt"
einzufinden, muß auf solche Ablehnung gefaßt sein. Auch die ,,Nowoje
Wremja" glaubt, daß das Terrain für derartige Annäherungsversuche
noch nicht genügend vorbereitet gewesen sei, da der Haß gegen
Deutschland in Frankreich eher zu- als abgenommen habe und kein
Opfer, keine Zuvorkommenheit Deutschlands imstande seien, ihn zu
besänftigen, solange die Wunden, die der französischen Eigenliebe
geschlagen, nicht geheilt und ihrem verletzten Stolz nicht Genugtuung
gegeben sei. Wenn es demnach auch erwiesen sei, daß die ungeheuere
Majorität der französischen Nation von einer Annäherung an Deutsch-
land nichts wissen wolle und mit den Ideen eines Jules Ferry und
Genossen nicht sympathisiere i, so könne man trotzdem von einer Ohn-
macht der französischen Nation der chauvinistischen Agitation gegen-
über nicht sprechen. Denn die französische Gesellschaft habe oft genug
bewiesen, daß sie sich durch den Chauvinismus eines Deroulede und
der Patriotenliga nicht fortreißen ließe, wenn deren Ausfälle der Stim-
mung der Majorität nicht entsprächen; diesmal aber sei der Boden
für den Protest gegen die Beteiligung der französischen Künstler an
der Berliner Ausstellung schon genügend vorbereitet gewesen. Wo-
durch verschweigt die Zeitung.
Die „Nowosti" werfen Deutschland vor, daß es um gar zu billigen
Preis „die blutigen Beleidigungen und rohen Vergewaltigungen" habe
vergessen machen wollen, mit deren Hülfe das heutige Deutsche Reich
197
geschaffen sei; Frankreich sei doppelt im Recht, da sich Deutschland
ihm gegenüber ein doppeltes Unrecht habe zuschulden kommen lassen:
„denn es hat vom lebendigen Staatskörper Frankreichs ein zuckendes
Stück Fleisch nicht nur losgerissen, sondern behält es auch jenem
Gerechtigkeitsprinzip zuwider, welches das französische Volk mehr als
einmal aufgestellt hat."
Freund Deroulede und Genossen werden eifersüchtig auf den
Redakteur der „Nowosti" werden, welcher ihrem chauvinistischen
Wortschatz solche Schlagwörter entlehnt. Dafür kann sich dieser un-
versöhnliche Revancheapostel aber an dem Weihrauch erfreuen, den
der „Swjet", die „Moskowski Wjedomosti" und andere panslawistische
Hetzblätter „dem ruhmvollen Manne" streuen, „dem in dieser An-
gelegenheit die hervorragendste, glänzendste und sympathischste Rolle
gebührt, der einen glänzenden Sieg errungen und die Gemüter in
Frankreich aufgeklärt und ernüchtert hat". Dem „Swjet" scheint sehr
viel daran zu liegen, daß die alte Feindschaft zwischen Deutschland
und Frankreich fortbestehen möge; denn er ist hocherfreut darüber,
daß das Meeting, welches Deroulede veranstaltete, und der Eidschwur,
den die tausendköpfige Menge leistete, gerade ä propos gekommen
seien, um den Mut des heutigen Frankreichs wieder zu heben und
zu stählen.
Die „Moskowski Wjedomosti" erblicken in dem abschlägigen
Bescheid der französischen Künstler nur „die Bestätigung edelsten,
patriotischen Gefühls", welches erweckt zu haben den energischen
Vertretern desselben, in erster Linie Herrn Deroulede zum Ruhme
gereiche.
So hat sich nicht nur die russische Presse in dieser Angelegen-
heit wieder einmal in seltener Einmütigkeit auf die Seite unserer
Gegner gestellt, sondern auch die Mehrzahl der Russen, mit denen
ich darüber zu sprechen Gelegenheit hatte, konnte ihre Schadenfreude
über „diesen Mißerfolg Deutschlands" und dessen vereiteltes Bemühen,
Frankreich von Rußland zu trennen, nur schwer verhehlen. Zu der
Klärung im Westen, die für uns dieser Zwischenfall herbeigeführt,,
tritt auf diese Weise auch noch die im Osten hinzu 2,
Aber derselbe hat auch noch nach einer anderen Richtung hin
aufklärend gewirkt, indem er ein scharfes Schlaglicht auf die dunkeln,
unberechenbaren Zustände in Frankreich geworfen, die man hier teils
nicht sehen, teils nicht zugeben wollte. Die völlig haltlose Schwäche,
mit der die große Majorität und vor allen die Regierung in Frank-
reich dem Treiben eines Deroulede, Laur u. a. ruhig zugesehen haben,
anstatt mit einem energischen quos ego dazwischen zu fahren, und
die Folgerung daraus, daß heut wie vor 20 Jahren die Entschlüsse
der grande nation nicht durch patriotische Einsicht und Besonnen-
heit geleitet werden, sondern von jenem als Chauvinismus bezeichneten
Zerrbild wahrhafter Vaterlandsliebe, welches 1870 die Massen in den
198
Ruf „ä Berlin" ausbrechen ließ und heut den Versuch einer An-
näherung auf neutralem, geistigem Gebiete durch wüsten Terrorismus
vereitelt hat — , diese Erkenntnis hat die vernünftig denkenden Leute
und die Anhänger des Friedens auch hier stutzig gemacht. Die un-
bestreitbare Beruhigung der Gemüter, welche in der letzten Zeit hier
Platz gegriffen hatte, ebenso wie das Vertrauen in die Zukunft sind
erschüttert, weil Frankreich unter der Herrschaft des aufs neue er-
wachten verhängnisvollen Chauvinismus jetzt auch den Russen als
ein unberechenbarer Faktor erscheint, der über Nacht Europa in einen
Krieg stürzen kann.
Die energische, deutliche Antwort Deutschlands in der Form einer
schärferen Handhabung der Paßvorschriften an der französischen
Grenze und die Einmütigkeit, mit der sich bei dieser Gelegenheit
die Deutschen um Kaiser und Reich scharten, haben hier ebenfalls
Eindruck gemacht, gleichzeitig aber die Besorgnis hervorgerufen, daß
die schnöde Zurückweisung des deutschen Entgegenkommens vielleicht
noch weitere, den Frieden gefährdende Folgen haben könne. Während
daher gestern noch die französischen Patrioten belobt und ermutigt
wurden, wiegelt man heut schon wieder ab; einerseits wirft man der
französischen Regierung Mangel an Entschlossenheit und Selbstver-
trauen vor und rät dem französischen Publikum sowie der Presse,
den aufreizenden Gegenmaßregeln der Deutschen gegenüber die Ruhe
zu bewahren, andererseits hält man uns vor, daß die „naiven Mani-
festationen" eines Deroulede und Genossen ja nicht die Mehrheit
des französischen Volkes hinter sich hätten und daher nicht wert
wären, die Beruhigung der Gemüter zu beeinträchtigen 3.
So tut auch das offiziöse „Journal de St. Petersbourg" „des ärger-
lichen Zwischenfalls, der soeben einen leichten Schatten auf die Be-
ziehungen zwischen Deutschland und Frankreich geworfen", in sehr
zarter, sanft abgetönter Weise Erwähnung und gibt der Hoffnung
Ausdruck, daß man auf beiden Seiten der Vogesen sich Mühe geben
werde, diese leichte Wolke zu zerstreuen.
Zu dieser allerdings nur scheinbaren Umstimmung zu unseren
Gunsten hat außer dem beunruhigenden Gefühl, welches die Wider-
standsunfähigkeit der französischen Regierung den chauvinistischen
Agitationen gegenüber einflößt, auch die Erkenntnis mitgewirkt, daß
die französische Unversöhnlichkeit doch die größte Kriegsgefahr in
Europa bildet. Im allgemeinen sieht man daher jetzt mit mehr Be-
sorgnis als bisher in die Zukunft, in der entweder ein plötzlicher
Ausbruch des Chauvinismus in Frankreich oder das Ende der Lang-
mut und Geduld in Deutschland zwischen den beiden Ländern
ernstere Verwicklungen eher herbeiführen könne, als man es hier
wünscht.
Denn es gibt zurzeit keine kriegerisch gesinnte Partei in Ruß-
land, und teils offen, teils versteckt grollt man dem stillen Verbündeten,
199
daß er es war, der Europa plötzlich aus dem Friedensschlummer auf-
gerüttelt hat, in den man dasselbe von hier aus seit mehr als Jahres-
frist einzulullen bemüht gewesen ist. Außerdem will man sich aber
auch nicht von dort die Stunde der Demaskierung vorschreiben lassen,
sondern dieselbe hier an der Newa bestimmen, wenn man alle seine
Vorbereitungen beendet hat*.
Daß diese Interessengemeinschaft zwischen Rußland und Frank-
reich sich auch bei dieser Gelegenheit wieder betätigt hat, darin liegt
ein weiterer Vorteil der Klärung der Situation, die wir diesem Zwischen-
fall verdanken. (gez.) von Villaum e
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Freycinets Ansicht auch!
2 ja
' ! demnach war es aber mit der vorher betonten Niederlage nichtsi
* richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Sehr klar und richtig.
Nr. 1494
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 72 Paris, den 6. April 1891
Die Verleihung des russischen St. Andreas-Ordens an den Präsiden-
ten Carnot, die feierliche Audienz, bei der der Botschafter Mohren-
heim diese hohe Dekoration überreichte*, sowie die Verleihung des
Großkreuzes der Ehrenlegion an den Baron von Mohrenheim haben
hier ein gewisses Aufsehen erregt.
Die hiesige Presse aller Parteien ist bemüht gewesen, dieser russi-
schen Demonstration die größte Wichtigkeit beizulegen, und viele
klug redende kleinere Diplomaten wollen darin ein untrügliches
Zeichen einer wirklich abgeschlossenen russisch-französischen Allianz^
erblicken.
Wenn einesteils die Bedeutung des Andreas-Ordens selbst über-
trieben wurde, da der Kaiser von Rußland, wenn er überhaupt den
Staatschef der Republik dekorieren wollte, ihm doch seinen höchsten
Orden geben mußte, so ist allerdings die Verleihung des Ordens
selbst insofern von großer Bedeutung, als sie zeigt, daß die Abneigung
des Kaisers gegen die Republikaner nicht so groß ist, als angenommen
wurde, und diese Abneigung des Zaren nicht mehr als ein unüber-
windliches Hindernis einer Verständigung angesehen werden darf.
♦ Sie fand am 25. März statt
200
Dagegen habe ich noch keine bestimmten Anzeichen dafür, daß
durch den Abschluß eines wirkHchen Allianzvertrags das Verhältnis
Rußlands zu Frankreich eine Änderung erfahren habe. Daß im Falle
eines Krieges beide Mächte aufeinander rechnen, ist nicht zu be-
zweifeln; ebenso bin ich davon überzeugt, daß für den Fall eines
Krieges auf militärischem Gebiete Verabredungen getroffen worden
sind. Sollte, was ich bis jetzt nicht annehme, zwischen beiden Re-
gierungen ein wirklicher Allianzvertrag abgeschlossen worden sein,
so würde ich das nicht für gefährlicher und wichtiger halten als den
bisherigen Zustand.
Ich gebe überhaupt sehr wenig auf Verträge der Art: oft liegt
in ihnen selbst ein Keim des Zwistes, und dann halten sie nur so
lange, als die eine oder andere Macht darin noch einen Vorteil sieht
und der anderen Macht auch in gefährlichen Zeiten Vertrauen schenken
kann. Trotz aller Russenfreundlichkeit, die bei den meisten lebenden
Franzosen doch nur ein Produkt des Hasses gegen uns ist, herrscht
doch gegen den Herrscher Rußlands und das ganze russische Re-
gierungssystem das größte Mißtrauen, und dies ist größer, als die
Franzosen, die sich in Europa ganz isoliert fühlen, zugestehen wollen.
Daß in letzter Zeit von beiden Seiten alles geschieht, um die
guten Beziehungen zu pflegen, und daß von russischer Seite alles
geschehen ist, um die Annäherung Frankreichs an uns zu erschweren,
haben wir ja noch kürzlich erfahren.
Die französische Ausstellung in Moskau wird zur Verbrüderung
und Liebeserklärungen zwischen Russen und Franzosen sehr aus-
gebeutet werden.
Vorläufig scheint das noch alles platonisch bleiben zu sollen, pp.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ noch nicht
Nr. 1495
Bericht des Militärattaches in Paris Rittmeisters von Funcke*
Abschrift
Nr. 16 Paris, den 13. April 18Q1
Geheim
pp. Über die politische Lage zwischen Frankreich und Deutsch-
land hat General Gallifet sich gleichfalls dem General von Loe sehr
* Der Bericht betrifft „Mitteilungen des Generals Gallifet an den General der Ka-
vallerie und Kommandierenden General des 8. Armeekorps Freiherrn von Loe
gelegentlich seiner kürzlichen Anwesenheit in Paris und Besuches beim General
Gallifet". Hier interessieren nur die Mitteilungen über die politische Lage. Über
die Beziehungen Freiherrn von Loes zu Gallifet vgl. L. v. Schlözer, General-
feldmarschall Freiherr von Loe (1914), S. 26ff., 209 f.
201
offen und klar ausgesprochen. „In beiden Nationen wünsche niemand
den Krieg, aber alle vernünftigen Leute seien der Ansicht, daß er
wegen Elsaß-Lothringen unvermeidhch sei^. Gewiß werde Frankreich,
wenn nicht ungewöhnliche und unerwartete Zwischenfälle einträten,
den Krieg nicht beginnen. Wenn aber Rußland den Krieg gegen
Deutschland begänne, so sei keine Regierung imstande, Frankreich
zurückzuhalten 2. Eines Vertrages zwischen Frankreich und Rußland
bedürfe es dazu nicht. Der Vertrag läge in der Interessengemein-
schaft 3, und es würde nur eines Zwischenfalles auf dem Balkan be-
dürfen, um den friedlichen Kaiser von Rußland zu zwingen, den Krieg
gegen Österreich zu beginnen*.'*
(gez.) von Funcke
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
* richtig
3 stimmt
* sehr wahr!
Schlußbemerkung des Kaisers:
London, Wien, Rom mitth[eilen] sehr interessant
Nr. 1496
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales
Nr. 136 Berlin, den 14. April 1891
Geheim [abgegangen am 15. April]
Ganz vertraulich
Vor kurzem hat ein auf der Durchreise begriffener russischer
Zivilbeamter den Prinzen Albert von Sachsen-Altenburg* hier auf-
gesucht und demselben über die Lage in Rußland Enthüllungen ge-
macht, über welche der Prinz dem Herrn Reichskanzler nachstehendes
mitgeteilt hat:
„Bisher sei der Ausbruch eines Krieges Rußlands und Frank-
reichs gegen uns nur durch den Zaren verhindert worden. Die Pan-
slawistenführer seien indessen überzeugt, daß es ihnen gelingen werde,
den Zaren mit sich fortzureißen, sobald sie den Moment für ge-
kommen hielten. Dieser Moment sei der nächste Herbst. So gut
der Zar sich jetzt habe dazu bringen lassen, dem Präsidenten der
* Kommandeur der 3. Garde-Kavallerie-Brigade, ehemals Kaiserlich Russischer
General.Tiajor.
202
französischen Republik den Andreas-Orden zu verleihen, werde er sich
auch zum Kriege bringen lassen. Man wähle den nächsten Herbst,
weil dies ein militärisch günstiger Zeitpunkt sei. An sich sei der
Winter immer den Russen günstiger als uns; bis zum nächsten würde
aber die russische Infanterie das neue Gewehr haben, und die den
Krieg vorbereitende Dislokation vollendet sein. Zu diesem Behuf würde
jetzt die 22. Division nach Polen verlegt. Alle einflußreichen Stellen
in der Armee seien mit Männern besetzt, die in panslawistischen
Ideen lebten."
Prinz Albert von Sachsen-Altenburg versichert, daß sein Gewährs-
mann, den er aus der Petersburger Gesellschaft oberflächlich kannte,
dessen Namen er sich aber durch Ehrenwort verpflichtet hat nicht
zu nennen, einen durchaus zuverlässigen Eindruck gemacht habe, auch
habe derselbe Personen und Verhältnisse, welche Seiner Durchlaucht
bekannt genug seien, um eine Kontrolle zu gestatten, mit photographi-
scher Treue geschildert.
Wiewohl ich Bedenken trage, obigen Mitteilungen großen Wert
beizumessen, zumal dieselben in militärischer Hinsicht mit dem bisher
hier bekannt Gewordenen keineswegs übereinstimmen, so habe ich
doch nicht unterlassen wollen, Ew. pp. davon zu Ihrer ganz vertrau-
lichen persönlichen Information in Kenntnis zu setzen, zumal Prinz
Albert von Sachsen-Altenburg auch Seine Majestät den Kaiser von
den ihm gemachten Eröffnungen informiert hat.
Ich stelle ergebenst anheim, diesen Erlaß nach Kenntnisnahme
zu vernichten.
Marschall
Nr. 1497
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 111 St. Petersburg, den 17. April 1891
Geheim
Den hohen geheimen Erlaß vom 14. d. Mts. Nr. 136* habe ich
die Ehre gehabt zu erhalten, nach Kenntnisnahme ist er vernichtet
worden.
Euer Exzellenz werden aus den Berichten, welche ich unter dem
Eindrucke der Dekorierung Monsieur Carnots schrieb, geneigtest er-
sehen haben, daß ich dieser Äußerlichkeit große Bedeutung beilege;
sie beweist nämlich, daß der Zar auf dem Wege zur Intimität mit
* Siehe Nr. 1496.
203
der Republik jetzt zu Schritten bewogen werden kann, welche er
vor einem Jahre nicht getan haben würde.
Dies ist nun, obwohl die Abneigung Alexanders III. gegen die
Greuel und die Unbequemlichkeiten eines Krieges die alte bleibt, von
schwerwiegenden Folgen, denn die weitverbreiteten und berechtigten
Zweifel, ob der Kaiser sich entschließen könne, mit dem republikani-
schen Frankreich zusammenzugehen, sind geschwunden, sowohl dort,
als auch im übrigen Europa und namentlich hier.
Die Wirkungen dieser Tatsache zeigen sich schon jetzt oft und
deutlich; man sucht zwar noch nicht nach einem Kriegsfalle, aber
on a le verbe plus haut, und andere Staaten regeln ihre Haltung nach
den offenkundig enger gewordenen Beziehungen zwischen dem Zaren
und der Republik.
Nach den Euerer Exzellenz bekannten Vorgängen vom ^0. bis
22. März v. Js.* konnte es uns nicht überraschen, daß Rußland mehr
Anlehnung an Frankreich suchte als zuvor; hierzu war es nicht nur
berechtigt, sondern sogar gezwungen; aber die persönliche Beteiligung
des Zaren am Austausche demonstrativer Artigkeiten war nicht not-
wendig; durch diese wird eine Veränderung der Lage konstatiert,
wenn man auch gern zugibt, daß es nur durch den Appell an die
väterlichen Gefühle gelang, den Kaiser zur Verleihung des Andreas-
Ordens an den Präsidenten zu bestimmen, der seinen Söhnen große
Aufmerksamkeiten erwies.
Einen wachsenden Einfluß des Panslawismus kann ich nicht wahr-
nehmen; im Gegenteil: Ich wage zu behaupten, daß er der groß-
russischen Partei das Feld geräumt hat; dies ist ungünstig für uns,
denn ersterer richtet seine Aspirationen nach Süd und Südwest, letztere
aber gegen Westen. Die Panslawisten blicken nach den slawischen
Provinzen Österreich-Ungarns und nach den Balkanstaaten, die Pan-
russen wollen Deutschland demütigen; hiernach fällt ihnen, wie sie
glauben, alles übrige von selbst zu.
In dem systematischen Aufmarsche der russischen Armee im
Westen des Reiches ist, so wie mir bekannt, weder eine unvorher-
gesehene Änderung noch eine Beschleunigung eingetreten; ein Grund,
unser Volk mit Befürchtungen eines nahen Krieges gegen Rußland
zu erfüllen, liegt also nicht vor; für unsere militärische und diplo-
matische Tätigkeit ist es aber nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten
notwendig, in Rechnung zu ziehen, daß die Garantie, welche wir in
der Persönlichkeit des Zaren fanden, weniger zuverlässig ist, als sie
war.
V. Schweinitz
* Gemeint ist wohl die mit der Entlassung Bismarcks (20. März 1890) ent-
schiedene Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages.
204
1
Nr. 1498
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow an den Reichskanzler
von Caprivi
jsjr 57 Ausfertigung
Vertraulich Bukarest, den 2. Mai 1891
Seine Majestät der König Karl teilte mir vertraulich den Inhalt
eines Berichtes mit, welchen er von seinem Gesandten in St. Peters-
burg, Herrn Emil Ghika, über eine Unterredung desselben mit Herrn
von Giers erhalten hat. pp.
Über die europäische Gesamtsituation habe Herr von Giers be-
merkt, daß von französischer Seite neuerdings große Anstrengungen
gemacht worden wären, um einen Allianzvertrag mit Rußland zu-
stande zu bringen; ,,La France a tout fait pour avoir un traite; mais
malgre les instances les plus vives eile ne l'a point obtenu.'' Seine
Majestät der Kaiser Alexander wolle sich mit Frankreich auf kein
festes Vertragsverhältnis einlassen, weil die republikanische Regierungs-
form ihm unsympathisch sei, und auch mit Rücksicht auf die Häufig-
keit der Ministerwechsel in Frankreich. Dies schließe nicht aus, daß
Rußland sich die Zuneigung der Franzosen gern gefallen lasse. „La
France est ä nos pieds, nous aurions mauvaise gräce ä nous en
plaindre." Auch wäre es natürlich, wenn die zwischen den beiden
Staaten bestehenden freundschaftlichen Beziehungen gelegentlich in
gegenseitigen kleinen Aufmerksamkeiten ihren Ausdruck fänden. „Les
petits cadeaux entretiennent l'amitie.*' Die Verleihung des Andreas-
Ordens an Herrn Carnot falle unter diesen Gesichtspunkt. Dieselbe
sei nur eine höfliche Anerkennung einerseits für die zwei russischen
Großfürsten auf französischem Boden erwiesene Gastfreundschaft,
andrerseits für gewisse Gefälligkeiten, welche die französische Re-
gierung auf militärischem Gebiete für Rußland gehabt habe. Mehr
bedeute dieser Orden nicht, denn Rußland wünsche sich nicht zu
binden. Rußland sei gegenwärtig überhaupt mehr mit inneren, als
mit auswärtigen Angelegenheiten beschäftigt, pp.
B. von Bülow
Nr. 1499
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales
Nr. 169
Ganz vertraulich Berlin, den 14. Mai 1891
Ein nichtdeutscher Diplomat hat auf Grund von Informationen
aus sehr guter Pariser Quelle folgendes ganz vertraulich hier mit-
geteilt.
205
Als der Zwischenfall der Kaiserin Friedrich ein bedrohliches Aus-
sehen annahm, hätte die französische Regierung ihren Botschafter in
St. Petersburg beauftragt zu fragen, ob Frankreich im Kriegsfälle auf
russische Kooperation rechnen könne. Die Antwort habe ablehnend
gelautet und der französischen Regierung die Überzeugung gegeben,
daß der Zar keine Lust zum Kriege habe.
Diese Nachricht, welche zwar mit den neuesten Symptomen einer
russisch-französischen Annäherung schwer in Einklang zu bringen ist*,
würde an sich als friedliches Anzeichen gedeutet werden können.
Ew. pp. sind vielleicht in der Lage, etwas Positives über die Sache
in Erfahrung zu bringen.
Marschall
Nr. 1500
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 153 St. Petersburg, den 24. Mai 1891
Ganz vertraulich
Den hohen Erlaß Nr. 169 vom 14. d. Mts.**, betreffend die von
der französischen Regierung an die russische gerichtete Anfrage, ob
sie im Kriegsfalle auf deren Kooperation rechnen könne, habe ich
unter Nr. 137 vom 16. d. Mts. nur vorläufig beantwortet. Ich kann
diese Antwort nunmehr einigermaßen vervollständigen, indem ich von
zuverlässiger Seite gehört habe, daß Herr de Laboulaye, als er vor
seiner Abreise im April Gelegenheit hatte, den Kaiser Alexander zu
sehen, wahrscheinlich also bei der Audienz, in welcher der Botschafter
den Dank des Herrn Carnot für den Andreas-Orden abstattete. Seiner
Majestät nahegelegt hat, daß seine Regierung das Bedürfnis emp-
finde zu wissen, ob sie im Kriegsfalle auf Rußlands Mitwirkung
zählen könne.
Der Zar hat, wie meine auf französischer Mitteilung beruhende
Information sagt, dem Botschafter Veranlassung gegeben, das Ge-
spräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken, pp.
V. Schweinitz
* Nach einem Erlaß Minister Ribots an den französischen Botschafter in Petersburg
de Laboulaye vom 9. März 1S91 hatte der Zwischenfall immerhin dazu geführt,
das französisch-russische Einvernehmen, das Mohrenheim eben damals „solide
comme du granit" nannte, zu bekräftigen. Troisieme Livre Jaune Fran^ais.
L'AIhance Franco-Russe (1918), p. 8.
** Siehe Nr. 1499.
206
^ Nr. 1501
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Entzifferungf
Nr. 162 St. Petersburg, den 27. Mai 1891
Ganz vertraulich
Baron von Marochetti* ist aus Paris und Rom zurückgekehrt.
Der Botschafter bestätigt, daß die französische Regierung mißlungene
Versuche gemacht hat, um vom Zaren die Zusicherung der Kooperation
im Kriegsfalle zu erlangen i. pp.
von Schweinitz
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
i Out! gut!
Nr. 1502
Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow
an den Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 237 St. Petersburg, den 30. JuH 1891
Vertraulich
Unter dem Eindruck der herrschenden landwirtschaftlichen Not-
stände und der politischen Isolierung Rußlands infolge der Erneue-
rung des Dreibundes** sowie der Annäherung Englands an die Friedens-
mächte war die hiesige Stimmung eine entschieden niedergeschlagene,
besorgte, teilweise auch gereizte geworden.
Doch in der letzten Woche ist das politische Wetterglas sicht-
lich wieder gestiegen.
Dieser Umschwung von Besorgnis zu gehobener Zuversicht ist
in erster Linie durch das Eintreffen des französischen Geschwaders***
herbeigeführt worden. Der Admiral Gervais und seine Offiziere haben
es bisher in byzantinischer, aber recht geschickter Weise verstanden,
das russische Selbstbewußtsein bei jeder sich darbietenden Gelegen-
heit zu wecken. Sie gerieren sich als weihrauchspendende Ab-
* Italienischer Botschafter in Petersburg.
** Sie hatte am 6. Mai stattgefunden; vgl. Kap. XLV.
*** Am 23. Juli war ein französisches Geschwader unter Führung des Admirals
Gervais in Kronstadt angelangt. Siehe auch Kap. XLVIII, Nr. 1573. Über den
äußeren Verlauf der Festlichkeiten, die sich an den Besuch der französischen Flotte
schlössen, den Wortlaut der zwischen Kaiser Alexander und Präsident Carnot ge-
wechselten Telegramme usw. vgl, Schultheß' Europäischer Geschichtskalender
Jahrg. 1891, S. 274 ff.
207
gesandte eines Rußland schwärmerisch verehrenden Volkes und staunen
die Wunder der Zarenresidenz als etwas ganz Unerwartetes an.
Alles, was die französischen Herren sehen und hören, wird als un-
übertrefflich und meisterhaft bezeichnet, und können sie nicht genug
reden von der Machtfülle und Großartigkeit des Kaiserreichs.
Aber nicht nur die Huldigungen des französischen Geschwaders
steigern das Selbstgefühl hiesiger politischer Kreise. Man wiegt sich
auch in der angenehmen und festen Zuversicht, daß der russische
Einfluß an der unteren Donau w^ieder einen guten Schritt vorwärts
getan hat, und diese beiden Tatsachen zusammen betrachtet man als
einen wichtigen Faktor, der dem erneuerten Dreibund gegenüber schwer
in die Wagschale falle.
„Gleicht nicht die Herreise des jungen Königs Alexander von
Serbien* der Wallfahrt eines Pilgers in ein gelobtes Land," meinte
gestern ein russischer Offizier, mit dem ich nach Zarskoe Selo fuhr.
„Überall, wo slawische Erinnerungsstätten sind, hält der jugendliche
Monarch sich auf und betet in Kiew und Moskau an den uns heiligen
Stätten, bis es ihm dann vergönnt sein wird, den Zarbefreier zu sehen." —
Und wie man die glänzende Aufnahme des französischen Geschwaders
als einen ernsten Fingerzeig nach Deutschland hin ansieht, so freut
man sich über den Eindruck, den der serbische Besuch in Wien
machen müsse, wo man nun nicht mehr daran zweifeln werde, daß
Serbien nach Herz, Verstand, Blut und Glauben nur russisch gesinnt
sein könne. In Österreich, so betont man, werde König Alexander
nur den kleinen Umweg nach Ischl machen, während er in Rußland
langsam von Stadt zu Stadt reise. Dazu kommt, daß man sich hier
der immer bestimmteren Hoffnung hingibt, die Tage der Hohenzollern-
dynastie in Rumänien seien nunmehr gezählt. Man spricht mit einem
gewissen Behagen von der Liebesaffäre Vacarescu und allerhand damit
zusammenhängenden Skandalgeschichten. Man meint, daß die ergötz-
liche Herzensgeschichte unter allen Umständen das Ansehen der rumäni-
schen Majestäten ernstlich beeinträchtigen werde, und bedauert nur,
daß der Thronfolger allem Anschein nach auf seine Liebe verzichtet
habe.
Auch möchte ich bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt lassen,
daß der gastliche Empfang, der dem französischen Geschwader in
Stockholm zuteil wurde, an hiesiger maßgebender Stelle sympathisch
berührt hat. Insbesondere erblickt Seine Majestät der Kaiser Alexander
darin eine indirekt der Kaiserlich russischen Regierung erwiesene Auf-
merksamkeit.
Den Beweis für die zuversichtlichere, ich möchte sagen „üppigere**
* Er traf am 2. August in Begleitung des Regenten Ristitsch in Petersburg ein.
208
Stimmung hiesiger politischer Kreise liefert eine Unterhaltung, welche
mein österreichisch-ungarischer Kollege kürzlich mit einem höheren
Beamten des hiesigen Ministeriums des Äußern hatte. Es kam die
Rede auf die Erneuerung der Tripelallianz, und meinte der betreffende
Herr, man sei ja im auswärtigen Ministerium auf die Fortdauer des
Dreibundes gefaßt gewesen. Aber man müsse doch zugestehen, daß
der letztere mit den maritimen und finanziellen Kräften Großbritanniens
im Hintergrund ein für Rußland viel bedrohlicheres Aussehen ge-
winne. In Berhn und Wien vertraue man auf die Friedensliebe Seiner
Majestät des Kaisers Alexander. Man möge sich aber dort nicht ein-
bilden i, daß dieselbe unerschütterlich wäre. Es könne der Augenblick
kommen, wo die Neigung zum Frieden sich mit der Würde Rußlands
nicht mehr vereinbaren lasse und auch der beste Wille des Monarchen
den Ausbruch des großen Krieges nicht mehr zu verhindern imstande
sein werde 2. Österreich-Ungarn möge sich noch zu rechter Zeit be-
denken, was auf dem Spiele stehe. Die Habsburgische Monarchie
würde bei entscheidender Niederlage zerstückelt werden, während Ruß-
land, auch wenn es geschlagen worden sei und vielleicht Polen und
die Ostseeprovinzen eingebüßt habe, immerhin noch ein fanatischer,
für den österreichisch-ungarischen Nachbar gefährlicher Gegner bleiben
werde 3.
Baron Aehrenthal* hat dieser warnenden Stimme gegenüber ein-
fach betont, die Mächte des Dreibundes bezweckten auch nach der
Erneuerung desselben einzig und allein die Aufrechterhaltung des
Friedens auf der Basis des Frankfurter und des Berliner Vertrages,
und daran würden diese Mächte treu festhalten. Von einem bedroh-
lichen, die anerkannte Friedensliebe Seiner Majestät des Kaisers Alexan-
der erschütternden Charakter der Tripelallianz könne daher nicht die
Rede sein.
Die vorstehende Unterhaltung, deren Inhalt mir Baron Aehren-
thal im strengsten Vertrauen mitteilte, gibt vielleicht nicht* die an
hiesiger maßgebender Stelle herrschende Auffassung der politischen
Lage wieder, immerhin aber eine Beurteilung derselben, wie sie sich
an die entscheidende Stelle mehr und mehr herandrängt.
Für Seine Majestät den Kaiser Alexander ist und bleibt, wie
mir wiederholt versichert wird, „Bulgarien"** der wunde Punkt. Der
Monarch ist überzeugt, daß man von Wien aus unter der Hand die
vertragswidrigen Zustände in Sofia, wenn auch nicht der Form, so
doch der Sache nach protegiert, und daß Graf Kälnoky in unver-
antwortlicher Weise mit dem Feuer spielt. Auch die rumänischen
Verhältnisse erfreuen Seine Majestät noch lange nicht. Die Unter-
haltung, welche höchstderselbe bei Gelegenheit der Abschiedsaudienz
* Österreich-ungarischer Botschaftsrat in Petersburg.
^* Ober die Bulgarische Frage seit 1890 siehe Bd. IX, Kap. LV.
14 Die Große Politik. 7. Bd. 209
des neuernannten Gesandten in Bukarest Herrn von Fonton mit
letzterem hatte, schloß in bezug auf Rumänien mit den Worten: „Armes
Land, trauriges Land."
A. V. Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms iL:
1 Hat sich auch keiner eingebildet
2 ganz richtig; ich freue mich, durch einen Russen bestätigt zu sehn, was ich seit
6 Jahren gepredigt habe.
' aber als Republik!
4 doch!
Nr. 1503
Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Freiherr von Rotenhan
an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau
Nr. 268 Berlin, den 7. August 1891
Geheim [abgegangen am 11. August]
pp. Der Gedanke, den Zaren auf die Gefahren, welche die Ver-
bindung seines Landes mit der französischen Republik für die dynasti-
schen Interessen bietet, aufmerksam zu machen*, hat, wie Ew. pp.
bekannt, wiederholt den Gegenstand der Korrespondenz zwischen dem
Auswärtigen Amt und der Kaiserlichen Botschaft gebildet. Wo das
Gespräch auf diese Verhältnisse kam, hat der Zar, so insbesondere
noch bei seiner Unterhaltung mit Seiner Majestät, unserem allergnädig-
sten Herrn, in Peterhof, die Bedeutung jener Verhältnisse nicht ver-
kannt und sich über den Wert, welchen die französische Regierungs-
form in seinen Augen genießt, in nicht mißzuverstehender Weise aus-
gelassen. Das hat nicht gehindert, daß der Siegesgesang der fran-
zösischen Revolution jetzt in Petersburg und Moskau hoffähig ge-
worden ist, und die von Kaiser Alexander und den Großfürsten aus-
gebrachten Toaste und die mit Paris gewechselten Depeschen be-
weisen, daß auch an erster Stelle die Republik keine prinzipielle
Gegnerschaft mehr in Rußland findet. Entweder war der Einfluß der
Umgebung und ihrer Vorstellungen, daß dem mitteleuropäischen
Bündnis die französisch-russische Entente entgegengesetzt werden und
diese Tatsache in unverkennbarer Weise zum Ausdruck kommen müsse,
so stark, daß auch der Zar sich ihm nicht verschließen konnte, oder
es herrscht bei ihm vielleicht auch die Überzeugung vor, daß er und
sein Reich von dem Einflüsse der radikalen Republik und ihrer Propa-
ganda nichts zu befürchten haben. Bei dieser Sachlage möchte ich es
fast bezweifeln, daß derartige Vorstellungen, wie sie sich der in der
* Er war von einem ehemaligen russischen, in Paris lebenden Offizier Baron von
der Osten-Sacken angeregt worden.
210
Anlage genannte russische Offizier denkt, von erheblicher Wirkung
auf die Entschließungen des Kaisers Alexander sein würden. Jeden-
falls müßten sie, um diesen Zweck zu erreichen, von einer Seite
kommen, bei der der Zar nicht interessierte Nebenabsichten vermutet,
und sie müßten mit einer gewissen beharrlichen Konsequenz angebracht
werden. Dem Gewicht der Überzeugungsgründe, die ihm von deut-
scher Seite vorgetragen werden, wird sich der russische Kaiser viel-
leicht nicht ganz verschließen, aber daß sie sein Handeln wesentlich
beeinflussen könnten, ist unter den obwaltenden Verhältnissen kaum
anzunehmen.
Rotenhan
Nr. 1504
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 248 St. Petersburg, den 5. August 1891
Bei meiner am 1. August erfolgten Rückkehr nach St. Petersburg
fand ich alle meine russischen und diplomatischen Bekannten unter
dem überwältigenden Eindruck, den die Begeisterung der Volksmassen
bei der Einfahrt der französischen Schiffe in die Newa und beim Emp-
fang ihrer Offiziere im Stadthause hervorgebracht hatte. Ruhige und
erfahrene Beobachter versichern, in keinem Lande eine so leidenschaft-
liche und dabei so naiv-herzliche Massendemonstration gesehen zu
haben, und die Russen geben zu, daß selbst in den feierlichsten Mo-
menten patriotischer Begeisterung, zum Beispiel, als der Zar nach der
Krönung auf die rote Treppe im Kreml trat, sich kein größerer
Enthusiasmus gezeigt hat, als wenn die französischen Seeleute sich
auf dem Balkon der Duma zeigten. Bisher war es russischen Volks-
haufen noch niemals gestattet worden, für andere Zwecke als für
kirchliche Feiern oder loyale Huldigungen die Straßen stundenlang
zu füllen oder gar von ihrem Geschrei widerhallen zu lassen; hiermit
ist jetzt der Anfang gemacht, und die Muschiks haben sich überzeugen
können, daß es in ihrer Macht steht, die zahlreiche und gefürchtete
Polizei in eine Lage völliger Ohnmacht zu versetzen.
Es war wohl nicht weise von der russischen Regierung, aus übler
Laune gegen den Dreibund Demonstrationen zu gestatten und sogar
zu provozieren, durch welche die Massen lernen, ihr Schwergewicht
zur Geltung zu bringen i; wenngleich hiervon für den Augenblick keine
üblen Folgen zu erwarten sind, so darf man sich doch darüber keiner
Täuschung hingeben, daß der Zar heute weniger frei in seiner Ent-
schließung über Krieg und Frieden ist, als wie er es vor vierzehn
Tagen war 2.
«4' 211
Die Verleihung des Andreas-Ordens an den Präsidenten Carnot
bezeichnet die erste Stufe, die Marseillaise an der Hoftafel in Peter-
hof die zweite, die Entfesselung der Volkshaufen die dritte 3.
Je größer die Raserei der Massen war, um so sicherer konnte
man erkennen, wie fern ihnen alle Kriegslust Hegt; der frenetische
Jubel entsprang nicht aus dem Wunsche, gemeinsam mit den fran-
zösischen Freunden zum Kampfe auszuziehen, sondern aus der Be-
freiung von der Furcht, von den Deutschen und von den Bundes-
genossen des deutschen Kaisers überfallen zu werden. Die Zeitungen
und namentlich der von den niederen Klassen vielgelesene ,,Swet"
haben es wirklich dahin gebracht, daß das russische Volk sich von
uns bedroht glaubt und sich jetzt durch die Freundschaft mit den
Franzosen sicher fühlt.
Die Gäste haben im ganzen eine gute Haltung bewahrt; sie haben
sich weder durch die ihnen aufgezwungenen Libationen noch durch
die fast erdrückenden Ovationen zu politischen, hochmütigen oder für
die Deutschen verletzenden Äußerungen hinreißen lassen; in den Tisch-
reden und in den zahlreichen Antworten, zu welchen Admiral Gervais
oder Offiziere des Geschwaders durch russische Ansprachen genötigt
wurden, ist keine chauvinistische oder gehässige Anspielung zu ent-
decken. Die Zudringlichkeiten des Petersburger Pressekomitees unter
Führung des Herrn Komarow vom „Swet" wurden taktvoll zurück-
gewiesen. Aber auch von russischer Seite sind trotz lächerHcher Über-
schwenglichkeit und weinseliger Zärtlichkeit keine groben Verstöße
begangen worden; die einzige Rede, in welcher Hindeutungen auf
gemeinsame Gegner vorkommen, war diejenige, mit welcher der ehe-
malige Bürgermeister von Kronstadt Staatsrat Wolkow die Ankommen-
den in russischer Sprache begrüßte; der französische Admiral, dem
sie verdolmetscht wurde, antwortete höflich, aber kurz und taktvoll
abweisend; Herr Wolkow aber ist nach Petersburg zitiert worden.
Buchstäblich ist also der Befehl des Zaren, daß die Freundschaft
mit Frankreich offen, feierlich und demonstrativ zu glänzendem Aus-
drucke komme ohne Beleidigung oder Herausforderung anderer Mächte,
befolgt worden. Tatsächlich aber haben diese Demonstrationen dem
Volke gelehrt, daß es politische Regungen mit imposanter Massen-
wirkung zum Ausdruck bringen kann.
Auf die inneren Zustände Rußlands dürfte der französische Besuch
eine stärkere Wirkung ausüben als auf die internationalen Beziehun-
gen, abgesehen von dem unberechenbaren Effekt auf die Revanche-
partei*; er hat der Welt nichts Neues gezeigt, indem er vielen lärmen-
den Beweisen gegenseitiger Zuneigung einen neuen, freilich den
lautesten hinzufügte, aber er hat der Volksmasse und ihren Führern,
welche zum Kriege drängen, um das autokratische System zu stürzen,
ihre Macht erkennen lassen. Diesen Eindruck werden die französi-
schen Gäste mit in ihre Heimat nehmen und dort berichten, daß auf
212
die Entschlüsse des Zaren ein gewaltiger Druck ausgeübt werden
könnte*.
Am 3. August/22. Juli abends, am Schluß des glänzenden Festes
in Peterhof, verabschiedeten sich die französischen Marineoffiziere von
den russischen Majestäten mit dem stürmischen Rufe: „Vive l'Empereur,
vive rimperatrice!" Diese Szene wird mir vom dänischen Gesandten
als sehr gelungen und eindrucksvoll geschildert; er fügt hinzu, es
habe so ausgesehen, als wenn die französischen Herren noch auf ein
Abschiedswort des Zaren gewartet hätten; es blieb aber bei huldreicher
Verneigung der Majestäten.
Am folgenden Morgen verließ die Eskader die Reede von Kron-
stadt, um in Björkoe an der finnländischen Küste Kohlen einzunehmen.
Der „Regierungsbote" begleitet ihre Abfahrt mit nachstehenden Be-
trachtungen:
„Tout le monde sait qu'au banquet donne au palais de Peterhof
le 16 juillet Sa Majeste l'Empereur, levant son verre, a prononce
ces paroles hautement significatives:
,A la sante de Monsieur Carnot, president de la republique, ä
la prosperite de la flotte frangaise et particulierement ä l'escadre
de l'amiral Gervais.*
A titre de commentaire de ces augustes paroles les douze journees
du sejour fait chez nous par les representants de la flotte frangaise ont
ete une serie de manifestations sympathiques sans exemple et d'une
profonde portee.
Si Jamals il fut donne ä quelqu'un de cons tater de visu quelles
proportions prend en Russie chaque parole de Tauguste Souverain
c'est bien aux marins de la glorieuse flotte frangaise qui viennent
de nous quitter. Elle est longue la liste des grandioses demonstra-
tions des ardentes et sinceres sympathies que le peuple russe nourrit
pour le peuple frangais et cependant aucun ecart accidentel, aucune
allusion desagreable pour qui que ce soit n'ont assombri ces douze
journees de festivites memorables, ces manifestations, dans le sens
des paroles du Monarque, de la puissance silencieuse, mais reelle,
de son peuple fidele."
Erst als alles vorbei war, sah ich Herrn von Giers; er hatte sich
während des größten Teiles der zwölftägigen Saturnalien ferngehalten 3
und nur dem Galadiner beim Empfang der Franzosen in Peterhof
und den Festen des Namenstages Ihrer Majestät beigewohnt; in der
Zwischenzeit ist er in Finnland gewesen.
Der Minister war sehr unwohl; nach den Anstrengungen, welche
ihm der Empfang des Königs von Serbien und das Namensfest der
Kaiserin auferlegten, war er von einem akuten Blasenleiden befallen
worden, welches eine schleunige Operation nötig machte; er hatte
kaum das Bett verlassen, als er mich empfing und nicht ohne Er-
213
mattung, aber mit großer Offenheit über das Nächstliegende, nämlich
den französischen Besuch, sprach:
„Sie können sich kaum vorstellen,'' sagte Herr von Qiers, „in
welcher Weise man auf mich einstürmte, als die Nachricht von der
Verlängerung des Dreibundes unter Umständen ^ verkündet wurde,
welche Beunruhigung, ja sogar Befürchtungen zu erregen geeignet
waren; im Publikum, und nicht nur in demjenigen, welches sich sein
Urteil durch die Zeitung diktieren läßt, sondern auch in staatsmänni-
schen Kreisen* glaubte man, daß die Tripelallianz aus einer defensiven
zu einer offensiven sich umgestaltet habe; ernste Männer wendeten
sich an mich mit der Frage: ,Sind wir wirklich bedroht?', in Briefen
aus dem Innern des Reiches, auch in anonymen Zuschriften wurde
mir dieselbe Besorgnis ausgesprochen. Mein hoher Gebieter blieb
dabei ziemlich ruhig; es war ihm wohl unangenehm, daß die Sache
soviel Aufsehen machte und so scharf gegen uns zugespitzt wurde *5,
aber diese Stimmung dauerte nicht lange, und die Berichte unserer
Botschafter trugen viel dazu bei, die Beunruhigung zu mildern; Graf
Schuwalow und Fürst Lobanow stellten bald die Tatsachen in das
richtige Licht."
In den Äußerungen des Herrn Ministers finde ich die Bestätigung
derjenigen Eindrücke, welche ich vor meiner Unterredung mit Seiner
Exzellenz im Verkehr mit Leuten aus allen Schichten der Petersburger
Bevölkerung empfangen hatte: man fühlte sich hier nicht nur isoUert,
sondern bedroht, und man erkannte als notwendig, den sensationellen
Erscheinungen"^, unter welchen die Erneuerung des Dreibundes zutage
trat, eine sensationelle Manifestation gegenüberzustellen.
Im ferneren Verlaufe unseres Gespräches erzählte mir Herr
von Giers einiges aus den beiden Unterhaltungen, welche er mit
dem Konteradmiral Gervais an der kaiserlichen Tafel gehabt hat.
Der französische Seemann hat von vornherein versichert, daß seine
Aufgabe keine politische sei, sondern darin bestehe, die Sympathien
Frankreichs für Rußland und dessen Herrscher zum Ausdruck zu
bringen; späterhin hat er seine Freude über den glücklichen Erfolg
und seinen Dank für die ihm zuteil gewordene Aufnahme ausge-
sprochen, und Herr von Giers hat dem Admiral zugestimmt, als
dieser sagte ,,qu'il est bon de montrer qu'on a des amis".
Zum Schlüsse beehre ich mich, zur Vervollständigung der früheren
Berichte einige Zeitungsausschnitte beizufügen, in welchen die letzten
* Es scheint, daß zu diesen „staatsmännischen Kreisen" Minister von Giers selbst
gehörte; jedenfalls ist er seinerseits im Hinblick auf die Erneuerung des Drei-
bundes in der zweiten Hälfte Juli, nahezu gleichzeitig mit der Ankunft des fran-
zösischen Geschwaders in Kronstadt, an den französischen Botschafter de Laboulaye
mit Eröffnungen herangetreten, die die Verstärkung des französisch-russischen Ein-
vernehmens bezweckten. Eben damals (23. Juli) wurde von Ribot der erste Ent-
wurf zu einem französisch-russischen Abkommen nach Petersburg gesandt. Siehe
das französische Gelbbuch L'Alliance Franco-Russe (191S), Nr. 4 ff.
214
Festlichkeiten geschildert werden, die man für die vergötterten Gäste
veranstaltet hat, sowie das etwas theatralische Benehmen der letzteren,
besonders bei ihrem Besuche im Alexander-Newski-Kloster.
V. Seh wein itz
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Stimmt 2 richtig ^ gut * ja s Umstände So?! welche? e ??! ^ welche?
Nr. 1505
Der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow, z. Z. in Sinaia,
an den Reichskanzler von Caprivi*
Ausfertigung
Nr. QO Sinaia, den 4. August 1891
Ganz vertraulich
pp. Auf die allgemeine Lage der Dinge in Europa übergehend,
bemerkte Graf Kälnoky, daß die Erneuerung der Dreibundsverträge
für seinen Geschmack etwas zu sehr „mit Pauken und Trompeten"
Europa angekündigt worden sei. Es wäre dies aber nicht anders
möglich gewesen, da Herr von Rudini es im Interesse der Befestigung
seiner vielfach angegriffenen Stellung gewünscht habe**. Die Nach-
richt von der Fortdauer des Dreibunds habe die Franzosen in hohem
Grade irritiert. „Irritiert, nicht decouragiert," wiederholte der Mini-
ster, „die Franzosen fühlen sich militärisch jetzt zu stark, als daß sie
sich decouragieren ließen i." Sogar der sonst maßvolle französische
Botschafter in Wien, Herr Decrais habe nach dem Bekanntwerden
der Aufrechterhaltung der Tripelallianz über die „Isolierung" Frank-
reichs geklagt und gereizt ausgerufen: „Ainsi, nous restons seuls et
tout le monde nous tourne le dos, excepte la Russie^." Der Ärger
der Franzosen und Russen über das Fehlschlagen ihrer Hoffnungen
hinsichtlich Italiens ^ mache sich jetzt in Kronstadt Luft. Vielleicht sei
dies kein Unglück, sondern werde eher als Derivatif wirken. Jeden-
falls würden die Kronstädter Vorgänge die europäische Situation nicht
wesentlich verändern. In Kronstadt sei ein Feuerwerk abgebrannt
worden, nach dessen Verpuffen die Gegend die gleiche bleibe wie
zuvor. Man könne aber darauf neugierig sein, welche Rückwirkung
auf die inneren Verhältnisse Rußlands das Abspielen der „Marseillaise"
ausüben werde. Vielleicht sei das ein für die innere Geschichte Ruß-
lands ebenso bedeutsames Ereignis wie seinerzeit die Freisprechung
der Vera Sassulitsch. Auf ein förmliches Bündnis mit Frankreich werde
* Den hier übergangenen Teil des Bülowschen Berichts über Unterredungen, die
er auf der Durchreise in Wien am 1. August mit Graf Kalnoky gehabt hatte, siehe
in Kap. XLVI, Nr. 1471, und in Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2112.
** Vgl. Kap. XLV, Nr. 1429. Deutscherseits hat man mit Grund in Abrede ge-
stellt, einen besonderen Eklat bei der Erneuerung des Dreibundes angewandt zu
haben. Kap. XLIX, Nr. 1621 und 1622.
215
sich Kaiser Alexander auch jetzt nicht einlassen, wenigstens nicht auf
ein Offensivbündnis. Eine sehr intime Entente habe ja auch schon
vor Kronstadt zwischen Russen und Franzosen bestanden. Beide
Mächte seien so fest gewillt, Hand in Hand zu gehen, daß gegenüber
diesem Entschlüsse sogar der an und für sich eigentlich unüberbrück-
bare Gegensatz zwischen Frankreich, der fille aimee de l'Eglise, und
dem schismatischen Rußland in den Hintergrund trete. Rußland sei
sogar großmütig — oder klug — genug, Frankreich gewisse Rück-
sichten gegenüber seiner clientele cathoHque im Orient zu erlauben,
schon damit diese Klientel nicht das österreichische Protektorat auf-
sucht. Übrigens stehe jetzt Rußland eine Hungersnot bevor, die nach
der Ansicht des Grafen Wolkenstein kalmierend auf die dortigen Ultras
einwirken werde. Ich verschwieg dem Grafen Kälnoky nicht, daß
nach meiner Kenntnis russischer Zustände weder Hungers- noch Finanz-
not eine russische Regierung vom Vorgehen abhalten würden, sofern
dieselbe ein solches aus anderen Gründen für indiziert erachten sollte;
es möchte sich auch angesichts wirtschaftlicher Kalamitäten in Ruß-
land für Österreich-Ungarn empfehlen, militärisch möglichst stark zu
bleiben und immer mehr zu werden. Graf Kälnoky stimmte dieser
Auffassung bei, indem er hierbei bemerkte, daß es freilich geboten sei,
sein Pulver trocken zu halten. Wenn der Krieg zurzeit nicht wahr-
scheinlich sei, so wäre andrerseits die Fortdauer der gegenwärtigen
Spaltung Europas in zwei feindliche Lager auch ziemlich gewiß und
lasse unliebsamen Eventualitäten die Türe offen. Auch Fürst Lobanow
glaube, daß der gegenwärtige Zustand der Dinge in Europa und spe-
ziell der Antagonismus zwischen Rußland-Frankreich auf der einen
und dem Dreibund auf der anderen Seite noch lange anhalten
werde*, pp. B. von Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Richtig
'^ oui
^ gut
* Der Europäische Friede ist wie ein Herzleidender. Er kann lange, sehr lange
leben. Aber er kann plötzlich auf das Unerwartetste todt sein.
Nr. 1506
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marscliall
an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau
Nr. 287 Berlin, den 19. August 18Q1
Ew. pp. tun in dem Bericht Nr. 248* der „sensationellen Er-
scheinungen" Erwähnung, unter denen die Erneuerung des Dreibundes
• Siehe Nr. 1504.
216
zutage getreten sei. In ähnlicher Weise äußerte sich Herr von Giers
zu Ew. pp. Es wird mir von Interesse sein zu erfahren, welche spe-
ziellen Erscheinungen Ew. pp. und Herr von Giers dabei im Auge
hatten. Marschall
Nr. 1507
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Entzifferung
Nr. 272 St. Petersburg, den 22. August 1891
Antwort auf Erlaß Nr. 287 vom 19. d. Mts.
Wenn Herr von Giers und Leute aus verschiedenen gesellschaft-
lichen Kreisen von sensationellen Erscheinungen sprachen, unter denen
der erneuerte Dreibund zutage trat, so meinten sie damit die Be-
suche, welche der Kaiser von Österreich-Ungarn und der König von
Italien dem englisrhen Geschwader in Fiume*, beziehungsweise in
Venedig** machten, und vor allem die großartige Huldigung, welche
die britische Nation Seiner Majestät dem Kaiser und König dar-
brachte *'''*.
An den Dreibund hatten sich die Russen allmählich, wenn auch
mürrisch gewöhnt; nach Crispis Sturz glaubten sie, ihn zerfallen zu
sehen; als er dennoch erneuert wurde, waren sie verstimmt; als aber
die englische Regierung sich anzuschließen schien, und das englische
Volk seine Befriedigung demonstrativ zu erkennen gabf, da waren
sie bestürzt und fühlten sich bedroht. Schweinitz
Nr. 1508
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 252 St. Petersburg, den 8. August 1891
Obwohl die Nachricht der „Times", betreffend den Abschluß eines
Vertrages zwischen dem Konteradmiral Gervais und den russischen
* 23. Juni.
** 6.-8. Juli.
*** Vgl. Bd. VIII, Kap. LH, Nr. 1726, Fußnote **.
•f Auch in dem französisch-russischen Schriftwechsel über die Anfänge des Zwei-
bundes ist immer wieder die Rede von den „circonstances qui ont caracterise le
renouvellement de la Triple AUiance" als der causa movens für den französisch-
russischen Akkord. Unter diesen „circonstances" steht an erster Stelle „l'adhesion
plus ou moins probable de la Grande-Bretagne aux visees politiques que cette
alliance poursuit." Troisieme Livre jaune Fran^ais. L'AlIiance Franco-Russe (1918),
Nr. 4, 5, 10, 17, 18.
217
Ministern des Äußern, des Krieges und der Marine, nicht ernst ge-
nommen zu werden verdient, so will ich doch nicht unterlassen, sie
ausdrücklich als unbegründet zu bezeichnen.
Es ist allerdings als gewiß anzunehmen, daß eine Verständigung
über strategisches und nautisches Zusammenwirken zwischen den
beiderseitigen Autoritäten in der Kriegs- und Marineverwaltung längst
getroffen ist, und daß General Obrutschew, der sich auch in diesem
Sommer in Frankreich aufhält, und zwar noch länger als gewöhnlich,
mit den Generalen Miribel* und Boisdeffre** in stetiger und enger
Verbindung steht.
Daß aber Admiral Gervais mit Herrn von Giers, General Wan-
nowski und Admiral Tschichatschew Konferenzen gehabt habe, ist
nicht richtig, wie sich aus räumUchen und zeitHchen Angaben nach-
weisen ließe.
Sowohl Herr von Giers als auch Herr de Laboulaye sprachen
mit mir über die „Times^-Nachricht; beide konnten sich dabei sarkasti-
scher Anspielungen auf die Art, wie die Zeit des französischen Admirals
hier durch Ovationen ausgefüllt wurde, kaum enthalten.
V. Schweinitz
Nr. 1509
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 1Q6 Paris, den 20. August 1891
Die Freude der Franzosen über die Besiegelung der russischen
Freundschaft hat die Hitzköpfe zu einem derartigen Übermaß von
Kundgebungen der Russenverehrung verführt, daß sie damit auf dem
besten Wege waren, die Errungenschaften, die sie feierten, aufs Spiel
zu setzen. Sie waren nahe daran, eine ernste Sache zum Mißfallen
der neuen Freunde mit dem Fluch des Lächerlichen zu beladen i, und
noch näher daran, der Verbindung der Republik mit der Autokratie
eine Bedeutung unterzuschieben, welche mit den beiderseitigen Ver-
sicherungen friedfertiger Absichten unvereinbar scheint.
Die französische Regierung hat diese Gefahren schon voraus-
gesehen, als in Kronstadt, St. Petersburg und Moskau die Wogen
der Begeisterung höher gingen, als man erwartet hatte und es an
höchster russischer Stelle genehm sein mochte, und sie hat sich be-
eilt, in der ihr nahestehenden Presse dringend zu mahnen, bei er-
widernden russophilen Kundgebungen Maß und Ziel zu halten. Zu-
gleich hat sie Anordnungen getroffen, daß Demonstrationen, welche
* Chef des Generalstabes der französischen Armee.
** Souschef des Generalstabes.
218
t
einen feindseligen Anstrich gegenüber anderen Nationen haben sollten,
nach Kräften vorgebeugt und entgegengetreten werde, eine Vorsorge,
welche nicht nutzlos war, wie unter anderm das Gebaren einer Pa-
triotenschar beweist, welche, nachdem sie vor der Wohnung des Groß-
fürsten Alexis demonstriert und in dem benachbarten Tuileriengarten
die russische Hymne verlangt und stürmisch bejubelt hatte, diesen
Huldigungen einen Kommentar durch Kundgebungen vor dem Straß-
burgstandbild geben wollte, wie ferner der Verlauf einer von ehe-
maligen Boulangisten arrangierten Volksversammlung zeigt, wo un-
aufhörlich die russische Hymne, die Marseillaise und die Rufe „Vive
la France, vive la Russie, vive I'Alsace-Lorraine" ertönten.
Den offiziösen Warnungen hat sich allmählich der größere Teil
der unabhängigen Presse anzuschließen für angezeigt gehalten. Nament-
lich dann, als die dem Großfürsten Alexis in Paris und Vichy dar-
gebrachten Huldigungen zu einer unerträglichen Belästigung des hohen
Herrn ausarteten, und als ein von der russischen Botschaft ausgehen-
der Wink sagte, daß übertriebene Verherrlichungen, wie nicht minder
chauvinistische Auslegungen der russisch-französischen Verbindung
durchaus nicht dem Sinne derselben entsprächen 2 und in St. Peters-
burg gewiß mißfällig bemerkt werden dürften, haben dieselben Zei-
tungen, welche noch kurz vorher selbst vom Taumel ergriffen waren,
nicht ernst genug zur Bewahrung der Ruhe, des Taktes, der Würde
auffordern können.
Die Presse hat denn auch eine gewisse Mäßigung der Freuden-
ausbrüche erreicht, weniger vielleicht mit schulmeisterlichen Ermahnun-
gen als mit gelegentlicher satirischer Geißelung der zur Karikatur
verzerrten Russophilie. Immerhin ist die Erregung der Gemüter noch
nicht geschwunden, und wenn auch in Paris der Begeisterungsrausch
einer ruhigeren und tieferen Betrachtung gewichen ist, so scheint
die Bevölkerung der Provinz noch immer das unbefriedigte Bedürfnis
zu haben, in lärmenden und stillen Kundgebungen der mannigfachsten
Art ihren Gefühlen der Freude und des Dankes Ausdruck zu geben.
Wenn es bei allen diesen Demonstrationen nicht in häufigeren
Fällen und größerem Umfange wie oben erwähnt zur Offenbarung
feindseliger Gedanken in bezug auf Deutschland, nicht zu bedenk-
licherem Auflodern des Revanchefeuers gekommen ist, so mag dies
weniger der mahnenden Vorsicht von Regierung und Presse als der
in die Massen eingedrungenen Ahnung zu danken sein, daß es immer-
hin fraglich erscheint, ob das, was in Kronstadt und St. Petersburg
sich vollzogen, dahin zu deuten sei, daß Frankreich in allem und
jedem Falle auf genügende russische Hülfe zu rechnen habe. Es
scheint das dunkle Gefühl zu bestehen 3, daß trotz aller freundschaft-
lichen Gesinnung das kaiserliche Wort nicht zu bestimmten Zielen
oder wenigstens nicht zur Unterstützung französischer aggressiver Ab-
sichten verpfändet sei. Zv/ar hat man sich bereits daran gewöhnt,
219
schlechtweg von einem russisch-französischen „Bündnis" zu sprechen,
und nahezu die gesamte Presse und in derselben namhafte Politiker
bedienen sich geläufig dieses Ausdruckes in dem Tone, als ob sie
von einer offenbaren Tatsache redeten. Aber keine einzige Zeitung
hat bisher die so naheliegende Frage zu lösen vermocht oder auch
nur zu lösen versucht, ob und wieweit die gegenseitigen Verbindlich-
keiten festgelegt sind. Die Presse hat allerdings guten Grund, der
Erörterung dieser Frage aus dem Wege zu gehen, müßte sie doch
andernfalls zur Erkenntnis gelangen, daß es der Politik Rußlands nach
wie vor nicht entspricht, sich die Hände zu binden, und daß es dem
Kaiser nach wie vor widerstrebt, eine Verbindung einzugehen, welche
ihn in die Lage bringen kann, einem Staate von so rev'olutionärer
Vergangenheit und Tendenz wie Frankreich Dank zu schulden*. Die
französische Presse geht daher entweder vorsichtig schweigend oder
mit der anmaßenden und bedenklichen Versicherung über diese Schwie-
rigkeiten hinweg, daß eine auf so tiefen Sympathien der beiden Völker
gegründete Verbindung keiner diplomatischen Ratifizierung bedürfe*.
Ist auch zu befürchten, daß die Presse mit derartigen gewagten Aus-
legungen sich selbst und die Nation in die Hoffnung wiegt, daß im
kritischen Moment die elementare Gewalt des Volkswillens der einzig
ausschlaggebende Faktor sein werde, so scheinen doch vorerst noch
die Geister vor dem Gedanken, die russische Hülfsbereitschaft durch
eine Herausforderung Deutschlands auf die Probe zu stellen, zurück-
zuscheuen. Denn es ist nicht zu verkennen, daß die französische Nation
im großen und ganzen friedensbedürftiger und friedliebender ist und
weniger die Gedanken unablässig auf die Wiedergewinnung Elsaß-
Lothringens gerichtet hat, als der Lärm berufsmäßiger Patrioten und
die üblen Gewohnheiten der Presse es glauben machen. Vor allem
aber will sie, soll es einmal zur Entzündung eines furchtbaren Krieges
kommen, nicht als diejenige erscheinen, welche die Fackel in den Brenn-
stoff geschleudert hat, und selbst von denen, welche stets sich in
Deklamationen über zu sühnendes Unrecht ergehen, sind nicht wenige,
welche eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage auf friedlichem
Wege in den Bereich der Möglichkeit ziehen.
* Der Optimismus der deutschen Botschaft in Paris, der auch in den Berichten
des Grafen Münster wiederholt anklingt, war keineswegs gerechtfertigt. Nahezu
gleichzeitig mit Schoens Bericht vom 20. August ging jener Austausch von
Schreiben zwischen Giers und Ribot (vom 21. bzw. 27. August) vor sich, der
nach dem Bericht des Grafen de Montebello vom 16. Juli 1892 einem Bündnis
gleichkam. Französisches Gelbbuch. L'Alliance Franco-Russe, Nr. 17, .\nnexe,
Nr. 18, Nr. 42. Die charakteristischen Worte Graf Montebellos lauten: „En resume,
les lettres echangees au mois d'aoüt dernier constituent un engagement tellement
formel qu'il equivaut ä un traite. C'est ainsi que les Russes l'envisagent. L'em-
pereur, en prenant cet engagement, en a compris toute la portee. Si la guerre
eclatait demain, il se considererait comme engage ä unir ses forces aux notres
en vue d'une action commune."
220
Aus der Besorgnis, die russisch-französische Verbindung auf eine
zu scharfe oder eine vorzeitige Probe zu stellen, dürfte es sich auch
erklären, daß die Presse — mit verschwindenden Ausnahmen — bei
den Erörterungen der russisch-französischen Freundschaft es geradezu
ängstlich vermieden hat, die sonst so geläufige elsaß-lothringische
Frage hereinzuziehen^. Mag auch in vielen, wenn nicht in den meisten
Seelen durch die Kronstädter Ereignisse der Wunsch nach Auswetzung
der Scharte von 1870—71 in einer oder der anderen Art neu belebt
worden und die Hoffnung auf Erfüllung dieses Wunsches das Grund-
gefühl der jetzigen freudigen Erregung sein, so ist doch das, was in
den publizistischen Lobpreisungen der russischen Freundschaft und
in den mannigfachen russophilen Kundgebungen des Volkes offen zum
Ausdruck kommt, zunächst weniger ungestümes Drängen nach kriegeri-
schen Lorbeern, Revanche und Eroberungen als vielmehr die freudige
Genugtuung, nach jahrzehntelanger Erniedrigung und politischer Isolie-
rung dank der Gunst eines mächtigen Freundes und der eigenen
Kraft die Stellung einer allseitig geachteten, vielseitig gefürchteten
Macht wiedererlangt, die Fähigkeit gewonnen zu haben, den Frieden,
den man bisher grollend geduldet, nunmehr stolz zu gewähren <5. Je
mehr und je tiefer die Presse sich mit der Bedeutung der russisch-
französischen Verbindung beschäftigt, desto mehr tritt dieses Gefühl
stolzer Genugtuung, der Befreiung von einem Alp, der Sicherheit
gegen jede Gefahr als leitender Gedanke zutage, und es tut demselben
im ganzen keinen Eintrag, wenn einzelne ihrer Phantasie etwas freien
Flug lassen und Frankreich bereits als den Magnet sehen, welcher
wie ehedem die zivilisierte Welt anzieht und den Mittelpunkt einer
neuen Staatengruppierung bildet, gegenüber welcher der Dreibund
zur Ohnmacht verurteilt ist.
Der gleiche Ton stolzen, aber nicht herausfordernden Selbst-
bewußtseins'^ klingt auch aus den Äußerungen hervor, mit welchen
in den jüngsten Tagen namhafte Staatsmänner wie Meline, Ferry, die
Minister Barbey* und Rouvier und viele andere Politiker und höhere
Beamte aus verschiedenen Anlässen, meist gelegentlich der Eröffnung
der Sitzungen der Generalräte, an die Öffentlichkeit getreten sind.
Freilich dürfte es zu weit gegangen sein, aus allen diesen An-
zeichen und Beteuerungen friedfertigen Selbstgefühls den Schluß zu
ziehen, daß Frankreich nun der neuen Errungenschaften in beschau-
licher Ruhe sich freuen und genügen werde, daß eine Störung des
Friedens von ihm nicht zu fürchten sei. Es bleibt immer möglich,
wenn nicht wahrscheinlich, daß der Ehrgeiz der Nation oder auch
nur einzelner der Versuchung nicht widerstehen wird, an einer weiteren
Verschiebung des Bestehenden zugunsten Frankreichs zu arbeiten, eine
Versuchung, welcher gerade das Dunkel, das über dem Maß der
Der Marineminister.
221
russisch-französischen Verbindlichkeiten schwebt, mehr Vorschub leisten
dürfte als ein offenkundiges Bündnis, in welchem der beiderseitige
Tatendrang durch scharf gezogene Grenzen eingedämmt wird. So-
dann aber — und hier liegt die größere Gefahr — bleibt nach der
nunmehrigen Stärkung des französischen Machtgefühls mehr wie je^
mit unberechenbaren Ausbrüchen des Chauvinismus zu rechnen, der
jetzt sich einigermaßen beherrscht, durch an sich geringfügige Vor-
gänge aber, welche den französischen Stolz verletzen, plötzlich unheil-
voll entfacht werden kann. Klingt doch schon in diesen Tagen, wenn
auch gedämpft, ein Ton aus der Presse, welcher zu sagen scheint,
daß man Kränkungen nicht mehr geduldig hinnehmen werde.
Daß die französische Regierung ihrerseits zurzeit den guten
und festen Willen hat, verhängnisvolle Aufwallungen des chauvinisti-
schen Geistes zu hindern und zu meistern, ist wohl nicht zweifelhaft.
Fraglich aber ist es, ob und wie lange das Maß ihres Könnens dem-
jenigen des WoUens entspricht 9, und fraglich ferner, ob der gute Wille
in gewissen Momenten und unter gewissen Bedingungen, eigener
oder fremder Eingebung folgend, nicht gleichfalls erlahmt.
Nicht minder bedeutsam ist die Steigerung des französischen
Machtgefühls, welches durch die Rückwirkung der äußeren Erfolge
der Republik auf die Gestaltung der Dinge im Innern erzeugt wird.
Mehr wie irgendein anderes Ereignis ist die ausdrückliche und
feierliche Anerkennung der französischen Republik als bündnisfähige
Macht seitens des Beherrschers des autokratischsten europäischen
Staates geeignet, die Erstarkung der Republik im Innern zu vollenden,
den Widerstand der Feinde des gegenwärtigen Regimes endgültig zu
brechen. War doch von jeher eines der Hauptargumente, mit welchem
die Monarchisten die republikanische Staatsform bekämpften, der Vor-
wurf, daß sie die Verbündung mit einem autokratischen Staate un-
möglich mache. Stets wurde der Abschluß eines russisch-französischen
Bündnisses als eine Rettung Frankreichs aus unerträglicher Lage hin-
gestellt, welche nur von einem monarchischen Regime zu erwarten sei.
Angesichts der Kronstädter Vorgänge, in Verbindung mit der An-
näherung des Vatikans an die Republik müssen nun die Monarchisten
gestehen, daß diese durch weise Politik es verstanden hat, sich auch
bei den grundsätzlichsten Feinden ihrer Form und ihres Wesens Ver-
trauen, Achtung und Freundschaft zu erwerben, und sie sind patriotisch
oder klug genug, die Republik zu diesen Errungenschaften warm zu
beglückwünschen. Bereits hat der „Soleil", das Organ der Orleanisten,
den Beginn mit der Anerkennung und Lobpreisung der Republik und
ihrer jetzigen Leiter gemacht, ohne bei anderen monarchistischen
Blättern beachtenswerten Widerspruch zu finden. Auch aus dem
bonapartistischen Lager hat der sonst so streitbare Cuneo d'Ornano
friedliche Gesinnungen erkennen lassen.
Mögen diese anerkennenden Kundgebungen von monarchistischer
222
Seite aufrichtig sein oder etwa auf dem Gedanken basieren, daß die
Verwickelungen, welche die russisch-französische Verbindung herauf-
beschwören kann, schließlich der republikanischen Staatsform verhängnis-
voll werden dürften, so sind doch die Repubhkaner berechtigt, in denselben
eine Waffenstreckung der Monarchisten zu erkennen, welche, nachdem
die Kirche sie bereits verlassen, zurzeit jeder äußeren Stütze entbehren,
an welcher sie sich aus ihrer Ohnmacht emporrichten könnten. Wie weit
und unter welchen Bedingungen die Monarchisten nun in das republi-
kanische Lager übergehen, muß die parlamentarische Zukunft lehren.
Schon jetzt aber machen sich einzelne Desertionen und bei manchen
der in diesen Tagen zusammengetretenen Generalräte eine Verschiebung
von rechts nach links bemerkbar. An den Republikanern wird es mehr
wie je sein, den geschlagenen Feinden annehmbare Friedensbedingun-
gen zu stellen und sie wenn auch nicht zu aufrichtigen, so doch zu
nützlichen Freunden zu machen. Herr Constans hat bereits vor den
jüngsten monarchistischen Friedenserklärungen den Ton angegeben,
indem er in einer gelegentlichen Rede erklärte, daß die Republik
jedem guten Willen versöhnlich die Arme öffne.
Noch eine weitere Folge dürfte die russisch-französische Ver-
bindung haben, das ist die Stärkung der jetzigen Regierung und der
ministeriellen Stabilität überhaupt. Die Nation und das Parlament
werden es der Regierung, welche es verstanden hat, das Vertrauen
des Zaren und des Papstes zu gewinnen, dem Lande den Innern
Frieden zu geben, Frankreich zu der so lange ersehnten Höhe der
Macht und des Ansehens zu heben, dauernd Dank wissen, sie williger
wie je unterstützen und sich vor Spaltungen und Schwankungen be-
wahren, welche bedenkliche Wechsel herbeiführen, der Welt wieder
das Schauspiel maßloser Zerrissenheit und Unbeständigkeit geben und
das wertvolle Vertrauen der neuen Freunde erschüttern müßten.
Alles in allem genommen, darf wohl gesagt werden, daß die
Summe der neuerlichen äußeren und inneren Erfolge der Republik
bei der Nation ein Gefühl der Kraft erzeugt hat, von dem es angesichts
des nationalen Temperaments fraglich ist, ob es sich lange damit
begnügen wird, sich friedlich zu betätigen lo.
V. S c h o e n
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 Sie haben es auch gethan
2 weil sie noch zu früh seien!
ä beim Volk gewiß nicht, aber im kleinen Kreise ruhig und objektiv denkender
Politiker.
* es liegt aber doch ein Körnchen Wahrheit drin.
5 ist nicht richtig siehe den Leitar[tikel] des Figaro „Apres Cronstadt", da steht
wörtUch, Russland und Frankreich werden zusammen für eine richtige Ver-
theilung der Gränzen in Europa sorgen und Elsaß-Lothringen käme dabei
wieder an Frankreich
6 eventuell ihn auch flott zu brechen
223
' Herr v. Schoen haben die Rosabrille aufgehabt wie mir scheint
8 ja
9 ja
1° richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Da letztres sehr unwahrscheinlich ist so müssen wir uns nach Kräften be-
mühen möglich gestärkt und fertig zu sein wenn der Sturm ausbricht
Nr. 1510
Bericht des Militärattaches in Paris Rittmeisters von Funcke
Auszug. Abschrift
Nr. 176 Paris, den 30. August 1891
Bei dem seit dem Besuche des französischen Geschwaders in
Kronstadt in ganz Frankreich entflammten Enthusiasmus für Ruß-
land ist es mit Bestimmtheit anzunehmen, daß im bevorstehenden
Manöver die Rufe „Vive la Russie'' überall erschallen werden, wo
sich der russische Militärattache zeigen wird, und dazu wird um so
mehr Gelegenheit sein, als er als ältester der Militärattaches immer
an deren Spitze erscheinen wird. Die Ovationen für Rußland werden
dadurch immer neue Nahrung erhalten.
General Baron Fredericks hat schon seit Jahren die russisch-
französische Allianz und Freundschaft geschürt. Es sieht ihm ganz
ähnlich und ist bisher auch nicht widerrufen, daß er dem „Temps"
zufolge nach der Revue im Jahre 1888 in Ronen dem dortigen Präfek-
ten und Senator M. Cordier gesagt haben soll: „Avec une pareille
armee, qu'attendez-vous donc? Faites un pas en avant et nous vous
ouvrirons les bras."
Im März d. Js. gelegentlich der Einweihung des Denkmals des
Generals Chanzy soll er gleichfalls der Möglichkeit und Hoffnung
einer „entente" zwischen Frankreich und Rußland Ausdruck gegeben
haben.
Wo immer sich nur der geringste Anlaß bietet, wird jetzt in ganz
Frankreich der Enthusiasmus für Rußland und die russische Freund-
schaft öffentlich gezeigt.
In der Tat scheint dieselbe immer populärer zu werden, und die
russischen Sympathien auch immer mehr in die französische Armee
einzudringen. Kein Militärkonzert ist denkbar ohne die russische
Nationalhymne und Marseillaise hinterher. Es wird dann applaudiert,
„Vive la Russie" gerufen und immer wieder die russische National-
hymne verlangt. Erscheint ein russischer General in Frankreich, wird
er von dem französischen Offizierkorps des Ortes, den er besucht,
gefeiert.
224
Bei Regimentsfestessen in Frankreicli wird stets der russischen
Armee gedaclit und ihr Ovationen gebracht. Aus dem Manöverterrain
liest man, daß die Häuser mit russischen und französischen Fahnen
geschmückt sind. Kurz, alles deutet darauf hin, daß von den maß-
gebenden Stellen alles getan oder wenigstens nichts verhindert wird,
um die Sympathien für Rußland immer mehr zu verbreiten und die
Interessen der beiden Armeen solidarisch zu gestalten.
In dem Maße, wie die Sympathien und der Enthusiasmus für Ruß-
land zunehmen, wird in Frankreich auch der Mut zunehmen, die Anti-
pathien und den Haß gegen Deutschland öffentlich zu erkennen zu
geben. Von den Hunderttausenden von Franzosen, die in den letzten
Wochen „Vive la Russie'^ gerufen, hat die allergrößte Anzahl „ä bas
l'Allemagne" damit gemeint, nur daß das Volk noch nicht den Mut
hat, es öffentlich auszusprechen,
(gez.) von Funcke
Nr. 1511
Bericht des Militärattaches in Wien Oberstleutnants von Deines
Eigenhändige Ausfertigung
Nr. 69 Wien, den 4. November 1891
Ganz vertraulich
Der Herr Chef des k. u. k. Generalstabes hat dieser Tage den
russischen Militärattache interpelliert wegen der weitern Truppenvor-
schiebungen und mir darüber folgendes gesagt.
Oberst von Zujew hat sofort zugegeben, daß eine weitere Kosaken-
division und zwei Armeekorps in den nächsten Monaten an die West-
grenze vorgeschoben werden sollen i, daß aber gegen Österreich nur
ein Armeekorps und die Kosakendivision bestimmt sei, das andere
Korps gegen die deutsche Grenze.
Als Exzellenz Beck dem Obersten entgegnete, dies bedeute unter
den obwaltenden Umständen eigentlich keinen Unterschied, zuckte Herr
von Zujew die Achseln und sagte ziemlich wörtlich: „Wenn Deutsch-
land mit Frankreich Händel bekommt, schlagen wir sofort los, und
zwar gegen die Deutschen mit Passion ; da Sie gezwungen sind, den
Deutschen zu helfen, natürlich auch gegen Sie 2," Rußland könne
es nicht darauf ankommen lassen, daß Frankreich nochmals ge-
schlagen und Deutschland dann noch mächtiger werde.
Der Feldzeugmeister hat sich demgegenüber auf die Bemerkung
beschränkt, wenn die Sache wirklich so liege, dann hänge die Er-
haltung des Friedens allerdings unter Umständen vom Pariser Mob
ab, nicht aber vom Zaren 3.
Mein russischer Kollege hat darauf nichts entgegnet.
15 Die Große Politik. 7. Bd. 225
Derselbe ist ein zweifellos sehr befähigter Kopf, plaudert aber
zuweilen mit slawischer Kindlichkeit seine innersten Gedanken aus.
Er ist ein Schützling der Obrutschew und Dragomirow; seine An-
sichten dürften denjenigen dieser Generale nahestehen. Es ist aber
auch möglich, daß die Offenherzigkeit des Obersten von Zujew nicht
ganz unabsichtlich war; die Russen trachten seit Kronstadt dahin,
den Österreichern bange zu machen wegen ihres Bündnisses mit uns
und sie durch die ungeheuere Macht des mit Frankreich verbündeten
Rußlands einzuschüchtern.
Feldzeugmeister von Beck hatte denselben Eindruck und bat um
vertrauliche Behandlung seiner Mitteilungen. v. Deines
Randbemericungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Vorläufig wegen der Hungersnoth unterblieben
2 das ist doch wenigstens offenl
' sehr gut und wahr
Nr. 1512
Der Botschaf (er in Paris Graf Münster an das Auswärlige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 158 Paris, den 23. November 1891
Herr von Giers* hat hier abkühlend und beruhigend gewirkt
und die Chauvinisten enttäuscht. Von schriftlichen Abmachungen ist
allen Anzeichen nach keine Rede gewesen. Herr von Giers hat nur
von Erhaltung des status quo gesprochen und hat das mehr betont,
als selbst den Ministern lieb war, wie ich namentlich aus Äußerungen
des Herrn Freycinet entnehmen konnte.
Münster
Nr. 1513
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 24. November 1891
Herr von Giers** sagt, er sei mit einem besorglichen Gefühl nach
Paris gegangen, er sei aber auf das angenehmste enttäuscht. Die
* Er war, nachdem mit dem Austausch der Schreiben vom August (vgl. Nr, 1509,
S. 220, Fußnote) die erste Etappe des russisch-französischen Bündnisses erreicht
war, am 19. November zu Besprechungen mit den französischen Staatsmännern
in Paris eingetroffen. In diesen Besprechungen, über deren Verlauf wir durch
ausführliche Aufzeichnungen des französischen Außenministers unterrichtet sind
(Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 20, 21), war allerdings auch von schrift-
lichen Abmachungen eingehend die Rede.
** Er war am 23. November von Paris kommend für zwei Tage in Berlin ein-
getroffen, wo er von Kaiser und Reichskanzler empfangen wurde.
226
Bevölkerung sei rücksichtsvoll gewesen, man habe ihn gegrüßt, aber
kein Schrei, keine Marseillaise. Er habe in den Ministern, vorzüglich
Ribot, und in Herrn Carnot sehr verständige Leute gefunden und
hätte nirgends Ansichten gefunden, die von den seinigen abwichen.
Die Regierung wolle durchaus nicht den Krieg, und sie glaube stark
genug zu sein, um Zwischenfälle unschädlich zu machen. Das Wort
„Alsace'* sei nicht einmal ausgesprochen worden.
V. Caprivi ••
Nr. 1514
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig'
Berlin, den 25. November 1891
Herr von Giers, von mir darauf angeredet, daß hier verlaute,
dem Zaren sei in Kopenhagen gesagt. Seine Majestät unser Kaiser
habe sich abfällig über Seine Majestät den Kaiser von Rußland ge-
äußert, erwiderte, er wisse nichts davon, glaube nicht, daß seinem Herrn
dergleichen zu Ohren gekommen, werde sich aber zu informieren
suchen und dem Grafen Schuwalow darüber schreiben. Es sei dem
Zaren nicht angenehm gewesen, daß man die Erneuerung des Drei-
bundes so laut verkündet habe. Daß der Zar nicht über Berlin ge-
kommen, sei bei seiner Natur verständlich*. Er sei zu Höflichkeits-
akten schwer zu bewegen; beispielsweise selbst der Königin Olga
gegenüber. Er begreife nicht, daß man Wert auf solche Formen
lege und pflege dann zu sagen: „Qu'est ce que cela lui peut faire?" —
Die Kronstädter Entrevue habe sich aus den gegebenen Verhält-
nissen natürlich entwickelt. Wegen der Marseillaise habe Herr von Giers
den Kaiser vorher gefragt. Sie sei in Kopenhagen und Stockholm
gespielt worden, und der Zar habe gesagt: ,,Peux-je inventer un
autre hymne?" Überdies sei es nur die Melodie und nicht der Text
gewesen, die Sache habe jetzt auch eine andere Bedeutung wie vor
100 Jahren. Herr von Giers erzählte dann die bekannte Geschichte,
wie der Zar bei dem Diner nach den ersten Takten gerufen: „Assez.'*
Der Zar sei nach wie vor Archi-Monarchist. Er sei durchaus fried-
lich und werde nie zu einem Kriege schreiten, es sei denn, daß ein
allgemeiner europäischer Krieg ihn zur Teilnahme zwinge. Die Hungers-
not beschäftige den Zaren sehr und wäre an sich ein Gegengewicht
gegen jede kriegerische Tendenz.
Herr von Giers habe seinen Kaiser gefragt, ob er nach Paris
gehen solle und die Antwort erhalten, er möge das selbst entscheiden.
Er habe für gut gehalten, die Bekanntschaft der jetzigen Machthaber
* Vgl. Kap. XLIX, Nr. 1622, nebst Fußnote, S. 373.
15' 227
in Frankreich zu machen. Es sei ihm lieb, das getan zu haben. Er
halte dieselben für Leute, die den Krieg nicht suchen. Er habe ihnen
gesagt, daß sie nicht vergessen mögen, Deutschland sei nicht nur
der Nachbar Rußlands, sondern nahe verwandtschaftHche Bande ver-
bänden die Herrscherfamilien. Man habe ihm geantwortet, man begriffe
das vollkommen*. Herr von Giers v^^ünscht, daß die gegenwärtige Re-
gierung sich behauptet. Zu einer anderen, z. B. Herrn Clemenceau,
würden die Beziehungen Rußlands andere werden, mit ihr würde
das gute Einvernehmen nicht fortbestehen.
Die Nihilisten seien jetzt still; auch in Paris seien sie nicht zu
spüren; sie seien aber ihrer Energie und ihres Todesmutes wegen
nach wie vor gefährlich. Wir hätten in der konstitutionellen Regierung
ein Ventil für überspannte Kräfte, der Zar müsse bisweilen auch
nach einer soupape suchen und die öffentliche Meinung zum Aus-
druck kommen lassen. Der Kaiser liebe es, die nationale Note an-
zuschlagen, pp.**
V. Caprivi
Nr. 1515
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 25. November 1891
pp. Als Herr von Giers sodann*** von den friedlichen Eindrücken
sprach, die er in Paris empfangen, und von der neuen Friedens-
garantie, welche durch den mäßigenden Einfluß Rußlands auf Frank-
reich gegeben werde, entgegnete ich, daß für die deutsche Regierung
die französisch-russische Annäherung um so weniger einen Gegen-
stand der Befürchtung bilde, als wir in der Entrevue von Kronstadt
vornehmlich eine äußere Bekundung bereits bestehender Beziehungen
erblickten. Dagegen könne ich nicht verhehlen, daß unsere öffent-
liche Meinung diese Auffassung nicht teile, vielmehr die Ereignisse
der letzten Monate einen tiefen Eindruck auf dieselbe gemacht hätten.
Seit 20 Jahren sei man darauf gefaßt, daß Frankreich eines Tages
* Davon steht begreiflicherweise in dem Resume des französischen Ministers Ribot
über seine Unterredungen mit Giers (Französisches Gelbbuch L'Alliance Franco-
Russe Nr. 20, 21) nichts. Dagegen heißt es dort: „La pensee de M. de Giers est
qu'on peut retarder la guerre, mais il parait ne pas croire qu'on puisse y echapper
un jour ou l'autre. C'est en ce sens qu'il a parle ä l'Empcreur. Pour le moment
il s'applique a maintenir avec TAllemagne des rapports tolerables."
** Den Schluß der Aufzeichnung siehe in Bd. IX, Kap. LV, A, Nr. 2118, Fußnote.
♦** Den Anfang des Schriftstückes, der von den handelspolitischen Beziehungen
zwischen Deutschland und Rußland handelt, siehe in Kap. XLIX, Nr. 1633.
228
Deutschland angreife, um revanche zu üben; es sei daher begreiflich,
daß unsere öffentliche Meinung in der Annäherung einer Großmacht
an Frankreich eine Stärkung jener Gelüste erblicke, — Herr von Giers
unterbrach mich hier mit der Bemerkung, daß die Frage einer revanche
für Rußland nicht existiere und auch bei seiner jüngsten Anwesen-
heit in Paris weder dieses noch ein ähnliches Wort, insbesondere
auch nicht die Worte Alsace oder Lorraine gefallen seien. — Diese
Anschauung weiterer Volkskreise — fuhr ich fort — sei in der schärfsten
Weise bei Gelegenheit des letzten russischen Anlehens* zum Aus-
druck gekommen; die Presse aller Parteien habe darin überein-
gestimmt, daß es eine Art „haute trahison" sei, Rußland irgendwelche
wirtschaftliche Vorteile zuzuwenden oder auch nur einen Sou für
russische Anlehen zu zeichnen. Diese Stimmung sei zur Geltung ge-
langt, obgleich die deutsche Regierung in der Anlehensfrage strikte
Neutralität beobachtet habe. Es würde daher ein Irrtum sein, wenn
man annehme, daß die gegenwärtige Baisse der russischen Werte
etwa auf Machinationen deutscher Bankiers zurückzuführen sei, die
selbst durch die Entschiedenheit der öffentlichen Meinung überrascht
worden seien.
Herr von Giers suchte die Erklärung für diese Erscheinung in
dem Umstände, daß in der letzten Zeit gar viele Ereignisse zu-
sammengetroffen seien, um die öffentliche Meinung bezüglich Ruß-
lands zu beeinflussen; die Judenfrage, welche für viele österreichische
und deutsche Blätter bei Beurteilung russischer Verhältnisse maß-
gebend sei, die Entrevue von Kronstadt, die Hungersnot samt den
Ausfuhrverboten usw.; er hoffe, daß bald eine beruhigtere Stimmung
eintreten werde. Herr von Giers erging sich dann in einer lebhaften
Schilderung seiner Pariser Eindrücke. Er sei lediglich aus Familien-
rücksichten dort gewesen, habe aber allerdings mit maßgebenden Per-
sönlichkeiten politische Pourparlers geführt und daraus entnommen,
daß die gegenwärtigen Leiter Frankreichs nicht nur außerordentlich
friedlich gesinnt seien, sondern geradezu die Erhaltung des Friedens
als eine Existenzbedingung einer konservativen Republik erachteten;
diese Auffassung entspreche derjenigen der großen Mehrheit des fran-
zösischen Volkes; nur eine kleine Minorität von „braillards" wünsche
den Krieg, aber M. Constans mit seiner starken Faust werde die-
selbe im Zaume halten. Die jetzige Regierung wünsche mit Deutsch-
land in guten Verhältnissen zu leben und erkenne an, daß Deutschland
in seinen Beziehungen zu Frankreich aufrichtig und loyal verfahre.
* Am 25. September war eine russische 3o/oige Anleihe im Betrage von 500 Mil-
lionen Franken ausgeschrieben, die von einem Konsortium von Banken in allen
Ländern, u. a. in Berlin von den Bankhäusern Warschauer und Mendelssohn, auf-
gelegt werden sollte. Diese beiden traten aber unter dem Druck der erregten
öffentlichen Meinung in Deutschland wieder zurück. In Frankreich wurde die
russische Anleihe zwar TVamal gezeichnet; jedoch zeigte sich bald, daß nur ein
Teil der Zeichner bereit war, die Stücke abzunehmen.
229
Mit Genugtuung habe er gesehen, daß auch die Stimmung gegen
Italien sich gebessert habe. Während man, solange Crispi am Ruder
war, sich fortwährend gegenseitig Absichten auf Tripolis vorgeworfen
habe und aus jedem Anlaß erbitterter Streit entstanden sei, habe er
in Paris kein hartes Wort über Italien gehört. Nur weise man dort
die Insinuation entschieden zurück, die von italienischer Seite er-
hoben werde, als ob Frankreich Absichten auf Wiederherstellung der
weltlichen Macht des Papstes habe. Die Sache sei einfach die, daß
Kardinal Lavigerie sich für die Erhaltung einer konservativen Republik
in Frankreich interessiere und von der Einwirkung des Vatikans den
Anschluß der französischen Konservativen an die Republik erhoffe, pp.
Herr von Giers kam dann auf das „rapprochement" zwischen
Rußland und Frankreich zurück, das er als eine Folge der Wieder-
erneuerung der Tripelallianz darstellte*. Auf meine Bemerkung, daß
diese Allianz schon seit 1887 bestehe und dieselbe sich bis heute
niemals von der Linie einer rein defensiven Politik entfernt habe,
entgegnete Herr von Giers, dies sei richtig, allein die Wiederemeue-
rung sei mit soviel „fracas" in Szene gesetzt worden, daß das Be-
dürfnis der Annäherung beider Staaten sich ergeben habe, worauf ich
darauf hinwies, daß in heutiger Zeit politische Ereignisse naturgemäß
in der Presse aufgebauscht würden und die Kronstadter Entrevue
diesem Schicksal ja auch nicht entgangen sei.
Der Minister kehrte sodann in seinen Betrachtungen wieder nach
Paris zurück, um nochmals die friedlichen Eindrücke zu schildern,
die er dort erhalten habe; die surexcitation, die früher geherrscht,
habe sich kalmiert, er selbst sei in keiner Weise behelligt worden.
Man habe dort das Bewußtsein, wieder eine würdige Stellung in
Europa einzunehmen, und das befriedige. Besonders interessant sei
ihm die Wahrnehmung gewesen, daß man in Paris eine territoriale
Ausdehnung der republikanischen Staatsform nicht wünsche; im Gegen-
teile glaube man, daß, wenn Portugal, Spanien und etwa gar Italien
zu derselben Staatsform übergingen, aus den turbulenten Elementen
jener Staaten, die dann voraussichtlich zur Herrschaft gelangen würden,
der französischen Republik Schaden entstehen würde. Im übrigen habe
€r wiederholt sich gefragt, ob nicht eine konservative Republik in
Frankreich für den Frieden günstiger sei als eine Monarchie, deren
Träger geneigt sein werde, sich durch kriegerische Taten zu be-
festigen.
Ich bemerkte dem Minister, daß wir die friedliche Gesinnung
der jetzigen Machthaber in Frankreich nicht bezweifeln wollten, aber
auch die gegenwärtige Regierung, die man eine starke nenne, habe
nicht den Mut, sich offen von dem Revanchegedanken loszusagen.
Wir müßten also Frankreich gegenüber stets auf der Hut sein. Wir
• Vgl. Nr. 1507, Fußnote f.
230
wollten von ihm gar nichts anderes, als daß man uns in Ruhe lasse:
Wenn Rußland in diesem Sinne auf die Franzosen einwirke, so könne
uns dies nur lieb sein. pp. Marschall
Nr. 1516
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 12 Paris, den 11. Januar 18Q2
Die Fieberhitze der russischen Krankheit, an der die französische
Nation diesen Sommer gelitten hatte, ist etwas abgekühlt, und ist sie
mehr chronisch und latent geworden.
Es sind verschiedene Gründe, welche diese kühlere Temperatur
bedingen.
Je weiter die Aussichten auf Krieg hinausgerückt werden, je
weniger tritt die Notwendigkeit der Allianz hervor.
Bei mehreren Gelegenheiten haben, wie noch kürzlich in Bul-
garien, die Russen Herrn Ribot nicht folgen wollen. Die Hungersnot
in Rußland und die inneren Zustände infolge derselben werden doch
allgemein auch hier so aufgefaßt, als werde Rußland zum Kriege
weniger geneigt sein, als hier allgemein angenommen wurde.
Dazu kommen die finanziellen Verhältnisse Rußlands. Die fran-
zösischen Finanzkreise sehen doch auch ein, daß in Geldsachen der
übertriebene Patriotismus seine Grenzen hat, daß der französische
Geldmarkt mit russischen Werten sehr stark, wenn nicht schon zu
stark versorgt ist. Die letzte Anleihe hat das bewiesen; und nach
allem, was ich höre, ist eine neue russische Anleihe hier vor der Hand
nicht unterzubringen, pp.
Die russische Regierung scheint darauf es aufgegeben zu haben,
hier über eine Anleihe zu verhandeln, und sucht sie durch das Syndikat
der letzten Anleihe die 200 Millionen, welche sie zurücknehmen mußte,
nach und nach auf dem hiesigen Markt unterzubringen, eine Operation,
bei der die Rothschilds jede Mitwirkung verweigert haben.
Münster
Nr. 1517
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 96 Paris, den 14. April 1892
Die französische Russenliebe ist, wie ich kürzlich bereits bericht-
lich und mündlich zu erwähnen die Ehre gehabt, in neuerer Zeit
erheblich erkaltet. Die Erkenntnis dieses Wechsels ist auch den offenen
und stillen Förderern der russisch-französischen Freundschaft nicht
231
entgangen, und sie geben sich jetzt um so mehr Mühe, die gesunkene
Temperatur zum Steigen zu bringen und in Rußland den Glauben
an die unwandelbare Ergebenheit der Franzosen zu erhalten. So haben
unter anderem die Mitglieder der seinerzeit behördlich nicht anerkann-
ten „Societe des amis de la Russie" beschlossen, dem Zaren als
Zeichen der hingebenden Verehrung der französischen Nation ein Ge-
schenk darzubieten, das in einer künstlerisch gearbeiteten silbernen,
mit Gold und Edelsteinen ausgelegten Tafel besteht, welche den Stamm-
baum der kaiserlichen Familie darstellt. An der Spitze jener Russen-
freunde steht der bekannte Fery d'Esclands, der auch das Geschenk
in Petersburg überreichen soll. Derselbe hat nun auch den sonst so
zurückhaltenden Präsidenten Carnot zu bewegen gewußt, dieser Hul-
digung eine gewisse Sanktion und besondere Bedeutung zu geben,
indem er ihn zu einer feierlichen Besichtigung des Kunstwerkes und
vorher zu einem Besuche des Wachsfigurenmuseums Grevin veranlaßt
hat, um dort die Darstellung der „entrevue de Cronstadt*' zu betrachten.
Einer offiziösen Notiz zufolge hat der Präsident, als ihm gesagt
wurde, daß der Kaiser von Rußland die Gabe, den sonstigen Ge-
bräuchen entgegen, anzunehmen geruht habe, geäußert: „Ce n'est
pas seulement un grand honneur que nous fait Sa Majeste, c'est une
marque d'amitie qu'elle nous donne."
Auch der ehemalige Minister Flourens, bekanntlich einer der eifrig-
sten Vorkämpfer der russisch-französischen Allianz, ist wieder auf
dem Wege nach St. Petersburg, um durch Überbringung einer Gedenk-
münze der Moskauer Ausstellung wieder Gelegenheit zu haben,
huldigend vor den Zaren zu treten.
Die hier mannigfach versuchten Wohltätigkeitsunternehmungen zu-
gunsten der notleidenden Russen dagegen haben wenig Anklang ge-
funden, und für eine demnächst unter der Ägide der russischen Bot-
schaft stattfindende Vorstellung bedarf es schon jetzt eines großen
Aufwands an Reklame, pp.
Münster
Nr. 1518
Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 221 St. Petersburg, den 21. Juh 1892
Der kürzlich erschienene, die Abschließung eines schriftUchen
Bündnisvertrages zwischen Rußland und Frankreich verlangende Ar-
tikel des „Figaro"* wird hier nicht nur bei Hofe, sondern auch in
anderen politischen und gesellschaftlichen Kreisen in sarkastischer und
•Der berühmte Artikel des „Figaro" vom 14. Juli „Alliance ou flirt?", dessen
Sinn der russische „Qrashdanin" vom IQ. Juli kurz und bündig dahin umschrieb:
„Genug der Worte, in die wir keinen festen Glauben setzen, her mit dem for-
232
ablehnender Weise besprochen, obwohl von mancher Seite eingeräumt
wird, daß die in dem Artikel enthaltene Schilderung russischer Zu-
stände nicht ganz unrichtig sei.
Auffällig ist, daß nicht nur in den erwähnten Qesellschaftssphären
die Idee eines mit Frankreich abzuschließenden schriftlichen Vertrages
von der Hand gewiesen wird, sondern daß auch — wie Euere Ex-
zellenz aus den ganz gehorsamst beigefügten Zeitungsübersetzungen
bzw. -ausschnitten hochgeneigtest entnehmen wollen — die hiesigen
namhafteren Preßorgane trotz aller Sympathien für die Annäherung
beider Staaten von einem eigentlichen Allianzvertrag nichts wissen
wollen.
Es ist dies ein bemerkenswerter Umschlag der öffentlichen Mei-
nung, ein Beweis für die beginnende Abnahme der franzosenfreund-
lichen Stimmung in Rußland. Denn nach den Tagen von Kronstadt,
bis in den vergangenen Winter hinein verlangte die russische
Presse in dringlicher Weise, daß das französisch-russische rapproche-
ment durch einen schriftlichen Vertrag besiegelt werde.
Eine alleinige Ausnahme machte damals das Hofblatt „Grashdanin",
welches auch jetzt wieder — wie aus den Anlagen ersichtlich —
den Franzosen derb die Wahrheit sagt.
Schließlich möchte ich ehrerbietigst bemerken, daß der hiesige
französische Botschafter Graf Montebello von dem Erscheinen des
betreffenden „Figaro"-Artikels recht peinlich berührt ist.
A. V. Bülow
Nr. 1519
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 175 Paris, den 2. August 1892
Euere Exzellenz haben mit hohem Erlaß Nr. 180 vom 26, v. Mts.
Aufschluß darüber erfordert, ob der französische General de Boisdeffre
mellen Bündnisvertrage!" wurde von Graf Münster im Berichte vom 22. Juli als
eins der vielen Symptome dafür bewertet, daß die Russenliebe in Frankreich
wieder erkalte und mit ihr das Vertrauen auf russische Hilfe. In Wirklichkeit
war der Artikel, der zeitlich mit der Rückkehr des Zaren von Kopenhagen nach
Rußland zusammenfiel, ein wohlberechneter französischer Vorstoß in der Rich-
tung des schon früher in Aussicht genommenen Abschlusses einer französisch-
russischen Militärkonvention. Tatsächlich ließ der Zar unmittelbar nach seinem
Wiedereintreffen in der russischen Hauptstadt alsbald den französischen General
Boisdeffre im Hinblick auf die geplanten Verhandlungen zu den Augustmanövem
einladen, und tatsächlich wurden bei dieser Gelegenheit die Verhandlungen über die
Militärkonvention bis zu ihrer Unterzeichnung von den beiderseitigen militärischen
Unterhändlern geführt. Der formelle und definitive Abschluß erfolgte bekanntlich
erst Ende 1893. Siehe Gelbbuch L'AUiance Franco-Russe, Nr. 43 ss.
tatsächlich russischerseits eine Einladung zu militärischen Übungen
erhalten hat.
Meine Beantwortung dieser Frage ist inzwischen durch die Preß-
meldung überholt, daß General Boisdeffre bereits in St. Petersburg
eingetroffen ist. Ob die Initiative zu seiner Mission von Seiner Majestät
dem Kaiser Alexander, von anderer russischer oder aber von fran-
zösischer Seite ausgegangen ist, habe ich noch nicht zu ermitteln
vermocht*.
Bemerkenswert ist, daß General Boisdeffre kürzlich ungewöhn-
lich rasch zum Divisionsgeneral befördert wurde. In militärischen
Kreisen ist diese Rangerhöhung damit erklärt worden, daß es der
französischen Regierung darum zu tun gewesen sei, ihrem militäri-
schen Abgesandten die Einräumung eines Platzes zu sichern, welcher
der Bedeutung der französischen Armee und den Beziehungen zwi-
schen den beiden Staaten entspreche. In dieser Beziehung, so wird
hinzugefügt, sei bisher manches versäumt worden.
Die Beförderung Boisdeffres läßt darauf schließen, daß seiner
Mission eine persönliche Einladung zugrunde liegt i, da man anderer-
seits wohl einen rangälteren General hätte wählen können.
v. Schoen
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Glaube ich auch.
Nr. 1520
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 207 Paris, den 7. September 1892
Präsident Carnot hat mit großem Gefolge, d.h. mit einigen Mini-
stern, seiner maison militaire und einem Schwärm von Journalisten
eine zweitägige Reise nach Chambery unternommen, um der dortigen
Jahrhundertfeier des ersten Anschlusses von Savoyen an Frankreich
beizuwohnen, pp.
Einen kurzen Aufenthalt in dem bekannten savoyischen Badeort
Aix-les-Bains benutzte der Präsident, um mit dem dort weilenden
König von Griechenland Höflichkeitsbesuche auszutauschen, einen
kurzen Besuch des Herzogs von Leuchtenberg zu empfangen und den
Minister von Giers von Ribot und Freycinet begrüßen zu lassen.
* Aus Petersburg hatte der Geschäftsträger A. von Bülow bereits am 2\. Juli be-
richtet, daß die Einladung Boisdeffres von Kaiser Alexander selbst ausgegangen sei.
234
Aix war überdies der Schauplatz einer seltsamen Episode, darin be-
stehend, daß der Präsident einen kleinen Schuljungen, der in russi-
schem Anzug vor ihn trat und einige naive Knittelverse über russisch-
französische Freundschaft vortrug, mit den emphatischen Worten
„J'embrasse la Russie" unter dem Jubel der Menge küßte. Über-
haupt war der sonst so zurückhaltende Präsident bei seiner jetzigen
Reise mit derartigen Expansionen gar freigebig, indem er sich nicht
mit dem üblichen Kuß auf die errötenden Wangen der Ehrenjungfrauen
begnügte, sondern auch bärtige Männer und Greise wiederholt gerührt
an Brust und Lippen drückte.
Man hat hier dem Umstände gewisse Beachtung geschenkt, daß
der Präsident u. a. vom Minister des Äußern begleitet war, während
mehr der Minister des Innern am Platze gewesen wäre, und man
hat mit dieser Tatsache die andere in Verbindung gebracht, daß
Herr von Oiers in Aix weilte und auch Baron Mohrenheim sich da-
selbst eingefunden hatte. Gewisse Politiker meinten, daß es sich da
um große Dinge handle. Demgegenüber ist zu bemerken, daß Herr
von Giers tatsächlich recht krank ist und die Minister Ribot und
Frcycinet nur ganz kurz empfangen konnte*. Wenn auch F^ibot den
Wunsch gehabt haben mag, sich mit dem russischen Minister zu
begegnen, so erklärt sich seine Anwesenheit in der Umgebung des
Präsidenten auch damit, daß ihm nach der Etikette der Republik die
Rolle zufiel, den König von Griechenland namens der Regierung zu
begrüßen. Daß Baron Mohrenheim sich die Gelegenheit nicht hat
entgehen lassen, einen Besuch bei seinem kranken Chef mit einer
Aufwartung beim Präsidenten zu verbinden, ist weiter nicht auffällig.
Übrigens beklagt es der „Soir", eine Zeitung, die schon seit den
Tagen von Kronstadt den Piatonismus der russischen Liebe hervor-
hebt, daß das Zusammentreffen russischer und französischer Staats-
männer in Aix den Abschluß eines Bündnisvertrages nicht näher-
gerückt habe. Solange das jetzige unbestimmte Verhältnis dauere,
könne Rußland bei einem Kriege wohl auf das gleichzeitige Los-
schlagen Frankreichs rechnen, nicht aber Frankreich unter allen Um-
ständen auf die Hülfe Rußlands i.
V. Schoen
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Wollen es hoffen.
* Tatsächlich hat Ribot, wie aus seinem Schreiben an den Grafen de Montebello
vom 7. September (Französisches Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 79) her-
vorgeht, bei seinem Aufenthalt in Aix-les-Bains sehr eingehend mit Giers über das
russisch-französische „Arrangement" und speziell über die formell noch nicht
zum Abschluß gelangte, aber auf beiden Seiten „comme etant accomplie" be-
Irachtete Militärkonvention und ihre endgültige Unterzeichnung verhandelt
235
Nr. 1521
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 217 Paris, den 20. September 1892
Vertraulich
Aus Anlaß des kürzliclien Zusammentreffens französischer und
russischer Staatsmänner in Aix-les-Bains sind in hiesigen Zeitungen
wieder hie und da Gerüchte von dem Abschlüsse eines förmlichen
russisch-französischen Bündnisses* aufgetaucht.
Der hiesige englische Botschafter hat den ifalienischen, wie dieser
mir anvertraut, gefragt, ob diesen Gerüchten Wert beizumessen sein
möchte, und eine verneinende Antwort erhalten. Herr Reßmann seiner-
seits hat mir die Ehre erwiesen, mich um meine Informationen und
Eindrücke zu befragen.
Ich habe dem Botschafter erwidert, mir schienen keinerlei An-
zeichen dafür vorzuliegen, daß Rußland neuerdings Veranlassung ge-
nommen habe, von seinem bekannten Programm der freien Hand
abzuweichen und sich mit Frankreich auf bestimmte EventuaUtäten
einzuschwören. Rußland sei auch ohne Vertrag der französischen Hülfe
so ziemlich unter allen Umständen sicher, das Interesse an geschriebenen
Verpfhchtungen bestehe daher nur auf französischer Seite. Es sei
nicht anzunehmen, daß der Kaiser von Rußland neuerdings mehr
Neigung erhalten habe, sich in ein Verhältnis mit der französischen
Regierung zu setzen, das unter Umständen eine Art Abhängigkeits-
verhältnis werden könnte. Ein Defensivbündnis habe überdies kein
rechtes Objekt, da man in Rußland wie in Frankreich doch nach-
gerade davon überzeugt sein müsse, daß niemand sie anzugreifen
denkt. Aus dem gleichen Grunde könnte uns, den Dreibundmächten,
ein russisch-französisches Defensivbündnis, falls es zustande kommen
sollte, eher zur Beruhigung als zur Besorgnis gereichen. Was ein
Aggressivbündnis betreffe, so sei das am Ende des 19. Jahrhunderts
ein so monströses Dingi, daß der verblendete Gedanke an den Ab-
schluß eines solchen weder einem russischen noch einem französischen
leitenden Staatsmanne zugetraut werden könne 2. Anders Hege die Frage,
ob nicht militärische Vereinbarungen bezüglich einer gewissen gemein-
schaftlichen Politik auf der Balkanhalbinsel, im Orient, in Ostasien
und anderen Gebieten beständen oder bevorständen 3. Aber solche Ab-
machungen könne man bei der Wandelbarkeit der Fälle schwerlich
vertragUch festlegen. Alle Anzeichen sprächen nach wie vor dafür,
daß zwischen Rußland und Frankreich nichts anderes bestehe als
ein unbestimmtes Freundschaftsverhältnis.
♦ Vgl. Nr. 1520, S.235, Fußnote.
236
Herr Reßmann pflichtete meinen Anschauungen bei und bemerkte,
ihm sei auch deshalb nicht glaublich, daß es neuerdings zu vertrag-
lichen Festsetzungen zwischen Frankreich und Rußland gekommen
sei, weil die französische Regierung nicht einen Augenblick gezögert
haben würde, der Nation ein solches Ereignis zu verkünden 'i, das wie
kein anderes geeignet wäre, die Stellung von Präsident Carnot und
den jetzigen Ministern zu einer unerschütterlichen zu machen^.
V. Schoen
Randbemericungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Warum?
2 im Gegentheil; bei beiden Sorten ist so was wohl möglich
* bestimmt ja
* ! NaivI das würden die Russen hübsch verhüten
^ das außerdem immer noch mal sich ereignen [kann]
Nr. 1522
Der Botschalter io Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 238 Paris, den 13. Oktober 1892
Wenn auch die Stellung des russischen Botschafters durch seine
Gespräche mit dem Marquis Mores und die Korrespondenz mit
Clemenceau gelitten hat und er immer mehr zur lächerlichen Person
wird, der Pariser sich auch über den Russenkultus lustig macht,
so scheinen trotzdem die Beziehungen zwischen beiden Regierungen
wieder intimer geworden zu sein.
Wenn ich bis jetzt auch immer angenommen habe, daß sich
Seine Majestät der Kaiser von Rußland der demokratischen Republik
gegenüber niemals binden und sich nicht auf einen Allianzvertrag
einlassen würde, so bin ich doch jetzt nicht mehr ganz sicher, ob
nicht gewisse Abmachungen vereinbart wurden.
Die Rothschilds, welche bisher stets behaupteten, daß nichts der
Art existiere, stellen dieses nicht mehr so in Abrede, haben ganz
plötzlich ihre abwehrende Haltung Rußland gegenüber geändert und
verhandeln über eine 500-Millionen-Anleihe.
Rothschilds, die bisher Royalisten w^aren, haben sich der Republik
genähert, gehen jetzt Hand in Hand mit der Regierung, da sie da-
durch hier wieder Einfluß erlangen. Die Aussicht auf Gewinn und,
wie Alphonse Rothschild behauptet, die Hoffnung, für die Juden in
Rußland bessere Bedingungen zu erreichen, haben das hiesige Haus
veranlaßt, auf die Anleiheverhandlungen einzugehen.
237
Daß das Londoner Haus nichts mit dieser Anleihe zu tun haben
will, zeigt, wie schlau diese großen Juden sind, und wie sie sich
immer eine Hintertür offen halten.
Es ist übrigens noch nicht ganz sicher, ob die Rothschilds die
Garantien erhalten, welche sie von der russischen Regierung für die
zukünftige Stellung der Israeliten in Rußland verlangen.
Wie ich gestern schon meldete, liegt noch eine Schwierigkeit
für die Übernahme der Anleihe auch darin, daß das Haus Rothschild
mit Recht entschieden verlangt zu wissen, wie und wieviel von den
200 Millionen Franks, welche von der vorigen 500-Millioncn-Anleihe
nicht untergebracht werden konnten*, wirklich vergeben ist. Es sollen
die Manipulationen, die dabei vorgenommen wurden, nicht recht das
Licht vertragen können.
Die näheren Bedingungen und namentlich der Kurs der neuen
Anleihe wird bis zur Emission geheim gehalten.
Wenn wirklich diese finanziellen Verhandlungen die Folge politi-
scher Abmachungen sind, so mag das mit der Krankheit des Ministers
Giers, der ja niemals fest sich Frankreich gegenüber binden wollte**,
zusammenhängen. Sein jetziger Vertreter*** wird zu allen Konzessionen
Frankreich gegenüber geneigt sein, wenn er dadurch glaubt, an die
Stelle von Giers gelangen zu können.
Daß die Frau des neuen Finanzministers Witte f, die mir von
hiesigen Russinnen als eine kluge, sehr intrigante Jüdin geschildert
wird, viel zur Verständigung- mit den jüdischen Bankiers beiträgt,
halte ich auch nicht für unmöglich.
Daß übrigens eine 4o/oige russische Anleihe, von Rothschilds aus-
gebracht, hier genommen werden wird, hat die Haltung der Börse
in den letzten Tagen gezeigt. Um sich Klarheit über die Stimmung
der hiesigen Börse zu verschaffen, hatten Rothschilds unter der Hand
mitgeteilt, daß sie eine Anleihe jetzt übernehmen würden.
In Frankreich ist die Spekulation wie tot, alle industriellen Unter-
nehmungen sind gelähmt, die Kapitalisten wissen nicht ihr Geld unter-
zubringen, die Furcht vor einem baldigen Kriege hat sehr abgenommen,
und das wird auch zum Erfolg der Anleihe beitragen, die als Kriegs-
anleihe nicht anzusehen ist.
Daß Rußland infolge der Hungersnot Geld braucht, war schon
lange bekannt. In Berlin war für den Augenblick keine Anleihe an-
zubringen. Die hiesige Regierung war besorgt, daß die Tarifverhand-
lungen zwischen uns und St. Petersburg doch gelingen könnten f"]-, die
* Vgl. Nr, 1516.
** Sic!
*** Ministergehilfe Schischkin,
t Seit Anfang September Nachfo'ger des Ministers WyschnegradskL
tt Vgl. Kap, L, B, Nr, 1661, Fußnote.
238
Pariser Börse fürchtet, durch die Berliner überflügelt zu werden, die
großen Juden glauben, daß, wenn sie Geld verdienen, sie den kleinen
Juden am besten helfen können, und so geben die Franzosen, trotzdem
daß der französische Markt mit russischen Werten übersättigt ist,
gute Franken für schlechte Rubel.
Sollte wirklich ein Allianzvertrag existieren, kommt hier die russi-
sche Anleihe zustande, so ändert das nichts an der poUtischen Situation,
wie sie faktisch seit Jahren besteht.
Münster
Nr. 1523
Der Botschafter in Paris Gral Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 284 Paris, den 8. Dezember 1892
Das Ministerium Loubet-Ribot, welches in den Panamakanal* fiel,
ist als Ministerium Ribot-Loubet wieder auferstanden.
Es hat sich, aus ganz verschiedenen Gründen, zweier seiner Mit-
glieder entledigt: des Justizministers Ricard, der es zu Falle brachte,
und des Ministers für Handel Jules Roche, der wahrscheinlich über den
Schweizer Handelsvertrag gefallen wäre und dann den Minister Ribot,
der den Vertrag unterzeichnete, hätte mitziehen können, pp.
Die Erklärung dafür, daß der Präsident nicht sich an Freycinet,
sondern an Ribot wandte, liegt darin, daß Carnot Freycinet für einen
Präsidentschaftskandidaten hält und ihm nicht traut.
Was aber vor allem für Ribot den Ausschlag gab, ist die Rück-
sicht auf Rußland.
Ob Ribot wirklich eine geschriebene Abmachung mit Rußland hat,
oder ob nur mündliche Versprechungen ihm und von ihm gegeben
sind, habe ich noch nicht ermitteln können, er gibt sich aber den
Anschein, als sei es geschehen.
Von zwei Seiten ist mir gesagt worden, daß er geäußert habe,
er habe Verdienste um Frankreich, mit denen er sich noch nicht
rühmen dürfe, und die ihm das Recht geben, Ministerpräsident zu
werden. Was könnte das anderes sein?
Für mich spricht dagegen, daß, wenn er wirklich einen Allianz-
vertrag in der Tasche hätte, er nicht würde widerstehen können, es
bekanntzumachen. Steht die Sache nicht fest, so würde er ein
* über den Panamaskandal, der den schlechtesten Eindruck bei der russischen Re-
gierung und namentlich auch bei Kaiser Alexander III. machte, siehe Kap. XLVIII,
Nr. 1590 nebst Fußnote *.
239
dementi von Rußland erwarten können, denn das unbedingte Ver-
trauen zum russischen Kaiser ist nicht mehr vorhanden.
Sind, wie ich glaube, nur mündliche Versprechungen gegeben,
so würde von russischer Seite jede Indiskretion sehr übelgenommen
werden.
Darin glaube ich nicht zu irren, daß Ribot das geschickt benutzt
hat und russisch-französischer Ministerpräsident geworden ist. pp.
Münster
Nr. 1524
Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den
Voriragenden Rat im Auswärtigen Amt Grafen von Pourtales
Privatbrief. Ausfertigung
Vertraulich Kopenhagen, den 12. Dezember 1892
Aus zuverlässiger Quelle gehen mir die nachstehenden Notizen
vom hiesigen Hofe zu:
Am 9. Dezember hat zu Ehren des von hier scheidenden englischen
Gesandten Sir Hugh Mac Doneil im Schlosse zu Amalienborg ein
Hofdiner stattgefunden, pp.
Auf dem Diner selbst ist dann unter anderen von der Verlobung
des Herzogs von York mit der Prinzessin May von Teck als von
einem wahrscheinlich demnächst eintretenden Ereignis die Rede ge-
wesen. Als Sir Hugh Mac Donell bei diesem Anlaß bemerkte, daß
von dieser Verlobung allerdings mehrfach in den englischen Zeitungen
gesprochen werde, hat die Königin Luise an diese Bemerkung an-
knüpfend etwa folgende Äußerung getan:
„Ach gehen Sie mir mit den Zeitungen, Ihre englischen Zeitungen
mögen vielleicht noch die besten oder die am wenigsten schlimmen
sein. Die Zeitungen richten aber sehr viel Unheil an. Sehen Sie nur
z. B., wie diese nichtswürdigen und abscheulichen französischen Blätter
unausgesetzt bestrebt sind und mit allen Mitteln dahin arbeiten, die
Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland so feindlich wie nur
irgend möglich zu gestalten. Gottlob ist aber in neuerer Zeit das
Verhältnis zwischen den beiden Kaiserreichen wieder viel besser als
früher geworden. Sie hätten nur meinen Schwiegersohn (Kaiser Alexan-
der) sehen sollen, in welchen Unwillen und in welchen Zorn er immer
geriet, sobald in den Zeitungen von dem förmlichen Abschluß einer
franco-russischen Allianz die Rede war."
Noch vor Jahresfrist würde Königin Luise wohl kaum in dieser
Weise gesprochen haben. Die zwischen Kaiser Wilhelm und König
Christian bestehende Freundschaft scheint sonach selbst auf eine so
240
große Gegnerin Preußens und Deutschlands, wie Königin Luise es
bisher noch immer gewesen ist, nicht ohne einen gewissen Einfluß
zu bleiben.
Ein derartiger Stimmungswechsel, namentlich wenn er anhalten
sollte, verdient immerhin Beachtung, weil derselbe ganz naturgemäß
durch die eventuelle Vermittelung der Kaiserin von Rußland leicht
auch auf den Zaren selbst seine Wirkung auszuüben geeignet sein kann.
Brincken
Nr. 1525
Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 365 St. Petersburg, den 28. Dezember 1892
Der französische Botschafter Graf Montebello ist kürzlich von
dreimonatlichem Urlaube nach St. Petersburg zurückgekehrt und be-
findet sich, wie mir verschiedene seiner näheren Bekannten versichern,
in gedrückter Stimmung. Daran sind einerseits die trüben Eindrücke,
die der Graf aus Paris mitbringt, andererseits die Abschwächung fran-
zösischen Einflusses schuld, die der Botschafter an hiesiger maß-
gebender Stelle bei seiner Rückkehr vorgefunden hat^.
Dieser Umschwung zu Ungunsten Frankreichs ist in erster Linie
direkt auf Seine Majestät den Kaiser Alexander zurückzuführen.
Ich darf bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, ehrerbietigst
hervorzuheben, was ich im Sommer v. Js. wiederholt zu melden die
Ehre hatte, daß nämlich der Zar die ostensible Annäherung Rußlands
an Frankreich 2 nicht etwa aus Sympathie für genanntes Land, sondern
hauptsächlich deshalb genehmigte, weil höchstderselbe sich durch den
erneuerten Dreibund bedroht glaubte.
Diese Befürchtung des Monarchen wurde von verschiedenen
deutschfeindlichen Persönlichkeiten durch allerhand falsche Nachrichten
und erlogene Erzählungen genährt, und erst im Frühjahr d. Js. brach
sich im Herzen des hohen Herrn mehr und mehr die Überzeugung
Bahn, daß sein Mißtrauen nicht gerechtfertigt sei.
Mehrere Umstände trugen dazu bei, das Vertrauen des Monarchen
zu Deutschland wesentlich zu stärken.
Zu denselben rechne ich den guten Einfluß, welchen Seine Majestät
der König von Dänemark auf seinen kaiserlichen Schwiegersohn aus-
übte*, den günstigen Verlauf der Kieler Entrevue** sowie die den
Monarchen tief verstimmenden Vorgänge in Frankreich.
* Vgl. Nr. 1524
** Siehe Kap. L, Nr. 1636.
!6 Die Große Poliük. 7. Bd. 241
Von gut unterrichteter Seite wurde mir versichert, sowohl die
atheistische Haltung der französischen Regierung als ihre Schwäche
den sozialistischen Elementen gegenüber hätten auf den Zaren in
repulsiver Weise gewirkt. Die renommierende Nachricht französischer
Blätter, im Herbst d. Js. solle das französisch-russische Schutz- und
Trutzbündnis definitiv abgeschlossen werden, ärgerte Seine Majestät.
Allgemein fiel es auf, daß der durch seinen Kampf gegen die fran-
zösischen republikanischen Zustände bekannte Fürst Meschtscherski, Re-
dakteur des „Grashdanin", in längerer Audienz empfangen wurde.
Während der eingehenden Unterhaltung über die französischen Zu-
stände soll der Monarch lobend hervorgehoben haben, daß sich der
„Grashdanin" französischen Lobhudeleien und anderen verdächtigen
Einflüssen gegenüber unabhängig gezeigt habe. Auch wurde in Seiner
Majestät mehr und mehr der Verdacht rege, daß republikanische Kor-
ruption auf die Gewinnsucht russischer Beamten in bedenklicherer
Weise einzuwirken anfange. Die Ungnade, welche den Abgang des
vom Zaren ehemals geschätzten Finanzministers Wyschnegradski be-
gleitete, war auf die nicht unbegründete Mutmaßung zurückzuführen,
daß dieser Staatsmann sich bei Gelegenheit der französischen An-
leihen in beträchtlicher Weise bereichert habe.
Es kann nach alledem kein Zweifel darüber bestehen, daß aus den
vorerwähnten und ähnlichen ernsten Erwägungen der Wunsch des
Monarchen nach einem deutschen Vertreter an höchstseinem Hoflager
entsprang, welchen er besonders schätzt und deshalb für vorzüglich
geeignet hält, vertrauensvolle Beziehungen zu unserem allergnädigsten
Herrn aufrechtzuerhalten*.
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach wird diese zurzeit an
höchster Stelle bestehende Tendenz, mit uns in freundlichen Beziehun-
gen zu stehen, um so intensiver werden, je bedenkhcher die gegen-
wärtige in Frankreich akute Krisis sich gestaltet, und je mehr die
dortigen extrem radikalen und atheistischen Elemente zur Herrschaft
gelangen.
Inwieweit die beim russischen Monarchen verschärfte antifranzösi-
sche Stimmung auf die hiesige öffentliche Meinung Einfluß gewinnen
wird, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit beurteilen, pp.
A. V. Bülow
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Schon!
2 das Experiment könnte ihm seine Krone kosten
Schlußbemerkung des Kaisers:
! Gut.
♦ Vgl. Kap. L, Nr. 1639.
242
Nr. 1526
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 25. Januar 1893
Seine Majestät teilte mir heute über ein Gespräch, das er gestern
abend mit dem Großfürsten Thronfolger* hatte, nachstehendes mit:
Die Sprache sei zunächst auf Frankreich gekommen, wobei sich
der Großfürst über die dortigen Zustände auf das abfälligste geäußert
und erzählt hat, daß der Zar über die Nachricht, daß auch Herr von
Mohrenheim in die Panamasache verwickelt**, außer sich gewesen sei
und a terrible scene aus diesem Anlaß stattgefunden habe. Mohren-
heim sei fertig und werde demnächst abberufen werden. Von Seiner
Majestät über die in Petersburg bezüglich der Zukunft Frankreichs
bestehenden Anschauungen befragt, habe der Großfürst geäußert, daß
eine Militärdiktatur als das Wahrscheinhchste erachtet werde, die bald
zum Kriege führen werde. Auf die Frage, welche Haltung in einem
solchen Kriege Rußland einnehmen werde, habe der Großfürst erklärt,
daß dann eine Koalition wie in den Jahren 1813 — 15 eintreten müßte,
um Frankreich zu bekämpfen. Seine Majestät entgegnete, daß die-
selbe Idee dem Dreibunde zugrunde liege, und entwickelte den Zweck
dieser Gruppierung dahin: Gegenseitige Garantierung des territorialen
Besitzstandes, Wahrung der monarchischen Interessen gegenüber dem
Radikalismus, Sozialismus, Nihilismus u. dgl., Schaffung gemeinsamer
materieller Interessen durch handelspolitische Annäherung, um das
Interesse an der Friedenserhaltung mehr und mehr allgemein
zu gestalten. Auf die Frage des Großfürsten, ob dem Dreibunde
keine Rußland feindliche Tendenz zugrunde hege, bemerkte Seine
Majestät, dies sei absolut nicht der Fall, denn wir hätten von einem
Kriege mit Rußland keinerlei Vorteile zu erwarten, — im Gegenteil,
was der Dreibund anstrebe, decke sich mit dem Interesse Rußlands,
indem derselbe die SoUdarität der europäischen Monarchien zum Aus-
druck bringe, um die umstürzenden Tendenzen, für die von Frankreich
aus Propaganda gemacht werde, zu bekämpfen ; dies sei der politische
Zweck des Dreibundes — seine wirtschaftliche Tendenz gehe
dahin, die europäischen Staaten durch Handelsverträge sich zu nähern,
um gemeinsam die panamerikanischen Bestrebungen der Vereinigten
Staaten zu bekämpfen, welche wichtige europäische Absatzgebiete be-
drohten. Der Dreibund könne ebenso Vierbund usw. genannt werden,
da für alle Staaten, welche den gleichen Tendenzen huldigen, Raum sei.
* Er weilte anläßlich der Vermählung der Prinzessin Margarete von Preußen vom
24. bis 28. Januar am Kaiserhot in Berlin.
** Vgl. Kap. XLVIII, Nr. 1590.
16» 243
Der Großfürst habe die Richtigkeit dieser Gedanken zugegeben
und bemerkt, daß bisher weder seinem Vater noch ihm die Frage
von diesem Gesichtspunkte dargelegt worden sei; mit Genehmigung
Seiner Majestät werde er dem Zaren darüber Mitteilung machen. Seine
Majestät gab hierzu seine ausdrückliche Zustimmung,
Marschall
Nr. 1527
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Werder
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtal&s
Nr. 50 Berlin, den 30. Januar 1893
[abgegangen am 31. Januar]
Euerer pp. beehre ich mich im Anschluß an meinen Erlaß Nr. 4Q
vom 28. d. Mts.* zu Ihrer Information beifolgende Abschrift einer Auf-
zeichnung zu übersenden, welche Seine Majestät der Kaiser dem Groß-
fürsten Thronfolger mitgegeben hat. In dieser Aufzeichnung findet
sich dasjenige zusammengefaßt, was unser allergnädigster Herr Seiner
Kaiserlichen Hoheit über die Ziele des Dreibundes gesagt hat.
Marschall
Aufzeichnung
La triple alliance loin d'avoir des tendances agressives a au con-
traire un but eminemment defensif et pacifique; eile a ete dictee par
l'instinct de conservation des puissances signataires.
Avant de former cette union les trois puissances se sont rendu
compte des graves dangers qui menacent aujourd'hui les monarchies
de la part de la Republique Frangaise et des partisans de la doctrine
revolutionnaire disseminee un peu partout sous des noms divers. Cette
communaute des interets monarchiques formant une des bases princi-
pales de l'alliance, toute puissance ayant des interets identiques pour-
rait s'y joindre.
Le terrain politique toutefois n'est pas le seul oü se rencontrent
les interets des puissances alliees. II s'agit aussi de creer par des Con-
ventions d'ordre economique une communaute sur le terrain des interets
materiels dans le double but de diminuer en Europe les chances de
conflit arme et de faire face aux tendances de la grande Republique
d'outre mer qui visent l'exclusion complete du commerce europeen
dans l'Amerique entiere.
* Der Erlaß Nr. 49 betrifft die aus dem voraufgehenden Schriftstück bekannte
Unterredung des Kaisers mit dem russischen Thronfolger.
244
Nr. 1528
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi*
Ausfertigung
Nr. 110 St. Petersburg, den 30. April 1893
pp. Auf Frankreich zurückkommend sagte Herr von Qiers, es be-
stände keine Allianz mit diesem Lande; nach Bildung des Dreibunds
hätte Rußland sich aber doch für eventuelle Fälle nach einem Ver-
bündeten umsehen müssen, Frankreich aber würde nie einen Angrifi
auf Deutschland wagen, ohne der Unterstützung Rußlands sicher zu sein,
und die würde ihm'*'* nie durch den so friedliebenden Kaiser Alexan-
der zuteil werden, welcher durchaus den Frieden wolle***. Lebte der
hochselige Kaiser noch, so könnte man dieses nicht mit solcher Be-
stimmtheit behaupten. Diese Ansicht habe auch ich immer verfochten.
Naturgemäß kam nun der Minister auf die stete Vermehrung der
stehenden Heere zu sprechen und stellte die Frage auf, ob die Staaten
bei den eminenten Friedensaussichten nicht einen Vertrag schließen
könnten, durch welchen die Heeresmacht eines jeden Staates festgestellt
würde 1.
Natürlich eine sehr gut gemeinte, aber ganz unpraktische Idee.
Herr von Schischkin, welcher mich gestern besuchte, wiederholte
mir, ohne dazu aufgefordert zu sein, die Bedingungen für einen langen
Frieden lägen jetzt so außerordentlich günstig 2.
Der Minister und sein Gehülfe teilen also in erfreulicher Weise die
Ansicht über die Friedensaussichten 3. v. Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Aber Giers!
2 daß man ordentlich ängstlich werden kann.
3 so lange es ihm paßt
Nr. 1529
Der Botschalter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 219 Paris, den 28. September 1893
Täuschen mich meine Beobachtungen nicht, so würde die fran-
zösische Regierung viel darum geben, wenn die russische Flotten-
* Der Bericht wird vollständig abgedruckt in Kap. L, Nr. 1655; der Schluß ist hier
des Zusammenhangs wegen aufgenommen.
•* Im Texte steht „ihnen", was wohl nur ein Schreibfehler ist.
*** Ganz ähnlich hatte sich Herr von Giers kurz zuvor gegen den österreich-
ungarischen Minister Grafen Kälnoky geäußert. Vgl. Kap. L, Nr. 1656.
245
demonstration* unterblieben wäre^. Durch sie werden die Beziehungen
zu Rußland nicht verbessert, die hiesige Regierung kommt in eine
sehr schwierige Lage, und wenn irgendetwas Herrn von Mohrenheim
den Hals hier brechen könnte, so ist sein jetziges taktloses Benehmen
ganz dazu angetan. Er hat erst eine großartige Feier in Szene gesetzt,
hat von dieser als von einem welterschütternden Ereignis gesprochen
und wird von Petersburg nun gezwungen, den Eifer, den er hervor-
gerufen, zu mäßigen. Es zeigt sich immer mehr, daß der ganze Russen-
kultus chauvinistische Straßenpolitik ist, welche die Russen so lange
geschehen lassen und gern sehen, bis von ihnen Gegenleistungen in
Form schriftlicher Abmachungen verlangt werden. Die Franzosen fangen
an, das zu begreifen, und sagen sich: Die Tripelallianz beruht auf
Verträgen, wo ist unser Vertrag mit Rußland?
Drumont in seiner „Libre parole'' gab dieser Idee Ausdruck, indem
er sagte, die Verlobungsfeierlichkeiten hätten lange genug gedauert,
es sei endlich Zeit, die Ehe zu vollziehen.
Das ist der wunde Punkt für die Regierung.
Ich habe schon äußern hören, daß sie kürzlich wieder den Versuch
gemacht habe, schriftliche Erklärungen von Rußland zu erlangen**,
und daß sehr ausweichend, aber doch ablehnend geantv^ortet worden
sei. Ob dies so ist, habe ich noch nicht konstatieren können, halte
es aber nicht für unmöglich und glaube, daß Graf Montebello, mit
dem man nicht sehr zufrieden sein soll, deshalb herbeordert wurde, pp.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Das glaube auch ich
* Gemeint ist der von dem französischen Botschafter in Petersburg Grafen Monte-
bello seit längerem betriebene Besuch der russischen Flotte in Toulon, im Hin-
blick auf den, obwohl er erst für den 13. Oktober angesetzt war, schon seit Mitte
September ganz außerordentliche Festvorbereitungen getroffen wurden. Über den
Verlauf der Festtage in Toulon und Paris, wohin der führende russische Admiral
mit 50 Offizieren und 30 Seeleuten für acht Tage (17.— 25. Oktober) kam, siehe
Kap. XLVIII. Vgl. Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 239 ff.
** In der Tat hatte eben damals die französische Regierung einen neuen Anlauf
genommen, um zum endgültigen Abschluß der schon im August 1892 vereinbarten
Militärkonvention zu gelangen. Doch dauerte es noch bis zum Ende des Jahres,
ehe sie ihr Ziel erreichte. Immerhin konnte Botschafter Graf de Montebello am
7. September 1893 an den Nachfolger Ribots, Develle schreiben: „Nous avan^ons
ainsi doucement peut-etre mais sürement au but." Von Interesse ist auch Monte-
bellos Bemerkung: „L'Empereur a toujours agi, depuis un an, en vue de I'exe-
cution de cette Convention. Le travail de concentration de ses forces militaires
vers les froiitieres d'AUemagne et d'Autriche s'est poursuivi avec une regulajite
qui ne s'est pas un instant dementee; les armements continuent; il est question,
pour compenser l'augmentation des forces allemandes d'augmenter aussi l'effectif
russe." Oelbbuch L'Alliance Franco-Russe p. 187. Ob freilich die Äußerungen
des französischen Botschafters gerade in bezug auf den Zaren vollkommen zu-
treffen, muß dahingestellt bleiben. Im ganzen gewinnt man doch, obwohl die
erste Anregung zu dem „accord diplomatique" im Sommer 1891 von Rußland
246
Nr. 1530
Der Reichskanzler Graf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den Staats-
sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Privatbrief. Eigenhändig*
Karlsbad, den 24. September 18Q3
pp. Diesen Tagen** sehe ich mit Spannung entgegen. Es gehört
nicht viel dazu, um die ernstesten Folgen heraufzubeschwören. Es
scheint mir richtig, daß Graf Münster an den Tagen in Paris ist.
Wir sind in einer andern Lage als Fürst Bismarck im Schnaebele-
Fall***; wir können uns nicht soviel bieten lassen. Ich würde wünschen,
daß, wenn der Dreibund in irgendeiner Form beleidigt wird, wir
Italien den Vortritt ließen, um dessen sicher zu bleiben und dadurch
auch eher ein Bindeglied zu England hin zu finden. Ich weiß nicht,
ob Graf Münster den Dreibundsvertrag kennt, ob er weiß, daß auch
Österreich gebunden ist, Italien zu helfen, wenn es angegriffen wird?
Sollte man Graf Münster noch Anhaltspunkte geben? pp.
V. Caprivi
Nr. 1531
Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. Q7 Kopenhagen, den 13. Oktober 1S93
Vertraulich
Der Kaiser von Rußland hat heute, Freitag, den 13. Oktober,
dem Festtage von Toulon, das hier vor Anker liegende französische
Kriegsschiff „Isly" in Begleitung des Großfürst-Thronfolgers und des
Großfürsten Michael mit seinem Besuche beehrt.
Meinem gehorsamsten Dafürhalten nach würde es über den Rahmen
der von hier aus zu erstattenden ehrerbietigen Berichte hinausgelien,
wenn ich versuchen wollte, die ganze großpolitische Bedeutung und
Tragweite dieses Vorganges von den verschiedenen dabei in Betracht
kommenden Gesichtspunkten aus einer allgemeinen und eingehenden
Erörterung zu unterziehen.
ausgegangen zu sein scheint, aus dem französischen Gelbbuch L'Alliance Franco-
Russe wie aus den deutschen Akten den gleichen Eindruck, daß in bezug auf
den Zweibund Frankreich das treibende, Rußland, zumindest der Zar und Oiers,
hin und wieder das retardierende Element gewesen seien.
* Den ersten Teil des Briefes siehe in Kap. L, Nr. 1664.
** Gemeint sind die Tage des russischen Flottenbesuchs in Toulon.
*** Vgl. Bd. VI, Nr. 1237 ff.
247
Ich glaube sonach mich darauf beschränken zu dürfen, Euerer Ex-
zellenz gegenüber nur kurz hervorzuheben, daß, abgesehen von den
jetzt etwas verspätet und ängsthch von offizieller dänischer Seite zu-
tage tretenden Äußerungen zur Sache, mir hier in dänischen und diplo-
matischen Kreisen die Anschauung Boden gefaßt zu haben scheint,
daß in der Hierherkunft der französischen Kriegsschiffe und in dem
heutigen Besuch des Zaren an Bord des „Isly" ein hochv/ichtiges
Ereignis erblickt werden müsse, welches den eigentlichen Schwer-
punkt der französisch-russischen Verbrüderung sozusagen von Toulon
nach Kopenhagen verlege.
Daneben begegne ich auch noch der Ansicht, daß es für die un-
beteiligte Beurteilung immer nur schwer verständlich bleiben werde,
aus welchem Beweggrunde der Kaiser Alexander, möge die Anwesen-
heit der französischen Kriegsschiffe in Kopenhagen nun auf seine
Initiative oder ledigUch auf seine Duldung zurückgeführt werden, gerade
den gegenwärtigen Augenblick gewählt habe, um hier persönlich für
die französisch-russische Entente in ostensibler Weise einzutreten, ohne
dabei zu erwägen, daß dieses in Berlin ganz naturgemäß verstimmen i
müsse, wo Rußland doch auch besonders jetzt die für seine Inter-
essen anscheinend dringend gebotene Annäherung an Deutschland auf
handelspolitischem Gebiet* zu suchen genötigt sei.
Bei Erörterung der Frage, wie weit Dänemark in dieser ganzen
Sache mitbeteiligt ist, bzw. in Mitleidenschaft gezogen wird, scheint
mir allerdings der Umstand nicht unwesentlich ins Gewicht zu fallen,
daß der vorgedachte Verbrüderungsakt, welcher durch den Kaiser
Alexander auf der Reede von Kopenhagen und damit unter den Augen
des dänischen Hofes und der dänischen Regierung heute vollzogen
ist, als durchaus geeignet erscheinen muß, um die Konnivenz dieser
letzteren vor der Welt zu etablieren 2. pp. Brincken
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 O nein! das sind wir schon gewohnt.
2 ja besonders der Königin
Schlußbemerkung des Kaisers:
Vollkommen einverstanden sehr guter Bericht, der leider nur meine Wahr-
nehmungen bestätigt
Nr. 1532
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 231 Paris, den 17. Oktober 1893
Am 14. kehrte ich nach einem kurzen Aufenthalt in Biarritz,
Arcachon und Bordeaux hierher zurück.
* Siehe darüber Kap. L.
248
In Bordeaux fand ich schon, daß wegen der an dem Tage er-
folgenden Ankunft der russischen Flotte in Toulon die ganze Stadt
mit französischen und russischen Fahnen geschmückt war, dabei Fest-
vorstellung mit Prolog und Festgedichten.
Die Bordeauxer Zeitungen nahmen aber die Sache ruhiger, und
man merkte, daß es nur der Präfekt gewesen, welcher die ganze
Demonstration veranlaßt hatte.
Auf allen Stationen zwischen Bordeaux und Paris wehten russi-
sche und französische Fahnen. In Paris ist der Fahnenschmuck bis
zur Lächerlichkeit übertrieben: Omnibusse und Droschken fahren mit
großen Fahnen umher.
In Biarritz dagegen fand ich bei dem Großfürsten Alexis selbst,
seiner Umgebung und einigen Russen, die ich kenne, eine gewisse
Geringschätzung der Franzosen wegen ihrer jetzigen Kriecherei. Der
Großfürst war in seinen Äußerungen vorsichtiger als seine Umgebung,
er meinte aber doch, es würde ihm lieber gewesen sein, wenn die
feierliche Begrüßung und Bewirtung der Offiziere in Toulon und nicht
in Paris stattgefunden hätte. Die anderen Russen sagten geradezu,
es sei der ganze Unfug in Paris auf Mohrenheim zurückzuführen, und
es sei empörend, daß die russischen Offiziere wie Pfingstochsen durch
den sozialistischen Stadtrat in Paris herumgeführt und im Jardin d'accli-
mation, dem Orte, wo alle wilden Völkerschaften ausgestellt werden,
bewirtet werden sollten.
Als ich fragte, warum der Admiral Komarow, der die Flotten-
abteilung in Amerika führte, nicht nach Toulon gekommen sei, wurde
mir erwidert: Admiral Gervais sei vor Kronstadt nur Konteradmiral
gewesen, Komarow sei Vizeadmiral und sei außerdem zu sehr homme
du monde und spreche zu gut und zu gern französisch. Man habe
einen einfachen russischen Seemann haben wollen. Ein solcher sei
Admiral Avellane. Er spreche eigentlich kein Französisch und könne
daher nur das sagen, was ihm vorgeschrieben wäre, und sich durch
den Fluß der Rede nicht hinreißen lassen.
Der Großfürst sagte mir, es sei ihm langweilig, in Biarritz bleiben
zu müssen, er werde aber nicht eher nach Paris kommen, als bis die
Flottenabteilung Toulon verlassen habe. pp.
Eine Äußerung eines Adjutanten des Großfürsten war mir inter-
essant. Er sagte: „Die Franzosen wollen Versprechungen von unserm
Kaiser erlangen, schriftlich gibt aber der Kaiser ihnen nichts, erlaubt
auch nicht, daß seine Minister sich darauf einlassen. Das hat der Kaiser
seinen Brüdern bestimmt erklärt, und was unser Kaiser auf solche
Weise sagt, hält er ganz sicher."
„Alles, was die Franzosen jetzt tun, ist verlorene Mühe.**
Ich hoffe und glaube, daß dem so sein möge.
Alles Übertreiben straft sich selbst, und nach dem Rausche folgt
Unwohlsein.
249
über die Feste und den Unfug selbst — anders läßt sich das, was
hier geschieht, nicht bezeichnen — behalte ich mir spätere Bericht-
erstattung vor. pp.
Münster
Nr. 1533
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 246 Paris, den 30. Oktober 1893
Kein besiegtes Volk hat sich jemals vor dem Sieger so ge-
demütigt, als wie es die Franzosen den Russen gegenüber in der
vorigen Woche getan i. Die russische Flottenabteilung verließ endlich
gestern Toulon, reich beladen mit Geschenken, welche von allen Seiten
Frankreichs, selbst von den französischen Kolonien zuströmten. Die
Geschenke für den Admiral allein werden auf eine halbe Million Franks
geschätzt.
Der Präsident dieser Republik, der zu groß und zu stolz war,
um dem früheren Präsidenten und tapfern Soldaten Mac Mahon die
letzte Ehre zu erweisen*, kehrte von Toulon zurück, wohin er ging,
um sich vor dem Herrscher aller Russen in den Staub zu legend.
Das Telegramm des Zaren an den Präsidenten Carnot wurde
in ganz Frankreich jubelnd begrüßt und wird angesehen als eine
Sanktion der Allianz durch den Kaiser. In der Absicht und in den
Worten selbst liegt das gewiß nicht.
Nach dem ersten Telegramm des Kaisers, welches aus Versehen
veröffentlicht sein soll, herrschte hier eine solche Verstimmung, daß
Präsident Carnot die Reise nach Toulon aufgeben wollte. Mohren-
heim, außer sich darüber, erlangte das Versprechen, daß Seine Majestät
an den Präsidenten der Republik nach Toulon ein freundlicheres Tele-
gramm richten würde. Carnot ging darauf nach Toulon, das Tele-
gramm, welches er durch Mohrenheim wahrscheinlich schon kannte,
kam versprochenermaßen. Die Komödie war gespielt, und die Fran-
zosen glauben an die Allianz, was ihnen fürs erste genügt.
Ich beehre mich, die beiden Telegramme des Zaren, das ver-
stimmende und das beruhigende, beizulegen, ebenso wie das Antwort-
telegramm des Präsidenten Carnot und ein Telegramm des Herrn
von Giers an Herrn von Mohrenheim**.
* In seinem Berichte vom 25. Oktober (vgl. Kap. XLVIII, Nr. 1603) hatte Graf
Münster erwähnt, es habe einen sehr schlechten Eindruck gemacht, daß Präsident
Carnot an der Leichenfeier für den früheren Präsidenten Marschall Mac Mahon
(22. Oktober), bei der Graf Münster im Auftrage Kaiser Wilhelms II. einen
Kranz niederlegte, sich überhaupt nicht beteiligte.
** Siehe den Wortlaut der Telegramme (in deutscher Obersetzung) in Schultheß'
Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893, S. 239 f., 241 f.
250
Ich muß oft an den Ausspruch des ersten Napoleon denken,
wenn er sagte: „Au siecle prochain l'Europe sera repubUcaine ou
cosaque!"
Die verblendeten Franzosen tun alles dazu, um diesen Ausspruch
wahr zu machen.
Als Napoleon das sagte, sah er nicht voraus, daß aus dem zer-
stückelten Deutschland ein mächtiges Reich entstehen würde, dessen
große welthistorische Aufgabe es ist, ein Damm gegen die Invasion
der östlichen Barbaren und ein Hort für die Monarchie zu sein.
Von zwei Seiten wird es bedroht, von außen durch die Koalition
der östlichen und westlichen Barbarei, von innen durch die staats-
gefährliche Partei, welche unter dem Deckmantel des Sozialismus nichts
anderes will als den Untergang der Monarchie 2.
Den äußeren Feinden gegenüber müssen wir unser Pulver trocken
halten. Was die Feinde der Monarchie betrifft, so müssen wir unsere
Augen weit öffnen und uns den Blick durch philanthropische Theorien
nicht trüben lassen^.
Wir müssen vor allem klar darüber sein, was unsere Feinde
wollen.
Das herabgekommene Frankreich träumt noch von der früheren
Machtstellung, die Deutschland zerstörte und für sich erkämpfte. Es
glaubt, diese nur mit Rußlands Hülfe wiedererlangen zu können.
Einen baldigen Krieg will Frankreich nicht, will ihn aber vor-
bereiten, Deutschland erst schwächen und den Dreibund nach und
nach beseitigen. Der Anfang wird mit Italien gemacht, die Fran-
zosen hoffen, dieses nicht reiche Land finanziell zu ruinieren und auf
diese Weise in ihre Arme zu treiben. Das werden sie nicht so leicht
erreichen, als sie glauben, zum Verzvveiflungskriege könnten sie es
aber treiben.
Was Österreich betrifft, so rechnen Frankreichs Staatsmänner vor
allem auf die Slawen in Österreich und hoffen, daß das mächtigere
Rußland sie an sich ziehen und der österreichischen Monarchie ab-
trünnig machen wird. Glücklicherweise geht das alles nicht so leicht,
als die französischen Politiker sich das denken: sie vergessen, daß
sie schließlich doch Italien in die Arme Englands treiben.
England wird durch sie selbst gezwungen werden, Italien zu helfen,
wenn Rußland im Mittelländischen Meere sich festsetzen will. Die
Anwesenheit der englischen Flotte in diesem Augenblicke in den
italienischen Häfen und die Art, wie sie aufgenommen wurde, sollte
ihnen das klarmachen.
Sie fangen an, das zu sehen, und sind darüber sehr verstimmt.
Vor allem überschätzen sie Rußlands Macht und sehen nicht,
daß sie durch ihre republikanische Propaganda doch schließlich den
Zaren selbst bedrohen.
251
Außerdem rechne ich darauf, daß sie über kurz oder lang die
wirkHchen Absichten Rußlands erkennen und einsehen werden, welche
unwürdige Rolle sie spielen.
Wenn französische Blätter es schon zu sagen wagen, es sei gut,
daß Frankreich wieder einen Herrscher habe, der wirklich Herr Frank-
reichs sei, Alexander III., so muß doch der bessere Teil der Nation
schamrot werden. Diejenigen, die das noch nicht richtig fühlen, werden
sich doch mit der Zeit fragen müssen, was Rußland ihnen für alle
ihre Liebe bietet. Sie werden doch eines Tages fühlen, daß die
Russen lieber Geschenke annehmen als geben, und daß, wenn sie
Geschenke geben, diese gewöhnlich nichts wert sind.
Der Trost, der jetzt überall durch die offizielle Presse und sonstige
Äußerungen durchklingt, ein wirklicher Allianzvertrag, ein formelles
Versprechen Rußlands sei nicht nötig, die beste Allianz läge in der
Verbrüderung der Herzen der beiden Völker, wird auf die Länge
nicht vorhalten. —
Am 14. sollen die Kammern zusammentreten, und es wird inter-
essant sein zu sehen, ob und wie vom Verhältnisse Rußlands zu
Frankreich die Rede sein wird.
Der frühere Ministerpräsident und Minister der auswärtigen An-
gelegenheiten Rene Goblet, der sich als Sozialradikaler hat v^^ählen
lassen und der jetzigen Regierung heftige Opposition machen will,
hat es schon angekündigt, daß er von der Regierung eine bestimmte
Erklärung darüber verlange, ob sie wirklich Versicherungen von Ruß-
land in bindender Form erlangt habe. Ich kann mir kaum denken,
daß er unvorsichtig genug sein wird, um das sogleich zu tun. Der
Russenrausch steckt noch zu sehr in den französischen Köpfen, und
die Regierung würde deshalb jetzt leichteres Spiel haben, als wenn
er mit dieser Frage später hervortritt.
Was Frankreich will, wissen wir, was aber Rußland will*, ist
nicht so durchsichtig. Die russische Diplomatie ist klüger und ver-
steht es von jeher musterhaft, ihr Spiel zu verdecken und zu warten.
Die Geldfrage spielt zwar eine Rolle, das ist aber nicht der
wahre Zweck Rußlands. Der ist die Aufhebung der alten Verträge,
die Unterjochung der Türkei, die Verbindung des Schwarzen Meeres
mit dem Mittelmeer. Daß das so auf einmal nicht zu erreichen ist,
wissen die schlauen Russen ganz gut. Sie hoffen und glauben, daß
Frankreich, durch Haß gegen England, Italien und gegen uns und
durch nationale Eitelkeit verblendet, nicht sehen wird, wohin das
führen muß, wenn die Russen sich im Mittelländischen Meere fest-
setzten und als die überwiegende Macht im Westen europäische Zivili-
sation mit Füßen treten und ersticken würden i.
Vorsichtiger würde es von russischer Seite gewesen sein, wenn die
Flottendemonstration in Cherbourg in Szene gesetzt worden wäre;
von dort aus konnten die Schiffe auch in das Mittelmeer gehen. Die
252
Demonstration in Toulon zeigt zu sehr, was ihr Zweck ist, und selbst
viele Franzosen fangen an zu fühlen, wohin das alles führen kann.
Die Regierung und ihre Organe hatten früher zugegeben, daß Ruß-
land einen französischen Hafen als Kohlen- und Überwinterungsstation
zu erhalten wünsche und Besprechungen darüber eingeleitet habe. Es
wird das mit gewisser Ostentation geleugnet. Die Russen werden diese
Absicht nicht aufgeben, aber sie vorsichtiger betreiben.
Das Geschwader geht erst nach Hyeres auf einige Tage, dann nach
Ajaccio, wo der Admiral weitere Befehle erhalten soll. Ich vermute,
daß das Geschwader nicht ganz zusammenbleibt und einzelne Schiffe
in die griechischen Gewässer, eins derselben nach Tunis gehen, und
daß eins in Villefranche einen Teil des Winters zubringen wird.
Die russisch-französische Allianzfrage wird für den Augenblick
wohl ruhen. Die Franzosen glauben daran, die Russen lassen ihnen
den Glauben, bis der Moment kommt, wo die Franzosen nicht mehr
blind alles tun werden, was die Russen wollen, und sie einsehen,
daß sie von ihnen auf handelspolitischem Gebiet und sonst nichts
erreichen und schließlich die Düpierten sind 5.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Richtig
2 im Bunde mit dem Vatikan
3 richtig
* Constantinopel
^ wer zuletzt lacht lacht am besten
Schlußbemerkung des Kaisers:
Es waren die Feste eine Illustration zu einer Bemerkung, die Großfürst Alexis
im vorigen Jahre gemacht: Ces imbeciles de Frangais sont toujours prets ä
croire tout ce que l'on veut leur faire croire.
Nr. 1534
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 283 St. Petersburg, den 27. November 1 893
Graf Rex hat in seinem gehorsamsten Bericht vom 27. v. Mts.
— Nr. 262 — Euerer Exzellenz bereits angezeigt, daß die Aufnahme
der russischen Seeleute seitens der Franzosen in Rußland einen großen
Eindruck gemacht hat*.
• Das wird durch den Bericht des französischen Geschäftsträgers de Vauvineux
vom 23. September (Französisches Gelbbuch L'Alliance Franco-Russe Nr. 8Q) be-
stätigt.
253
Das, was ich seit meiner Rückkehr hier sehe und höre, bestätigt
obige Auffassung und nötigt mich, den Erfolg, den die Franzosen
durch diesen Empfang bei den Russen erzielt haben, nochmals hervor-
zuheben.
Es unteriiegt keinem Zweifel, daß die deutsch -französische
„Entente" in ein innigeres Stadium getreten ist. Man betont hier, die
Franzosen hätten gezeigt, daß sie, wenn erforderlich, vernünftig sein
können, somit ist die Angst vor diesen aufgeregten, undisziplinierten
französischen Volksmassen geschwunden; ein gewisses Zutrauen in
den französischen Volksgeist macht sich geltend. Die Russen glauben
den Franzosen für den großartigen Empfang Dank schuldig zu sein,
und in diesem Gefühl hat der Adel des Gouvernements St. Petersburg
beschlossen, dem hiesigen französischen Botschafter zu Ehren ein Diner
zu geben, welches unter Beteiligung von vielen Adelsmarschällen des
Landes in der Mitte nächsten Monats stattfinden soll.
Ferner ist gestern abend seitens des unter dem Protektorate der
kaiserlichen Majestäten stehenden Wohltätigkeitsinstituts der Kaiserin
Marie ein „franko -russischer" Maskenball im hiesigen Adelssaal ab-
gehalten worden.
Wie ich die Situation ansehe, kann ich der Behauptung der franko-
russischen Presse, daß der Friede nunmehr endgültig gesichert sei,
nicht zustimmen; ganz im Gegenteil, ich sehe in dieser innigen Ver-
brüderung eher eine Gefahr für den Frieden i. Angesichts der Charaktere
der Franzosen und der Russen steht zu befürchten, daß sie sich bei
etwaigen politischen Komplikationen im Vollgefühle ihrer vereinten
Kräfte zu Schritten hinreißen lassen werden, welche ernste Folgen
haben könnten 2,
Wohl steht einer solchen Eventualität russischerseits die bekannte
FriedensUebe des Kaisers Alexander entgegen; es fragt sich jedoch,
ob er dann den Verhältnissen noch gewachsen sein wird 3. Dadurch,
daß allerhöchstderselbe den franko-russischen Verbrüderungsfesten
freien Lauf gestattete, hat er eine Bewegung in seinem Lande ent-
stehen lassen, die aufzuhalten ihm später schwerfallen dürfte.
Ich bin der Überzeugung, daß, solange Herr von Giers der Berater
Seiner Majestät des Kaisers Alexander in auswärtigen Angelegenheiten
ist, nichts von hier aus geschehen wird, was den Keim zu politischen
Verwickelungen legen könnte; wer weiß aber, ob sein Nachfolger
dieselbe Vorsicht und Überlegung besitzen wird.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß diese Neigung der Russen
für Frankreich für mich nichts Überraschendes hat. Während des Krieges
im Jahre 1870/71 war es meiner Ansicht nach einzig und allein dem
Kaiser Alexander zu danken, daß jede Intervention zugunsten Frank-
reichs unterblieb. v. Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Richtig 2 j^ 3 sehr richtig
254
Nr. 1535
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 305 St. Petersburg, den 26. Dezember 1893
Als ich neulich bei Herrn von Giers war, kam im Laufe der
Unterhaltung auch wieder die Rede auf die nicht endenwollcnden
Ovationen, welche die Russen den Franzosen bereiten.
Bälle, Bazars, Konzerte usw., alles segelt unter franko-russischer
Flagge, was allerdings sehr oft nur zu Reklamezwecken dient.
So nannte sich z. B. ein Wohltätigkeitsbazar, an dessen Spitze
viele vornehme Damen der hiesigen Gesellschaft standen, franko-russi-
scher Bazar, und warum? Weil die Franzosen sich im Falle solcher
Benennung erboten hatten, sämtliche Ausstattungskosten für denselben
zu tragen.
Herr von Giers tadelte diese Ovationen auf das entschiedenste
und betonte wieder, wie er das sehr gern tut, daß weder er noch
irgendein Mitglied des auswärtigen Ministeriums an dem Diner für
den Grafen Montebello teilgenommen habe.
Ganz besonders aber tadelte er die Manifestationen der Offiziere
und erzählte mir einige eklatante Beispiele. Unter anderem hat auch
der bekannte General Kaulbars, Chef des Generalstabes des finn-
ländischen Arrondissements, sich bemüßigt gefunden, hervorzutreten
und den Franzosen in einem, wie Herr von Giers sagt, von Eitelkeit
und Eingenommenheit strotzenden Briefe zu huldigen.
Vielleicht ist es auch er gewesen, welcher die Gräfin Olga Heyden,
Tochter des Generalgouverneurs von Finnland, verführt hat, an Madame
Adam ein Huldigungsschreiben zu richten. Ihr Brief und die für die
Russen gar nicht besonders schmeichelhafte Antwort ist dann ohne ihr
Wissen in den Zeitungen abgedruckt, und nun ist sie außer sich.
Wunderbar erscheint es aber, daß die Tochter des Oeneral-
gouverneurs Grafen Heyden und sein Chef des Stabes sich gleichzeitig
in dieser Weise bemerkbar gemacht haben; das kann doch unmöglich
ohne sein Wissen und Willen geschehen sein.
Sonst hat sich keine vornehme Dame weder durch Briefe noch
durch Teilnahme an Subskriptionen für ein Geschenk an die Madame
Adam, deren schlechter Ruf nur zu bekannt ist, beteiligt.
Herr von Giers sagte mir, er würde Seine Majestät den Kaiser
Alexander auf die Manifestationen der Offiziere aufmerksam machen i,
was allerdings schon längst hätte geschehen sollen; ich bestärkte ihn
darin nach besten Kräften.
Der Erfolg, man kann ja jetzt nur sagen, für derartige zukünftige
Verhältnisse ist mir sehr zweifelhaft; soweit ich die Natur des aller-
255
höchsten Herrn kenne, wird sich in der Sache nichts ändern. Seine
Majestät übersehen oft die Tragweite der Vorgänge nicht 2, wie sich
dies z. B. bei den vor mehreren Jahren so in Mode gekommenen
poHtischen Reden von Generalen zeigte.
Ich benutzte die Gelegenheit, Herrn von Giers zu fragen, ob er
Kenntnis von einem Vorfall habe, welcher in dieses Gebiet schlüge,
und welcher sich gelegentlich der Jubiläumsfeier des Generals Leer*
bei der Beglückwünschung desselben durch die Militärattaches ereignet
hätte. Da er es verneinte, erzählte ich ihm, was der Hauptmann Lauen-
stein** in seinem Bericht vom 17. d. Mts. — Nr. 88 — Euerer Ex-
zellenz darüber berichtet hat.
Ich fügte hinzu, daß er sich wohl denken könne, wie das Ver-
halten der russischen Offiziere peinlich für die fremden Offiziere ge-
wesen wäre, und daß er es wohl begreiflich finden würde, wenn ich
den Hauptmann Lauenstein veranlaßte, sich nicht wieder an militäri-
schen Demonstrationen zu beteiligen, ohne die Garantie zu haben,
daß dergleichen nicht wieder vorkäme.
Herr von Giers stimmte mir vollkommen bei.
V. Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Umsonst.
- richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Das thut er stets! Er wird auch fortfahren Alles unangenehme zu tadeln, seine
Hände in Unschuld zu waschen und nichts zu thun. Und Alles wird beim Alten
bleiben.
Nr. 1536
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 18 Paris, den 29. Januar 1894
Wenn mich meine Beobachtungen nicht täuschen, so ist die hiesige
öffentliche Meinung Rußland gegenüber entschieden viel kühler ge-
worden. Wie weit die Regierung selbst ernüchtert ist***, läßt sich
noch nicht erkennen, aber auch sie muß mit der Zeit sich doch
* Direktor der Nikolaus-Generalstabs-Akademie.
*' Nach dem Bericht des Hauptmanns Lauenstein, des deutschen Militärattaches in
Petersburg, wäre die beglückwünschende Rede des französischen Militärattaches
von der Versammlung mit ostentativem Beifall aufgenommen worden.
*** Sie hatte durchaus keinen Grund ernüchtert zu sein, da um die Jahreswende
1893/94 endlich der formelle Abschluß der französisch-russischen Militärkonvention
erzielt war. Siehe den Text im Gelbbuch L'AUiance Franco-Russe (1918), p. 144 s.
256
sagen, daß die Russen gern alle Ovationen entgegennehmen, aber
eine praktische Gegenleistung nicht aufzuweisen ist. Der Russe nimmt
lieber, als er gibt.
Daß der übertriebene Enthusiasmus erkalten würde, habe ich er-
wartet. Wenn Wasser den Siedepunkt erreicht, verdampft es, pp.
Was außerdem abkühlend wirkt, sind die Verhandlungen wegen
des deutsch-russischen Handelsvertrags*. Wenn ich gefragt werde,
ob derselbe zustandekomme — und diese Frage tut fast jeder Fran-
zose, der mich sieht — , so antworte ich ganz ruhig, das betrachtete
ich als selbstverständlich 1, und ich merke deutlich, daß diese Antwort
keinen angenehmen Eindruck macht. Die französischen Kaufleute und
Industriellen wünschen es zwar, weil durch die Frankfurter Stipulation
sie für gewisse Artikel der Ausfuhr denselben Nutzen haben werden
als unsere Industrie. Die französischen Politiker wissen aber, daß aus
einem Zollkriege unter zwei so mächtigen Nachbarstaaten doch schließ-
lich ein ernster Krieg entstehen könnte, und sie fürchten, daß der Ab-
schluß des Handelsvertrages unsere Beziehungen verbessern müsse.
Auf der hiesigen Börse soll die Stimmung auch für Rußland un-
günstiger geworden sein. Es ist von mancher Seite unter der Hand,
auch vom Finanzministerium aus, gegen den Ankauf russischer Werte
gewirkt worden, weil man befürchtete, es könne dadurch die hiesige
Konversion der ,4V2^/oigen Rente erschwert werden.
Besonders unangenehm hat es aber berührt, daß die hiesige Eisen-
industrie, welche gehofft hatte, in Rußland ganz festen Fuß zu fassen,
erfahren hat, daß die russische Regierung mit deutschen Fabriken wegen
sehr großer Lieferungen von Eisenbahnmaterial verhandelt.
Überschätzen dürfen wir alle diese Anzeichen nicht, denn auf lange
Zeit noch wird das französische Kabinett, uneingedenk der wahren
Interessen Frankreichs im Orient und im Mittelmeer, mit Rußland
liebäugeln, pp. Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
i Gut
Nr. 1537
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 57 Paris, den 17. März 1894
pp. Was die politische Lage Frankreichs nach außen betrifft, so
ist sie auch nicht glänzend.
Seit den letzten 10 Jahren ist die ganze Politik allein auf eine
Allianz mit Rußland und auf das Zusammengehen der beiden Nationen,
* Vgl. Kap. L, Nr. 1666.
17 Die Große Politik, 7. 3d. 257
die nichts Gemeinsames haben als den Haß gegen Deutschland, basiert
worden. Man hat von beiden Seiten den Nationen vorgeschwindelt,
daß ein Einverständnis, eine AUianz bestehe. Durch die Vorgänge in
Kopenhagen*, durch den Abschluß unseres Handelsvertrages mit Ruß-
land** ist der Schleier zerrissen, manche Illusion zerstört.
Frankreich beginnt wieder zu fühlen, daß es politisch allein steht,
und die Schuld dafür wird ungerechterweise dem Präsidenten Carnot
und den jetzigen Machthabern zugeschoben werden.
Der Abschluß unseres Handelsvertrages hat einen tiefen Eindruck
gemacht.
Die Geschäftswelt, welche hofft, aus diesem Vertrage Nutzen zu
ziehen, außerdem darin eine Garantie für den Frieden erblickt, ist
sehr zufrieden, wagt aber nicht, es zu sagen. Die Politiker aber, die
sogenannten Patrioten und Revanchehelden sind natürlicherweise ver-
stimmt. Sie verstehen die Bedeutung besser als viele unserer Parla-
mentarier i.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ Jawohl! besonders von Rechts!
Nr. 1538
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Füisten von Hohenlohe
Ausfertigung
Nr. 286 Paris, den 27. November 1894
Das ganze republikanische Frankreich hat, dem Beispiele von
Paris folgend, den verewigten Kaiser Alexander III. als Friedens-
fürsten und Erretter Frankreichs betrauert und so gefeiert, wie es
einen eigenen beliebten Monarchen nicht hätte mehr feiern können.
Dabei ist ganz vergessen, wie derselbe Kaiser noch vor wenigen
Jahren von den Republikanern als Autokrat und despotischer Tyrann
mit Abscheu genannt wurde.
Wenn auch bei diesem so leicht erregbaren Volke solche Auf-
wallungen vorübergehen und oft ganz umschlagen, so ist doch die
politische Tragweite dieser Kundgebungen durchaus nicht zu unter-
schätzen.
Die Regierung, ihre Organe und fast die ganze Presse haben diese
Demonstrationen hervorgerufen und mit allen Mitteln begünstigt. Sie
wollen der Welt zeigen und in Frankreich selbst den Glauben ver-
• Vgl. dazu Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1S94, S. 262.
** Er war am 9. Februar 189-i erfolgt Vgl. Kap. L, Nr. 1667.
253
breiten und befestigen, daß Frankreich mit Rußland eng verbunden,
nicht mehr isoliert und wieder die mächtige Grande Nation ist, —
Unsicher fühlen sich die französischen Staatsmänner dem Kaiser
Nikolaus II. gegenüber, und je weniger sie ihm trauen, je mehr buhlen
sie um seine Gunst,
Bis jetzt scheinen die französischen Liebkosungen in St, Peters-
burg ganz gern gesehen zu werden.
Zuerst trieb Furcht vor einem neuen Kriege mit uns die Fran-
zosen in die Arme Rußlands: sie gaben sich ganz hin, ohne die wirk-
liche Ehe, die Allianz, abzuwarten. Krieg will Frankreich entschieden
nicht und denkt schon an die Ausstellung von 1900, Rußland will
ihn auch nicht. Die beiden Nationen wollen sich aber gegenseitig
politisch ausnützen; dabei wird der Löwenanteil Rußland zufallen.
PP.*
Münster
♦ Den Schluß des Berichts siehe in Bd. IX, Nr. 2164.
250
i
Kapitel XLVIII
Deutsch -Französische Beziehungen
1890-1894
I
Nr. 1539
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 15 Paris, den 12. Februar 1890
Antwort auf Erlaß Nr. 42*.
Habe Auftrag gestern abend ausgeführt. Herr Spuller** war voller
Bewunderung über die edlen Absichten Seiner Majestät und nannte
es ein beachtenswertes Zeichen der Zeit, daß eine solche Initiative
vom mächtigsten Monarchen ausgehe. Über die Frage selbst wolle er
sich erst äußern, nachdem sie im Ministerrat beraten, und stellte er
mir Antwort auf Ende der Woche in Aussicht. Münster
Nr. 1540
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Fürsten von Bismarck
Ausfertigung
Nr. 66 Paris, den 6. März 1890
Soeben vor Abgang des Beamten, den ich nach Köln sende, kehre
ich aus der Kammer*** zurück.
Der Deputierte Laur, Boulangist und früher Bergwerksbeamter
des Grafen Guido Henckel, griff auf heftige Weise die Regierung an
und stellte die Elsaß-Lothringer Frage in den Vordergrund.
Er fand keinerlei Anklang in der Kammer.
Herr Spuller dagegen hielt eine sehr ruhige, vorzügliche Rede,
in der er sehr geschickt das Vorgehen der Regierung motivierte und
nachwies, daß das demokratische Frankreich sich nicht da ausschließen
könne, wo über das Wohl der Arbeiter verhandelt werden solle.
Es wurde seine Rede vortrefflich aufgenommen, und beim Ver-
lassen der Tribüne zollten gut zwei Drittel der Deputierten ihm stürmi-
schen Beifall.
* Durch Erlaß Nr. 42 vom 8. Februar 1890 hatte Graf Münster den Auftrag er-
halten, die französische Regierung zur Teilnahme an der geplanten internationalen
Arbeiterschutzkonferenz einzuladen. Siehe: Das Staatsarchiv Bd. 51, S. 212.
■** Minister des Äußern im Kabinett Tirard (Februar 1889 bis März 1890).
♦** Die Annahme der Einladung zur Arbeiterschutzkonferenz, die die französische
Regierung am 27. Februar im Prinzip, endgültig aber erst am 7. März aussprach
(vgl.: Das Staatsarchiv Bd. 51, S. 220), hatte eine Interpellation in der franzö-
sischen Kammer zur Folge, der Minister Spuller nach einem Berichte Münsters vom
5. März mit großer Besorgnis entgegensah.
263
Darauf hielt der Boulangfist Milleroi eine heftige Rede und wollte
auf die allgemeine auswärtige Politik übergehen, wurde aber wieder-
holt vom Präsidenten zur Sache gerufen.
Darauf wurde der Schluß der Debatte verlangt, wobei Cassagnac
das Wort erhielt und unter dem lauten Beifall des ganzen Hauses
erklärte, daß nichts schädlicher und unpatriotischer sein könne, als
allgemeine Debatten über die auswärtige PoUtik zu verlangen.
Sowie es sich um auswärtige Fragen handle, verlange es der
Patriotismus, daß der Regierung allein die Verantwortung überlassen
werde.
Darauf beantragte Herr Spuller die einfache Tagesordnung und
bat das Haus um ein einstimmiges Votum.
Von 484 Stimmen stimmten 480 für und nur 4 gegen den Vor-
schlag des Ministers.
Einen solchen Erfolg hat niemand, am wenigsten Herr Spuller
erwartet, und schien er wahrhaft erfreut darüber. Münster
Nr. 1541
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Ausfertigung
Nr. 88 Paris, den 1. April 18Q0
Ich bin hier seitens des Präsidenten und der Minister*, die ich
sah, auf das allerfreundlichste und liebenswürdigste aufgenommen
worden. Es war hier das Gerücht verbreitet gewesen, daß ich nicht
zurückkehren würde.
Bald nach meiner Rückkehr am Sonntage besuchte mich Herr
von Freycinet. Er sagte, daß der Rücktritt des Fürsten Bismarck
hier größeres Aufsehen als anscheinend in Berlin und eine gewisse
Beunruhigung hervorgerufen habe. Man habe ihn für den Erhalter
des Friedens gehalten und habe einen Augenblick gefürchtet, daß
es jetzt anders werden könne.
Er selbst habe diese Befürchtungen nicht geteilt und habe das
größte Vertrauen zu unserm Kaiser, da alle Maßregeln, alle Kund-
gebungen bewiesen, daß Seine Majestät nur das Wohlergehen seiner
Untertanen aller Klassen wolle, und das mit kriegerischen Tendenzen
unvereinbar sei.
Ich konnte das nur in jeder Hinsicht bestätigen und habe gesucht,
seine Ansichten zu bestärken.
Gestern war ich beim Minister der Auswärtigen Angelegenheiten,
Herrn Ribot, der mich auch Sonntag besucht, aber verfehlt hatte.
Der Minister sprach seine große Befriedigung über das aus, was
* Inzwischen war an die Stelle des Kabinetts Tirard um die Mitte März das
Kabinett de Freycinet mit Ribot als Außenminister getreten.
264
der Botschafter Herbette über die Äußerungen Seiner Majestät unseres
Kaisers berichtet habe.
Auch sagte Herr Ribot, daß Herr Jules Simon* ihn soeben ver-
lassen und sich sehr befriedigt über die Aufnahme, die ihm und der
französischen Deputation zuteil geworden sei, sowie über das Resultat
der Konferenz geäußert habe. Er meinte: „II est revenu tout ä fait
AUemandV
Darauf sagte Herr Ribot, er hoffe aufrichtig, daß die Beziehungen
zwischen unseren beiden Nationen sich stetig bessern werden 2.
Wesentlich dazu beitragen würde vor allem die Aufhebung des
Paßzwanges für Elsaß-Lothringen** 3. Diese Maßregel habe von Anfang
an viel böses Blut gemacht und sehr schmerzlich berührt, sie habe
wesentlich dazu beigetragen, die Stimmung gegen Deutschland zu verbittern
Es ist dieses das erstemal, daß mir gegenüber ein französischer
Minister über die Pässe gesprochen hat. Alle Minister hatten es bisher
ängstlich vermieden.
Ich erwiderte darauf, daß diese Maßregel durch die Agitation
veranlaßt wurde, die von hier aus ganz systematisch betrieben und
genährt worden sei.
Solle überhaupt von Aufhebung des Paßzwanges die Rede sein*,
so müssen wir erst die Überzeugung gewinnen, daß die französische
Regierung solche Agitationen mißbillige und uns helfen werde, uns
davor zu schützen.
Herr Ribot erwiderte darauf, daß die Bekämpfung des Boulangis-
mus und die Maßregeln gegen Deroulede und die Ligue des Pa-
triotes*** bewiesen, daß die jetzigen Machthaber Frankreichs^ eine
solche Agitation nicht mehr wollten und mißbilligten. —
* Senator Jules Simon war der Führer der französischen Delegation zur Arbeiter-
schutzkonferenz gewesen, die vom 15. bis 2Q. März 1890 in Berlin tagte. Kaiser
Wilhelm hatte zu der Ankündigung der Wahl Simons bemerkt, „freue mich sehr,
ihn zu sehen", und ihn dann in Berlin mit besonderer Auszeichnung behandelt,
ihm sogar die neuerschienene Ausgabe der musikalischen Werke Friedrichs des
Großen nebst einem Handschreiben übersandt. Seinerseits hat sich Jules Simon in den
Aufsätzen, die er nach seiner Rückkehr nach Paris in der von ihm herausgegebenen
„Revue de Familie" über die Berliner Konferenz veröffentlichte, sehr anerkennend
über den Kaiser geäußert, dem er ganz wesentlich das Verdienst für das Gelingen
der Konferenz zuschreibt: „C'etait son oeuvre personnelle, et certainement l'un
des evenements importants du debut de son regne. J'ai eu l'honneur de m'entre-
tenir avec lui ä plusieurs reprises. Je ne citerai de ces conversations qu'une seule
phrase: »J'ai reflechi que, dans ma position, il vaut mieux faire du bien aux
hommes que de leur faire peur.« Oui, Majeste, cela vaut mieux devant Dieu et
devant l'Histoire." Revue de Familie, Livraison du 1. Mai ISQO.
** Vgl. dazu Bd. VI, Kap. XL, Nr. 1284.
♦** Sie war am 28. Februar 1889 aufgelöst worden, aber nidit wegen ihrer Deutschen-
hetze, sondern wegen ihres Auftretens zugunsten des sogenannten freien Kosaken
Aschinow, den die französische Regierung mit Gewalt an der Gründung einer
russischen Kolonie in der französischen Einflußsphäre am Roten Meer gehindert
hatte.
265
Später besuchte ich den Präsidenten Carnot, der mich sehr freund-
lich bewillkommnete.
Ich sagte dem Präsidenten, wie Seine Majestät der Kaiser mich
beauftragt habe, dem Präsidenten Grüße zu überbringen und zu sagen,
daß Seine Majestät hoffe, die guten Beziehungen zu Frankreich er-
halten zu sehen.
Der Präsident, sichtlich befriedigt, erwiderte, daß er sehr dankbar
sei und auch nichts aufrichtiger wünsche als ein nachbarliches Ein-
vernehmen mit Deutschland. Er sprach auch über die so äußerst
zuvorkommende Aufnahme, welche die französische Deputation zur
Arbeiterkonferenz bei Seiner Majestät dem Kaiser und auch überhaupt
in Berlin gefunden habe. Dabei brachte der Präsident die Rede auf
die von den Sozialisten beabsichtigte Demonstration am 1. Mai. Er
und seine Regierung seien fest dazu entschlossen, dieser Demon-
stration energisch entgegenzutreten und sie nicht zu dulden^, und er
hoffe, daß das auch in allen anderen Ländern geschehen werde ^.
Am 15. April begibt sich der Präsident nach dem Süden Frank-
reichs und wird bei der Gelegenheit die Flotte bei Toulon sehen.
Die Kammern sind bis zum 6. Mai vertagt.
Der Telegraphenkongreß soll hier in Paris am 15. Mai zusammen-
treten. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
' Erfreulich
ä ja fangt ihr auch an!
3 ach So! Leider unmöglich
* So soll erst einmal das loi d'espionnage von Boulanger aufgehoben werden
* aber die Früheren und späteren??
« gut
^ na ob!
Nr. 1542
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. Q6 Berlin, den 12. April 1890
[abgegangen am 13. April]
Da eine Abänderung der reichsländischen Paßkontrolle nicht be-
absichtigt ist*, so wird es erwünscht sein, wenn Ew. bei geeignetem
Anlaß den bezüglichen Gerüchten in ruhiger Weise entgegentreten.
Marschall
* über die Gründe, weshalb die deutsche Regierung vorerst von einer Abänderung
der Paßkontrolle Abstand nahm, unterrichtet die Aufzeichnung Hohenlohes über
sein Gespräch mit Caprivi vom 22. März 1890: „Im Verlauf des Gesprächs fragte
er mich nach dem Paßzwang. Ich sagte offen meine Meinung: Nicht Aufhebung
266
Nr. 1543
Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Kiderlen an den
preußischen Gesandten in Oldenburg Grafen zu Eulen bürg
Privatbrief. Reinkonzept
Berlin, den 16. April 1890
[abgegangen am 18. April]
Anbei sende ich Ihnen mit höherer Autorisation Abschrift von
einem Bericht aus Kairo. Erschrecken Sie nicht, wenn derselbe mit
der Ihnen wahrscheinlich höchst gleichgültigen Frage der Konversion
der ägyptischen Schuld* beginnt. Der interessante Teil des Berichts,
den ich rot angestrichen habe, steht auf Seite 2 ff., wo die Symptome
einer englisch-französischen Annäherung in Ägypten aufgezählt werden.
Um Ihnen die Bedeutung der Nachgiebigkeit Englands in der Kon-
versionsfrage noch mehr vor Augen zu führen, erlaube ich mir, hier
auch noch einen Auszug aus einer Aufzeichnung mitzuschicken, die
ich seinerzeit über die Frage angefertigt habe. An die Symptome in
Ägypten reiht sich noch ein Vorgang in Marokko. Dort wirken wir schon
lange — allerdings bis jetzt ohne Erfolg — für unsern Freund, den
Sultan in Konstantinopel auf Anknüpfung direkter Beziehungen zwi-
schen Türkei und Marokko hin. England hat bisher dies auch als
seinen Interessen entsprechend angesehen; nur die Franzosen intri-
des Paßzwangs, aber vernünftige Handhabung und Abschaffung der Jagdkarten-
verordnung. Das leuchtete ihm ein, doch meinte er, es würde gut sein, noch
einige Monate zu warten, damit man nicht meine, es solle jetzt alles neu ge-
macht und umgestürzt werden." Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu
Hohenlohe-Schillingsfürst II, 463.
An der Ansicht, mit Erleichterungen hinsichtlich der Handhabung der Paß-
kontrolle zu warten, hielt Reichskanzler von Caprivi auch noch Mitte Mai 18Q0
laut eines Marginals vom 14. Mai fest. Gelegentlich einer Interpellation des Ab-
geordneten Richter über die Paßpflicht und die Aufenthaltsbeschränkungen für
Elsaß-Lothringen stellte Caprivi am 10. Juni 18Q0 im Reichstage eine mildere
Handhabung der Paßverordnung in Aussicht, erklärte aber ausdrücklich, daß an
eine Aufhebung nicht gedacht werde.
* Der von der ägyptischen Regierung im Einverständnis mit England seit längerer
Zeit betriebene Plan einer Konversion der fünfprozentigen ägyptischen Schuld in
eine vierprozentige war 18S9 an der Weigerung des französischen Kabinetts
Tirard gescheitert. Indessen lenkte das im März 1S90 zur Regierung gelangte
Kabinett Freycinet in der ägyptischen Frage ein, und es schien, da auch England
in der Konversionsfrage Entgegenkommen bewies, einen Augenblick, als ob sich
nach dem langjährigen Hader ein französisch-englisches Einvernehmen in der
ägyptischen Frage anbahnen werde. Über Symptome einer solchen gegenseitigen
Annäherung berichtete der deutsche Generalkonsul in Kairo von Brauer in seinem
von Kiderlen angezogenen Berichte vom 4. April. Schon vor dem Eingang dieses
Berichts hatte Kiderlen in einer Aufzeichnung vom 5. April die Frage erörtert,
ob sich in Englands neuerlicher Haltung ein politisches Bedürfnis zu einer An-
lehnung an Frankreich ausdrücke. Vgl. Bd. VIII, Kap. LIll, A, Nr. 1777.
267
gierten dagegen. Noch vor kurzem waren die Engländer mit unserem
Vorgehen einverstanden und wollten uns unterstützen. Jetzt auf einmal
fangen sie an zu sagen, es ginge doch nicht, die Franzosen würden
das doch nie zulassen, man müßte diese nicht reizen usw.
Daß die Italiener den Franzosen gegenüber plötzlich mildere Saiten
aufziehen und mit Paris Hebäugeln, dafür spricht allerlei, das eklatanteste
Beispiel ist die Entsendung der Flotte zur Begrüßung des Präsidenten*.
Dieser Umschwung kann nur auf eins zurückgeführt werden:
beide Länder sehen oder glauben zu sehen, daß wir mit Frankreich
kokettieren, und glauben nun natürlich auf Frankreich allerlei Rück-
sicht nehmen zu müssen. Die französische Presse war in letzter Zeit
— offenbar auf ein mot d'ordre — voll unseres Lobes, weil wir so
entgegenkommend seien. Woher das kommt, weiß ich nicht, ebenso-
wenig, ob es von Herbette ausgeht, der bei dem Fürsten Bismarck
zwei Audienzen kurz hintereinander nach der Krisis hatte. Wie dem
auch sei, die Franzosen tun, als stünden sie besser als bisher mit uns,
und die Wirkung läßt sich in Rom und London bereits verspüren.
Unsere Presse hat ja das Thema einer Annäherung an Frankreich
genügend variiert. Sie erinnern sich wohl des ersten charakteristischen
Artikels in der Sache; ich lege ihn in rei memoriam bei**.
Was sind nun die Folgen einer solchen wirklichen oder vermeint-
lichen Annäherung an Frankreich?
1. Sie wissen so gut oder besser wie ich, daß Italien nicht pour
nos beaux yeux, noch weniger für die Österreichs den Bund mit
uns eingegangen ist. Erst als Frankreich sich Tunis bemächtigt hatte
(eines der letzten Meisterstücke von Seiner Durchlaucht)***, fiel es
uns als reife Frucht in den Schoß. Italien sucht bei uns gegen Frank-
reich, das es zwischen Toulon und Biserta (Tunis) eingeklammert
hält, Schutz in politischer und wirtschaftlicher Beziehung. Lieb-
äugeln wir mit Frankreich in einer dieser beiden Beziehungen, so tritt
Italien sofort den Eilmarsch nach Paris-Kanossa an und verständigt
sich mit Frankreich schon aus reiner Furcht. Auf Italien muß eine
deutsche Annäherung an Frankreich noch viel intensiver wirken als
auf Österreich eine deutsche Annäherung an Rußland.
2. Bezüglich Englands verhält es sich ähnlich wie mit Italien.
Graf Hatzfeldt, dessen feines politisches Gefühl nie bestritten worden
ist, sagt darüber in einem Bericht:
„Ich habe seit Jahren Lord Salisbury gegenüber betont, daß unser
Verhältnis zu Frankreich den besten Schutz für England nach dieser
Seite sei und dafür volles Verständnis gefunden. Sollte sich diese Hoff-
* Am 17. April begrüßte eine Eskadron der italienische Flotte den Präsidenten
Carnot in Toulon.
** Nicht bei den Akten.
♦** Vgl. Bd. in, Nr. 655 ff.
268
nung hier (in London) verringern, so würde allerdings wohl gleichzeitig
das Bedürfnis auftauchen, sich gegen von Frankreich drohende Even-
tualitäten auf andere Weise, möglicherweise durch Versuch direkter
freundschaftlicher Verständigung mit dem Nachbarlande zu schützen.
Eine solche Verständigung könnte in zwei Fällen eintreten: ein-
mal, wenn man hier glaubte, zu der Überzeugung gelangt zu sein,
daß eine politische Verständigung zwischen uns und Frankreich zu
erwarten sei, zweitens, wenn Gladstone mit den Radikalen ans Ruder
käme."
Ein bedenklicher Anfang einer englisch-französischen Annähenmg
scheint sich in Ägypten vorzubereiten. Auf Marokko würde ich weniger
geben. Aber wenn sich England und Frankreich anfangen über
Ägypten zu verständigen, dann hat der die Verständigung suchende
Teil — und das ist in diesem Moment England — seine gewichtigen
Gründe dazu. Denn sonst ist ja Ägypten der klassische Zankapfel
zwischen Franzosen und Engländern.
Die Franzosen wissen recht gut, wie ihre Annäherung an uns in
Italien und England wirken würde; deshalb gebärdet sich ihre Presse
so freundhch gegen uns mit einem Schlage, spricht von Aufhebung
der Paßkontrolle in Elsaß usw. Soviel wir wissen, hat Seine Majestät
den französischen Botschafter, der ihn auf die Paßfrage anredete,
gründlich ablaufen lassen. Das verschweigt aber M. Herbette be-
zeichnenderweise sorgfältigst.
3. Jedes Entgegenkommen unsererseits, das die obenerwähnten
Nachteile hat, kann uns keinerlei Vorteil bieten im kritischen Moment,
wenn es losgeht. In politischer Beziehung können wir Frankreich
nichts bieten als ein freundliches Lächeln. Unsere Gegner, wer sie
seien, Rußland, eventuell ein feindliches Italien, England, können ihnen
monts et merveilles versprechen: Elsaß-Lothringen, die Rheingrenze,
die Herstellung der Zustände vor 66; das alles kostet ja die andern
nichts. Dagegen kann kein von uns ausgehendes Kajolieren ohne
materiellen Hintergrund etwas nützen.
Ergo wir müssen uns die Freunde erhalten, die eine gemeinsame
Gegnerschaft gegen Frankreich uns zuführt. Die verlieren wir durch
Kokettieren mit Frankreich, ohne eine Verständigung zwischen diesem
und unsern Feinden verhindern zu können.
Fast noch utopistischer ist eine wirtschaftliche Verständigung
mit Frankreich, die in der Presse neuerdings recht unnötigerweise
ventiliert worden ist. Damit machen wir ebenfalls Italien kopfscheu
und erreichen doch nichts. Man braucht ja nur die schutzzöUnerische
Richtung anzusehen, die drei Viertel der französischen Kammer be-
herrscht, und die systematische allmähliche Kündigung aller Handels-
verträge.
Seine Majestät wird jetzt, wo Sie wieder schwimmenderweise ihn
269
begleiten werden*, jedenfalls politica mit Ihnen reden. Es ergeht
nun an Sie die Bitte — nicht von mir aus, ich schreibe alles dies
autorisiert — , Seiner Majestät die vorstehend entwickelten Gesichts-
punkte vorzutragen — falls Sie sich dieselben aneignen können, woran
ich bei ihrer Kenntnis unserer politischen Verhältnisse nicht zweifle.
Seine Majestät kennt zwar den Bericht aus Kairo, der hier beiliegt.
Vielleicht bringen Sie denselben aber Seiner Majestät noch einmal mit
einigen Bemerkungen in obigem Sinne unter die Augen, wenn er
dann die Frage auf einsamer Meerfahrt innerlich in sich verarbeitet,
wird sein scharfer Blick schon das Richtige finden, etc.
Kiderlen
Nr. 1544
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 1 Paris, den 4. Januar 1891
Der Neujahrsempfang beim Präsidenten der Republik verlief wie
alle Jahre. Das diplomatische Korps war ganz vollzählig vertreten.
Es fehlte nur der amerikanische Gesandte, Mr. Whitelaw Reid, der
sich von seinen Verhandlungen über die Mac Kinley Bill und dem
Kummer darüber, daß den amerikanischen Schweinen der Zutritt zu
Frankreich noch versperrt ist, auf einer zweimonatUchen Orientreise
erholen will und erst im Februar zurückkehrt.
Die Antwort des Präsidenten auf die etwas sehr devote Anrede
des Nuntius lege ich gehorsamst bei.
Sie ist von denen der Vorjahre sehr verschieden und zeigt eine
gewisse Sicherheit. Dies tritt immer mehr hervor und kann leicht
zur Überhebung führen i.
Wenn ich im allgemeinen solchen Reden, die ja immer auf den
inneren Konsum berechnet sind, keinen zu großen Wert beilege, so
sind dieselben deshalb immer ein gewisses Zeichen der Stimmung.
Die Wahlrede des Kriegsministers von Freycinet an die Wahl-
männer des Senates ist auch von einem Teil der deutschen Presse
als eine chauvinistische, deutschfeindliche aufgefaßt worden. Bei Wahl-
reden muß auch selbst ein Minister, wenn er von einer ganz radikalen
Körperschaft, wie es die Pariser Wähler sind, gewählt werden will,
die Farben stärker auftragen wie im Parlamente selbst, und daß der
jetzige Kriegsminister auf seine Tätigkeit während der Defense natio-
nale einen Rückblick warf, war ganz natürlich.
* Graf Eulenburg war ausersehen, bei der bevorstehenden Reise des Kaisers nach
Bremen zur Grundsteinlegung eines Denkmals für Kaiser Wilhelm I. (21. April),
an di.; sich Seefahrten in die Nordsee schließen sollten, zum kaiserlichen Gefolge
zu treten.
270
An meiner Ansicht, daß von französischer Seite ein Kriege noch^
nicht gewünscht, nicht beabsichtigt und von hier nicht ausgehen wird,
halte ich noch unverändert fest.
Steigt aber der Hochmut der Grande Nation noch mehr, wie er
im Jahre 1890 schon gewachsen ist, so kann bei Komplikationen von
anderer Seite Frankreich jetzt mehr geneigt sein, mit einzugreifen,
als es bisher der Fall war 3.
Ich sehe deshalb noch durchaus nicht schwarz, werde aber alles,
was hier geschieht, aufmerksam beobachten, pp.*
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
2 da liegt der Hase
8 ja
Schlußbemerkung des Kaisers:
Gut.
Nr. 1545
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster**
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 26 Berlin, den 17. Februar 1891
Ew. bitte ich um fortlaufende Sammlung und Einreichung der be-
merkenswertesten unter den Preßstimmen, welche eine versöhnlichere
Haltung gegen Deutschland befürworten. Da, wo ein offiziöser Ur-
sprung zu vermuten ist, wird der Umstand besonders zu erwähnen sein.
Marschall
Nr. 1546
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 33 Paris, den 19. Februar 18Q1
Bereits im Laufe des vorigen Jahres habe ich in meiner Bericht-
erstattung wiederholt zu bemerken die Ehre gehabt, daß die lang-
gewöhnte französische Gehässigkeit gegen alles, was deutsch ist, er-
* Die Fortsetzung des Berichts, die von den russisch-französischen Beziehungen
handelt, siehe in Kap. XLVII, Nr. 1492.
** Das obige Schriftstück findet sich unter den Akten über die Anwesenheit der
Kaiserin Friedrich in Paris vom 18.— 27. Februar 18Q1 und beweist, welche Be-
deutung diesem Besuch auch von seiten des Auswärtigen Amts im Hinblick auf
die deutsch-französischen Beziehungen beigelegt wurde. Der Besuch sollte offen-
bar die Probe auf das Exempel sein, ob auf eine „versöhnlichere Haltung gegen
Deutschland" gerechnet werden könne.
271
heblich im Abnehmen begriffen sei, daß namentlich in der Presse
ein ruhigerer und anständigerer Ton sich einbürgere.
Dieser Übergang zu besserer Stimmung hat, wie ich mit Genug-
tuung feststellen kann, gerade in jüngster Zeit wieder große Fort-
schritte gemacht. Die verleumderische Verketzerung der deutschen
Politik, die Angriffe auf Seine Majestät den Kaiser und König, die
Verfolgung der in Frankreich wohnenden Deutschen, die Klagen über
die „Knechtung" der Elsaß-Lothringer, das alles ist, wenn auch noch
nicht ganz verschwunden, so doch bedeutend gemindert und gemäßigt.
Die Hetzereien gegen Deutschland ziehen sich täglich mehr in den
dunkeln Winkel einiger Schmutzblätter zurück und finden keinen An-
klang und keine Verbreitung. Es ist nicht zu verkennen, daß ein Zug
der Versöhnung, ein Bedürfnis nach achtungsvoller Annäherung an
das so lange mit unschönen Waffen bekämpfte Deutschland durch
die Presse geht, eine Stimmung, welche sich freilich bis jetzt mehr
in der Einstellung von Feindseligkeiten kundgibt wie in freimütigen
Worten der Aussöhnung. Der Bann des Chauvinismus, die Furcht,
von den berufsmäßigen Lärmmachern der Ketzerei, des Verrats ge-
ziehen zu werden, läßt die anständige Presse nicht den Mut ihrer
Meinung finden, der Meinung, daß es im Grunde der Würde und den
Interessen Frankreichs mehr entspreche, mit Deutschland gute Nachbar-
schaft zu halten, in reger Wechselbeziehung mit demselben der Pflege
der Zivilisation sich hinzugeben, als im Jagen nach dem Phantom
der Revanche sich und andere aufzureiben. Das ist — die Botschaft
findet dafür täglich neue Bestätigungen — im großen ganzen die Mei-
nung des gebildeten französischen Publikums. Solange diese in der
Presse nicht offen bekannt und erörtert wird, ist es immerhin be-
friedigend, daß sie bei der Meldung und Besprechung einzelner Er-
eignisse durchschimmert, welchen die Presse und die öffentliche Mei-
nung besondere Aufmerksamkeit widmet.
Ereignisse solcher Art sind in jüngster Zeit das Essen in der
französischen Botschaft in Berlin*, der Besuch Seiner Majestät des
Kaisers und Königs bei Frau Herbette i, ganz besonders aber die
Beileidskundgebung Seiner Majestät aus Anlaß des Todes Meisson-
niers** gewesen. Hat sich die Presse auch nicht aus den erwähnten
Gründen auf längere Erörterungen eingelassen, so zeigen doch die
Fassung der Meldung, der Platz, der ihnen eingeräumt wird, die
kurzen Bemerkungen, mit welchen dieselben begleitet werden, wie
wohltuend hier diese Aufmerksamkeiten gewirkt haben, wie sehr der
Nationalstolz der Franzosen sich durch dieselben geschmeichelt fühlt.
* Am 12. Februar hatte der Kaiser an einem auf der französischen Botschaft ver-
anstalteten Essen teilgenommen.
** Kaiser Wilhelm II. ließ der französischen Akademie anläßlich des Todes des
französischen Historienmalers (31. Januar 1891) am 4. Februar sein Beileid aus-
sprechen.
272
Deutsche Zeitungen, welche mir zu Gesicht gekommen, gehen zu
weit, wenn sie sagen, daß die Beileidsi<undgebung Seiner Majestät
von der französischen Presse nicht gewürdigt worden sei. Zu Leit-
artikeln haben sich zwar meiner Kenntnis nach bisher nur zwei nicht
sehr verbreitete Blätter, „La Paix^* und „Le Petit Moniteur Uni-
versell, veranlaßt gesehen — die Artikel liegen hier bei — , aber
einige sympathische Worte finden sich nahezu in allen Zeitungen, selbst
in durchaus chauvinistischen. Solche kurzen Bemerkungen aber geben
hier weit richtiger die Stimmung wieder und wirken besser als lange
Artikel, die nur wenige lesen, ganz abgesehen von der guten Wirkung,
welche die Tatsachen an sich ausüben. Auch ist zu beachten, daß
die verständnisvolle Anerkennung der kaiserlichen Courtoisieakte mehr
in dem Sinne und dem Ton zu finden ist, in welchem die Organe
der öffentlichen Meinung andere naheliegende Fragen besprechen. Eine
solche Frage ist die Beteiligung der französischen Künstler an der
diesjährigen Ausstellung zu Berlin*, eine Frage, welche gerade in
diesen Tagen, nicht zum mindesten unter dem Eindruck der Beileids-
äußerung Seiner Majestät zur öffentlichen Erörterung gekommen ist.
Ich darf mir gehorsamst vorbehalten, demnächst darüber zu berichten,
welche Schwierigkeiten politischer und materieller Art dem Zustande-
kommen einer französischen Ausstellungsabteilung entgegengestanden,
und wie die Hindemisse umgangen und beseitigt wurden. Heute darf
ich aber schon melden, daß die Opposition, welche die Beteiligung
der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung in den Kreisen
der Künstler selbst und in der hiesigen Presse gefunden hat, anfänglich
zwar nicht gering schien, nun aber nahezu verschwunden ist. Neben
der sehr verständigen Auffassung, zu welcher sich einige herv'orragende
Künstler wie Detaille, Bouguereau und andere öffentlich bekannt haben,
ist es sicherlich auch die hochherzige Beileidskundgebung Seiner
Majestät des Kaisers, welche bei den französischen Künstlern manche
Bedenken überwunden und günstig auf die Auffassung der Sache
seitens der Presse gewirkt hat.
Ich beehre mich, einige charakteristische Zeitungsartikel, welche
die Teilnahme der französischen Künstler an der Berliner Ausstellung
besprechen und dabei auch die allgemeinen deutsch-französischen Be-
ziehungen berühren, hier gehorsamst beizufügen. Sie sprechen sich
alle für die Beschickung der Ausstellung aus, meist unter Zugrunde-
legung des Gedankens, daß Frankreich sich auf dem Gebiete der
Kunst eine Revanche holen könne. Selbst die „France", das Spezial-
♦ Der „Verein Berliner Künstler" plante zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens,
seiner sommerlichen Kunstausstelhing unter dem Protektorat der Kaiserin Fried-
rich einen besonders glanzvollen internationalen Anstrich zu geben, und nahm zu
diesem Zweck die Hilfe des Auswärtigen Amts in Anspruch. Das Auswärtige
Amt hielt indessen nach einer Randbemerkung Holsteins zu einem Berichte
Münsters vom 20. Dezember 1890 ein direktes Eingreifen des Botschafters für un-
tunlich.
18 Die Große Politik. 7. Bd. 273
blatt für Deutschenhetze, macht keine Opposition. Nur Paul Cassagnac
in seiner „Autorite" bleibt unverbesserlich.
Nicht unerwähnt darf ich lassen, daß der Besuch, mit welchem Ihre
Majestät die Kaiserin und Königin Friedrich mein Haus zu beehren
die Gnade hat*, hier allgemein als eine neue Bestätigung des an
allerhöchster Stelle gehegten aufrichtigen Wunsches aufgefaßt wird,
die Beziehungen jeder Art zwischen Deutschland und Frankreich immer
friedlicher und wohlwollender zu gestalten. Längere publizistische Aus-
führungen liegen in diesem Sinne noch nicht vor, doch enthalten die
beigelegten Artikel, wenn auch hier und da der Besuch Ihrer Majestät
in ungeschickter Weise mit der Berliner Ausstellung in Verbindung
gebracht wird, manche charakteristische Äußerungen.
Als Zeichen der Stimmung darf auch schließlich die mehr wie
wohlwollende Aufnahme gelten, welche deutsche Musik neuerdings
hier findet. Wagners „Lohengrin", der vor vier Jahren hier wegen
deutschfeindlicher Manifestationen nicht weiter gegeben werden konnte,
hat in Ronen trotz mangelhafter Aufführung großen Erfolg gehabt und
wird voraussichtlich in diesem Herbst, dem ziemlich allgemeinen Ver-
langen von Publikum und Presse entsprechend, in der Großen Oper
in Szene gesetzt werden. In den berühmten Konzerten von Lamoureux
hat die bekannte Berliner Sängerin Ulli Lehmann mit Gesangsvorträgen
in deutscher Sprache geradezu frenetischen Beifall geerntet, eine
Kundgebung, welche sicherlich nicht allein eine Anerkennung der voll-
endeten Kunstleitung sondern auch einen Protest gegen die bisherige
Anfeindung deutscher, insbesondere Wagnerscher Musik bedeutet.
Ich werde es mir angelegen sein lassen, weitere Symptome der
sich vollziehenden Annäherung an Deutschland sorgsam zu beachten
und darüber gehorsamst zu berichten. Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Beides im vorigen Jahre auch geschehen.
Nr. 1547
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 18 Berlin, den 26. Februar 1891
Ew. ersuche ich, die heftigeren und bemerkenswerteren unter den
deutschfeindlichen Preßerzeugnissen ebenso wie vor kurzem die fried-
lichen Äußerungen zu sammeln und einzureichen.
Marschall
* Kaiserin Friedrich war mit ihrer Tochter, der Prinzessin Margarete, am 18. Fe-
bruar auf einer Reise nach England in Paris inkognito eingetroffen und hatte beim
Botschafter Grafen Münster Wohnung genommen.
274
Nr. 1548
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 17 Paris, den 26. Februar 1891
Ihre Majestät Kaiserin Friedrich verläßt morgen früh Paris, um
sich in Calais einzuschiffen. Ich begleite Ihre Majestät bis dahin.
Der Aufenthalt, vom herrlichsten Wetter begünstigt, hat Ihrer
Majestät viel Freude bereitet.
Der Verlauf wäre noch besser gewesen, wenn der Besuch nicht
zu lange gedauert hätte. Ich konnte als Wirt das nicht sagen, auch
wollte Königin Viktoria die Kaiserin nicht vor dem 27. empfangen.
Die Regierung hat sich korrekt benommen und das Inkognito streng
respektiert, weshalb der Präsident sich entfernt hielt.
Bis Sonntag ging alles sehr gut, und wäre die Kaiserin am Montag
abgereist, so würde es ein großer Erfolg gewesen sein. Dann fingen
die feindlichen Mächte an zu agitieren und mißbrauchten die Be-
teiligung der Künstler an der Berliner Ausstellung als Agitationsmittel.
Die russische hiesige Presse begann. Vier Faktoren haben die Stim-
mung gegen Deutschland erregt: Russische Intrigen vor allem i, dann
die Patriotenliga gegen uns, die Radikalen gegen das Kabinett und die
Elsässer wegen des Paßzwanges. Die Künstler haben sich einschüchtern
lassen und ziehen zurück 2. Die Regierung hat sich in der Aussteilungs-
frage neutral verhalten, ist aber der Agitation gegenüber schwach.
Die Orleans haben versucht, Ihre Majestät zu sehen. Herzog und
Herzogin von Chartres waren nicht in Cannes, wie beabsichtigt, sondern
hier, die Kaiserin hat aber auf meinen Rat kein Mitglied der Familie
Orleans gesehen 3, keinen Besuch bei ihnen gemacht und alles sorg-
fältig vermieden, was Anstoß hätte erregen können.
Überall, wo sich Ihre Majestät zeigte, ist sie mit großem Respekt
behandelt, und auf der Straße ist nicht der geringste Mißton bemerkt worden.
Bericht folgt Sonnabend. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II. auf einer Abschrift:
1 Die 7te Großmacht der Rubel
2 habe das erwartet, weil ich dem ganzen Enthusiasmus nicht geglaubt habe
3 gut
Nr. 1549
Der Botschafter inParis Graf Münster an den Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 39 Paris, den 27. Februar 1891
Die Frage der Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich,
worüber ich am 19. und am 21. d. Mts. (Nr. 33* und 37) zu be-
richten die Ehre gehabt, ist inzwischen von der Presse — immer in
* Siehe Nr. 1546. Der Bericht Nr. 37 vom 21. Februar enthielt nur Pressenotizen.
•8- 275
dem engeren Rahmen der Beschickung der Berliner Kunstausstellung —
in wachsendem Umfange und mit steigender Erregung erörtert worden.
Während ich vor acht Tagen noch zu berichten in der Lage war,
daß die Teilnahme der französischen Künstler an der Ausstellung geringe
Opposition fände, muß ich heute einen bedauerlichen Umschwung
melden*, pp.
Der Aufenthalt Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin, so sehr
derselbe anfänglich zugunsten einer freundschaftlichen Annäherung auf
nichtpolitischem Gebiete zu wirken schien und sicherlich gewirkt hätte,
wenn er nicht zu lange ausgedehnt worden, hat die Geduld der
Chauvinisten auf eine zu harte Probe gesetzt. Sehr wohl fühlend,
wie große Fortschritte die versöhnliche Stimmung im allgemeinen
und diejenige der Künstler im besondern machte, haben sie den Kampf
hiergegen in Presse und Versammlungen mit allen jenen bekannten
vergifteten Waffen auf das heftigste wieder entfacht, die eben im
Vernarben begriffenen Wunden mit frevelnder Hand wieder aufgerissen.
Obwohl die Reise Ihrer Majestät von der hiesigen Presse bereits vor
der Ankunft mit der Ausstellung in Verbindung gebracht, vorsichtige
Neutralität daher angezeigt und von mir empfohlen war, hat Ihre
Majestät in dem Vertrauen, daß der gesunde Sinn jene Mißdeutungen
beseitigen werde, ihren künstlerischen Neigungen keine zu engen
Grenzen ziehen zu müssen geglaubt und neben den Museen, Privat-
galerien und Sammlungen auch einige Ateliers hervorragender fran-
zösischer Künstler besucht. Bei der Zudringlichkeit, mit welcher die
Reporters ungeachtet aller meiner Anstrengungen Ihre Majestät auf
Schritt und Tritt verfolgten, sind diese Besuche sofort bekannt ge-
worden, die Legende, daß die Reise der hohen Frau der Erwirkung
der französischen Beteiligung an der Ausstellung gelte, wurde damit
zur Überzeugung, und die erhabene Person Ihrer Majestät in den Preß-
kampf hineingezogen. Daneben haben diese Atelierbesuche, bei welchen
übrigens Ihre Majestät jede Erwähnung der Ausstellung peinlich ver-
mieden hat, neidische Reibereien in der Welt der Künstler und Opposi-
tion gegen die Ausstellung hervorgerufen.
Zu alledem kam noch folgender Vorfall: Einige Patrioten hatten
unter Derouledes Führung ihrem Protest gegen Beschickung der Ber-
liner Ausstellung unter anderem damit Ausdruck gegeben, daß sie
einen mächtigen Kranz auf das in der Pariser Kunstschule befindliche
Denkmal eines während der Belagerung von Paris als Soldat gefallenen
Künstlers, Regnault, niederlegten. Tags darauf war der Kranz ver-
schwunden, und zwar, wie die Patrioten sogleich verkündeten, auf
Anordnung der Regierung**, welche den Besuch der Kaiserin in der
* Es folgen Auszüge aus der französischen Presse.
** Nach den Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst
(Bd. II, S. 479) wäre die Entfernung durch den Direktor der Ecole des beaux arts
angeordnet worden, „parce que cela pourrait faire une mauvalse Impression".
276
Kunstschule erwartete. Darob nun großer Lärm in der Presse und
selbst in den Couloirs der Kammer, wo eine Interpellation Derouledes
nur mühsam durch das feierliche Versprechen der Regierung ver-
mieden wurde, jenen Kranz sogleich wieder an Ort und Stelle bringen
zu lassen. Ob der Kranz tatsächlich von der Regierung entfernt worden
war, ist noch nicht aufgeklärt, aber wahrscheinlich. Jedenfalls aber
hat sie den Kranz wieder hinlegen lassen und damit, wenn auch in
der guten Absicht, einen Skandal zu vermeiden, vor der rechtlich
nicht mehr anerkannten Patriotenliga kapituliert. Übrigens war der
Besuch Ihrer Majestät in der Kunstschule nie beabsichtigt und hat
nicht stattgefunden.
Dieser Vorfall hat die öffentliche Meinung von neuem in Wallung
gebracht und den Preßkampf immer heftiger gegen diejenigen Künstler
entbrennen lassen, welche die Absicht kundgegeben hatten, nach Berlin
zu gehen. Deroulede und andere „Patrioten" hielten neue Versamm-
lungen ab, in welchen gegen die Künstler, gegen die Anwesenheit Ihrer
Majestät der Kaiserin Friedrich und das „bevorstehende" Hierher-
kommen Seiner Majestät des Kaisers und Königs Protest erhoben
wurde. Daß die Witwe Meissonniers, offenbar auf chauvinistisches
Anstiften, mit einer flegelhaften schriftlichen Erklärung in den Kampf
eingegriffen hat, ist dieser ungebildeten Frau, die bis vor kurzem nur
des Malers Köchin und Maitresse gewesen, weiter nicht zu verübeln.
Daß aber die Presse fast ohne Ausnahme sich ein Vergnügen daraus
macht, diese niederträchtige Erwiderung auf die hochherzige Beileids-
kundgebung Seiner Majestät des Kaisers dem Publikum zu unter-
breiten, zeigt, auf welche Stufe hier das Gefühl des internationalen
Anstandes gesunken ist.
Haben alle diese Dinge auch glücklicherweise nicht die öffent-
liche Meinung so weit zur Verirrung gebracht, daß Ihrer Majestät
bei ihren Fahrten und Gängen in der Stadt die geringste Belästigung
— abgesehen von der Zudringlichkeit der Reporters — zuteil ge-
worden wäre, so hat doch der Kampf der Chauvinisten gegen die Be-
schickung der Berliner Ausstellung einen siegreichen Ausgang gehabt.
Die Künstler, voran der sonst so verständige und mutige Detaille,
der überdies durch Schmäh- und Drohbriefe eingeschüchtert worden
sein soll, haben nun erklärt, daß sie angesichts des Umschwunges
der öffentlichen Meinung ihre Absicht, nach Berlin zu gehen, auf-
geben. Selbst die wenigen, welche standhaft zu bleiben wagten, dar-
unter der bekannte Porträtmaler Bonnat, welcher neben Detaille,
Bouguereau und anderen durch einen Besuch Ihrer Majestät beehrt
worden war, scheinen ihre Überzeugung opfern zu wollen, um wenig-
stens dem Auslande nicht das Schauspiel der Uneinigkeit zu geben.
Ich sehe damit die Beteiligung der französischen Künstler an
der Berliner Ausstellung, ein[em] Werk, an welchem die Kaiserliche Bot-
schaft, ohne aus der gebotenen Reserve, ohne gleichsam aus der
277
Kulisse herauszutreten, mit hingebender Sorgfalt und, ich darf sagen
bis vor kurzem mit dem erfreulichsten Erfolg, gearbeitet hatte, zu-
sammenbrechen, aber ich sehe dabei leider auch unsere so aufrichtigen
Bemühungen um die Herstellung und die Pflege freundnachbariicher
Beziehungen zwischen den beiden Nationen auf nichtpolitischem Ge-
biete vorläufig gescheitert 1. Ich will zur Ehre der Künstler annehmen,
daß sie sich hauptsächlich deshalb zurückgezogen haben, um dem
Preßkampf, der durch die Hereinziehung der erhabenen Person Ihrer
Majestät einen besonders unschönen Charakter angenommen hatte,
ein rasches Ende zu machen, ich kann es verstehen, daß sie den An-
griffen einer anstandslosen Presse zu entrinnen trachteten, und ich
kann es ihnen nicht verargen, daß sie der verantwortlichen politischen
Rolle sich zu entziehen suchten, welche man ihnen aufdrängte. Ich
will und kann die Künstler nicht anklagen, die ihnen von deutscher
Seite dargebotene Hand zurückgewiesen zu haben, ich weiß zu wohl,
daß sie — mit verschiedenen Ausnahmen — vom besten Willen
beseelt und vom erfreulichsten Verständnis für die Sache erfüllt waren.
Aber die Regierung kann ich von der Anklage nicht freimachen,
den Mut und den Willen nicht gefunden zu haben, den Künstlern
den Kompaß zu geben, dessen sie in dem Sturm bedurften. Nicht
genug, daß sie sich von vornherein in der Frage der Ausstellung
in schweigsame Neutralität hüllte, eine Haltung, welche, wie ich zu
wissen glaube, weniger dem Bedürfnis politischer Vorsicht wie dem
Gefühl der Bitterkeit entsprang, das aus der schroffen Zurückweisung
zurückgeblieben, welche seinerzeit die wiederholte französische Ein-
ladung zur künstlerischen Beteiligung an der Pariser Weltausstellung
zu Berlin gefunden*, nicht genug dieser eisigen Indifferenz, aus
welcher die Regierung auch dann nicht zu treten wagte, als die rege
Beteiligung der französischen Künstler gesichert schien, ist sie zuerst
es gewesen, welche in der Frage des Kranzes schwächlich und schmäh-
lich vor Deroulede und seinen Genossen die Waffen gestreckt hat.
Der ganze Vorgang, die Wendung, welche die Frage der Aus-
stellung in Verbindung mit der Anwesenheit der erlauchten Mutter
unseres allergnädigsten Kaisers und Königs genommen, bestätigt leider
wieder die alte Wahrheit, daß die Franzosen in Dingen, welche auch
nur einigermaßen die Politik berühren, unberechenbar sind, daß das
laute und das stille Wirken einiger berufsmäßiger Störenfriede genügt,
um Regierung und öffentliche Meinung zur Verwirrung und Veriri-ung
zu bringen, die Stimme der Vernunft und bessere Regungen zu er-
sticken.
Es ist dabei ein schwacher Trost, daß solche Emballements, wie
jetzt eines vorliegt, rasch vorübergehen, und daß einzelne Köpfe Klar-
heit und Nüchternheit bewahren, wie die beiliegenden Artikel des
„Figaro" von gestern und heute beweisen, wo „un Fran^ais" die
• Vgl. Bd. III, Kap. XX, Nr. 650 ff. und Bd. VI, Kap. XL, Nr. 1282.
278
Bedenken gegen Beteiligung an der Berliner Ausstellung sehr ver-
ständig widerlegt, und wo ein anderer unter dem Pseudonym „Ca-
liban" den Maler Puvis de Chavannes, das Haupt der Opposition,
geschickt ad absurdum führt.
Ich darf Euerer Exzellenz gehorsamst anheimstellen, den Präsiden-
ten des Berliner Ausstellungskomitees Direktor von Werner von der
veränderten Sachlage in Kenntnis setzen zu wollen. Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Jal
Nr. 1550
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 19 Berlin, den 28. Februar 1891
Antwort auf Telegramm Nr. 17*.
Ew. ersuche ich, Ihrerseits keine Iniative für Besprechung der
durch die Reise Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich veranlaßten
Kundgebungen zu nehmen.
Falls Sie darauf angeredet werden, wollen Sie die Anschauung
der Regierung Seiner Majestät des Kaisers dahin zusammenfassen, daß
wir der Regierung der Republik keinen Vorwurf machen, vielmehr
glauben, daß sie zur Wahrung des Gastrechts ihr möglichstes getan
hat, soweit ihre Mittel reichten. Marschall
Nr. 1551
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 40 Paris, den 28. Februar 1891
Ich bin diese Nacht von Calais zurückgekehrt, wohin ich Ihre
Majestät die Kaiserin Friedrich begleitet hatte. Ich kann nicht leugnen,
daß, so angenehm mir der Besuch Ihrer Majestät war, der zu meiner
Freude die hohe Frau sehr zu befriedigen schien, mir ein Stein
vom Herzen war, als wir das englische Schiff in Calais bestiegen.
Der Artikel der „Kölnischen Zeitung****, der besonders deshalb
♦ Siehe Nr. 1548.
** Am 26. Februar hatte die „Kölnische Zeitung" einen — nicht offiziösen — sehr
scharfen Artil<el unter der Oberschrift „Ein ernster Zwischenfall" gebracht, der
nach „ausreichender Genugtuung" wegen der „bubenhaften Verunglimpfungen" der
Kaiserin Friedrich rief.
279
so sehr taktlos war, weil er während der Anwesenheit Ihrer Majestät
erschien, hatte hier eine solche Aufregung auf der Börse und in
der Presse hervorgebracht, daß die hiesige Polizei sehr besorgt war,
daß bei der Abreise irgendeine Demonstration möglich sein könnte.
Die Direktion der Nordbahn schlug mir im Einverständnis mit
der Polizeibehörde vor, ich möge die ursprünglich beabsichtigte Abfahrt-
zeit von 111/2 Uhr für die Leute und Gepäck Ihrer Majestät beibehalten
und die Kaiserin selbst um 10 Uhr mit dem Zuge nach Boulogne ab-
fahren lassen; von Boulogne nach Calais wurde ein Sonderzug gestellt.
Die Polizei hatte auf dem ganzen Wege Polizeimannschaften auf-
gestellt. Es war nicht viel Publikum auf den Straßen, mehr aber vor
dem Bahnhofe. Dort grüßte das Publikum sehr ehrerbietig, und ist
nicht das Geringste, nicht ein Ruf vorgekommen.
Ihre Majestät die Königin Victoria hatte ein Schiff der Chatham
Dover Company, Calais — Douvres, zu Ihrer Majestät Disposition ge-
stellt, und General Duplat empfing in Calais die Kaiserin.
Gleich am ersten Morgen sagte ich der Kaiserin, ich bäte dringend
um die größte Vorsicht nach zwei Richtungen hin.
„Die Klippen, an denen Ihre Reise und unsere guten Beziehungen
zu Frankreich scheitern können, sind die Orleans und die Künstler,
Von den Orleans dürfen Euere Majestät niemanden sehen, und von
der Berliner Ausstellung dürfen Euere Majestät hier womöglich gar
nicht sprechen."
Die Kaiserin versprach mir beides. Was die Orleans betrifft, so
hat die Kaiserin ihr Versprechen, so schwer es ihr wurde, sehr gut
und mit dem größten Takte gehalten, trotzdem daß jene wiederholt
Versuche machten, die Kaiserin zu sehen.
Der Herzog und die Herzogin von Chartres hatten nach Cannes
gehen wollen, waren aber noch hier geblieben, und schrieb gleich am
ersten Morgen die Herzogin, sie stelle sich ganz zur Disposition der
Kaiserin und bitte, ihr eine Stunde zu bestimmen. Ihre Majestät er-
widerte, daß die Herzogin und ihre Familie einsehen würden, daß,
so sehr die Kaiserin es auch bedauere, sie die Mitglieder der Familie
Orleans auf der deutschen Botschaft nicht empfangen könne und sie
in England zu sehen hoffe. Sie stellte einen Besuch vor ihrer Abreise
in Aussicht, aber auch der ist unterblieben, sodaß über die Orleans
die Presse geschwiegen hat.
Die Künstlerateliers besuchte die hohe Frau erst heimlich vor mir,
war zwar vorsichtig, sprach kein Wort über die Berliner Ausstellung.
Diese Besuche wurden aber sofort durch die eitlen Künstler selbst
bekannt. Der „Figaro" hatte taktloserweise gesagt, Ihre Majestät
komme nur nach Paris, um für die Berliner Ausstellung zu werben.
Die Besuche bei allen namhaften Künstlern und bei allen Kunst-
sammlern bestärkten diese Ansicht, und so wurde die Ausstellungs-
280
frage von allen uns feindlichen Parteien als ein willkommener Vor-
wand zur Agitation benutzt.
In der Presse begann die Agitation gegen die Kaiserin und die
Ausstellung mit einem Artikel des ,,Matin", von dem ich ganz sicher
annehme, daß er aus russischer Quelle stammt. Es ist mir schon früher
mitgeteilt, daß auf der dritten Seite des „Matin" oben ein zweiter
kurzer Leitartikel steht. Diese halbe Kolonne der Zeitung ist im
voraus von den russischen Preßagenten bezahlt, und diese haben
diesen Artikel gewiß geschrieben.
Gleichzeitig änderte die Regierung ihre Haltung.
Es hatten sich gleich am ersten Tage die Generale Gallifet,
Miribel und viele offizielle und nicht offizielle Personen eingeschrieben,
und der Präsident Camot hatte im vertraulichen Kreise geäußert, daß
er sich freuen werde, Ihrer Majestät seinen Dank für die so äußerst
zuvorkommende Haltung der deutschen Militär- und sonstigen Behörden
bei der Transferierung der Leiche seines Großvaters von Magdeburg
auszusprechen.
Am Sonnabend kam der hiesige Zeremonienmeister zu mir, und
abends vorher war der taktvollste Adjutant des Präsidenten Carnot,
Oberst Lichtenstein, bei mir gewesen, und beide sagten mir, sie
wünschten sehr, daß der Präsident Ihrer Majestät einen Besuch ab-
stattete, und Graf d'Ormesson bat mich im Namen des Ministers Ribot,
ob ich am Sonntagmorgen zu ihm kommen wolle, um das Weitere zu
besprechen.
Ich erwiderte, daß ich gern dazu bereit sei, daß ich aber bei dem
Inkognito der Kaiserin keine Initiative ergreifen wolle und deshalb
ihm kein Wort gesagt habe.
Als ich am andern Morgen zu Herrn Ribot kam, fand ich ihn
sehr verlegen und nicht recht wissend, was er mir sagen solle.
Er sagte mir auf sehr ungeschickte Weise, ich hätte geäußert,
die Kaiserin wolle inkognito sein, und so hätte der Präsident Carnot
auf den Rat des Ministerpräsidenten Freycinet und des Ministers
Constans beschlossen, das Inkognito streng zu respektieren. Dazu
käme, daß die sämtlichen Parteien eine Agitation begönnen. Sollte
ich aber den Wunsch aussprechen, so würde Herr Carnot sehr gern
Ihrer Majestät seinen Respekt bezeugen.
Ich erwiderte dem Minister, daß nach der Einleitung seines Ge-
sprächs davon keine Rede sein könne und ich im Gegenteil um
strenge Einhaltung des Inkognito bitten müsse.
Herr Ribot erwiderte, daß die Regierung die Haltung der Presse
außerordentlich bedauere. Herr Constans behaupte, daß in der Kammer
große Aufregung zu bemerken sei und Interpellationen zu erwarten
seien. Diese werde er nicht annehmen.
Herr Ribot schien über meine sehr bestimmte Haltung — ich war
so streng und wenig höflich als möglich — etwas erschreckt zu sein
281
und sagte, er habe ebenso wie Herr von Freycinet sich nicht ein-
geschrieben bei Ihrer Majestät, um das Inkognito zu respektieren.
Es wäre aber doch wohl richtiger.
Ich erwiderte, dazu könne ich nichts sagen.
Eine Stunde darauf haben beide Minister aber sich eingeschrieben.
Erwähnen muß ich noch, daß Herr Ribot mir beim Weggehen
sagte, daß, falls, wie er vermute, Ihre Majestät Versailles und die
Kunstschätze dort besuchen wolle, Montag der beste Tag sei, weil
an dem Tage der Besuch dem Publikum nicht gestattet sei. Er werde
in Versailles Befehle geben lassen, um alles zu öffnen, was etwa Ihre
Majestät zu sehen wünschen würde.
Aus der Haltung Herrn Ribots und vielen anderen Anzeichen ist
es mir ganz klar geworden, daß innere Gründe die Schwäche der
Regierung der Agitation gegenüber zur Folge gehabt haben. Freycinet
contra Carnot, Constans contra Ribot. Freycinet will den Präsidenten
Carnot ersetzen, Constans will Ministerpräsident und Minister des
Auswärtigen werden.
Alles ist hier Intrige, das kann auch nicht anders sein bei einer
Regierung von Emporkömmlingen, die nicht zum Regieren geboren
und erzogen sind.
Leute, die zu Pferde steigen, ohne reiten zu können, sind gefähr-
lich für sich, das Pferd und andere: so geht es den hiesigen Macht-
habern.
Münster
Nr. 1552
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VIL Reuß an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 56 Wien, den 26. Februar 1891
Der Besuch Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich in der fran-
zösischen Hauptstadt ist hier seit dem Bekanntwerden der Absicht
desselben Gegenstand des allgemeinen Interesses gewesen und hat
namentlich auch die gesamte Presse fortgesetzt beschäftigt. Lange
telegraphische Berichte gaben die Einzelheiten des Aufenthaltes der
hohen Frau bekannt und verzeichneten die Stimmung der Pariser Be-
völkerung, soweit sie in öffentlichen Kundgebungen oder in den Tages-
blättern zum Ausdruck gelangte. Heute bringen auch Organe der
verschiedensten Richtung bezügliche Leitartikel; ohne eine ernstliche
Friedensstörung infolge des ungalanten Verhaltens der Franzosen zu
besorgen, konstatieren sie doch übereinstimmend das Scheitern des
deutsch-französischen Annäherungsversuches und sagen eine Ver-
282
schlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Nachbarreichen
als unvermeidlich voraus.
Graf Kälnoky, sobald er von der projektierten Reise Ihrer Majestät
gehört hatte, sprach mir sofort seine Besorgnis aus, daß die Sache
kein gutes Ende nehmen würde. Er sagte mir damals, er gäbe gar
nichts auf alle die kleinen Höflichkeiten, die uns die Franzosen in
jüngster Zeit gemacht hätten. Der Eindruck, den das Schreiben wegen
Meissonnier gemacht, sei allerdings ein großer gewesen; aber das
wolle bei diesen leicht erregbaren Leuten gar nichts sagen. Solange
die Franzosen den Frankfurter Frieden nicht ohne Hinterhalt anerkennen
würden, solange gäbe er nichts auf ihre Freundschaftsbezeugungen
Deutschland gegenüber.
Heute sagte mir der Minister, seine Prophezeiung habe sich leider
bewahrheitet. Es nütze nichts, den Franzosen Avancen zu machen,
denn wenn dieselben mißglückten, so sei das Verhältnis nachher
schlechter als vorher. Wenn auch alle anständigen Leute in Frank-
reich die Unhöflichkeit einiger Pariser Schreier aufrichtig beklagten,
so sei es eine alte Erfahrung, daß diese Bande ganz Frankreich
tyrannisierte. Die große Masse des französischen Volkes wolle den
Frieden, aber sobald das Wörtchen „Revanche" öffentlich ertöne, so
hätte niemand den Mut, sich dagegen zu erheben. Bei seiner letzten
Reise nach Frankreich habe er sich von der Wahrheit dieser Be-
hauptungen überzeugen können, und der, welcher glauben würde,
daß die Wunde von 1870 vernarbt sei, würde sich einer argen Täu-
schung hingeben.
H. VIL P. Reuß
Nr. 1553
Der Botschalter in London Graf von Hatzfeldt an den Reichs-
kanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 112 London, den 27. Februar 1891
Der heutige „Standard" bespricht in einem Leitartikel den Besuch
Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich in Paris und verurteilt auf das
schärfste das Verhalten eines Teiles der französischen Presse bei dieser
Gelegenheit. Bei diesem Besuche habe nichts stattgefunden, was das
französische Nationalgefühl vernünftigerweise hätte in Aufregung
bringen dürfen. Wenn dies dennoch durch die Presse kurz vor Ab-
reise Ihrer Majestät versucht worden, so sei dies lediglich ein Beweis
dafür, daß es mit der französischen Höflichkeit nicht so weit her sei,
als die Franzosen sich dies selbst vorzuspiegeln beliebten. Im übrigen
habe die Kritik der französischen Presse nur dazu beigetragen, die
283
Situation zu klären und der Welt von neuem zu zeigen, daß das fran-
zösische Revanchegefühl nicht verschwunden sei, sondern immer noch
denselben bedenklichen und den Frieden bedrohenden Charakter habe.
In ähnlichem Sinne spricht sich der „Daily Telegraph" aus.
P. Hatzfeldt
Nr. 1554
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 20 Berlin, den 2. März 1891
Der französische Botschafter hat mich heute aufgesucht und mir
im Auftrage seiner Regierung folgende Mitteilung gemacht: Die Re-
gierung der französischen Republik glaube mit gutem Gewissen sagen
zu können, daß sie alles getan habe, um gelegentlich des Besuches
der Kaiserin Friedrich jeden Zwischenfall hintanzuhalten und der hohen
Frau überall eine würdige und respektvolle Aufnahme seitens der Be-
völkerung zu sichern. Wenn in einem Teil der Presse und in Ver-
sammlungen in bedauerlicher Weise verletzende Äußerungen gegen
Deutschland gefallen, so sei es unrecht, die Regierung dafür verant-
wortlich zu machen, da die große Mehrheit der Pariser Bevölkerung
keinen Augenblick aufgehört habe, der hohen Reisenden gegenüber
eine ruhige und würdige Haltung zu bewahren. Die französische Re-
gierung hoffe daher, daß die Beziehungen zwischen „beiden Ländern"
durch die jüngsten Vorgänge nicht würden geändert werden und
zwischen beiden Regierungen das gute Einvernehmen und die Auf-
richtigkeit der Politik wie bisher bestehen bleibe.
Ich dankte dem Herrn Botschafter für seine Mitteilung und be-
merkte ihm folgendes: Wir machten der französischen Regierung wegen
der jüngsten Vorgänge keinen Vorwurf, erkennten vielmehr an, daß
sie „innerhalb der Grenzen ihrer Macht" das Mögliche getan habe,
um das Gastrecht gegenüber der Kaiserin Friedrich zu wahren. In
diesem Sinne sei auch Graf Münster für den Fall instruiert, daß die
Angelegenheit bei ihm amtlich angeregt werde. Hiernach teilte ich die
Erwartung des Herrn Botschafters, daß die jüngsten Zwischenfälle
in den Beziehungen von Regierung zu Regierung eine Änderung nicht
herbeiführen würden. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen „beiden
Ländern" vermöchte ich zu meinem Bedauern nicht dasselbe zu sagen.
Wir hätten von neuem die Erfahrung gemacht, daß in Frankreich das
Revanchegefühl, das heißt der Wunsch, Deutschland mit Krieg zu
überziehen, um ihm Elsaß-Lothringen zu entreißen, so intensiv vor-
handen sei, daß sogar Männer wie Deroulede und Laur, die längst
jede Achtung verloren hätten, imstande seien, durch einen Appell an
284
den Haß gegen uns die große Mehrheit der verständigen Franzosen
teils mit fortzureißen, teils dermaßen einzuschüchtern, daß jeder Versuch
des Widerstands unterbleibe. Diese Tatsache könne nicht aus der
Welt geschafft werden, sie bleibe bestehen und zwinge uns, auf der
Hut zu sein und uns für die Zukunft vorzusehen.
M. Herbette frug mich dann vertraulich, ob die Zeitungsnachricht
wahr sei, daß Graf Münster abberufen werden solle. Ich verneinte
dies*, worauf der Herr Botschafter mir sagte, daß er mich deshalb
hierüber befragt habe, weil er bejahendenfalls entschlossen gewesen
sei, seine Entlassung einzureichen. Ich erklärte darauf Herrn Herbette,
wir erwarteten, daß auch bezüglich seiner Person keine Änderung
beabsichtigt sei, da wir einen derartigen Wechsel als in Widerspruch
mit den heutigen Erklärungen der französischen Regierung stehend
betrachten müßten.
Marschall
Nr. 1555
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 24 Paris, den 3. März 1891
Telegramm Nr, 20** mit vielem Interesse und Dank erhalten. Heil-
same Reaktion bricht hier durch. Öffentliche Meinung macht die
chauvinistischen Aufwiegler für Störung der Beziehungen und Paß-
zwang*** verantwortlich. Habe über Handhabung der Pässe bisher
nur Weisungen aus Straßburg, die viel strenger sind als je vorher,
* Vgl. Nr. 1565.
** Siehe Nr. 1554.
*** Am 28. Februar meldete der „ReichsanzeFger": „Der Reichskanzler hat den
Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen ersucht, bis auf weiteres von jeder
Milderung in der praktischen Handhabung des bestehenden Paßzwanges abzusehen
und bezügHch der den französischen Grenzgemeinden auf Grund der Paßverord-
nung eingeräumten Verkehrserleichterungen keinerlei Erweiterung eintreten zu
lassen." Gleichzeitig wurde durch Verordnung des Kaiserlichen Ministeriums für
Elsaß-Lothringen in Straßburg vom 28. Februar vom 3. März an die strengere
Paßkontrolle für die Reichslande wieder eingeführt gemäß der Verordnung vom
22. Mai 1888. Vgl Bd. VI, Kap. XL: Französisch-deutsche Kriegsgefahr und ihre
Nachwiricungen 1886—1890, Nr. 1284. Daran änderte auch die Deputation nichts,
die der Elsaß-Lothringische Landesausschuß im März nach Berlin sandte; Kaiser
Wilhelm II. selbst erklärte bei dem feierlichen Empfang der Deputation am 14. März,
daß für jetzt die Wünsche auf Aufhebung des Paßzwanges nicht erfüllt werden
könnten; doch hoffe er, daß in nicht allzu ferner Zeit die Verhältnisse es ge-
statten möchten, im Verkehr an der Westgrenze wiederum Erleichterungen ein-
treten zu lassen. Tatsächlich zeigte sich Reichskanzler von Caprivi schon am 22. Mai
geneigt, wieder eine mildere Praxis eintreten zu lassen. Vgl. Denkwürdigkeiten
des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst Bd. II, S. 475 f., 478. Vgl.
jedoch Nr. 1572.
285
was mir nicht ganz unbedenklich und schwer durchführbar erscheint;
dies gilt namentlich von den dringenden Fällen und Durchgangsvisa,
für welche ausnahmslos Anfrage in Straßburg verlangt wird.
Münster
Nr. 1556
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 21 Berlin, den 4. März 1891
Antwort auf Telegramm Nr. 23*.
Die Beschickung der Berliner Ausstellung durch französische
Künstler würde nach den letzten Vorgängen für uns einen Werl
nicht mehr haben. Ich ersuche Sie daher, in dieser Frage fernerhin
sich gänzlich reserviert und, soweit Ihre Vermittelung in Frage kommt,
ablehnend zu verhalten.
Marschall
Nr. 1557
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 22 Berlin, den 4. März 1891
Antwort auf Telegramm Nr. 24**.
Wenn wirklich die zeitweilig strengere Paßkontrolle „nicht un-
bedenklich" sein sollte, so träfe die Verantwortung nicht uns, sondern
diejenigen, welche Deutschland in den Zustand politischer Notwehr
versetzt haben. Die Paßmaßregel, welche nebenbei auch beweist, daß
wir nicht gewillt sind, um jeden Preis den Folgen einer französischen
Aufwallung auszuweichen, wird den vernünftigen und friedlichen Ele-
menten in Frankreich eine Mahnung sein, der Regierung, welche
diesesmal übergerannt wurde, künftig besser den Rücken zu stärken.
Daß die Aufwiegler, wie Ew. melden, für die Störung der Beziehungen
und für den Paßzwang verantwortlich gemacht werden, zeigt schon
einen Anfang richtiger Erkenntnis.
* Im Telegramm Nr. 23 vom 3. März hatte Graf Monster gemeldet, daß nam-
hafte französische Künstler an der Absicht der Beschickung der Berliner Ausstellung
festhielten und versuchen wollten, die französische Beteiligung im stillen zu
reorganisieren.
♦* Siehe Nr. 1555.
286 :
Zu Ew. Information bemerke ich, daß, falls die Regierung der
Republik versuchen sollte, durch Ausweisung unbeteiligter deutscher
Zeitungskorrespondenten den Schwerpunkt der Verantwortung zu ver-
schieben, wir eventuell durch Gegenmaßnahmen antworten werden.
Wir sind es dem empörten deutschen Nationalgefühl schuldig, den
Franzosen in diesem Falle nicht das letzte Wort zu lassen.
Marschall
Nr. 155S
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 46 Paris, den 5. März 1891
Gestern sah ich am Mittwochsempfang Herrn Ribot.
Der Minister sagte mir, der Botschafter Herbette habe über sein
Gespräch mit dem Herrn Staatssekretär von Marschall berichtet, und
bemerkte dabei, daß er sehr dankbar sei, daß die Kaiserliche Re-
gierung die Vorgänge beim Besuche Ihrer Majestät der Kaiserin Fried-
rich auf eine so gerechte und für die französische Regierung rück-
sichtsvolle Weise aufgefaßt habe. Er hoffe und rechne darauf, daß
unsere internationalen Beziehungen dadurch nicht affiziert und gestört
werden könnten i.
Er sprach wiederholt sein Bedauern über die Haltung der Presse
und der Künstler, die sich haben terrorisieren lassen, aus. Namentlich
tadelte er in den schärfsten Worten das Benehmen des Malers Detaille,
der erst der wärmste Anhänger der Berliner Ausstellung gewesen und
dann, durch Drohungen erschreckt, eine so elende Rolle gespielt habe.
Bei alledem müsse ich aber doch anerkennen, daß Ihre Majestät
überall mit dem größten Respekt von selten der Bevölkerung und
Regierung behandelt worden sei, was auch Ihre Majestät selbst sehr
anerkannt habe^.
Ich erwiderte darauf, das sei bis auf die unerhörte Haltung der
Presse und die Chauvinisten^ richtig. Hier sei man leider schon
gegen die Injurien der Presse abgestumpft, bei uns sei das Gott sei
Dank noch nicht der Fall.
Ich erinnerte Herrn Ribot daran, daß ich, sowie ich am Sonnabend
abend erfahren hätte, daß Ihre Majestät die Kaiserin Friedrich am
Mittwoch herkommen wolle, gleich Sonntag morgen zu ihm gekommen
und nachher den Ministerpräsidenten Freycinet aufgesucht, ihnen beiden
die Absicht Ihrer Majestät mitgeteilt habe und sie mir die bestimmte
Versicherung gegeben hätten, daß Ihre Majestät auf die beste Auf-
nahme werde rechnen können, und daß dieser Besuch hier sehr will-
kommen sei. Ich hätte also gar nichts anders annehmen können und
287
hätte glauben müssen, daß die beiden Minister die öffentliche Stim-
mung wirklich kennten*.
Herr Ribot erwiderte mit sichtlicher Verlegenheit, was ich sage,
sei eigentlich ganz richtig, es würde aber alles auch sehr gut ver-
laufen und sogar äußerst nützlich gewesen sein, wenn der Besuch
nicht etwas sehr ausgedehnt worden wäre. Das hätte der Minister
mir aber nicht, und selbst ich Ihrer Majestät als Wirt im Hause nicht
sagen können.
Gefährlicher und unangenehmer sei die Sache erst durch den
Artikel der „Kölnischen Zeitung" geworden, weil dieser noch während
der Anwesenheit Ihrer Majestät erschienen sei.
Aber auch da habe die Regierung ihre Pflicht getan, und die Be-
völkerung gezeigt, daß sie sich nicht aufregen lasse, was ja auch
richtig ist.
Am Schlüsse sagte er mir nochmals, er bedauere die Vorfälle,
auch werde ich mich davon überzeugen, daß dieses Bedauern von
allen rechtlichen Menschen in Paris geteilt werde ^ und in der Presse
ein ganz anderer Ton beginne. Er sei deshalb überzeugt und hoffe,
daß unsere Beziehungen durchaus nicht darunter leiden würden.
Über die Verschärfung der Paßvorschriften haben weder der Mi-
nister noch viele andere offizielle Persönlichkeiten, die ich bei einem
großen diplomatischen Diner beim Präsidenten des Senates, Herrn
Royer, sah, kein Wort gesprochen, obgleich diese Maßregel hier viel
Aufsehen gemacht und sehr abschreckend und abkühlend gewirkt hat.
Der Präsident Royer und viele anwesende Senatoren, namentlich
die Herren Jules Ferry und J. Simon sprachen ihr Bedauern über
die letzten Vorfälle aus und tadelten nicht allein die Haltung der Presse
und der Künstler, sondern auch in sehr offener Weise die Schwäche
der hiesigen Regierung, die sie selbst sehr streng verurteilten und ver-
antwortlich machten.
Die beiden Generale Billot und Davoust (Herzog von Auerstedt),
die als Senatoren anwesend waren, sprachen in sehr militärischen,
kräftigen Ausdrücken ihren Tadel aus und schonten dabei ihren Kriegs-
minister nicht, von dem sie sagten, daß es ganz unwürdig sei, daß
er als Ministerpräsident und namentlich als Kriegsminister mit einem
Manne wie Deroulede bei einer solchen Gelegenheit sich in Ver-
handlungen eingelassen habe^.
Dasselbe tut auch, wo ich ihn sehe, General Gallifet und alle
Offiziere, denen ich zufällig begegne.
Auch die Art, wie sie den Rittmeister von Funcke* bei seinen
Besuchen aufgenommen haben, zeigt ein sehr richtiges, anständiges
Gefühl.
Trotzalledem bleibt die Tatsache bestehen, daß die Regierung
• Militärattache bei der Pariser Botschaft.
288
schwächer ist, als sie schien, und daß elende Aufwiegler und kleine
Minoritäten viel Unheil anrichten können.
Die jetzige Reaktion zeigt aber — und das ist eine gute Seite
der Sache — , daß die Majorität des französischen Volkes das selbst zu
fühlen beginnt und die Aufwiegler wie Deroulede und Konsorten"^
erkannt sind und hoffenthch sehr an Einfluß hier und im Elsaß ver-
lieren werden.
Die Boulangisten haben gehofft, dabei wieder an Einfluß zu ge-
winnen, haben aber nicht ihre Rechnung dabei gefunden und sich
mehr geschadet als genutzt.
Wenn ich gleich anfangs andeutete, daß der russische Rubel
auf Reisen den Anstoß zu dieser elenden Preßkampagne gegeben
habe, so wird mir diese Ansicht von den verschiedensten Seiten be-
stätigt. Fühlen läßt sich das, nicht beweisen, weil diese Rubel streng
inkognito reisen*, pp. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
i Oho!
* unglaublich! was ist da anzuerkennen, das sollte sich doch in der Grande Nation
von selbst verstehn!
3 Freycinisten!
* aber Freycinet nicht
^ die aber nie die Energie haben so etwas zu verhindern
ß also direkt eingestanden daß man Beziehungen gehabt! Ei! Ei!
' und Freycinet
Nr. 1559
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Entzifferung
Nr. 64 Paris, den 23. iUärz 1891
Herr von Freycinet sagte mir, daß die Gerüchte über die Ab-
berufung Herbettes völlig unbegründet seien i, die Regierung habe die-
selbe niemals in Erwägung gezogen, und den Angriffen gegen Herbette
habe sie gar keine Beachtung geschenkt. Die Regierung lege auf die
guten Beziehungen mit Deutschland den größten Wert und wisse, daß
Herbette bei uns persona grata sei. Bei dieser Gelegenheit sprach
der Minister in den stärksten Ausdrücken seine Mißbilligung aus über
die Haltung der Presse während des Aufenthalts der Kaiserin Fried-
richs, Die Maler, die sich durch die Patriotenliga haben einschüchtern
lassen, hätten selbst den wohlverdienten Schaden. Zu seiner Freude
habe aber die Pariser Bevölkerung selbst dieses Vorgehen mißbilligt,
und sei doch überall Ihrer Majestät der ihr gebührende Respekt bewiesen.
* Vgl. den charakteristischen Bericht des Militärbevollmächtigten in Petersburg
General von Villaume vom 5. März 1891 über den Widerhall der Pariser Vorgänge
beim Besuch der Kaiserin Friedrich in der russischen Presse. Kap. XLVII, Nr. 1493.
19 Die Große Politik. 7. Bd. 289
Die Regierung wolle jetzt energisch die Patriotenliga, die, ob-
gleich schon früher verboten, im geheimen noch zu bestehen scheine^
beseitigen und ihre Auflösung mit allen ihr zu Gebote stehenden
Mitteln durchsetzen. Dem Unfug, der mit dem Verkauf von Karikaturen
getrieben werde, solle gesteuert werden, und bereite die Regierung
eine Gesetzesvorlage zu dem Zweck vor 3. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Das glaube ich nicht
2 im Privatgespräch aber warum nicht offen in seiner Presse!
3 moutardc apres dinerl
Nr. 1560
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Holstein
Eigenhändig
Berlin, den 30. März 1891
Angesichts der fortschreitenden russischen Rüstungen scheint es
angezeigt, den Generalstab um Auskunft über die für den Herbst in
Aussicht genommenen französischen Manöver an der Ostgrenze
zu ersuchen.
Die zweite Frage, ob die zur Verwendung kommenden Streit-
kräfte Vorsichtsmaßregeln von unsrer Seite nötig machen, könnte
entweder gleich oder nach erfolgter Beantwortung der ersten Frage
dem Generalstabe gestellt werden. Die Gegenmaßnahmen würden un-
zweifelhaft eine Erhöhung der Kriegsgefahr in sich schließen. Es
bleibt daher, falls dieselben als unvermeidlich erkannt werden sollten,
zu erwägen, ob man nicht die französische Regierung von dieser Even-
tualität in Kenntnis setzt, solange sie es vielleicht noch in der Hand
hat, den Manövern ihren bedrohlichen Charakter zu nehmen. Andrer-
seits würden wir, wenn Frankreich auf unsre Warnung ausweichend
oder mit non possumus antwortet, in der Lage sein, uns ein Urteil
darüber zu bilden, ob die französische Regierung es auf den Krieg
ankommen lassen will. Holstein
Nr. 1561
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 71 Berlin, den 31. März 1891
Die Zeitungen haben in neuerer Zeit wiederholt gemeldet, daß in
Frankreich Probemobilmachungen in größerem Maßstabe beabsichtigt
werden.
290
Ew. wollen den Herrn Militärattache ersuchen, über das, was er
bezüglich solcher Absichten, namentlich betreffs Mobilmachungen in
den östlichen Departements in Erfahrung bringt, zu berichten; des-
gleichen über die ungefähre Truppenzahl, welche für die diesjährigen
Manöver in der Nähe der Ostgrenze zusammengezogen werden sollen.
Marschall
Nr. 1562
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 35 Paris, den 4. April 18Q1
Antwort auf Erlaß Nr. 71 *.
Nach von Rittmeister von Funcke an maßgebender Stelle ein-
gezogenen zuverlässigen Nachrichten, die mir auch von anderer Seite
bestätigt wurden, sind Gerüchte über in Frankreich beabsichtigte Probe-
mobilmachungen im größeren Maßstabe gänzlich unbegründet. Bericht
des Rittmeisters von Funcke folgt anfangs der Woche durch Feldjäger.
Münster
Nr. 1563
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Csprivi
Ausfertigung
Nr. 71 Paris, den 6. April 18Q1
Ich habe die Ehre, einliegend den Bericht** des Rittmeisters
von Funcke über die Gerüchte beabsichtigter partieller Mobilisations-
versuche gehorsamst zu übersenden.
Ich hatte Gelegenheit, mit dem Kriegsminister von Freycinet dar-
über zu sprechen.
Der Minister sagte, die Presse übertreibe die Bedeutung militäri-
scher Maßregeln teils aus Unkenntnis, noch öfters aber aus bösem
Willen, und es schiene jetzt vielfach, als sei die Presse bemüht, in
einer solchen Maßregel aggressive Tendenzen und die Vorbereitungen
zu einem bald zu erwartenden Kriege zu erblicken.
Er habe mir schon öfters gesagt, daß er allerdings es für seine
Pflicht halte, die französische Armee möglichst stark und kriegsbereit
zu machen. Er freue sich aber, wiederholt versichern zu können i,
daß dieses in der friedlichsten Absicht geschehe. Er gestehe zu, daß
* Siehe Nr. 1561.
** Nicht bei den Akten.
19« 291
darin ein gewisser Widerspruch zu liegen scheine, und dennoch sei
es wirklich der Fall. Je mehr Frankreich sich stark fühle, je ruhiger
werde die Nation.
Die Unruhe, die sich nach dem Kriege oft gezeigt habe, die
chauvinistische Agitation 2 sei vor allem dadurch entstanden und genährt
worden, daß das Vertrauen zu der Armee ein zu geringes war, daß
die französische Nation das Gefühl gehabt habe, sie könne sich gegen
Angriffe von außen nicht wehren und habe eine isolierte, der Größe
und wirklichen Kraft der Nation unwürdige Stellung.
Jetzt, wo die Überzeugung sich überall mehr Bahn breche, daß
Frankreich eine wirklich imposante, in jeder Hinsicht kriegstüchtige
Armee besitzt, beruhige sich das französische Volk 3, welches immer
friedfertiger werde und entschieden den Krieg nicht wolle.
Was die in der letzten Zeit öfters besprochenen partiellen Mobil-
machungen betreffe, so sei schon von vornherein der Ausdruck falsch.
Es seien nicht, wie die Zeitungen es nannten, „des mobilisations par-
tielles", sondern „des alertes". Es seien Alarmierungen, wie sie Seine
Majestät unser Kaiser öfters befehle.
Die Korpsgenerale müßten sich von dem Zustande und der Kriegs-
bereitschaft ihrer Korps überzeugen, und es sei ihnen überlassen, solche
„alertes" zu befehlen, wenn sie es für notwendig hielten.
Mobilmachung sei ganz etwas anderes. Es könne keine Kompagnie
mobil gemacht werden, ohne ein Spezialgesetz, ohne Einwilligung der
Kammern*.
Um die größeren Mobilmachungsversuche des Generals Feron zu
ermöglichen, habe es eines besonderen Gesetzes und einer besonderen
Bewilligung der Kammern bedurft.
Jetzt sei aber keine Mobilmachung beabsichtigt; auch rückten
die Truppen zum Manöver in der Friedensstärke aus: es würden nur
wenige Reservisten dazu eingezogen, und von Beteiligung der Armee
territoriale sei keine Rede. Die Truppen hätten keine scharfe Munition
bei sich, sollten auch beim Gebrauche des rauchlosen Pulvers sehr
sparsam sein, weil dieses die Gewehre und namentlich die Geschütze,
wenn sie nicht scharf geladen seien, sehr angreife 5.
Die Manöver erschienen dieses Jahr um deshalb bedeutender und
großartiger, weil die Korps nicht einzeln, sondern im Zusammenhange
erst von zwei und dann von vier Korps manövrieren sollten, was den
Zweck habe, die Generale an die Handhabung von größeren Truppen-
massen zu gewöhnen.
Ein Grund zur Beruhigung liege also weder in den ,, alertes"
noch in den beabsichtigten Manövern, und es sei ihm sehr erwünscht
gewesen, so offen sich mir gegenüber haben aussprechen zu können 6.
Dabei bemerkte der Minister, er habe sich gefreut, die Bekannt-
schaft des Rittmeisters von Funcke zu machen, und er bitte mich,
292
ihm zu sagen, daß er und die Offiziere seines Kriegsministeriums
stets gern bereit sein würden, ihn zu empfangen und ihm jede Aus-
kunft zu geben, die er nur wünschen könne''.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Dann ist es bestimmt gelogen
" sie ist jetzt ins Volk übergegangen
3 das hat es ja eben gezeigt!!!
* die kann man nachher einholen und wird in Frankreich der Einwilligung sicher
sein
^ Unsinn!!
''' die alte Freycinetsche Phrase! wer so dumm ist auf die hineinzufallen
'' Phrase!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Die ganze Geschichte ist nur hohles Phrasengedresch ohne ernsten Hintergrund.
Nr. 1564
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 96 Paris, den 4. Mai 1891
Die poHtische Situation sieht von hier aus gesehen ruhig aus
und läßt für diesen Sommer keine ernsteren KompHkationen erwarten i.
Präsident Carnot will gern ruhig im Elysee leben, Madame Carnot be-
trachtet sich als eine Art Königin. Die Minister wollen nicht gern
anderen ihre Stellung überlassen, und so wird alles vermieden, was
im In- oder Auslande zu Krisen führen könnte.
Mit Rußland wird nach wie vor geliebäugelt, die Liebe wird aber
hoffentlich noch lange platonisch bleiben.
Mit Italien wünscht man jetzt auch hier auf besseren Fuß 2 zu
kommen, und was uns betrifft, so zeigt sich überall das Bestreben,
die unangenehmen Eindrücke des Besuches Ihrer Majestät der Kaiserin
Friedrich zu verwischen, namentlich zeigt das Herr von Freycinet bei
jeder Gelegenheit.
Daß Herrn von Freycinet nicht zu trauen ist, weiß ich sehr wohl,
ich weiß aber auch, daß er vor allem an sich und seine eigene Stel-
lung denkt und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, sein Leben
als Präsident der Republik zu beschließen. Er hat es sich zur Auf-
gabe gestellt, die französische Armee so stark und kriegstüchtig als
möglich zu machen, damit die Nation sich stark fühle. Daß ihn das
293
populär macht, hat schon seine Wahl zum Senator in Paris gezeigt.
Weiter, bis zum Kriege will er es entschieden nicht treiben 3, denn er
weiß sehr wohl, welch gefährliches Spiel der Krieg ist, daß ein sieg-
reicher General ihn rasch beseitigen und jeder Mißerfolg auf seine
Rechnung kommen würde.
Was die politischen Parteien betrifft, so sucht er es mit den Ra-
dikalen nicht zu verderben und, soviel er kann, die Republikaner zu-
sammenzuhalten. Es wird ihm das dadurch erleichtert, daß die Bou-
langisten und Chauvinisten sich mit den Radikalen, die keinen Krieg
wollen, und das ist die Mehrheit derselben, entzweit haben.
Deshalb hat es die Regierung auch gewagt, gegen die Ligue des
Patriotes vorzugehen, und wird die Untersuchung gegen dieselbe weiter-
geführt.
An eine Ministerkrisis, von der noch ab und zu die Rede ist,
glaube ich vorderhand nicht. Präsident Carnot tut, was er kann,
um die Minister untereinander zusammenzuhalten und Zwistigkeiten,
die häufig entstanden sind, auszugleichen.
Zwischen den Herrn Constans und Bourgeois, dem Kultusminister,
war das Verhältnis ein so schlechtes, daß allgemein angenommen wurde,
der eine werde dem andern weichen müssen. Herr Bourgeois hat aber
vor einigen Tagen ein ministerielles Versöhnungsfrühstück gegeben,
bei dem auch gegen Erwarten Herr Constans erschien.
Was das Verhältnis der hiesigen Regierung zu uns betrifft, so
muß ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß Rittmeister von Funcke
sowohl bei dem Kriegsminister als bei allen Offizieren, mit denen
er zusammen kam, die allerbeste und zuvorkommendste Aufnahme
gefunden hat.
Herr von Funcke hatte einem Offizier des Kriegsministeriums
gegenüber den Wunsch zu erkennen gegeben, die Reitschule in Saumur
besuchen zu dürfen. Es ist ihm seitens des Kriegsministers die offizielle
Erlaubnis erteilt, und ist von hiesigen Offizieren an Kameraden in
Saumur geschrieben worden, daß sie den Rittmeister von Funcke gut
empfangen und ihm Wohnung verschaffen möchten*. Herr von Funcke
wird nächstens von dieser Erlaubnis Gebrauch machen.
Den hiesigen Militärklub hatten die deutschen Militärattaches nicht
benutzt. Sie haben eine Einladung erhalten. Der Vizepräsident des
Klubs General Rothweiler hat ihnen selbst den Klub gezeigt und hat,
was eine besondere Artigkeit ist, ihnen gestattet, Gäste mitzubringen.
Herr von Freycinet sagte mir, gleich nachdem Rittmeister von
Funcke ihm vorgestellt war, daß derselbe, wenn er irgendwie Wünsche
"habe, direkt zu ihm kommen möge^ Bei Gelegenheit von kürzlich
erfolgten Torpedoversuchen, die eine Privatgesellschaft auf einer Werft
von Hävre vornahm, bei denen unsere Militärattaches keine Einladungen
erhielten, hat auf meinen Rat Herr von Funcke von dieser Erlaubnis
2Q4
Gebrauch gemacht, und aus dem beiliegenden Militärberichte werden
Euere Exzellenz ersehen, welche richtige Stellung Herr von Freycinet
dazu genommen hat. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
* ! Ich danke Optimismus in optima forma! Hat wahrscheinlich Freycinet ihm
gesagt.
* siehe casus Rothschild!*
* hat er wohl wieder gesagt
* und das soll das Verhältniß der Regierungen zueinander charakterisiren Naiv!
* kindlich.
Nr. 1565
Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Darmstadt, an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Darmstadt, den 9. Mai 1S91
Im Lauf eines Gesprächs mit dem Großherzog von Baden brachte
ich auch die vertrauliche Nachricht vor, weiche Euere Exzellenz mir
vor zwei Tagen zukommen ließen, betreffend den Bestechungsversuch
des Hauses Rothschild-Paris bei dem Ministerpräsidenten Rudini**. Der
Großherzog bemerkte darauf, daß wohl die Angelegenheit eine tiefer-
gehende Bedeutung habe. Sie bestätigte ja außerdem seine Ansicht,
welche er sich in der letzten Zeit gebildet habe, daß nämlich Frank-
reich auch seinerseits jetzt nicht mehr scheuen werde, zu einem ihm
geeigneten Zeitpunkt selbst die Offensive zu ergreifen. Aus dem Ge-
spräch mit meinem Ohm entnehme ich, daß er im allgemeinen meine
Ansichten über den Ernst der europäischen Situation vollkommen teilt.
Der letzte an Naivität und kindlichem Vertrauen alles übersteigende
Bericht Münsters aus Paris verbrämt mit Funckes Auslassungen hat
mich endgültig davon überzeugt, daß er nicht mehr am Platz; er gleicht
fast wörtlich dem Bericht Herrn Huebeners vor dem Neujahrsempfang
bei Napoleon 1859. Um ganz sicher zu gehen, habe ich Major von
Huene*** zitiert und ihn über die Situation ausgefragt. Er zeigte sich
ebensogut orientiert wie bisher und wußte entschieden viel mehr als
die ganze augenblickliche Botschaft zusammengenommen. Er hätte
seinerseits soviel gravierende Nachrichten aus seinen absolut zuver-
lässigen Quellen aus Paris erhalten, daß er im Begriff war, mir einen
Bericht darüber zu erstatten. Der Gesamteindruck, den er hatte, läßt
* Siehe Kap. XLV, Nr. 1418. Vgl. auch die ebendort geschilderten Bemühungen
Frankreichs, Italien vom Dreibund abzusprengen, die ein helles Licht auf Frank-
reichs innere Gesinnung gegen Deutschland werfen.
** Siehe Kap. XLV, Nr. 1418.
*** Bisher Militärattache in P^ris, jetzt Generalstabsoffizier der 29. Division in
Freiburg.
295
sich dahin zusammenfassen, daß es nicht unwahrscheinUch sei, daß
die Franzosen in diesem Sommer die Initiative ergreifen würden; alles,
was er erfahren habe, trifft zu seinem größten Schmerz genau so ein,
wie er es vorausgesagt habe, und reihe sich Quittung an Quittung!
für seine Beobachtungen. Ich teilte ihm darauf die uns aus Rußland
vor vier Wochen zugegangene Warnung des bewußten Privatmanns
vor einem Überfall der Russen über die Österreicher Ende dieses
Sommers* mit, welche ein nicht uninteressantes Gegenstück zu seinen
französischen Nachrichten bot. Major von Huene ist ebenso wie
ich der Ansicht, daß geeignetenfalls die Franzosen nicht auf die Russen
warten werden bei ihrem augenblicklichen ins Unendliche gesteigerten
Selbstgefühl. Ja, es liege sogar der Schluß nahe, daß zwischen den
beiden Ländern Verständigungen dahin zielten, die Franzosen sollten
durch ihren Angriff die Hauptkräfte Deutschlands auf sich ziehen,
während Rußland — da seine Mobilmachung und Aufmarsch so gut
wie fertig seien — für den Augenblick stillsitzen würde, in der Hoff-
nung, dadurch Deutschland zu veranlassen, die meisten Kräfte nach
Westen zu engagieren. Dann werde Rußland über das seiner Hoff-
nung nach ungenügend unterstützte Österreich mit Aussicht auf Er-
folg herfallen. Fürst Hohenlohe, den ich heute morgen sprach, sieht
die Situation im Westen ebenso ernst an und bemerkte, wenn Freycinet
sich diesen Sommer halte, wäre es sehr gefährlich. Hieraus geht
hervor, daß alle oben angeführten Herren übereinstimmend der An-
sicht sind, daß in Frankreich die Möglichkeit der Offensive, auch allein,
bedeutend vorgerückt sei. Ich bitte daher, daß Euere Exzellenz unserer
neulichen Verabredung gemäß dem Grafen zu Münster die Eröffnung
machen, daß auf seine Botschafterdienste nicht mehr gerechnet werde,
und den Grafen von Wedel** dazu berufen. Ebenso bitte ich, die
Schiebung Schwarzhoff-Süßkind mit dem Militärkabinett vornehmen zu
wollen.
Wilhelm I. R.
Nr. 1566
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
Raschdau
Eigenhändig
Berlin, den 10. Mai 1891
1. Die Möglichkeit, daß Frankreich uns bei erster Gelegenheit mit
Krieg überzieht, ist an sich, und soweit man Rußlands dort sicher ist,
* Vgl. Kap. XLVn, Nr. 1496.
** General und Generaladjutant Graf von Wedel, früher Militärattache in Wien.
296
insofern eine wachsende, als mit den zunehmenden Rüstungen im
Osten und Westen das Selbstvertrauen wächst. Dieser Zustand be-
steht aber seit Jahren. Außergewöhnliches in dieser Entwicklung ist
hier im Amte in letzter Zeit nicht bekannt geworden.
2. Liegen aber tatsächhch (hier zurzeit nicht bekannte) Zeichen vor,
daß Frankreich uns mit einem plötzlichen Überfall in nächster Zeit
bedroht, so könnte uns dies nur zu höchster Wachsamkeit und tun-
lichster Bereitstellung auffordern. Den Spieß umdrehen, dem Feinde
zuvorzukommen durch plötzlichen Angriff oder Verhalten, das provo-
zieren würde, etwa gleich Friedrich II. im Jahre 1756, scheint heute,
seitdem man seit Jahren die Kriegsabsichten kennt, mit Rücksicht auf
die europäische Gesamtkonstellation vom politischen Gesichtspunkte
ausgeschlossen. Wir müssen für den nächsten Krieg damit rechnen,
wie sich die öffentliche Meinung dazu stellt, bei uns wie im Auslande.
Dort wie hier würde man es nicht verstehen, warum man jetzt plötz-
lich (ohne bestimmte offenkundige Beweise) den Frieden für so faul
hält, daß man den Krieg vorzieht. Die Haltung Englands könnte mög-
licherweise durch eine unser Verhalten verurteilende öffentliche Mei-
nung zu unseren Ungunsten bestimmt werden, und die Wirkung einer
solchen Apathie (um nicht zu sagen Antipathie) auf Italien ist nicht
zu unterschätzen. Müssen wir es aber vermeiden, ohne evidenten Anlaß
den Angreifer zu spielen (worüber man in Deutschland ziemlich all-
gemein einig ist), so müssen wir auch das vermeiden, was dem Gegner
einen ihn nach außen rechtfertigenden Anlaß zum Friedensbruch geben
könnte.
3. Die Ernennung eines deutschen Generals zum Botschafter ist
an sich nichts Ungewöhnliches. In Paris ist es seit langer Zeit nicht
vorgekommen, und die Erwägung, die Behandlung zahlreicher delikater
Dinge nicht in die Hände eines Vertreters der siegreichen Armee zu
legen, hat dabei ohne Zweifel mitgewirkt. (Wir haben sogar bei Be-
setzung von Konsulaten in Frankreich den Umstand, daß ein Kandidat
bisher den Offizierstitel führte, als mißlich befunden.) Spitzen sich
unter einem Militär als Botschafter die Verhältnisse zu, so wird man
den schärferen Ton in einer uns unerwünschten Weise interpretieren,
ja man wird die bloße Ernennung überall als ein Zeichen deuten
wollen, daß wir mit Frankreich ernster zu reden beabsichtigen. Man
wird sagen „wir haben angefangen", und das ist eben zu vermeiden.
4. Bisher hat man in Paris behauptet, daß man Herbette nur,
wenn er es selbst wünsche, zurückberufen werde. Wir haben unter
der Hand mit dem Wechsel Münsters gedroht. Ohne bestimmte Gründe,
anders zu handeln, wäre es nicht zu empfehlen, nunmehr unsererseits
den ersten Anstoß zu geben.
5. Sollte die Stimmung in Frankreich die gewöhnlich uns gegen-
über herrschende, der augenblicldiche Pessimismus also nicht begründet
297
sein, dann wäre es unter den jetzt obwaltenden Verhältnissen doppelt
bedenklich, auf unserer Seite Mißmut zu zeigen. Die Ablehnung der
russischen Anleihe von 500 Millionen Franks durch den französischen
Markt* ist geeignet, in Rußland böse Stimmung zu machen. Es ist in
der langen glänzenden Wyschnegradskischen Finanzleitung der erste
Unfall. Die Operation unterbleibt, nachdem der Zar seinen Namen
unter das betreffende Dekret gesetzt. Daß der Fall ohne Wirkung auf
das gegenseitige Verhältnis zwischen Rußland und Frankreich bleiben
sollte, ist kaum glaublich. Jedenfalls sollten wir, die wir allen Grund
haben, der tertius gaudens zu sein, uns in dieser Minute vor einem
Eingreifen hüten, das die Schmollenden sofort zusammenführen würde**.
Raschdau
* Der Rücktritt des Bankhauses Rothschild von dem bereits perfekten Kontrakt,
der im Hinblick auf die Übersättigung des französischen Markts mit russischen
Anleihen auch von dem französischen Finanzminister Rouvier gebilligt sein soll
(Aufzeichnung Holsteins vom H. Mai 1891), erfolgte bekanntlich wegen der russi-
schen Judenverfolgungen.
** Auch von Holstein liegt eine längere Aufzeichnung vom 11. Mai vor, in der
er, ähnlich wie Raschdau, aus dem Verhalten der französischen Regierung in der
Anleihefragc den Schluß zieht, daß „die französische Regierung in naher Zeit
nicht in die Lage zu kommen glaubt, Rußlands zu bedürfen", und folglich einen
nahen Krieg nicht wolle. Gleich Raschdau rät Holstein, von der vom Kaiser an-
geregten Abberufung Münsters von seinem Pariser Posten unter allen Umständen
Abstand zu nehmen: „Angenommen die vorstehende Ausführung ruhte auf un-
richtigen Grundlagen, und wir hätten wirklich Anlaß, uns auf einen nahen Krieg
noch mehr vorzubereiten, als wir es ohnehin schon getan haben — so wäre eine
Veränderung im Botschaftspersonal, namentlich in der Person des Botschafters
dann erst recht zu vermeiden, weil sie keinen wesentlichen Nutzen, dafür aber
einen wesentlichen Nachteil haben würde. Keinen Nutzen, denn ein neuer
Botschafter braucht Zeit, um sich zu orientieren über die Eigenart und über das
relative Gewicht der Dinge und der Menschen, mit denen er in Berührung kommt.
Wesentlichen Nachteil, weil ein General aus der Umgebung Seiner Majestät
des Kaisers Wilhelm II. allgemein im In- und Auslande als ein Werkzeug für die
Verwirklichung kriegerischer Plane angesehen werden würde. Dieses Ergebnis
wäre gleichbedeutend mit einer politischen Niederlage, da es lähmend auf die
Sympathie und Unterstützung wirken würde, ohne welche die Gefahren eines
Krieges sich wesentlich steigern. Die Aussicht auf englische Mitwirkung z. B. wäre
verloren in dem Augenblick, wo sich Anhaltspunkte für den Verdacht anführen
lassen, daß wir den Kriegsausbruch diplomatisch gefördert haben.
Wenn der Major von Huene nicht nur allgemeine Redensarten vorgebracht
und alte Angaben aufgewärmt, sondern neue Angaben positiver Natur gemacht
hat über Vorbereitungen kriegerischer Aktion, so müssen diese Angaben auf ihren
Wert geprüft werden. Das kann aber weder ein neuer Botschafter noch ein neuer
Militärattache. Das kann nur der Generahtab durch ein gut organisiertes, von
einer geeigneten Persönlichkeit geleitetes Nachrichtenwesen. Es dürfte sich emp-
fehlen, daß der Herr Reichskanzler bei dieser Gelegenheit eingehend prüft — da
auf ihm doch die Verantwortung für das Ganze ruht — , ob bei dem Nachrichten-
bureau die Vorbedingungen zweckentsprechender Wirksamkeit vorhanden sind."
298
Nr. 1567
Der Major im Oeneralstabe der 29. Division in Freiburg Freiherr
von lioioingen genannt Huene an das Auswärtige Amt
Eigenhändig
Bericht über einige aus Frankreich erhaltene Nachrichten*
Freiburg in Baden, den 15. Mai 1891
1. Ein mit dem französischen Kriegsministerium bzw. mit den
technischen französischen Artilleriebehörden seit Jahren in Geschäfts-
beziehung stehender nordamerikanischer Großindustrieller und ein mir
seit längerer Zeit bekannter nordamerikanischer Offizier, welcher in
Frankreich und speziell in der französischen Marine vielfache Beziehun-
gen hat, äußerten mir gegenüber kürzlich gesprächsweise, wie in den
Kreisen der französischen Armee- und Marineleitung in letzter Zeit
wieder mehr wie in den letzten Jahren von der Möglichkeit bzw. auch
Wahrscheinlichkeit eines baldigen Krieges mit Deutschland gesprochen
werde.
Auf meine Bemerkung, ich hätte in Frankreich vielfach beobachtet,
wie derartige Redereien ohne speziellen Untergrund periodisch wieder-
zukehren pflegten und dann wieder verschwänden, äußerten genannte
Herrn, diese Erfahrung sei ihnen ebenfalls nicht fremd; die gegen-
wärtigen Redereien schienen ihnen jedoch deshalb beachtenswert, weil
bei denselben nicht mehr, wie bisher stets der Fall, „l'annee prochaine"
d.h. ein allgemeiner Termin als Zeitpunkt des Krieges genannt
werde, sondern weil die Äußerungen mit Bestimmtheit auf „den
Herbst" lauteten, auch auf „die Zeit der großen Manöver".
Erstgenannte Beobachtung, das Bezeichnen eines allgemeinen,
nie eines bestimmten Termins, ist nach meiner Erfahrung zu-
treffend.
Es dürfte die Nennung „des Herbst" um so auffallender sein, als
es im Interesse der französischen Heeresleitung liegen muß, — wenn
dieselbe in der Lage ist, sich einen Zeitpunkt zum Kriege wählen zu
können — mit Rücksicht auf die Weiterausnutzung des Wehrgesetzes
vom Jahr 1889 wie aus allgemeinen militärischen Gründen eher
das nächste Frühjahr wie den kommenden Herbst als Termin zu
wählen.
Der zu Anfang bezeichnete amerikanische Offizier, welcher mir
als ein guter Beobachter bekannt ist, sagte außerdem, die betreffenden
während eines kürzlich beendigten längeren Aufenthalts in Frankreich
* Der Bericht erfolgte auf Grund eines kaiserlichen Befehls vom 12. Mai, daß
Major von Huene dasjenige, was über Frankreich bei der letzten Anwesenheit
Seiner Majestät in Karlsruhe von gedachtem Offizier mündlich geäußert worden
sei, schriftlich unter Angabe der Quellen, auf denen seine Angaben beruhen, dar-
legen solle (Reichskanzler von Caprivi an den Chef des Militärkabinetts General-
leutnant von Hahnke, 12. Mai 1891).
299
gehörten Äußerungen hätten ihm den Eindruck erweckt, als ob den-
selben eine zum Herbst von Rußland aus zu erwartende Maßnahme ^
zugrunde liege, welche zum Kriege führen würde, bzw. daß Frankreich
durch irgendeine von Rußland ausgehende Maßnahme Gelegenheit
finden würde, zu Felde zu ziehen.
Die amerikanischen Herrn fügten hinzu, Äußerungen, welche
diesen Gedanken variierten, seien ihnen in letzter Zeit so vielfach ent-
gegengetreten, daß sie den Eindruck hätten, es müsse denselben min-
destens ein bestimmtes Gerücht zugrunde liegen.
2. Ein mir seit etwa zehn Jahren bekannter höherer italienischer
Offizier, welcher sich mehrere Jahre in Paris in dienstlicher Stellung
befand und die daselbst vielfach auftauchenden Sensationsgerüchte
je nach ihrem Untergrund zu sondieren versteht, will aus Kreisen der
Pariser haute finance, mit welcher er verwandtschaftliche Beziehungen
hat, Nachrichten über ähnliche Gerüchte betreffend einen eventuellen
Krieg zum Herbst haben. Derselbe sagte gesprächsweise, in genannten
Kreisen werde in letzter Zeit geäußert, die französische Regierung
verspreche sich für einen Krieg im Herbst von den für genannte
Zeit angesetzten großen Truppenzusammenziehungen gewisse Vorteile,
bzw. würden letztere zu einer eventuellen bezüglichen Ausnutzung
veranlagt.
Worauf diese Gerüchte zurückzuführen seien, habe er nicht zu
ergründen vermocht, die Art des Auftretens derselben scheine ihm
jedoch bemerkenswert.
Freiherrvon Hoiningen
gt. H u e n e
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Stimmt mit der gestrigen Meldung von Yorck, daß Russen im Herbst größere
Truppenverschiebungen vornehmen werden. W.
Nr. 1568
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 122 Paris, den 27. Mai 1891
Geheim
Euerer Exzellenz bin ich sehr dankbar für die Übersendung des
Berichts des Freiherrn von Huene*, die Aufforderung mich zu äußern,
und beehre mich folgendes auf den hohen Erlaß vom 23. d. Mts. Nr. 111
zu erwidern.
• Siehe Nr. 1567.
300
Als ich von den Alarmnachrichten, die nicht allein an allerhöchster
Stelle, sondern auch sonst durch diesen Offizier verbreitet wurden,
hörte, glaubte ich, daß dieselben auf einigermaßen zuverlässige Quellen
zurückzuführen sein müßten, und daß er in der Lage sein würde, zu-
verlässige Gewährsmänner und Tatsachen vorzuführen, die ihn einiger-
maßen dazu hätten veranlassen können, in seiner jetzigen Stellung auf
so unberechtigte und unverantwortHche Weise die Alarmglocke zu
läuten.
Freiherr von Huene tat das aber auf Grund oberflächUcher Ge-
spräche mit amerikanischen Erfindern und Waffenlieferanten, die ein
Interesse haben, ihre Erfindungen und Waffen an den Mann zu bringen,
und auf Äußerungen eines Italieners, der Verbindungen mit der
Börse hat.
• Major von Huene gibt selbst zu, daß er solche Gespräche und
Nachrichten hier in Paris beständig gehört habe, glaubt aber, daß sie
deshalb wichtig seien, weil ein bestimmter Termin — „nach oder während
der Manöver" — angegeben sei.
Major von Huene ist ein viel zu guter Offizier, um nicht zu wissen,
daß der Zeitpunkt der Manöver der schlechteste wäre, den die franzö-
sische Kriegsverwaltung würde wählen können, und daß es ebenso
lächerlich ist zu glauben, daß die Franzosen uns mit vier nicht mobilen
Korps überfallen wollen, als es die Befürchtung sein würde, die Fran-
zosen wollten mit der Flottenabteilung, die sie nach Kronstadt schicken,
unsere Schiffe und Küstenplätze in der Ostsee angreifen.
Solange ich die Ehre habe, der Botschafter Seiner Majestät des
Kaisers hier auf diesem verantwortlichen Posten zu sein, ist es nicht
allein meine Pflicht, aber auch die Pflicht der mir beigegebenen Be-
amten und Offiziere, auf alles sorgfältig zu achten, was hier auf politi-
schem und militärischem Gebiete vorgeht.
Diese Pflicht geht vor allem dahin, die Kriegsgefahr beizeiten
richtig zu erkennen, aber auch dafür zu sorgen, daß unbegründete
Alarmnachrichten auf das richtige Maß zurückgeführt werden.
Meine Berichterstattung während fast sechs Jahren zeigt, daß ich
in den schwierigsten, gefährlichsten Zeiten — ich verweise dabei auf
die Zeit des General Boulanger — stets richtig gesehen und die Tat-
sachen meinen Voraussagungen stets recht gegeben haben.
Ich glaube, die hiesigen Verhältnisse und die Franzosen gut zu
kennen, und auf die Gefahr hin, als Optimist zu gelten, behaupte ich,
daß trotz der großen Fortschritte der französischen Armee die wirk-
liche Stimmung des Volkes, der Kammer und der Regierung, solange
ich hier bin, noch nicht friedlicher und ruhiger gewesen ist als in
diesem Augenblicke, und jetzt Krieg ausrufen, ist weiter nichts als
absichtlich den Kriegsteufel an die Wand malen.
Glaubte Major von Huene selbst an seine Alarmnachrichten, dann
301
würde er, der sehr gut schreiben kann, anders geschrieben haben,
als dieser seinen Fähigkeiten nach ganz elende Bericht es zeigt.
Es wäre, wenn dieser Offizier glaubte, solche Nachrichten bis an
die allerhöchste Stelle gelangen lassen zu dürfen, wohl seine Pflicht
gewesen, bei mir, der ich ihn während seiner Zeit nur zu gut behandelt
habe, anzufragen, ob ich solche Gerüchte für begründet halte, und da-
durch auch seinen Kameraden, seinem Nachfolger und dem Haupt-
mann von Süßkind, Gelegenheit zu geben, diesen Nachrichten nach-
zuforschen und aufmerksam darauf zu werden.
Das Verbreiten solcher Nachrichten hinter dem Rücken seines
früheren Botschafters und seines an seine Stelle kommandierten Nach-
folgers ist ein Benehmen, welches ich nicht näher qualifizieren will.
Ich behalte mir vor, mich noch näher nach den Gewährsmännern
des Majors von Huene zu erkundigen und dann auf diese Sache
zurückzukommen.
Münster
Nr. 1569
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Entzifferung
Nr. 142 Paris, den 21. Juni 1891
Die Kriegsgerüchte verstummen mehr und mehr. Präsident Carnot
und seine Ratgeber haben nicht die Absicht gehabt, einen Krieg zu
provozieren. Das Spiel würde für sie selbst und die Republik, die sie
verkörpern, zu gefährlich sein. Sie wissen, daß ein siegreicher General
nolens volens Imperator werden müßte, und daß eine verlorene Schlacht
wie ein Blitz im Elysee einschlagen und alles, was drum und dran
hängt, wegfegen würde. Hätten Herr Carnot und seine Minister wirk-
lich Krieg gewollt, so muß die jetzige politische Lage ihnen solche
Gedanken vertreiben. Daß die Tripleallianz fortbestehen wird, weiß
man hier, daß England unter Umständen mitwirken würde, bezweifelt
man nicht; wie bisher auf Rußland unter allen Umständen zu rechnen,
scheint nicht mehr ganz sicher.
Wollen die Franzosen keinen Krieg, wozu dann die ganzen über-
triebenen Rüstungen? Diese Frage liegt nahe, meine Antwort darauf
ist folgende.
Der Vorwand zu diesen Rüstungen ist Elsaß-Lothringen, der an-
gebliche Zweck Wiedereroberung dieser Provinzen. Dieses Mittel zieht
in der Kammer und vor dem Volke und verschafft mit Leichtigkeit
die Geldmittel für die Armee. Der Versuch der Wiedereroberung wäre
doch gefährlich, daher begnügt der gern renommierende Franzose sich
302
mit diesem Gedanken i; der Kriegsminister muß den Revanchegedanl<en
lebendig erhalten, sonst droht die Quelle zu versiegen, aus der er
so reichlich schöpft. Folgendes sind für die Republik die Motive für
die übertrieben starke Armee:
Das französische Volk wird niemals ruhig sein, wenn es sich
nicht für die grande nation und zwar für la plus grande nation hält.
Nach unseren Siegen ging das nicht, daher die Unzufriedenheit und
die Wut gegen uns, die Sieger. Die Nation fühlt sich gedemütigt
und die Besorgnis, daß Deutschland das geschwächte Frankreich jeden
Tag überfallen könnte, wurde in Frankreich selbst und von Anfang
an von Rußland aus stets künstlich genährt.
Die Unruhe, welche dieser Gedanke erzeugte, war gefährlich nach
innen wie nach außen.
Wollte Frankreich wirklich gerüstet sein, so mußte die Nation
das Opfer der allgemeinen Wehrpflicht bringen und ein Drittel der
ganzen Staatseinnahmen auf Heer und Flotte verwenden. Das Selbst-
vertrauen der Nation ist durch diese übertriebenen Anstrengungen
sehr gewachsen, der kriegerische Sinn der Nation aber nicht. Die
allgemeine Wehrpfücht hat, Gott sei es gedankt, ganz anders gewirkt
als bei uns.
Das Selbstvertrauen der Franzosen ist jetzt da. Die Franzosen
freuen sich darüber, daß sie sich wieder stark fühlen können, haben
aber noch gar keine Lust, ihre Kraft auf die Probe zu stellen. Nach
außen will die Republik stark erscheinen, nach innen ist die Armee
der einzige Faktor, auf den die Republik re-chnen kann. Wie in einem
monarchischen Staat das monarchische Gefühl vor allem in der Armee
wurzelt und durch die allgemeine Wehrpflicht im Volke stets von
neuem belebt wird, so ist es, freilich in geringerem Grade, in der
Republik der Fall. Die republikanischen Ideen werden in der Armee
und durch die Armee immer mehr verbreitet. Solange die Republik
wie jetzt auf diese Armee rechnen kann, ist sie gesichert, das weiß
sie, sie weiß aber auch, daß mit dem ersten Tage des Kriegs diese
Sicherheit gefährdet werden könnte.
Die Republik befestigt sich, die Monarchisten verlieren täglich
Anhänger. Die Prätendenten und ihre Häuser werden kaum noch
beachtet, und was das Wichtigste ist, Rom versöhnt sich mit der
Republik. Hätten die Bonapartisten noch denselben Einfluß wie zur
Zeit des Boulangismus, so würde die Kaiserin Eugenie und die Fa-
milie Bonaparte nicht ruhig hier im Hotel sein und sich überall
zeigen können.
Der Boulangismus war das letzte Aufflackern der monarchischen
Idee. Der Klerus glaubte noch an die Möglichkeit einer monarchischen
Restauration, jetzt sieht er, daß er sich irrte. Der Papst will die
Republik gebrauchen 2, sonst würde Kardinal Rotelli im Elysee nicht
303
so gesprochen haben*, und ein Artikel im „Osservatore Romano" sagt
deutlich, daß seine Worte gebilligt wurden. Rede und Artikel folgen
besonders.
Die Annäherung des Papstes an die demokratische Republik ist
gefährlich, vor allem für Italien 3, und mein italienischer Kollege und
seine Regierung blicken mit Sorge auf diese Kundgebungen.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Glaube ich nicht, wenn der Russe hilft versucht er es doch.
2 gegen das Protestantische Deutschland!
3 ja auch für uns
Nr. 1570
Der Reichskanzler von Caprivi an den Statthalter in Elsaß-
Lothringen Fürsten von Hoheplohe
Konzept von der Hand des Vortragenden Rat-- Raschdau
Nr. 15 Berhn, den 21. Juli 1891
Vertraulich
Wie Euerer Durchlaucht bekannt, wird die Lage Frankreichs wie
kaum ähnlich in einem anderen Staate von plötzlichen, teils wahren,
teils erkünstelten Erregungen der öffentlichen Meinung beherrscht,
deren Einfluß die leitende Gewalt sich nur mit Mühe entziehen kann.
Soweit Deutschland dabei in Frage kommt, nimmt diese Erregung fast
ausnahmslos ihren Ausgang von Vorgängen im Reichslande, die dann
in Frankreich von einer in der Wahl ihrer Mittel rücksichtslosen Presse
in übertriebener und verzerrter Weise dargestellt und in aufhetzendem
Sinne ausgebeutet werden. Auf diese Art erlangen aii sich vielleicht
nicht besonders wichtige Vorkommnisse im Reichslande für unsere
auswärtigen Beziehungen eine Bedeutung wie in keinem anderen Ge-
biet Deutschlands. Es ist hier nun bei verschiedenen Anlässen als ein
besonderer Nachteil empfunden worden, daß die Leitung der auswär-
tigen Politik des Reichs über solche Vorgänge überhaupt nicht oder
doch nicht rechtzeitig und nicht ausreichend unterrichtet war. Die
Mitteilungen der Presse, selbst wenn sie den Ereignissen schnell folgen,
sind keine genügende Informationsquelle, um daraufhin Entschlüsse
von Tragweite fassen zu können. Als der zurzeit mit der Leitung
der auswärtigen Beziehungen des Reichs betraute Ratgeber Seiner
Majestät halte ich es daher für dringend wünschenswert, über Vor-
gänge im Reichslande, die für den Gang unserer auswärtigen Politik
von Einfluß sein können, rechtzeitig amtlich unterrichtet zu werden.
* Kardinal Rotelli hatte bei der Feier der Überreichung des Kardinalshutes am
10. Juni eine Ansprache an Präsident Carnot gehalten, in der die unauflösliche
Verbindung „des destinees de la papaute et de la France" betont wurde.
304
Ich glaube kaum im einzelnen näher erörtern zu sollen, welcher Art
diese Vorkommnisse sein können. Wo bei Maßregeln gegen die Frem-
den oder bei dem Grenzverkehr französische Interessen direkt im
Spiel sind, oder wo wie bei den politischen Wahlen im Lande sich die
Gefühle der Bevölkerung des Reichslandes Frankreich gegenüber doku-
mentieren, oder wo im Vereinsleben, in Schule und Kirche usw. sich
stärker bemerklich machende Einwirkungen einer nach der Fremde
zielenden Agitation zeigen, muß die nähere Kenntnis der Verhältnisse
für die allgemeine Politik des Reichs von Wert sein. Ich brauche in
dieser Beziehung nur an die letzten elsaß-lothringischen Gemeinde-
ratswahlen zu erinnern, die in den deutschen Zeitungen zwar eingehend,
aber doch wesentlich vom Parteistandpunkte besprochen worden sind,
sodaß deren Informationen für die diesseitige Beurteilung nicht aus-
reichendes Material lieferten. Ich darf hier auch der Nachricht von
der Entdeckung einer zur Wiedergewinnung der Grenzgebiete gegrün-
deten geheimen Gesellschaft in Nancy Erwähnung tun. Wäre diese
durch die „Frankfurter Zeitung" gebrachte Nachricht rechtzeitig direkt
zur Kenntnis des Auswärtigen Amts gelangt, so hätte vielleicht durch
geeignete Instruierung des Kaiserlichen Botschafters in Paris erreicht
werden können, daß den die öffentliche Meinung in Europa mißleiten-
den Verdächtigungen des Interpellanten Laur von vornherein die Spitze
abgebrochen und die Verhandlung am ersten Tage zum Abschluß
gebracht worden wäre*. Euere Durchlaucht werden bei Ihren lang-
jährigen Erfahrungen auf dem Gebiete der französischen Politik am
besten in der Lage sein zu beurteilen, welche Vorgänge in der an-
gedeuteten Richtung hier von Interesse sein können. Bei den eigen-
tümlichen staatsrechtlichen Verhältnissen des Reichslandes fehlt es mir
als Leiter der auswärtigen Politik des Reichs und Preußens an einem
besonderen Organe, das in gleicher Weise, wie dies seitens der preußi-
schen Vertreter in den deutschen Bundesstaaten geschieht, mich über
die wichtigeren Vorgänge informieren könnte. Es liegt aber kein
Hindernis vor, diesem Mangel durch direkte Mitteilungen der dortigen
Landesregierung abzuhelfen, und ich würde Euerer pp. zu Dank ver-
pflichtet sein, wenn Hochdieselben geneigtest Veranlassung treffen
wollten, daß ich von dort aus über alle wichtigeren Vorgänge, die für
unsere auswärtigen Beziehungen von Einfluß sind oder voraussicht-
lich werden könnten, rechtzeitig informiert werde.
Ich würde mich freuen, wenn Euere pp. die Geneigtheit haben *
wollten, mich baldgefälligst Ihres Einverständnisses zu versichern.
v. Caprivi
* Am 16. Juli hatte der Abgeordnete Laur in der französischen Kammer eine Inter-
pellation über die Handhabung des Paßwesens in Elsaß-Lothringen eingebracht,
deren Beratung trotz des Widerspruchs des Ministers Ribot beschlossen wurde.
Erst am 17. wurde die weitere Beratung durch einen Kammerbeschluß inhibiert,
nachdem Ribot die Kabinettsfrage gestellt hatte.
20 Die Große Politik. 7 Bd. - 305
Nr. 1571
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 180 Paris, den 29. Juli 1891
Minister Ribot brachte, als ich ihn heute an seinem Empfangstage
besuchte, in freundschaftlichem Tone und, wie er nachdrücklich betonte^
in ganz vertraulicher Weise die Rede auf den Paßzwang „cette question
malheureusement tres-irritante". Es liege ihm fern, sagte er, die Paß-
maßregel selbst diskutieren zu wollen, ebensowenig wie er sich bei-
spielsweise auf die Erörterung einer Ausweisung würde einlassen
können; er wolle mir nur sagen, wie peinlich es ihm sei, täglich
mehr mit Reklamationen von Personen überhäuft zu werden, denen
das Visa aus nicht ersichtlichem Grunde verweigert worden. Die chau-
vinistische Agitation habe sich nunmehr der Paßmaßregel bemächtigt
und finde damit bei der öffentlichen Meinung fruchtbaren Boden; die
Zeitungen, selbst gemäßigte, begännen die einzelnen Abweisungen in
erschreckend zunehmender Zahl zu registrieren und zu besprechen,
kurz, er müsse befürchten, daß die Erregung eine solche Höhe er-
reichen werde, daß die Regierung schließHch doch, so ungern sie
sich auch dazu entschließen würde, gezwungen werde, Gegenmaßregeln
in Erwägung zu ziehen.
Der Minister wünschte ganz freundschaftlich Auskunft darüber,
ob denn neuerdings Verschärfungen in der Handhabung der Paßmaß-
regeln eingetreten seien, und wie etwa die Zahl der Abweisungen zur
Gesamtzahl der Anträge sich verhalte.
Ich habe Herrn Ribot gesagt, ich könnte auch meinerseits auf
eine Erörterung der Paßmaßregel an sich nicht eingehen, bezüglich
deren ihm ja überdies unsere Auffassung hinlänglich bekannt sein
dürfte. Was die augenblickliche Handhabung derselben betreffe, so
sei mir von einer neuerlichen grundsätzlichen Verschärfung nichts
bekannt. Die Anträge überstiegen jetzt während der Reise- und
Ferienzeit sehr erheblich das gewöhnliche Maß, daher erschienen jetzt
auch die Abweisungen zahlreicher und machten um so mehr Eindruck,
als die Presse, die sich damit beschäftigt, sich wohl hüte, neben den
verneinenden Antworten auch die bejahenden aufzuzählen. Im übrigen
vermied ich es, dem Minister das ziffermäßige Verhältnis zwischen
Anträgen und Abweisungen anzugeben, bemerkte jedoch, daß die von
dem Abgeordneten Laur beigebrachten Zahlen und Einzelheiten unseres
Paßgeschäfts ebenso irrig seien wie die meisten in den Zeitungen
erscheinenden ähnlichen Behauptungen. Die Handhabung des Paß-
zwanges geschähe mit derjenigen Strenge, zu welcher wir uns zu
unserem eigenen lebhaften Bedauern veranlaßt sähen, Härten jedoch
306
suchten die heimischen Behörden sowohl wie die Kaiserliche Botschaft
nach Tunlichkeit zu vermeiden.
Als der Minister schließlich noch der Hoffnung Ausdruck gab,
daß der Paßzwang in nicht zu ferner Zeit gemildert oder beseitigt
werde, konnte ich es mir nicht versagen, ihn daran zu erinnern, daß
derselbe bereits einmal dem Erlöschen nahe war, daß wir aber leider
durch die Erfahrungen, welche uns die Vorgänge anläßlich des Be-
suches Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich gebracht haben, zur
Wiederaufnahme veranlaßt wurden. Herr Ribot hat darauf nichts er-
widert.
Daß die Handhabung des Paßzwangs in neuerer Zeit wieder an
Schärfe zugenommen hat, ist in dem Berichte des Herrn Botschafters
vom 24. d. Mts. Nr. 176 bereits erwähnt. Abgesehen davon, daß die
Verhältniszahl der Abweisungen erheblich zugenommen hat, pflegt der
Herr Statthalter in Elsaß-Lothringen in den meisten Fällen der Visa-
bewilligung die Berechtigung zum Aufenthalt auf kurze Zeit zu be-
schränken. Wie peinlich diese Strenge hier empfunden wird, hat die
Kaiserliche Botschaft reichlich Gelegenheit, aus den Reklamationen und
Bitten um nochmalige Verwendung zu erfahren, mit welchen sie in
geradezu erdrückender ^Weise bestürmt wird.
V. Schoen
Nr. 1572
Der Reichskanzler von Caprivi an den Geschäftsträger in Paris
von Schoen
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau
Nr. 70 Berlin, den 4. August 1891
Mit Bezug auf Bericht Nr. 180*.
Bezüglich Paßzwang war schon Milderung im Gange, als Bevölke-
rung Frankreichs uns durch ihr zeitweiliges Verhalten an weiterem
Entgegenkommen hinderte. So die beleidigenden Demonstrationen in
Paris bei Besuch der Kaiserin Friedrich und neuerlich Angriffe in
Deputiertenkammer**. Auch haben wir kürzlich genaue Kenntnis von
einer Ligue de la Revanche in Nancy, aus etwa 400 Mitgliedern be-
stehend, erhalten, die sich die Abtrennung der Reichslande von Deutsch-
land zur Aufgabe gemacht. Es ist nur natürlich, wenn unter solchen
Umständen unsere Grenzbehörden bei der Zulassung Fremder im
Reichslande mit doppelter Vorsicht handeln. Des ungeachtet wünschen
wir lebhaft eine Milderung der Paßvorschriften und hoffen, solche
* Siehe Nr. 1571.
** Vgl. Nr. 1570, S. 305, Fußnote.
20« 307
in nicht ferner Zeit eintreten lassen zu können, wenn wir wirksames
Entgegenkommen der französischen Regierung gegenüber derartigen
uns feindsehgen Bestrebungen auf französischem Boden finden.
Ist es nötig, Herrn Ribot gegenüber auf die Sache zurückzukom-
men, so äußern Sie sich in diesem Sinne.
Zu Ihrer persönlichen Information gereiche, daß Statthalter zu
vorsichtigem Vorgehen aufgefordert ist, daß wir aber auch der emp-
findlichen öffentlichen Meinung in Deutschland Rücksichten schulden
und Eindruck des Schwankens vermeiden müssen*.
V. Caprivi
Nr. 1573
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 7. August 1891
Im Lauf einer Unterhaltung äußerte Herr Herbette heut mir
gegenüber, er glaube nicht, daß der Lärm der grosses caisses, der
jetzt von Kronstadt nach Frankreich klinge**, die öffentliche Meinung
in letzterem Lande fortreißen würde. Man würde in einiger Zeit sich
um so eher beruhigen, als — wie er sich persönlich überzeugt habe —
sein Gouvernement durchaus friedliche Absichten habe. Er könne das
insbesondere von Monsieur de Freycinet versichern. Er wolle per-
sönlich und akademisch hierbei eine Frage berühren, die ihn schon
lange beschäftigte, und die ein Mittel bieten könnte, seinem Gouverne-
ment die versöhnliche Haltung zu erleichtern, das sei die Paßfrage.
Er habe schon vor Jahren seine Regierung gebeten, über diese Frage
mal hier sprechen zu dürfen, diese Bitte sei ihm aber wiederholt ab-
geschlagen. Unsere Paßverordnung sei eine unglückliche Maßregel,
sie gebe Stoff, um die Gemüter zu erregen, und ihre Legalität sei
im Hinblick auf Artikel 11 des Frankfurter Friedens bestreitbar. Sie
richte sich zwar nicht allein gegen Franzosen, aber doch nur gegen
die französische Grenze, und wirke deshalb im wesentlichen ebenso,
wie wenn sie ausspräche, daß Franzosen im Elsaß anders behandelt
werden sollten, wie andere. Er begreife, daß im gegenwärtigen Augen-
blick jene Verordnung nicht aufgehoben werden könne, aber er sei
* Auf Caprivis Hinneigung zu einem Abbau des Paßzvvanges scheinen die Vor-
stellungen nicht ohne Einfluß geblieben zu sein, die der damalige Generalkonsul
in Marseille Julius von Eckardt bei einem Besuch im Auswärtigen Amt im August
1891 vorbrachte. Vgl. J. v. Eckardt, Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen
Caprivi (1920), S. 8 ff.
** Vom 23. Juli bis 8. August hatte der Besuch der französischen Flotte in Kron-
stadt stattgefunden. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502.
303
überzeugt, die Stimmung in Frankreich würde sich bald beruhigen,
und er behielte sich vor, dann mal wieder auf die Sache zurückzukom-
men. Er sei, auch wenn er sich auf den Standpunkt unseres Gou-
vernements in Elsaß-Lothringen stelle, überzeugt, daß man mit den
Meldekarten, deren Einführung ihm deshalb eine glückliche Maßregel
geschienen habe, dasselbe erreichen könnte, was wir mit dem Paß-
zwang erreichen wollten. — Er sei zufrieden, in Berlin geblieben zu
sein, er fasse seine Aufgabe hier als eine mission de conciliation auf,
er würde sich glücklich schätzen, wenn er an der Paßfrage seinen
Landsleuten mal zeigen könnte, daß man mit einer versöhnlichen Hal-
tung in Berlin eher Erfolge hätte, wie mit einer feindseligen.
Ich habe ihm geantwortet, was letztlich über den gleichen Gegen-
stand an Herrn von Schoen geschrieben ist, daß wir in bezug auf
die Legalität unserer Auffassung gegenüber Artikel 11 des Frankfurter
Friedens anderer Ansicht wären, und daß ich mich des Tages freuen
würde, an dem die Paßverordnung aufgehoben werden könne, und
das doppelt, wenn ich Herrn Herbette dadurch die Fortführung seiner
versöhnlichen Mission erleichtern könnte.
V. Caprivi
Nr. 1574
Der Reichskanzler von Caprivi an den Statthalter in Elsaß-
Lothringen Fürsten von Hohenlohe
Abschrift
Geheim Berlin, den 2. September 1891
Euere Durchlaucht beehre ich mich ganz ergebenst davon in Kennt-
nis zu setzen, daß ich Mitte dieses Monats der Frage näher zu treten
gedenke, ob und wie der Paßzwang in Elsaß-Lothringen durch andere
Maßregeln (etwa Ausbildung des Meldekartenwesens) zu ersetzen sein
möchte. Euerer Durchlaucht Einverständnis vorausgesetzt, würde ich
dann bitten, den Unterstaatssekretär von Koller, mit den nötigen In-
struktionen versehen, hierher zu senden, um hier, vielleicht unter Zu-
ziehung eines Mitgliedes der Botschaft in Paris, die Einzelnheiten zu
beraten. Zunächst würde ich für eine Mitteilung darüber, ob diese
Idee Euerer Durchlaucht Zustimmung findet, dankbar sein*.
(gez.) Caprivi
* Vgl. dazu Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst
Bd. II, 48 ff. Fürst Hohenlohe entsandte nicht nur den Unterstaatssekretär von
Koller, sondern reiste auch selbst zu den Verhandlungen über die Frage des Paß-
zwanges nach Berlin (14. September), die bis zum 19. zum Abschluß kamen. Am
21. erfolgte, von Straßburg aus, eine Verordnung betreffend die Milderung des
Paßzwanges, wonach die Paßpflicht nach Maßgabe der Verordnung vom 22. Mai
1888 auf aktive Militärpersonen, ehemalige aktive Offiziere sowie die Zöglinge
309
Nr. 1575
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 18. September 1891
Herr Herbette fragte mich nach China*. Ich habe ihm gesagt, wir
hätten nicht die Absicht, uns dort von dem Vorgehen der Franzosen
zu trennen, wir würden antworten, sobald wir näher informiert wären,
die Schwierigkeit läge für uns darin, daß wir nur geringe exekutive
Mittel in China hätten, unser Kreuzergeschwader sei in Chile noch
festgehalten.
In bezug auf den Paßzwang übergab er mir, ohne einen Antrag
zu stellen, anliegendes Verzeichnis von Personen, die wegen Paß-
verweigerung vorstellig geworden wären. Ich würde raten, diese Liste
schleunigst zu prüfen und die davon unschädlich Befundenen bald mit
einem Paß zu versehen und Herrn Herbette Anzeige davon zu machen,
so daß es als eine Rücksicht auf seine Person erscheint.
Das um so mehr, als er heut seinen früheren Wunsch: ihm den Paß-
zwang zu opfern, fallen ließ, sagte: „Je m'efface completement" und
selbst vorschlug, die Initiative von Elsaß-Lothringen ausgehen zu lassen.
Am 16. Oktober träten die französischen Kammern zusammen, er hielte
für höchst wünschenswert im Interesse der Beruhigung, daß bis dahin
irgend etwas geschehen sei, und wenn es auch nur das Aufheben der
Bezahlung für die Pässe wäre. v. Caprivi
Nr. 1576
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 234 Paris, den 24. September 1891
Die Aufhebung des allgemeinen Paßzwanges für Elsaß-Lothringen
ist im großen und ganzen von der hiesigen Presse mit großer Be-
friedigung begrüßt worden.
militärisch organisierter Schulen des Auslandes beschränkt, im übrigen aber auf
eine bloße Meldepflicht reduziert wurde. Das Paßvisum sollte hinfort kostenlos er-
teilt werden.
♦ Die seil längerem eingewurzelte fremdenfeindliche Bewegung in China hatte seit
dem Sommer 1891 zu ernsteren Unruhen geführt, die ein gemeinsames Vorschreiten
der europäischen Mächte nahelegten. In dieser Richtung schien, während Eng-
land und Rußland sich der Anwendung der ultima ratio abgeneigt zeigten, Frank-
reich die Initiative ergreifen zu wollen. Schon am 15. September fragte Bot-
schafter Herbette im Auftrage Ribots in Berlin an, was Deutschland zu tun ge-
denke.
310
Einzelne Blätter erklären unumwunden, daß in dieser Maßregel
„ein Akt der Weisheit und der guten Politik", ein Beweis zu erblicken
sei, daß Deutschland nach wie vor das Bedürfnis habe, mit Frankreich
in Frieden zu leben, und durch die jüngsten Wandlungen der politischen
Lage sich nicht beunruhigt fühle.
„Temps" sagt, er wolle nicht die Beweggründe untersuchen, die
den Kaiser veranlaßten, seine Verordnung zu erlassen. Man müsse bei
solchen Dingen nicht zurück, sondern vorwärts blicken. Ein Stein des
Anstoßes sei aus dem Wege geräumt. Deutschland erachte die Lage
für hinlänglich stetig, um den Anfang zu einer Besserung zu machen
und das zu zerstören, was man früher in Berlin als wirksame Garantien
bezeichnet habe. Ein solches Anzeichen habe immerhin seinen Wert,
der noch vermehrt werde durch die entschieden friedliche Tragweite
einer in diesem Sinne aufgefaßten Maßregel, welche in Elsaß-Lothringen
mit außerordentlicher Erleichterung begrüßt werden müsse und in
Frankreich eine dem Sinne, in welchem sie erlassen wurde, ent-
sprechende Aufnahme finden werde. Überhaupt seien keinerlei Gründe
vorhanden, ein so wesentliches Nachlassen der Spannung in den Be-
ziehungen zweier großen Völker nicht freudig zu verzeichnen. Ähnlich
wie „Temps" sprechen sich nahezu alle tonangebenden Zeitungen aus.
Daß die patriotischen Hetzblätter die Bedeutung der Maßregel
abzuschwächen suchen, um zu verhindern, daß dadurch eine Beruhigung
der öffentlichen Meinung eintritt, ist nahezu selbstverständlich; sie
sagen, die Abschaffung des Paßzwangs sei ihnen angenehm, weil dadurch
für die elsässischen und lothringischen „Brüder" eine Erleichterung
ihres traurigen Schicksals herbeigeführt werde, man schulde aber da-
für Deutschland nicht die geringste Dankbarkeit, und es könne gar
nicht davon die Rede sein, daß dadurch an den Beziehungen Frankreichs
zu Deutschland irgend etwas geändert werde, pp.
Trotz dieser Entstellungen von chauvinistischer Seite ist die An-
sicht vorherrschend, daß die Aufhebung des Paßzwanges lediglich dem
aufrichtigen Bedürfnis Deutschlands entspringt, ein Hindernis guter
Beziehungen mit Frankreich aus dem Wege zu räumen.
Die Annahme, daß die Maßregel Gefühle der Schwäche offenbare,
tritt nirgends zutage.
Daß die Nachricht von der Aufhebung des Paßzwanges auch bei
der französischen Regierung die höchste Befriedigung erregt hat, be-
darf kaum der Erwähnung. Herr Ribot kam bei meinem gestrigen
Besuche auf die Sache zu sprechen und verhehlte nicht seine freudige
Genugtuung darüber, daß nunmehr ein Element, aus welchem fort-
während bedenkliche Zwischenfälle entstehen konnten, beseitigt sei.
V. S c h o e n
311
Nr. 1577
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 241 Paris, den 2. Oktober 1891
Die hiesige Regierung hat in der letzten Zeit Glück gehabt, und
Herrn Ribot habe ich noch niemals so guter Laune gesehen als jetzt.
Mit dem Zusammentreten der Kammer am 15, werden die Sorgen für
Herrn Ribot und seine Kollegen wohl wiederkehren. Die Republik und
die jetzige Regierung haben aber doch im allgemeinen an Kraft ge-
wonnen.
Die Frage der Handelsverträge und Tarifreform und der Interessen-
kampf, der stets die Folge des Schutzzollsystems sein muß, wird ein
heftiger sein.
Wenn nun auch die bedeutenden Mitglieder des Kabinetts mehr
der freihändlerischen Richtung angehören, so werden sie doch kaum
versuchen, den Schutzzöllnern ernstlich Widerstand zu leisten. —
Auf politischem Gebiete sind den Radikalen und Chauvinisten die
gefährlichsten Waffen genommen. Die Aufregung, die durch den Kron-
städter Flottenunfug, durch das Kriegsspiel der großen Manöver künst-
lich erzeugt wurde, hätte gefährlicher werden können, wenn zu der
Zeit die Kammer hier in Paris versammelt gewesen wäre. Jetzt hat
sich die Stimmung wesentlich beruhigt, und das Vertrauen auf die
russische Freundschaft, auf den russischen Kaiser, der hier plötzlich
der populärste Monarch geworden ist, das Vertrauen auf die eigene
Armee und das Gefühl, wieder die Grande Nation zu sein, befriedigt
die Franzosen für den Augenblick.
Die Aufführung der Oper Lohengrin im großen Opernhause* war
eine Falle, die der schlaue und energische Constans den Chauvinisten
und Boulangisten gelegt hatte. Sie sind in die Falle gefallen und
gründlich durchgeprügelt worden. Durch das energische, brutale Ein-
schreiten der Polizei ist denen, die Lust haben könnten, auf der
Straße zu demonstrieren, gezeigt worden, daß die Regierung die Mittel
hat, Ordnung zu halten und Aufwiegler zu züchtigen.
Die neue Taktik der hiesigen Polizei, sie so stark auf gewissen
Punkten zu konzentrieren, daß sie ohne Anwendung von Waffen durch
Prügeln und Fußtritte die Aufwiegler und dumme Neugierige behan-
delt, wirkt sehr gut.
Durch die Aufhebung des Paßzwanges an der elsaß-lothringischen
Grenze ist der Regierung ein sehr großer Dienst geleistet und ist
* Sie hatte am 16. September stattgefunden; versuclite Straßendemonstrationen der
Chauvinisten wurden von der Polizei, die an die 3000 Personen verhaftete, vereitelt.
312
den radikalen Chauvinisten eine Waffe genommen, auf welche sie für
die Kammerdebatten und Presse sehr rechnen konnten: es war ein
sehr gefährHches Agitationsmittel, welches nicht sowohl gegen uns
als gegen die eigene Regierung benutzt werden sollte.
Herr Ribot empfing mich gleich damit, daß er mir sagte, daß durch
die Aufhebung des Paßzwanges der hiesigen Regierung ein großer
Dienst geleistet und große Verlegenheiten erspart seien, und nichts
mehr zur Beruhigung der Gemüter hier beitragen könnte.
So viel, als Seine Majestät unser Kaiser jetzt gewährt habe, sei
kaum erwartet worden, aber eben deshalb sei die Wirkung eine so
erwünschte.
Ich benutzte gleich die Gelegenheit, um Herrn Ribot zu sagen,
daß ich sehr hoffte, daß wir darauf rechnen können, die Regierung
werde gegen die Ligue des Patriotes und die elsasser Aufwiegler
energischer auftreten, als das bisher geschehen sei.
Herr Ribot erwiderte, er hoffe, die Agitation werde sich sehr
legen, und komme jetzt der Selbstmord des Generals Boulanger* zu
gelegener Zeit. „Boulanger n'etait plus un danger, mais il pouvait
toujours devenir un embarras!" Die Partei der Boulangisten sei klein,
aber doch sehr aggressiv gewesen, und es sei gut, daß sie ihre Fahne
verloren habe.
Was die äußere politische Lage betrifft, so sei sie, wie Herr Ribot
wiederholt betonte, seit längerer Zeit nicht so friedlich gewesen als
jetzt, und er habe es für ein sehr glückliches Zusammentreffen ge-
halten, daß Euere Exzellenz in Osnabrück und er hier an demselben
Tage und fast mit denselben Worten die friedliche Lage^ geschildert
hätten**
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Nur nicht zu optimistisch der Herzfehler bleibt darum doch.
* t 30. September in Brüssel.
** Am 27. September 18Q1 hatte Reichskanzler von Caprivi gelegentlich der 25jährigen
Jubelfeier seines Regiments eine Ansprache gehalten, in der er trotz der in Kron-
stadt manifestierten französisch-russischen Annäherung (vgl. Kap. XLVII, Nr. 1502)
sich sehr optimistisch über die Erhaltung des Friedens ausließ: Keine der euro-
päischen Regierungen habe den Wunsch, einen Krieg hervorzurufen. Auch die
Annäherungen der Staaten in der neuesten Zeit gäben keinen Grund zu Befürch-
tungen; sie seien nur der Ausdruck schon vorhandener Verhältnisse, vielleicht
seien sie nichts anderes als die Feststellung eines europäischen Gleichgewichts,
wie es früher bestanden habe. Zu den Caprivischen Äußerungen stand die Rede,
die der französische Minister Ribot am gleichen Tage bei der Enthüllung eines
Denkmals für den General Faidherbe in Bapaume hielt, insofern doch in einem
Gegensatz, als Ribot kein Hehl daraus machte, daß durch die französisch-mssische
Annäherung eine neue Lage für Frankreich entstanden sei, von der man die
günstigsten Auswirkungen erwarten könne. Allerdings setzte er hinzu, daß man
in dem Augenblicke, wo die bisherige Politik einen solchen Umschwung zuwege
313
Nr. 1578
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 243 Paris, den 5. Oktober 18Q1
Gestern abend besuchte ich Herrn von Freycinet und hatte mit
ihm ein sehr langes, ganz interessantes Gespräch.
Der Ministerpräsident begrüßte mich auf das freundschaftlichste
und empfing mich gleich damit, daß er sagte, die politische Lage in
Europa sei nach seiner Ansicht seit Jahren nicht eine so friedliche
gewesen, als sie ihm in diesem Augenblick erscheine.
Zu seiner Freude und Genugtuung könne er auch konstatieren,
daß die Republik an Kraft und Ansehen im Innern sehr gewonnen
habe. Daß Finanzen, das Budget und Tarifreform und namentlich die
Vorlage wegen der Versicherung der Arbeiter unangenehme Debatten
in der Kammer verursachen und ihm und seinen Kollegen viel Arbeit
und viel Schwierigkeiten bereiten würden, erwarte er. Auf eine ernst-
liche Ministerkrisis rechne er aber nicht.
Die Beunruhigung, welche überall, auch namentlich in Deutschland,
während dieses Sommers fühlbar gewesen wäre, sei durch die schlechte
Presse, an der alle Länder, und dieses Land am meisten, litten, künst-
lich hervorgerufen.
Woher solle der Krieg kommen? Kein Staatsmann, der ein Ge-
wissen habe, werde die Verantwortung dafür übernehmen wollen. Ein
europäischer Krieg bedeute ganz etwas anderes als bisher, es werde
nicht mehr ein Krieg der Armeen, sondern der Krieg der Nationen
sein und die ganze europäische Zivilisation laufe Gefahr, auf Jahr-
hunderte zerstört zu werdend
Die jetzige französische Regierung wolle entschieden den Frieden,
und die Partei, welche eine kriegerische, gegen andere Staaten aggres-
sive Politik und gar zum Kriege treiben wolle, sei numerisch viel zu
schwach 2. Die französische Bevölkerung, welche Frieden wolle, werde
den radikalen Aufwieglern und den unsinnigen Chauvinisten ä la Derou-
lede kein Gehör schenkend
Seine Majestät unser Kaiser wolle, davon sei man jetzt in Frank-
reich überzeugt, keinen Krieg, wolle das Beste seines Landes und sei
sich seiner großen Aufgaben voll bewußt. Die Aufhebung des Paß-
gebracht habe, sich nicht einer neuen Politik anzupassen habe. „In dem Augen-
blick, wo wir mit der größten Würde in Frieden leben l<önnen, werden wir uns
nicht dem aussetzen, den Frieden zu gefährden," Frankreich im Bewußtsein
seiner Stärke, voll Vertrauen auf die Zukunft, werde fortfahren, die Klugheit und
das kalte Blut zu zeigen, die ihm die Achtung der Völker verschaffen und dazu
beitragen, ihm den Rang wiederzugeben, den es in der Welt einnehmen müsse.
314
Zwanges an der elsaß-lothringischen Grenze habe ebenso wie die Rede
Euerer Exzellenz den allerbesten Eindruck hervorgebracht, und die
friedlichen Elemente Frankreichs seien dadurch sehr gestärkt worden.
Er wisse sehr wohl, daß der Kaiser von Rußland als der zukünftige
Friedensstörer angesehen und in der Annäherung Frankreichs an Ruß-
land eine Gefahr erblickt werde. Das sei ganz falsch. Frankreich habe
sich der Tripleallianz gegenüber isoliert gefühlt: daher die Annäherung
an Rußland, welche hier nur beruhigend wirke. —
Wenn ich auch glaube, daß Herr von Freycinet aufrichtig ge-
sprochen hat und die ganze politische Lage eine so friedliche ist, wie
das in dem bewaffneten Lager — denn das ist jetzt Europa — über-
haupt noch möglich ist, so wären wir leichtsinnig, wenn wir nicht die
Augen offen hielten und uns nicht sagten, daß wir auch im glücklichsten
Falle lange Jahre* hindurch Frankreich gegenüber voll gerüstet^ sein
müssen.
Durch die Kronstädter Demonstration, durch den Glauben, der in
der Nation dadurch verbreitet wurde, der mehr in die unkundigen
Massen gedrungen ist, daß Frankreich sicher auf Rußland rechnen
könne, durch das größere, künstlich erweckte Vertrauen zur eigenen
Armee ist das Selbstgefühl der französischen Nation, welches durch
den unglücklichen Krieg fast verschwunden war, von neuem erwacht,
und dieses Gefühl befriedigt die Grande Nation und beruhigt^ für einige
Zeit. Auf wie lange, ist aber die Frage.
Die jetzige Republik und deren Machthaber müssen für ihre eigene
Erhaltung den Frieden wollen, man kann aber bei dem Parteitreiben
und bei einer Regierung, die schließlich dem allgemeinen Stimmrecht
ihre Existenz allein verdankt, nicht sicher auf sie rechnen'^.
Wer kann dafür stehen, daß nicht unvernünftigere Staatsmänner
als die jetzigen an das Ruder kommen, wer steht uns dafür, daß, falls
der Radikalismus die Oberhand gewönne, nicht ein fähigerer und
wirklich energischerer General als Boulanger die Macht an sich reißt
und dann sein Heil im Kriege versuchen würde I^
Das sind Gefahren, die eintreten können, gegen die wir gerüstet
sein müssen, die aber, davon bin ich überzeugt, so bald nicht eintreten
werden.
Die Gefahr für den Frieden liegt im Osten, und die Kronstädter
Salutschüsse, deren Echo bis hierher gedrungen ist, haben in Frank-
reich gefährliche Hoffnungen erweckt. Übertriebene Hoffnungen, die
nicht bald realisiert werden, führen oft Enttäuschungen herbei, und
darauf rechne ich auch in diesem Falle. —
Nachdem Herr von Freycinet die politische Lage geschildert hatte,
brachte er das Gespräch auf die großen Manöver, lobte vor allem die
Haltung der Truppen und der Bevölkerung, welche dieses Mal viel
ruhiger gewesen sei als während der Manöver des vorigen Jahres
315
und alle Demonstrationen vermieden habe. Dieses bestätigten auch die
fremden Offiziere.
Der Kriegsminister sprach darauf seine volle Befriedigung hinsicht-
lich der Infanterie aus, die durch ihre Marschfähigkeit alle Erwartungen
bei weitem übertroffen habe.
Mit einer Offenheit, die mich überraschte 9, sprach er aber über
die Kavallerie. Diese habe viel weniger geleistet, als hätte erwartet
werden müssen. Einzelne Regimenter hätten zwar übertrieben große
Märsche, bis zu 90 km an einem Tage, gemacht, das sei aber auf
Kosten des Pferdematerials geschehen, und der Prozentsatz der lahmen
und gedrückten Pferde sei viel zu groß gewesen.
Überraschend günstig sei der Gesundheitszustand der Truppen
gewesen. Trotz der tropischen Hitze seien nur fünf Mann am Sonnen-
stich und im ganzen nur neun Mann gestorben, was bei 100000 Mann
allerdings, namentlich bei der Hitze, ein merkwürdig günstiges Re-
sultat ist. pp.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Das wissen wir allein und ist nichts Neues
2 qui vivera verra
^ abwarten
^ 50 mindestens
^ noch mehr
s nein! dies Selbstgefühl wird bald sich bethätigen wollen, erst in Artikeln, und
dann in Thaten
^ richtig
8 ja
9 da ist nichts Ueberraschendes, da er doch weiß, wie die Militfär] Attaches be-
richtet haben. Da sagt er eben dasselbe und giebt sich den Schein biedrer
Offenheit
Nr. 1579
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
von Csprivi
Ausfertigung
Nr. 251 Paris, den 14. Oktober 1891
Präsident Carnot ist von Fontainebleau wieder in die Stadt ge-
zogen und hat mich vor einigen Tagen im Elysee empfangen.
Ich habe den Präsidenten noch niemals zufriedener aussehend
und geradezu aufgeweckt gefunden als dieses Mal.
Er empfing mich damit, daß er mir sagte, er freue sich sehr, mich
hier wieder zu begrüßen, und er hoffe, daß meine Eindrücke angenehme
und friedliche sein würden.
316
Der Präsident äußerte darauf, er wisse, daß in Deutschland wäh-
rend des Sommers der Ausbruch eines Krieges befürchtet, ja fast
erwartet worden wäre^. Er begreife diese Beunruhigung nicht recht.
Frankreich wolle den Frieden, bedürfe denselben, und je mehr sich
die Republik befestige, je kräftiger deren Regierung werde, je mehr
werde dieser gesichert.
Der Kaiser von Rußland wolle den Frieden auch und werde, da-
von sei er, der Präsident, überzeugt, keine Komplikationen wollen
und werde solche auch auf der Balkanhalbinsel nicht wachrufen 2.
Der Kaiser sei wirklich friedlich gesinnt, und seine Armee sei
durchaus nicht ganz 3 kriegsbereit.
Diese letztere Äußerung überraschte mich.
Wenn der Präsident auch nicht direkt von Kronstadt sprach, so
deutete er an, daß das gute Verhältnis zu Rußland nicht nur nach
außen sondern für die Stärkung und Sicherung der Republik von
großer Wichtigkeit sei.
Er sagte: „Bei meinen Reisen bin ich namentlich in letzter Zeit
(d.h. nach Kronstadt) in mehreren Departements und an Orten, die
bisher durchaus monarchisch gesinnt waren, mit einem Enthusiasmus
empfangen und von Mitgliedern des Adels empfangen worden, die
bisher sich mit Ostentation bei solchen Gelegenheiten fern hielten.''
Der Präsident hat ganz recht das zu betonen. Die Idee, welche
aus seinem ganzen Gespräch hervorging, daß in Beziehung auf die
äußere Politik nicht viel geändert und die Kriegsgefahr nicht größer
geworden sei, daß aber durch die erfolgte Anerkennung der Republik
durch den mächtigen Kaiser, der bisher für den Beschützer des legi-
timen Prinzips galt, diese befestigt wurde, ist richtig*.
Der Zar in seiner panslawistischen Verblendung ist sich wohl
nicht ganz klar darüber gewesen, wohin dieses Aufgeben früherer
Prinzipien, dieses Buhlen mit der Neuzeit führen muß. In der Um-
armung des Kosaken mit der Republik liegt aber eine Gefahr für die
europäische Zivilisation^, welche hoffentlich die monarchischen Staaten
Europas erkennen, und die sie zum festen Zusammenhalten führen wird.
Die meisten Monarchisten Frankreichs sehen jetzt ihre Sache für
verloren an 6.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 ! Wer hat ihm denn den Unsinn aufgebunden?!
- braucht er auch nicht denn sie sind schon da
3 I
* ja
5 ja
* ich nicht
317
Nr. 1580
Der Reichskanzler Graf von Caprivi an den Botschafter in Paris
Grafen Münster
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 40 Berlin, den 25. Mai 18Q2
Bei Gelegenheit des Festes in Nancy* soll Exkursion in die
Vogesen über Gerardmer bis unmittelbar an unsere Grenze geplant
sein. Möglichkeit der Verletzung unserer dortigen Hoheitszeichen oder
dergleichen durch Teilnehmer, worunter vielleicht auch Tschechen i,
naheliegend. Fragen Sie an, ob französische Regierung dort Sorge für
Respektierung unserer Grenze übernehmen will. Zu Ihrer Information
bemerke ich vertraulich, daß wir am liebsten sehen würden, diese
Exkursion unterbliebe ganz. Findet sie aber statt, so ziehen wir vor,
die französische Regierung verpflichtet sich, Ausschreitungen zu ver-
hüten, und enthebt uns dadurch der Erwägung, ob wir nicht selbst
bewaffnetes Personal an der Stelle zu stationieren haben würden, wo-
von Konsequenzen weitgehend sein können.
v. Caprivi
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
Schlußbemericung des Kaisers:
Sehr gut
Nr. 1581
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 126 Paris, den 25. Mai 1892
Der Präsident der Republik wird am Nachmittag des 5. Juni in
Begleitung des Konseilpräsidenten und des Unterrichtsministers sowie
der militärischen Suite in Nancy eintreffen. Dem Turnfest selbst widmet
der Präsident nur 1 1/2 Stunden am 6. Juni, wo er dem Vorbeimarsch
* Für den 5. Juni war das Bundesfest der französischen Turner nach Nancy aus-
geschrieben. Die Studentenschaft der Universität Nancy trug sich mit dem Plan,
mit diesem Feste eine große internationale studentische Feier zu verbinden, und lud
dazu alle ausländischen Universitäten mit alleiniger Ausnahme der deutschen ein.
Der dadurch dem Feste von vornherein aufgeprägte Charakter der Deutschfeind-
lichkeit wurde noch durch die in der Presse laut angekündigte Teilnahme tsche-
chischer Deputationen erhöht, die laut eines Berichts von Reuß aus Wien vom
23. Mai mit der ausgesprochenen Absicht nach Nancy gingen, „um dort in pan-
slawistischem und franzosenfreundlichem Sinne gegen den Dreibund zu demon-
strieren".
318
der Turnvereine und der Preisverteilung beiwohnt. Im übrigen wird
der Aufenthalt des Präsidenten in Nancy durch Empfänge der Behör-
den, Festessen, eine Parade, Besuche von Hospitälern und andern
Veranstaltungen ausgefüllt, welche mit dem Turn- und Studentenfest
nichts zu tun haben. Am T.Juni reist der Präsident nach Luneville
und Toul und nach Paris zurück.
Von auswärtigen Gästen sind, soviel verlautet, einige belgische,
luxemburgische und schweizerische Turnvereine angemeldet. Eine her-
vorragende Rolle werden die Sokols, tschechische Turner, spielen, von
denen einige vierzig erwartet werden und als bekannte Deutschenhasser
eine besonders warme Aufnahme finden sollen. Herr Loubet soll
übrigens einem Interviewer gesagt haben, von diesen Sokols seien
nur einige wenige des Französischen mächtig, chauvinistische Kund-
gebungen derselben daher nicht besonders zu befürchten. Was sie in
unverständlicher Sprache etwa schreien würden, sei gleichgültig.
Die Nanziger Studenten verzeichnen bis jetzt nur magere Zusagen.
Von auswärtigen Hochschulen wollen Cambridge, Lüttich, Brüssel, Lau-
sanne und Neufchätel Delegierte schicken.
Inzwischen ist nun das Fest in Nancy infolge der Erörterungen
der deutschen und der französischen Presse zu einem Ereignis ge-
worden, auf welches die öffentliche Meinung mit einer gewissen Ängst-
lichkeit achtet. Die deutsche Presse, so berechtigt sie auch gewesen
ist, auf das chauvinistische Treiben der Turner und Studenten und die
feierliche Weihe, welche dasselbe durch den Besuch des Präsidenten
zu erhalten scheint, hinzuweisen, ist doch vielleicht in der Beurtei-
lung der ganzen Sache etwas zu weit gegangen i. Es ist nicht aus dem
Auge zu verlieren, daß ein Besuch des Präsidenten in den Ostdeparte-
ments schon seit Jahren geplant war, und wenn es auch vom Stand-
punkt der deutsch-französischen Beziehungen aus nicht unbedenklich
erscheinen mochte, denselben mit dem Turnfest zusammenfallen zu
lassen, so läßt sich doch vom praktischen Standpunkt der Bevölkerung
aus erklären, daß ihr das Zusammenfassen mehrerer festlicher Ver-
anlassungen erwünscht war. Auch mag der Regierung der Gedanke
vorgeschwebt haben, daß die Anwesenheit des Staatsoberhauptes
manchen chauvinistischen Neigungen die Spitze abbrechen und die
Feststimmung in neutraler Weise ablenken würde.
Die etwas scharfen Bemerkungen einiger deutscher Blätter haben
das Unangenehme gehabt, daß die französische Presse dieselben noch
weit schärfer erwidert. Dieselbe braust gegen diese „Einmischung in
innere französische Dinge" gewaltig auf und beschuldigt die deutsche
Presse des Suchens nach einer Störung der seit einiger Zeit eingetrete-
nen ruhigeren Beziehungen. Sie führt dabei, wie so häufig, einen un-
ehrlichen Kampf, indem sie gegen Behauptungen auftritt, die nicht
aufgestellt wurden, oder indem sie die Tatsachen entstellt und ver-
dreht. So übergeht sie die chauvinistischen Treibereien der Turner
319
und Studenten mit glattem Schweigen und läßt nur die Reise des
Präsidenten an die Ostgrenze als den Punkt erscheinen, auf den sich
die deutschen Angriffe richteten. Daran schließen sich dann Ver-
gleiche zwischen dem Auftreten des Präsidenten Carnot und den er-
folgten und bevorstehenden Besuchen Seiner Majestät des Kaisers
in den Reichslanden 2, das Brüsten mit eigener vornehmer Ruhe, mit
verächtlicher Zurückweisung der „deutschen Herausforderungen" und
dergleichen. Die erbitterte Sprache der hiesigen Presse, worin aller-
dings die ernstere nicht eingestimmt hat, scheint hauptsächlich durch
das Gerücht verursacht gewesen zu sein, daß an Wiedereinführung
des Paßzwanges gedacht werde. Seitdem dieses Gerücht als unbe-
gründet erkannt ist, hat sich der Ärger etwas gelegt, der übrigens
auch der Aufdeckung und Durchkreuzung der eigenen Zirkel entsprun-
gen sein mag. Vie. leicht ist es auch der Presse darum zu tun, schon
jetzt Stimmung gegen die Reise Seiner Majestät des Kaisers in die
Reichslande zu machen oder auch großen Lärm zu machen, um hinter-
her sagen zu können: „Seht, so ruhig haben sich trotz der deutschen
Aufreizungen die Feste in Nancy vollzogen, so würdig und friedlich
hat der Präsident gesprochen."
Das Gute hat die Preßfehde immerhin gehabt, daß sie die öffent-
liche Meinung und die öffentlichen Gewalten einigermaßen darüber
belehrt hat, was man bei uns über das Fest in Nancy denkt, und
sie veranlaßt hat, auf Dämpfung der chauvinistischen Wallungen sorg-
sam bedacht zu sein. In dieser Beziehung scheint die Regierung Ver-
säumtes nachgeholt und die Turner und Studenten zu ruhiger Haltung
angewiesen zu haben. In dem bereits erwähnten Interview, das bis
jetzt kein Dementi erfahren, und das ich in einem Zeitungsausschnitt
hier gehorsamst beifüge, hat der Konseilpräsident das bekannte Rund-
schreiben der Studenten vorsichtig getadelt und sich für ruhigen Ver-
lauf der Festtage verbürgt. Sehr unglücklich jedoch ist die Äußerung
des Herrn Loubet, daß peinliche Zwischenfälle infolge Anwesenheit
deutscher Offiziere in Nancy nicht zu befürchten seien, da die Trup-
pen in Elsaß-Lothringen während der Festtage konsigniert seien.
Mir gegenüber hat noch keine hiesige politische Persönlichkeit
das Fest in Nancy und die damit zusammenhängende Preßerregung
berührt, und meinerseits vermeide ich es gleichfalls, die Rede auf
dieses Thema zu bringen, um so mehr, als mir in der hiesigen Presse
bereits Remonstrationen angedichtet worden sind. Münster
Nachschrift
Paris, den 25. Mai 1892
Herr Ribot, den ich soeben an seinem Empfangstage besuchte,
hat dabei zum ersten Male die Rede auf das Turnfest in Nancy ge-
bracht. Er bedauerte lebhaft die erregte Preßkampagne und sagte mir,
320
daß die Regierung bemüht sei, beruhigend auf die hiesige Presse zu
wirken, und dankbar wäre, wenn bei uns das auch geschähe 3. Er gab
mir die Versicherung, daß die Regierung sich für einen durchaus
ruhigen Verlauf der Feste in Nancy verbürge, sie habe in dieser
Beziehung die strengsten Weisungen an die dortigen Behörden er-
gehen lassen. Es sei ein bedauerlicher Umstand, daß das Rundschreiben
der Studenten, das nur an Private in Frankreich versandt worden sei,
durch eine Indiskretion bekannt geworden sei.
Meinem österreichischen Kollegen gegenüber hatte sich Herr Ribot
kurz zuvor ähnlich ausgesprochen. Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Das hat wohl Freycinet gesagt!!
2 aber! bin ja gar nicht dagewesen!*
3 bei uns ist keine Erregung.
Nr. 1582
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 67 Paris, den 26. Mai 1892
Antwort auf Telegramm Nr. 40**.
Herr Ribot erkannte an, daß es besser sein würde, wenn die
Exkursion nach Gerardmer unterbleibe, und wolle er deshalb mit
seinen Kollegen Rücksprache nehmen. Finde sie aber statt, so würde
französische Regierung alle Maßregeln treffen, um jeden Unfug oder
Konflikt an der Grenze energisch zu verhindern. Die Anwesenheit der
Tschechen ist der hiesigen Regierung selbst sehr unangenehm.
Münster
Nr. 1583
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 70 Paris den 26. Mai 1892
Soeben suchte mich Herr Freycinet auf und sagte mir, daß er es
bedaure, daß der Reise des Präsidenten nach Nancy von der Presse
eine Bedeutung beigelegt werde, welche sie nicht habe; sie sei schon
voriges Jahr geplant worden. Er habe durch die Ostbahndirektion
gehört, daß ein Ausflug an unsere Grenze beabsichtigt sei, er werde
einen anderen von unserer Grenze abliegenden Ausflug vorschlagen.
* In der Tat war Kaiser Wilhelm II. seit seinem Besuch in Straßburg am 21. August
1889, der erst anläßlich der Kaisermanöver im September 1893 wiederholt wurde,
nicht in den Reichslanden gewesen.
•** Siehe Nr. 1580.
21 Die Große Politik. 7. Bd. 321
Alles, was von militärischen Maßregeln gesagt werde, sei vollständig
unbegründet, und um das zu zeigen, habe er es abgelehnt, den Präsi-
denten zu begleiten. Münster
Nr. 1584
Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 25. Mai 1892
Das Auswärtige Amt ersuche ich, mir baldigst eine Denkschrift
darüber vorzuhgen, welche Mittel uns zur Verfügung stehn, um, falls
in Nancy Ausschreitungen stattfinden, welche wir nicht ruhig hin-
nehmen können, Frankreich unser Mißfallen zum Bewußtsein zu bringen,
ohne den Krieg zu erklären. Von denjenigen Mitteln, welche in Elsaß-
Lothringen anwendbar sind, ist abzusehen. Auch bitte ich um Aus-
kunft darüber, welches die letzten Fälle von Abberufung deutscher
oder preußischer Gesandter gewesen sind und aus welchen Anlässen.
V. Caprivi
Nr. 1585
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift*
Berlin, den 26. Mai 1892
Ausschreitungen bei Gelegenheit des Nancyer Turnfests, welche
wir nicht ruhig hinnehmen können, würden meo voto nur solche sein,
bei denen die Regierung oder Beamte und Olfiziere direkt beteiligt
sind, bzw. solche, welche letztere stillschweigend geschehen lassen,
obwohl sie sie hätten unschwer hindern können. Im letzteren Falle
wird man nicht zu streng sein dürfen, weil der Nachweis, die Regie-
rung hätte die Ausschreitung hindern können, schwer zu führen sein
wird. In Frankreich und in Rußland sind Ausschreitungen genug vor-
gefallen, ohne daß sie weitere Konsequenzen gehabt hätten. Man
wird die Ausdehnung und die Folgen in Rechnung ziehen müssen, wenn
man irgendwelche Reklamationen an solche chauvinistische (stillschwei-
gend geduldete) Ausschreitungen knüpfen will.
Anders, wo eine tatsächliche Beteiligung oder ganz offenbare
Konnivenz amtlicher Organe vorliegt. Hiergegen würden je nach dem
Grade der Ausschreitung, der Bedeutung der Beteiligten und der
sonstigen Haltung der maßgebendsten französischen Behörden folgende
Mittel, Frankreich unser Mißfallen zu bezeugen, zu Gebote stehen:
* Nach einem Entwurf von der Hand des Vortragenden Rats Raschdau.
322
1. Amtliche Besprechung der Sache durch den Kaiserlichen Bot-
schafter mit verschiedenartiger Einleitung, sei es durch einfachen Hin-
weis auf den Vorfall, sei es durch eine Anfrage, ob derselbe tatsächlich
so liege, wie berichtet, sei es durch eine bestimmte Reklamation gegen
die Schuldigen. Je nach der Form kann schon die Anfrage, ob der
Fall so liege, zu bedenklichen Weiterungen führen, insbesondere von
der öffentlichen Meinung sehr ernst aufgefaßt werden. Je nach der
Schwere des Falls kann hier die ganze Tonleiter diplomatischer Mittel
in Frage kommen.
2. Führen diese zu keinem Erfolge, so würde zu erwägen sein,
ob unser Mißfallen sich in einer Beurlaubung des Botschafters (über
deren Grund kein Zweifel bestehen würde) aussprechen solle. Hier-
mit könnte je nach Umständen Hand in Hand gehen ein „Schneiden"
des hiesigen französischen Botschafters. Man würde sich auf die lau-
fenden Geschäfte durch den ältesten Beamten der Botschaft beschränken
können. So war z. B. während des Karolinenstreits vom Fürsten Bis-
marck in Aussicht genommen, als die Sprache der Presse eine immer
maßlosere geworden, daß Graf Solms in Madrid um Urlaub telegra-
phisch einkommen solle.
3. Eine weitere, wegen ihrer äußeren Formen aber erheblich
schärfere Maßregel wäre die Abberufung des Botschafters oder deren
Androhung. Die öffentliche Meinung faßt einen solchen Schritt als
den Vorläufer einer Kriegserklärung auf, und die Wirkung auf die
Gemüter wird demgemäß in Rechnung zu ziehen sein, auch v/enn
keine Kriegsabsichten bestehen. Die Maßregel oder deren Androhung
wird dann den gewünschten Zweck erreichen, wenn dem anderen
Teil vor den letzten Konsequenzen bangt. Als im Jahre 1888 im deut-
schen Paßburcau in Paris von einem Franzosen Schüsse abgefeuert
wurden*, drohte Fürst Bismarck mit der Abberufung der Botschaft
und erreichte damit, daß Herr Goblet, der zuerst allerhand Ausflüchte
machte, und Herr Herbette hier die verlangte Satisfaktion gewährten.
Andere Fälle von Androhungen der Abberufung der deutschen
diplomatischen Vertretung aus neuster Zeit (mit friedlichem Ausgange)
sind mir nicht gegenwärtig.
Die Abberufung des Botschafters in Konstantinopel im Jahre 1877
* Vgl. über diesen Vorfall die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" vom 5. Sep-
tember 1888. Der Fall, der von Bismarck zunächst sehr ernst genommen wurde
und zu der Weisung nach Paris Veranlassung gab, daß „die Botschaft ihre Ge-
schäfte würde einstellen müssen, wenn ihr weder Satisfaktion noch Sicherheit
würde", fand dadurch Erledigung, daß der Täter Gasnier, der durch das Attentat
einen Kriegsfall zwischen Deutschland und Frankreich provozieren zu wollen er-
klärt hatte, für verrückt erklärt und in ein Irrenhaus gesperrt wurde.
Darauf, und nachdem der Botschafter Herbette am 8. Oktober noch einmal das
Bedauern seiner Regierung ausgesprochen hatte, ließ Bismarck am 9. Oktober das
Auswärtige Amt dahin anweisen, „daß der Fall Gasnier nicht weiter urgiert,
sondern einfach fallen gelassen werde".
21- 323
und die Entfernung des Gesandten in Athen in den achtziger Jahren
gehören nicht wohl hierher. Es handelte sich damals darum, gewisse
gemeinschaftliche Beschlüsse der Mächte gegenüber der Halsstarrig-
keit der Pforte und Griechenlands durchzusetzen, und wir operierten
dabei im Konzert der Mächte. Marschall
Randbemerkung des Grafen von Caprivi:
Bitte um Auskunft, was auf Seite 3 mit „der ganzen Tonleiter diplomatischer
Mittel" gemeint ist. Es war gerade mein Wunsch, diese Mittel kennenzulernen;
ich finde aber statt einer ganzen Tonleiter hier nur zwei: Beurlaubung und Ab-
berufung des Botschafters. v. Caprivi 30/5.
Nr. 1586
Der Reichskanzler Graf von Caprivi an Kaiser Wilhelm IL,
z. Z. in Prökelwitz
Ausfertigung
Berlin, den 27. Mai 1892
Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät beehre ich mich
bezüglich des demnächst in Nancy veranstalteten Turnfestes allerunter-
tänigst folgendes vorzutragen:
Die Absicht, in der ersten Hälfte des Juni in Nancy ein großes
Turnfest zu feiern, war bereits seit längerer Zeit bekannt, ohne in
Deutschland besonders bemerkt zu werden. Nur in Elsaß-Lothringen
wurde dem Vorgange wegen seiner Rückwirkung auf gewisse unruhige
Elemente eine größere Bedeutung beigelegt. Vor vierzehn Tagen aber
wurde ein Zirkular von Studenten der Nancyer Universität bekannt, in
welchem zu Beiträgen für die Festkosten aufgefordert wurde und dem
Feste eine „nationale" und spezifisch „elsaß-lothringische" Bedeutung
vindiziert wurde. Ausdrücklich wurde dabei hervorgehoben, daß alle
Universitäten „mit Ausnahme der deutschen" eingeladen würden. Seit-
dem wurde die Angelegenheit in der deutschen Presse lebhafter be-
sprochen und angegriffen, worauf in den französischen Blättern chau-
vinistischer Richtung sehr heftig, in den gemäßigteren und der Re-
gierung nahestehenden mit dem Bestreben, dem Feste seine anti-
deutsche Tendenz abzustreiten, erwidert wurde. Jedenfalls war es
den Nancyer Komitees geglückt, der Frage eine politische Bedeutung
zu verleihen und den in letzter Zeit in Frankreich weniger hervor-
tretenden Revancheideen neue Nahrung zuzuführend Die Zusage einiger
tschechischer, belgischer und luxemburger Turnvereine, das Fest zu
besuchen, verfehlte nicht, den jugendlichen Enthusiasmus in Nancy
weiter zu schüren.
In das Festprogramm war unter anderem eine Exkursion der
Turner nach Gerardmer, einer in der Richtung des Münstertales am
324
jenseitigen Abhänge der Vogesen gelegenen Örtlichkeit in unmittel-
barer Nähe der deutschen Grenze, aufgenommen. Euerer Majestät
Statthalter in Elsaß-Lothringen ließ die Frage anregen, ob es geratener
scheine, polizeiliche oder militärische Vorkehrungen diesseits der hier
über einen hohen Berg und Aussichtspunkt, den Hohneck, führenden
Grenze zu treffen oder ruhig abzuwarten, wie die Sache verlaufen
werde. Touristen verkehren auf diesem Berge oft, es laufen Fußwege
neben der Grenze her, Wohnungen sind auf deutscher Seite nicht in
der Nähe. Reeller Schaden kann schwerlich geschehen, und wäre
eventuell von Regierung zu Regierung hierüber zu verhandeln, immer-
hin aber kann es zu Exzessen kommen. Ich habe infolge davon den
Grafen Münster ersucht, die Angelegenheit bei der französischen Re-
gierung zur Sprache zu bringen und sie zu fragen, ob sie die Sorge
für die Respektierung unserer Grenze übernehmen wolle. Das be-
bezügliche Telegramm* gestatte ich mir zu Euerer Majestät allergnä-
digster Kenntnisnahme beizufügen, ebenso wie die beiden hierauf ein-
gegangenen Meldungen des Grafen Münster**. Es geht aus letzteren
hervor, daß die französische Regierung sich verbindlich macht, jeden
Unfug oder Konflikt an der Grenze energisch zu verhindern, falls es
etwa — gegen ihren Willen und ihre Bemühungen — doch noch zu
dem geplanten Ausfluge kommen sollte. Angesichts dieser formellen
Zusage erscheint es angezeigt, von außergewöhnlichen Vorkehrungen
an der Grenze, welche geeignet sein könnten, den Exzedenten ein
willkommenes Objekt zu schaffen, was ohnedem wahrscheinlich fehlen
würde, diesseits Abstand zu nehmen 2, und ich glaube Euerer Majestät
allergnädigster Zustimmung sicher zu sein, wenn ich den Fürsten
Hohenlohe dementsprechend mit Mitteilung versehen habe.
G. v. Caprivi
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Das wird die Hauptsache gewesen sein
* ja
Nr. 1587
Der Geschäftsträger in Paris von Schoen an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Entzifferung
Nr. 131 Paris, den 30. Mai 1892
Die Erregung der Presse aus Anlaß der Feste in Nancy hat sich
gelegt, nachdem man sich nicht weiter der Erkenntnis verschließen
• Siehe Nr. 1580.
** Siehe Nr. 1582 und 1583.
325
kann, daß die Klagen über deutsche Herausforderung und unbefugte
Einmischung in innere französische Dinge sich nicht begründen lassen.
Wenn die Presse ihren Rückzug mit der kühnen Behauptung zu ver-
decken sucht, daß die deutschen Angriffe an der würdigen Haltung
auf französischer Seite kläglich gescheitert seien, und dem französischen
Zeitungsleser nun doch die Meinung bleibt, daß der Deutsche Händel
gesucht habe, so können wir das wohl mit Gleichmut hinnehmen.
Auch die Turner, Studierenden und Einwohner von Nancy verwah-
ren sich jetzt in mannigfachen Preßmitteilungen dagegen, jemals an
deutschfeindliche Kundgebungen gedacht zu haben, kurz es kommt
allgemein das Gefühl zur Geltung, daß vorsichtige Zurückhaltung am
Platze sei.
Bei dieser Stimmung ist auch bis jetzt die Nachricht, daß die
österreichische Regierung den Sokol die korporative Teilnahme an
den Festen in Nancy untersagt habe, mit stiller Resignation aufgenom-
men worden.
Vereinzelte Hetzblätter versuchen es, das erlöschende Feuer wie-
der anzufachen, indem sie die Regierung wegen ihrer angeblich demü-
tigenden Rücksichtnahme auf deutsche Empfindlichkeiten angreifen. So
wird dieselbe heute beschuldigt, aus Erwägungen der äußeren Politik
die Parade in Nancy abbestellt zu haben. Was an der Sache ist, läßt
sich noch nicht erkennen, vorläufig scheint es jedoch, daß es sich
lediglich um eine rein praktisch begründete lokale Verlegung der
Truppenschau handele.
v. Schoen
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Das kalte Wasser hat genützt! doch das Eis aus Kiel wird noch besser ab-
kühlen.
Nr. 1588
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 141 Paris, den S.Juni 1892
Der Präsident Carnot ist gestern abend von seiner Reise nach
Nancy und den östlichen Provinzen, wie ich höre, sehr befriedigt
zurückgekehrt.
Der Franzose hat eine Leidenschaft für solche öffentliche Feier-
lichkeiten, liebt es, eine hochstehende Persönlichkeit zu feiern, und
begeistert sich für den Pseudomonarchen ebenso, als ob es ein wirk-
licher wäre.
326
Herr Carnot selbst beginnt, es zu lernen, den Monarchen zu
spielen.
Alle diese Feierlichkeiten so nahe an unserer Grenze hätten leicht
zu unangenehmen Demonstrationen führen können, und waren sie
deshalb nicht ganz ungefährlich. Der Präsident Carnot selbst und auch
die Minister fühlten das, und von ihrer Seite ist auch alles geschehen,
um jede Unannehmlichkeiten mit uns zu vermeiden.
Sowie ich darauf aufmerksam machte, daß die projektierte Turner-
fahrt bis hart an unsere Grenze unerwünscht sei, wurde sie sofort
inhibiert und mehr nach dem Innern verlegt.
Wenn auch die Presse zu hetzen versuchte, so hat der gegenüber
die Regierung allen ihren geringen Einfluß angewandt, um sie zu
mäßigen.
Die Anreden an den Präsidenten und seine Antworten waren
vorher sorgfältig vorbereitet worden und sind auch so ruhig gehalten
als nur zu erwarten war.
Es wurde sogar unter der Hand der mäßige Gebrauch russischer
Fahnen anempfohlen.
Ob es wahr ist, daß der Großherzog von Luxemburg wirklich
hat nach Nancy gehen wollen, und daß auch in Brüssel Schritte getan
sind, um die Absendung einer Mission nach Nancy zu verhindern,
habe ich nicht feststellen können: die offiziöse Presse behauptet es.
Alles würde sehr ruhig und ohne jede Demonstration verlaufen
sein, wenn nicht durch den ebenso unerwarteten als taktlosen Besuch
des Großfürsten Konstantin die Gemüter in Aufregung gebracht wor-
den wären.
Nach meiner Überzeugung ist der Präsident Carnot wirklich durch
diesen Besuch überrascht worden i, und es steht sogar fest, daß er
versucht hat, denselben zu verhindern, indem er auf das erste Tele-
gramm des Großfürsten, welches er ganz unerwartet um zehn Uhr
morgens erhielt, ihm antwortete, daß er ihm die lange Eisenbahnfahrt
— es ist eine Fahrt von 3^2 Stunden — nicht zumuten wolle, den
Großfürsten bitte, sich nicht zu bemühen, ihn aber, wenn er darauf
bestehe, um 4^/^ Uhr empfangen werde.
Um zwei Uhr traf eine Depesche ein, welche die Ankunft des
Großfürsten auf 3 1/2 ankündigte. Durch Indiskretion der Telegraphen-
beamten wurde es bekannt, und sofort sammelte sich ein großer Volks-
haufe und viele Studenten vor dem Bahnhofe, und wurde eine ziemlich
wilde Demonstration improvisiert, russische Fahnen, Fahnen mit„Alsace-
Lorraine'' wurden geschwenkt und vor dem Großfürsten vorgetragen
und aus vollem Halse „Vive la Russie!" „Vive l'Alsace-Lorrainel"
geschrien.
Der Großfürst konnte nur mit Mühe auf die Präfektur gelangen.
Präsident Carnot, der sein Programm ausführte und sich nicht
^ 327
stören ließ, war nicht dort, und mußte der Großfürst ^4 Stunden
auf ihn warten.
Die Demonstration, welche der Großfürst hervorrief, war die
einzige wirklich deutschfeindliche auf der ganzen Reise.
Die böhmischen Sokols haben nicht den Effekt gemacht, den sie
erwarteten, haben einige dumme Reden gehalten und veranlaßt, sind
aber im ganzen ziemlich unbemerkt geblieben.
Die gesamte französische Presse sieht in dem Besuch des Groß-
fürsten ein zweites Kronstadt und sucht darin Trost für den Besuch
in Kiel und nimmt allgemein an, daß dieser Besuch auf ausdrücklichen
Befehl des Zaren unternommen worden sei.
So unwahrscheinlich es auch scheinen mag, daß der Großfürst
ohne Einwilligung* oder Befehl seines Kaisers nach Nancy gegangen
ist, so bin ich doch sehr geneigt, es anzunehmen i.
Den Kaiser von Rußland halte ich einer solchen Taktlosigkeit in
dem Augenblicke, wo er nach Kiel unterwegs war, nicht für fähig^.
Die Großfürsten sind, wenn sie in Frankreich losgelassen worden,
immer les enfants terribles, und das gefährlichste Kind der Art ist
Mohrenheim, der eigentlich kein Kind mehr sein sollte.
Ich führte gestern abend bei einem großen offiziellen Diner bei
Lord Dufferin Frau von Mohrenheim zu Tisch und habe aus ihren
Äußerungen entnehmen können, daß ihr Mann sehr erfreut und stolz
über den Coup ist, den er ausgeführt hat 3.
Er hat geglaubt, die sehr abgeblaßten Erinnerungen von Kronstadt
wieder neu beleben und auch seinen sinkenden Kredit wieder heben
zu sollen*.
Gestern sah ich mehrere der französischen Minister, die mir alle
sagten, daß, wie sie es mir vorher gesagt hätten, alles auf der Prä-
sidentenreise gut und ohne Zwischenfall verlaufen sei.
Einer der Minister ging sogar weiter und sagte: „Le seul incident
un peu regrettable a ete la visite du Grand-Duc Constantion ä laquelle
ni le President ni un ministre ne s'attendaient et qui a donne lieu ä
des demonstrations que nous ne voulions certes pas, mais les Grands-
Ducs ont la passion de fourrer leur nez lä oü ils n'ont rien ä faire ^Z*
Um seine Franzosenliebe noch mehr zu zeigen, ist der Großfürst
Konstantin am anderen Tage nach Domremy gefahren, wo Jeanne
d'Arc gefeiert wird, und ließ sogar seinen Adjutanten an einer Pro-
zession teilnehmen.
Uns kann das alles schon recht sein, denn die Franzosen lächeln
schon selbst, und viele fühlen, daß sie mit Sicherheit doch nicht auf
* Die Einwilligung des Zaren war allerdings eingeholt und erteilt worden. Vgl.
Kap. L, Nr. 1636, S. 409, Fußnote *♦,
328
die Russen rechnen können. Je weiter der Krieg hinausgeschoben
wird, je mehr wird dieses Mißtrauen wachsen 6.
Münster
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ja
2 Nein
3 da haben wir die Bestätigung
* Hauptsache für ihn
5 bravo! das muß in diskreter Manier Schweinitz in Petersburg verwenden
6 ja
Nr. 1589
Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi*
Eigenhändig
Berlin, den 19. September 1892
, Wenn die Kolonialabteilung, ohne Mehrforderungen zu stellen, die
Mittel zur Entsendung des Dr. Preuß hat, so habe ich nichts dagegen ;
ut quid fiat, ohne mir aber einen nennenswerten Erfolg davon zu ver-
sprechen.
Einen förmlichen Protest bei der französischen Regierung zu er-
heben, halte ich nicht für rätlich, wünsche aber, daß unsere Auffassung
Frankreich gegenüber gelegentlich zum Ausdruck gelangt.
Solange wir die Abrechnung über Elsaß-Lothringen noch vor uns
haben, werden wir gut tun, Situationen zu vermeiden, die, um frag-
würdigen kolonialen Besitzes wegen, zu Verwickelungen mit Frank-
reich führen können, bei denen die Stellung unserer Bundesgenossen
und vollends Englands mindestens ungewiß wäre. Kommt es zum
Kriege am Rhein, so entscheidet dessen Erfolg über die Kolonien
mit; siegen wir, so werden wir die Auswahl haben, werden wir ge-
schlagen, so ist es mit unserer Kolonialpolitik überhaupt zu Ende. Sehr
viel wird bei dem Zukunftskriege auf die mise en scene ankommen,
ich wüßte aber kaum eine unglücklichere, wie wenn der Schauplatz
des ersten Aktes Adamaua wäre. Daraus folgere ich, daß es auch
im vorliegenden Fall gut sein wird, Händel mit Frankreich zu ver-
meiden, auf die letzten Mittel der großen Politik nicht zu rechnen
und unsere Ziele mit unseren zurzeit verfügbaren kolonialen Mitteln
in Einklang zu halten.
* Mitte September 1892 legte die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes dem
Reichskanzler Grafen von Caprivi eine „Denkschrift betreffend die Frage der
Sicherung des Hinterlandes von Kamerun" gegenüber neuerdings von französischer
Seite erhobenen Ansprüchen vor. Es wurde darin angeregt, gegen das französische
Vorgehen in aller Form zu protestieren, die deutschen Ansprüche aber durch Ent-
sendung einer deutschen Expedition etwa unter Führung des Botanikers Dr. Preuß
zu stützen.
329
Ich bitte also, unsere Ansprüche in Afrika Frankreich gegenüber
auf diplomatischem Wege so gut zu wahren, als es ohne einen Kon-
flikt zu provozieren, möglich sein wird.
V. Caprivi
Nr. 1590
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 29 Paris, den 18. Januar 1893
Die Presse fährt fort, die Vertreter der Tripelallianz zu beschul-
digen, daß die Angriffe gegen Baron von Mohrenhüim in der Panama-
sache von ihnen ausgingen*. Heute wird Graf Hoyos** sogar aus-
drücklich genannt und wegen seiner Beziehungen zu dem ausgewiese-
nen ungarischen Korrespondenten angegriffen. Ich werde Herrn De-
velle*** darauf aufmerksam machen, daß diese Angriffe auf die Ver-
treter der Tripelallianz unmöglich geduldet werden können, und daß,
sollten irgend Anspielungen auf meine Person dabei vorkommen, ich
die Sache sehr ernst nehmen würde.
Münster
Nr. 1591
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Paris Grafen Münster
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 9 Berlin, den 19. Januar 1893
Antwort auf Bericht Nr, 10 und Telegramm Nr. 29 t.
Euer pp. sind ermächtigt, in dem Augenblicke, der Ihnen geeignet
erscheint, zu erklären, daß die monarchischen Kabinette zu erwägen
* Seit Mitte November 1892 hielt die Panama-Affäre ganz Frankreich in Atem.
Der innerpolitische Skandal, in dessen Rückwirkung das Ministerium Loubet-Ribot
Anfang Dezember in ein Ministerium Ribot-Loubet, und dieses wieder Mitte Januar
1893 in ein Ministerium Ribot-Develle umgewandelt wurde, drohte dadurch eine
außenpolitische Wendung zu nehmen, daß seit Mitte Januar in den französischen
Blättern Andeutungen erschienen, als ob der russische Botschafter von Mohrenheim
in die Affäre verwickelt sei. Durch die von der französischen Regierung verfügte
Ausweisung eines ungarischen Korrespondenten Szekely und eines deutschen
Journalisten von Wedel, welche die Andeutungen der französischen Zeitungen
weitergegeben hatten, wurde die französische Presse zu Angriffen gegen die Ver-
treter des Dreibundes verleitet, als ob diese die Verdächtigungen gegen Mohren-
heim inszeniert hätten.
** Österreich-ungarischer Botschafter in Paris.
*** Minister des Äußern im Kabinett Ribot-Develle.
t Siehe Nr. 1590.
330
haben werden, ob Botschafter als Vertreter der Person des Sou-
veräns in einem Lande verbleiben können, in welchem sie Angriffen
auf ihre Ehre und Geschäftsführung schutzlos preisgegeben sind.
Euer pp. Ermessen überlasse ich, Ihren Kollegen Kenntnis von
diesem Telegramm zu geben.
* Marschall
Nr. 1592
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 33 Paris, den IQ. Januar 1893
Habe, bevor Telegramm Nr. 9* eingegangen, durch Herrn von
Schoen, da selbst noch nicht ausgehen kann, dem Ministerium des Aus-
wärtigen Erklärungen im Sinne meines Telegramms Nr. 29 geben lassen.
Develle bedauert lebhaft die ganz ungerechtfertigten Preßangriffe gegen
Tripelallianz und Verdächtigungen gegen Botschafter, die nicht zu
dulden seien, Regierung hoffe, bald durch Novelle zum Preßgesetz
Waffe gegen derartige Ausschreitungen zu erlangen. Inzwischen werde
sie andere Maßregeln erwägen, um Preßorgane gegen Dreibund zum
Stillstand zu bringen. Die für offiziös gehaltene Note des „Temps"
von Montag über Ausweisung von Journalisten des Dreibundes sei
nicht im Sinne der Regierung redigiert und von ihr getadelt.
Develle will mich heute oder spätestens morgen besuchen. Je
nach seinem Verhalten werde von der Ermächtigung in Telegramm
Nr. 9 Gebrauch machen.
Münster
Nr. 1593
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 36 Paris, den 22. Januar 1893
Minister Develle war längere Zeit bei mir. Er wiederholte sein
Bedauern wegen der schamlosen Angriffe auf die Botschafter der
Tripelallianz. Er erkannte an, daß es die Pflicht der Regierung sei,
sie gegen solche Angriffe zu schützen und versprach, es mit aller
Energie tun zu wollen. Spätestens morgen solle. eine offiziöse Erklä-
rung der Regierung im „Temps" erscheinen. Er sei überzeugt, daß
Siehe Nr. 1591.
331
keine Angriffe weiter erfolgen würden. Die Novelle zum Preßgesetz
werde in einigen Tagen in der Deputiertenkammer beraten, und die
Regierung betrachte deren Annahme als gesichert.
Münster
Nr. 1594
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 37 Paris, den 22. Januar 1893
„Temps" enthält in Form von Telegramm aus Wien Desavouierung
der Preßangriffe gegen Dreibundbotschafter. Wie Develle vertraulich
Graf Hoyos vorbereitet hatte, geht diese Entgegnung nicht weit genug,
Regierung könne augenblicklich eine direkte offizielle Note durch
Agence Havas nicht geben, ohne sofort peinliche Interpellation hervor-
zurufen. Sie werde aber bei Debatte über Preßgesetznovelle weit-
gehende befriedigende Erklärungen abgeben. Text der „Temps"-Note
folgt telegraphisch en clair.
Münster
Nr. 1595
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Entzifferung
Nr. 15 Paris, den 23. Januar 1893
pp. Die Furcht vor einer Interpellation rücksichtlich der Angriffe
auf die Tripelallianz hat Herrn Ribot verhindert, gleich die Erklärung
durch die Agence Havas zu veröffentlichen, die Graf Kälnoky ver-
langte, weil eine solche zu neuen Angriffen in der Presse und zu
einer nicht zu vermeidenden Interpellation geführt haben würde.
Wenn auch die Erklärung, die gestern der „Temps" brachte, un-
genügend ist, so wird es jetzt sehr darauf ankommen, welche Erklärun-
gen bei der Debatte über die Preßnovelle abgegeben werden, und ob
dieselbe angenommen wird.
Die hiesige Regierung hat gesehen, wie ernst dieser Zwischenfall
hätte werden können, und wird jetzt sehr vorsichtig sein.
Wir alle drei Botschafter haben ihr sehr bestimmt erklärt, daß
wir solche Angriffe nicht leiden, und ich würde der allgemeinen Lage
wegen nicht für rätlich halten, die Sache weiterzutreiben.
Übrigens muß ich konstatieren, daß bei allen Angriffen gegen
meine Kollegen gegen mich kein Wort gesagt worden ist.
Ich habe viel darüber nachgedacht, woher der Panamaangriff gegen
332
den Botschafter Baron von Mohrenheim, den ich für ganz unbegründet
halte, weil er der Panamagesellschaft nicht hätte nützen können, ge-
kommen sein kann. Meiner Überzeugung nach sind es die hiesigen
Russen, sowohl die der ersten Gesellschaft als auch der anarchisti-
schen Kreise, welche Baron von Mohrenheim hassen, seine Geld-
verlegenheiten kennen, welche solche Gerüchte verbreiten. Die hie-
sigen Zeitungsschreiber konnten dann nicht widerstehen, sie zu ver-
breiten.
Die Angriffe auf die Tripelallianz und auf Lord Dufferin, der per-
sönlich am stärksten angegriffen wurde, führe ich auf Baron Mohren-
heims Geschwätz zurück. Er hat schon seit längerer Zeit ein ganzes
Arsenal von Phrasen gegen die Tripelallianz und gegen Lord Dufferin
und das englische Geld, welches die französische Presse korrumpiert,
losgelassen, und daß er jetzt diese benutzt haben wird, um sich
gegen die schändlichen Insinuationen und Verdächtigungen zu ent-
schuldigen, liegt auf der Hand.
Daß solche Insinuationen bei Herrn Ribot, der immer fürchtet,
sein Kartenhaus der russisch-französischen Allianz zusammenfallen zu
sehen, dankbaren Boden fand, ist erklärlich.
Develle ist ein sehr verständiger, ruhiger Mann, der aber noch
ganz von Herrn Ribot abhängt. Ich hoffe aber, daß er sich bald in
die Geschäfte hereinarbeitet und dann selbständiger werden wird.
Münster
Nr. 1596
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Kiderlen für den Staatssekretär Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 26. Januar 1893
Der österreichische Botschafter, welcher Euere Exzellenz heute
im Amte aufsuchen wollte, aber nicht antraf, hat mich gebeten. Euerer
Exzellenz mitzuteilen, daß Graf Hoyos nach sehr ernsten Vorstellungen
bei Herrn Ribot vom Minister Develle den Entwurf eines offiziellen
Dementis wegen der gegen Graf Hoyos gerichteten Preßangriffe er-
halten habe. Graf Hoyos habe den Entwurf ad referendum genommen
und telegraphisch nach Wien berichtet. Graf Kälnoky habe sich da-
mit einverstanden und den Zwischenfall für erledigt erklärt, — auch
um dem französischen Ministerium nicht zu große Schwierigkeiten zu
bereiten, da man nicht wissen könne, was sonst in Frankreich passiere.
Kiderlen
333
Nr. 1597
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung'
Nr.6Q Paris, den 5. April 1893
Kein Minister ist nach seinem Falle von der Presse schlechter
behandelt und härter beurteilt worden als Herr Ribot*. Er verdiente
es in vollem Maße.
Euere Exzellenz mögen vielleicht geglaubt haben, daß ich diesen
Minister, als er die auswärtigen Angelegenheiten führte, zu schaH
beurteilte und gegen ihn eingenommen sei. Er war ein schlechter,
demoralisierender Minister für Frankreich, weil ihm jedes Mittel recht
war, um seine politische Rolle zu spielen, gefährlich für das Ausland,
weil er, ohne jede Vorbildung und Kenntnis der auswärtigen Politik,
keinen andern Gedanken fassen konnte, als den der alleinseligmachen-
den russischen Alhanz, und er gegen uns und England einen blinden
Haß besaß, und er alles Üble stets auf den Dreibund zurückführte.
Unkenntnis und dieser Haß konnten bei einem Manne wie Ribot
gefährlich werden, weil er die Tragweite seiner Ungeschicklichkeiten
nicht übersah.
Wo er nur irgend konnte, hat er gegen uns intrigiert, und alle
Schwierigkeiten, die ich hier hatte, waren immer auf ihn zurück-
zuführen, wenn er auch noch so liebenswürdig gegen mich erscheinen
wollte.
Bei dem Besuche Ihrer Majestät der Kaiserin Friedrich hat er,
davon bin ich überzeugt, gehetzt. Die Ausweisung des Korrespondenten
von Wedel**, die Beschuldigung der Tripelallianzbotschafter sowie die
Ausweisung Brandes'*** und die gehässige Ausbeutung dieser Aus-
weisungen sind allein auf Ribot zurückzuführen.
Euere Exzellenz glauben nicht, welche Mühe es gekostet hat,
den Botschafter Herbette zu halten. Ribot wollte jetzt wieder die
Panamaangelegenheit dazu benutzen, fand aber bei Develle, den ich
darauf vorsichtig vorbereitet hatte, Widerstand.
* Am 30. März war das Kabinett Ribot zu Fall gekommen; an seine Stelle war
das Kabinett Dupuy getreten, in dem Develle von neuem das Äußere übernahm.
♦♦ Vgl. Nr. 1590, Fußnote *.
*** Ende März 1893 war auch der Korrespondent des „Berliner Tageblatts" Brandes
von der französischen Regierung ausgewiesen worden. Bei seiner Abreise wurde
er in Asnieres von einem Volkshaufen beschimpft und mit Steinen beworfen.
Vgl. den scharfen Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", der die an-
läßlich der Ausweisung der beiden deutschen Korrespondenten v. Wedel und
Brandes wieder zutage getretene landläufige französische Deutschenhetze brand-
markte.
334
Er fühlte zuletzt selbst, daß er sich doch nicht länger halten könne,
und so benutzte er den Konflikt zwischen Deputiertenkammer und
Senat, um eine Kabinettsfrage aus einer Sache zu machen, die es
an sich nicht war. pp. Münster
Nr. 1598
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den französischen Botschafter in Berlin Herbette*
Konzept von der Hand des Dirigenten der Kolonialabteilung Kayser
Berlin, den 15. Juli 1893
[abgegangen am 20. Juü]
Die Verhandlungen über eine Abgrenzung der deutschen und
französischen Interessensphäre in Westafrika sind im Jahre 1890 ohne
Ergebnis verlaufen. Inzwischen haben deutsche und französische Ex-
peditionen jene Länderstrecken durchzogen und dadurch die Aufmerk-
* Hier abgedruckt, weil es von Interesse ist, festzustellen, was übrigens auch von
französischer Seite anerkannt wird (vgl. Rapport de la Commission d'Enquete
sur les faits de la Guerre Vol. I [1919], p. 250), daß die Anregung zu einer Ver-
ständigung zwischen Deutschland und Frankreich über die Interessensphären von
Deutsch-Kamerun und Französisch-Kongo von deutscher Seite ausgegangen ist.
Einen eigentlich politischen Hintergrund hatten die Verhandlungen zunächst nicht
gehabt. Die Notwendigkeit einer Verständigung ergab sich schon daraus, daß das
frühere Abkommen vom 24. Dezember 1385 (siehe dasselbe in: Das Staatsarchiv
Bd. 46 [1886], S. 243 ff.) deutscherseits so aufgefaßt wurde, als ob damit die
deutsche Interessensphäre im Osten von Kamerun ein für allemal bis zum
15. Längengrade, und zwar in der ganzen Ausdehnung von der im Süden verein-
barten Grenzlinie bis nördlich zum Tschad-See festgelegt sei, während die Fran-
zosen dem Abkommen eine so weite Auslegung keineswegs zuerkennen wollten.
Nun konnte sich Deutschland allerdings für seine Absicht, das Hinterland von
Kamerun nordöstlich bis zum Tschad-See auszudehnen, auf das deutsch-englische
Abkommen vom 15. November 1893 stützen, doch war von Paris her gegen
dieses Abkommen, das übrigens auch engiischerseits nicht als eine Anerkennung
der deutschen Hinterlandstheorie gemeint war, sondern dem realen Bestreben ent-
sprang, den französischen Expansionsgelüsten an einer für England besonders
empfindlichen Stelle einen Riegel vorzuschieben, sofort Protest eingelegt worden.
Bei den durch die oben abgedruckte deutsche Note vom 15. Juli 1893 angeregten
Verhandlungen, die durch die Entsendung des Direktors der französischen Kolonial-
abteilung Haußmann und des Kommandanten iVlonteil nach Berlin im Dezember
1893 in Fluß kamen, vermochte denn auch die deutsche Regierung ihre Ansprüche
keineswegs durchzudrücken, sondern mußte sich im Abkommen vom 15. März 1894
(siehe dasselbe in: Das Staatsarchiv Bd. 57, S. 61 ff.) mit einem Ergebnis be-
gnügen, das zwar im Süden das Gebiet des Sanga-FIusses jenseits des 15. Längen-
grades für Deutschland erschloß, dafür aber im Norden die deutschen Ansprüche
im Gebiet des Tschad-Sees auf den Schari-Lauf zurückschraubte.
Daß Deutschland, indem es, ungern genug, Frankreich mit dem Gebiet öst-
lich des Schari die Straße zum Bahr el Ghazal und nach Faschoda freigab, die
Absicht verfolgt habe, Konfliktsmöglichkeiten zwischen England und Frankreich
heraufzubeschwören, wie George Pages im Rapport de la Commission d'Enquete
sur les faits de la Guerre p. 251 mutmaßt, findet in den Akten des Auswärtigen
335
samkeit der öffentlichen Meinung in der Heimat zu erregen gesucht.
Eine Fortsetzung dieser Forschungsreisen, bei welchen jeder Teil be-
müht ist, den anderen auszuschließen, würde mit der Zeit einen Wett-
bewerb herbeiführen, welcher geeignet ist, eine unerfreuliche Einwir-
kung auf die gegenseitigen Beziehungen beider Regierungen auszuüben.
Es dürfte sich deshalb fragen, ob es nicht angezeigt ist, die im Sommer
1890 unterbrochenen Verhandlungen wiederaufzunehmen.
Ich beehre mich, Ew. pp. in der Anlage eine Denkschrift zu über-
senden, welche die deutschen Forderungen näher entwickelt* und
gleichzeitig zum Ausdruck bringt, inwieweit die Kaiserliche Regierung
bereit ist, ihr Entgegenkommen zu bezeugen, falls die Regierung der
Französischen Republik mit ihr eine Beseitigung der bestehenden Streit-
fragen wünscht. Marschall
Nr. 1599
Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Hubertusstock, an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Hubertusstock, den 17. Oktober 1893
Erfahre soeben, daß Marschall Mac Mahon verstorben ist**. Da
derselbe außerordentlicher Botschafter des Kaisers Napoleon bei der
Krönung meines Großvaters war und von der Zeit an mit demselben
in guten Beziehungen gestanden hat, er auch während meines Inkognito-
aufenthalts in Paris im Jahre 1878*** als Präsident der Republik alles
Amts keinerlei Stütze. Im Gegenteil ergibt sich aus ihnen, daß die englische Re-
gierung das ihr sehr unsympathische Abkommen vom 15. März 1894 wiederholt
zum Anlaß nahm, um der deutschen Regierimg ein gemeinschaftliches Vorgehen
gegen Frankreich in In.ierafrika vorzuschlagen: eine Anregung, die deutscherseits
abgelehnt wurde. Vgl. Bd. VIII, Kap. LIV, B, Nr. 2022, 2023, 2025.
Näheres über die zu dem Abkommen vom 15. März 1894 führenden Ver-
handlungen, die hier nicht verfolgt werden können, findet sich in der „Denk-
schrift zum Abkommen vom 15. März 1894": Das Staatsarchiv Bd. 57, S. 66ff.
* Hier nicht aufgenommen, weil von nur kolonialpolitischem Interesse.
** t am 17. Oktober auf Schloß La Forest bei Montargis.
*** Über den Inkognitoaufenthalt des damaligen Prinzen Wilhelm in Paris im Jahre
1878, der sicherlich dem Besuch der französischen Weltausstellung gegolten hat,
geben die Akten des Auswärtigen Amts keine Auskunft. Bismarck hatte damals
auf die vertrauliche Anregung des neuernannten französischen Botschafters Grafen
St. Vallier, „daß möglichst viel höchste Herrschaften aus Deutschland zur Besich-
tigung der Weltausstellung nach Paris kommen möchten", erklärt, die Verantwort-
lichkeit dafür nicht wohl übernehmen zu können (vgl. Bd. III, Nr. 650 nebst Fuß-
note). Auf eine erneute vertrauliche Anregung des Botschafters im Mai erging
laut Notat des Auswärtigen Amts vom 14. Mai die Antwort, „daß französischer-
seits auf einen Besuch der Pariser Ausstellung durch Seine Königliche Hoheit den
Kronprinzen und die Frau Kronprinzessin nicht gerechnet werden könne". Etwas
Authentisches über den Aufenthalt des Prinzen Wilhelm in Paris ist bisher über-
haupt nicht bekannt geworden.
336
I
getan hat, um mir mein Inkognito zu erleichtern, so halte ich es für
angemessen, daß Graf Münster in meinem Namen einen Kranz auf
seinem Grabe niederlegt. Er war ein tapferer Soldat von untadelhafter
Führung und vornehmer Gesinnung, ein Ehrenmann durch und durch.
Die Kranzniederlegung geschieht am besten in La Forest.
Wilhelm LR.
Nr. 1600
Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt von Holstein an den
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall,
z. Z. in Bremen
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Berlin, den 17. Oktober 1893
Seine Majestät hat telegraphiert, daß und aus welchen Gründen
er für angemessen erachtet, daß Graf Münster auf dem Grabe Mac
Mahons im Namen Seiner Majestät einen Kranz niederlege.
Ich habe das Telegramm vollständig weitergegeben mit dem Hin-
zufügen, daß der Botschafter etwaige, aus der jetzigen abnormen Er-
regung der Franzosen* sich ergebende Bedenken Eurer Exzellenz direkt
telegraphieren möge.
Mir schwebte dabei vor, daß dem Könige von Italien, welcher sich
telegraphisch nach dem Befinden des Waffengefährten von König
Viktor Emanuel erkundigt hatte, seitens der französischen Presse die
ärgsten Injurien und Verdächtigungen seiner Motive zugeschleudert
worden sind.
Falls der kaltblütige Graf Münster von einem Schritt, der bei all-
täglicher Stimmung jedenfalls günstig wirken müßte, jetzt abraten
sollte, dann wäre auf das Vorhandensein ernster Bedenken mit Sicher-
heit zu schließen.
Holstein
Nr. 1601
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Abschrift
Nr. 260 Paris, den 18. Oktober 1893
Habe folgendes Telegramm an Marschallin Mac Mahon gerichtet,
da Ort und Zeit der Beisetzung noch nicht bekannt: Duchesse de Ma-
genta, Chäteau la Forest. Sa Majeste l'Empereur d'Allemagne des
* Vom 13. bis 29. Oktober 1SQ3 fand in Erwiderung des Kronstadter Besuchs vom
Jahre 1S91 der Besuch eines russischen Geschwaders in Toulon statt, was Anlaß
zu rauschenden Festlichkeiten und zu hoher nationaler Erregung der französischen
Bevölkerung Anlaß gab. Siehe Kap. XLVII, Nr. 1532 und 1533.
22 Die Große Politik. 7. Bi 337
qu'elle a eu connaissance de la perte cruelle que vous venez de faire
m'a Charge dans une pensee de profonde Sympathie de deposer en son
nom une couronne sur le cercueil du vaillant et noble marechal. En
vous exprimant, Madame la Duchesse, mes sentiments personnels de
plus sincere condoleance je vous prie de bien vouloir me faire connaitre
le jour et l'endroit oü je pourrai avoir l'honneur de m'acquitter de
cette haute mission. Comte de Münster Ambassadeur d'Allemagne.
(gez.) Münster
Nr. 1602
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 262 Paris, den 20. Oktober 1893
Die Russenfeste verlaufen programmäßig unter lebhafter Beteili-
gung der unteren Volksklassen. Regierung und auch der größte
Teil der Presse tut alles, um den Chauvinismus, der doch der ganzen
Sache zugrunde liegt, zu bemänteln und das Friedenshorn zu blasen.
Die kühle Antwort des Kaisers Alexander auf das Telegramm des
Präsidenten Carnot* hat hier sehr unangenehm berührt und ernüch-
ternd gewirkt.
Die Kundgebung unseres allergnädigsten Herrn für den Marschall
Mac Mahon ist hier sehr gut aufgenommen worden.
Einen Artikel des „Matin" darüber schicke ich durch die Post.
Bezeichnend dabei ist, daß dieser nicht allein die Befriedigung Frank-
reichs, aber auch die des Kaisers Alexander betont.
Münster
Nr. 1603
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzhr
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 237 Paris, den 25. Oktober 1893
Der hochherzige Gedanke Seiner Majestät, den verstorbenen Mar-
schall Mac Mahon durch eine Beileidskundgebung zu ehren, hat hier
einen ganz vorzüglichen Eindruck hervorgebracht, der gerade im
gegenwärtigen Augenblick, wo das ganze Volk von einem Taumel
der Freude und eingebildeten Hoffnungen ergriffen ist, besondere Be-
achtung verdient**, pp. Münster
* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1533.
♦* Es folgen sehr ausführliche Mitteilungen über das Leichenbegängnis am 22. Ok-
tober, die hier übergangen werden können.
338
Nr. 1604
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 35 Paris, den 12. Februar 1S94
Daß der Konseilpräsident Casimir Perier* als solcher sehr an
seinem Platze ist, habe ich in einem gestrigen Berichte zu begründen
versucht. Daß er als auswärtiger Minister ebenso tüchtig sein wird,
nehme ich an. Der persönliche und geschäftliche Verkehr mit ihm ist
viel angenehmer als mit allen seinen Vorgängern.
Beide Ämter, Konseilpräsident und Minister des Äußern, sind für
einen Mann aber zu viel, namentlich wenn, wie es Herr Casimir Perier
tut, er die Leitung der Regierung ganz in die Hand nimmt.
Die politische Lage Frankreichs ist doch eine solche, daß der
Leiter der Politik seine ganze Zeit darauf verwenden sollte.
Gerade jetzt ändert sich diese Lage.
Vor der russischen Sonne, welche die Vorgänger im Amte be-
schien, steigen Wolken auf. Unser Handelsvertrag mit Rußland**
kommt für uns zur rechten Zeit, und zur Erhöhung der Oetreidezölle
konnte Frankreich für sich keinen schlechteren Augenblick wählen***.
Wenn auch ein Teil der französischen Industriellen Gewinn aus
unserem Vertrage zu ziehen hofft, so versteht doch die große Mehr-
zahl der Franzosen die politische Tragweite, übersieht die Folgen
besser als anscheinend unsere Agrarier. Die Franzosen verstehen, daß
unser Handelsvertrag eine schlechte Antwort auf Kronstadt und Toulon
ist, und alle Phrasen Mohrenheims — wenn er zurückkehren sollte —
werden das Mißtrauen nicht verwischen, welches hier sich zu zeigen
beginnt.
Daß ein besseres Verhältnis zwischen den beiden großen Nach-
barländern eintreten wird, erwartet man hier, und daß diese Über-
zeugung den Wind aus den Segeln der chauvinistischen Russenfreunde
nimmt, liegt auf der Hand.
Die Haltung eines Teils der russischen Presse und die Schaden-
freude der englischen Presse, die auch versteht, was die Folgen unseres
Handelsvertrages sein werden, verstimmen hier sehr. pp.
Unsere Beziehungen zu Frankreich werden besser, sowie auf Ruß-
land nicht mehr sicher gerechnet wird und die Beziehungen zu Eng-
land und anderen Staaten schlechter werden.
Daß eine wirkliche Verständigung mit Frankreich noch lange nicht
zu erwarten ist, weiß ich und mache mir darüber keine Illusion. Meine
♦ Das Kabinett Casimir Perier hatte Anfang Dezember 1893 das Kabinett Dupuy
abgelöst.
*♦ Vgl. Kap. L, B., Nr. 1666.
»** Vgl. dazu Schultheß' Europäischer Oeschichtskalender Jg. 1894, S. 262.
22- 339
Aufgabe war von jeher eine schwierige: sie bestand und besteht noch
darin, die Winkel abzustumpfen und abzurunden. Durch die Presse
und zur Bismarckschen Zeit wurden auch durch die Regierungen gelbst
diese Winkel oft bedenklich zugespitzt^: sie sind in letzter Zeit stumpfer
geworden.
Wenn wir es dahin bringen könnten, daß die Presse beider Länder
mäßiger würde, so könnte wenigstens der Kriegszustand im Frieden
aufhören. Die Aussichten für den wirklichen Krieg werden geringer.
Wenn Rußland den Krieg nicht will, beginnt ihn Frankreich nicht.
Die Republik befestigt sich. Die gemäßigten Elemente scheinen Ein-
fluß zu gewinnen. Die Furcht vor der Anarchie und dem Sozialismus
hilft dazu. Die eigentliche Kriegs- und Revanchepartei hat entschieden
an Intensität und Einfluß verloren. Ohne Rußland, das immer mehr im
nordischen Nebel verschwindet, ist Frankreich isoliert, führt außerdem
mit Ausnahme von uns Zollkrieg mit allen Ländern.
Die Vorgänge in Afrika sind zur Erhaltung des Friedens günstig,
und gut ist es, daß wir dort zu einer Verständigung gelangt sind*.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
*■ Richtig
Schlußbemerkung des Kaisers:
Völlig einverstanden
Nr. 1605
Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Kiel, an den Botschafter in Paris
Grafen Münster
Telegramm. Entzifferung des vom kaiserlichen Chiffreur an das Auswärtige Amt
gesandten Duplikats
Kiel, den 30. Juni 1894
Wenn Sie morgen bei Gelegenheit der Leichenfeier für Carnot**
meinen Kranz niedergelegt haben, sprechen Sie dem neuerwählten
Präsidenten nochmals meine Teilnahme an dem Schmerz Frankreichs
aus. Zugleich haben Sie demselben zu eröffnen, daß ich zum Zeichen
meines besonderen Wohlwollens ihm und seiner neuen Regierung
gegenüber Befehl gegeben habe, beide französische Spione***, welche
in Kiel vor einem Jahr gefaßt wurden, am Beisetzungstage Carnots
wieder freizulassen. Seine Exzellenz der Reichskanzler ist damit ein-
verstanden. Wilhelm I. R.
* Gemeint ist das seit Anfang 1893 vorbereitete deutsch-französische Abkommen
über Kamerun und Kongo vom 15. März 1894. Vgl. Nr. 1598, Fußnote.
** Am 24. Juni war Präsident Carnot in Lyon von einem italienischen Anarchisten
ermordet worden. Zu seinem Nachfolger wurde am 27. Juni Casimir Perier er-
wählt.
*** Es handelte sich um die beiden französischen Marineoffiziere Degouy und
Delguey-Malavas, die im Dezember 1893 vom Reichsgericht zu 6 bzw. 4 Jahren
Festungshaft verurteilt und seither in Glatz interniert waren.
340
Nr. 1605
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 150 Paris, den I.Juli 1894
Folgendes habe ich an Seine Majestät den Kaiser nach Kiel tele-
graphiert:
Bei der Leichenfeier im Elysee hat mich der Präsident der Re-
publik, dem ich hatte sagen lassen, daß ich ihn im Auftrage Seiner
Majestät zu sprechen wünsche, empfangen in Gegenwart des ganzen
Kabinetts. Nachdem ich nochmals das Beileid Euerer Majestät aus-
gesprochen hatte, teilte ich dem Präsidenten die erfreuliche Nachricht
von der auf so gnädige Weise befohlenen Freilassung der beiden
Spione mit.
Der Präsident gab mir tiefbewegt die Hand und sagte:
„Dites ä Sa Majeste que cet acte de gräce va droit au coeur de la
nation fran^aise.**
Darauf dankte mir der Ministerpräsident im Namen des Kabinetts,^
der Kriegsminister im Namen der Armee, der Marineminister im Namen
der Marine. Der Minister des Äußern sagte:
„Cet acte genereux a une grande portee politique."
Er bat mich im Namen des Präsidenten, dem Leichenzug nicht zu
Fuß zu folgen, denn die Hitze ist erstickend. Ich fahre daher in die
Notre-Dame-Kirche. Münster
Nr. 1607
Der Botschafter in Paris Graf Münster an das Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 151 Paris, den 1. Juli 1894
Für Seine Majestät den Kaiser.
Die Feier ist bei erdrückender Hitze ohne Zwischenfall gut ver-
laufen. Die Begnadigung der beiden Offiziere und die Art und Weise,
wie sie an diesem Tage geschah, hat einen noch größeren Eindruck
gemacht, eine noch größere wirklich aufrichtige Anerkennung gefunden,
als ich selbst erwartete. Wie ich meldete, haben der Präsident der
Republik, der Konseilpräsident im Namen des Kabinetts, der Kriegs-
minister im Namen der Armee, der Marineminister im Namen der
Marine mich gebeten, Euerer Majestät den tiefgefühlten Dank aus-
zusprechen.
Während der Feier im Dom kam der Präsident des Senats* zu
mir und bat mich in seinem Namen und in dem der versammelten Se-
natoren Eurer Majestät ihren wärmsten Dank zu übermitteln.
* Challemel-Lacour.
341
Den Kranz Euerer Majestät hatte ich schon gestern abend auf
Wunsch der Madame Carnot in der Capelle Ardente niedergelegt.
Madame Carnot ließ mir sagen, daß von allen Beileidsbezeugungen
und Telegrammen die Worte Euerer Majestät sie am tiefsten gerührt
haben. Münster
Nr. 1608
Der Botschafter in Paris Graf Münster an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 135 Paris, den S.Juli 1894
Die vielen Beweise der Teilnahme und der Entrüstung, welche
von allen Seiten und von allen Souveränen hier einliefen, haben hier
sehr erfreut. Es haben diese Kundgebungen dem so eminent eitlen
Volke sehr geschmeichelt. Von den Republikanern wird das als eine
Anerkennung und Sanktionierung der Republik angesehen.
Daß die Telegramme unsers allergnädigsten Herrn und die Frei-
lassung der französischen Olfiziere so ganz im rechten Augenblick
einen guten Eindruck machen würden, erwartete ich. Meine Erwartung
ist bei weitem übertroffen, und wenn der „Figaro" sagte, daß am
Sonntag abend unser Kaiser der populärste Mann in Paris gewesen
sei, so ist das richtig.
Meine persönliche Stellung hat auch dabei sehr gewonnen.
Daß unsere Beziehungen in letzter Zeit überhaupt viel besser ge-
worden sind, als die Presse und die durch sie sehr irre geleitete
öffentliche Meinung in Deutschland glauben wollen, ist sicher. Den-
noch weiß ich, daß solche Stimmungen umschlagen können. Von Seiten
beider Regierungen muß aber alles getan werden, damit dieses nicht
geschieht.
Die Zeit gleicht am besten Gegensätze aus. So geht es auch mit
unsern Beziehungen zu Frankreich.
Elsaß-Lothringen wird nach und nach vergessen werden, und, ist
diese Frage nicht mehr so brennend, kühlt sich, wie das schon sehr
zu bemerken ist, der Chauvinismus ab, so werden die Franzosen
doch immer mehr einsehen, daß unsere sonstigen Interessen in vieler
Beziehung den französischen weniger widersprechen als die russischen.
Je mehr die Aussicht auf Krieg abnimmt, je mehr fällt der Grund
für die absurde Russenliebe der Franzosen fort.
Eine ernste Ehe war es nie, und wenn bei Liebhabern der Rausch
der Liebe aufhört, und sie erst anfangen zu streiten, so werden sie
gewöhnlich die bittersten Feinde.
Als im vorigen Herbste ganz Paris auf dem Kopfe stand, und der
russische Admiral der Held des Tages war, wurde ich oft von hiesigen
342
Bekannten mit einem Anfluge von Hohn gefragt, ob mir das nicht
sehr unangenehm sei. Ich erwiderte ruhig: „Nein, im Gegenteil, denn
ich habe die Überzeugung, daß, wenn, wie ich sehr hoffte, der Friede
erhalten bleibe, die Russen in Paris in drei bis höchstens fünf Jahren
Gefahr liefen, mit faulen Eiern und Äpfeln beworfen zu werden i."
Dieses klang und war auch etwas übertrieben. Dennoch muß
jeder, der hier beobachten kann, sehen, daß die Beziehungen zu Ruß-
land nicht dieselben sind als früher.
Als der Botschafter Mohrenheim zur Leichenfeier in das Elysee
über den Place de la Concorde fuhr, und die Durchfahrt durch Wagen
und Bänke gesperrt war, sein Kutscher aber versuchte durchzufahren,
wurde er geradezu beschimpft und kam ganz außer sich ins Elysee.
Das wäre vor einem Jahre unmöglich gewesen. Mir gegenüber sprach
mein russischer Kollege mit Geringschätzung von der Botschaft des
Präsidenten* und nannte sie nichtssagend.
Es ist, wie ich glaube, diese Kritik dadurch veranlaßt, daß nicht,
wie bisher stets geschah, die Beziehungen zu Rußland erwähnt wur-
den. Der Satz, der ihm besonders mißfallen haben wird, ist der, der so
beginnt:
„Sure d'elle meme, confiante en son armee et en sa marine, la
France peut, la tete haute, affirmer son amour de la paix."
Was hier sehr verstimmt hat, war das sehr verspätete und sehr
kalte Telegramm Seiner Majestät des Kaisers von Rußland. Außerdem
erwartete man wenigstens von Rußland die Absendung einer beson-
dern Mission.
Mit England sind die Beziehungen zum englischen Hofe die besten,
und hat Ihre Majestät die Königin es durch ihre Teilnahme sehr ver-
standen, die Herzen hier zu gewinnen.
Dagegen sind die Beziehungen zur englischen Regierung entschie-
den nicht als gute zu bezeichnen.
Italien ist noch ein wunder Punkt, darüber beehre ich mich aber
besonders zu berichten. Die Besorgnis, daß die Aufregung über den
durch einen Italiener verübten Mord ernste Folgen haben konnte, hat
ßehr abgenommen.
Herr Casimir Perier und sein auswärtiger Minister** wollen beide
keine äußeren Komplikationen und wollen vor allem Ordnung im
Innern und eine feste Regierung zu ermöglichen suchen. Auf Kriegs-
abenteuer werden sich beide nicht einlassen.
Münster
Randbemerkung Kaiser Wilhelms H.:
i Richtig.
* Siehe den Wortlaut aus der Botschaft vom 3. Juli in Schultheß' Europäischer
Geschichtskalender Jg. 1894, S. 268 f.
** Hanotaux.
343
Kapitel XLIX
Der Draht nach Rußland ISQO— 1S92
A. Äußere Politik
Nr. 1609
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt Raschdau
Reinschrift. Unsigniert*
Notizen zu der russischen Reise
Berlin, den 18. Juli 1890
1. Den verwandtschaftlichen Charakter des Besuchs hervorkehren;
zu politischen Gesprächen — insbesondere bezüglich orientalischer Ver-
hältnisse — nicht die Initiative ergreifen.
2. Auf das Thema der Solidarität der Monarchien und die Bedeu-
tung der sozialen Frage für letztere gegenüber den überall hervor-
tretenden Umsturzbestrebungen gern eingehen.
3. Werden politische Fragen berührt, so lehnen wir es ab, die
Rolle des ehrlichen Maklers von neuem zu übernehmen. Unsere
schlechten Erfahrungen — besonders nach Berliner Kongreß — hervor-
heben.
4. In bezug auf Herzog von Cumberland** formal: Wir lehnen
Zwischenpersonen ab; sachlich: Gesetz allegieren, das in der Ver-
mögensfrage jede Entscheidung von gesetzgebenden Körpern mit ab-
hängig macht; außerdem auf Intrigen der Weifenpartei, die noch bei
letzten Wahlen ihre reichsfeindlichen Bestrebungen bekundet, hinweisen.
Ohne Garantien keine Konzessionen.
5. Wir können Verträge mit Rußland nicht schließen, da sie zur
Erregung von Mißtrauen im In- und Auslande gegen uns ausgebeutet
würden 1. Hervorheben, wie unsere bisherigen Verträge trotz weit-
gehender Zugeständnisse nicht vermocht hätten 2, feindselige Stim-
mung in Rußland gegen uns zu mäßigen. Aber auch ohne Ver-
träge werde unsere Haltung gegen Rußland stets eine friedliche, loyale
und entgegenkommende sein.
6. Wir haben kein Interesse in Bulgarien***, während wir russisches
gern anerkennen. Wenn ohne Störung des Weltfriedens dort legaler
Zustand nach Maßgabe Berliner Vertrages hergestellt werden könnte,
whrcn wir bereit, jeden dazu führenden Schritt zu unterstützen. Bei
* Auf dem eigenhändigen Konzept Raschdaus befindet sich eine Randverfügung
Caprivis: „Bitte hiervon zu fertigen je eine deutsche Kopie und eine französische
Übersetzung, beides auf gebrochenem Bogen für Seine Majestät und für mich.
Ersteres will ich in Wilhelmshaven überreichen." Man sieht, wie sorgfältig und
von langer Hand her der für Mitte August geplante Kaiserbesuch am russischen
Hofe politisch vorbereitet wurde.
** Vgl. dazu Bd. VI.
*** Über die bulgarische Frage seit 1890 vgl. Bd. IX, Kap. LV.
347
Verschiedenartigkeit der dort gegenüberstehenden europäischen Inter-
essen aber sei nach aller Voraussicht jedes Einschreiten für europäi-
schen Frieden bedrohlich.
7. Prinz Ferdinand sei nicht legal gewählt, da nicht alle Mächte
beigestimmt. Wer aber würde — nach russischer Ansicht — die all-
gemeine Zustimmung finden? .Man käme also aus einem illegalen
Zustand in den andern.
8. Die Meerengenfrage* tunlichst vermeiden; wir würden auch in
dieser Frage uns an die bestehenden Verträge von 1856 und 71 loyal
halten.
9. Wird Serbien berührt, nach wie vor erwähnen, daß unseres
Wissens die Österreicher nicht daran dächten, dort gewaltsam ein-
zuschreiten. Auch dort würden die Ereignisse am besten sich selbst
überlassen.
Randbemerkungen des Reichskanzlers von Caprivi:
* Wir müssen auf die öffentliche Meinung viel mehr Rücksicht nehmen als zu Fürst
Bismarcks Zeit
' Politik, die auf Willen eines Einzigen beruht, kann zu leicht umgestimmt wer-
den. Gortschakow bekam es fertig, das gute Verhältnis zwischen Wilhelm I.
und Alexander II. zu stören
Nr. 1610
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 205 St. Petersburg, den 30. Juli 1890
Geheim
Herr von Giers benutzte eine sich ihm bietende Gelegenheit, um
mir vertrauliche Eröffnungen über dasjenige zu machen, was er mit
Euerer Exzellenz bei der bevorstehenden Begegnung zu besprechen be-
absichtigt.
„Der Kaiser", so ungefähr erzählte der Herr Minister, „hat mir
auf meine Frage, wie ich mich bei der bevorstehenden Ankunft Seiner
Majestät des Kaisers Wilhelm zu benehmen habe, geantwortet, ich
solle nicht nach Narwa kommen, sondern mich erst in Peterhof vor-
stellen."
„Der Kaiser", so fuhr Herr von Giers fort, „hat mir ferner gesagt:
Da die Initiative zu dem Abbruche der beim Ausscheiden des Fürsten
Bismarck dem Abschlüsse nahen Verhandlungen vom General von Ca-
privi ausgegangen sei, so solle ich bei demselben nicht mehr auf diese
• über die Meerengenfrage seit 1890 siehe Bd. IX, Kap. LV.
348
Sache zurückkommen und überhaupt jede Rekrimination vermeiden*.
Ich werde also dem Herrn Reichskanzler gegenüber nur erwähnen,
daß Sie von ihm beauftragt gewesen sind, hier zu erklären, daß Deutsch-
land seine guten Beziehungen zu uns erhalten und pflegen und an der
bisherigen Richtung seiner Politik Rußland gegenüber nichts ändern
will."
„Als Herr Stambulow im vergangenen Juni seine bekannte Note
nach Konstantinopel richtete, habe ich den Grafen Schuwalow an-
gewiesen, mit Herrn General von Caprivi über diesen, die Ruhe auf
der Balkanhalbinsel gefährdenden Schritt der illegalen Regierung in
Sofia zu sprechen; der Herr Reichskanzler hat die befriedigende Ant-
wort erteilt, daß die deutsche Regierung die Zustände in Bulgarien
nach wie vor als nicht normale betrachte**."
„Ich will mit Herrn von Caprivi hierüber, aber auch noch über
einen zweiten Punkt sprechen, nämlich über die Meerengen. Sie er-
innern sich, daß zur Zeit des Gefechtes am Kuschk und des Pandscheh-
streites*** England den Verträgen über die Meerengen eine Auslegung
gab, welche ersteren nicht entspricht und für uns nachteilig ist; über
diese Frage möchte ich mich mit dem Herrn Reichskanzler ver-
ständigen."
Diese Äußerungen des Herrn Ministers erwiderte ich in demselben
freundschaftlichen Tone, in welchem Seine Exzellenz sie tat, indem ich
sagte, es sei gut, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander auf die Ver-
handlungen vom März dieses Jahres nicht zurückkommen wolle, und
es sei richtig, daß ich beauftragt gewesen bin, hier zu erklären:
Deutschland wolle seine guten Beziehungen zu Rußland erhalten und
pflegen und weder an seiner auswärtigen Politik im allgemeinen noch
speziell Rußland gegenüber etwas ändern.
Was nun die Meerengenfrage betrifft, welche, wenn ich nicht irre,
bei den bevorstehenden Besprechungen Euerer Exzellenz mit Herrn
von Giers in den Vordergrund treten dürfte, so beschränkte ich mich
darauf, den russischen Minister daran zu erinnern, daß, soviel mir be-
kannt, der Londoner Vertrag vom 13. März 1871 f die Schließung und
Öffnung der Dardanellen und des Bosporus geregelt habe und in
• Vgl Kap. XLIV.
** Die Auslassungen Minister Giers' sind nicht ganz korrekt. Die bulgarische
Note vom 16. Juni, die bei der Türkei von neuem die Anerkennung des Prinzen
Ferdinand, sowie die Zulassung bulgarischer Bischöfe in der Türkei usw. in
Anregung brachte, rührt noch von dem Vorgänger Stambulows, Stranski, her,
der am 17. aus dem Ministerium schied. Auch hat Graf Schuwalow nicht mit
dem Reichskanzler von Caprivi, sondern mit dem Staatssekretär von Marschali
am 25. Juni über die Angelegenheit gesprochen und von diesem die Antwort er-
halten, daß nach Auffassung der deutschen Regierung der gegenwärtige Zustand
in Bulgarien im Widerspruche mit dem Berliner Vertrage stehe und daher als
illegal zu betrachten sei.
*** Vgl. Bd. IV, Kap. XXII.
t Siehe Bd. II, Kap. IX.
349
voller Gültigkeit fortbestehe; Herr von Giers sagte, er wolle sich den
Text dieses Vertrages wieder vorlegen lassen.
Im ferneren Verlaufe unseres Gespräches kam der Minister noch-
mals au? die Besorgnisse zurück, welche ihm die Balkanpolitik des
Wiener Kabinetts und der magyarischen Kreise einflöße; er brachte
hierbei wenig Neues vor, erinnerte vielmehr an seine Unterredung
mit dem Staatssekretär Grafen Bismarck vom Juli 1888*, in welcher
er die Möglichkeit des Einrückens der Österreicher in Serbien als ernste
Komplikation bezeichnet habe, und ließ hierbei die Bemerkung fallen,
daß die Serben bei einem neuen Konflikt mit den Bulgaren noch gründ-
licher geschlagen werden würden als vor fünf Jahren.
Da ich aus den ängstlichen Hindeutungen auf vermeintliche von
Österreich-Ungarn her drohende Kriegsgefahr darauf schließen durfte,
daß die mit der Giersschen Politik nicht einverstandenen militärischen
Ratgeber Seiner Majestät des Kaisers Alexander höchstdenselben neuer-
dings durch Berichte über Rüstungen in Galizien, neue Befestigungen
bei Prczemysl und dergleichen beunruhigt haben, so sagte ich dem
Herrn Minister ungefähr folgendes:
„In einigen Wochen wird in Wolhynien, dicht an der österreichi-
schen Grenze, eine Anhäufung von Truppen stattfinden, wie die Ge-
schichte keine ähnliche in Friedenszeiten aufzuweisen hat; zwei russi-
sche Generale, deren Gesinnungen durch ihre Reden und andere
Kundgebungen als kriegerisch bekannt sind, Dragomirow und Gurko,
werden dort mehr als 150 000 Mann versammeln, und der Kaiser von
Österreich sagt kein Wort dagegen; können Sie einen stärkeren Beweis
von seinem Vertrauen zu Kaiser Alexander verlangen, und verdient er
nicht mindestens das gleiche? Der Kaiser Franz Joseph findet jetzt
den Trost für das Unglück seiner Jugend in der Erwerbung und Ent-
wickelung zweier Provinzen, welche Sie ihm in Reichstadt und durch
den Pester Vertrag zugebilligt haben ; wenn er hierin nicht gestört wird,
so können Sie sich darauf verlassen, daß er weder auf einen Krieg
sinnt noch nach Saloniki hinstrebt."
Herr von Giers machte gegen diese Auffassung keine Einwendun-
gen, ging aber auf das Verhalten Österreichs in Sofia und Konstanti-
nopel über und berührte dabei die Tagesfrage der bulgarischen Bis-
tümer**, ohne jedoch näher auf dieselbe einzugehen, wozu auch für mich
keine Veranlassung vorlag; Herrn Nelidows Meldung lautete, alle
Mächte hätten sich für die Berats-Erteilungi bei der Pforte verwendet;
dieser Punkt blieb aber zwischen Herrn von Giers und mir unerörtert.
Im Hinblick auf die Besprechung der Meerengenfrage, welche der
russische Herr Minister bei der Begegnung mit Euerer Exzellenz herbei-
• Siehe Bd. VI, Kap. XLUI, Nr. 1345.
** Vgl. dazu IJulius von Eckardtl Berlin— Wien— Rom. Betrachtungen über den
neuen Kurs und die neue europäische Lage (1892), Anhang: Die orthodoxe Kirche
und der griechisch-bulgarische Kirchenstreit S. 268 ff.
350
zuführen beabsichtigt, beehre ich mich einiges hierauf bezügliche aus
den Erinnerungen meiner hiesigen amtlichen Tätigkeit zusammenzu-
stellen und in der Anlage Euerer Exzellenz ehrerbietig zu unter-
breiten *. V. S c h w e i n i t z
Randbemerkung des Reichskanzlers von Caprivi:
1 Hat mit den Verträgen nichts zu tun. Haben uns auf Befragen geäußert türkisches
Internum. Lag im Sinne der Erhaltung des Friedens, weil dadurch die Aner-
kennungsfrage aus der Welt kam. Rußland hat sich früher aufs lebhafteste für
diese Bistümer interessiert.
Nr. 1611
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 229 St. Petersburg, den 25. August 1890
Ganz vertraulich
Unmittelbar nach der Abfahrt Seiner Majestät des Kaisers und
Königs von Peterhof ** haben beide russische Majestäten Herrn von Giers
die große Befriedigung ausgesprochen, mit welcher sie der Kaiserliche
Besuch erfüllt hat. Der Zar hat geäußert, er sei jetzt vollständig be-
ruhigt, und Ihre Majestät die Kaiserin hat dem Minister gesagt, daß
der diesmalige Besuch unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn noch
weit besser verlaufen sei als derjenige von 1888.
Dieser überaus günstige Eindruck ist, wie mir Herr von Giers
mitteilte, nicht bloß bei den russischen Majestäten, sondern auch bei
den andern hohen Mitgliedern des Kaiserlichen Hofes, welche am
Landungsplatz Abschied genommen hatten, bemerkbar gewesen. Der
Zar hat außerdem noch vorgestern abend dem Herrn Minister kurz
erzählt, daß er mit Euerer Exzellenz eine höchstihn sehr befriedigende
Unterredung gehabt hat. Herr von Giers will nun morgen bei dem
Dienstags-Immediatvortrage seinem erhabenen Souverän berichten, was
er mit Euerer Exzellenz besprochen hat, und sich von Seiner Majestät
ausführlichere Mitteilungen über das Gespräch höchstdesselben mit
Euerer Exzellenz erbitten. Der Herr Minister wird dann den wesent-
lichen Inhalt beider Unterredungen schriftlich zusammenfassen und dem
Kaiserlich russischen Geschäftsträger in Berlin diese „Fixierung"
des zwischen den hohen Monarchen und deren Ministern erfolgten
Gedankenaustausches zusenden, damit Graf Murawiew dieses Schrift-
* Näheres über die Meerengenfrage siehe in Bd. IX, Kap. LV.
** Am 17. August war Kaiser Wilhelm II. zum Besuche des Zaren in Narwa ein-
getroffen. An der Zusammenkunft des Herrscherpaars nahmen u. a. auch Reichs-
kanzler Caprivi und Botschafter von Schweinitz teil. Am 22. August begaben sich
beide Kaiser nach Peterhof. Am 23, erfolgte die Abreise Kaiser Wilhelms II.
351
stück Euerer Exzellenz vorlese und die Bemerkungen, welche Euere
Exzellenz dazu machen werden, entgegennehme.
Herr von Giers drückte mit großer Wärme die Befriedigung aus,
mit der ihn das Ergebnis der Monarchenbegegnung und der Besprechun-
gen mit Euerer Exzellenz erfüllt hat, eines Ergebnisses, welches vor
allem andern in der Befestigung rückhaltlosen gegenseitigen Ver-
trauens besteht i. v. S c h w e i n i t z
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Dann soll er nun mal auch öffentlich das in der Russischen Presse
sagen, und einheimischen und französischen Blättern damit das Maul stopfen!
Nr. 1612
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivi
Eigenhändig
Berlin, den 8. September 18Q0
Graf Murawiew war heut bei mir, um mir die von Herrn
von Schweinitz in Aussicht gestellte „Fixierung" der Unterredungen,
die mir der Zar in Peterhof und Herr von Giers in Petersburg ge-
stellt hatten, vorzulesen.
Das Schriftstück konstatierte, daß ich ausgesprochen, die Regie-
rung Seiner Majestät Wilhelm II. habe durchaus friedliche Tendenzen,
sie stehe vor sehr schweren inneren Aufgaben, und wir wären der
Meinung, daß in bezug auf letztere alle monarchischen Staaten gleiche
Interessen hätten.
Russischerseits wurde dem zugestimmt und die gleiche Versiche-
rung friedlicher Tendenzen ausgesprochen.
Zwei Detailfragen seien erwähnt worden : Bulgarien und die Meer-
engenfrage. Rußland habe in bezug auf Bulgarien die Ansicht, gestützt
auf die Verträge, daß der gegenwärtige Zustand illoyal sei und von
Seiten Rußlands, das soviel Opfer für Bulgarien gebracht, nie anerkannt
werden könne.
In bezug auf die Meerengen halte Rußland an den Verträgen von
1841, 1856, 1871 und den Schuwalowschen Erklärungen auf dem Ber-
liner Vertrage fest
Meinerseits sei erwidert worden, daß wir ebenfalls gesonnen seien,
an den Verträgen festzuhalten, und daß auch wir den Zustand in Bul-
garien für illoyal hielten.
Die vom Zaren getanen Äußerungen in bezug auf das Wünschens-
werte der Herstellung der Monarchie in Frankreich waren in dem
Schriftstück, das Graf Murawiew vorlas, nicht erwähnt.
Graf Murawiew fügte als eine von ihm selbst kommende Bitte
hinzu, ich möge schriftlich bescheinigen, daß er mir das Schriftstück
352
vorgelesen, und sein Inhalt von mir anerkannt sei. Obschon ich letztres
mit gutem Gewissen gekonnt hätte, habe ich es mit dem Bemerken,
Herr von Giers werde sich auch mit einer mündlichen Äußerung meiner-
seits begnügen, abgelehnt, um nichts Schriftliches zu geben*.
v. Caprivi
Nr. 1613
Der Geschäftsträger in Petersburg Graf von Pourtales an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 231 St. Petersburg, den 7. September 1890
Obwohl viele Lügen auch von hier aus über die Narwaer Kaiser-
zusammenkunft in die Welt geschickt worden sind und, wie zu er-
warten war, es in der hiesigen Presse nicht an Stimmen gefehlt hat,
welche die Bedeutung dieses Ereignisses herabzusetzen bestrebt waren**,
so kann doch der Gesamteindruck, welchen der jüngste Besuch Seiner
Majestät des Kaisers hier hinterlassen hat, im allgemeinen als ein gün-
stiger bezeichnet werden.
Personen aus der Umgebung des Zaren bestätigen, daß beide
russische Majestäten von den Tagen ihres Zusammenseins mit ihrem
erlauchten Gaste die angenehmsten Erinnerungen behalten und dies
auch wiederholt ausgesprochen hätten. „Kaiser Alexander", so wurde
mir noch vor einigen Tagen von jemandem gesagt, der den Charakter
des Zaren aus nächster Nähe zu beobachten Gelegenheit hat, „ver-
steht es nicht, seine Gefühle und Stimmungen zu verbergen; wenn er
während der Tage in Narwa und Peterhof eine gleichmäßige, ja sich
steigernde heitere Stimmung gezeigt hat, so ist dies der beste Beweis
dafür, daß ihn der herzhche ungezwungene Verkehr mit Kaiser Wilhelm
angenehm berührte und ihm wohltat." Auch Herr von Giers
äußert sich sehr befriedigt über den Verlauf des Besuches und hat dies,
wie ich wiederholt zu konstatieren Gelegenheit hatte, den anderen
auswärtigen Vertretern i gegenüber ausgesprochen.
Bei den Betrachtungen, welche hier an den zweiten Besuch unseres
Kaisers bei dem hiesigen Hofe geknüpft werden, tritt ein Moment be-
* Vgl. dazu die auf dem russischen Aktenmaterial fußenden Mitteilungen bei
Goriainow, The End of the Alliance of the Emperors. The American Historical
Review Vol. XXIII, Nr. 2, p. 347 s.
** Auch in der deutschen und österreichischen Presse war vielfach zum Ausdruck
gelangt, daß die Zusammenkunft der beiden Kaiser im ganzen oder doch in den
letzten Tagen einen kühlen und formellen Charakter getragen habe. Vgl. dazu
den Aufsatz „Der Kaiserbesuch in Rußland" im Septemberheft 1890 der „Preu-
ßischen Jahrbücher", der die Verantwortung für den mißglückten und überhaupt
nicht angebrachten Besuch auf den Fürsten Bismarck schieben möchte, wogegen
sich dieser in den „Hamburger Nachrichten" (Hofmann, Fürst Bismarck 1890
bis 1898 Bd. I [1913], S. 291 f.) verwahrt hat.
23 Die Große Politik. 7. Bd. 353
sonders in den Vordergrund, welches auch in den zahllosen Ergüssen
der Presse immer wieder zum Ausdruck gelangt, nämlich, daß bei der
diesjährigen entrevue nicht mehr, wie der „Grashdanin" sich aus-
drückt, unsichtbar eine dritte Person in Gestalt des Fürsten Bismarck
zwischen beiden Monarchen gestanden habe. Man habe daher nur
noch mit der aufrichtigen und geraden Politik Kaiser Wilhelms zu
rechnen, während man früher nie sicher gewesen wäre, wie weit sich
„die hinterlistigen Pläne" des früheren Reichskanzlers mit dieser Po-
litik gedeckt hätten. Man sieht hieraus, wie selbst bis in die neueste
Zeit das Mißtrauen gegen den Fürsten hier nie geschwunden ist, er
vielmehr für den eigentlichen Feind Rußlands gehalten wurde 2*.
Diese Betonung des Vertrauens in die jetzige deutsche Politik
könnte man gewiß nur mit Freuden begrüßen, sie könnte sogar zu
sanguinischen Hoffnungen 3 hinsichtlich der nunmehrigen Gestaltung
der Beziehungen zwischen uns und Rußland berechtigen, wenn nicht
durch die Seiner Majestät, unserem allergnädigsten Herrn, gespendeten
Lobeserhebungen nur zu deutlich die Erwartungen hindurchschimmer-
ten, welche an die von der Bevormundung des Fürsten Bismarck be-
freite neue Richtung unserer Politik geknüpft werden. Diese Er-
wartungen laufen auf nichts anderes hinaus, als daß Seine Majestät
der Kaiser seine freundschaftlichen Gesinnungen gegen Rußland be-
weisen möge, indem er „den österreichischen Intrigen auf der Balkan-
halbinsel" entgegentrete und womöglich sich von dem den Russen so
verhaßten Dreibunde lossage. Weisen doch schon jetzt einige Blätter
darauf hin, daß sich unserem allergnädigsten Herrn sehr bald Gelegen-
heit bieten werde, im russischen Sinne auf den Kaiser Franz Joseph
zu wirken*.
Die Befürchtung liegt nur zu nahe, daß die Enttäuschungen, welche
man sich russischerseits auf solche Weise bereitet, auch wieder zu einer
Abkühlung der im gegenwärtigen AugenbHck verhältnismäßig freund-
lichen Stimmung gegen uns führen wird. Diejenigen russischen Kreise
aber, die das Vertrauen in den deutsch-russischen Beziehungen nicht
aufkommen lassen wollen, tun natürlich das ihrige, um die Erwartungen,
die man an die angebliche Schwenkung der Politik unseres Kaisers im
russenfreundlichen Sinne zu knüpfen berechtigt sei, möglichst hoch zu
schrauben 5, damit nachher die Enttäuschung eine um so gründlichere
und das Mißtrauen ein um so nachhaltigeres werde.
F. Pourtales
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Audi den Franzosen?
2 darüber hat er sich bis heute den größten Illusionen hingegeben
3 bei mir nicht!
* werde mich hüten
* wie die Französische Presse vor meinem Besuch in Rußland.
• Vgl. dazu jedoch Bd. VI, Nr. 1365, S. 374 nebst Fußnote
354
1
Schlußbemerkung des Kaisers:
Rußland will, wir sollen ihm auf der Balkanhalbinsel durch irgend eine noch
so unscheinbare Einmischung Gelegenheit geben, sich über uns zu beschweren,
und mit einem Schein von Berechtigung dann über uns Friedensstörer und heim-
tückische Verräter herfallen; indem es sich noch dazu mit der Gloriole moralischen
Rechtes und gekränkten Vertrauens umgeben will.
Nr. 1614
Der Geschäftsträger in Petersburg Graf von Pourtal^s an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 243 • St. Petersburg, den 24. September 1890
Geheim
Bei dem Besuche, den ich heute Herrn von Giers machte, sagte
mir der Herr Minister, es liege ihm daran, sich über eine Angelegen-
heit offen mir gegenüber auszusprechen, um dadurch ein mögliches
Mißverständnis zu verhüten.
Wie er dem Kaiserlichen Herrn Botschafter vor dessen Abreise
bereits angekündigt, habe er über die Unterredung, die er hier mit
Euerer Exzellenz gehabt habe, eine Aufzeichnung an den Grafen Mu-
rawiew mit dem Auftrage geschickt, dieselbe Euerer Exzellenz vor-
zulesen. Seine Absicht sei dabei einmal gewesen, der russischen Bot-
schaft in Berlin von dem anläßlich des jüngsten Besuches Seiner Majestät,
unseres allergnädigsten Herrn, bei dem hiesigen Hofe stattgehabten
Gedankenaustausch Kenntnis zu geben, andererseits Euere Exzellenz
in die Lage zu setzen, etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe
jener Unterredung richtigzustellen.
Nunmehr ersehe der Minister aus dem inzwischen eingegangenen
Berichte des russischen Geschäftsträgers in Berlin mit größter Be-
friedigung, daß Euere Exzellenz seine Aufzeichnung als genau mit der
stattgehabten Unterredung übereinstimmend bezeichnet hätten; er ent-
nehme aber aus dem Bericht zugleich, daß Graf Murawiew sich „par
exces de zele"i habe verleiten lassen, von Euerer Exzellenz eine schrift-
liche Gegenäußerung zu erbitten» eine Bitte, welche Euere Exzellenz
unter Hinweis auf den Charakter gegenseitigen Vertrauens, den der Ge-
dankenaustausch mit Herrn von Giers getragen habe, abgelehnt hätten.
Der Minister lej^t nun, damit, wie er sagte, auch nicht der Schatten
eines Mißverständnisses auf das überaus befriedigende Ergebnis seiner
ersten Begegnung mit Euerer Exzellenz falle, Wert darauf, Hoch-
dieselben davon zu überzeugen, daß der russische Geschäftsträger bei
dem an Euere Exzellenz gestellten Ansinnen ganz ohne Instruktion ge-
handelt habe. Der sonst so gewandte Graf Murawiew habe hier eine
Ungeschicklichkeit begangen ; offenbar habe er den Wunsch gehabt,
daß die ihm von Euerer Exzellenz gegebene Erklärung durch schrift-
liche Formulierung eine noch größere Bedeutung erlange. Dies sei
23* 355
jedoch nach des Ministers Auffassung gar nicht nötig gewesen; die
Mitteilung seiner Aufzeichnung an Euere Exzellenz sei: „une com-
munication de galant homme ä galant homme" gewesen, welche nicht
„wie bei dem Verkehr zwischen Bankiers einer Quittung bedurfte".
Um mir zu beweisen, daß es ihm gänzlich fem gelegen habe, von
Euerer Exzellenz irgendeine schriftliche Äußerung extrahieren zu wollen,
las mir Herr von Giers sodann die ganze Aufzeichnung vor und be-
tonte besonders die Stellen, in welchen dargelegt wird, daß er die
Gründe, welche Euere Exzellenz bewogen hätten, die geheimen Ab-
machungen mit Rußland nicht zu erneuern, vollständig zu würdigen
wisse, und daß es im Hinblick auf die in Narwa und Peterhof in so
erfreulicher Weise zum Ausdruck gelangten vertrauensvollen Beziehun-
gen zwischen unseren beiden Herrschern sowie auf die in der offenen
Aussprache zwischen Euerer Exzellenz und ihm hinsichthch gewisser
Punkte zutage getretenen Übereinstimmung der Ansichten eines Schrift-
stückes nicht bedürfe, es sich vielmehr ledigHch darum handele, „d'etablir
un courant de confiance mutuelle".
Wenn somit Graf Murawiew, allerdings in bester Absicht, gewisser-
maßen eine Quittung auf die Mitteilung dieser Aufzeichnung verlangt
habe, so habe er hierin ganz auf eigene Faust gehandelt. „Sie sehen
selbst", so schloß der Minister, „daß ich, bei den aufrichtigen loyalen
Beziehungen, die zwischen uns jetzt bestehen, auf ein Schriftstück
nicht den geringsten Wert lege."
Ich möchte dahingestellt lassen, ob nicht doch vielleicht der De-
marche des russischen Geschäftsträgers der Wunsch des Herrn von Giers
zugrunde gelegen hat 2, noch einen letzten Versuch zu machen, um
von Euerer Exzellenz „ein Blatt Papier" zu erlangen, und nunmehr,
wo dieser Versuch mißlungen ist, Graf Murawiew desavouiert wird.
F. Pourtales
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
^ Sollte er nicht dazu instruiert worden sein?
2 natürlich sicher
Schlußbemerkung des Kaisers:
Die Trauben waren zu sauer!
Nr. 1615
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi*
Nr. 272 St. Petersburg, den 9- November 1890
Ganz vertraulich
Es ist mir noch in frischer Erinnerung, wie an dem Tage, an
welchem der Zarewitsch geboren wurde, eine Hofdame der erlauchten
* Bei der Bedeutung, die die Persönlichkeit des letzten russischen Herrschers für
die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen gewonnen hat, mag der aus-
356
Mutter mir erzählte, diese habe, mitten in der vollen Freude, einen
Sohn zu besitzen, besorgt ausgerufen: „Wem werde ich seine Er-
ziehung anvertrauen können?" Diese Frage war wohl berechtigt am
Hofe Alexanders II., und noch mehr wäre sie es heute; sie ist auch
nie beantwortet worden, denn Nikolaus Alexandrowitsch hat nie einen
Erzieher in dem an Höfen geltenden Sinne gehabt; er ist aufgewachsen
zwischen Vater und Mutter in einem durch innige Zuneigung eng
verbundenen Familienkreise, dessen Frohsinn weder durch die ihn
bedrohenden Gefahren, noch durch die zum Schutze notwendige Ab-
geschlossenheit getrübt worden ist.
An Lehrern hat es dem Thronfolger natürlich nicht gefehlt, aber
keiner von ihnen, auch Herr Pobedonoszew nicht, ebensowenig wie
sein nomineller Gouverneur, General Danilowitsch, hat Einfluß auf
ihn gewonnen; dieser Offizier war seinerzeit vom Kriegsminister Mi-
Ijutin zu der verantwortungsvollen Aufgabe, den Thronerben zu erziehen,
berufen worden; er war, dem Geiste seines Meisters entsprechend,
ein radikaler und nationaler Doktrinär, ehrlich und gewissenhaft; näher
als dieser MiHtär stand dem Prinzen ein Zivilist, ein Engländer, Mr.
Heath, welcher mehr mit gymnastischem als mit wissenschaftlichem
Unterricht betraut war und sich die Zuneigung der kaiserlichen Kinder
zu erwerben wußte; mit vielen guten Eigenschaften verbindet er ein
hübsches Talent für Aquarellmalerei. Gouverneurs und Gouvernanten
im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es am Kaiserhofe nicht; eine
dänische Dame, Frau von Flothow geborene von Greschau, nimmt eine
Vertrauensstellung in dem hohen Hause ein, hat aber mit der Erziehung
nichts zu tun.
Die ersten tiefen Eindrücke, welche der damals neunjährige Prinz
empfing, wurden durch die Teilnahme seines erlauchten Vaters am
Türkenkriege und durch das Elend, welches letzterer mit sich brachte,
erzeugt; als der Großfürst 13 Jahre zählte, warfen die furchtbaren
Ereignisse, welche mit der Ermordung des Großvaters ihren Abschluß
fanden, dunkle Schatten auf alles, was ihn umgab; mit 18 Jahren ent-
ging er nur durch die im letzten Augenblicke erfolgte Entdeckung des
Attentats vom 13./1. März 1887 den Bomben, welche den Wagen, in
dem er mit seinen Eltern saß, zerschmettern sollten ; im darauffolgenden
Jahre sah er sich mit Eltern und Geschwistern durch ein Wunder
gerettet zwischen Toten und Sterbenden unter den Trümmern eines
Bahnzuges.
Die Wirkungen solcher erschütternder Ereignisse auf das Gemüt
des Knaben werden vielleicht zu erkennen sein, wenn er zum Manne
führliche Bericht Schweinitz' über die Einflüsse, denen er als Thronfolger aus-
gesetzt gewesen ist, und über seine Reise nach dem fernen Osten unverkürzt
zum Ausdruck gelangen, obgleich er etwas aus dem Rahmen des Kapitels herausfällt.
357
herangereift ist; die glückliche Jugendzeit haben sie nur momentan
getrübt; länger als bei den meisten, viel länger als bei andern Hoch-
stehenden, dauerte sie dem russischen Prinzen; weder durch vorzeitige
Teilnahme an Vergnügungen junger Männer, noch durch militärische
Spielereien wurde sie gestört, und übermäßiges Lernen hat die Wangen
des zwar kleinen, aber regelmäßig entwickelten Jünglings nicht ge-
bleicht; auch die Umgebungen, in deren Mitte er aufwuchs, die Herren
und Damen des kleinen Hofes von Oatschina, sind „nicht von des
Gedankens Blässe angekränkelt"; ich wüßte unter ihnen allen nicht
einen zu nennen, der durch Gespräche anregend oder durch sein Bei-
spiel anfeuernd auf den Zarewitsch hätte wirken können; sie haben
indessen auch nichts verdorben; hiergegen gewährte das innige Ver-
hältnis zwischen dem Sohne und den liebevollen Eltern genügenden
Schutz.
So wenig nun auch die Personen, die den Ring von Gatschina
bilden, durch Intelligenz und Bildung hervorragen, so sind sie doch
klug genug, um alle, die klüger sind als sie, fernzuhalten ; ihr Be-
streben, nur Mittelmäßigkeiten in die Nähe der Machtquelle gelangen
zu lassen, ist selten von glänzenderem Erfolge gekrönt worden als
jetzt bei der Wahl der zur Reisebegleitung des Thronerben berufenen
Personen.
Ein bemerkenswerter Zug im Charakter der meisten Mitglieder
des russischen Kaiserhauses ist die große Beständigkeit in ihren Zu-
neigungen; an drei oder vier hohen und traurigen Beispielen läßt sich
nachweisen, daß großes Unheil nicht durch flatterhaften Leichtsinn,
sondern durch zu feste Anhänglichkeit an eine und dieselbe Person
herbeigeführt wurde. Ebenso beständig sind diese hohen Herren in
dem Vertrauen und in der Freundschaft, die sie Männern schenken:
die jungen Leute, welche Alexander IL bei der Reise, die er als Thron-
folger zur Brautschau unternahm, begleiteten, sind bis an sein Lebens-
ende in seiner Nähe geblieben und von ihm begünstigt, befördert oder,
wenn sie durch eigene Schuld tief sanken, unterstützt worden; sie ge-
nossen das wertvolle Privilegium, bei ihm einzutreten, wenn er sich
rasierte; mancher von ihnen hat in meinem Zimmer im Palais von
Zarskoe Selo, morgens gegen 8 Uhr, diesen kostbaren Moment ab-
gewartet
Nicht viel anders ist es bei dem jetzigen Kaiser: außer dem Fürsten
Peter Wolkonsky, der es als Stallmeister gar zu arg trieb, hat Alexan-
der III. fast alle Begleiter seiner Jugendzeit noch heute um sich. Nach
solchen Erfahrungen kam es den Interessierten darauf an, bei der be-
vorstehenden zehnmonatlichen Reise des künftigen Herrschers keine
Leute in seine Nähe zu bringen, die später gefährliche Konkurrenten
werden könnten; nur hierdurch ist es zu erklären, daß Fürst Baria-
tinsky auf eine Stelle berufen wurde, die nur durch einen Mann aus-
358
1
gefüllt werden kann, welcher Takt, Erfahrung, Kenntnisse mit welt-
männischer Bildung vereint.
Der Generalmajor Fürst Wladimir Anatolowitsch Bariatinsky war,
als ich ihn vor 25 Jahren kennenlernte, ein bildhübscher junger Mensch,
herzensgut, wenig begabt, und gehörte zum intimen Freundeskreise
des damaligen Thronfolgers ; er trank ziemHch viel, war aber sonst nicht
besonders ausschweifend; als er sich in die Hofdame Schukowski, die
spätere Geliebte, ja sogar angetraute Gemahlin des Großfürsten Alexis
verliebte, wurde er von seiner Mutter, der Fürstin Olympia, nach Tasch-
kent expediert, wo er einen Feldzug mitmachte; nach seiner Rückkehr
heiratete er eine sehr reiche Gräfin Steinbock, mit deren Gelde er
die Schulden seiner Eltern tilgte; beim Regierungsantritt des jetzigen
Kaisers wurde er Oberjägermeister, mußte aber dieses Amt nieder-
legen, weil er schon mehrere Schlaganfälle gehabt hat; von ihm ist
also für eine ferne Zukunft keine Rivalität zu besorgen.
Die jüngeren Begleiter des Zarewitsch sind: der Flügeladjutant,
Leutnant Fürst Obolensky, bisher Regimentsadjutant bei der Garde zu
Pferde; er ist ein Vetter des Hofmarschalls gleichen Namens und ein
Bruder des Fürsten Obolensky, welcher mit einer Tochter des Herrn
Polowtsow verheiratet ist; seine Aussichten für die Zukunft sind also
die günstigsten ; ferner zwei Stabsrittmeister, von den Gardehusaren
Wolkow und Fürst Kotschubey von der Chevaliergarde.
Es würde unbegreiflich erscheinen, daß man den jungen Prinzen
unter dieser Obhut eine solche Reise antreten läßt, wenn nicht der
Konteradmiral Bassargin, welcher die „Pamjat-Asowa" befehligt, das
volle Vertrauen beider Majestäten genösse, denen er als Flaggenkapitän
der kaiserlichen Eskadre genau bekannt ist. Der Admiral kann aber
die schwere auf ihm ruhende Verantwortung doch nur auf dem Wasser
tragen, und noch mehr als an Bord bedarf Telemach auf dem Fest-
lande eines Mentors; dies scheint man erst kurz vor dem Antritt der
morgenländischen Reise erkannt zu haben; der russische Gesandte in
Athen wurde also hierher berufen und beauftragt. Seine Kaiserliche
Hoheit zu begleiten; ob nur bis Suez oder bis Indien, ist noch un-
bestimmt. Herr Onou, ein Levantiner, hat sich durch seine Geschick-
lichkeit als Dragoman der russischen Botschaft in Konstantinopel und
durch seine Heirat mit der Pflegetochter des verstorbenen Baron Jomini
aus der Subalternlaufbahn zum Gesandten aufgeschwungen; er ist tief
eingeweiht in alle Gänge, welche die russische Orientpolitik sowohl zur
Zeit Ignatiews als nach dem Kriege verfolgte; auch seine archäo-
logischen Kenntnisse werden gerühmt, aber da er gar keine echt-
russischen Verbindungen hat und kein homme du monde, kein Kavalier
ist, so glauben diejenigen, welche ihn jetzt zu dem Vertrauensposten
vorschlugen, nicht befürchten zu müssen, in ihm einen Minister der
auswärtigen Angelegenheiten in Zukunft erstehen zu sehen.
Jedenfalls ist Herr Onou wohl befähigt, in Griechenland und in
359
Ägypten «dem hohen Reisenden gute Ratschläge und belehrende Aus-
kunft zu erteilen und die Korrespondenz mit den fremden Autoritäten
zu führen; zu letzterem Zwecke hat sich übrigens Fürst Bariatinsky
noch kurz vor der Abreise einen sprachkundigen und weitgereisten
jungen Beamten, den Fürsten Uchtomsky, attachieren lassen.
Der Aufenthalt in Indien soll 49 Tage währen; auf meine Frage,
warum eine so lange Dauer für eine Reise in Aussicht genommen sei,
deren Nutzen in keinem richtigen Verhältnis zu dem Werte der Zeit
und der Gesundheit des Thronfolgers stehe, wurde mir geantwortet,
der Hafen von Wladiwostok werde nicht vor dem 1. Mai eisfrei, und
diese 5 Monate müsse man also auszufüllen suchen. Warum aber dann
die Abreise nicht hinausgeschoben wurde, wußte mir niemand zu sagen,
ebensowenig wie man mir die Frage beantworten konnte, wer denn
eigentlich der geistige Urheber des Reiseplanes sei und wer die Einzeln-
heiten desselben in geographischer, wissenschaftlicher, sanitärer und
politischer Beziehung ausgearbeitet habe.
Den nautischen Teil dieser so wichtigen Vorstudien hat Admiral
Bassargin übernommen, im übrigen aber scheint wenig vorgearbeitet
worden zu sein, außer vom Zarewitsch selbst, dessen persönlichen Wün-
schen von seinem erlauchten Vater gern entsprochen wird, denn Kaiser
Alexander betrachtet ihn jetzt als erwachsen und zu selbständigem
Denken und Handeln reif.
Was nun den langen Aufenthalt In Britisch-Indien anbetrifft, so ist
wohl anzunehmen, daß sich der Großfürst, welcher englisch wie seine
Muttersprache redet, ganz der englischen Führung überlassen wird; ob
Sir Mackenzie Wallace, der ehemalige Sekretär Lord Dufferins, der
Aufforderung, über welche ich unlängst zu berichten mich beehrte,
Folge leisten wird, ist noch nicht bekannt geworden; neuerdings aber
habe ich gehört, daß Mr. Hardinge, Botschaftssekretär in Konstanti-
nopel, der mehrere Jahre als Sir Robert Moriers nützlichster Arbeiter
hier war und sehr unterrichtet, gewandt und tätig ist, berufen wurde,
den russischen Gästen, deren Sprache er kennt, in Indien zur Seite
zu stehen.
Dem hiesigen holländischen Gesandten ist amtlich gesagt worden,
daß Seine Kaiserliche Hoheit Ende Februar, ich glaube am 24., in
Batavia einzutreffen und einige Tage dort zu verweilen gedenkt.
Die Mitteilung, welche mir der chinesische Geschäftsträger vor
einigen Monaten machte, wonach der Hauptstadt Chinas ein offizieller
Besuch zugedacht sei, wird sich nicht bestätigen; wohl aber dürfte dem
japanischen Hofe diese Auszeichnung widerfahren; die russische Re-
gierung läßt ja überhaupt keine Gelegenheit, sich Japan zu verpflichten,
ungenutzt vorübergehen.
Der wichtigste Abschnitt der Reise des Thronerben, der be-
lehrendste für ihn, der fruchtbringende für sein Vaterland, beginnt dort,
wo er den Fuß auf russischen Boden setzen wird, in Wladiwostok.
360
Selbst wenn der zweite Teil des weitreichenden Reiseprogramms
nicht vollständig zur Ausführung kommen sollte, so würde schon die
Erwartung, daß der Zarewitsch quer durch Sibirien fahren will, große
Fortschritte zur Folge haben; man darf annehmen, daß schon heute
viele Tausende geschäftiger Hände Straßen und Brücken ausbessern,
Gefängnisse reinigen, Spitäler in Stand setzen und zu beiden Seiten des
8000 Werst langen Weges Potemkinsche Dörfer bauen, aus denen,
ebenso wie in Südrußland, im Laufe eines halben Jahrhunderts blühende
Städte werden können.
Herr von Oom, vortragender Privatsekretär Ihrer Majestät der
Kaiserin, welcher ebenso wie General von Richter vom verstorbenen
Thronfolger in den Dienst des Kaiserpaares übertrat und trotz mancher
Anfeindungen in seiner Vertrauensstellung blieb, hat, wie er mir streng
vertraulich erzählte, den General Danilowitsch gefragt, ob er denn
den Zarewitsch einigermaßen auf dasjenige vorbereitet habe, was er in
Sibirien zu sehen bekommen werde, und worauf er seine Aufmerksam-
keit richten solle. Herr von Oom hat hierbei besonders auf das De-
portationssystem hingewiesen, auf welches durch das Kennansche Buch
die Aufmerksamkeit Amerikas und Europas neuerdings gelenkt wurde.
Der Erzieher hat erwidert, dies sei nicht geschehen und sei auch nicht
nötig; jene Orte lägen weit ab vom Wege des Großfürsten. An diesen
hat sich nun der biedere Geheimrat Oom direkt g^ewendet, und Seine
Kaiserliche Hoheit hat ihm geantwortet: „Lassen Sie den Alten nur
reden, ich werde doch alles sehen, was ich sehen wilL"
Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht ist der Reiseplan des Zare-
witsch nicht genügend durchdacht; unter anderem scheint mir die
Wagenfahrt durch das Land zwischen dem Amur und dem Baikalsee
Ende Mai oder Anfang Juni sehr schwierig. Wenn man das Pro-
gramm, so wie es jetzt besteht, einhält, so würde der Großfürst erst
im August hierher zurückkehren, um bald nachher seine erlauchten
Eltern nach Kopenhagen zu begleiten und dann, heute übers Jahr,
am 9. November 1891 ihre silberne Hochzeit in St. Petersburg mit
ihnen zu feiern.
Es ist wohl eine merkwürdige Erscheinung, daß der russische
Thronerbe aus eigenem Antriebe seinen ersten freien Flug nicht dorthin
nimmt, wo sich Genüsse jeder Art einem zweiundzwanzigjährigen
Prinzen bieten, sondern nach dem fernen Osten, wohin Rußland zum
eigenen und zu unserem Besten mehr und mehr seine Blicke richtet;
der Reihe hierauf deutender Anzeichen, dem Bau der transkaspischen
Bahn, der Reise des Finanzministers nach Merw und Turkestan und
den Entwürfen sibirischer Schienenwege schließt sich die Reise des
Zarewitsch bedeutungsvoll an.
v.Schweinitz
361
Nr. 1616
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Wien Prinzen Heinrich VII. Reuß
Konzept von der Hand des Vortragenden Rats von Holstein
Nr. 39 Berlin, den 30. Januar 1891
Geheim [abgegangen am 2, Februar]
Gestern abend brachte Graf Schuwalow, unbefangen und sehr
heiter, das Gespräch auf die deutsch-russischen Beziehungen. Er be-
urteilte dieselben als günstig, beklagte aber den Mangel jedes vertrags-
mäßigen Bandes. Wir hätten doch ein solches mit Österreich. Aller-
dings habe dieses Abkommen einen defensiven Charakter. Aber was
wir z. B. tun würden, wenn Rußland nach Bulgarien hineingehe? Nicht,
daß man im geringsten diese Absicht habe, aber die Möglichkeit sei
doch gegeben. Der Botschafter hob dabei hervor, daß der vom Fürsten
Bismarck so eifrig vertretene Gedanke einer geographischen Teilung
der balkanischen Interessensphären zwischen Rußland und Österreich
gänzlich undurchführbar sei.
Die Form der Äußerungen war halb scherzhaft, halb akademisch.
Nur der Umstand, daß Graf Schuwalow mit den verschiedenartigsten
Windungen mehrfach auf dieselben Punkte zurückkam, gestattet die
Annahme, daß es sich vielleicht um eine Rekognoszierung handelte.
Ich hielt mich an die Form und vermied eingehende Erörterungen,
indem ich auf den allmähUch bekannt gewordenen Inhalt (ier Ab-
machungen verwies.
Dies zu Euer pp. persönlichen Information.
Marschall
Nr. 1617
Der Konsul in Kiew Raffauf an den Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 1000 Kiew, den 23. März 1891
Die mannigfachen Ereignisse, welche die europäische Politik in
neuester Zeit brachte, haben hier nur wenig Eindruck gemacht. Was
speziell Deutschland angeht, so verhält sich die russische Presse
höhnisch, und das Publikum vermag nicht im entferntesten sich ein
Bild von den dortigen Vorgängen zu machen. Es behilft sich mit der
Annahme, daß immer mehr in Deutschland alles drunter und drüber
gehe. „Neuer Kurs'' bedeutet für die Leute so viel, daß das deutsche
Reich der Auflösung entgegentreibt.
Das Verständnis für deutsche Verhältnisse, daß in gewisser Be-
ziehung ebenso wie das Interesse früher unzweifelhalft vorhanden war,
362
1
ist in den letzten Jahren verwirrt worden. Über diesen Punkt sind mir
von verschiedenen Seiten schon des öfteren Bemerkungen gemacht
worden. Neuerdings hat sich hierüber ein angesehener und hoch-
gebildeter Russe folgendermaßen ausgesprochen*
„Wie sollten wir uns wohl hier eine Meinung über Deutschland
bilden können! Niemand liest eine deutsche Zeitung. Wer eine solche
halten wollte, würde sie ja doch nur geschwärzt und somit verstümmelt
in die Hand bekommen. Kann man es uns also verargen, wenn wir uns
mit unseren russischen Zeitungen begnügen? Wir sind seit Jahren ge-
wöhnt, unausgesetzt Anschuldigungen der schlimmsten Art gegen
Deutschland in unseren Blättern zu lesen. Wir sehen und hören aber
fast nie etwas von Widerlegung dieser Anschuldigungen. Kann man
sich da wundern, wenn der Deutschenhaß immer mehr bei uns Fort-
schritte macht? Und eigentlich war es anfangs nur eine Handvoll
Schreier, die gegen Deutschland zu Felde zog. Habt Ihr irgend etwas
getan, um gegen diese Schreier einen Wall zu errichten? Kein be-
rufener Verteidiger ließ sich vernehmen gegenüber jenen Angriffen*.
So wuchs der Chor, und die russische Gesellschaft leistete allmählich
Heeresfolge, bis es schließhch zum guten Ton geworden ist, deutsch-
feindlich zu sein."
TatsächHch steigt der Deutschenhaß herab in immer breitere Volks-
kreise. Die „Erziehung durch die Presse" tut eben unbehindert ihre
Dienste. Auch in der Klasse der Gewerbetreibenden, bei denen noch
vor drei Jahren garnichts von Feindseligkeiten gegen den „Nemetz"
zu merken war, gewinnt der Haß gegen Deutschland immer mehr
Boden.
Schien an einer Stelle sich eine Besserung zu zeigen, nämlich in
der Beurteilung der Persönlichkeit Seiner Majestät unseres Kaisers, so
haben die allerneuesten Ereignisse in Deutschland diesen Fortschritt wie-
der hinweggeschwemmt. Jetzt ist die Auffassung zurückgekehrt, die man
sich früher entworfen, vielleicht noch in verstärktem Maße. Vor allem
konstatiert man — und das mit sichtlicher Genugtuung — , daß der
deutsche Kaiser seinem ganzen Charakter nach wohl imstande wäre,
sich eines Tages zu einem Kriege gegen Rußland fortreißen zu lassen.
Und das wäre es grade, was die meisten hier wünschen. Zu diesem
engeren Thema gehört die Schadenfreude, mit der man die neuesten
Ereignisse in Deutschland begrüßt. Bei jedem neuen Vorgang glaubt
man nach einem Grunde zur Freude in Rußland suchen zu müssen, pp.
Raffauf
* Anmerkung im Berichte Raffaufs: Es mag hier daran erinnert werden, daß der
„Kiewljanin", mit dem das Konsulat in Fühlung getreten, durch sein Eintreten
ifür die deutschen Kolonisten doch manches erreicht hat. Wenigstens wagen es die
kleinen Kläffer, wie der „Wolhynetz" und der .,\Veltzin", nicht mehr so leicht-
hin, Artikel gegen den „Nemetz" zu bringen, aus Furcht, daß ihnen ein größerer,
der „Kiewljanin", in den Nacken kommt.
363
Nr. 1618
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 195 St. Petersburg, den 18. Juni 1891
Ganz vertraulich
Das russische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten macht
seinen Jahresabschluß altem Gebrauche gemäß zu Ostern, und um
diese Zeit legt der Minister seinem Souverän eine Übersicht über die
politische Gesamtlage vor; dies hat sich im laufenden Jahre wegen
wiederholter Trauerfälle und wegen der Moskauer Reise Seiner Maje-
stät verzögert und ist erst vorgestern geschehen.
Herr von Giers erzählte mir, sein Jahresbericht sei im ganzen
recht befriedigend ausgefallen und er habe sich dabei überzeugen
können, daß der Kaiser Alexander fester als je sei in den Grundsätzen
und Überzeugungen, welche die bisher befolgte friedfertige Politik auch
für die Zukunft sicherstellen.
„Der Kaiser", so sagte der Minister unter anderem, „ist so ent-
schieden abgeneigt, kriegerische Machtmittel anzuwenden, daß er auch
„nach der anderen Seite hin", nämlich gegen Persien, nicht drohen will,
obgleich man uns dort fortwährend Schwierigkeiten an der Grenze
macht."
„Im allgemeinen", so fuhr Herr von Giers fort, „ist die Lage gut
mit Ausnahme der einen Stelle, wo die schmerzende Wunde noch
immer nicht geheilt ist, nämlich in Bulgarien, aber auch dort ist Seine
Majestät fest entschlossen, nichts zu tun, sondern dieselbe abwartende
Haltung zu bewahren wie bisher."
Bei flüchtiger Musterung des Gesamtbildes, welches die diplo-
matische Situation bietet, sagte Herr von Giers, diese sei ruhiger ge-
worden, seit Herr Crispi nicht mehr im Amte sei*; „einen solchen Mann
in die gute Gesellschaft aufzunehmen, war kein glücklicher Griff des
Fürsten Bismarck; aber freilich war der Fürst damals von hier aus
gar zu sehr provoziert worden" i; diese Bemerkung führte den Herrn
Minister zurück in die Erinnerung an jene schweren Zeiten, in denen
er den entscheidenden Kampf gegen Katkow siegreich bestand.
„Sie erinnern sich", sagte Herr von Giers, „daß Seine Majestät
damals Katkow befahl, zu mir zu gehen, und daß ich ihn nicht empfing;
als mich der Kaiser dann fragte, warum ich mich geweigert habe,
Katkows Erklärungen anzuhören, antwortete ich: „Euere Majestät
würden aufgehört haben, mich zu achten 2, wenn ich es getan hätte."
Der Kaiser hat mir später recht gegeben und die Erfahrungen jener
Zeit sind ihm von großem Nutzen gewesen."
* Er hatte am 31. Januar seine Entlassung genommen.
364
Ich versicherte Herrn von Oiers, daß ich ihm zu seinem gün-
stigen Jahresabschluß aus voller Überzeugung Glück wünschen könne;
das Ansehen Rußlands und das Vertrauen in die guten Absichten und
den edlen Charakter seines Kaisers habe bei Fürsten und Völkern zu-
genommen; „aber", so fügte ich hinzu, „dabei marschiert ein Ba-
taillon, ein Regiment, eine Division nach der anderen von Norden,
Osten und Süden nach dem Westen" 3. ^^SoUte dies wirklich wahr
sein?" entgegnete er*; „ja", sagte ich, „hierüber ist kein Zweifel mög-
lich, und wenn Sie es wünschen, kann ich es Ihnen einzeln aufzählen."
Hierauf antwortete Herr von Giers: „Man sagt mir immer ^ (hiermit
meinte er die Generale), Österreich wolle Krieg mit uns; natürlich nicht
allein, sondern mit Ihrer Hülfe." Ich erwiderte, daß er dies doch un-
möglich glauben könne; wenn Österreich für seine bedrohte Sicher-
heit sorge, so sei dies nur zu berechtigt, pp.
V. Schweinitz
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 ?
2 bravo!
s richtig
* Aber!! das ist stark.
* Matte Ausrede! „Man sagt"! geht ihn doch nichts an; sehe er doch mit eignen
Augen
Schlußbemerkung des Kaisers:
Wir werden sehn. Im übrigen, they go on drifting as before.
Nr. 1619
Der Geschäftsträger in Petersburg Alfred von Bülow an den
Reichskanzler von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 366 St. Petersburg, den 25. November 1891
Vertraulich
Der Kaiserliche Botschafter, welchem die langsam fortschreitende
Besserung gestattet, täglich nur einen oder zwei seiner nächsten Be-
kannten im Krankenzimmer zu empfangen, hat gestern für Herrn Pobe-
donoszew eine Ausnahme gemacht, weil es Seiner Exzellenz nützlich
erschien, die Anschauungen des Oberprokurators des heiligen Synods
gleich nach Rückkehr desselben aus der Krim kennenzulernen.
Der Herr Botschafter hat mit Herrn Pobedonoszew ein längeres
Gespräch gehabt. Der Oberprokurator des heiligen Synods ändert
seine Ansichten bekanntlich nie. Alle Argumente, welche gegen die-
selben vorgebracht werden können, kennt er, will sie aber nicht gelten
lassen, sondern verfolgt sein Ziel, Einheit in Religion, Sprache und
Nationalität in Rußland herzusiellen, in rücksichtslosester .Weise.
365
Diejenigen Äußerungen des Herrn Pobedonoszew, welche, ohne
wesentlich Neues zu bringen, besonderes Interesse bieten und ein cha-
rakteristisches Licht auf hier verbreitete irrige Anschauungen werfen,
hat der Herr General aufgezeichnet und mir zu vertrauHcher dienst-
licher Verwertung übergeben.
Euerer Exzellenz verfehle ich nicht, diese Aufzeichnung* ehr-
furchtsvoll zu überreichen.
A. von Bülow
Anlage
Aufzeichnung Seiner Exzellenz des Herrn Botschafters,
eine Unterhaltung mit Herrn Pobedonoszew betreffend.
Nachdem Herr Pobedonoszew über den Notstand und über die
Schwierigkeiten gesprochen hatte, welche die Ausdehnung der be-
troffenen Gebiete, der Charakter des Landvolks, der Mangel an ge-
eigneten Organen usw. der Regierung bereite, erwähnte er mit Teil-
nahme der vielen Krankheits- und Todesfälle, durch welche der russische
Hof heimgesucht wurde, und gab seiner tiefen Betrübnis über das Hin-
scheiden der Großfürstin Paul** Ausdruck. Gerade diese Ehe, die ein-
zige, welche zwischen einem jüngeren Großfürsten und einer wirklich
orthodox geborenen Prinzessin bestanden, lag dem Oberprokurator des
heiligen Synods ganz besonders am Herzen. Am Schlüsse seiner trüben
Betrachtungen sagte Herr Pobedonoszew: „und bei allem diesem die
schreckliche Ungewißheit! Die fürchterliche Gefahr eines Krieges!"
„Was für einen Krieg meinen Sie denn?" fragte ich (Herr
von Schweinitz). „Ich sehe keine neue Kriegsgefahr als diejenige,
welche der Kaiser von Rußland durch seine Behandlung der Franzosen
und deren hierdurch gesteigerten Übermut geschaffen hat."
Es war hier und im Auslande die Meinung verbreitet, daß Herr
Pobedonoszew die Verbrüderung mit der gottlosen Nation gemißbilligt
habe. Die Antwort des Oberprokurators des heiligen Synods belehrte
mich eines anderen. Er gab zwar zu, daß besonnene Männer die Über-
treibungen tadelten, zu denen der Kronstädter Besuch*** geführt habe.
Doch stellte sich Herr Pobedonoszew nichtsdestoweniger sehr ent-
schieden auf jenen Standpunkt, welchen Herr von Giers einnimmt, wenn
er hervorhebt, daß Rußland durch die Tatsachen und die Art der Er-
neuerung des Dreibundes sowie durch die Aufnahme unseres alier-
gnädigsten Herrn in England bedroht wurde und nicht länger allein
bleiben durfte.
Herr Pobedonoszew sagte weiter, Rußland habe überall, außer
* Siehe Anlage.
** t 24. September 1891.
*♦* Über den Besuch der französischen Flotte in Kronstadt (23. Juli bis 8. August)
und dessen Rückwirkung auf die deutsch-russischen Beziehungen siehe Kap. XLVII.
366
eben in Frankreich, nur Feinde. Diese seine Behauptung ist nicht ganz
unrichtig, insofern das System Pobedonoszews in direi<tem Widerspruch
mit allen heiligen und auch mit allen materiellen Interessen der Mensch-
heit steht.
Ich will aus der Darlegung des Genannten noch zwei Sätze an-
führen; „Beobachten Sie das schnelle Heranwachsen der deutschen
Sozialdemokratie," so sagte der Oberprokurator, „lesen Sie Bebeis
Reden! Jene mit erschreckender Schnelligkeit an Macht gewinnende
Partei, welche den Krieg im allgemeinen verwirft, fordert ihn gegen
uns, nur ^gegen uns."
Dann sprach Herr Pobedonoszew über den Haß Englands gegen
Rußland. Der Oberprokurator des heiligen Synods ist in ungewöhn-
lichem Maße mit der englischen und nordamerikanischen Literatur ver-
traut, vorzugsweise mit der theologischen und soziologischen. Er liest
viele reviews, korrespondiert auch mit hohen Mitgliedern der angli-
kanischen Kirche, kurz: er hat einen weiten Überblick über das un-
geheure Gebiet von politischen Interessen und Kulturbestrebungen, auf
welchem sich die anglosächsische und die russische Welt schroff gegen-
überstehen. Nun ist Herrn Pobedonoszew nicht entgangen, daß die
Zahl seiner anglikanischen Freunde abnimmt, während die .\ngriffe
gegen ihn sich mehren. Er klagt über die vielen Lügen, welche von
England aus über Rußland und speziell über ihn verbreitet werden,
wie z. B. jetzt über Studentenunruhen in Moskau, Verhaftungen, sowie
Verschickung von armenischen Bischöfen, Stundisten, Molokanen und
anderen Sektierern. An alledem sei kein wahres Wort.
Als Herr Pobedonoszew nochmals auf die Unsicherheit der gegen-
wärtigen Lage zurückkam und uns alle Schuld daran zuschob, konnte
die Truppenanhäufung im Westgebiet nicht unerwähnt bleiben. Der
Oberprokurator des heiligen Synods sieht darin nichts, als die unabweis-
liche Deckung gegen überraschende Angriffe. Ich sagte, „wir hätten
nichts dagegen, daß Rußland auf einem Gebiet, welches so groß wie
Deutschland sei, ebenso viele Truppen aufstelle, wie wir in Friedens-
zeiten überhaupt haben; das Herausfordernde und Bedrohliche liege
darin, daß Massen von marschbereiter Kavallerie und vollständig be-
spannter Artillerie unmittelbar an der Grenze lägen".
Der Oberprokurator, welcher sich weder mit militärischen noch
mit diplomatischen Fragen befaßt, entgegnete mir, „Rußland müsse
jeden Augenblick gewärtig sein, von uns angegriffen zu werden, und
zwar ohne Kriegserklärung. Von Seiner Majestät Kaiser Wilhelm sei
dergleichen wohl zu erwarten"! „Haben Sie wirklich", so unterbrach
ich Herrn Pobedonoszew, „schon jemanden begegnet, der so etwas
glaubt?" „Gewiß," lautete die Antwort Pobedonoszews, „alle halten
es für möglich, und wenn man so manches in Betracht zieht, so kann
man nicht anders, als an eine solche Gefahr glauben. Bei uns sagen
daher alle: ,Gott behüte uns vor dem Kriege!'"
367
Nr. 1620
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 40 ,Wien, den 9. Ftbruar 1892
Als wir gestern über die serbischen Angelegenheiten* und über die
Haltung Rußlands redeten, knüpfte Graf Kälnoky daran einige all-
gemeine Betrachtungen über die politische Lage.
Es sei auffallend, so äußerte er, daß, wie er mir schon neulich ein-
mal gesagt, in St. Petersburg das Bewußtsein der bedenklichen inneren
Lage noch so wenig zum Durchbruch gekommen zu sein scheine. Fürst
Lobanow habe ihm selbst eingestanden, daß von militärischer Seite
zum Kriege gehetzt würde. Auch sei nicht zu bemerken, daß irgendein
Stillstand in den militärischen Vorbereitungen an unseren Grenzen ein-
getreten sei. Wenn es auch begreiflich wäre, daß man die ungeheuren
Mundvorräte in den polnischen Magazinen als eisernen Bestand kon-
servieren wolle, so wäre es doch wohl natürlich gewesen, wenn man
den für den Kriegsfall aufgespeicherten Überfluß für die hungerleidenden
Provinzen verwendet haben würde i. Es hätte fast den Anschein, als
wenn die Kriegspartei, die sich doch wohl klar sein müßte, daß Ruß-
lands Kraft auf Jahre hinaus lahm gelegt sein werde, die augenblick-
lich noch bestehende Kriegsbereitschaft benutzen und im Frühjahr einen
coup de tete machen wolle.
Trotz dieser bedenklichen Anzeichen glaube er aber nicht an eine
drohende Kriegsgefahr. Inwieweit der Zar von dem Zustande seines
Reiches unterrichtet sei, könne man nicht wissen ; aber obgleich man
ihm sicherlich vieles verberge, so scheine es doch in seinem Kopfe
aufzudämmern. Die plötzliche Entlassung des Verkehrsministers** deutete
darauf hin, wie er doch zu merken anfange, daß nicht alles mit rechten
Dingen zuginge. Auch spräche man von der Entfernung des unfähigen
Ministers des Innern***, Die sprunghaft angeordneten Maßnahmen zur
Bekämpfung der Hungersnot deuten außerdem auf ein gewisses Un-
behagen in den höchsten Kreisen Rußlands hin.
Jedenfalls bestehe dies Gefühl des Unbehagens, und es sei eine
alte psychologische Beobachtung, daß man in diesem Zustande, wenn
noch die Selbstverschuldung hinzutritt, besonders empfindlich sei. Eine
solche Empfindlichkeit treibe aber nur zu leicht zu unüberlegten
Schritten.
Wir hätten in der Hungersnot einen unerwarteten Bundesgenossen
gefunden; er sei aber der Ansicht, daß man gerade deshalb noch viel
vorsichtiger in der Behandlung Rußlands sein müsse, als dies über-
• Vgl. Bd. IX, Kap, LV.
** A. T. Hübbenet.
•** J. D, Durnowo.
368
J
haupt schon geboten sei. Würde man dort den Verdacht schöpfen,
daß Österreich, auf diesen Bundesgenossen zählend, sich etwa etwas
ungeniertere Bewegungen in seiner Orientpolitik aneignen sollte, so
würde dies die russische Empfindlichkeit nur steigern. Fänden wir und
Österreich mit Recht, daß die militärischen Vorbereitungen Rußlands
etwas gar zu ungeniert betrieben würden, so würde es ratsam sein,
sich nicht merken zu lassen, daß man dies nicht gerade als Freundlich-
keit auffasse. Kühl, höflich und abwartend, in keinem Fall heraus-
fordernd 2, das sei seine Devise. Dem Gifte, welches in das innerste
Mark des russischen Kolosses eingedrungen sei, müsse man sein Zer-
störungswerk überlassen. Was daraus entstehen werde, sei nicht ab-
zusehen; für jeden Fall könnten wir aber mit einiger Bestimmtheit
darauf rechnen, daß Rußland uns während einiger Jahre in Ruhe lassen
werde, wenn es nicht provoziert würde.
Hierzu gehöre eine größtmöglichste Entfaltung einer prononcier-
ten österreichischen Politik in den Balkanländern; mit mehr Sorgfalt
als je, würde er, Graf Kälnoky, sich derselben enthalten, und sich
namentlich nicht in die bulgarischen Angelegenheiten mischen.
Fürst Bismarck habe ihm seinerzeit öfter sein System auseinander-
gesetzt, was darauf hinauslief: Rußland den Krieg zu machen, sei eine
mißliche Sache, weil weder Deutschland noch Österreich im glücklich-
sten Falle dabei gewinnen könnten. Deshalb müsse man lavieren, um
einem Bruche vorzubeugen. Der Fürst habe, ohne mit Sicherheit be-
zeichnen zu können, was kommen würde, immer mit Bestimmtheit
vorausgesagt, daß etwas kommen würde, was den morschen russi-
schen Staatsorganismus unterminieren und dieses, heut so gefährliche
Reich, für seine Nachbarn unschädlich machen würde.
Er, Graf Kälnoky, habe sich dieser Ansicht auf Grund seiner
Kenntnis Rußlands immer angeschlossen. Dieses Etwas scheine nun-
mehr gekommen zu sein, man müsse demselben seinen Lauf lassen.
Als sehr bemerkenswert und für die allgemeine Lage wichtig,
bezeichnet der Minister die Erscheinungen in Frankreich. Auch hier
scheine man die Augen offen zu halten und zu bemerken, daß es mit
den großen, auf die russische Allianz gebauten Hoffnungen nicht so
glänzend aussähe, wie man dies französischerseits im letzten Sommer
gern annehmen wollte*. Der Rausch von Kronstadt sei schon sehr ver-
flogen, und die russische Presse selbst habe dazu beio^etragen, die
französischen Hoffnungen zu ernüchtern. In Frankreich aber, wo man
noch im letzten Frühjahr und Sommer sehr übermütig zu werden und
sich militärisch bereits für unbesiegbar zu halten anfing, sei man jetzt
bedeutend bescheidener geworden. Die trüben Erfahrungen, die die
Regierung bei den großen Manövern des letzten Herbstes über die
Schlagfertigkeit der Armee, namentlich aber über die Fähigkeit ihrer
Führer gemacht, hätten sehr niederschlagend gewirkt.
• Vgl. darüber Kap. XLVII.
24 Die Qr«Be Politik. 7. Bd. 369
Dazu käme die Finanzfrage. Am besten kennzeichne die Ent-
täuschung, die Frankreich mit Beziehung auf Rußland erlebe, der ent-
schiedene Widerwillen, diesem Reiche Geld zu leihen*. Graf Kälnoky
erzählte mir, daß selbst mein französischer Kollege ihm neulich gesagt
habe, er glaube kaum, daß es noch möglich sein werde, irgendwelchen
französischen Kapitalisten zu bewegen, sein Geld in einer russischen
Anleihe anzulegen.
Daß diese französischen Stimmungen der Erhaltung des Friedens
zuträglich sind, hält der Minister für unzweifelhaft.
Mir ist es schon längst bekannt gewesen, daß Graf Kälnoky sich
nicht auf eine abenteuerliche Politik einlassen will; seine Äußerungen,
welche ich im Vorstehenden zu resümieren bemüht gewesen bin,
zeigen mir aufs neue, wie aufrichtig er dies meint, und wie sehr er
bestrebt ist, durch eine vorsichtige Haltung jeden Vorwand zu be-
seitigen, daß andere mit Österreich-Ungarn Händel anfangen könnten.
H. VII. P. Reuß
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ist zum Teil versucht worden; gelang aber nicht, da die Magazine leer waren
2 d. h. nur keine Gegenmaßregeln treffen
Nr. 1621
Der preußische Gesandte in Dresden Graf Carl von Dönhoff an den
preußischen Minister der Auswärtigen Angelegenheiten
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 37 Dresden, den 11. Februar 189,2
Ganz vertraulich
Seine Majestät der König von Sachsen beehrte mich gestern abend
mit einer längeren Ansprache, wobei er unter anderen auch die russi-
schen Verhältnisse in den Kreis seiner Betrachtungen zog. Anlaß hierzu
gaben höchstihm einige vertrauliche Mitteilungen des unmittelbar aus
Rußland hier eingetroffenen schwedischen Kronprinzen. Aus diesen
Mitteilungen, sagte mir Seine Majestät, entnähme er, daß sehr bedenk-
liche Zustände in Rußland herrschen müßten : Verwirrung in allen
Zweigen der Verwaltung, Ratlosigkeit, Gleichgültigkeit oder Unzuver-
lässigkeit der Beamten und Unstetigkeit im Gange der Regierungs-
maschine, hervorgerufen durch steten Wechsel der leitenden Persönlich-
keiten. Der Kaiser, der anscheinend ganz unter dem Einflüsse des
Fanatikers Pobedonoszew stände, schiene „das Heft gänzlich aus den
Händen verloren zu haben", und glaube außerdem weder an die Ver-
wirrung in den inneren Zuständen noch an den Notstand, der sich in
* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1516.
370
manchen Gegenden in erschreckender Weise fühlbar mache. In dieser
.Weise könnten die Dinge in Rußland nicht lange mehr fortgehen, sonst
sei der Eintritt einer Katastrophe über kurz oder lang zu befürchten.
Dabei soll, so fuhr der König fort, der Kaiser immer noch von Miß-
trauen und wenig wohlwollender Gesinnung gegen die Regierung Seiner
Majestät des Kaisers und Königs erfüllt sein. Besonders soll Kaiser
Alexander in diesem Sommer durch eine angebliche öffentliche Äuße-
rung Seiner Majestät des Kaisers und Königs vor der allerhöchsten
Reise nach England bei Gelegenheit einer Festlichkeit des Norddeut-
schen Lloyd in Bremen i, wodurch allerhöchstderselbe die damals
grade erfolgte Erneuerung des Dreibundes verkündet habe, verstimmt
worden sein. Er habe hierauf mit der demonstrativ freundlichen Auf-
nahme der französischen Flotte in Kronstadt geantwortet 2.
Ich erinnerte mich bei dieser Äußerung des Königs sogleich der
von mir Anfang November v. Js. gemeldeten vertraulichen Mitteilung
des hiesigen russischen Ministerresidenten* über eine ähnliche Äuße-
des Herrn von Giers, wonach Kaiser Alexander über eine Rede Seiner
Majestät des Kaisers und Königs in Kiel nach allerhöchstdessen Rück-
kehr von England verstimmt gewesen wäre. Beide Äußerungen dürften
in Zusammenhang stehen, und es erscheint die Annahme nicht aus-
geschlossen, daß entweder Herr von Giers oder Baron Mengden sich
damals ungenau ausgedrückt und die angeblichen Worte Seiner Majestät
in Bremen über die Erneuerung des Dreibundes im Sinne gehabt haben,
da Seine Majestät der Kaiser und König nach allerhöchst seiner Rück-
kehr von England tatsächlich in Kiel nicht öffentlich zu sprechen
geruht hat 3,
Der König fuhr fort: Diese Auslegung des demonstrativen Emp-
fanges der französischen Gäste in Kronstadt habe ihn überrascht, da
er ihn bisher als die russische Antwort auf den Seiner Majestät dem
Kaiser und Könige in England bereiteten warmen und herzlichen Emp-
fang** angesehen habe. Vielleicht interessiere diese Begründung auch
in Berlin*. Er ermächtige mich daher ausdrücklich, sie Euerer Ex-
zellenz zu melden.
Ich verfehlte nicht, Seiner Majestät für diese Ermächtigung ehr-
erbietigst zu danken.
Graf Carl Dönhoff
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
^ Da bin ich überhaupt gar nicht gewesen***
2 er ist eben auf eine Lüge hereingefallen, und hat sich unendlich viel Schade
getan
' richtig
* mir war sie schon lange bekannt
* Baron Mengden.
** Vgl. Bd. VIII, Nr. 1726, Fußnote **.
*** Es liegt wohl eine Verwechselung mit der Fahrt Wilhelms II. von Hamburg
nach Helgoland (29. Juni) vor, auf der der Kaiser dem Direktor der Paketfahrt,
24* 371
Nr. 1622
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 12. Februar 1892
Seine Königliche Hoheit der Kronprinz von Schweden erwies mir
heute die Ehre eines längeren Besuchs. Er kam sofort auf seine Ein-
drücke in St. Petersburg zu sprechen und sagte mir in dieser Beziehung
folgendes: die Stimmung in der russischen Hauptstadt sei eine sehr
trübe und gedrückte, und wenn auch Gespräche über den gegenwärtigen
Notstand vermieden würden, so trete einem doch überall das Gefühl
entgegen, daß das gegenwärtige System abgewirtschaftet habe und man
einer Katastrophe entgegengehe. Am schärfsten habe die Großfürstin
Maria Pawlowna diesem Gefühle mit den Worten Ausdruck gegeben :
„wir stehen vor einem Krach, von einem Tage zum andern können
wir gewärtigen, davongejagt zu werden". Die interessanteste Er-
scheinung sei die weitverbreitete Furcht vor einem deutschen Angriff;
die Überzeugung von der derzeitigen Schwäche, ja Ohnmacht Ruß-
lands trete in diesen Befürchtungen deutlich zutage. Auf meine Frage,
wie es denn möglich sei, daß verständige Männer an einen deutschen
Angriff glaubten, da Rußland uns gar nichts zu bieten vermöchte, was
für uns ein begehrenswerter Siegespreis wäre, erwiderte der Kronprinz,
daß Männer, wie Herr von Giers, von der Grundlosigkeit jener Befürch-
tungen überzeugt seien, daß das Ohr des Kaisers aber nicht diesem
Staatsmanne, sondern in erster Linie Herrn von Pobedonoszew und
ferner dem Grafen Woronzow-Daschkow gehöre, der ebenfalls einen
schlechten Einfluß auf den Monarchen ausübe. Der Zar sei offenbar
durch zwei Dinge gegen Deutschland eingenommen worden, einmal
durch einzelne Manöverreden Kaiser Wilhelms, die man ihm als
kriegerisch und provozierend geschildert habe, und sodann durch den
Eklat, den man bei der Verkündung der Erneuerung des Dreibunds
gemacht habe. Ich bemerkte, daß in beiden Beziehungen der Zar offen-
bar falsch unterrichtet worden sei, da Seine Majestät der Kaiser nie-
mals eine kriegerische oder provozierende Rede gehalten habe und
ein besonderer Eklat bei der Erneuerung des Dreibunds überhaupt
nicht angewendet worden sei*. Daß in unsrer öffentlichen Meinung
sich eine Entfremdung gegenüber Rußland kundgebe, rühre von den
Vorgängen in Kronstadt sowie davon her, daß der Zar zweimal deut-
Nissen, Mitteilung von der erfolgten Verlängerung des Dreibundes gemacht hatte.
Über die Verstimmung, die der Abschluß des neuen Dreibundvertrages (6. Mai
1891) bei Kaiser Alexander zurückgelassen hatte, siehe Kap. XLVII, Nr. 1502.
* Vgl. Nr. 1621; ferner Kap. XLV, Nr. 1428, Fußnote, und Kap. XLVII.
372
sches Gebiet berührt habe*, ohne unserm Kaiser seinen Besuch zu
machen. Der Kronprinz entgegnete, daß die Kronstadter Feste dem
Zaren über den Kopf gewachsen seien; die Anhörung der Marseillaise
sei schließlich nichts Absonderliches, da jenes Lied nun einmal die Na-
tionalhymne der französischen Republik sei. Dagegen beruhe allerdings
der unterlassene Besuch am preußischen Hofe nicht in der Bequem-
lichkeit des Zaren oder in seiner zahlreichen Reisegesellschaft, sondern
in seinem bestimmten Willen, unserm Kaiser die Unzufriedenheit über
dessen Politik kundzutun. — Die Annahme des deutschen Kaisers, daß
die Königin von Dänemark den Zaren zur Unterlassung des Besuchs
bestimmt habe, sei unzutreffend. Die Königin sei sehr gescheit, intrigant
und antideutsch gesinnt, er glaube jedoch nicht, daß sie den Zaren in
dieser Beziehung beeinflußt habe; allerdings werde sie ihm auch nicht
zugeredet haben, seinen Besuch zu machen. Auf meine Bemerkung,
daß der Zar voraussichtlich, wie schon früher, durch entstellte und
falsche Mitteilungen über unsere Politik und speziell einzelne Aus-
sprüche des Kaisers zu seinem Entschluß gebracht worden sei, sagte
der Kronprinz, er würde es für sehr wünschenswert halten, wenn die
beiden hohen Herren sich einmal offen und gründlich aussprechen
könnten, und glaube er, daß hierzu eine Begegnung an einem neutralen
Orte der geeignete Weg sei. Er habe an eine Zusammenkunft in Däne-
mark aus Anlaß der goldenen Hochzeit in diesem Frühjahr gedacht,
allein Seine Majestät der Kaiser habe ihm gestern bestimmt gesagt,
daß er bei dieser Gelegenheit nicht nach Dänemark gehen werde.
Ich sagte dem Kronprinzen, daß eine offene Aussprache der beiden
Monarchen gewiß nützlich sein werde, eine Begegnung an einem neu-
tralen Orte würde ich jedoch nicht befürworten können; nachdem der
Zar entgegen den bestehenden Regeln der Courtoisie zweimal durch
Deutschland gereist, ohne unsern Kaiser zu sehen, würde unsere öffent-
liche Meinung nicht verstehen, wenn unser Kaiser mit dem Zaren an
einem andern Orte zusammentreffe als hier in Berlin; zudem böte an
einem neutralen Orte die Etikettenfrage so große Schwierigkeiten, daß
auch aus diesem Grunde dieser Weg nicht wohl gangbar sei. Der Kron-
prinz kam dann auf die finanzielle Lage Rußlands und glaubte dieselbe
* Am 25. September 1891 hatte das russische Kaiserpaar, von Kopenhagen kom-
mend, Berlin passiert; am 31. Oktober landete es wieder, von der dänischen Haupt-
stadt zurückkehrend, in Danzig, um die Reise ohne Aufenthalt zu Lande fort-
zusetzen. Am Berliner Hofe berührte es peinlich, daß weder die eine noch die
andere Gelegenheit zu einer Enviderung des kaiserlichen Besuchs in Narwa-
Peterhof ausgenutzt wurde. Vgl. die entschuldigenden Äußerungen Giers' zu
Reichskanzler von Caprivi vom 25. November 1891. Kap. XLVH, Nr. 1514. Ganz
anders freilich äußerte sich Giers am 21. November zu dem französischen Minister
Ribot, laut dessen Aufzeichnung: „L'Empereur n'a pas voulu s'arreter ä Bedin
parcequ'il lui est impossible de prendre un »visage composex. II ^tait trop irrite
contre TAIlemagne pour pyouvoir faire des politesses ä l'Empereur." Troisieme
Livre Jaune Frangais. L'AUiance Franco-Russe, p. 35.
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auf Grund seiner Informationen in Petersburg als sehr schlecht be-
zeichnen zu sollen. Ich sagte ihm, daß bei uns die Regierung [sich] in
der Frage etwaiger neuer russischer Anleihen neutral halte, die öffent-
liche Meinung dagegen — zumal, nachdem Frankreich ebenfalls den
Abschluß neuer Anleihen verweigere — gegen jeden Versuch deutscher
Bankiers, deutsches Kapital nach Rußland zu bringen, entschieden Stel-
lung nehme, pp.
Marschall
Nr. 1623
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 55 St. Petersburg, den 12. Februar 1892
Ganz vertraulich
Die hohen Erlasse Nr. 57 vom 4. und Nr. 65 vom 9. d. Mts.* habe
ich zu erhalten die Ehre gehabt, und verbinde nun mit ehrerbietigem
Danke für diese hochgeneigten Mitteilungen, welche sich auf die Unter-
redung des Grafen Kälnoky mit dem Fürsten Lobanow bezogen, den
Versuch, die hieran geknüpften Fragen zu beantworten.
Dem Berichte des Prinzen Reuß vom 30. v. Mts. zufolge hat der
russische Botschafter in Wien die Aufregung, welche Herr von Giers
unlängst zeigte, durch Hetzereien hiesiger Militärs, die den Krieg
wollten, zu erklären gesucht; Fürst Lobanow hat recht, wenn er an-
nimmt, daß die Aufgabe des russischen Ministers durch Generale er-
schwert wird, welche nicht müde werden, das Mißtrauen des Zaren
gegen Österreich-Ungarn zu nähren ; daß aber diese Generale jetzt
den Krieg wollen, ist höchst unwahrscheinHch; doch selbst wenn einige
hervorragende und ehrgeizige Militärs, auf Frankreich rechnend, auch
jetzt unter ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen und vor Vollendung
der Neubewaffnung zum Kriege drängen sollten, so sind sie vereinzelt.
Wenn unter „Partei" eine größere Anzahl von Personen zu verstehen ist,
welche zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes im Einverständnis
untereinander zusammenwirken, so gibt es in Rußland keine Kriegs-
partei, und hat auch, seit ich hier bin, keine gegeben.
Angesichts der alles Maß übersteigenden Rüstungen, der Sprache
der Zeitungen und der feindlichen Demonstrationen aller Art muß
diese Behauptung näher begründet werden. Zunächst ist oft Gesagtes
zu wiederholen, nämlich, daß viele gebildete Russen den Krieg wün-
schen, weil sie mit Sicherheit darauf rechnen, daß er zum Sturze des
• Siehe Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2125.
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herrschenden Systems führen werde. Die Zahl der Unzufriedenen,
welche diese Anschauung teilen, ist sehr groß; viele von ihnen hoffen
jetzt, daß die Übelstände, welche die Mißernte zutage fördert, diejenige
Wirkung haben mögen, welche sie von kriegerischen Mißerfolgen er-
warteten. Den unteren Schichten der Gesellschaft und den großen
Massen des Landvolkes ist alle Kriegslust fremd, wenn auch die un-
ausgesetzte Aufstachelung durch die Presse den Wunsch, daß die
Deutschen und die Österreicher einmal tüchtig geschlagen werden
möchten, im ganzen Lande angeregt hat; dies ist auch der Lieblings-
gedanke, mit welchem in hohen Kreisen gespielt wird, ohne den Willen,
auf eigene Gefahr seine Verwirklichung zu unternehmen. Weder am
Hofe noch in der hohen Beamtenwelt, noch im Reichrat und am
wenigsten im ganzen Bestände des Ministeriums des Äußern wüßte
ich eine Persönlichkeit zu bezeichnen, von welcher sich sagen ließe,
daß sie mit Bewußtsein zum Kriege treibe.
Tiefer eingehende Prüfung erfordert der Geist des Heeres; um ihn
zu schildern, muß ich in die Zeit zurückgreifen, in welcher die jetzige
Armee, die Schöpfung Dimitri Miljutins, aus den alten Truppenkörpern
mit 25 jähriger Dienstzeit neu erstanden ist.
Nach dem Krimkriege wurde während sechs Jahren nicht rekru-
tiert; der Kaukasus war 1859 pazifiziert; Schamyl gefangen worden, und
der Generalstabschef des siegreichen Fürsten Bariatinski, General Mi-
Ijutin, wurde Kriegsminister. Die Bauernbefreiung erfolgte 1861, der
polnische Aufstand 1862 und 63; ganz Europa, außer Preußen, nahm
Partei für die Polen, allerdings nur mit gemeinsamem Notensturm
gegen Rußland; dies war der Augenblick, in welchem Katkow die
von Alexander Herzen beherrschte, im europäischen Sinne revolu-
tionäre Stimmung der russischen Gesellschaft in die jetzt so hoch
gesteigerte nationalrussische wie mit einem Zauberschlage umwandelte.
Während unter dieser mächtigen Bewegung die übereilten alexan-
drinischen Reformen sich überstürzten, begründete der Kriegsminister
Miljutin sein wohldurchdachtes System, welches während voller zwanzig
Jahre mit eiserner Konsequenz durchzuführen ihm vergönnt war.
Die wunderbare Art, in welcher sich der Übergang aus dem Alten
in völlig Neues vollzog, zu schildern, ist hier nicht der Platz; ich will
nur erwähnen, daß zur Zeit, als ich hierher kam (1865), drei Jahr-
gänge alter, länger als 12 Jahre dienender Soldaten, und zwei Jahr-
gänge junger, von der Leibeigenschaft befreiter Leute, bei den Fahnen
waren. Die Prügelstrafe war abgeschafft, die Behandlung eine über-
aus milde, die Verpflegung eine bessere geworden, und nirgends
wurde die so plötzlich eintretende Erleichterung gemißbraucht.
Nun schritt Miljutin sofort zu dem Werke, welches sein größtes
werden sollte, und mit dessen Resultaten wir es jetzt zu tun haben:
er gründete zwei Kriegsschulen, viele Junkerschulen und Militärgymna-
sien und nährte in allen russischen Geist und Eifer zum Lernen; die
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modernen Anschauungen, die Vorliebe für die exakten und Naturwissen-
schaften kamen zur Geltung, die nationalen Gesinnungen wurden mehr
gepflegt als die ritterlichen und monarchischen; der größte Teil aller
jetzt dienenden russischen Offiziere bis zu den Regimentskommandeuren
und jüngeren Generalen hinauf ist aus Miljutins Erziehungsanstalten
hervorgegangen; am deutlichsten aber tragen die Mitglieder des General-
stabes den Stempel seiner Geistesrichtung. Miljutin war mehr Erzieher
als Soldat; was ihm an den Eigenschaften des letzteren fehlte, besitzt
General Wannowski in hohem Grade und hat es während seiner jetzt
schon zehnjährigen Amtsführung betätigt; dies hat viel dazu beigetragen,
daß die russische Armee die hohe Stufe, auf welcher sie jetzt steht,
erreichen konnte, während so vieles andere im Reiche zurück-
gegangen ist.
Während mehr als dreißig Jahren hat sich im Kriegsministerium
nur einmal, während siebenundsiebzig Jahren im Ministerium des
Äußern nur zweimal ein Personenwechsel vollzogen.
Zu spät erkannte der Feldmarschall Fürst Bariatinski die Ziele,
nach denen sein ehemaliger Stabschef strebte, und doch hätte er vor-
aussehen können, daß dieser ähnliche demokratische oder richtiger
gesagt allem Vornehmen feindliche Tendenzen verfolgen werde, wie
sein hochbegabter Bruder Nikolai Miljutin, mit welchem der andere
Feldmarschall, Graf Berg in Warschau, zu rechnen hatte. Es gab da-
mals noch vornehme Herren in der russischen Armee, wirkliche Grand-
seigneurs, unter denen die beiden genannten Marschälle, die Brüder
Stroganow und Fürst Simon Woronzow, hervorragten; Fürst Baria-
tinski, vom Grafen Berg unterstützt, und mit Hülfe des jungen, vom
Zaren und vom Thronfolger verzogenen Grafen Woronzow-Daschkow,
machte einen vergeblichen Versuch, den Kriegsminister zu stürzen; er
bediente sich hierbei der Feder des gewandten, aber gesinnungslosen
Generals Fadejew. Dieser, jetzt fast in Vergessenheit geratene Mann,
aus dessen Schriften ich damals Auszüge machte und Seiner Majestät
dem Könige einreichte, ist der eigentliche Schöpfer oder wenigstens
Kodifikator des russischen Generalstabschauvinismus; das bekannte
Schlagwort: „der Weg nach Konstantinopel führt über Wien", rührt
von Fadejew her. Gleichzeitig trat Obrutschew als Militärschriftsteller
auf und Dragomirow als Taktiker. Dies waren die bedeutendsten unter
den Professoren an der Generalstabsakademie, der eigentlichen Pflanz-
schule für Miljutinsche Ideen. Dragomirow, mit welchem ich viel ver-
kehrte, und der erst, nachdem er im böhmischen Feldzuge bei uns viel
Freundlichkeiten genossen hatte, Preußenhasser wurde, sprach schon
damals die österreichfeindlichen Absichten aus, die er heute noch ver-
tritt; auf der Landkarte suchte er mir zu beweisen, daß Rußland
Galizien bis zu den Karpathen besitzen müsse; in solchen Gesprächen
sagte er wohl auch gelegentlich, es sei eine Anomalie, daß der Njemen,
dessen ganzer Lauf in Rußland liege, gerade dort, wo ihn die An-
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vvohner „Russ" nennen, aufhöre, ein russischer Strom zu sein. Ein
junger Offizier von den Grodnohusaren, Skobelew, zählte damals zu
den begabtesten und fleißigsten Schülern der Akademie; dies war der
Mann, welcher fünfzehn Jahre später eine Kriegspartei bilden wollte
und der alle hierzu nötigen Eigenschaften besaß; es würde ihm wahr-
scheinlich gelungen sein, wenn ihn die Vorsehung nicht abberufen hätte;
an Nachahmern hat es ihm nicht gefehlt, aber keiner hat Erfolg gehabt.
Der Krimkrieg, und mehr noch der polnische Aufstand, welcher
der kurzen in Stuttgart geschlossenen Freundschaft mit Frankreich ein
Ende machte, hatten den Beweis geliefert, daß eine Koalition aller
europäischen Mächte gegen Rußland nicht unmöglich sei; General
Miljutin stellte sich die Aufgabe, sein Vaterland gegen eine solche Ge-
fahr zu sichern; er hat mir dies damals selbst gesagt, und alles, was
er seitdem getan hat, spricht dafür: da Preußen durch den böhmischen
Krieg mächtig und von Rußland unabhängig geworden war, so richtete
er vor allem anderen seine Sicherungsmaßregeln gegen uns; er ließ
das russische Bahnnetz in der Weise vervollständigen, welche als die
vorteilhafteste angesehen werden muß, um die Heeresmacht gegen die
preußischen Grenzen hin zu konzentrieren; die ersten strategischen
Linien, welche er bauen ließ, waren nicht auf einen Krieg gegen Öster-
reich und noch weniger auf einen Türkenkrieg berechnet; wenn es
nicht ohnehin bekannt wäre, daß er letzteren nicht wollte, so würde es
aus seiner Eisenbahnpolitik sich ergeben; er bestand auf dem Ausbau
der in Brest-Litowsk konvergierenden Linien und verhinderte die von
uns gewünschten polnischen Bahnanschlüsse. Als nach dem französi-
schen Kriege aus Norddeutschland ein Deutsches Reich geworden war,
verdoppelte Miljutin seine Augmentationen und beschleunigte die Aus-
führung seines Programms der Truppenmassierung im westlichen Ge-
biete. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1874, die
Verkürzung der Dienstzeit, die Vermehrung der Kavallerie und Ar-
tillerie und die Bildung von 24 Reserve-Infanterie-Divisionen sowie die
Anlage großer Befestigungen, dieses alles gehört noch in Miljutins Pro-
gramm, dessen folgerichtige Ausführung und Erweiterung wir jetzt vor
Augen haben.
Der sowohl Alexander IL wie seinem Kriegsminister unwillkommene
Türkenkrieg unterbrach das systematische Vorgehen des letzteren; gleich
nach dem Frieden ging er aber mit erhöhter Energie ans Werk; fast
die ganze Kavallerie wurde aus den futterreichen Gouvernements in
unwirtliche Quartiere nahe an der preußischen Grenze verlegt.
Als nach dem Berliner Kongreß die deutsch-russischen Beziehun-
gen schlecht wurden, wuchs die Bedeutung so umfassender kriegerischer
Vorbereitungen; unsere Aufmerksamkeit war schon seit 1876 und auch
noch früher auf letztere gerichtet; auch sind sie, und namentlich die
Anhäufung der Reiterei und bespannter Batterien in den Grenzbezirken,
mehrfach Gegenstand von Unterredungen zwischen dem verewigten
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Zaren und mir gewesen, wobei Seine Majestät sehr reizbar wurde und
schließlich erklärte, nicht mehr darüber sprechen zu wollen.
Dennoch drückte ich in meiner Berichterstattung unter anderem
in einer eingehenden Abhandlung vom 22. März 1879 die Überzeugung
aus, daß die unausgesetzte Vermehrung der Streitkräfte nicht durch
kriegersiche Absichten der maßgebenden Personen veranlaßt werde,
und daß solche Pläne beim russischen Volke keiner Ermutigung, sondern
dem Widerstände der Trägheit begegnen würden ; ich fügte aber damals
hinzu und wiederhole jetzt, daß unter der Masse von Offizieren und
inmitten eines sich überhebenden Generalstabes unter dem Einfluß
einer national überreizten Presse chauvinistische Ideen nicht ausbleiben
können.
Zwei von den maßgebenden Persönlichkeiten, welche ich damals
ins Auge fassen mußte, sind vom Schauplatze abgetreten; Alexander II.
würde, wie ich aus genauer Kenntnis seiner ganzen Natur annehmen
durfte, aus Pietät für das Andenken seiner Mutter nur gezwungen
zum Kriege gegen uns geschritten sein; General Miljutin aber erblickte
in der Armee weniger ein Instrument zur Vermehrung äußerer Macht
als ein Institut zur Volksbildung in seinem auf freiheitliche Entwickelung
im Innern gerichteten Sinne. Aber der dritte unter den Begründern
des strategischen Systems steht noch in voller Wirksamkeit, und zwar
der geistige Träger desselben: daß General Obrutschew den Krieg
wünscht, kann ich weder behaupten noch bestreiten; es wäre fast un-
natürlich, wenn er es nicht täte; ein General, der seiner Begabung und
Überlegenheit bewußt, sein ganzes Leben dazu verwendet hat, die
Kräfte eines Volkes von hundert Millionen für eine einzige ungeheure
Anstrengung zu sammeln, muß wünschen, die Kraftprobe zu machen,
ehe er zu alt dazu ist. Dennoch halte ich ihn für zu bedachtsam, als daß
er jetzt zum Kriege treiben sollte, aber selbst wenn er es täte, so würde
ich ihn doch nicht als das Haupt einer Kriegspartei bezeichnen können;
ein Parteiführer ist General Obrutschew nicht. Nun ist aber bei Unter-
suchung der so wichtigen Frage, ob wir es hier mit einer Kriegspartei
zu tun haben, noch ein anderer bedeutender Faktor in Betracht zu
ziehen, nämlich der Kriegsminister als solcher und als maßgebender
Mitleiter der zentralasiatischen Politik. General Wannowski ist ein
hoch achtbarer Mann und Soldat im vollen Sinne des Wortes; als solcher
kann er den Krieg nicht scheuen ; als Minister kann er ihn gerade jetzt,
noch ehe er fertig ist, nicht wünschen.
Was nun die mittelasiatischen Dinge betrifft, so hat es damit eine
ganz eigene Bewandtnis: die Zentralleitung der russischen Diplomatie
muß die Machtstellung in Transkaspien, in Turkestan und im Amurlande
ausnutzen, um ihre Gesamtpolitik, vornehmlich ihre Stellung zu Groß-
britannien, zu stärken. Der Kriegsminister aber muß vor allem dar-
auf Bedacht nehmen, die Machtstellung in den genannten sehr exponier-
ten Gebieten zu erhalten, für die Sicherheit der dort stehenden Truppen
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zu sorgen und das hierzu in Asien unbedingt notwendige Prestige zu
wahren. General Wannowski und sein asiatischer Stab darf also in
manchen Fällen nicht so nachgiebig sein, wie Herr von Giers es wünscht,
um Reibungen mit England zu vermeiden. Wenn von Schwierigkeiten
die Rede ist, welche dem Minister des Äußern von Generalen bereitet
werden, so ist hierbei gewöhnlich an die asiatischen Befehlshaber zu
denken.
Nach meinem ehrerbietigen Dafürhalten ist Rußlands Stellung in
Mittelasien nicht so stark, wie vielfach angenommen wird; wenn russi-
sche Zeitungen so sprechen, als wenn der Bestand der indobritischen
Herrschaft nur von seinem guten Willen abhinge, so ist dies eine Rodo-
montade. Ich gehe nicht so weit wie Herr Schischkin, der mir neulich
in einer streng vertraulichen Unterredung sagte: „wir sind unserer
Stellung in Mittelasien nicht sicher von einem Tage zum andern", aber
ich glaube, daß ein großer Teil der Kirgisen in Turkestan und in den
Chanaten und die Masse der Turkmenen in Transkaspien bei günstiger
Gelegenheit über die Russen herfallen würden. Noch wirkt die furcht-
bare Lektion, welche Skobelew den Turkmenen bei Geok Tepe* erteilt
hat, nach, aber elf Jahre sind seitdem vergangen, und allmählich wächst
eine Generation heran, welche jene Schrecknisse nicht mit erduldet hat.
Der Generalgouverneur von Turkestan hat freilich mindestens
26000 Mann zu seiner Verfügung, und General Kuropatkin 15000; aber
ihre Verbindung mit dem Kaspischen Meere beruht auf einer Eisenbahn,
die leicht zerstört werden kann und welche überdies wenig leistungs-
fähig ist, schon aus dem Grunde, daß es an Wasser für die Lokomotiven
mangelt; sie würde, wie man mir sagt, nicht mehr als drei oder vier-
hundert Mann an einem Tage befördern können. Die Turkmenen sind
gefährliche Gegner, wie der klägliche Ausgang der Lazarewschen
Expedition im Jahre 1879 bewiesen hat, und die Russen würden nicht
immer so leichte Siege erkämpfen, wie bei dem letzten Gefechte auf
asiatischem Boden unter General Komarow gegen die Afghanen zur
Zeit des Streites um Pendschdeh.
Der Kriegsminister, der Generalstabschef und die asiatischen Spe-
zialisten, unter denen General Kuropatkin und Oberst Jonow die be-
deutendsten sind, haben also allen Grund, darüber zu wachen, daß die
Russenfurcht, auf welcher ihre Sicherheit beruht, nicht durch Nach-
giebigkeit des auswärtigen Ministeriums den Engländern gegenüber in
Mittelasien vermindert werde, auch in Persien nicht.
Die gegenwärtigen Chefs in Taschkent und Aschabad, Baron
Wrewski und General Kuropatkin, sind zuverlässige Männer, welche
die Regierung nicht mutwillig in Verwickelungen bringen werden; in
ihren Hauptquartieren gibt es freilich viele katilinarische Existenzen,
und die Erfahrung hat gezeigt, daß die Verhältnisse, unter welchen die
* Die Erstürmung der Festung Geok Tepe fand am 12. Januar 1881 statt.
379
russischen Offiziere in Zentralasien leben, wohl geeignet sind, Unter-
nehmungslust und kriegerische Eigenschaften zu fördern; es hat der
Regierung Mühe genug gekostet, den Eroberer von Taschkent, General
Tschernajew, endlich zur Ruhe, wenn auch nicht zum Schweigen zu
bringen; daß es diesem Manne nie gelungen ist, eine Kriegspartei um
sich zu scharen, spricht auch dafür, daß es an Elementen zu einer
solchen fehlt.
Wenn ich hiermit die Aufgabe, welche mir der hohe Erlaß Nr. 57
vom 4. d. Mts. stellte, erfüllt und meine Beobachtungen in der Richtung
des Bestehens einer Kriegspartei in Rußland zusammengefaßt habe,
so bleibt noch die Beantwortung der im Erlaß Nr. 65 vom 9. d. Mts.
enthaltenen Frage übrig, ob die von russischen Staatsmännern periodisch
zur Schau getragenen Befürchtungen vor angeblichen feindlichen Ab-
sichten Österreichs wirklich aufrichtig gemeint sind.
Trotz seiner Verehrung für Kaiser Franz Joseph hat Alexander III.
ein tief wurzelndes Mißtrauen gegen die österreichisch-ungarische Po-
litik und eine sehr geringe Meinung von der Widerstandsfähigkeit des
Wiener Kabinetts gegen ungarische und polnische Bestrebungen. Aus
diesen Gesinnungen macht der Zar kein Geheimnis; fast in jeder
politischen Unterhaltung, mit welcher er mich im Laufe der Jahre be-
ehrte, hat er sie in starken Ausdrücken zu erkennen gegeben. Der
Kriegsminister und die Generale Dragomirow und Gurko kennen diese
Auffassung des Monarchen und bestärken ihn in derselben; neue Geid-
forderungen für Augmentationen, Dislokationen, Befestigungen, Bahn-
und Straßenbauten werden Seiner Majestät gegenüber mit dem fast zum
Axiom gewordenen Satze motiviert, daß Österreich-Ungarn, Deutsch-
lands sicher, Rußland angreifen wolle. Die wiederholten, nur ungern
eingestellten Bemühungen des Herrn von Giers, „etwas Schriftliches
zu haben, nur ein paar Zeilen", wodurch Rußland gegen einen solchen
Angriff gesichert würde, erklären sich aus dieser vorgefaßten Meinung,
Durch unsere Abweisung der an uns gestellten Zumutung wurde man
in jenem Wahne bestärkt und zur Annäherung an Frankreich bestimmt.
Herr von Giers geht in seinem Mißtrauen nicht so weit wie der Zar
und in seinen Besorgnissen nicht so weit wie die Generale; er ist aber
nicht stark genug, um ihren Verdächtigungen der Wiener Politik Schran-
ken zu setzen ; grade hierzu bedurfte er so dringend der „paar Zeilen".
Die Nachrichten, welche in neuester Zeit das russische Mißtrauen
gegen Österreich so auffallend gesteigert haben, sind gewiß, wie Fürst
Lobanow zugab, aus serbischen Quellen geflossen, aber auch in
ruhigeren Zeiten fehlt es nicht an Berichten aus den Grenzprovinzen
und aus den Donauländern, welche den Verdacht, daß Österreich
aggressive Pläne verfolge, rege erhalten.
So unwahrscheinlich es auch klinge, so muß ich doch die Über-
* Siehe Kap. XLIV: Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages.
380
i
feugung aussprechen, daß die in Rede stehenden Besorgnisse russi-
scher Staatsmänner aufrichtig gemeint sind, und ich muß die nicht
minder schwer zu erklärende Tatsache anführen, daß man, nicht im
Ministerium des Äußern, aber am Hofe, in der Gesellschaft und in politi-
schen Kreisen seit einigen Monaten gegen uns noch mißtrauischer ist
als gegen Österreich.
Ich wollte dies anfänglich nicht glauben, als es mir von Herrn
Pobedonoszew (Bericht Nr. 366 vom 25. November v. Js.*) gesagt und
von Herrn von Giers, der bei seiner Rückkehr vom Urlaube ebenso er-
staunt darüber war wie ich, bestätigt wurde (Bericht Nr. 374 vom
30. November v. Js.**) ; ich habe jedoch seitdem viele Beweise erhalten,
welche jeden Zweifel daran ausschließen, daß man in höchsten Kreisen
Angriffspläne bei uns vermutet. Je mehr ich mich bemühte, den Grund
und den Ursprung dieser Besorgnisse zu erforschen, um so deutlicher
erkannte ich, daß sie nicht auf dem niedrigen Felde des Geschwätzes
und der Tagespresse entsproßt, sondern von oben herunter gedrungen
waren. Viele unserer Zeitungen, besonders diejenigen, an denen balti-
sche Emigranten mitarbeiten, führen zwar eine so gehässige Sprache
gegen Rußland, daß sie hier Befürchtungen kriegerischer Absichten
erregen können, aber niemand schließt daraus auf Pläne der Regierung;
CS müssen andere Indizien an hoher Stelle vorgelegt oder vorgespiegelt
worden sein, welche vielleicht von dem schlüpfrigsten Boden für preußi-
sche und russische Lebensfragen, dem polnischen, hergekommen sind.
So unbegründet das russische Mißtrauen gegen uns und gegen
Österreich auch sein mag, so ist es doch nicht als zur Schau getragen,
sondern als aufrichtig zu bezeichnen; durch den Ton, in welchem die
österreichisch-ungarische und ein Teil der deutschen Presse über den
Notstand spricht, wird das Mißtrauen bis zur ernsten Besorgnis ge-
steigert, und dies ist insofern schädlich, als es zu erhöhter Tätigkeit
auf militärischem Gebiet, wovon Anzeichen vorliegen, und zu sorg-
fältigerer Pflege der etwas erkaltenden französischen Freundschaft führt.
v.Schweinitz
* Siehe Nr. 1619, Anlage.
** In seinem Berichte vom 30. November (Nr. 374) hatte Schweinitz ausführlich
eine Relation wiedergegeben, die ihm Minister von Giers über seine Reise nach
Berlin, Paris usw. erstattet hatte. Es hieß in dem Bericht u. a.: „Hier in Peters-
burg ist Herr von Giers schon auf dem Bahnhofe von seinem Vertreter Herrn
Schischkin mit der Meldung empfangen worden, daß die Furcht vor einem deut-
schen Angriff allgemein verbreitet sei; woher dies Gerücht komme, wisse er
nicht; aber alle warteten mit größter Spannung auf die Nachrichten, die der
Minister mitbringe".
„Bei jedem Schritt, den ich tat," erzählt Herr von Giers, „fand ich dies
bestätigt; die Leute wollten wissen, was ich, nicht aus Paris, sondern aus Berlin
mitbringe, und ihre Freude war groß, als sie hörten, daß dort alles gut stehe;
ein sehr hochgestellter Mann, den ich nicht nennen will, ist dem Grafen Lams-
dorff (der vertrauteste Rat des Ministers) um den Hals gefallen, als ihm dieser
jene Versicherung gab."
Kaiser Wilhelm II. bemerkte dazu am Rande: „sie sind toll"!
3S1
Nr. 1624
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 68 St. Petersburg, den 20. Februar 1802
Euerer Exzellenz beehre ich mich, einen Bericht des Kaiserlichen
Generalkonsuls in Moskau gehorsamst zu unterbreiten, in welchem Herr
Bartels meldet, daß dort Besorgnisse gehegt werden, Deutschland wolle,
die Verlegenheiten Rußlands benutzend, dieses angreifen.
Dem Wunsche des Generalkonsuls, daß dieses Gerücht dementiert
werde, schließe ich mich nicht an, weil man doch füglich nicht zu
erklären braucht, daß man nicht beabsichtige, eine Torheit^ zu begehen;
die große und zunehmende Verbreitung der mehrerwähnten Besorg-
nisse darf ich aber nicht verschweigen. Herr von Giers tat derselben
Erwähnung, nachdem er mir seine Freude über die guten Nachrichten
ausgesprochen hatte, welche er durch den Grafen Schuwalow aus Berlin
erhält, und durch die er zu der Hoffnung berechtigt wird, daß es,
wenn auch langsam, doch zu einer Zollverständigung kommen werde*,
welche auch Herr von Wyschnegradski wünscht und mögUchst zu för-
dern versprochen hat.
Je befriedigender die Berichte aus Berlin lauten, um so unerklär-
licher findet es der russische Minister, daß die Furcht vor einem deut-
schen Angriffskriege sich immer mehr verbreitet; „ernste, hochstehende
Männer**, sagt Herr von Giers, „kommen besorgt zu mir, um sich zu
informieren, und meine Tochter erzählt mir, wenn sie aus einer Tanz-
gesellschaft zurückkehrt, daß die jungen Offiziere sie gefragt haben,
ob es denn gewiß sei, daß im Frühjahr Krieg wird."
Manche meiner Bekannten, welche russische Diener haben, die
militärpflichtig sind oder in Kasernen verkehren, hören von ihnen vom
nahen Kriege wie von einer ausgemachten Sache sprechen.
Hinreichend bekannt ist die Wertlosigkeit des Petersburger Ge-
schwätzes; diesmal ist es ausnahmsweise durch die russische Presse
nicht angeregt und genährt worden ; es hat seinen Ursprung in höheren
Regionen und seine Ursache in polnischen Umtrieben 2.
Die preußisch-russischen Beziehungen sind seit hundert Jahren
vornehmlich durch die Konsequenzen der Teilung Polens bestimmt
worden, welche die Interessengemeinschaft der beiden nichtkatholischen
Teilungsmächte begründete; unter den vielen Beweisen für diese
Fundamental Wahrheit ist der deutüchste im Aufstande von 1862 zu er-
kennen, durch welchen das diplomatische Feld für unsere nationale Po-
litik von 1864 und 1866 frei gemacht wurde. Jede Änderung in den
• Siehe Kap. L, Nr. 1661, Fußnote.
382
polnischen Dingen macht sich bald, nicht bloß an der tausend Kilometer
langen unnatürlichen Grenze fühlbar, sondern auf dem Gebiete der
Gesamtpolitik.
Das Bevorstehen einer solchen Änderung glaubt man jetzt hier
wahrzunehmen; den hierauf deutenden Symptomen wird durch polni-
sche und jüdische Unwahrheiten, sowie durch die Berichte der Militär-
und Zivilbehörden im Grenzlande übertriebene Wichtigkeit beigelegt.
„Jenen Berichten zufolge sind die Polen", so sagte Herr von Giers,
auf deren sanguinisches Temperament hinweisend, „überzeugt, daß
Kaiser Wilhelm ihr Reich wieder herstellen wird 3; es gibt nichts Großes
und Schönes, was sie nicht von seinem hohen Geist und Mut er-
warten."
Im weiteren Verlaufe unserer Unterredung, deren Offenherzigkeit
durch unsere sechzehnjährige Intimität zu entschuldigen ist, erzählte
der Minister, daß die Wahl des Bischofs Stablewski eine große Wir-
kung auf die Polen hervorgebracht habe, daß über Herrn von Koscielsky
viel gesprochen werde und dergleichen mehr*. Als ich Herrn von Giers
fragte: „Was sagt denn eigentlich Ihr hoher Gebieter zu diesen Be-
richten aus Polen?", antwortete er: „L'Empereur n'a pas de nerfs,
11 a des Cordes; er bleibt bei allen diesen Nachrichten ganz ruhig; als
er von den angeblichen Begünstigungen hörte, welche Ihren Polen jetzt
zuteil werden, sagte er: ,Das schadet uns nichts; dafür werden die
Deutschen selber bezahlen müssen.*"
Die Erfahrungen, welche der Vater und der Großvater mit den
Polen gemacht haben, lassen es erklärlich erscheinen, wenn Alexander III.
der Überzeugung ist, daß sie Zugeständnisse mit Ansprüchen, Wohltaten
mit Undank, Vertrauen mit Verrat zu vergelten pflegen"^.
Dem Gedanken an die mögliche Wiederherstellung eines polnischen
Staates wird in Rußland wohl wenig Raum gegeben ; man weiß, daß
die wrertvoUsten Bestandteile eines rekonstituierten Polens in Galizien,
Posen und Westpreußen, nicht aber auf russischem Territorium liegen
würden; in den ehemals polnischen Landen, die östlich von Weichsel,
* Dem vielerörterten polnischen „Versöhnungskurs", der durch die auszeich-
nende kaiserliche Behandlung des flottenfreundlichen Abgeordneten von Kosciel-
ski, die Verfügung des preußischen Kultusministers Grafen von Zedlitz wegen
des polnischen Sprachunterrichts (11. April 1891) und durch die Ernennung des
Prälaten von Stablevvski zum Erzbischof von Posen und Gnesen (2. November
1891) illustriert wird, sind in der Öffentlichkeit vielfach antirussische Tendenzen
untergeschoben worden. Die Akten des Auswärtigen Amtes enthalten nichts, was
dieser Auffassung zur Stütze gereichen könnte. Speziell die Ernennung Stablew-
skis, der sich allerdings auf dem Thorner Katholikentage sehr russenfeindlich ge-
äußert hatte („wir sind Söhne der katholischen Kirche, deren erbittertster Feind
Rußland ist"), ist nach den Akten nicht sowohl als ein Entgegenkommen gegen
die Polen, sondern gegen den Römischen Stuhl zu werten, dem die preußische
Regierung nach bereits drei abgelehnten Kandidaten (von Poninski, Szoldrski,
Likowski) nicht auch noch den vierten abschlagen wollte. Aufzeichnung Caprivis
vom 17. Oktober 1891.
383
Bug, Narew und Njemen liegen, ist das Landvolk größtenteils orthodox
und dem Einflüsse der katholischen Edelleute, die ihren Besitz noch
erhalten haben, entrückt; auch in Kongreßpolen würden die Bauern,
deren Lage durch die russische Regierung wesentlich verbessert ist,
wahrscheinlich zu ihr stehen; die Industriellen im Weichsellande be-
finden sich recht wohl mit der Schutzmauer der russischen Zölle hinter
und mit einem großen Absatzgebiete vor sich; außer bei den Geist-
lichen, den Juden und einigen Edelleuten würde ein Regenerator
Russisch-Polens wenig Unterstützung in diesem Lande finden, in wel-
chem es an einem tüchtigen Bürgertum fehlt.
V. Schweinitz
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
* ? Thorheit wäre das nicht, aber eine Gemeinheit
3 und in dem schlechten Gewissen
3 danke! sehr schmeichelhaft
* richtig
Nr. 1625
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 66 >Vien, den 8. März 1892
Vertraulich
Für die mir mittelst hohen Erlasses Nr. 112 vom 23. v. Mts. ge-
neigtest gemachte Mitteilung des Berichts des Kaiserlichen Botschafters
in St. Petersburg vom 12. Februar*, die russische Politik Deutschland
und Österreich gegenüber betreffend, sage ich Euerer Exzellenz meinen
verbindlichsten Dank.
Da in den Gesprächen, die ich mit dem Grafen Kälnoky seitdem
gehabt, diese Verhältnisse sehr häufig berührt worden sind, so habe
ich den mir zur vertraulichen Information mitgeteilten, obenerwähnten
Bericht zwar nicht zur Kenntnis des österreichisch-ungarischen Herrn
Ministers gebracht, aber es doch für nützlich gehalten, ihm von den
in so bemerkenswerter \Veise dargestellten russischen Verhältnissen
einiges zu erzählen.
Der Minister ist ganz der Ansicht des Herrn von Schweinitz,
daß in Rußland eine eigentliche Kriegspartei nicht besteht, wohl aber,
daß von einzelnen Militärs das Mißtrauen des Zaren gegen Deutschland
und Österreich künstlich wachgehalten wird. Er erklärt sich dieses
Mißtrauen gegen die österreichische Politik aus dem Umstand, daß der
Kaiser Alexander nicht vergessen kann, daß Österreich mit den von
• Siehe Nr. 1623.
384
Rußland in Bulgarien seit 1886 begangenen Fehlern nicht einverstanden
gewesen ist, daß man hierseits die Kräftigung dieses Staates nicht hin-
dert, und daß man den Prinzen Ferdinand von Sachsen-Koburg, der
es sich angelegen sein läßt, die Ordnung auf diesem brennenden Boden
der Balkanhalbinsel aufrechtzuerhalten, also das tut, was im Interesse
der Erhaltung des europäischen Friedens nützlich ist, daß Österreich
diesen Prinzen ungeschoren läßt und sich laut und energisch gegen die
Mordanschläge ausspricht, deren Ausgangspunkt das bulgarische Flücht-
lingsnest in Odessa ist, welches unter den Augen der russischen Re-
gierung arbeitet.
Auch das möge das russische Mißtrauen erregen, daß die russische
Politik in Rumänien keinen Fuß zu fassen vermag. Wenn aber russi-
sche Grenzberichte von neuen militärischen österreichischen Bewegun-
gen oder Verstärkungen sprechen, und die betreffenden Hetzgenerale
ihrem Herrn damit Angst machen, so sei dies geradezu lächerlich und
der böse Wille mit Händen zu greifen. Denn wenn der Sicherheits-
dienst an der galizischen Grenze etwas aufmerksamer betrieben werden
und zu diesem Ende ein paar hundert Gensdarmen mehr nach Galizien
geschickt werden sollten, so würde selbst der hiesige russische Militär-
attache, Oberst Zujew, nicht die Stirn haben, diese Maßregel als eine
Aggression zu bezeichnen.
Was das Mißtrauen gegen Deutschland betrifft, so kann sich Graf
Kälnoky dasselbe nicht anders erklären, als daß dabei der alte Ärger
über die Macht des jungen Deutschen Reiches die Hauptrolle spielt.
Auch zweifelt er nicht daran, daß die veränderte Haltung der Politik
der Königlich Preußischen Regierung den Polen gegenüber dem Zaren
so dargestellt worden sein mag, als bereite man sich bei uns darauf
vor, für den Kriegsfall diese unsichere Nationalität in unseren Dienst
zu ziehen.
Der Minister, der die Polen nicht liebt, hat sich in letzter Zeit
über diese Frage nicht ausgesprochen, ich kenne aber seine Ansichten
genau. Hier in Österreich spielen die galizischen Polen als eiserner
Bestand einer Regierungspartei eine gewisse Rolle. Man läßt sich dies
gern gefallen, und streichelt sie gelegentlich, auch zum Nachteil der
anderen Stämme. Graf Kälnoky weiß aber sehr gut, daß unter dem
schwarzgelben Mantel, in welchen sich die Polen mit den loyalsten
Gebärden hüllten, der weiße Adler sorgfältig versteckt wird, der nur
auf den Moment wartet, seine Flügel auszubreiten. Er betrachtet daher
diese Nationalität mit Mißtrauen, baut keine Pläne auf ihre Loyalität
a toute epreuve, und würde, wenn in einem eventuellen glücklichen*
Kriege mit Rußland diese Unabhängigkeitsträume zum Vorschein
kommen sollten, diesen Herren eine bittere Enttäuschung bereiten, ja
ihnen eventuell die Ruthenen auf den Hals hetzen.
Graf Kälnoky teilt die Ansicht, daß es eine große Anzahl von
intelligenten Russen gibt, die von einem unglücklichen Krieg einen
25 Die Große Politik. 7. Bd. 38S
Systemwechsel erhoffen und nunmehr von der inneren Kalamität ihres
Vaterlandes ein solches Resultat erwarten. Ob dies der Fall sein wird,
das wagt der Minister nicht vorher zu sagen. Jedenfalls hält er aber
an der Hoffnung fest, daß der kriegerische Flug für einen längeren
Zeitabschnitt lahmgelegt sein wird.
Daß, wie Herr von Schweinitz am Schluß seines Berichts sagt,
der Ton, in welchem die österreichisch-ungarische Presse über den
Notstand in Rußland spreche, ein provozierender oder höhnender wäre,
will Graf Kälnoky nicht bemerkt haben. Jedenfalls hat er darauf hin-
zuwirken gesucht, daß dies nicht geschehe.
H. VII. P. Reuß
38Ö
B. Handelspolitische Beziehungen
Nr. 1626
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 3. Dezember 1890
Bei dem heutigen Diplomatenempfang kam Graf Schuwalow auf
eine jüngst nach dem Diner des Herrn Reichskanzlers zwischen uns
gepflogene private Unterredung über die handelspolitischen Beziehungen,
zwischen Deutschland und Rußland zurück und äußerte dabei folgendes:
Er glaube, daß in Deutschland Herr von Wyschnegradski mit
Unrecht als ein handelspolitischer Gegner Deutschlands angesehen
werde, der absichtlich auf dessen Schädigung in wirtschaftlicher Hin-
sicht hinarbeite; vielmehr könne er persönlich mit Bestimmtheit ver-
sichern, daß Herr von Wyschnegradski die besten Intentionen gegen
uns habe und einen handelspolitischen modus vivendi zwischen uns
lebhaft wünsche. Was ihn — den Grafen Schuwalow — betreffe, so
sei mir wohl bekannt, daß er stets die Ansicht vertreten habe, daß
die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern Hand in Hand mit
einem besseren handelspolitischen Verhältnisse gehen müßten. Diese
Anschauung werde von seiner Regierung geteilt; er könne mir streng
vertraulich mitteilen, daß er nach unserer jüngsten Unterredung, zu
der er eine Instruktion nicht gehabt, an seine Regierung telegraphiert
und von dort die Ermächtigung erhalten habe, mit mir vertraulich in
diesem Sinne zu reden. Unsere gegenwärtigen Verhandlungen mit
Österreich-Ungarn* interessierten Rußland sehr; aus den zahlreichen
Mitteilungen der öffentlichen Blätter wisse man ja, welche Fragen
den Mittelpunkt jener Verhandlungen bildeten: Ermäßigung der land-
wirtschaftlichen Zölle unsererseits gegen Erlangung von Konzessionen
für den Export unserer Industrieerzeugnisse. Ich hätte neulich ihm
gesagt, daß wir Rußland gegenüber stets in der Defensive gewesen
* Seit dem Herbst 1890 waren zwischen Deutschland und Österreich Verhand-
lungen über den Abschluß eines Handelsvertrags im Gange, die zunächst auf
große Schwierigkeiten stießen, aber im Mai 1891 zu glücklichem Abschlüsse ge-
langten. Näheres darüber siehe in: Die Handelspolitik des Deutschen Reichs vom
Frankfurter Frieden bis zur Gegenwarrt (1899), S. 155 ff.
389
seien, und der Verteidiger, der dem Angreifer Propositionen mache,
in den Verdacht gerate, kapitulieren zu wollen ; mit Rücksicht darauf
wolle er selbst die Initiative ergreifen und mir ganz offen sagen,
welche Wünsche Rußland habe; sie bezögen sich auf Erleichterung
der Einfuhr für Getreide, Holz und Kerosine. Ich möge meinerseits
ihn wissen lassen, welche Forderungen man bei uns an Rußland stelle;
bezüglich der Industriezölle werde nur das Eisen Schwierigkeiten
machen, da in dieser Beziehung den Fabrikanten bestimmte Ver-
sprechungen für längere Zeit gemacht seien. —
Ich erwiderte dem Grafen Schuwalow etwa folgendes: Wenn wir
den handelspolitischen Absichten des Herrn von Wyschnegradski kein
besonderes Vertrauen entgegenbrächten, so sei dies sehr natürlich;
seit Jahren suche er uns wirtschaftlich auf jede mögliche Weise zu
schaden; in der hiesigen Finanzwelt gebe es Leute, die behaupteten,
daß er jeweils den Rubelkurs steigere, um damit den Anlaß für
weitere Erhöhung der Eingangszölle gegen uns zu schaffen, und dann,
wenn der Getreideexport beginne, den Kurs wieder herabdrücke, um
•das russische Getreide billig bei uns einzuführen. Auch daß Herr
von Wyschnegradski vor kurzem dem hiesigen Markt gerade in dem
Augenblick, als wir ein größeres Reichs- bzw. preußisches Anlehen
emittierten, ein erhebliches Quantum Gold entzogen habe, sei nirgends
als ein zufälliges Zusammentreffen betrachtet worden. Wenn ich den
kompetenten Reichsbehörden die amtliche Mitteilung machen würde,
daß Herr von Wyschnegradski nunmehr versöhnliche Absichten gegen
Deutschland hege, so würde mir wohl die Frage entgegengehalten
werden, ob diese Gesinnungen nicht gerade deshalb im gegenwärtigen
Augenblick zutage treten, um unsere Verhandlungen mit Österreich-
Ungarn zu erschweren oder zu konterkarieren? Daß die letzteren in
Rußland Interesse erweckten, sei sehr begreiflich; die Politik Herrn
von Wyschnegradskis, Rußland speziell gegen Deutschland handels-
politisch zu isolieren, drohe ins Schwanken zu geraten, wenn wir mit
Österreich-Ungarn zu einem bessern handelspolitischen Verhältnisse ge-
langten. Übrigens würden uns alle diese Erwägungen nicht daran
hindern, ein Nachlassen der wirtschaftlichen Spannung zwischen uns
und Rußland aufrichtig zu wünschen; nur würden wir nach den Er-
fahrungen der letzten Jahre Wert darauf legen, daß der bezügliche
Wunsch russischerseits nicht in Worten, sondern in Taten bekundet
werde, und zwar um so mehr, als wir die Initiative in dieser Rich-
tung dadurch ergriffen, daß wir den Eintritt russischer Schweine unter
gewissen Kontrollen gestattet hätten*. Diese Maßregel sei von uns
* Im Herbst 1890 war die Einfuhr lebender Schweine aus Rußland für die Städte
Myslüwitz und Beuthen in Oberschlesien unter bestimmten Bedingungen frei-
gegeben worden. Später erhielten auch Thorn, Kattowitz und Tarnowitz die
gleiche Vergünstigung. Zu einer generellen Aufhebung des Schweineeinfuhrverbots
390
getroffen ohne Hintergedanken, allerdings nur in widerruflicher Weise.
Die „question d'etiquette", von der wir neulich gesprochen, wer den
ersten Schritt in tatsächlichem Entgegenkommen zu tun habe, existiere
also nicht mehr. Wir erwarteten nun, was von russischer Seite erfolge.
Graf Schuwalow sprach sich sehr dankbar für diese Maßregel
aus, um die er sich so oft vergeblich bemüht habe, wies jedoch darauf
hin, daß verschiedene deutsche Zeitungen die Erleichterung der Ein-
fuhr von Schweinen an unserer Ostgrenze als durch die öffentliche
Meinung bzw. die hohen Fleischpreise geboten bezeichneten, es also
zweifelhaft sei, inwieweit man das in Rußland als eine Konzession
ansehen werde. Auch müsse er darauf aufmerksam machen, daß der
Gedanke, Rußland gegenüber Österreich hinsichtlich der Getreide-
einfuhr differentiell zu behandeln, auf den entschiedensten Widerspruch
in unseren östlichen Provinzen gestoßen sei; auch werde eine solche
Differenzierung Rußland nicht viel schaden, da das Getreide par un
detour doch zu uns gelangen werde.
Ich erwiderte dem Grafen Schuwalow, daß er die hiesigen Partei-
verhältnisse doch genug kenne, um zu wissen, daß das ganze Geschrei
der freisinnigen Presse über Verteuerung der Lebensmittel lediglich
Parteizwecken diene und in der großen Menge der produzierenden
Bevölkerung, namentlich der östlichen Provinzen keinen Widerhall
finde; die Freisinnigen hätten bei billigen Lebensmittelpreisen ebenso
über Verteuerung des Brotes und des Fleisches des armen Mannes
geklagt wie jetzt, wo die Preise etwas gestiegen seien. Irgendeinen
Einfluß auf die Entschließungen der Regierung übten derartige Aus-
lassungen nicht. Daß die vorwiegend landwirtschaftliche Bevölkerung
im Osten eine Ermäßigung der Getreidezölle gegen Rußland wünsche,
sei ein großer Irrtum; es handle sich nur um eine Petition einiger
kommerzieller Gremien unserer Ostseestädte, die natürlich an einer
möglichst freihändlerischen Gestaltung unserer Handelspolitik ein Inter-
esse hätten. Gegen die Gefahr, daß das russische Getreide auf einem
detour doch zu ermäßigtem Zollsatze bei uns eingeführt werde, wür-
den wir uns eventuell zu schützen wissen.
Das Resümee meiner Auslassungen an Graf Schuwalow war, daß
wir den besten Willen haben, Rußland entgegenzukommen und diesen
auch durch die Aufhebung des Schweineeinfuhr\'erbotes bekunden, daß
wir aber den Beteuerungen des Herrn Wyschnegradski über seine
handelspolitische Freundschaft zu Deutschland vorläufig skeptisch
gegenüberstehen und zunächst einen tatsächlichen Ausdruck derselben
erwarten, bevor wir uns auf weiteres einlassen.
- Marschall
vom 14. Juli 1889 ist es mit Bezug auf Rußland nicht gekommen, während das
Verbot mit Bezug auf Dänemark, Schweden und Norwegen am 5. Dezember 1890,
und mit Bezug auf Amerika am 3. September 1891 aufgehoben wurde.
391
Nr. 1627
Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz an den Reichskanzler
von Caprivi
Abschrift
Nr. 44 St. Petersburg, den 20. Februar 1891
Geheim
In ganz vertraulicher Unterredung drücicte Herr von Giers den
Wunsch aus, mit mir nicht als Minister mit dem deutschen Botschafter
sondern als alter Freund mit dem General Schweinitz über eine An-
gelegenheit sprechen zu dürfen, welche ihm am Herzen liege. Graf
Schuwalow, welcher sich mit Eifer und Verständnis die Erfüllung der
Aufgaben angelegen sein lasse, die ihm in handelspolitischer Rich-
tung gestellt worden seien, habe in zwei streng vertraulichen Privat-
briefen über Unterredungen mit dem Herrn Staatssekretär des Äußern
und mit dem Herrn Handelsminister von Berlepsch Bericht erstattet.
Beide Gespräche, so fuhr der Minister fort, hätten dem Botschafter
den besten Eindruck zurückgelassen, jedoch sei daraus nicht mit voller
Klarheit zu entnehmen gewesen, welche Erleichterungen des Zolltarifs
wir fordern und welche wir gewähren wollten; es würde sich also
vielleicht empfehlen, dies genauer zu präzisieren und auch hier
in St. Petersburg vielleicht in Unterhaltungen zwischen dem Finanz-
minister und mir vertraulich zu erörtern.
Auf den Wunsch des Herrn von Giers, meine amtliche Eigenschaft
beiseite zu lassen und freundschaftlich über die uns beiden gleich
wünschenswerte wirtschaftliche Annäherung Deutschlands und Ruß-
lands zu sprechen, ging ich bereitwillig ein; „aber," so sagte ich, „Sie
setzen bei mir eine gewisse Naivität voraus, wenn Sie erwarten, ich
solle glauben, daß wir, so lange als Sie bei Ihrem jetzigen System
bleiben, irgend etwas Nennenswertes von Ihnen erreichen werden."
„Zunächst," so fuhr ich fort, „möchte ich wissen, welche Aufträge
Sie dem Grafen Schuwalow erteilt haben."
„Meine Instruktionen an den Botschafter," sagte der Herr Minister,
„beruhen auf einem Briefe, welchen Herr Wyschnegradski, ich glaube
im Monat Oktober v. Js., an mich gerichtet hat; ich werde dieses
Schreiben, welches ich nicht zur Hand habe, heraussuchen und Ihnen
gelegentlich dessen Inhalt mitteilen."
Dies geschah bei unserer nächsten Begegnung; Herr von Giers
las mir den in russischer Sprache geschriebenen Brief des Finanz-
ministers auszugsweise vor; ich entnahm daraus, daß Herr von Wyschne-
gradski bestrebt ist, Erleichterungen des nachbarlichen Verkehrs zu
erlangen und zu gewähren, daß er zu diesem Zwecke in Erfahrung
bringen möchte, ob wir geneigt sind, die Zölle auf Getreide, Holz
und Petroleum und auf noch einige minder wichtige Artikel zu er-
392
mäßigen, und welche Gegenleistungen wir beanspruchen würden; zu
solchen erklärt er sich bereit, „insofern sie die russische Industrie
nicht schädigen". Der Finanzminister spricht die Vermutung aus, daß
hierbei Metalle den ersten Platz einnehmen würden; der Schwerpunkt
seiner Ausführungen liegt in dem Postulate der Zollermäßigung für
Getreide, Holz und Naphta.
Das Gespräch in der freundschaftlichen Weise, in welcher es be-
gonnen hatte, fortsetzend, sagte ich, daß der Wunsch der russischen
Regierung, die Verkehrshemmnisse zu vermindern, bei uns gewiß Ent-
gegenkommen finden würde; daß es mir auch ganz natürlich scheine,
wenn Herr von Wyschnegradski dringend wünsche, den russischen
Grundbesitzern leichteren Absatz für ihr Getreide zu schaffen, da
sie ohnehin unter dem hohen Kurs, der ihm zu verdanken ist, zu
leiden haben und ihm darum nicht freundlich gesinnt seien. Aber, so
fuhr ich fort, die Großindustriellen und die reichen Moskauer Schutz-
zöllner werde sich der Herr Finanzminister auch nicht verfeinden
wollen; wie stark diese sind, wisse ich aus langer Erfahrung; vor
25 Jahren, als hier noch eine starke Ökonomistenpartei (gemäßigte
Freihändler) bestand, wäre ich Zeuge gewesen, wie ein preußischer
Delegierter, Herr Kellerholm, ein Jahr hier zugebracht habe, um Ver-
handlungen über Zollerleichterungen zu führen, welche, als sie dem
Ziele nahe zu sein schienen, abgebrochen wurden; vor zwölf oder drei-
zehn Jahren habe die Mission des Herrn Hitzigrath das gleiche Schicksal
gehabt, ebenso wie eine Sendung des sehr gut intentionierten Herrn
von Thörner nach Berlin. „Hier auf dieser selben Stelle," sagte ich,
„habe ich Ihnen im Auftrage des Fürsten Bismarck, welcher damals
wegen der Lasker-Feier mit dem amerikanischen Gesandten Mr. Sargent
einen Konflikt hatte*, große Erleichterungen der Petroleumeinfuhr an-
geboten gegen sehr geringe Gegenleistungen und dann sogar ohne
jede solche, und nach Beratung mit den Herren Abasa, Bunge und
Baranow haben Sie dieses Anerbieten zurückgewiesen, weil jene Herren
fürchteten, daß wir später mit Forderungen kommen würden; Sie wer-
den es also erklärlich finden, daß ich mich den Absichten des Herrn
Wyschnegradski gegenüber skeptisch verhalte, bis er deutlich gesagt
haben wird, was er geben will."
Herr von Giers sagte, der Finanzminister sei ein so erfinderischer
Kopf, daß er gewiß Mittel ersinnen werde, um gegenseitige Erleichte-
rungen zu ermöglichen; wenn Herr von Wyschnegradski einmal eine
Urlaubsreise mache und durch Berlin käme, würden Besprechungen
mit den dortigen maßgebenden Persönlichkeiten vielleicht nicht ohne
Ergebnis bleiben. Auf diesen Gedanken bin ich nicht näher eingegangen,
obwohl ich nicht unterließ, den guten Absichten der russischen Regie-
* Siehe darüber Bismarcks Reichstagsrede vom 13. März 1884. Die politischen
Reden des Fürsten Bismarck, ed. Horst Kohl Bd. X, S. 7 ff.
393
rung warme Anerkennung zu zollen und die besten Wünsche für ihre
Verwirklichung auszusprechen.
Herr von Giers, dem viel daran gelegen ist, daß etwas zustande
komme, sagte dann, es verstehe sich von selbst, daß wir zuvörderst
den Abschluß der Wiener Verhandlungen abwarten wollen, ehe wir
positive Angaben über dasjenige, was wir Rußland etwa zugestehen
könnten, machen.
Zum Schlüsse gestatte ich mir ehrerbietig daran zu erinnern, daß
laut dem am 7. Mai/25. April 1887 im russischen „Regierungsanzeiger"
veröffentlichten Gesetze die Zölle auf Gußeisen in Gänzen, als Bruch
und Abfall, vor dem 1./13. Januar 1898 nicht herabgesetzt werden dürfen.
(gez.) v. Schweinitz
Nr. 1628
Aufzeichnung des Reichskanzlers von Caprivl
Eigenhändig
Berlin, den 4. April 1891
Der russische Botschafter war eben bei mir und sagte, er würde
in kurzer Zeit zu seiner Freude in der Lage sein, uns einige Vor-
schläge zu machen, von denen er hoffe, daß sie die kommerziellen Be-
ziehungen beider Länder erleichtern würden. Er sei früher schon zwei-
mal in der Lage gewesen, mit Herrn von Berlepsch über diese Dinge
zu sprechen; damals hätte seine Autorisation aber nur hingereicht,
sie als seine persönliche Ansicht zu berühren. Herr von Berlepsch
habe namentlich betont, daß es uns auf Stabilität ankäme. Er habe
jetzt in diesem Sinne in Petersburg gesprochen und werde ermäch-
tigt werden, offiziell darauf zurückzukommen. Er hoffe, dadurch die
guten Beziehungen beider Reiche zu verbessern. Der Carnotsche
Orden* sei eine Frage der Courtoisie, über die er auch mit Herrn
von Schweinitz gesprochen habe und die sicherlich von uns richtig
verstanden werden werde.
Ich bitte nun, der bulgarischen Anleihe unsere Börse zu versagen.
V. Caprivi
Nr. 1629
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Eigenhändig
Berlin, den 14. April 1891
Der russische Botschafter kam beim heutigen Empfangstag auf
unsere früheren Unterredungen wegen einer kommerziellen Annähe-
• Am 25. März war dem Präsidenten Carnot durch den Botschafter von Mohren-
heim der St. Andreas-Orden überreicht worden. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1494.
394
rung zwischen Deutschland und Rußland zurück und teilte mir untt.
Hervorhebung der Notwendigkeit, die Sache vorläufig streng geheim
zu halten, folgendes mit:
Herr Wyschnegradski stelle folgendes Raisonnement an: von dei
russischen Gesamteinfuhr in Deutschland betrage die Getreideeinfuhr
zirka ein Drittel; lasse man diese letztere außer Betracht, so hielten
sich die restierenden zwei Drittel der deutschen Einfuhr in Rußland
etwa die Wagschale; daß die deutsche Einfuhr in Rußland in den
letzten Jahren gegen früher erheblich zurückgegangen sei, rühre vor-
nehmlich daher, daß durch den Kampf, welchen Fürst Bismarck gegen
die russischen Finanzen geführt habe, der Rubelkurs zum Sinken ge-
bracht worden sei — seitdem letzterer sich wieder in steigender Rich-
tung bewege, nehme auch die deutsche Einfuhr in Rußland wieder zu. —
Wenn nun Deutschland geneigt sein würde, Rußland bezüglich
der Einfuhr in Getreide und von Holz mit Österreich-Ungarn gleich
zu behandeln, auch bezüglich der Kerosine eine Zollermäßigung ein-
treten zu lassen, so werde Rußland seinerseits bereit sein, Gegen-
konzessionen bezüglich seines Zolltarifs zu machen. Nach Rücksprache,
die er — Graf Schuwalow — mit verschiedenen Sachverständigen, auch
Herrn von Berlepsch, genommen, bezögen sich die deutschen Wünsche
auf etwa sechs bis sieben Positionen — darunter landwirtschaftliche
Maschinen. — Eine Stabilisierung der russischen Zölle hinsichtlich dieser
Punkte werde voraussichtlich keine Schwierigkeit machen und damit,
wenn auch zunächst in beschränktem Umfange, die Basis für eine
Annäherung zu gewinnen sein. —
Ich habe dem Grafen Schuwalow erwidert, daß, nachdem er mir
vertraulich die Anschauungen des Herrn Wyschnegradski mitgeteilt
habe, ich keinen Anstand nehme, ihn von der Auffassung, die ich
persönlich mir vorläufig gebildet, in gleich vertraulicher Weise Kenntnis
zu geben. Wenn ich die Möglichkeit der Gewährung der Österreich-
Ungarn eventuell zu konzedierenden Agrarzölle an Rußland für nicht
ausgeschlossen erachte und auch die Ermäßigung des deutschen Zolls
auf Kerosine nicht a limine zurückweise, so könne von beiden Dingen
doch nur die Rede sein, wenn Rußland vollwertige Gegenkonzessionen
gewähre. Und als solche vermöge ich die Minderung der gegen-
wärtigen russischen Einfuhrzölle in keiner Weise zu betrachten. Ob
Herr von Wyschnegradski das vor zwei bis drei Jahren eingetretene
Sinken des Rubelkurses mit Recht oder Unrecht der damaligen deut-
schen Regierung zuschreibe, wolle ich nicht untersuchen; dagegen
stehe fest, daß, nachdem der Rubelkurs sich zu erholen begonnen,
und damit die Aussicht einer Hebung des deutschen Imports in Ruß-
land wieder eingetreten war, der russische Finanzminister den steigen-
den Rubelkurs als Motiv benutzte, um die Zölle, speziell auf die wich-
tigsten deutschen Provenienzen wiederholt zu erhöhen, zum letztenmal
im Jahre 1890 um zwanzig Prozent. Damit hätten die russischen Zölle
395
eine Höhe erreicht, daß sie bezüglich einer Reihe der wichtigsten
deutschen Artikel prohibitiv wirkten. An der Bindung prohibitiver Zölle
hätten wir lediglich kein Interesse, sondern nur an einer Ermäßigung,
die den Zugang unserer Produkte wieder ermögliche. — Unser zweites
Gravamen sei die differenzielle Behandlung, welche in Rußland zum
Nachteile wichtiger deutscher Provenienzen, wie Kohlen, Roheisen,
Baumwolle usw. bestehe. Wenn Rußland die Begünstigungen unseres
demnächst zum Abschluß gelangenden Vertrags mit Österreich-Ungarn
sich zu sichern wünsche, so werde es kein unbilliges Verlangen sein,
wenn auch wir unsrerseits die Aufhebung der differenziellen Behand-
lung seitens Rußlands begehrten.
Graf Schuwalow frug mich schließlich, ob [ich] nicht in der Lage
sein würde, ihm die Positionen des russischen Zolltarifs zu bezeichnen,
bezüglich deren wir eine Ermäßigung der Zollsätze wünschten? Ich
erwiderte ihm, daß ich, nachdem Herr von Wyschnegradski seine De-
siderien formuliert habe, auch keinen Anstand nehmen werde, ihm bei
einer demnächstigen Unterredung meine persönliche Anschauung über
die voraussichtlich von Deutschland zu begehrenden Gegenkonzessionen
mitzuteilen, immer unter der Voraussetzung, daß meine bezüglichen
Äußerungen gerade so unverbindlich sein würden, wie diejenigen des
russischen Finanzministers.
Marschall
Nr. 1630
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 21. April 1891
Bei dem heutigen Diplomatenempfange habe ich dem Grafen
Schuwalow mit Bezug auf seine handelspolitischen Eröffnungen folgen-
des mitgeteilt:
Wir seien, wie dem Herrn Botschafter bekannt, stets von dem
Wunsche geleitet, die guten Beziehungen, welche zwischen unseren
beiden Ländern beständen, zu erhalten und zu pflegen; wie auf politi-
schem Gebiete keine erhebliche Divergenz in den Interessen Rußlands
und Deutschlands bestehe, so lägen auch auf kommerziellem Gebiete
die Verhältnisse keineswegs so, daß eine Verständigung über
einzelne Punkte als ausgeschlossen zu betrachten sei. Die An-
schauung, daß man politisch in Freundschaft leben und sich
gleichzeitig handelspolitisch bekriegen könne, vermöchte ich nicht
zu teilen; zum mindesten würden in unserer Zeit, da die materiellen
Interessen so sehr im Vordergrunde ständen, die guten politischen
Beziehungen eine weitere Garantie der Stetigkeit erhalten, wenn auch
396
auf kommerziellem Gebiete eine Verständigung eintrete. Ich hätte
darum die private Mitteilung über die persönlichen Ansichten des
Herrn von Wyschnegradski einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und
wolle dem Herrn Botschafter das Resultat derselben mit dem Vorbehalte
unterbreiten, daß auch ich zurzeit nur meine persönliche Auffassung
von der Sachlage kundgeben könne.
Ich wolle mit Herrn von Wyschnegradski die russisch-deutsche
Getreideeinfuhr vollständig außer acht lassen und nur den übrigen
Handelsverkehr der beiden Länder ins Auge fassen. Die Auffassung,
daß, wenn man von dem Getreide absehe, die Einfuhr russischer Pro-
dukte nach Deutschland und die Einfuhr deutscher Produkte nach
Rußland ungefähr balanciere, möge nach der russischen Statistik zu-
treffen, weil vermutlich der Durchgangsverkehr in den betreffenden
Zahlen einbegriffen sei. Lasse man den Durchgangsverkehr, an wel-
chem Deutschland doch nur ein sekundäres Interesse habe, außer Be-
tracht, so ergebe sich, daß 1889 Rußland nach Deutschland für etwa
230 Millionen Mark, Deutschland nach Rußland für etwa 160 Millionen
Mark Güter eingeführt habe. Die russische Einfuhr habe daher zur-
zeit ein surplus von zirka 70 Millionen Mark. Dabei sei besonders
hervorzuheben, daß von den aus Rußland nach Deutschland eingeführ-
ten Waren etwa die Hälfte zollfrei eingehe, während die deutsch-
russische Einfuhr durchweg einem bedeutenden und in den letzten
zehn Jahren wiederholt gesteigerten Zoll unterliege. Die gegenwärtige
Situation für Deutschland sei also: Unterbilanz von 70 Millionen Mark,
sinkende Einfuhr nach Rußland infolge der neuesten russischen Zoll-
erhöhungen, andererseits steigende Einfuhr von Rußland nach Deutsch-
land.
Für die Bindung dieses für Deutschland ungünstigen Zustandes
irgendeine Konzession zu machen, sei unmöglich; vielmehr sei die
erste Voraussetzung irgendeiner handelspolitischen Abmachung, daß
Rußland seine Zölle soweit ermäßige, daß wenigstens unsere wichtig-
sten Artikel wieder lohnend nach Rußland eingeführt werden könnten ;
nur unter dieser Voraussetzung könne überhaupt von Konzessionen
unsererseits bezüglich des Getreides, Holz und Kerosine die Rede sein. —
Auf Anfrage des Herrn Botschafters, ob ich in der Lage sei, ihm
die Artikel zu benennen, bezüglich deren wir eine Ermäßigung des
Zolles wünschten, erwiderte ich, daß wir nach zweierlei Richtung
Konzessionen verlangen müßten:
1. Zollermäßigung verschiedener Positionen innerhalb folgender
Gruppen: Metallwaren, Instrumente, Maschinen und Fahrzeuge, Che-
mikalien, Farbstoffe und Salz, Baumwollen-, Wollen- und Seidenwaren,
Hopfen, Gemüse, Zucker, Kohlen und Koks; — und hier müßten die
Zollermäßigungen bezüglich einzelner Positionen weitergehen als die
bloße Aufhebung des im vorigen Jahre beschlossenen Zuschlags
von 20%.
397
2. Aufhebung der Differenzialzölle für Roheisen, Kohle, Koks,
Baumwolle. —
Auf die Bemerkung des Herrn Botschafters, daß es sich zunächst
nicht um einen traite de commerce, sondern nur um ein Arrangement
handeln werde als ersten Schritt zu späterer weiterer Verständigung,
und daß es die Abmachung erleichtern werde, wenn zunächst nicht zu
viele Gegenstände in die Verhandlung einbezogen würden, erwiderte
ich, daß ich den Gedanken, zunächst nur ein „Arrangement", nicht
einen förmlichen Vertrag anzustreben, gern akzeptierte und nicht auf
die Zahl der Gegenstände, auf welche sich die Abmachung erstrecke,
sondern darauf das entscheidende Gewicht lege, daß wir zu einem
Zustande gelangten, bei dem — abgesehen von dem Getreide — die
Einfuhr von Deutschland nach Rußland und diejenige von dort wieder
ins Gleichgewicht gebracht würde, welches durch die russische Zoll-
maßregel zu unseren Ungunsten sich verschoben habe. —
Graf Schuwalow stellte mir weitere Mitteilungen in Aussicht.
Marschall
Nr. 1631
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Schweinitz
Konzept
Nr. 160 Berlin, den 6. Mai 1891
Geheim
Ew. beehre ich mich, anliegend Aufzeichnungen über zwei Unter-
redungen, welche ich im vergangenen Monate mit dem Grafen Schu-
wolaw über die deutsch-russischen Handelsbeziehungen gehabt habe*,
zur gefälligen vertraulichen Information ergebenst zu übersenden.
Ew. werden daraus entnehmen, daß unsere Unterredungen sich
noch immer in dem Rahmen eines privaten Meinungsaustausches hal-
ten und die Äußerungen des Grafen Schuwalow keinerlei Gewißheit
darüber geben, ob es der russischen Regierung in der Tat ernst ist
mit der Absicht, bessere Handelsbeziehungen mit Deutschland anzu-
bahnen, oder ob die wiederholten Anregungen nur den Zweck von
Rekognoszierungen über die Tendenz unserer Handelspolitik verfolgen.
Der Umstand, daß mir Graf Schuwalow schon wiederholt eine schrift-
liche Aufzeichnung über die Gedanken des Herrn von Wyschnegradski
in Aussicht gestellt hat, bisher aber eine derartige Mitteilung nicht er-
folgt ist, erweckt den Eindruck, daß man in Petersburg zurzeit noch
zwischen der Befürchtung, von Deutschland bezüglich von Getreide und
Holz differenzieil behandelt [zu werden] und der Hoffnung schwankt,
* ^iche Nr. 1629 und 1630.
3Q8
daß wir aus Rücksicht auf unsere östlichen Provinzen ohnehin dazu
gezwungen sein würden, Rußland dieselben Vorteile zu gewähren, die
wir Österreich-Ungarn eingeräumt haben. Würde die letztere An-
schauung die Oberhand gewinnen, so dürfte der Wunsch des russischen
Finanzministers, mit uns zu einer handelspolitischen Berührung zu
gelangen, eine wesenthche Abschwächung erfahren.
Unter diesen Umständen wird es rätlich sein, dem russischen
Finanzminister darüber keinen Zweifel zu lassen, daß für uns die Ent-
scheidung, ob wir Rußland differenziell behandeln sollen oder nicht,
keineswegs nur von der Rücksicht auf gewisse Interessengruppen
unserer östlichen Provinzen, sondern auch davon abhängen wird, welche
handelspolitische Stellung Rußland uns gegenüber einnimmt. Sollte
Herr von Wyschnegradski glauben, daß wir Rußland bezüglich des
Getreides, Holz usw. die faktische Meistbegünstigung auch dann
einräumen würden, wenn Rußland die auf allmählichen Ausschluß deut-
scher Produkte zielende Handelspolitik weiter verfolgt, so würde eine solche
Auffassung als eine irrtümliche zu bezeichnen und darauf hinzuweisen
sein, daß auf die Dauer kein Land exportieren kann, welches seine
Grenzen dem fremden Importe verschließt, und wir nicht in der Lage
sind, die Einfuhr der russischen Massenartikel dauernd zu erleichtern,
wenn gleichzeitig unser Export nach Rußland systematisch unter-
bunden und zurückgedrängt wird.
In der Unterredung mit dem russischen Botschafter war ich ferner
wiederholt veranlaßt, der Auffassung entgegenzutreten, als ob eine
Basis für eine handelspolitische Annäherung darin zu finden sei, daß
Deutschland seine Getreide-, Holz- und eventuell Petroleumzölle er-
mäßige, Rußland dagegen sich zur Bindung einer Anzahl von Posi-
tionen verstehe. Es genügt darauf hinzuweisen, daß schon im Jahre
1886 der damalige Zustand für Deutschland für so unbefriedigend er-
achtet wurde, daß Opfer zur Stabilisierung desselben als ausgeschlossen
erschienen; es wurde festgestellt, daß die russische Zollerhöhung ge-
rade die deutschen Hauptartikel getroffen, daß sie auf verschiedene
dieser Artikel prohibitiv gewirkt hatten und die Einfuhr deutscher
Artikel differenziell belastet war. Das Bild hat sich seit 1886 nicht
gebessert sondern erheblich verschlechtert. Die Differenzialzölle auf
Kohlen und Koks, auf Gips, Kreide, Zucker usw. blieben bestehen; es
wurden neu eingeführt Differenzialzölle auf Roheisen, Rohbaumwolle.
Speziell erhöht wurden ferner die Zölle auf wichtige Textilwaren, Metall-
waren usw. Vor allem aber ist durch den im September 1890 verfügten
allgemeinen Zollzuschlag von 20 o/o der Vorteil der inzwischen ein-
getretenen Steigerung des Rubelkurses mehr als aufgewogen.
Unter diesen Umständen erscheint es als die Vorbedingung eines
jeden handelspolitischen Abkommens, daß bezüglich einer Anzahl wich-
tiger deutscher Exportartikel in eine Ermäßigung des russischen Zolles
gewiUigt wird. Unsere speziellen Desiderien werden wir benennen,
399
sobald wir die Überzeugung gewonnen haben, daß Rußland ernstlich
sich uns zu nähern wünscht. Bei der großen Anzahl der Artikel,
welche wir nach Rußland exportieren, dürfte es nicht unmöglich sein,
für einzelne derselben Konzessionen zu erzielen, die ein Äquivalent
für die uns angesonnenen Erleichterungen bieten, ohne für Rußland
einen Bruch mit dem Systeme des Schutzes der nationalen Arbeit zu
bedeuten. Von diesem Gesichtspunkte aus sind wir bereit, den vom
Grafen Schuwalow wiederholt geäußerten Gedanken zu akzeptieren,
daß wir uns beiderseits bei diesem ersten Schritte handelspolitischer
Annäherung tunlichste Beschränkung auferlegen und zunächst keinen
eigentlichen Handelsvertrag, sondern nur eine Verständigung über ein-
zelne Fragen ins Auge fassen sollten.
Euer pp. bitte ich, sich sowohl Herrn von Giers wie Herrn von
Wyschnegradski gegenüber im Sinne dieser Darlegungen zu äußern.
Die jüngst erfolgte Paraphierung des deutsch-österreichischen Handels-
vertrags und die Anwesenheit des Grafen Schuwalow in Petersburg
wird voraussichtlich Anlaß zu Besprechungen über die Frage bieten.
Zur näheren Information Ew. pp. beehre ich mich, ein Promemoria des
diesseitigen Referenten über das dermalige deutsch-russische handels-
politische Verhältnis ergebenst anzuschließen.
Marschall
Nr. 1632
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 23. Mai 1891
Der österreichisch-ungarische Botschafter hat mich heute auf-
gesucht und mich vertraulich um Aufschluß darüber gebeten, ob an
den vielfachen Zeitungsnachrichten, wonach zwischen Deutschland und
Rußland Handelsvertragsverhandlungen schwebten, irgend etwas
Wahres sei. —
Ich habe dem Grafen Szechenyi erwidert, daß alle diese Nach-
richten insgesamt der Begründung entbehrten; es läge nichts anderes
vor, als daß wir auf indirektem Wege in Erfahrung gebracht hätten,
der russische Finanzminister wünsche eine handelspolitische Annähe-
rung zwischen Deutschland und Rußland, und daß demnächst Graf
Schuwalow und ich die Frage gelegentlich in rein akademischer Weise
besprochen hätten, wobei sowohl seitens des russischen Botschafters
der Mangel eines amtlichen Auftrages wie meinerseits der rein private
und unverbindliche Charakter meiner Äußerungen besonders betont
worden sei. Auch bei diesen Unterredungen sei übrigens niemals
von einem „Handelsvertrag", sondern nur von Verständigung über
400
einzelne Punkte behufs Anbahnung eines besseren handelspolitischen
Verhältnisses gesprochen worden. — Ob es Rußland überhaupt ernst
sei, mit uns eine solche Verständigung zu suchen, darüber fehle uns
bis jetzt jeder bestimmte Anhaltspunkt.
Als Graf Szechenyi sodann auf unsere gelegentlich der deutsch-
österreichischen Handelsvertragsverhandlungen gegebene Erklärung,
daß vi'ir zurzeit nicht die Absicht hätten, die Österreich-Ungarn ge-
währten agrarischen Konzessionen auch Rußland einzuräumen, hin-
wies und die Frage an mich richtete, ob etwa in diesen Anschauungen
inzwischen bei uns eine Änderung eingetreten sei, habe ich erwidert,
daß in unseren handelspolitischen Verhältnissen zu Rußland bis jetzt
nichts eingetreten sei, was geeignet wäre, unsere bezüglichen Absichten
zu modifizieren, daß übrigens die Frage der Verallgemeinerung der
Österreich-Ungarn gewährten agrarischen Konzessionen keineswegs
allein aus dem Gesichtspunkte unserer kommerziellen Beziehungen zu
Rußland werde entschieden werden, vielmehr in dieser Beziehung eine
Reihe interner und technischer Momente — die Rücksicht auf Handel
und Verkehr in unseren östlichen Provinzen, die technische Ausführ-
barkeit einer differenziellen Behandlung, die Frage, ob und inwieweit
die indirekte Einfuhr über meistbegünstigte Länder zu hindern sei —
in die Wagschale fielen.
Marschall
Nr. 1633
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes
Freiherrn von Marschall
Reinschrift
Berlin, den 25. November 1891
Herr von Giers, mit dem ich heute eine längere Unterredung
hatte, betrat das politische Gebiet mit der Bemerkung, daß er durch
den Grafen Schuwalow von dessen Besprechungen mit mir über han-
delspoütische Fragen gehört habe und dringend wünsche, daß eine
Einigung zwischen Deutschland und Rußland zustande komme. Ich
erwiderte, daß wir diesen Wunsch teilten und daher die uns unter-
breiteten Vorschläge einer sorgfältigen Prüfung unterziehen würden, pp.
Herr von Giers kam zum Schluß nochmals auf die kommerzielle
Frage zurück, die ihm offenbar sehr am Herzen lag. Er wies darauf
hin, daß, als der Zar vor einigen Jahren hier zum Besuche gewesen,
Fürst Bismarck das Lombardverbot für russische Papiere gerade an
demselben Tage erlassen habe*. Der Kaiser sei dadurch froissiert
geworden. Herr von Giers glaubt nicht an die Maxime des Fürsten
* Siehe Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A
26 Die Große Politik. 7. Bd. 401
Bismarck, daß man politisch gut stehen und sich wirtschaftlich bekriegen
könne. Ich erwiderte, daß das Lombardverbot nur eine Antwort auf
zahlreiche uns schwer schädigende Maßregeln der russischen Regie-
rung gewesen sei. Das werde uns nicht abhalten, die russischen
Vorschläge sorgfältig zu prüfen, immerhin müßten wir dabei mit
unserer öffentlichen Meinung rechnen, pp.*.
Marschall
Nr. 1634
Aufzeichnung des Vortragenden Rats im Auswärtigen Amt
von Holstein
Eigenhändig
Berlin, den 30. November 1891
Graf Szechenyi besuchte mich heute zum erstenmal nach seiner
Rückkehr, pp.
Bezüglich der Anwesenheit des Herrn von Giers** sagte ich, daß
seine Äußerungen friedlich aber ohne besonderes politisches Interesse
gewesen seien; die französische Regierung habe er gegen den Verdacht
in Schutz genommen, daß sie in den lateinischen Nachbarländern re-
publikanische Propaganda treiben wolle.
Graf Szechenyi erwiderte, er wisse, daß der Schwerpunkt der
Eröffnungen des Herrn von Giers auf wirtschaftlichem Gebiete liege.
Ich erwiderte, Rußland habe seiner Getreideausfuhr die Türen
von innen verschlossen, während seine verringerte Kaufkraft keine
besonderen Vorteile für unsere Ausfuhr verhießen, selbst in dem jetzt
noch nicht vorliegenden Falle, wo Rußland die Zölle sollte herab-
setzen wollen. Diese ungünstige Lage Rußlands werde voraussichtlich
Jahr und Tag dauern, sich vielleicht auch noch verschlimmern. Gerade
im jetzigen Augenblick würde daher eine wirtschaftliche Abmachung
mit Rußland für uns — und zwar aus rein wirtschaftlichen Gründen —
kaum vorteilhaft sein.
Der Botschafter sagte darauf, die russische Regierung beschäftige
sich zurzeit nicht mit der Zollfrage, sondern mit der Finanzfrage.
Sie suche nach Mitteln, den drohenden Finanzkrach abzuwenden, und
sei deshalb bestrebt, den deutschen Geldmarkt wieder für russische
Werte zugänglich zu machen. Er, Graf Szechenyi, habe gehört, daß
der Herr Reichskanzler persönlich einem Entgegenkommen gegen Ruß-
* Die hier ausgelassenen Teile der Marschallschen Aufzeichnung siehe in
Kap. XLVII, Nr. 1515.
** Er weilte am 23. und 24. November, von Paris kommend, in Berlin und wurde
bei dieser Gelegenheit vom Kaiser und vom Reichskanzler v. Caprivi empfangen.
Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1513 ff.
402
land in dieser Frage, d.h. einer Aufhebung des russischen Lombard-
verbots zuneige*.
Ich erwiderte, der Botschafter möge sich deswegen an den Herrn
Staatssel<retär wenden, welcher genauer als ich mit den Ansichten
des Herrn Reichskanzlers bekannt sei. An sich sei es nicht wahr-
scheinlich, daß man seitens der deutschen Regierung dazu werde bei-
tragen wollen, das deutsche Kapital zum Ankauf russischer Werte zu
ermutigen. Denn einerseits werde wegen budgetärer und vielleicht
auch innerer sozialer Schwierigkeiten der russischen Regierung ein
erhebliches Fallen der russischen Fonds erwartet, andererseits habe
auf Jahr und Tag hinaus Rußland aus den bereits angedeuteten Grün-
den nichts zu bieten, was dem Risiko, dem man das deutsche Kapital
aussetzen würde, als Gleichgewicht würde dienen können. Dies sei
die gegenwärtige Lage der Sache. Für die Zukunft bleibe die
Regelung unserer wirtschaftlichen Beziehungen als offene Frage be-
stehen, pp.
Holstein
♦ Siehe Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A.
26» 403
Kapitel L
Der Draht nach Rußland 1892-1894
A. Äußere Politik
Nr. 1635
Der Gesandte in Kopenhagen Freiherr von den Brincken an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 62 Kopenhagen, den S.Juni 1892
Vertraulich
Der Prinz von Wales, welcher seit der Zeit meines Aufenthalts
in England bei sich bietendem Anlaß mir immer viel Huld und Gnade
zu erweisen pflegt, hat am 4. d. Mts. noch kurz vor seiner Abreise von
Kopenhagen mich „als alten Londoner Bekannten" in Privataudienz
empfangen und mit einer längeren Unterredung beehrt.
Wegen der tiefen Trauer um den Herzog von Clarence* ist meines
Wissens außer dem englischen Gesandten und mir keiner der in
Kopenhagen beglaubigten fremden Vertreter von Seiner Königlichen
Hoheit während des jetzigen Hierseins gesehen worden.
Im Laufe des von dem Prinzen mit mir geführten Gesprächs er-
wähnte höchstderselbe auch den bevorstehenden Besuch des Kaisers
von Rußland bei Seiner Majestät dem Kaiser und Könige in Kiel und
bezeichnete diese Begegnung als eine im Interesse des allgemeinen
Friedens durchaus erwünschte und in sich selbst bedeutungsvolle Be-
gebenheit.
Mit dieser Äußerung verband Seine Königliche Hoheit die weitere
Bemerkung, daß König Christian sich ein nicht unwesentliches Ver-
dienst um die Herbeiführung des betreffenden Besuchs erworben habe,
da derselbe an dem Tage der goldenen Hochzeit** eine direkte Bitte^
dieserhalb an seinen kaiserlichen Schwiegersohn gerichtet habe, deren
Gewährung von dem Zaren dann ohne irgendwelche Einwendungen
oder Schwierigkeiten zu machen sogleich zugestanden worden sei.
Auch von anderer Seite waren mir bereits vor der Unterredung
mit dem Prinzen von Wales ähnlich lautende Mitteilungen über eine
von König Christian in der gedachten Richtung ausgeübte Einwirkung
zugegangen.
Bei Gelegenheit eines zufälligen Zusammentreffens mit dem Könige
von Dänemark am 6. d. Mts. hat Seine Majestät über die Begegnung in
* Albert Victor, Herzog von Clarence, ältester Sohn des Prinzen von Wales,
t 14. Januar 1892.
** 26. Mai 1892. Vgl. Kap. XLIX, Nr. 1622.
407
Kiel sich höchstselbst gegen mich etwa mit folgenden Worten aus-
gesprochen:
„Ich freue mich aufrichtig über den morgen stattfindenden Besuch
des Kaisers von Rußland bei Ihrem Kaiserlichen Herrn. Zur Herbei-
führung des betreffenden Entschlusses hat es allerdings hier einer
kleinen Pression bedurft. Immerhin bleibt es doch die Hauptsache,
daß der Besuch gemacht wird, und gereicht es mir zu besonderer
Freude, daß derselbe von hier aus geschieht."
Daß König Christian eine Begegnung des Kaisers von Rußland
mit des Kaisers und Königs Majestät von jeher gewünscht hat und
in dieser Beziehung auch zu wirken bemüht gewesen ist, kann meines
gehorsamsten Erachtens sicherlich nicht in Zweifel gezogen werden.
Es ist daher vielleicht nicht zu verwundern, daß, nachdem der
Besuch fest beschlossen war, beziehungsweise nachdem derselbe nun-
mehr stattgefunden hat, man an dem Zustandekommen der betreffen-
den Begegnung ein gewisses Verdienst hier bei Hofe für sich in An-
spruch zu nehmen geneigt ist.
Nichtsdestoweniger glaube ich, auf Grund der von mir gemach-
ten Wahrnehmungen und gewonnenen Eindrücke an der bereits früher
ehrerbietigst ausgesprochenen Ansicht festhalten zu sollen, daß der
Entschluß des Kaisers Alexander, unserem allergnädigsten Herrn einen
Besuch abzustatten, im Prinzip schon vor der Reise nach Kopenhagen
festgestanden hat und vielleicht nur die letzte Entscheidung über die
wegen der Zeit und der Einzelheiten der Begegnung unserem aller-
höchsten Hofe zu machenden Vorschläge hier getroffen worden ist.
Brincken
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
* Das ist sehr viel
Nr. 1636
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freinerr von Marschall
an den Botschalter in Petersburg von Schweinitz*
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Nr. 46 Berlin, den Q.Juni 1892
Die vorgestrige Entrevue zwischen Seiner Majestät und dem Zaren
in Kiel ist in der befriedigendsten Weise verlaufen. Nachdem schon
die erste Begegnung an Bord der „Hohenzollern" sehr herzlich ge-
wesen war, verkehrten die beiden Monarchen während des ganzen
Tages in ungezwungener und heiterer Weise zusammen. Unserem
allergnädigsten Herrn gelang es durch seine Liebenswürdigkeit sieht-
* Das Telegramm ging auch an die Botschafter in Wien (Nr. 102), Rom und
London, sowie an die preußischen Gesandten in München, Stuttgart, Dresden und
Karlsruhe.
403
lieh, den hohen Gast in die beste Stimmung zu versetzen, welche
während des ganzen Tages unverändert andauerte. Sowohl während
des Frühstücks wie bei der Oalatafel und bei der Bootfahrt am Nach-
mittage führten die Monarchen lebhafte Gespräche; auch da, wo die
Monarchen allein waren, wurde Politik nicht berührt. Kurz vor der
Galatafel ernannte Seine Majestät den Zaren mit dessen Zustimmung
zum Admiral ä la suite der deutschen Flotte. Der Toast des Kaisers
lautete: „Ich trinke auf das Wohl Seiner Majestät des Zaren, des
Admirals ä la suite der deutschen Flotte." Der Zar antwortete in
französischer Sprache auf den Kaiser mit dem Ausdruck des Dankes
„pour toutes les bontes que Votre Majeste a eues pour moi." Die
Abreise des Zaren erfolgte abends gegen 10 Uhr.
Nach einem Telegramm des Kaiserlichen Gesandten in Kopen-
hagen hat der Zar sowohl seiner Gemahlin wie dem Könige von
Dänemark telegraphisch seine hohe Befriedigung über den ihm zuteil
gewordenen Empfang ausgedrückt.
Unser Eindruck ist, daß die Kieler Zusammenkunft an der augen-
blicklichen politischen Situation zwar nichts Wesentliches ändert, die
persönliche Annäherung beider Monarchen aber eine neue bedeutsame
Friedensgarantie bildet. Der Zar hat durch seinen Besuch während
des Nancyer Festes* bekundet, daß für ihn eine elsaß-lothringische
Frage nicht existiert, und er trotz Kronstadt für eine französische Re-
vanchepolitik nicht zu haben ist. Dieser Eindruck bleibt bestehen,
auch wenn der Besuch des Großfürsten Konstantin in Nancy auf Befehl
des Zaren oder mit dessen Genehmigung** erfolgt sein sollte.
Marschall
Nr. 1637
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 160 Wien, den 10. Juni 18Q2
Der Kaiser von Österreich, den ich in letzter Zeit häufiger zu
sehen die Ehre hatte, ist den Vorbereitungen für die Zusammenkunft
Seiner Majestät des Kaisers und Königs mit dem Zaren mit Aufmerk-
samkeit gefolgt und hatte Nachrichten aus Berlin gehabt, wonach unser
* Vom 5. bis 8. Juni fand in Nancy ein Studententurnfest statt, dem schon durch
die Tatsache, daß alle Universitäten mit alleiniger Ausnahme der deutschen ge-
laden waren, ein deutschfeindlicher Charakter aufgeprägt wurde. Auf dem Feste
erschien auch der zur Zeit in einem französischen Bade weilende Großfürst Kon-
stantin, der mit ungeheurem Jubel begrüßt wurde. Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1588.
** Tatsächlich hatte Großfürst Konstantin, wie Botschafter von Schweinitz am
10. Juni auf Grund von Äußerungen des Ministergehilfen Schischkin berichtete,
die Erlaubnis des Zaren zu dem Besuch in Nancy eingeholt
409
allergnädigster Herr mit wenig Befriedigung über die ganze Sache
allerhöchst sich ausgesprochen hätte.
Um so froher war Kaiser Franz Joseph, als ich ihm gestern abend
bei dem großen Hoffest mitteilen konnte, was mir Euere Exzellenz
durch Telegramm Nr. 102* über den vortrefflichen Verlauf der Entrevue
zu eröffnen die Gewogenheit gehabt haben.
Der Kaiser verkennt nicht die hohe Bedeutung dieser Zusammen-
kunft und begrüßt mit aufrichtiger Freude in der erfolgten Annäherung
der beiden Monarchen eine neue Friedensgarantie.
Dagegen wollte dem Kaiser das unerwartete Erscheinen des Groß-
fürsten Konstantin in Nancy** durchaus nicht gefallen. Russischerseits
habe man der Franzosen wegen den guten Kieler Eindruck abschwächen
wollen, und das sei zu beklagen. Es freute den Kaiser zu hören, wie
ruhig dieses Intermezzo bei uns aufgefaßt würde, er bemerkte aber,
daß man doch keine zu großen Hoffnungen auf die in Kiel gezeigte
gute Laune des Kaisers Alexander bauen dürfe. Immerhin wolle er
auch gern das Beste glauben.
Graf Kälnoky teilte mir heut ein Telegramm des Grafen Wolken-
stein mit, wonach man in St. Petersburg wissen wolle, Baron Mohren-
heim habe dem jungen Großfürsten geraten, den Präsidenten der fran-
zösischen Republik gerade zur selben Zeit zu besuchen, wo Kaiser
Alexander sich für die Fahrt nach Kiel rüstetet
Der Minister äußert sich meinen Kollegen gegenüber in einer sehr
zufriedenen Weise über die Kieler Zusammenkunft. Er ist, wie ich
bereits zu melden mich beehrte, überhaupt bemüht, den hohen Wert
dieses Ereignisses herauszustreichen. H.VII. P. Reuß
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
1 Ist im allgemeinen richtig, blos der Rath tel quel ward nicht gegeben sondern
die Angelegenheit dahin gefingert.
Nr. 163S
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 288 Wien, den 15. November 1892
Mit ganz gehorsamster Bezugnahme auf meinen Bericht Nr. 287
vom 13. d. Mts., den Besuch Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers
von Rußland am hiesigen Hofe betreffend, beehre ich mich, die hier-
über eingezogenen Erkundigungen in nachstehendem zusammen-
zufassen.
* Siehe Nr. 1636, S. 408, Fußnote.
** Vgl. Nr. 1636, S. 409, Fußnote **.
410
Es ist der Wunsch des hiesigen kaiserlichen Hofes gewesen,
den hohen Gast mit ganz besonderer Aufmeri<samkeit zu behandeln.
Ob die verschiedenen Nuancen von letzterem bemerkt worden sind,
ist zweifelhaft, wenigstens wurde mir von Seiten der Herren der russi-
schen Botschaft dies bestätigt. Man hat den Großfürsten von dieser
Seite darauf aufmerksam machen müssen, wie hoch es anzurechnen
sei, daß z. B. Ihre Majestät die Kaiserin Elisabeth bei der Galatafel er-
schienen ist. Seit dem ersten Besuche unseres allergnädigsten Herrn in
Wien ist dies nicht mehr der Fall gewesen.
Wie mir Seine Majestät der König von Rumänien erzählte, hat
der Kaiser diesem gesagt, er habe mit Absicht diesem Besuch einen
ganz besonders feierlichen und herzlichen Charakter geben wollen,
um dem russischen Hofe zu zeigen, daß hierseits großer Wert darauf
gelegt würde, die persönlichen Beziehungen so freundschafthch wie
möglich zu gestalten. Der Zar schlösse sich ganz ab gegen die Außen-
welt, sei umgeben von Leuten, die es sich zur Aufgabe machten, ihn
den benachbarten Kaiserhöfen zu entfremden. Da habe er es für seine
Pflicht gehalten, seinerseits offen zu dokumentieren, daß man hierseits
durchaus nicht gewillt sei, die Familienbeziehungen erkalten zu lassen i.
Nach Ansicht des Kaisers würden solche, den Mitgliedern des
russischen Kaiserhauses erwiesenen Freundschaftsbezeugungen keinen
direkten Einfluß auf die russische Politik ausüben 2; aber man dürfe
auch der ferneren Zukunft wegen nie verabsäumen, höflich zu sein.
Das habe doch immer einen gewissen Einfluß und man schaffe sich
Traditionen, die dann doch einmal günstige Reflexe auf die politische
Haltung werfen könnten.
Ganz in demselben Sinne hat sich Seine Majestät auch dem Bot-
schafter Grafen Wolkenstein gegenüber geäußert, der seinerseits die
Bedeutung solcher Begegnungen nicht unterschätzt und ihnen einen
gewissen Wert für die Beziehungen Rußlands, nicht bloß zu Öster-
reich-Ungarn sondern auch zu den verbündeten Mächten beilegt.
Der Kaiser Franz Joseph will den Frieden. Er hält es im Interesse
der Dreibundspolitik, die die Erhaltung des Friedens izu ihrer Aufgabe
gemacht hat, für nützlich, wenn er seinerseits versucht, Rußland gegen-
über alles aus dem Wege zu räumen, was zu einem Bruch führen
könnte. Er glaubt, daß bessere persönliche Beziehungen zwischen
beiden Höfen dazu beitragen ^ könnten.
Dem Kaiser Franz Joseph ist die Persönlichkeit des Thronfolgers
sympathisch und er hat ihm dies auch durch die herzliche Weise,
wie er ihn behandelt hat, zu erkennen gegeben.
Dagegen ist dieser Prinz, der übrigens sehr höflich gewesen und
unter anderem den Feldzeugmeister Baron Beck in deutscher Sprache
angeredet hat, nicht recht aus seiner Reserve herausgekommen. Aus
großer Verlegenheit hat er sich unbeholfen gezeigt*; die Unterhaltung
bei Tafel, wo er zwischen den beiden Majestäten gesessen, ist nur
411
sehr mühsam in Fluß zu erhalten gewesen, sodaß selbst die hiesigen
russischen Herren durchaus nicht befriedigt von dem linkischen Be-
nehmen ihres Thronfolgers gewesen sind.
Wie ich höre, ist von Politik gar nicht gesprochen worden, wenn
auch Graf Kalnoky eine Audienz beim Thronfolger gehabt hat. Man
ist aber hier mit dem Effekt, den der russische Besuch hier und außer
Österreich hervorgebracht hat, zufrieden und macht sich nichts aus der
üblen Laune, welche in der französischen Presse sich hier und da ge-
zeigt hat. H.VII.P.Reuß
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms IL:
1 Gut
2 richtig
' ja
* weil der arme Junge nie aus der Kinderstube und von den Schürzenbändern
der Mama fortgelassen wird
Nr. 1639
Kaiser Wilhelm II. an den Reichskanzler Grafen von Caprivi
Telegramm. Entzifferung
Neues Palais, den 18. November 1892
Der Graf Schuwalow hat mir soeben ein Telegramm seines Souve-
räns an ihn vorgelesen, in welchem der Zar den Grafen beauftragt, mir
mitzuteilen, daß er wünsche, wenn es angängig wäre, den General
von Werder als Nachfolger des Generals von Schweinitz* in St. Peters-
burg zu sehen. Der Zar würde es als eine besondere Liebenswürdigkeit
meinerseits ansehen, wenn ich diesem Wunsche willfahren sollte, und
es würde ihm eine ganz speziell persönliche Freude damit gemacht
werden. Ich teilte dem Großfürsten** diese Nachricht mit und be-
fragte ihn darob. Aus seinem Gesicht konnte ich entnehmen, daß er
darum wußte. Er setzte sofort hinzu, er hoffe sehr, daß sich die Sache
machen lasse, da er mir versichern könne, daß sein Bruder ein abso-
lutes und unbegrenztes Vertrauen in den General habe, weil dieser
offen und ohne Rückhalt ihm schon oft seine Ansichten gesagt habe.
Ich habe daraufhin dem Botschafter geantwortet, daß ich für das Ver-
trauen Seiner Majestät, sich direkt an mich in dieser Angelegenheit zu
wenden, sehr dankbar sei. Es käme bei unseren intimen Beziehungen
* General von Schweinitz reichte am 28, November sein infolge geschwächter Ge-
sundheit schon länger geplantes Abschiedsgesuch ein, das am 5. Dezember genehmigt
wurde. Der für seine Nachfolge in Frage kommende General von Werder war
noch von der Zeit her, wo er Bevollmächtigter in Petersburg gewesen (vgl.
Bd. II, Kap. X) war, am russischen Hofe persona gratissima.
** Seit dem 17. November weilte Großfürst Wladimir, von Paris kommend, zu
Besucli am deutschen Kaiserhofe. Er brachte Kaiser Wilhelm II. die ersten Nach-
richten über die durch die Panamaaffäre hervorgerufene französische Regierungs-
krise.
412
mir vor allem darauf an, daß der Zar zu meinem Vertreter volles Ver-
trauen habe, und sei es mir in diesem Fall eine Freude, seinem Wunsche
nachkommen zu können. Falls General von Werder es mit seiner Ge-
sundheit leisten könne und Euere Exzellenz einverstanden seien, würde
ich ihn schicken.
Wilhelm LR.
Nr. 1640
Der Reichskanzler Graf von Caprivi an Kaiser Wilhelm II.,
z. Z. in Jagdschloß Göhrde
Telegramm. Eigenhändiges Konzept
Berlin, den 18. November 1892
General von Werder ist bereit, den Posten anzunehmen, seine
Gesundheit sei kein Hindernis. Ich befürworte die Sache allerunter-
tänigst und stelle anheim. Euerer Majestät Entschluß Seiner Kaiser-
lichen Hoheit dem Großfürsten Wladimir mitzuteilen.
In Paris ist Entscheidung erst heut zu erwarten. Ministerium
Loubet hat Vertrauensfrage gestellt.
V. Caprivi
Nr. 1641
Kaiser Wilhelm IL, z.Z.in Jagdschloß Göhrde, an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Telegramm. Entzifferung
Göhrde, den 18. November 1892
Seine Kaiserliche Hoheit der Großfürst* ist hoch erfreut über
die rasche Erledigung des Wunsches des Zaren und dessen Mitteilung
an ihn. Er meint, es werde den allerbesten Eindruck auf Seine Ma-
jestät machen. Ich werde Seiner Majestät telegraphisch Mitteilung
machen, jedoch ohne Nennung der Namen in unverfänglicher Weise.
Graf Schuwalow, den ich orientierte, ist außer sich vor Freude. Groß-
fürst bleibt bei seiner Ansicht, daß französisches Ministerium unter
allen Umständen fallen werde. Prinz Albert von Altenburg**, den ich
vertraulich von der von Werderschen Frage informierte, erklärte, als
er vernahm, daß der Zar in dieser Angelegenheit persönlich den ersten
Schritt getan habe, daß nach seiner durch Erfahrungen wohl begründe-
ten Ansicht eine solche vom Zaren völlig unerwartete Initiative als
ein außerordentlich günstiges Zeichen aufzufassen sei.
* Wladimir.
** Er hatte als früherer russisch'^r Generalmajor ä la suite des Kaisers nahe Be-
ziehungen zum russischen Hofe.
413
Wenn dieser sich so schwer entschließende Herr einen solchen
Schritt in so wichtiger Angelegenheit aus sich selbst heraus mache, so
sei das als ein absolut sicheres Zeichen anzusehen, daß er die red-
liche Absicht habe, mit uns auf einen besseren und freundlicheren
Fuß wieder zu kommen. Er begrüße diesen Vorfall mit ungeheuchelter
Freude und hege die feste Überzeugung, daß politisch viel Gutes
für uns beide dabei herauskommen werde. Er sei der Meinung, daß
dieses Ereignis eines der größten und wichtigsten in der augenblick-
lichen Politik sei. Das russische politische Publikum, welches eine
ungemein feine Nase habe, werde sofort nach Bekanntwerden dieser
Sache daraus einen politischen Wink des Zaren erblicken, uns gegen-
über mal wieder andere Saiten aufzuziehen und demgemäß wieder
deutschfreundlicher sich zu stellen streben.
Der Prinz ist keinen Augenblick im Zweifel, daß bei dem un-
begrenzten Vertrauen des Zaren zu General von Werder es demselben
sehr bald gelingen werde, des Grafen von Montebello uns gefähr-
lichen und schädlichen Einfluß bald aufzuheben und Seine Majestät
allmählich aus dem französischen Fahrwasser herauszubringen. Dieses
Ereignis in Verbindung mit der Mißstimmung, die augenblicklich gegen
Paris umsichzugreifen anfange, werde, da es ziemlich gleichzeitig mit
dem Sturz des französischen Ministeriums (Kronstadter Ministerium)
zusammenfalle, einen sehr scharfen und ernüchternden kalten Wasser-
strahl auf die Franzosen werfen.
Euere Exzellenz werden aus dem vorhergehenden ersehen, wie
wichtig von allen Eingeweihten und Wohlmeinenden die Kandidatur
von Werders betrachtet wird, und daß wir mit ihm anscheinend einen
guten Trumpf in unseren politischen Karten auszuspielen haben. Ich
bin erfreut, durch diese Gefälligkeit in der Lage zu sein, dem Zaren
von neuem aufrichtigen Beweis meiner persönlichen Freundschaft für
ihn habe geben zu können. Zugleich ist dieser Vorfall ein schlagender
Beweis wiederum dafür, wie sehr sich seit dem Rücktritt des Fürsten
von Bismarck das persönliche Vertrauen des Zaren zu uns ge-
hoben hat.
Wilhelm I. R.
Nr. 1642
Kaiser Alexander III. von Rußland, z. Z. in Galschina,
an Kaiser Wilhelm IL, z. Z. in Jagdschloß Qöhrde
Telegramm en clair. Ausfertigung
Gatschina, den 18. November 18Q2
Suis tres heureux de la bonne nouvelle que Tu me donnes et tres
sensible ä cette nouvelle preuve de Ton aimabilite en nommant WferderJ
ä Petersbourg que Tu savais me ferait plaisir. Mille amities.
Alexandre
414
Nr. 1643
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 9 Wien, den 6. Januar 1893
pp. Graf Kälnoky knüpfte hieran* eine allgemeine Betrachtung über
die russische Politik. Er hält dafür, wie Euerer Exzellenz bekannt, daß
Seine Majestät der Kaiser Alexander durchaus friedliche Absichten hat,
und hofft auch, daß, was seine Sympathien und Antipathien betrifft,
sich allmähUch eine Wandlung in dem Gemüte des Zaren vollziehen
dürfte.
Zu bedauern sei aber, daß sich beim Kaiser der Gedanke fest
eingenistet habe, wie der Dreibund in erster Linie gegen Rußland
geschlossen worden sei, daß ihm deshalb von dort aus stets Gefahr
drohe.
Aus diesem Grunde ließe der sonst so friedfertige Kaiser den
allerdings schon seit langer Zeit beschlossenen Aufmarsch der russischen
Armee an unseren Grenzen sich vollziehen.
Er, Graf Kälnoky, könne nun einmal den Gedanken nicht los wer-
den, daß in dieser großen Ansammlung von Truppen die größte Ge-
fahr liege**. Trotz der Friedensliebe des Zaren, der ja nicht unsterblich
sei, würde diese zum Kriege bereite große Macht gewissermaßen durch
das Gesetz der Schwere einmal in Bewegung kommen. Der gering-
fügigste Anlaß könne dies bewirken. Man belächele diese seine Ansicht,
wenn er sie ausspräche; er könne sich aber nicht von dieser Be-
fürchtung los machen. Es bleibe daher nichts anderes übrig als immer
weiter zu rüsten.
Ich benutzte den mir im weiteren Gespräch gegebenen Anlaß,
um dem Minister von meinem neulichen Gespräch mit seinem Kaiser
zu reden. Ich fand bei ihm Verständnis, als ich ihm dagte, die k. u. k.
Regierung müsse sich endUch einmal entschließen, trotz des Wider-
standes der Herren Finanzminister einen etwas tieferen Griff in den
Beutel zu tun. Unsere Verbündeten, in welche wir das größte Ver-
trauen setzten, hielten nicht gleichen Schritt mit uns, und ich hätte
mich außerordentUch gefreut, vor einigen Tagen aus dem Munde Seiner
♦ Den Anfang des Berichts über die Äußerungen des Grafen Kälnoky siehe Bd. IX,
Kap. LV, Nr. 2129.
** Vgl. auch den Bericht des französischen Botschafters Grafen de Montebello
vom 7. September 1893 über die seit Jahresfrist ganz systematische Verschiebung
der russischen Streitliräfte gegen die deutsch-österreichische Grenze. „Le travail
de concentration de ses forces miütaires vers les frontieres d'Allemagne et d'Au-
triche s'est poursuivi avec une rcgularite qui ne s'est pas un instant dementie".
Gelbbuch "L'AlHance Franco-Russe" (1918), p. 187.
415
Majestät selbst zu hören, daß eine Vermehrung des Präsenzstandes
notwendig sei und gemacht werden müsse. Es koste dies allerdings
viel Geld und wir stürzten uns in Schulden, weil wir die Pflicht, für
alle Fälle unseren Gegnern ebenbürtig zu sein, allen anderen Rück-
sichten voransetzten.
Der Minister erkannte dies an und gab mir zu, daß hier mehr ge-
schehen müsse als bisher.
Ich will wünschen, daß diese Ansicht seinerzeit den Finanz-
ministern gegenüber geltend gemacht werde. H.VII.P. Reuß
Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
Wollen es hoffen.
Nr. 1644
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 6 St. Petersburg, den 13/1. Januar 1893
Daß ich die Ehre gehabt habe, gestern meine Kreditbriefe Seiner
Majestät dem Kaiser Alexander zu überreichen, habe ich schon telegra-
phisch gemeldet.
Der Empfang war der an hiesigem Hofe gebräuchliche, ein feier-
licher, pp.
Nachdem ich meine Kreditbriefe überreicht hatte und der Kaiser
die gebräuchlichen allgemeinen Fragen nach Seiner Majestät dem Kaiser
und der kaiserlichen Familie, der bevorstehenden Hochzeit* getan
hatte, ich ihm gegenüber sitzend, fragte er mich, wie es mit der
Militärvorlage** stände.
Ich konnte ihm darauf nur erwidern, daß das Schicksal derselben
sich in der nächsten Zeit entscheiden müßte, da die Kommissions-
verhandlungen angefangen hätten, daß, wenn auch die Opposition gegen
dieselbe, namentlich gegen die Geldbewilligung eine sehr starke wäre,
Seine Majestät der Kaiser und Euere Exzellenz fest entschlossen wären,
sie mit allen Mitteln durchzuführen.
* Gemeint ist die auf den 25. Januar festgesetzte Vermählung der Prinzessin Mar-
garete mit dem Prinzen Friedrich Karl von Hessen, an der dann auch der
russische Thronfolger teilnahm.
** Am 23. November 1892 hatte der Reichskanzler eine Militärvorlage großen
Stiles, die auf der einen Seite eine Erhöhung des Friedenspräsenzstandes um
83 894 Mann forderte, auf der anderen den Übergang zu der zweijährigen Dienst-
zeit involvierte, mit einer großen Rede im Reichstage eingebracht, die auch aus-
führlich auf die Beziehungen Deutschlands zu Rußland und Frankreich einging
und in der hochherzigen und friedlichen Gesinnung Kaiser Alexanders III. einen
der stärksten Faktoren für die Erhaltung des Friedens in Europa sehen wollte.
416
Als ich sagte, wie ungerechtfertigt z. B. die Opposition gegen die
Biersteuer wäre, da der Aufschlag für den Konsumenten minimal,
gar nicht zu bemerken wäre, äußerten Seine Majestät, das wäre ganz
wie hier mit der projektierten Salzsteuer.
Der Kaiser sprach in der objektivsten Weise über die Militär-
vorlage, in keiner Weise so, als wenn dieselbe, durchgeführt, eine Ge-
fahr für sein Land in sich trüge. Er beklagte, daß keine Regierungs-
vorlage mehr sachgemäß beraten werden könne, sondern daß die Ver-
handlungen immer seitens der verschiedenen Parteien in einer ge-
hässigen Weise geführt würden. Und er bezog dies nicht etwa nur
auf Deutschland.
Die Unterhaltung schloß damit, daß der Kaiser sagte, er sähe
sehr schwarz und er glaube, daß das 20. Jahrhundert uns große
Katastrophen bringen würde.
Aus der Unterredung mit Ihrer Majestät der Kaiserin möchte ich
hervorheben, daß die hohe Frau zweimal sehr lebhaft äußerte, Seine
Majestät der Kaiser wären in einer so besonders liebenswürdigen und
freundschaftlichen Weise dem Wunsche des Kaisers Alexander, mich
hier als Botschafter zu sehen, entgegengekommen.
Nach dem Empfang durch Ihre Majestät stellte ich mich dem
Thronfolger vor. Dieser sagte mir, er freue sich sehr auf Berlin und
bedauere, daß seine Antwort auf das Einladungsschreiben Seiner Ma-
jestät des Kaisers so lange hätte auf sich warten lassen, dasselbe wäre
aber während seiner Abwesenheit im hiesigen Ministerium eingetroffen
und man hätte es ihm unbegreiflicherweise nicht nachgeschickt.
Seine Majestät der Kaiser Alexander hat mich beauftragt, unserem
allergnädigsten Herrn seinen besten Dank für die ihm durch mich
überreichten Geschenke auszusprechen.
Bei der heutigen Neujahrsgratulation lud mich der Kaiser ein,
ganz wie früher Sonntags zur Messe und zum Frühstück zu kommen,
immer wenn es mir paßte, es wäre natürlich nicht obligatoire.
Ich muß sagen, daß mich das überrascht hat, das hatte ich nicht
erwartet, und als ich Seiner Majestät meinen Dank für diesen Gnaden-
beweis aussprach, sagte allerhöchstderselbe, „es sollte alles wie früher
bleiben, sich nichts in den alten Beziehungen ändern*'.
Heute trifft der Emir von Buchara mit zahlreichem Gefolge hier
ein. Er wird im Winterpalais wohnen, aber besondere Feiern werden
für ihn nicht stattfinden. Man verlangt, daß er die ersten Besuche
macht.
v. Werder
Bemerkung Kaiser Wilhelms II. am Schluß des Schriftstücks:
Das Entree ist so günstig wie man nur wünschen kann. Ich vertraue Werder,
daß er es zum Heile unsrer Beider Häuser und Länder gut ausnutzen wird.
Der Friede Europas ruht nicht zu einem geringen Theil in seinen Händen.
27 Die Große Politik. 7. Bd. 41 7
Nr. 1645
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Eigenhändiger Privatbrief
St. Petersburg, den 31. Januar 1893
Euer Exzellenz!
Beehre ich mich in nachstehendem den Inhalt einer Unterredung,
welche ich mit Seiner Majestät dem Kaiser Alexander am Geburtstage
Seiner Majestät des Kaisers vor dem Frühstück in seinem Kabinett
gehabt habe, ganz gehorsamst zu unterbreiten.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, begannen Seine Majestät die
Unterhaltung folgendermaßen:
„Ich habe Ihnen noch nicht von den Reden des Grafen Caprivi* ge-
sprochen, weil ich keinen großen Wert darauf lege (je n'en fais pas de
cas), ich finde aber doch, daß der General zu viel gesagt hat, wodurch
seine Worte ein unangenehmes Aufsehen in Rußland und im übrigen
Ausland gemacht haben. Das kommt aber vom Parlamentarismus und
der General ist kein Parlamentarier sondern Soldat. Ich kann ja auch
begreifen, daß er etwas zu weit gegangen ist (qu'il a pris la note un
peu trop haute), da ihm alles daran liegt, die Vorlage durchzubringen.'*
Auf meine Äußerung, daß Eure Exzellenz ja die Ihnen in den
Mund gelegten Äußerungen, welche die Presse so wiedergegeben hätte,
als hätten Eure Exzellenz sie erfunden, gleich in der offiziellsten und
energischsten Weise hätten dementieren lassen, und daß der Charakter
und die politische Vergangenheit Euer Exzellenz dafür bürgten, daß
Sie, Herr Reichskanzler, gar nicht so hätten sprechen können, wie die
Telegramme es in der Welt verbreitet hätten, sagten Seine Majestät:
„Ja das weiß ich, denn ich habe die höchste Achtung vor dem Cha-
rakter des Generals und ich zweifle nicht daran, daß er bestrebt ist,
gute Beziehungen zwischen unsern Ländern zu erhalten".
Ich bestätigte dieses natürlich und fügte hinzu, daß Eure Exzellenz
diese Politik ganz im Sinne Seiner Majestät des Kaisers führten.
In der Hoffnung, daß Eure Exzellenz damit einverstanden sind.
* Gemeint ist neben der großen Reichstagsrede vom 23. November 1892 (siehe
Nr. 1644, Fußnote **) die Rede, mit der Caprivi am 11. Januar 1893 die Be-
ratungen der Reichstagskommission für die Militärvorlage eröffnete, und in der
er wieder auf die Möglichkeit eines Zweifrontenkriegs und die Wahrscheinlichkeit
militärischer Abmachungen — zu Wasser und zu Lande — zwischen Frankreich
und Rußland hinwies. Vgl. Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893,
S. 2f. Nach einem Bericht Werders vom 18. Januar 1893 wäre die Rede Caprivis
in Petersburg zunächst in einer sehr entstellten Fassung bekannt geworden. Vgl.
dazu die amtliche Erklärung in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vom
13. Januar.
418
habe ich es vorgezogen, diesen ganz gehorsamsten Bericht in privater
Form zu machen und behalte mir vor, den Schluß der Unterredung einem
politischen Bericht anzufügen,
V. We r d e r
Nr. 1646
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Werder
Telegramm. Konzept von der Hand des Vortragenden Rats Grafen von Pourtales
Nr. 22 Berlin, den 27. Januar 1893
Augenscheinlich um günstige Wirkung des Besuches des Groß-
fürsten-Thronfolger an unserem Hofe* zu neutralisieren, werden in
französischer, englischer und österreichischer Presse Nachrichten lan-
ciert, daß in diesem Frühjahr russischer Angriff auf Deutschland in
Aussicht stehe.
Englisch-französische „Agence Dalziel" meldete kürzlich, russische
Rüstungen nähmen in diesem Augenblick derartig bedrohlichen Cha-
rakter an, daß in höchsten Berliner Kreisen dem Frühjahr mit Beun-
ruhigung entgegensehen werde. „Neue Freie Presse" hat sich dazu
hergegeben, diese Nachricht weiter zu verbreiten.
Heutiger „Figaro'' bringt Mitteilung, derzufolge der jüngste Be-
such des Großfürsten Sergius in Frankreich den Zweck gehabt habe,
festzustellen, ob Frankreich zu einem Kriege im Frühjahr hinlänglich
vorbereitet sei**. Französische Regierung habe sich dieser Mission
des Großfürsten gegenüber reserviert verhalten.
Die Nachricht der „Agence Dalziel'' wird in „Norddeutscher All-
gemeiner Zeitung" widerlegt und dabei bemerkt, daß hier von Kriegs-
befürchtungen der höchsten Kreise für nächste Zeit nie die Rede ge-
wesen ist. Marschall
* Er weilte vom 24. bis 28. Januar am deutschen Kaiserhofe. Vgl. auch Kap. XLVII,
Nr. 1526.
♦* Es hieß in dem „Figaro"-ArtikeI u. a., kurz vor Beginn des Ahlwardtschen
Prozesses hätte die russische Militärpartei durch Hinweis auf die enthüllten Mängel
der deutschen Bewaffnung und durch das hierauf gegründete Argument, daß Frank-
reich im Fall eines sofortigen Krieges einen mehr als neunmonatigen Vorsprung
vor Deutschland voraus habe, dem Zaren den Vorteil eines baldigen Krieges nahe-
gelegt. Der Zar habe daraufhin den Großfürsten Sergius in geheimer Mission
nach Rom, London, Paris gesandt. In Rom habe sich der Großfürst überzeugt,
daß Italien lange noch nicht kriegsbereit sei. In Paris habe man gewisse Reserve
gezeigt; doch habe der Großfürst die Oberzeugung von der Kriegsbereitschaft
Frankreichs gewonnen. In London habe der Großfürst gesehen, daß England
Neutralität nur gegen Überlassung von Ägypten und Marokko, gegen völlige Un-
abhängigkeit der Balkanstaaten usw. versprechen würde. Im ganzen sei der
Großfürst mit dem Eindruck heimgekehrt, daß die Stimmung in Westeuropa von
dem Optimismus der russischen Militärpartei weit entfernt sei.
27* 419
Nr. 1647
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 25 St. Petersburg, den 31. Januar 1893
Euerer Exzellenz beehre ich mich infolge des geehrten Telegramms
vom 20. d. Mts. Nr. 24* ganz gehorsamst zu berichten, daß ich ver-
mieden habe, Seiner Majestät dem Kaiser Alexander über den Artikel
des „Figaro", den Großfürsten Sergei in Paris betreffend, zu sprechen,
weil ich am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers eine längere
Unterredung mit allerhöchstdemselben hatte und ich, die Natur des
Kaisers kennend, es nicht für richtig halte, ihn oft auf politische
Dinge anzureden i.
Dagegen gab mir Ihre Majestät die Kaiserin Gelegenheit, ihr so-
wohl von diesem Artikel als von dem in der „Agence Dalziel", dessen
Inhalt ja offiziell dementiert worden ist, zu sprechen. Ihre Majestät
sagte mir nämlich, der Thronfolger hätte aus Berlin nicht geschrieben,
aber öfter telegraphiert und sich höchst befriedigt und gerührt über
die Aufnahme, welche er dort gefunden hätte, ausgesprochen. Dieses
benutzte ich, um Ihre Majestät zu fragen, ob sie die beiden Artikel
gelesen hätte, was sie bejahte, und natürhch war sie auch entrüstet
darüber.
Ich bin überzeugt, daß sie dem Kaiser darüber sprechen wird.
Seine Majestät äußerte unter anderem im Gespräch mit mir: er
zweifle nicht daran, daß das Ziel Euerer Exzellenz Führung der po-
litischen Angelegenheiten das sei, gute Beziehungen zwischen Deutsch-
land und Rußland zu erhalten.
Ich bestätigte dies aus voller Überzeugung und fügte hinzu, daß
Euere Exzellenz diese Politik ganz im Sinne und im Einverständnis
mit unserem allergnädigsten Herrn führten und auch dieser von den
friedlichsten Gesinnungen beseelt sei. Seine Majestät sowohl als Euere
Exzellenz hätten mir das öfter ausgesprochen.
„Ja, das weiß ich," sagte darauf der Kaiser. „Als der Kaiser
Wilhelm so jung auf den Thron kam, konnte man befürchten, daß er
durch Ruhmsucht und den Wunsch, sich Lorbeeren zu erreichen, zu
kriegerischen Anwandlungen hätte getrieben werden können, aber das
ist jetzt vorbei. Was würde das auch für ein Krieg werden!" setzte
Seine Majestät hinzu.
„Ja, ein furchtbarer," entgegnete ich darauf, „die Menschen, die
ihn herbeiführen wollten, sollten sich nur klarmachen, daß nur die
* Durch Telegramm Nr. 24 war dem Botschafter anheimgegeben worden, mit
Kaiser Alexander III. über den „Figaro"-ArtikeI vom 27. Januar zu sprechen.
420
1
Umsturzpartei einen Vorteil von ihm haben würde; diese dränge zum
Kriege, weil sie hoffe, Seide dabei zu spinnen, die monarchistischen
Regierungen zu stürzen ^.'^
„Ja," sagte der Kaiser, „und an der Spitze dieser Partei stehen
überall die Juden 3, das ist ganz unzweifelhaft/'
Ich habe mich durch dieses Gespräch wieder davon überzeugt,
wozu ich schon oft Gelegenheit hatte, daß der Kaiser Alexander der
in äußerer Politik mäßigst denkende Mann in Rußland ist und dabei
der friedliebendste. Ich habe ihn nie, wie so oft seinen Herrn Vater,
in schroffer, leidenschaftlicher Weise über politische Ereignisse sprechen
hören, Charakter und Temperament verbieten das.
Er liebt es sehr, wenn man ihn in Ruhe läßt, Liebenswürdigkeiten,
sei es durch Aufmerksamkeiten oder Geschenke, sind an ihm ver-
geudet; der Sinn hierfür geht ihm ab.
Über den Aufenthalt Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers
hat er nicht mit mir gesprochen. Ihre Majestät die Kaiserin sagte mir
aber, sie sähe die Verleihung der Kette des Schwarzen Adlerordens
an ihren Herrn Sohn als eine besondere Liebenswürdigkeit Seiner
Majestät an, da sie wüßte, daß fremde Fürstlichkeiten diese sonst
nicht erhielten. v. Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
i Richtig
2 gut
' u[ndl Franzosen
Nr. 1648
Kaiser Franz Joseph von Österreich an Kaiser Wilhelm II.
Eigenhändiges Handschreiben
Wien den 5. Februar 1893
Mein theurer Freund,
Vor Allem laße mich Dir dafür danken, daß Du im Gedränge von
Geschäften und Menschen meiner gedacht und Du Dich der Mühe
unterzogen hast, mir über Dein Zusammensein mit dem Großfürsten
Thronfolger eingehende Mittheilung zu machen*. Die Schilderung seiner
Haltung, seines sympathischen Wesens und ruhigen selbstständigen
Urtheiles entspricht vollständig dem Eindrucke, den mir dessen Besuch
im November vorigen Jahres hinterlassen hat.
Das korrekte Privatissimum, welches Du ihm über die Entstehung,
die Natur und die Ziele des Dreibundes gehalten**, scheint empfäng-
* Der Brief des Kaisers an Franz Joseph findet sich nicht bei den Akten des
Auswärtigen Amts.
•* Siehe Kap. XLVII, Nr. 1526.
421
liehen Boden gefunden zu haben; dafür spricht der Umstand, daß er
Dich um die schriftHche Abfaßung der erhaltenen Aufklärungen in der
Absicht ersucht hat, diese ihrem vollen Inhalte nach verwerthen zu
können. Mit Recht hebst Du hervor, daß es nun zumeist darauf an-
komme, ob es der Thronfolger verstehen und es ihm gelingen werde,
den verlästerten Bund, seinem Vater gegenüber, im wahren Lichte er-
scheinen zu lassen.
Nicht unwesentlich dürfte der Versuch durch die Zeit, in welche
er fällt, unterstützt werden, da sich Heute wohl Niemand mehr der
Erkenntniß wird verschliessen können, daß bei dem sich allenthalben
vorbereitenden Anstürme die Interessen des Friedens und der Monarchie
auf dem Spiele stehen. Dazu kommt, daß die als Paroli gegen die
Trippel-Allianz geschaffenen engeren Verhältnisse zwischen heterogenen
Elementen zu unnatürlich sind, als daß nicht der Augenblick kommen
müßte, wo sich auch Rußland mit den übrigen monarchischen Mächten
Eins fühlen werde. Möge sich diese Erkenntniß noch rechtzeitig Bahn
brechen!
Indeß haben wir Beide ausreichend Gelegenheit gehabt, an Hoff-
nungen das Maß der Erfahrungen zu legen und kann ich mich daher
der Besorgniß nicht erwehren, daß uns auch weiterhin Enttäuschungen
und schwere Prüfungen nicht erspart bleiben werden. HoffentHch
treffen uns etwaige ernste Ereignisse nicht unvorbereitet.
Zu besonderer Genugthuung gereicht mir die vertrauensvolle Stim-
mung, mit welcher Du dem Schicksale der Militärvorlage entgegen
siehst. Den gesicherten Erfolg werde ich mit Freuden begrüßen.
Sei auf das Herzlichste umarmt von
Deinem
treu ergebenen Freunde
Franz Joseph
Nr. 1649
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 34 St. Petersburg, den 6. Februar 1893
Geheim
Euerer Exzellenz beehre ich mich ganz gehorsamst zu berichten,
daß ich die von Seiner Majestät dem Kaiser für Seine Majestät den
Kaiser Alexander bestimmten Photographien allerhöchstdemselben über-
geben habe.
Seine Majestät haben über den Aufenthalt Seiner Kaiserlichen Ho-
heit des Thronfolgers in Berlin nicht mit mir gesprocher.,
422
Das ist nicht auffällig und hat keine Bedeutung, es sieht dies
Seiner Majestät ganz ähnlich, das Gegenteil würde mich gewundert
haben.
Der Thronfolger dagegen sprach sich äußerst befriedigt aus, „cela
s'est admirablement passe, je ne puls pas dire ä quel point on a ete
aimable", wiederholte er mehrere Male. Aber erst auf meine Frage,
von selbst würde auch er nichts darüber gesagt haben.
Inwieweit er beauftragt gewesen ist, so zu sprechen, wie er es in
Berlin getan hat, ist sehr schwer zu ergründen. Ich neige mich, gestützt
auf die Kenntnis der dabei in Frage kommenden Persönlichkeiten der
Ansicht zu, daß er dahin instruiert gewesen ist, sich sehr reserviert
zu verhalten! und nichts aus eigener Initiative zu sagen 2. Diese Auf-
fassung wird von einem der Offiziere, welche Seine Kaiserliche Hoheit
begleitet haben, geteilt.
V.Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ist ihm gar nicht eingefallen
2 Das ist Unsinn. Er hat sich so offen über alles ausgesprochen wie noch nie
ein Großfürst mit mir.
Nr. 1650
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 38 St. Petersburg, den 11. Februar 1893
Die russische Presse hatte bis jetzt so gut wie gar keine Notiz
von den am Geburtstage Seiner Majestät des Kaisers gehaltenen
„Generalsreden'' genommen. Nur einige Zeitungen hatten ohne Kom-
mentar die Auslassungen deutscher Blätter über sie gebracht.
Es scheint, daß dieses Stillschweigen jetzt gebrochen werden soll.
Die „Moskauer Nachrichten'* machen den Anfang und bringen einen
langen Artikel über die ungewöhnlichen Kundgebungen, die sei-
tens deutscher Generale vorlägen, und bringen dann wörtlich die Rede
des Generals von Schopp, der sich am offenherzigsten und aufrich-
tigsten ausgesprochen hätte. „Könnten denn die Generale einen
solchen Ton anschlagen," fragt die Zeitung, „wenn der Kaiser Wil-
helm wirklich gesonnen wäre, seine Politik zu verändern*?"
* Die bei Gelegenheit des Kaiserlichen Geburtstags gehaltenen „Generalsreden"
sind u. a. zusammengestellt in der „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung" vom
30. Januar 1893, abends. General von Schopp, der Gouverneur von Köln, hätte
danach beim Festmahl auf dem Gürzenich, vom Kaiser redend, gesagt: „Er ist
im wahren Sinne des Wortes ein Friedensfürst. Wenn er aber das Schwert in
die Hand nimmt, dann wird er es nicht eher in die Scheide stecken, bis das
423
Daß das Blatt fernerhin sagen kann, daß die deutschen Generale
bis jetzt stets vermieden hätten, poUtische Reden zu halten, und nun
ergriffen auf einmal vier derselben das Wort, das hat mich, wie ich
Euerer Exzellenz nicht verhehlen kann, auf das Empfindlichste berührt,
da ich, wenn russische Generale politische Reden hielten, wie das
vor einiger Zeit Sitte geworden war, immer gesagt habe, daß das
bei uns ganz unmöglich wäre.
Die mir gestellte Aufgabe, hier für die Aufrechterhaltung des
Friedens und gute Beziehungen zu wirken, wird mir durch solche
Vorkommnisse natürlich sehr erschwert, ja unmöglich gemacht.
Sollte der Kaiser Alexander mich darüber interpellieren, so weiß
ich wirklich nicht, was ich ihm antworten soll, nachdem ich ihm
kürzlich erst, wie ich Euerer Exzellenz ganz gehorsamst berichtet
habe, die bündigsten Versicherungen über die Friedensliebe Seiner
Majestät und Euerer Exzellenz gegeben habe.
Es ist sehr zu bedauern, daß die warmen, so herzlichen Worte,
welche Seine Majestät der Kaiser in dem Toast auf den Kaiser
Alexander gesprochen*, teils durch die Reden der Generale, welche
einen so wenig guten Eindruck gemacht haben, teils durch den aller-
höchsten Toast auf die englische Flotte** nach hiesiger Auffassung
verwischt werden. Die deutsche Presse tut auch dazu das Ihrige,
indem sie sich befleißigt, die Bedeutung des Toastes auf Seine Ma-
jestät den Kaiser Alexander herabzumindern.
V. Werder
Randverfügung des Reichskanzlers Grafen von Caprivi:
Bitte zu antworten:
Von alters her fänden die Diners der nicht regimentierten Offiziere zu Königs
Geburtstag im Verein mit den Spitzen der Zivilbehörden statt. Dabei sei auch
Vaterland vom letzten Feinde befreit ist, oder bis er mit seinem Volke gebrochen
am Boden liegt. Der Krieg kommt! Gebe Gott, daß er das deutsche Volk um
seine Fürsten geschart findet. Wenn nicht, dann ade, du schönes Land! Dann
werden die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges wiederkehren, wo Gesittung und
Kultur auf Jahrhunderte erschüttert werden!"
* Bei einem Frühstück, welches der zur Vermählung der Prinzessin Margarete in
Berlin anwesende Großfürst-Thronfolger am 26. Januar beim Kaiser Alexander-
Garde-Grenadierregiment einnahm, hatte Kaiser Wilhelm den Zaren Alexander als
„den Träger altbewährter monarchischer Traditionen, oft erwiesener Freundschaft
und inniger Bande intimer Beziehungen zu meinen erlauchten Vorgängern" ge-
feiert.
** Anläßlich der Anwesenheit des Herzogs von Edinburg in Berlin hatte Kaiser
Wilhelm II. am 22. Januar einen Toast auf die englische Flotte ausgebracht, in
dem es u. a. hieß: „Und sollte es sich einmal ereignen, daß die englische und
die deutsche Marine Schulter an Schulter gegen einen gemeinsamen Feind zu
kämpfen haben, dann wird die berühmte Parole: .England erwartet, daß jeder
Mann seine Pflicht tut', welche der größte Seeheld Englands vor der Schlacht
von Trafalgar ausgegeben hat, ein Echo in dem patriotischen Herzen der deut-
schen Marine finden."
424
früher die allgemeine Lage nicht selten berührt worden, wenn der älteste Offizier
den Toast ausbringt. Es sei verständlich, daß dabei die Fragen erwähnt würden,
die — wie jetzt die Militärvorlage — das Herz des Monarchen am meisten
bewegten: Sonst hätte die Presse dergleichen nicht erwähnt, bei der gegen-
wärtigen, durch die Militärvorlage erregten Stimmung sei auch das nicht zu ver-
wundern. Hier legten nur oppositionelle Blätter, indem sie das auszunutzen
suchten, dem Wert bei.
Auch der Toast auf die englische Flotte sei, nachdem der Herzog von Edin-
burg einen Rang in der deutschen Flotte erhalten habe, und nur Seeoffiziere
dem Fest beigewohnt, nicht auffallend, und ohne alle politische Tendenz. In
den ersten Jahrzehnten des Bestehens einer deutschen Flotte habe diese sich
lediglich nach der englischen gebildet, es seien deutsche Offiziere auf englischen
Schiffen ausgebildet, und habe sich seitdem eine gute Kameradschaft zwischen
den englischen und den deutschen Seeoffizieren erhalten. v. C. 14/2.
Nr. 1651
Der Reichskanzler Graf von Caprivi an den Botschafter in Petersburg
von Werder
Konzept
Nr. 84 Berlin, den 17. Februar 1893
Vertraulich
Aus Ew. pp. gefälligem Berichte Nr. 38 vom ll.d. Mts.* habe ich
mit Bedauern ersehen, daß gewisse hiesige Vorkommnisse der letzten
Zeit in maßgebenden Petersburger Kreisen Verstimmungen hervor-
gerufen haben, die nach Ihrer Ansicht geeignet sind, die Pflege guter
Beziehungen zwischen uns und Rußland zu erschweren, wenn nicht
unmöglich zu machen.
Ich muß zunächst vorausschicken, daß ich diese Besorgnis für
etwas weitgehend zu halten geneigt bin. Würde ich aber tatsächlich
die Überzeugung gewinnen, daß die Möglichkeit der Pflege guter
Beziehungen zu Rußland auf so schwachen Füßen steht, so würde
damit allerdings meine Hoffnung auf dauernde Erhaltung dieser Be-
ziehungen überhaupt wesentlich erschüttert werden.
Ew. pp. ist bekannt, daß unsere Politik darauf gerichtet ist, mit
dem russischen Reiche soweit als angängig in freundnachbarlichem
Verhältnis zu leben und womöglich die Spannung, welche zeitweise
in den Beziehungen zwischen beiden Höfen eingetreten ist, zu be-
seitigen. Daß wir keinerlei aggressive Absichten gegen Rußland hegen,
auch überhaupt einen Krieg mit dieser Macht zu vermeiden wünschen
und hoffen, hat unsere Haltung in der letzten Zeit zur Genüge be-
wiesen. Hätten kriegerische Absichten bei uns vorgelegen, oder wäre
auch nur die Überzeugung zum Durchbruch gelangt, daß der Krieg
* Siehe Nr. 1650.
425
gegen Rußland doch unvermeidlich und es infolgedessen für uns
vorteilhafter wäre, bei demselben die Initiative zu ergreifen, so würden
wir zweifellos die letzten Jahre, wo Rußland durch den Notstand
geschwächt und seine Armee in der Umbewaffnung begriffen war, zu
einer solchen Initiative benutzt haben. Wir haben dies nicht nur
nicht getan sondern sind vielmehr unausgesetzt bemüht gewesen, auf
allen Gebieten die Empfindlichkeiten des Kaisers Alexander zu schonen
und Rußland, wo es nur immer mit unserer Würde vereinbar war,
entgegenzukommen. Ich brauche Ew. pp. hierbei nur an eine Reihe
von Vorgängen aus dem letzten Jahre zu erinnern: die Umstände,
unter welchen die Kieler Zusammenkunft zustande kam*, die auf
den Wunsch des Zaren erfolgte Ernennung Ew. pp. zum Botschafter
am russischen Hofe **, die Einladung des Großfürsten-Thronfolgers zu
den Vermählungsfeierhchkeiten im vergangenen Monat*** und die ihm
an unserm allerhöchsten Hofe gewährte herzliche Aufnahme, unser Ent-
gegenkommen in der Frage des Handelsvertrages, endlich unsere Hal-
tung Bulgarien gegenüber, welche noch jüngst bei der Frage der Heirat
des Prinzen Ferdinand von Koburg ganz besonders zum Ausdruck
gekommen ist.
In der Rücksichtnahme gegen Rußland weiterzugehen, als ge-
schehen ist, würde ich mit der Würde Seiner Majestät des Kaisers
und des Deutschen Reiches nicht für vereinbar halten. Wenn aber
in der Tat die gugenblickliche Verstimmung über einige hier gefallene
Äußerungen genügen könnte, um alle eben angeführten Beweise des
Entgegenkommens und der versöhnlichen Gesinnungen unseres alier-
gnädigsten Herrn umzustoßen, dann würde ich allerdings zu der Er-
kenntnis gelangen, daß es nur ein Mittel geben würde, das Wohlwollen
Rußlands und des Kaisers Alexander dauernd zu gewinnen, nämlich
unsere Politik, wie dies in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts
geschah, gänzlich in den Dienst der russischen zu stellen und jeden
unserer Schritte von dem einzigen Gesichtspunkte abhängig zu machen,
welchen Eindruck derselbe in Petersburg macht. Zu einer solchen
Politik werde ich aber Seiner Majestät dem Kaiser niemals raten
können.
Um nun zu den Vorkommnissen selbst zu kommen, über welche
Ew. pp. Bericht handelt, so möchte ich Ew. pp. zunächst bitten, nicht
aus den Augen zu verlieren, daß im gegenwärtigen Augenblick die
Militärvorlage unser politisches Leben im Innern vollständig beherrscht,
und daß das Interesse, mit welchem diese Existenzfrage für das Reich
in weitesten Kreisen verfolgt wird, allerorts zum Ausdruck kommen muß.
Eine jede Erörterung der Notwendigkeit einer Erhöhung unserer
• Vgl. Nr. 1635.
** Vgl. Nr. 1639.
*♦* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1526.
426
Wehrkraft ist aber naturgemäß von einer Besprechung der vorhandenen
Kriegsgefahren unzertrennlich. Wenn auch ich genötigt gewesen bin,
auf die MögHchkeiten eines Krieges öfter hinzuweisen, als es mir
vielleicht mit Rücksicht auf unsere auswärtigen Beziehungen erwünscht
gewesen wäre, so bin ich hierzu durch Umstände veranlaßt worden,
an welchen ich keine Schuld trage. Wenn z. B. von seiten der Opposi-
tion der Besuch des Großfürsten-Thronfolgers gleich dahin ausgebeutet
wurde, daß durch dies eine Symptom einer besseren Gestaltung unserer
Beziehungen mit Rußland auch gleich die Vermehrung unserer Armee
überflüssig gemacht werde, so konnte ich nicht umhin, vor übertriebe-
nem Optimismus in dieser Richtung zu warnen, und vermag es nicht
zu verhindern, wenn sich in der Presse über diese Frage eine Polemik
entspinnt, welche ich allerdings vom Standpunkt unserer Beziehungen
zu Rußland als unerwünscht betrachten muß.
Den Vergleich, welchen Ew\ pp. zwischen den Reden einiger
unserer Kommandierenden Generäle zu Kaisers Geburtstag und den
Auslassungen gewisser chauvinistischer russischer Generäle ziehen, ver-
mag ich als zutreffend nicht anzuerkennen. Der große Unterschied
liegt meines Erachtens darin, daß, während in den ersteren die Mög-
lichkeit eines von uns nicht gewünschten Krieges zum Ausdruck kam,
aus den letzteren der Wunsch, daß es zu einem solchen Kriege kommen
möge, nur zu oft deutlich hervortritt. Ew. pp. ist bekannt, daß von
alters her am Geburtstage Seiner Majestät Diners der nicht regimen-
tierten Offiziere mit den Spitzen der Zivilbehörden stattfinden. Dabei
bringt häufig der älteste Offizier das Hoch auf den Kaiser aus, und
es ist auch früher nicht selten vorgekommen, daß in der betreffenden
Rede die allgemeine Lage berührt wurde. Daß in diesem Jahre die
Frage, welche augenblicklich das Herz des Monarchen am meisten
bewegt und zugleich einen jeden Militär lebhaft beschäftigen muß,
berührt wurde, ist natürlich. In früheren Fällen hat die Presse der-
artige Reden gar nicht erwähnt; wenn es in diesem Jahre geschehen,
so ist dies bei der gegenwärtig erregten Stimmung nicht zu verwun-
dern. Im Inlande haben sich übrigens vornehmlich nur oppositionelle
Blätter mit den „Generalsreden" beschäftigt, um dieselben zu ihren
Zwecken auszunutzen.
Auch der Toast Seiner Majestät des Kaisers auf die englische
Flotte ist, nachdem der Herzog von Edinburg einen Rang in der
deutschen Marine erhalten hat, nicht auffallend. In den ersten Jahr-
zehnten des Bestehens einer deutschen Flotte hat diese sich ledig-
lich nach der englischen gebildet, deutsche Offiziere haben auf eng-
lischen Schiffen ihre Ausbildung erhalten, und es hat sich seitdem
eine gute Kameradschaft zwischen englischen und deutschen Seeoffi-
zieren erhalten. Auf einem Fest, dem nur Seeoffiziere beiwohnten,
konnte daher den Worten Seiner Majestät nicht die geringste politische
Tendenz beiwohnen.
427
Ich ersuche Ew. pp. ergebenst, sich vorstehende Erörterungen als
Richtschnur bei Ihren Gesprächen mit maßgebenden Persönhchkeiten
dienen zu lassen. Bei Ihren vortrefflichen Beziehungen zum russischen
Hofe und der Petersburger Gesellschaft gebe ich mich der bestimmten
Erwartung hin, daß es Ew. pp, nicht schwer fallen wird, Verstimmungen,
wie die von Ihnen gemeldeten, und welche ich zunächst nur als vor-
übergehende ansehen kann, zu zerstreuen.
V. C a p r i V i
Nr. 1652
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 72 Wien, den 10. März 1893
Graf Kälnoky hat mir heut im vertraulichen Gespräch einiges von
der letzten, sehr eingehenden Unterhaltung erzählt, welche er mit dem
Fürsten Lobanow vor dessen Abreise nach St. Petersburg gehabt hat.
Der Botschafter hat ihm von unserer Militärvorlage* gesprochen
und die Besorgnis ausgedrückt, daß diese große Vermehrung der deut-
schen Armee doch einen kriegerischen Hintergedanken haben könnte.
Der Zar sei allerdings von der früheren Annahme zurückgekommen,
daß wir beabsichtigten, über Rußland herzufallen: aber diese großen
Rüstungen müßten doch zu denken geben, um so mehr als der Kaiser,
sein Herr, an nichts weniger denke, als seine Nachbarn anzugreifen.
Der Minister hat ihm darauf geantwortet, daß diese Besorgnisse
im Munde eines Russen etwas sonderbar klängen. Wenn man einen
Blick auf die russische Dislokationskarte werfe, so müßte es selbst
dem Laien auffallen, wie Rußland fast seine ganze Armee an den deut-
schen und österreichischen Grenzen massiert habe und zwar in einer
zum Angriff bestimmten Aufstellung**.
Wie solle man diese Maßregeln in Deutschland sich vollziehen
sehen, ohne nicht beunruhigt zu werden? Die bei uns projektierten
neuen Einrichtungen seien weniger eine Vermehrung der deutschen
Armee als eine Umbildung unserer Armee-Einrichtungen, die sich
nicht als ausreichend erwiesen hätten. Deutschland befände sich seiner
geographischen Lage wegen in keiner so günstigen Lage wie Rußland.
Wenn man auch in Berlin von der Friedensliebe des Zaren über-
zeugt sei, so habe man doch außer Rußland noch andere Nachbarn,
denen man kein so unbedingtes Vertrauen schenken könnte. Frankreich
habe, ohne die riesenhaften Kosten zu scheuen, ein so formidables
• Vgl. Nr. 1644, Fußnote **.
♦* Vgl. Nr. 1643, Fußnote **.
428
Kriegsinstrument geschaffen, daß Deutschland gezwungen worden sei,
auf Verbesserung seiner Verteidigungsmittel zu sinnen.
Fürst Lobanovv hat hiergegen geltend zu machen gesucht, daß
niemand in Frankreich an eine kriegerische Politik denke, besonders
nach dem jüngsten traurigen Panamaskandal nicht, er hat aber schließ-
lich zugestehen müssen, daß bei der Instabilität der französischen Ver-
hältnisse doch einmal in unvorhergesehener Weise die Regierung in
die Hände von Abenteurern kommen könnte, die die Lust verspüren
oder gedrängt werden könnten, von der friedliebenden Politik der jetzi-
gen Machthaber abzugehen. Da sei denn eine so schlagfertige und zahl-
reiche Armee, wie die französische ohne allen Zweifel heute sei, ein
gar gefährliches Werkzeug für die Nachbarn. Daß die deutsche Re-
gierung dieser Eventualität gegenüber ihre Vorkehrungen treffen müsse,
das könne ihr doch niemand verdenken.
Der Botschafter hat dies anerkennen müssen, und hofft Graf Käl-
noky, daß seine Ausführungen nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben
sind. pp.
H.VII. P. Reuß
Nr. 1653
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 71 St. Petersburg, den 24. März 1893
Anknüpfend an den Bericht des Prinzen Reuß vom 10. d. Mts.
Nr. 72*, Äußerungen des Fürsten Lobanow über die Militärvorlage be-
treffend, beehre ich mich Euerer Exzellenz ganz gehorsamst zu be-
richten, daß Seine Majestät der Kaiser Alexander sich neulich über
diese ausließ.
Er sprach seine Freude darüber aus, daß sie wenig Aussicht habe,
durchzugehen, und daß er hoffe, daß es dabei bleiben würde**, „denn",
fügte er hinzu, ,, tritt sie in Kraft, so fangen natürlich die anderen
auch an." Ich zitiere diese Worte wörtlich; was Seine Majestät damit
sagen wollten, ist ja klar.
V.Werder
• Siehe Nr. 165Z
** Tatsächlich fand die Miütärvorlage in ihrer im Herbst 1892 eingebrachten Ge-
stalt weder in der Kommission noch im Plenum des Reichstages Annahme. Am
6. Mai erfolgte daraufhin die Auflösung des Reichstags. Nach den Neuwahlen
wurde die Vorlage, wenn auch unter Reduzierung der ursprünglichen Forderungen,
wieder eingebracht und dank dem geschlossenen Eintreten der polnischen Reichs-
tagsfraktion in ihrem wesentlichen Gehalt am 15. Juli angenommen.
429
Nr. 1654
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
an den Botschafter in Petersburg von Werder
Konzept
Nr. 145 Berlin, den 29. März 1893
Aus Ew. gefälligem Bericht Nr. 71 vom 24. d. Mts.* habe ich ersehen,
daß Seine Majestät der Kaiser Alexander Ihnen gegenüber seiner Ge-
nugtuung über das nach seinen Informationen wahrscheinlich bevor-
stehende Scheitern der Militärvorlage zum Ausdruck gebracht hat.
Ich möchte zunächst bemerken, daß, selbst wenn die Vorlage die
Zustimmung des gegenwärtigen Reichstages nicht erlangen sollte, von
einem Aufgeben der auf Vermehrung und Verjüngung unserer Armee
gerichteten Pläne keine Rede ist, Seine Majestät und allerhöchstdessen
Regierung vielmehr an diesen Plänen, deren Verwirklichung für die
Sicherheit des Reiches als unabweisbares Erfordernis erkannt worden
ist, unverrückt festhalten.
Es muß einigermaßen auffallen, daß Seine Majestät der Kaiser
von Rußland, der sich noch bei Ew. Antrittsaudienz (cfr. Bericht
Nr. 6 vom 13. Januar**) in objektiver Weise über die in Rede stehende
Vorlage aussprach und sogar die Opposition, welcher der Herr Reichs-
kanzler begegnet, kritisierte, in seinen jetzigen Äußerungen anscheinend
einen veränderten Ton angeschlagen hat. Damals waren Ew. in der
Lage zu berichten, daß Kaiser Alexander das Projekt einer Vermehrung
unserer Armee so besprach, „als wenn dieselbe keinerlei Gefahr iur
sein Land in sich trüge". Seine Majestät hob ferner bei einer anderen
Gelegenheit, wie Ew. unter dem 31. Januar d. Js. (Nr. 25)*** berich-
teten, das feste Vertrauen hervor, welches er in die Friedensliebe un-
seres allergnädigsten Herrn setze, und erkannte rühmend an, daß die
Befürchtungen, welche mit Bezug auf kriegerische Gelüste vielfach an
das jugendliche Alter unseres Monarchen geknüpft worden seien, sich
als durchaus ungerechtfertigt erwiesen hätten.
Es ist mir nicht bewußt, daß irgend ein Schritt unserer auswärtigen
Politik im Laufe der letzten Monate dazu angetan gewesen wäre, beim
Zaren dieses Vertrauen zu erschüttern, vielmehr kann Kaiser Alexander
billigerweise nicht umhin^ anzuerkennen, daß wir auf jedem Gebiete
beflissen sind, seine und Rußlands berechtigte Empfindlichkeiten zu
schonen.
Wenn sich nun auch die von Seiner Majestät kundgegebene Freude
über das wahrscheinliche Scheitern unserer Militärvorlage nicht anders
deuten läßt, als daß höchstderselbe, entgegen seiner früheren Auffas-
• Siehe Nr. 1653.
*♦ Siehe Nr. 1644.
♦♦* Siehe Nr. 1647.
430
sung, neuerdings in unserer Armeevermehrung ein bedrohliches Mo-
ment erblici<t, so möchte ich derartigen Äußerungen des russischen
Monarchen eine übertriebene Bedeutung nicht beilegen, dieselben viel-
mehr zunächst auf Rechnung einer vorübergehenden Verstimmung
setzen. Eine solche Verstimmung dürfte in diesem Augenblick vielleicht
auf die jüngsten Vorgänge in Bulgarien zurückzuführen sein, wofür
auch ein Symptom in der bekannten Zirkularnote an die russischen
Vertretungen im Auslande* zu erblicken wäre. Wenn eine solche Ver-
stimmung uns gegenüber immer etwas verschärfter auftritt, ist dies
nichts Neues; beim Kaiser Alexander ist nun einmal der Glaube nicht
gänzlich auszurotten, daß wir bis zu einem gewissen Grade an den
jetzigen Zuständen in Bulgarien Schuld tragen und dieselben unter
der Hand begünstigen.
Ich will hier auf die Ew. bekannten und bereits zur Genüge
dargelegten Gründe, welche uns zwingen, auf Verstärkung unserer
Wehrkraft Bedacht zu nehmen, nicht näher eingehen. Wenn aber Kaiser
Alexander mit kaum versteckter Drohung Ew. gegenüber bemerkt
hat, diese Verstärkung zwinge unsere Nachbarn nunmehr ebenfalls
zu neuen Rüstungen zu schreiten, so kann dies nur als eine vollständig
irrige Beurteilung der tatsächhchen Verhältnisse bezeichnet werden.
Nicht wir zwingen unsere Nachbarn, sondern diese zwingen uns zu
weiteren Rüstungen. Für die Wahrheit dieses Satzes spricht, abgesehen
von unserer geographischen Lage, schon allein der Umstand, daß in
Deutschland Regierung und Volk mit der gegenwärtigen Verteilung
der Machtverhältnisse in Europa zufrieden sind und lediglich eine Auf-
rechterhaltung des Status quo und des Friedens erstreben, während
in Frankreich mit Elementen gerechnet werden muß, die zur Wieder-
gewinnung von Elsaß-Lothringen den Krieg herbeizuführen trachten,
und auch in Rußland ein Teil der Bevölkerung, welcher schon einmal
unter der früheren Regierung dem Monarchen das Schwert in die Hand
gedrückt hat, unausgesetzt bestrebt ist, eine nur auf gewaltsamem Wege
zu erreichende Neuordnung der Dinge herbeizuführen.
Bei der bekannten Abneigung des Kaisers Alexander gegen längere
politische Unterhaltungen kann ich nicht erwarten, daß Ew. oft in
die Lage kommen, obige Gesichtspunkte Seiner Majestät gegenüber
eingehend zu beleuchten; ich darf aber darauf rechnen, daß Ew. ge-
eignete Gelegenheiten nicht vorübergehen lassen, an höchster Stelle und
in maßgebenden Kreisen wiederholt der Auffassung entgegenzutreten,
als ob unseren Rüstungen bedrohliche Absichten zugrunde lägen.
Sollten die Äußerungen Kaiser Alexanders dahin zu verstehen sein,
daß unsere geplante Armeevermehrung von russischer Seite zum Vor-
* Die russische Zirkularnote vom 5. März 18Q3, auf die hier angespielt wird', legte
Protest ein gegen die beabsichtigte Änderung der bulgarischen Verfassung von
Tirnowo. Vgl. Bd. IX, Kap. LV, Nr. 2130.
431
wände für erneute Vorschiebungen von Truppen an unsere Grenzen
genommen werden wird, so würde, da Rußland einen Angriff von
keiner Seite zu befürchten hat, eine solche Maßregel uns unstreitig mehr
Berechtigung geben, an der russischen Friedensliebe zu zweifeln, als
Rußland Grund hat, die unserige in Zweifel zu ziehen. Wir würden auf
diese Weise nur einen neuen, beklagenswerten Beweis dafür erhalten,
daß unsere Besorgnisse vor der Eventualität eines Krieges nach zwei
Fronten durchaus gerechtfertigte sind.
Marschall
Nr. 1655
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 110 St. Petersburg, den 30. April 1893
Herr von Giers ist vorgestern in Zarskoe-Selo angekommen, wo
ich ihm gestern einen Besuch machte. Ich fand ihn ganz außerordent-
lich gealtert, er leidet besonders an sehr starkem Herzklopfen, und den
Gebrauch der Beine scheint er beinahe ganz verloren zu haben, er
konnte mich, als ich fortging, kaum bis an die Tür begleiten, die
Stimme ist sehr schwach. Die geistigen Fähigkeiten haben aber in
keiner Weise gelitten. Er wird und kann auch nicht Zarskoe-Selo ver-
lassen, hat aber an Seine Majestät den Kaiser Alexander die Bitte ge-
richtet, die Geschäfte wieder übernehmen zu dürfen.
Wenn man ihn so sieht, findet man es unbegreiflich, daß er in der
jetzigen Jahreszeit zurückgekommen ist, er sagt aber, die hier herr-
schende Kälte und feuchte Luft täte ihm gut, er hätte in der trockenen
heißen Luft gar nicht mehr atmen können.
Ich sagte ihm, ich hätte mich sehr darüber gefreut, daß der Kaiser
Franz Joseph und Graf Kälnoky ihn in Wien besucht hätten*, da dies
hier einen sehr guten Eindruck gemacht und der Kaiser Alexander es
doch gewiß sehr hoch aufgenommen hätte.
Er sagte mir darauf, er wisse ja sehr gut, daß diese Aufmerksam-
lieiten nicht seiner Person gälten sondern eine Folge des Empfanges
des Prinzen von Koburg** wären, und in diesem Sinne hätte er sich
auch darüber gefreut.
* Am 23. April war Minister von Giers auf der Rückreise nach Petersburg in
Wien eingetroffen. Wie Prinz Reuß am 25. April berichtete, hatte Kaiser Franz
Joseph durch seinen Besuch bei dem unpäßlichen russischen Minister zeigen
wollen, „daß er keine Gelegenheit unbenutzt lassen will, um dem russischen Hofe
sowie der Regierung des Kaisers Alexander seine persönlichen freundschaftlichen
Gesinnungen zu erkennen zu geben".
** Fürst Ferdinand von Bulgarien war auf der Fahrt zu seiner Vermählung mit
der Prinzessin Marie Louise von Parma (20. April 1893) ebenso wie Minister-
präsident Stambulovv am IL April vom österreichischen Kaiser empfangen worden.
432
Der Kaiser Franz Joseph hätte nur ganz allgemein gesprochen,
alle Gespräche über heikle Angelegenheiten vermieden, dagegen ist
die Unterhaltung mit dem Qrafen Kälnoky eingehender gewesen.
Herr von Giers scheint mir von dieser nicht sehr befriedigt, beson-
ders war ihm ganz unbegreiflich die Äußerung des Graten: Rußland
vi'äre ja vor einiger Zeit am Vorabende eines Krieges mit ihnen ge-
wesen. Herr von Giers drückte sich über diese Behauptung nicht sehr
parlamentarisch aus; er will den Grafen unter anderem gefragt haben,
was eine österreichische Armee tun würde, wenn sie wirklich bis Kiew
vorgedrungen wäre; er möchte nicht vergessen, daß dahinter Millionen
ständen, die sich nicht ergeben würden. Ich glaube, daß diese Unter-
redung, welche die Chancen eines Krieges, Bulgarien, den Dreibund
usw. umfaßt hat, die wenigen Sympathien des Herrn von Giers für
seinen österreichischen Kollegen nicht vermehrt hat. Er kann ihm z. B.
seine bekannten Äußerungen über bulgarische Verhältnisse in den
Delegationen nicht verzeihen. „Wie war es möglich," sagte er, „so zu
sprechen, nachdem ich eben von einem Besuche beim Fürsten Bismarck
zurückgekommen war*."
Herr von Giers erzählte mir hierauf, Graf Schuwalow habe ihm
nach Warschau den Artikel der „Norddeutschen Zeitung" gebracht,
welcher die Antwort auf den kürzlich in den „Hamburger Nach-
richten" erschienenen Artikel, unsere Beziehungen zu Rußland be-
treffend, bilde, und äußerte sich sehr beifällig über denselben**.
Hierauf ging das Gespräch auf den Dreibund und den Fürsten
Bismarck über.
Der Minister sprach sein Bedauern aus, daß Deutschland vor Bil-
dung des Dreibundes nicht versucht habe, in nähere Beziehungen zu
Rußland zu treten. „Aber", fuhr er fort, „man hat das Gegenteil getan,
der Fürst Bismarck hat uns in die Arme Frankreichs getrieben i; be-
sonders auch durch seine Finanzmaßregeln," „Wie war es möglich,"
sagte er sehr erregt, „die russischen Papiere einige Tage vor der An-
kunft unseres Kaisers von der Reichsbank auszuschließen. Ein solches
Benehmen ist doch noch nie dagewesen***.
Der Minister gab da nur dem Ausdruck, was jeder Russe denkt.
Auf Frankreich zurückkommend sagte er, es bestände keine Allianz
mit diesem Lande; nach Bildung des Dreibunds hätte Rußland sich
aber doch für eventuelle Fälle nach einem Verbündeten umsehen müssen,
Frankreich aber würde nie einen Angriff auf Deutschland wagen, ohne
der Unterstützung Rußlands sicher zu sein, und die würde ihm nie durch
den so friedliebenden Kaiser Alexander zuteil werden, welcher durch-
aus den Frieden wolle. Lebte der hochselige Kaiser noch, so könnte
* Vgl. Bd. V, Nr. 990, S. 70, Fußnote ***.
** Beide Artikel sind nicht feststellbar; entweder muß Giers oder Werder ein
Irrtum untergelaufen sein.
*** Vgl. Bd. V, Kap. XXXVI, Anhang A.
28 Die Große Politik. 7. Bd. 433
man dieses nicht mit solcher Bestimmtheit behaupten. Diese Ansicht
habe auch ich immer verfochten.
Naturgemäß kam nun der Minister auf die stete Vermehrung der
stehenden Heere zu sprechen und stellte die Frage auf, ob die Staaten
bei den eminenten Friedensaussichten nicht einen Vertrag schließen
könnten, durch welchen die Heeresmacht eines jeden Staates festgestellt
würdet.
Natürlich eine sehr gut gemeinte, aber ganz unpraktische Idee.
Herr von Schischkin, welcher mich gestern besuchte, wiederholte
mir, ohne dazu aufgefordert zu sein, die Bedingungen für einen langen
Frieden lägen jetzt so außerordentlich günstig 3.
Der Minister und sein Gehülfe teilen also in erfreulicher Weise die
Ansicht über die Friedensaussichten*. v. Werder
Randbemerkungen Kaiser Wilhelms II.:
1 Ein recht bedeutsames Wort
' aber Giers
3 daß man ordentlich ängstlich werden kann
* so lange es ihnen paßt.
Nr. 1656
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 117 Wien, den 1. Mai 1893
Graf Kälnoky hat mir heut nachfolgendes über seine Besprechung
mit Herrn von Giers erzählt.
Wenn auch der russische Minister körperlich sehr gebrochen und
hinfällig gewesen, so habe er ihn doch geistig sehr frisch gefunden.
Freier im Urteil und entschiedener in der Aussprache, sozusagen weni-
ger unter dem Druck der Petersburger Luft als früher.
An seinen versöhnlichen und friedfertigen Gesinnungen habe er ja
nie gezweifelt, dieselben seien aber hier mit großer Entschiedenheit
zum Ausdruck gekommen. Er habe erklärt, von Frankreich wolle er
nichts wissen; Rußland werde sich hüten, sich in den Dienst dieser
unsicheren, revanchelustigen Nation zu stellen und sich irgendwie die
Hände zu binden; was gingen Rußland die französischen Revanche-
gedanken an, durch welche dieses Volk ganz beherrscht würde!
Er sei gegen die Kronstädter Demonstrationen gewesen, er hat
dieselben indessen in der bekannten russischen Weise nicht gerade zu
entschuldigen, aber zu erklären gesucht. Rußland habe sich isoliert
gefühlt etc. etc., außerdem sei der Zar durch die fortwährend zuneh-
menden Rüstungen bei seinen westlichen Nachbarn nervös geworden,
und übelwollende Ratgeber hätten ihn glauben gemacht, daß er be-
droht sei.
434
über die bulgarischen Angelegenheiten habe sich Herr von Giers
auch mit Entschiedenheit und zwar dahin ausgesprochen, daß sich die
russische Politik nicht mehr in dieselben mischen werde. Man werde
dieses undankbare Land sich selbst überlassen; dasselbe werde aber
auch von dem Wohlwollen Rußlands nichts mehr zu erwarten haben.
Diese Äußerung sei mit der Andeutung auf den Prinzen Ferdinand
gefallen.
Ich fragte den Minister, ob Herr von Giers nicht den Wunsch aus-
gesprochen hätte, sich mit Österreich über diese Frage endlich einmal
zu verständigen? Er verneinte dies entschieden und sagte, der rus-
sische Staatsmann habe rückhaltlos erklärt, Bulgarien würde zwischen
Österreich und Rußland niemals mehr ein Zankapfel werden. Er hoffe
natürlich, daß von bulgarischer Seite keine solchen Provokationen aus-
gehen würden, welche Rußland nicht mit Stillschweigen übergehen
könne. Im übrigen sei aber Bulgarien für Rußland Luft! —
Graf Kälnoky hat hierauf bemerkt, es sei ihm lieb, dies zu hören.
Man solle aufhören, Österreich verantwortlich für alles zu machen,
was in Bulgarien geschehe. Schon früher habe er einmal in den Delega-
tionen gesagt, Bulgarien habe die Kinderschuhe abgelegt und sei allein
verantwortlich für seine Handlungen. Er habe dies neuerdings den
bulgarischen Machthabern sehr eindringlich angeraten und auch jetzt
wieder davor gewarnt, bei den Einzugsfeierlichkeiten des neu ver-
mählten Paares* etwa Kopflosigkeiten zu begehen.
Herr von Giers habe auch die Initiative ergriffen und von den
jüngst in Sofia erfolgten Publikationen gesprochen**. Sehr erstaunt war
Graf Kälnoky zu hören, daß sein Unterredner die Echtheit einiger dort
veröffentlichten Schriftstücke nicht angezweifelt hat. Er habe zuge-
standen, daß mehrere dieser Briefe leider von Beamten des russischen
Auswärtigen Ministeriums herrührten, dieselben seien aber ohne sein
Wissen und Wollen geschrieben, und müsse er die Verantwortlichkeit
dafür entschieden zurückweisen. Die meisten Schriftstücke seien aber
gefälscht; dies beweise schon der Umstand, daß Herr Jacobsohn sie ver-
öffentlicht, denn die Sprache sei mehr jüdisch als russisch. — Die
Veröffentlichung habe der russische Minister als eine große Unge-
schicklichkeit bezeichnet; dieselbe habe Bulgarien gar nichts genützt
und Rußland unnütz verstimmt.
Graf Kälnoky hat ihm hierin recht gegeben. Mir sagte er, er
habe sich seinerzeit in Bulgarien auch in diesem Sinne geäußert.
Herr von Giers, der die russische Politik vom Jahre 1876 getadelt
» Vgl. Nr. 1655, Fußnote **.
** Es handelt sich um eine auf einen Dragoman a. D. Jacobsohn zurückgehende in
Sofia erschienene Broschüre, die demnächst auch unter dem Titel „Geheime Doku-
mente der russischen Orientpolitik 1881—1890, nach dem in Sofia erschienenen
russischen Original herausgegeben von R. Leonow" in deutscher Übersetzung er-
schien, und die die russische Orientpolitik sehr bloßstellte.
28« 435
und den russisch-türkischen Krieg immer als durchaus den russischen
Interessen zuwider angesehen hätte, habe nochmals die bulgarische
Undankbarkeit hervorgehoben. Die Befreiung dieser Brüder habe das
russische Reich nur in Verlegenheiten gebracht. Nach einer von ihm auf-
gestellten Berechnung der Kriegskosten im Verhältnis zur bulgarischen
Bevölkerung habe der Minister bemerkt: jeder Bulgare koste Rußland
461 Rubel, und das sei alles verlorenes Geld!
Vom Zaren und dessen Charaktereigenschaften sprechend habe
Herr von Giers gesagt, bei ihm sei man vor solchen Überraschungen
sicher, wie man sie beim Kaiser Alexander II. erlebt habe; der slawi-
schen Pression nachgebend habe er damals in Moskau den Krieg pro-
klamiert, während er wenige Tage vorher in Petersburg den größten
Widerwillen gegen denselben ausgesprochen habe.
Ob Herr von Giers seines traurigen körperlichen Zustandes wegen
noch lange in der Lage sein wird, durch seinen Rat der Sache des
europäischen Friedens förderlich zu sein, scheint dem Grafen Kälnoky
zweifelhaft.
Ich will nicht unerwähnt lassen, daß er sehr befriedigt von dem
Eindruck ist, den nach den heute hier eingetroffenen russischen Zei-
tungen der Besuch des Kaisers Franz Joseph bei dem russischen
Herrn Minister auf die dortige öffentliche Meinung gemacht zu haben
scheint. H.VII. P. Reuß
Nr. 1657
Der Geschäftsträger in Wien Prinz Max von Ratibor an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 164 Wien, den Q.Juni 1893
Bei meinem gestrigen ersten Besuch bei Graf Kälnoky kam der-
selbe sogleich auf die Äußerungen zu sprechen, welche seine in den
Delegationsausschüssen gehaltenen Reden * in der fremdländischen Presse
hervorgerufen. Bei dem Thema „Rußland" brachte der Minister das
Gespräch auf seine Unterredung mit Herrn von Giers, über welche
Prinz Reuß unter dem 1. Mai d. Js.** berichtet hat.
Graf Kälnoky sagte mir, er habe gehört, — eine Quelle wurde
nicht angegeben — daß sich Herr von Giers in St. Petersburg nicht so
befriedigt über seine Wiener Eindrücke ausgesprochen habe, als er,
Graf Kälnoky, dies zu erwarten berechtigt gewesen sei. Herr von Giers
* Im Auswärtigen Ausschuß der ungarischen Delegation und im Budgetausschuß
der österreichischen Delegation hatte Graf Kälnoky am 3. und am 5. Juni Ex-
poses über die auswärtige Lage gegeben.
** Siehe Nr. 1656.
436
habe in St. Petersburg erzählt, daß er einigermaßen erstaunt gewesen
sei, aus dem Munde seines österreichisch-ungarischen Kollegen unter
anderem die Äußerung zu hören, daß Rußland vor nicht langer Zeit
vor einem Kriege gestanden habe.
Graf Kälnoky trug diesen Worten des Herrn von Giers gegenüber
große Gleichgültigkeit zur Schau und meinte, der „arme alte Herr"
sei wohl etwas gekränkt darüber gewesen, daß der österreichisch-
ungarische Minister des Äußern nicht eingehend über die voraussicht-
liche zukünftige Lage Europas mit ihm gesprochen habe. Er habe
aber den russischen Minister körperlich so gebrochen gefunden, daß
er sich gesagt habe, es verlohne sich nicht, mit demselben in weit-
tragende politische Diskussion sich einzulassen.
Graf Kälnoky war offenbar zu dem Zwecke auf diese Angelegen-
heit zurückgekommen, um die Aufrichtigkeit seiner dem. Prinzen Reuß
über die Unterredung mit Giers gemachten Angaben zu bekräftigen
und die Äußerungen des russischen Ministers als unrichtig hinzustellen.
Speziell die Worte über einen Krieg, vor welchem Rußland vor einiger
Zeit gestanden, will Graf Kälnoky nicht gesprochen haben und leugnete
dies mehrfach ab, ohne durch mich dazu veranlaßt worden zu sein.
M. R a t i b o r
Nr. 1658
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 242 Wien, den 27. September 1 893
Gestern vor der Hoftafel in Schönbrunn sprach Seine Majestät
der Kaiser von Österreich längere Zeit mit mir und äußerte, da er noch
nicht Gelegenheit gehabt hätte, etwas eingehender mit unserem aller-
gnädigsten Herrn zu reden*, so habe er sich vorgenommen, allerhöchst-
demselben bei der Fahrt nach dem Bahnhof noch besonders ans Herz
zu legen. Seine Majestät möchten die russische Armee doch ja nicht
zu sehr unterschätzen i. Dieselbe habe wohl ihre Fehler, sei aber nicht
so schlecht, wie man gern annähme; außerdem aber bleibe die riesen-
hafte Anzahl der Soldaten, die Rußland ins Feld zu stellen vermöge,
immerhin eine nicht wegzuleugnende Tatsache. Und abgesehen hier-
von bleibe ein Krieg, selbst ein siegreicher, doch immer ein großes
* Kaiser Wilhelm II. hatte, von den großen deutschen Manövern kommend, sich
Mitte September nach Güns in Ungarn begeben, um den Österreich-ungarischen
Manövern beizuwohnen. Im Anschluß an diese Manöver hatte er sich vom 22,
bis 27. September bei Kaiser Franz Joseph zur Jagd als Gast aufgehalten.
437
Unglück, dessen Folgen und daraus erwachsendes Elend bei der heu-
tigen Beschaffenheit der Waffen gar nicht abzusehen sei.
Ich erlaubte mir, Seiner Majestät zu sagen, höchstweicher offenbar
unter dem Eindruck zu stehen schien, als habe man bei uns eine zu ge-
ringe Meinung von der russischen Kriegsmacht, es sei immer ein Fehler,
den Gegner zu unterschätzen, und ich glaubte nicht, daß dies uns vorge-
worfen werden könnte. Seine Majestät wüßten ja, wie friedfertig unser
allergnädigster Herr gesinnt sei, und könnte ich dies auf das aller-
bestimmteste versichern; auch wüßten höchstdieselben, wie fern es
Seiner Majestät liege, kriegerische Absichten gerade gegen Rußland
zu hegen, und wie Deutschland nur gezwungen in einen Krieg mit
seinem mächtigen Nachbar eintreten würde. Wir würden einen sol-
chen Krieg nicht anfangen, auch hätte Seine Majestät, unser Kaiser, die
Überzeugung, daß der Zar von den friedfertigsten Gesinnungen durch-
drungen wäre.
Diese gleiche Beruhigung könnten wir leider nach der anderen
Seite hin nicht haben, und die Narrheit, mit der die französische Presse
sich in den letzten Wochen benommen hätte, ohne dabei von der Re-
gierung gezügelt worden zu sein*, könne uns nicht die Besorgnis
nehmen, daß Frankreich einmal über uns herfallen werde.
Der Kaiser bemerkte hierauf, er glaube auch an die friedlichen
Gesinnungen des Zaren, fürchte aber, derselbe würde in einem solchen
Falle seine russischen Chauvinisten nicht zurückhalten können.
Ich weiß nicht, weshalb mir Kaiser Franz Joseph die obige Be-
merkung gemacht hat, kann mir aber folgendes denken: Unser alier-
gnädigster Herr hat sich bei den Manövern bei Güns zu verschiedenen
Persönlichkeiten ganz besonders lobend über die dort an den Tag ge-
legte vortreffliche Führung jener großen Truppenmassen ausgespro-
chen und vielleicht allerhöchstsich auch dahin geäußert, daß wir mit
solchen Truppen keinen Feind zu fürchten brauchten. Ich habe es daher
für nützlich gehalten, dem Grafen Kälnoky über mein Gespräch mit
seinem Souverän zu reden. Ich bat ihn, auch seinerseits eine gewisse
Beunruhigung, die ich bemerkt hätte, beim Kaiser Franz Joseph zu
bekämpfen und ihm den eventuell erwachten Glauben zu nehmen, als
sei unser allergnädigster Herr unter dem frischen Eindruck der großen
Manöver in Deutschland und Österreich-Ungarn vielleicht etwas krie-
gerisch gestimmt worden.
Der Minister dankte mir für meine Mitteilung und versprach mir,
in dem von mir gewünschten Sinne zu wirken. Er ist seinerseits davon
überzeugt, daß es unserem allergnädigsten Herrn nicht einfällt, den
Krieg nach irgendeiner Seite hin zu wünschen oder gar zu provozieren,
und wenn allerhöchstderselbe eine gewisse Zuversicht in den Erfolg
* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1529.
438
eines eventuellen Krieges ausgesprochen hätte, so sei dies sehr schmei-
chelhaft für die österreichische Armee, berechtige aber nicht, auf krie-
gerische Absichten zu schließen.
H.VII. P. Reuß
Randbemerkung Kaiser Wilhelms II.:
^ ! Nun die Begründung unsrer milit[ärischen] Vorlage hätte ihn beruhigen können.
Ich! ich predige seit Jahren das Gegentheil!
Schlußbemerkung des Kaisers:
Das sind die Folgen fortdauernder Niederlagen! Die paar Lobsprüche — be-
rechtigte — von mir, und die versuchte Stärkung des oesterr[eichischen] Selbst-
vertrauens — das noch sehr mangelhaft ist — hat schon so erschreckt, daß
das die Folgen sind!! Uebrigens hat der Kaiser mir nichts von dem gesagt,
was er sagen wollte! — Ich hätte alles eher vermuthet als einen solchen Ver-
dacht!
Nr. 1659
Kaiser Wilhelm II. an den Reichskanzler Fürsten von Hohenlohe
Telegramm. Entzifferung
Neues Palais, den 30. Oktober 1894
Ein Telegramm des Großfürsten Thronfolgers teilt mir mit, daß des
Zaren Zustand* sich wieder verschlimmert habe und die letzte Nacht
eine schlechte gewesen sei. Nach privaten Nachrichten ist Lungen-
entzündung dazu getreten mit Blutspeien verbunden, so daß die Ge-
fahr wieder näher gerückt sei. Für meine Mitteilungen über hiesigen
Kanzlerwechsel** usw. ließ mir der Zar bestens danken durch den
Thronfolger, besonders dafür, daß ich persönlich ihn gleich infor-
miert habe.
Wilhelm LR.
Nr. 1660
Der Botschafter a. D. von Schweinilz, z. Z. in Kassel, an den Reichs-
kanzler Grafen von Caprivi
Eigenhändiges Privatschreiben
Kassel, den 23. Oktober 1894
Aus den Zeitungen entnehme ich, daß man erzählt, Seine Majestät
wolle, wenn der Zar stirbt, nach Petersburg zur Beisetzung reisen***.
* Zar Alexander III. litt schon seit Sommer 1894 an einer unheilbaren Nieren-
erkrankung.
** Am 29. Oktober war die Ernennung des Fürsten Chlodwig von Hohenlohe zum
Reichskanzler an Stelle des Grafen von Caprivi erfolgt.
*** Diese Absicht bestand in der Tat. Wie Kaiser Wilhelm dem auf Urlaub in
Berlin weilenden Botschafter von Werder sagte, wollte er die Gelegenheit wahr-
nehmen, um Fühlung mit dem jungen Kaiser zu nehmen. Nach Rußland zurück-
439
Eure Exzellenz bitte ich in meiner Vaterlandsliebe die Rechtfertigung
zu finden, wenn ich vergesse, daß ich nicht mehr berufen bin, über
russische Zustände, Stimmungen und Leidenschaften zu berichten.
Diese glaube ich genügend zu kennen, um die Überzeugung aussprechen
zu dürfen, daß es ratsam sei, dem künftigen Herrscher Rußlands zu
überlassen, den ersten Schritt auf dem Wege wünschenswerter An-
näherung zu tun.
Durch Entgegenkommen steigern wir bei den Russen Hochmut
und Mißtrauen; mit letzterem hat auch der Zar zu rechnen, dessen
beide Vorgänger ihr Verhältnis zu uns in das dichteste Geheimnis
zu hüllen genötigt waren.
Eine auffällige Betätigung freundschaftlicher Beziehungen zu dem
jungen Monarchen würde diesem Zurückhaltung auferlegen und die
russische Gesellschaft sowie besonders die Presse veranlassen, den
Franzosen erhöhte Sympathie zu beweisen.
Der Zauber, mit welchem das persönliche Auftreten unseres alier-
gnädigsten Herrn auf die Bevölkerung in allen von ihm besuchten
Hauptstädten gewirkt hat, würde auch in St. Petersburg nicht aus-
bleiben ; je tiefer dieser Eindruck wäre, um so eifriger würde man
bestrebt sein, Frankreich zu versichern, daß Rußlands Gesinnungen
durch den Thronwechsel keine Änderung erleiden, eine solche herbei-
zuführen, steht vorläufig nicht in der Macht des Zaren.
V. Schweinitz
gekehrt, riet von Werder indessen, die Anknüpfung intimerer Beziehungen lieber
auf eine spätere Zeit zu verschieben, wo dem Zaren ein allmählicher Übergang
zu einer anderen Politik erleichtert wäre. In Würdigung dieser Argumente ver-
zichtete Kaiser Wilhelm II., als Alexanders III. Tod eintrat (1. November 1894),
auf die Ausführung seines Planes.
440
B. Handelspolitische Beziehungen
Nr. 1661
Der Botschafter in Petersburg von Werder an das
Auswärtige Amt
Telegramm. Entzifferung
Nr. 78 St. Petersburg, den 22. Juli 1893'
Herr Schischkin zeigte mir soeben mündlich an, daß Maximal-
tarif am I.August eingeführt werden würde, falls Deutschland nicht
ein Provisorium mit Rußland eingehe*. Die Vorschläge zu demselben
würden heute Sonnabend mittels Kuriers nach Berlin gesandt.
Werder
• über die Entwicklung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen seit den ersten
ergebnislosen Erörterungen zwischen beiden beteiligten Regierungen im Jahre
1891 (siehe Kap. XLIX) vgl. die dem Bundesrat im Juli 1893 vorgelegte Denk-
schrift (gedruckt u. a. in Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Jg. 1893,
S. 99 ff.). Auf die deutsche Bevorwortung, daß die Ausdehnung des inzwischen
durch die Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz
begründeten deutschen Konventionaltarifs auf Rußland nur dann in Aussicht ge-
nommen werden könne, wenn dieses seinerseits Deutschland außer Erleichte-
rungen des Grenzverkehrs und der Zollformalitäten sowie der Beseitigimg der
Differenzialzölle eine erhebliche Ermäßigung des russischen Tarifs bewillige, ver-
langte die russische Regierung zunächst im Juli 1892 die Mitteilung einer
detaillierten Liste derjenigen Artikel, für welche Deutschland Zollermäßigung be-
gehre. Diese Arbeit wurde im Reichsamt des Inneren im August 1892 in Angriff
genommen; doch wurde sie wesentlich dadurch erschwert, daß vor allem die
deutschen Agrarier, die schon mit den seither abgeschlossenen Handelsverträgen
sehr wenig zufrieden gewesen waren, heftig gegen eine Ausdehnung der darin
festgelegten Agrarzölle auf Rußland opponierten. Im Februar 1893 kam es
darüber im Reichstage, dann auch im preußischen Abgeordnetenhause zu stür-
mischen Debatten. So konnten die deutschen Vorschläge erst im März 1893 der
russischen Regierung zugestellt werden. Sie fanden indessen auf russischer Seite
wenig Gegenliebe. Am 25. Juni 1893 führte die russische Regierung vielmehr,
nachdem sie kurz zuvor mit Frankreich eine HandelsI<onvention (17. Juni) ab-
geschlossen hatte, die diesem einige, jedoch unwesentliche Zollerleichterungen be-
willigte, einen doppelten Zolltarif ein und drohte alsbald der deutschen Regierung,
gegen alle Waren deutschen Ursprungs mit dem Maximaltarif vorzugehen, falls
Deutschland ihr nicht, fürs erst? auf dem Wege eines Provisoriums, die Vci-
günstigungen seines Konventionaltarifs zubillige.
443
Nr. 1662
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Freiherr von Marschall
afl den Botschaf .er in Petersburg von Werder
Telegramm. Abschrift
Nr. 64 Berlin, den 22. Juli 1893
Zu Nr. 78*.
Graf Schuwalow hat mir bereits am ll.d. Mts. in amtlichem Auf-
trage und unter Bezugnahme auf unser Provisorium mit Rumänien
das Ansinnen gestellt, Rußland unsern Konventionaltarif bis zum
31. Dezember zu gewähren, wogegen Rußland uns die an Frankreich
gemachten Zolltarifermäßigungen konzedieren würde.
Ich habe das kurzweg abgelehnt, weil wir zu einem solchen Pro-
visorium des Reichstags bedürfen, und es ausgeschlossen war, den
Reichstag nach der Erledigung der Militärvorlage noch für handels-
politische Fragen hier zu halten**, und weil die Konzessionen Ruß-
lands an Frankreich nach eigenem russischen Zugeständnis „insigni-
fiantes'' sind. Herr Witte weiß also, daß wir zurzeit staatsrechtlich
außerstande sind, auf den Vorschlag eines Provisoriums einzugehen.
Wahrscheinlich fand Herr Witte den Kaiser besser als ihm lieb
war für Deutschland disponiert und wählte das Auskunftsmittel der
Stellung eines bereits abgelehnten Vorschlags, um dem Monarchen
unseren bösen Willen glaubhaft zu machen.
Wenn Ew. pp. morgen beim Frühstück Gelegenheit finden, den
Kaiser darüber aufzuklären, daß wir verfassungsmäßig ein Proviso-
rium zurzeit gar nicht bewilligen können, so dürfte dies vielleicht
nützlich sein. Wena auch nach dem letzten Schritte des russischen
Finanzministers ein zeitweiliger Zollkrieg nicht vermeidbar scheint,
so ist es doch für spätere befriedigende Regelung, an der ich selbst
heute nicht zweifle, von Wichtigkeit, daß Kaiser Alexander an unseren
Wunsch, uns zu verständigen, schon jetzt glaubt.
(gez.) Marschall
Nr. 1663
Der Botschafter in Petersburg von Werder an den Reichsl^axizler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 182 St. Petersburg, den 28. Juli 1893
Den mir durch Euere Exzellenz erteilten Auftrag, der hiesigen
Regierung mitzuteilen, daß unsere Regierung beabsichtige, die Ein-
* Siehe Nr. 1661.
** Am 15. Juli war bereits der Reichstag nach Erledigung der Militärvorlage ge-
sclilossen.
444
Führung des russischen Maximaltarifs gegen Deutschland durch Er-
höhung der Steuern auf die Einfuhr russischer Produkte zu beant-
worten, habe ich ausgeführt.
Nachdem ich es bei Herrn von Schischkin getan hatte, suchte ich
gestern zu diesem Zwecke Herrn von Giers auf.
Beiden machte ich noch einmal in entschiedener Weise klar, daß
der Finanzminister sich im Irrtum befunden hätte, als er annahm, daß
die Kaiserliche Regierung berechtigt sei, ohne Einholung der Zu-
stimmung des Reichstags ein Zollprovisorium einzuführen, und daß
die Berufung auf Rumänien ganz ungerechtfertigt sei, da unsere wirt-
schaftliche Stellung diesem Lande gegenüber von der zu Rußland
wesentlich abweiche.
Herr von Schischkin nahm die Mitteilung ad referendum.
Bei einer früher stattgehabten Unterredung hat er mir gesagt,
er müßte mir doch sagen, daß die deutsche Regierung Rußland sehr
„rudement" behandle, und er gebrauchte dann, um seine Ansicht
noch mehr zu betonen, einen sehr drastischen in Studentenkreisen
gebräuchlichen Ausdruck.
Herr von Giers nahm die Sache sehr tragisch. Er sagte, nachdem
die deutsche Regierung wiederholentlich erklärt hätte, daß die Chancen
einer Verständigung nur in dem Falle günstig ständen, daß auf der
Basis ihrer Forderungen verhandelt würde, wäre die Einführung des
Maximaltarifs nicht mehr zu umgehen gewesen*. Er hoffe aber, da
ja unsere Regierung beantragt hätte, am 1. Oktober in kommissarische
Verhandlungen einzutreten, daß wir dann den Zollkrieg beendigen
könnten, nachdem ein für beide Länder annehmbares Abkommen zu-
stande gekommen wäre.
Auf die politischen freundnachbarlichen Beziehungen übergehend,
sagte mir Herr von Giers, der Kaiser könne sich gar nicht denken,
daß Kampfzölle irgendeinen nachteiligen Einfluß auf diese haben könn-
ten. Seine Majestät habe als Beispiel angeführt, daß trotz der ganz
besonderen Verehrung, welche der Kaiser Nikolaus für seinen Schwie-
gervater den König Friedrich Wilhelm IIL hatte, immer unter seiner
Regierung eine Art von Zollkrieg zwischen Rußland und Preußen
geführt worden v/äre, aber es hätte dieser nie die vortrefflichen ver-
wandtschaftlichen und politischen Beziehungen gestört.
Der Minister sagte mir dann noch, er hätte den Minister des
Innern aufgefordert, die Presse dahin zu instruieren, daß sie anläß-
lich der gegenseitigen Zollmaßregeln keine gehässigen Artikel gegen
Deutschland schreiben dürfe. Unsere Presse sei sehr „mechante" fügte
* Tatsächlich verfügte der russische Finanzminister für alle Waren aus Deutsch-
land nicht nur den Maximaltarif, sondern auch noch einen Zuschlag von 50 o/o,
wogegen Deutschland lediglich einen Zuschlag von 50 o/o auf die bisher be-
stehenden Eingangsabgaben anordnete.
445
er hinzu, aber er wisse ja, daß die Regierung keine gesetzliche Hand-
habe gegen sie habe. Ich entgegnete darauf, daß ich überzeugt wäre,
daß wenigstens die offiziöse Presse angehalten werden würde, sich
eines anständigen Tones zu befleißigen.
Mein Besuch war sehr kurz, da ich den Minister in höchstem
Maße angegriffen fand.
V. Werder
Nr. 1664
Der Reichskanzler Graf von Caprivi, z. Z. in Karlsbad, an den Staats-
sekretär des Auswärtigen Amtes Freiherrn von Marschall
Privatbrief. Eigenhändig
Karlsbad, den 24. September 1893
Euer Exzellenz
danke ich für die Anzeige Ihrer mir willkommenen Rückkehr nach
Berlin
In bezug auf den Handelsvertrag mit Rußland bin ich gegen ein
Provisorium (Waffenstillstand), wobei wir auf den status quo ante
zurückkehrten. Unserem Handel und unserer Industrie würde das dann,
m. E., erheblich nutzen, wenn die Wahrscheinlichkeit, daß ein defini-
tiver Vertrag zustande kommt, die Voraussetzung dieses Provisoriums
wäre, wenn also der Handel sich auf lange Zeiten einrichten könnte.
Das würde Rußland auch erkennen und unser Friedensbedürfnis über-
schätzen. Für sich selbst aber hat Rußland starke Motive zu einem
Provisorium, auch wenn ihm dies nur soviel Zeit schafft, seine dies-
jährige Ernte abzuschieben.
Ich nehme an, daß unsere Kommissionen keine besondere Instruk-
tion erhalten, sondern den Tarif auf Grund unserer Offerte behandeln.
Den Vertragstext selbst habe ich noch nicht gesehen und bitte, mir
Abschrift oder Auszug vom Wesentlichen zu schicken.
Ich wünsche nach wie vor das Zustandekommen eines Vertrages
mit Rußland aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen dringend.
Aber wir müssen wenigstens soviel von Rußland erreichen, daß Handel
und Industrie im ganzen befriedigt werden.
Ziehen die Verhandlungen sich in die Länge, so scheint mir das
nicht ungünstig. Jedenfalls darf vor den Tagen Toulon* die Sache
nicht scheitern, pp.**
V. Caprivi
* Gemeint ist der bevorstehende Besuch des russischen Geschwaders in Toulon
(13. Oktober). Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1529.
*♦ Den Schluß des Briefes in Kap. XLVII, Nr. 1530.
446
Nr. 1665
Der Geschäftsträger in Petersburg Graf Rex an den Reichskanzlei
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 265 St. Petersburg, den 28. Oktober 1893
Herr von Giers erzählte mir, daß die deutsch-russischen Zoll-
verhandlungen* einen guten Fortgang nähmen, er sei bei der kurz
vor der Abreise nach Berlin stattgehabten Konferenz, welcher auch
Graf Schuwalow beigewohnt hätte, der einzige gewesen, welcher an
einen glücklichen Ausgang der Verhandlungen geglaubt habe und von
dem ernstlichen Bestreben der deutschen Regierung, einen Vertrag
herbeizuführen, überzeugt gewesen sei.
Aus den Ausführungen des Ministers konnte ich entnehmen, daß
er mit dem in seiner Abwesenheit erfolgten Vorgehen des Finanz-
ministers gegen Deutschland keineswegs einverstanden war, er er-
kannte die schwierige Stellung der deutschen Regierung gegenüber
den Agrariern vollständig an.
Herr von Giers bemerkte noch im Laufe des Gesprächs, daß er
den Grafen Schuwalow bewogen habe, schon jetzt nach Berlin zurück-
zukehren, da er es nicht verantworten könne, eine solche Kraft in
einem so kritischen Moment in Urlaub zu lassen.
Graf Rex
Nr. 1666
Kronratsprotokoll vom 18. Februar 1894**
Abschrift
St. M. 637 Berlin, den 18. Februar 1894
Sekret
Auf allerhöchsten Befehl war heute unter dem Vorsitz Seiner
Majestät des Kaisers und Königs das Staatsministerium im Schlosse
zu Berlin zu einer Kronratssitzung zusammengetreten, an welcher
* Sie hatten, gemäß dem Vorschlag der deutschen Regierung, Anfang Oktober in
Bedin begonnen. Russischerseits führten die Verhandlungen hauptsächlich Staats-
rat Timiriazew, deutscherseits Gesandter Freiherr von Thielmann und General-
konsul von Lamezan. Näheres siehe in „Die Handelspolitik des Deutschen Reichs
vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart" (1899), S. 172f.
** Über den Verlauf der Verhandlungen über den russischen Handelsvertrag liegen
im Archiv des Auswärtigen Amts nur wenig Akten. Ein sonst sehr instruktiver
Erlaß an den Botschafter von Werder vom 25. November 1893 empfiehlt sich
nicht zum Abdruck, weil er ohne die nicht veröffentlichten Drucksachen des Zoll-
beirats, auf die fortwährend Bezug genommen wird, nicht überall verständlich
ist. Einen guten Ersatz gewährt das oben abgedruckte Kronratsprotokoll vom
18. Februar, das die Entstehungsgeschichte des am 9. Februar unterzeichneten
Handelsvertrags ab ovo darlegt.
447
außer sämtlichen Mitgliedern, sowie dem mit Führung des Protokolls
beauftragten Unterstaatssekretär desselben, der Staatssekretär des Aus-
wärtigen Amts und der Gesandte Dr. Freiherr von Thielmann teil-
nahmen.
Es stand der mit Rußland abgeschlossene Handels- und Schiff-
fahrtsvertrag zur Beratung.
Seine Majestät geruhten zunächst dem Reichskanzler das Wort
zu geben.
Derselbe rekapitulierte, wie man zum Abschlüsse dieses Vertrages
gekommen sei.
Seit den zwanziger Jahren hätten Versuche stattgehabt, zu einer
Verständigung zu gelangen, bald sei ein Schritt vorwärts, bald aber
auch wieder rückwärts gemacht, niemals habe Rußland sich zu etwas
Festem verpflichten wollen, so daß über allen geschäftlichen Be-
ziehungen zu diesem Lande die Unsicherheit geschwebt habe, ob
auch nun zu dem Zeitpunkte, wo Waren die Grenze passierten, noch
dieselben Bestimmungen in Kraft ständen, wie zur Zeit des Abschlusses
des bezüglichen Geschäfts. Zollplackereien seitens der einzelnen Be-
amten, Bestechungen, Schmuggelhandel seien die Folge solcher Zu-
stände gewesen. Daß dies nicht schlimmere Früchte für die Be-
ziehungen beider Länder getragen, liege an dem damaligen glücklichen
Verhältnis der beiderseitigen Dynastien, dem damals weniger entwickel-
ten Nationalgefühl, der geringeren Entwickelung der Presse und der
Kommunikationen.
Im Herbst 1890 sei zuerst von Rußland aus der Gedanke des Ab-
schlusses eines Handelsvertrages geäußert worden, im November 1891
der Vorschlag einer entente commerciale gemacht in dem Sinne, daß
Rußland die Bewilligung unserer Zölle gegen Österreich gewünscht
und dagegen das Meistbegünstigungsrecht habe einräumen wollen.
Seine Majestät hätten genehmigt, daß zu diesem Vorschlage eine ab-
wartende Stellung eingenommen worden sei. Durch ein Eingehen auf
denselben hätten die damals schwebenden Verhandlungen mit Öster-
reich-Ungarn gefährdet werden können. Andererseits sei zweifelhaft
erschienen, ob man Rußland auf die Dauer differenziell würde be-
handeln können. Im Dezember 1892 habe Rußland dann die Auf-
stellung eines Maximaltarifs angekündigt, neben welchem der bis-
herige Tarif als Minimaltarif habe weiterbestehen sollen. Im Februar
1893 seien wir mit allerhöchster Genehmigung auf den Wunsch Ruß-
lands eingegangen, diejenigen Punkte zu bezeichnen, auf welche wir
bei einem zu schließenden Abkommen Wert zu legen hätten, an der
Spitze das Verlangen, daß die Landeinfuhr nicht höher als die Einfuhr
zur See besteuert werde, dann, daß uns auch für den Verkehr mit
Finnland Vorteile eingeräumt würden. Im Juli 1893 hätten wir als-
dann auf Wunsch Rußlands unsere Bereitwilligkeit erklärt, auf Ver-
448
Handlungen einzugehen, es jedoch als notwendig bezeichnet, daß vor-
her eine Basis für solche geschaffen werde. Vom I.August 1893 ab
habe Rußland dann seinen Maximaltarif in Kraft treten lassen, jedoch
unter gleichzeitiger Erklärung, daß es zu weiteren Verhandlungen be-
reit sei.
Vom 15. Juli ab hätten wir die russischen Einfuhrartikel mit einem
Zollaufschlage von 50 o/o belastet, was Rußland mit der gleichen Maß-
regel beantwortet habe, und seitdem bestehe der Zollkrieg, der beide
Teile habe belehren können, wie erwünscht eine Verständigung sei.
Auf Rußlands Wunsch habe man sich dann über Konferenzen geeinigt,
welche am I.Oktober v. Js. eröffnet worden seien.
Nachdem auf den Wunsch des Reichskanzlers Seine Majestät so-
dann dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts das Wort gegeben
hatten, um die Bedeutung des nunmehr abgeschlossenen Vertrages klar-
zustellen, führte derselbe aus, die russischen Unterhändler hätten schon
beim Beginn der Konferenzen sich zu weitergehenden Konzessionen
bereit gezeigt, als man habe erwarten dürfen. Von unserer Seite seien
solche namentlich begehrt worden für landwirtschaftliche und chemische
Produkte, Metall- und Textilwaren u. a. Unsere Ausfuhr nach Ruß-
land sei seit dem Jahre 1880 von 220 auf 125 bis 130 Millionen Mark
zurückgegangen, wobei noch anzunehmen, daß unsere Industriellen
schließlich, um sich den russischen Markt zu erhalten, noch mit Verlust
Geschäfte mit Rußland gemacht hätten. Unter dem dankenswerten
Beistande Sachverständiger seien nun Resultate erzielt worden, von
denen diese erwarteten, daß die Ausfuhr wiederum steigen werde.
So habe denn auch die Industrie, wie dies für Handel und Schiffahrt
selbstverständlich gewesen, den veröffentlichten Vertrag günstig auf-
genommen. Ein Rückblick auf die Vergangenheit lasse die Vorteile
desselben am besten erkennen. Seit 20 Jahren folge eine Erhöhung
der Zölle auf unsere Waren der andern. Zuerst sei die Entrichtung
der Zölle in Gold, statt in Papier, verlangt, was nach damaligem
Kurse einer Erhöhung um 30 o/o gleichkomme, dann hätten in den
Jahren 1882, 85, 87, 89, 91 Erhöhungen stattgefunden. Wir hätten
reklamiert, verhandelt, nie aber erlangt, daß Rußland sich auf längere
Zeit habe binden wollen, dann seien auch wir mit Zollerhöhungen
vorgegangen. Der wesentliche Grund, weshalb wir seit 1879 das ge-
mäßigte Freihandelssystem verlassen hätten, sei der gewesen, daß
wir nur durch Zölle auf agrarische Erzeugnisse Rußlands uns gegen
letzteres hätten wehren können. Unser seit 1887 geltender Getreide-
zoll von 5 Mark sei eigentlich ein Kampfeszoll gegen Rußland, das
uns durch einen fast als Prohibitivzoll zu bezeichnenden Zoll auf
Eisen und den Differenzialzoll zum Nachteil für den Landverkehr gegen«
über dem Seeverkehr benachteiligt habe.
Der damalige Reichskanzler habe das Reichsschatzamt um gut-
achtliche Äußerung über die zu ergreifenden Maßregeln ersucht, und
29 Die Große Politik. 7. Bd. 449
dieses habe jene Zölle vorgeschlagen, jedoch in der Weise, daß sie
allgemein durch Gesetz eingeführt würden, so daß sie dann auch
Österreich-Ungarn gegenüber als Kompensation wirken könnten. So
sei die Vorlage von 1887 mit ihren Zollerhöhungen auf Getreide, Holz
und andere landwirtschaftliche Produkte entstanden.
Breche daher Rußland jetzt mit seinem autonomen Zolltarif, so
sei es nur logische Konsequenz, daß wir jene Zölle wieder herab-
setzten. Mit Sicherheit vorherzusagen, was die Folge hiervon sein
werde, sei freilich schwer. Nach dem im Auswärtigen Amt gesammelten
statistischen Material nehme er an, daß der Rußland gegenüber be-
stehende Differenzialzoll von 5 Mark oder jetzt 7,50 Mark der Land-
wirtschaft keinen Schutz gewährt, vielleicht sogar zu dem Sinken der
Getreidepreise und der Stagnation des Getreidegeschäfts mit bei-
getragen habe. Der Hauptgrund für die niedrigen Preise liege freilich
in der zwei Jahre hintereinander, 1892 und Q3, in allen Erdteilen statt-
gehabten guten Ernte, es seien aber auch durch die preußischen Kampf-
zölle die Getreidepreise in Rußland sehr gesunken, und Rußland habe
für sein Getreide den Weltmarkt aufsuchen müssen, was allenthalben
einen — hiernach indirekt durch die Höhe des Zolls verursachten —
Druck auf die Preise geübt habe. Dies sei ein Argument gegen die
Behauptung, daß infolge des ermäßigten Zolles die Preise noch weiter-
fallen müßten. Selbst bei diesem Zoll von 3,50 Mark sei mit Spesen
und Fracht das russische Getreide zu teuer, um mit dem inländischen
bei jetzigen Preisen des letzteren konkurrieren zu können. Der Vertrag,
der der Industrie, dem Handel und der Schiffahrt großen Vorteil
bringe, bedrohe daher auch nicht die Landwirtschaft. Über allgemeine
Redensarten seien auch diejenigen, welche eine solche Gefahr be-
haupteten, nicht hinausgekommen. Schlösse man selbst unsere Grenzen
gegen russisches Getreide ganz ab, so würde es auf den Weltmarkt
geworfen werden und auf diesem Wege die Preise drücken.
Der Gesandte Dr. Freiherr von Thielmann erhielt das Wort, um
über den Lauf der Verhandlungen selbst sich zu äußern und trug vor,
dieselben seien bis zum Anfang des Dezember langsam vorgerückt.
Der Zollbeirat habe im November an unseren Forderungen etwas
nachgelassen, dagegen eine Liste nachträglicher Wünsche vorgelegt,
auf welche Rußland anfangs nicht habe eingehen wollen. Gegen Weih-
nachten sei angesichts der traurigen Lage der russischen Landwirt-
schaft ein Umschwung eingetreten und damals eigentlich die Grund-
lage des Vertrags gewonnen, so daß seitdem es sich wesentlich um
redaktionelle Tätigkeit gehandelt habe. Der Vertrag komme nicht allein
den von dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts genannten Haupt-
artikeln, sondern einer Reihe anderer Industriezweige aus allen Teilen
Deutschlands, namentlich auch dem Kleingewerbe zugute, so daß, seit
er bekannt sei, eine Reihe günstiger Kundgebungen aus industriellen
Kreisen erfolgt sei, eine solche auch in Berlin heute wahrscheinlich
450
stattfinden werde. Der Handel erlange dem bisherigen Zustande gegen-
über große Vorteile und die Landwirtschaft werde nicht leiden.
Der Minister für Handel und Gewerbe schloß sich dieser Auf-
fassung durchaus an. Den Hauptvorteil von dem Vertrage zögen die
oberschlesische Eisen- und Kohlenindustrie und die Ostseehäfen. Die
letzteren wären schon mit den Tarifen vor den Kampfzöllen zufrieden
gewesen, die erstere gewinne hauptsächlich durch Beseitigung des
Differenzialtarifs zwischen Land- und Seeeinfuhr, von welchem England
und Belgien großen Vorteil vor uns gezogen hätten.
Neben dem schon hervorgehobenen Rückgang unseres Exports
seit 1880 sei noch als besonders erheblich zu nennen der Rückgang
seit Einführung der Kampfzölle, der in 5 Monaten 16 Millionen
Mark betrage, wobei unsere Industrie zuletzt, um sich nur den russi-
schen Markt zu erhalten, mit Verlust gearbeitet habe. Auf die Länge
sei dies nicht durchzuführen, und würden auch die jetzt verbhebenen
125 Millionen zum großen Teil noch in Wegfall gekommen sein. Jetzt
dürfe man hoffen, vielleicht den Stand von 1880 wieder zu erreichen.
Kein industrieller Verband habe bisher ungünstig über den Vertrag
sich geäußert gegenüber vielen günstigen Äußerungen. Nur ein ein-
zelner Eisenindustrieller habe sich gefunden, der gegen den Vertrag
sich ausgesprochen habe.
Viel klarer sei noch der Gewinn der Ostseestädte. Königsberg,
Danzig, Memel würden bei fortgesetzter Sperre der Grenze ihren
Handel fast ganz eingebüßt haben. Auch die Hansestädte seien zu-
frieden. Die Landwirtschaft werde, auch seiner Meinung nach, keinen
Schaden haben.
Seine Majestät der Kaiser und König geruhten zu bemerken, ihre
Stellung zur Sache sei bekannt. Der Vertrag sei ökonomisch wie po-
litisch von größter Bedeutung. Die erstere Seite sei bereits genügend
beleuchtet. Die Reichsregierung sei die erste, die sich über die zu
befolgende Handelspolitik klar geworden sei. Der russische Handels-
vertrag mit seinen Vorgängern sei ein fundamentales Werk, das alle
europäischen Staaten als Vorbild ansehen sollten, denn der gegen-
seitige Abschluß der Staaten gegeneinander würde den Ruin Europas
herbeigeführt haben, pp.
Politisch sei der russische Handelsvertrag von der größten Wich-
tigkeit und sei für dessen Zustandekommen das Verhältnis der beider-
seitigen Dynastien maßgebend gewesen. Von russischer Seite sei schon
zurzeit der Regierung Seiner Majestät Kaiser Wilhelms I. ein kühleres
Verhalten gezeigt worden, ebenso gehe jetzt von dort, ohne daß aller-
höchstsie eine neue Anknüpfung gesucht hätten, das Entgegenkommen
aus. Der Moment, in welchem Rußland ein solches bezüglich des
Handelsvertrags gezeigt habe, sei der gewesen, als Seine Majestät der
Kaiser von Rußland, aus Dänemark zurückgekehrt, die traurige Lage
der russischen Landwirtschaft erkannt und den Befehl gegeben hätten,
29* 451
mit dem Abschluß des Vertrags ernstlich vorzugehen. Seine Majestät
begrüßten diesen Abschluß von ganzem Herzen. Ein gutes politisches
Verhältnis könne zwischen Staaten, deren wirtschaftliche Beziehungen
schlechte seien, auf die Dauer nicht bestehen, und so hofften sie auf
Verbesserung der Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland
und Lockerung derjenigen zwischen Rußland und Frankreich.
Bedauerlich sei die Gegnerschaft eines großen Teils der Land-
wirtschaft gegen den Vertrag. Seine Majestät hätten den Zusammen-
schluß der Landwirte in der Hoffnung freudig begrüßt, daß man
nun über die Bedürfnisse der Landwirtschaft Klarheit erlangen werde.
Stattdessen stehe man einer Agitation gegenüber, welche, geeigneter
Führer ermangelnd, in den Formen fortschrittlicher Observanz ver-
meintliche Standesinteressen unter Zurückstellung des Staatswohls ver-
folge. Auch Männer von sonst vornehmer Gesinnung hätten sich in
diese Bewegung hineinziehen lassen und glaubten sich an dieselbe
gebunden, obwohl sie im Grunde mit allerhöchstihrer eigenen Ansicht
und den Bestrebungen der Regierung einverstanden wären. Seine Ma-
jestät hätten sich offen ausgesprochen und auf die Brücken gewiesen,
auf welche diese Gegner treten könnten. Die Thronrede bekunde das
der Landwirtschaft geschenkte Wohlwollen, Maßregeln auf dem Ge-
biete der Währungsfrage seien Gegenstand der Erwägung, und man
werde jahrelang die Hebung der Landwirtschaft im Auge behalten
müssen, die sich freilich von heute auf morgen nicht erzielen lasse.
Einer Opposition gegenüber, welche den russischen Vertrag zu
Falle bringen wolle, würden Seine Majestät ihre Rechte voll zur
Geltung bringen, und auch der heutige Kronrat solle zeigen, daß sie
und das Staatsministerium geschlossen hinter den Männern ständen,
welche den Vertrag zu vertreten hätten. Seine Majestät wüßten sich
einig mit denselben, hielten den Vertrag für eine der größten je für
Preußen und Deutschland erzielten Errungenschaften und seien dem
Reichskanzler dankbar für das Erreichte. Sicher würde auch dessen
Amtsvorgänger mit Befriedigung darauf geblickt haben, wenn es ihm
geglückt wäre, solche Konzessionen von Rußland zu erreichen.
Für Meinungsverschiedenheiten zwischen Preußen und Bayern be-
züglich der Stellung zu dem Vertrage sei ja der glücklichste Ausgleich
gefunden. Ebenso werde in Sachsen die Sachlage richtig gewürdigt.
Seine Majestät geruhten hierauf die Sitzung zu schließen.
(gez.) Graf zu Eulenburg, von Boetticher, von
Schelling, Freiherr von Berlepsch, Graf
vonCaprivi,Miquel,vonHeyden,Thielen>
Bosse, Bronsart von Schellendorf.
Schlußbemerkung Kaiser NX'ilhclms H. in Abschrift:
Genehmigt! (gez.) Wilhelm R.
452
Nr. 1667
Kaiser Wilhelm II. an Kaiser Alexander III. von Rußland
Telegramm en clair. Konzept
[Berlin, le 16 Mars 1894]
C'est avec une vive satisfaction que je m'empresse de T'annoncer
que le tralte de commerce a ete vote aujourd'hui par le Reichstag.
J'espere que cette oeuvre pacifique qui, gräce au puissant con-
cours que Tu y as prete, vient d'etre menee ä bonne fin, ne manquera
pas de resserrer davantage les liens traditionnels d'amitie qui existent
entre nos deux pays et nos deux maisons.
Ces liens fondes jadis par nos peres sur les principes monarchi-
ques je les envisage comme un legs sacre que nous sommes appeles
ä conserver et ä cultiver pour le bonheur de nos peuples.
Ouillaume*
Nr. 1668
Kaiser Alexander III. von Rußland an Kaiser Wilhelm II.
Telegramm en clair. Ausfertigung
St. Petersburg, Palais Anitschkow, den 17. März 1894
En Te remerciant chaleureusement de l'aimable empressement que
Tu as mis ä m'annoncer Tadoption de notre traite de commerce par
le reichstag, je suis tres touche des sentiments que tu m'exprimes ä
cette occasion. Connaissant le prix tout particulier que j'attache aux
traditions dont Tu evoques le souvenir Tu ne saurais douter de la
reciprocite de mes voeux les plus sinceres. Alexandre
Nr. 1669
Der Botschafter in Wien Prinz Heinrich VII. Reuß an den
Reichskanzler Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 79 Wien, den 4. April 1894
Graf Kälnoky sprach mir heut über den österreichisch-russischen
Handelsvertrag, der, wenn auch noch nicht formell abgeschlossen, durch
das seit dem 2. d. Mts. bereits gültige Provisorium doch vollkommen
gesichert sei.
Der Minister legt diesem Vertrag eine hohe politische Wichtigkeit
bei. Ebenso wie durch die Haltung, die die russische Regierung bei
Abschluß des deutsch-russischen Vertrages eingenommen, sei auch bei
• Unterschrift von der Hand des Unterstaatssekretärs Freiherrn von Rotenhan
mit dem Randvermerk: „Von Seiner Majestät genehmigt. Rotenhan."
453
den hiesigen Verhandlungen der Wunsch Rußlands unverkennbar ge-
wesen, mit seinen beiden westlichen Nachbarn auch auf wirtschaft-
lichem Gebiet in regelmäßige und auf längere Zeit gefestigte Bezie-
hungen zu treten. Rußland habe hier seine Forderungen auf Ermäßigung
der Getreidezölle fallen lassen und, wie gesagt, sich auf 10 Jahre ge-
bunden. Man könne hierin nur eine Wendung zum Besseren auch auf
politischem Gebiet erblicken, und dies sei eine hocherfreuliche Tat-
sache. Denn ein Staat, welcher sich auf den Weg der Abenteuer begebe
und feindselige Absichten gegen seine Nachbarn habe, pflege sich
nicht auf längere Zeit hinaus handelspolitisch zu binden.
Daß dies auch an anderer Seite ebenso aufgefaßt werde, beweise
die Mißstimmung, die man in Frankreich, der beiden russischen Han-
delsverträge wegen, bemerken könne*. Offenbar fühle man sich dort
unsicher, und das sei sehr hoch anzuschlagen.
Der Minister fügte hinzu, daß, soweit es an ihm liege, er alles
tun würde, um die erfreuliche Wandelung in den russischen Auffassun-
gen zu pflegen. Dem Kaiser Alexander und höchstdessen persönlicher
Einwirkung sei es ohne Zweifel in erster Linie zu danken, daß man
jetzt mit größerer Zuversicht an die friedliche Politik Rußlands glauben
könne.
Bei den durch die Krankheit des Herrn von Giers hervorgerufenen
anarchischen Zuständen im russischen Ministerium der auswärtigen
Angelegenheiten könne man die Einwirkung dieses Amtes nur gering
anschlagen.
H.VII.P.Reuß
Nr. 1670
Der Geschäftsträger in Petersburg Graf Rex an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 71 St. Petersburg, den 6. April 1894
Wenige Tage sind erst seit Abschluß des deutsch-russischen Han-
delsvertrages verflossen, und schon zeigt sich mir in allem, was mich
umgibt, die ungeheure Tragweite dieses Vertrages.
In kommerzieller Beziehung ist eine Geschäftigkeit eingetreten
wie nie zuvor. Die Importeure arbeiten Tag und Nacht, um den an
sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, die deutschen Indu-
striellen erstreben mit Macht das durch den Zollkrieg Verloren-
gegangene wieder einzuholen. Ob es ihnen gelingen wird, ihre alte
Stellung hier wieder voll einzunehmen, vermag ich heute noch nicht
zu sagen, da viele russische Kaufleute Verbindungen mit englischen
und französischen Häusern angeknüpft haben. Das russische Getreide-
* Vgl. Kap. XLVII, Nr. 1536.
454
geschäft hat eine nennenswerte Belebung noch nicht erfahren, da die
allgemeine internationale Lage des Getreidemarkts seit Abschluß des
Vertrages noch nicht seine Klärung gefunden hat.
Die russische Presse hat den Abschluß des Vertrages in großen
Leitartikeln gefeiert und mit großer Wärme hervorgehoben, welchen
lebhaften Anteil Seine Majestät der Kaiser und König an dem Zu-
standekommen des Vertrages genommen hat. Bemerkenswert ist, daß
darin weniger von den kommerziellen Beziehungen der beiden Länder,
als von den politischen die Rede ist. Man hat hier allgemein das Ge-
fühl, daß Rußland einer Kriegsgefahr entronnen ist, und daß der
Deutsche nun nicht mehr als der Feind Rußlands zu betrachten ist.
Die gegenwärtige Sprache der Presse und alle Unterhaltungen, die
ich mit maßgebenden Persönlichkeiten über den Abschluß des Ver-
trages gepflogen habe, bestätigen meine Auffassung, die ich Euerer
Exzellenz im September v. Js. zu unterbreiten die Ehre hatte, daß näm-
lich der Zollkrieg mit Rußland zu einem nationalen Kampfe gegen
Deutschland ausgeartet sei.
Während des Zollkrieges glaubte hier jede Behörde, so schroff
als möglich den Wünschen der Kaiserlichen Botschaft entgegentreten
zu müssen. Ich hege die Hoffnung, daß hierin eine Wandlung ein-
treten wird.
So sagte mir beispielsweise General Schebeko, als ich nach Ab-
schluß des Vertrages in einer Ausweisungssache ihn aufsuchte, „je
tächerai d'arranger l'affaire selon Vos desirs, nous sommes donc de
nouveau amis".
Hervorheben muß ich, daß die Sprache der russischen Blätter seit
Abschluß des Vertrages an Begeisterung für Frankreich wesentlich ab-
genommen hat. Die Indiskretionen, die seitens französischer Beamten
in letzter Zeit begangen worden sind, haben das Ihre dazu beigetragen.
Der „Grashdanin" polemisiert wieder in seinen Leitartikeln gegen die
russisch-französische Verbrüderung, der, wie er sagt, der feste Boden
fehlt, pp.
Graf Rex
Nr. 1671
Der Konsul in Kiew Schäffer an den Reichskanzler
Grafen von Caprivi
Ausfertigung
Nr. 2209 Kiew, den Q.Mai 1894
Die beiden bedeutsamen Ereignisse der letzten Zeit: das Zustande-
kommen des deutsch-russischen Handelsvertrags und die Verlobung
des Großfürsten-Thronfolgers mit einer deutschen Prinzessin* haben
* Die Verlobung des Großfürrten-Thronfolgers mit der Prinzessin Alix von
Hessen war am 20. April in Koburg erfolgt.
455
die hiesigen chauvinistischen Panslawisten sehr verstimmt. Die fried-
liche Strömung, hervorgerufen durch das Bedürfnis einer Besserung
der wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihrerseits wiederum von der Wirk-
samkeit des Handelsvertrags und freundlicheren Beziehungen zwischen
den beiden Nachbarvölkern erhofft wird, ist jedoch zurzeit in der
Masse der Bevölkerung eine zu starke, als daß die „Patrioten", ohne
sich der Gefahr auszusetzen, sich selbst zu schaden, es wagen dürften,
das alte Lied von dem sich selbst genügenden Rußland und dem
treulosen, egoistischen Deutschland fortzusetzen. Sie haben daher in
ihrer Presse eingeschwenkt und machen gute Miene zum bösen Spiel,
indem sie in den allgemeinen Jubel über die Verlobung des Thron-
folgers einstimmen und sich über die handelspohtische Verständigung
mit Deutschland befriedigt zeigen.
In Wirklichkeit jedoch haben die hiesigen Panslawisten die über
den Handelsvertrag geführten Verhandlungen niemals als ernst auf-
gefaßt und stehen noch immer auf dem Standpunkt, daß derselbe
Rußland zum Schaden gereiche. Sie behaupten, daß, wenn die Aus-
fuhr der russischen Rohprodukte erschwert wäre, sich die bearbeitende
Industrie und die landwirtschaftlichen Gewerbe im Lande viel schneller
auf Kosten des Ackerbaues entwickeln würden, und Rußland daher
weder auf den deutschen Markt für sein Getreide, noch auf deutsche
Industrieerzeugnisse angewiesen sei.
In den breiteren Schichten der hiesigen Panslawisten galten seiner-
zeit die Verhandlungen als ein von dem Finanzminister Witte, den
sie ebenso wie seinen Gehilfen Herrn Antonowitsch zu den ihrigen
zählen*, inszeniertes Manöver — war doch die in Kiew erscheinende,
dem letzteren gehörige Zeitung „Kiewskoje Slowo" fast bis zum
letzten Augenblick Gegnerin des Vertrages — , um den Deutschen
in der Meinung des russischen Volkes vollends zu diskreditieren. Wäh-
rend die Verhandlungen schwebten, bemühte sich die hiesige Provin-
zialpresse, mit Ausnahme des „Kiewljanin", die Verantwortung für
den Zollkrieg und die dadurch für das russische Volk entstehenden
Schäden und Schwierigkeiten Deutschland aufzubürden, in dessen Inter-
esse es sei, Rußland wirtschaftlich unter allen Umständen zu schwä-
chen. Rußland tue alles, um eine Verständigung herbeizuführen, stoße
aber auf den bösen Willen des Nachbarn, welcher es jahrelang in
schamloser Weise ausgebeutet habe. Auf ein Zustandekommen des
Vertrages sei daher nicht zu rechnen. Man verstieg sich sogar zu der
Behauptung, der Zollkrieg sei als Anfang des unvermeidlichen Waffen-
ganges mit Deutschland zu betrachten. Später, als der Vertrag ab-
geschlossen war, suchte man nachzuweisen, daß Rußland im Grunde
I
* In einem Bericht Schaffens vom 24. Juni 1893 wird der eben zu seiner Würde
als Gehilfe des Finanzministers Witte erhobene ehemalige Kiewer Professor
Antonowitsch als „Panslawist, Deutschenfresser, Franzosenfreund und Schutz-
zöllner" bezeichnet.
456
keine nennenswerten Zugeständnisse gemacht, Deutschland dagegen
klein beigegeben habe und im übrigen der Vertrag keinen Einfluß auf
die äußere Politik Rußlands üben werde. Frankreich brauche durch-
aus nicht zu befürchten, aus der Gunst Rußlands von Deutschland
verdrängt zu werden. Letzteres bleibe nach wie vor der falsche, selbst-
süchtige Freund Rußlands. Herrn Wittes Freunde aus demselben Lager
suchen ihn der Verantwortung für den Abschluß des Vertrags da-
durch zu entheben, daß sie behaupten, er habe nur dem persönlichen
Willen Kaiser Alexanders nachgegeben, ja, sowohl der Finanzminister
wie Herr Antonowitsch hätten infolgedessen sogar ihr Abschiedsgesuch
eingereicht, dasselbe sei jedoch vom Kaiser nicht angenommen wor-
den. Hierauf ist vielleicht die vor längerer Zeit von der „Kölnischen
Zeitung" gebrachte Nachricht von dem Rücktritt Antonowitschs zurück-
zuführen.
Ferner erzählt man sich, und zwar nicht bloß in panslawistischen
Kreisen, daß die gar zu hoch schlagenden Wellen der Franzosen-
freundschaft Seine Majestät den Zar mit Besorgnis erfüllt hätten, und
er durch Abschluß des Handelsvertrages, sowie durch seine Zustimmung
zur Verlobung des Großfürsten-Thronfolgers mit Ihrer Großherzog-
lichen Hoheit Prinzessin Alix einen Damm gegen Überflutung der
Bewegung, welche leicht dem Absolutismus, ja selbst dem monarchi-
schen Prinzip in Rußland verhängnisvoll werden könnte, setzen wollte.
Eine bemerkenswerte Erscheinung ist, daß auch die hiesige pol-
nische Gesellschaft, soweit sie nicht den landwirtschaftlichen Kreisen
angehört, im Gegensatze zu ihren Stammesgenossen in Deutschland,
dem Handelsvertrag abhold ist. Es hat den Anschein, als fürchte man
gerade das, was die Panslawisten in Abrede zu stellen sich bemühen,
nämlich daß mit Besserung der Handelsbeziehungen der beiden Nach-
barstaaten sich auch ihr politisches Verhältnis zueinander freundlicher
gestalten werde.
Die Handels- und landwirtschaftliche Welt, ebenso wie der nüch-
tern denkende Teil der Bevölkerung haben den endlichen Abschluß
des Vertrages mit unverhohlener Freude begrüßt, Sie sind von der
politischen Bedeutung desselben nahezu überzeugt und geben sich
der Hoffnung hin, daß die Lage sich so günstig gestalten werde, daß
die Regierung sich fortan mit Erfolg der Ordnung der wirtschaftlichen
Verhältnisse im Innern widmen kann.
Es ist, wie eingangs bemerkt, nicht zu verkennen, daß im großen
und ganzen zurzeit eine freundlichere Stimmung Deutschland gegen-
über Platz gegriffen hat. Ob dieser Umschwung zum Bessern sich von
Dauer erweisen wird, ist eine andere Frage. Hierüber äußerte sich
neulich im Laufe einer längeren Unterhaltung eine der hiesigen Presse
angehörige, mit den Verhältnissen sehr vertraute Persönlichkeit unge-
fähr wie folgt:
„Ich zweifle, daß der Handelsvertrag einen dauernden Einfluß auf
457
die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben wird.
Die seit mehr als zwanzig Jahren fast von unserer gesamten Tages-
presse systematisch betriebene Verhetzung alles Deutschen hat nicht
verfehlt, Früchte zu tragen. Der Deutschenhaß ist ebenso wie der
Kultus der Franzosen in gewissen Kreisen guter Ton geworden und
hat auch in den breiteren Volksschichten Boden gewonnen. Neben
der Presse ist es unsere chauvinistische, stark panslawistisch angehauchte
Beamtenwelt und das Militär, sowohl die höheren wie die niederen
Kreise, welche den Deutschenhaß pflegen. Für sie hat diese Hetze
auch in der Tat eine praktische Bedeutung, weil sie sich mit dem
deutschen Element in beständigem Kampfe befinden und seit Jahren
bemüht sind, dasselbe aus den Stellungen, welche es noch immer in
der Verwaltung und der Armee einnimmt, zu verdrängen. Es ist dies
eine Art Kampf ums Dasein, der geführt wird. Wenn nun auch
unsere Presse die Fähigkeit besitzt, urplötzlich die Front zu wechseln
und, wie wir es soeben erlebten, heute das gut zu heißen, was sie
gestern verurteilte, so darf dies doch keineswegs als eine Sinnesände-
rung aufgefaßt werden, sondern ist lediglich als eine Unterordnung
der eigenen Ansicht und Sympathien höheren Gewalten und Interessen,
anzusehen. Unsere Presse versteht es eben, den Mantel nach dem
Winde zu hängen. Selbst angenommen, daß es ihr mit dem Front-
wechsel ernst ist, was ich, wie gesagt, bezweifle, so bleibt doch noch
der andere, vielleicht weit mächtigere Faktor, welcher sich nicht be-
seitigen läßt, weil er sein Vorhandensein dem persönlichen Interesse
bestimmter, einflußreicher, dem Gemeinwohl ziemlich kühl gegenüber-
stehender Kreise verdankt."
„Schon jetzt kann man übrigens die Wahrnehmung machen, daß
die Presse unserer beiden Hauptstädte Neigung zeigt, ins alte Fahr-
wasser einzulenken. Bereits werden Stimmen laut, daß der Abschluß
des Handelsvertrags ein Fehler war, und daß nur Deutschland Vorteil
von ihm hat, indem es den russischen Markt mit seinen Erzeugnissen
überschwemmt, während unser Getreide infolge des niedrigen Preis-
standes in Deutschland nach wie vor keinen Absatz dorthin findet."
Schäffer
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APR 13^
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